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German Pages 232 Year 1993
GERALD GÖDEL
Das Verhältnis von Kirche und Staat nach dem Codex Ioris Canonici des Jahres 1983
Staatskirchenrechtliche Abhandlungen Herausgegeben von Alexander Hollerbach · Josef lsensee · Joseph List) Wolfgang Losehelder ·Hans Maier · Paul Mikat · Wolfgang Rüfner
Band 21
Das Verhältnis von Kirche und Staat nach dem Codex Ioris Canonici des Jahres 1983
Von
Gerald Göbel
Duncker & Humblot · Berlin
Schriftleitung der Reihe "Staatskirchenrechtliche Abhandlungen": Prof. Dr. Joseph List!, Lennestraße 15, D-53113 Bonn
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Göbel, Gerald: Das Verhältnis von Kirche und Staat nach dem Codex Iuris Canonici des Jahres 1983 I von Gerald Göbel. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen ; Bd. 21) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1992 ISBN 3-428-07679-6 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0720-7247 ISBN 3-428-07679-6
Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, mit der ich im Sommersemester 1992 durch die Rechtswissenschaftliehe Fakultät der Universität Freiburg i. Br. promoviert worden bin. Mein Dank gilt daher in erster Linie meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Alexander Hollerbach, der diese Arbeit betreut und ihren Fortgang in vielfältiger Weise gefördert hat - nicht zuletzt dadurch, daß ich an dem von ihm geleiteten Seminar für Rechtsphilosophie und Kirchenrecht Assistent sein durfte. Ich danke auch Herrn Prof. Dr. Hartmut Zapp für die Erstellung des Zweitgutachtens, dem ich manche Anregung zur Korrektur entnehmen konnte. Dank schulde ich darüberhinaus Herrn Prof. Dr. Giorgio Feliciani, Mailand, der mir Einsicht in die für meine Arbeit einschlägigen unveröffentlichten Materialien zum Codex Iuris Canonici des Jahres 1917 gewährte. Ich widme diese Arbeit dem Gedenken meines verstorbenen Religionslehrers am Staatlichen Görres-Gymnasium zu Koblenz, Herrn Msgr. Dr. Kurt Esser. Der frühen Prägung durch sein Wirken verdankt sich das Interesse, das letztlich für meine Auseinandersetzung mit dem Kirchenrecht ursächlich war. Wuppertal, im März 1993
Gerald Göbel
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Erstes Kapitel "Societas Perfecta" und "Populus Dei"; Dogmen- und entstehungsgeschichtliche Aspekte
I. Die vorkodikarische Doktrin des ,.Jus Publicum Ecclesiasticum" (/PE)
18
1. Das Entstehen des IPE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20
a) Die neuzeitliche Staatstheorie und die Kirchen; Samuel v. Pufendorfs kollegialistischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Neuzeitliche Staatspraxis und die Kanonistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20 25
2. Die "Societas perfecta"-Doktrin und das Lehramt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
a) Die "Societas perfecta"-Formel als Kernthese des "lus Publicum Ecclesiasticum" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
b) Die Lehre vom Staat und dem Verhältnis von Kirche und Staat im Magisterium Leos XIII. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
II. Das Verhältnis von Kirche und Staat im CIC I 1917 . . . .. . .. . .. . .. . . . . . . .. . .. .
48
1. Kanonisches Recht, Kodifikation und Kodex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
2. Die Grundproblematik: Die Aussagequalität vereinzelter Bestimmungen des CIC .. . .. . . . ............ . . . ........... . ........ . . .. . . .... . . . . .. . .. ....... . . . . .
53
3. Die konträren Systemthesen: Glaubensstaat oder Trennungsregime . . . . . .
58
a) Glaubensstaat (Joseph Klein) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
b) Trennungsregime (Hans Barion) .. . . .. . .. . . . . . . . . . . . . . .. . .. . . . . . . . . . . . . . . .
62
l/1. Der Weg zu einem neuen Kodex . . . . . .. . . .. . .. . . . . . .. . . . .. .. . . . . . .. . .. . . . . .. . . .. .
67
1. Der konziliare Impuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
a) Das Geheimnis Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
b) Kirche und Welt .. . . . . . . . . . . .. . .. . . . . . . .. . . . . . . . . .. . . .. . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . .
70
2. Aus den Vorarbeiten zum neuen CIC . . . . . . . . . . .. . . . . . .. ... .. . . . . . . . . . . . .. . . .
73
3. Das Verhältnis der Kirche "ad extra" im Projekt einer "Lex Ecclesiae Fundamentalis" (LEF) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Werden und Vergehen der Idee einer LEF . . . .. . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Caput III des Textus Emendatus der geplanten LEF . . . . . . . . . . .. . .
78 78 83
c) Die späteren Überarbeitungen dieses Abschnitts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
6
Inhaltsverzeichnis
Zweites Kapitel
Unabhängigkeit und Kooperation; Rechtsdogmatische Aspekte I. Die Terminologie des CIC I 1983 .,in politicis" .... .... .. ............ .... .. ....
99
I. Die beiden Rechtsträger, ,,Ecclesia" und "Civitas" .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .
99
2. Die Autonomieformeln der Kodizes .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .
103
Il. Der Grundansatz: Die Katholische Kirche als .,Persona moralis"- ihre Rechte und ihr Auftrag . . .... . .. . .. .. .. .. .. .. .. . .. .. . .. .. ... ........ .. . . ... . .. . .. . . 104 I. Die Katholische Kirche als ,,Persona Moralis" und ihre "Jura Nativa"
a) Das ,,Persona Moralis"-Modell . ...... ... .. .. . . . . .. ........ ....... ... .. . . . .
105 105
b) "lura Nativa" als subjektive Rechte .... .. .... .... .. .. .... .. .... .... .. ....
111
c) Vergleich und Kritik ........ ................ ...... .. ...... .......... ...... .
113
(1) CCEO .. . . .. . .. . .. . .. .. . .. .. .. . .. .. . .. . .. . .. . . .. .. . .. .. . .. . .. .. . . . . .. .. . .
114
(2) LEF .... .. ......... . .............................................. .......
116
(3) Schrifttum . . .. .. . .. . .. .. . . .. . .. . .. .. . .. . . . .. .. . .. . .. .. . .. . .. .. .. . . .. .. . .
117
2. Der Grundansatz "ex negativo": Die Rücknahme kirchlicher Sonderrechte gegenüber staatlicher Hoheitsgewalt .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .
119
a) ,,Privilegium fori" . . . . .. .. .. .. . .. .. . .. . .. .. . . . .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. . .. .. . .. .
120
b) "Ius Asyli" .. . .. . .. . . . .. . .. . .. .. .. . .. .. . .. . .. . . .. .. . .. . .. . .. .. . .. .. . . .. .. .. . .
123
c) "Brachium Saeculare" .. .. ....... ..... ... . . . . . .. ... ... .. ... ... .... . .. . ... .. .
126
3. Die inhaltliche Ausrichtung: Evangelisierung und Menschenrechte .. .. ..
130
a) Verkündigungsauftrag .. ..... ......... ... .. .. . .. ........ ... .... .. .... . .. .. . .
130
b) Menschenrechtsschwelle . ... . .. . .. ... ... .. ... .. ... .. .. . ... ... .. . . .. . .. . .. . .
133
l/1. Die spezifischen Beziehungsebenen zwischen kirchlichen Rechtssubjekten und dem Staat im CIC . .. . .. . .. . .. . .. .. . .. .. .. . .. . .. . .. .. . .. .. .. . .. .. . .. . .. . . .. . . .. .. . .. 136 I. Institutionelle Zuständigkeitsebenen .. .. .. .. . .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .
137
a) Der internationale Bereich .. .. .. ... .. ..... .. .... ....... .... .. .. .. .. .. .. ....
137
(1) Kirchliche Präsenz im Bereich des internationalen Rechts .. .. .. ..
138
(2) Kirchliche Aktion im internationalen Recht .. .. .. .. .. . .. . . .. .. .. .. .
142
aa) Legationsrecht .. .. .. .. .. . ..... ... . .. ....... ... .. ... .. .... . . .. .. . ..
142
bb) Vertragsschlüsse (Staat-Kirche-Verträge) .. .. .. ...... .. ... .....
146
b) Der national-staatliche Bereich .. .. . .. . .. .. . .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. . .. .. .
155
(1) Kirchliche und staatliche "Ortung" .. . .... .. . ... ........ ..... .. ... .. . 155 (2) Die Bischofskonferenz ...... .. ........ ........ ...... .. ....... ...... ...
160
2. Politisches Handeln des einzelnen Gläubigen ............. .... . ..... .... .. .. a) Die Prärogative des Laien im Bereich von Politik und Staat ...... .. ..
168 168
b) Der Kleriker im Spannungsfeld von Bürgerrechten und Kirchenpflichten . ...... ... .... .. .. . .. .. ... .. .. ... ... ... .. .. .. . .. . .. . . . .... .. .. .. . ....
174
Inhaltsverzeichnis
7
W. Das Verhältnis von "Jus Canonicum" zum "Jus Civile " im neuen CJC . . . .. 181 1. ,,Ius Canonicum" als eigenständiges Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 2. Fallgruppen der Bezugnahme auf das "Ius Civile" . . . . ... .. . . . . .. . . . . .. . . . . 191 Zusammenfassung . . .. ... .. . .. ... . .. . . . .. .. . . . . . . ... .. . . . .. .. .. . .. . . . . . .. . .. .. . . . . . . . . .
191
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
196
Kanonesregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
219
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
227
Abkürzungsverzeichnis a.A. AA a.a.O.
AAS
Abi. a.E. AfkKR AG allg. alloc. AnCan Anm. AnnPont apost. AöR arg. ARSP Art. ARWP ASS ausf. Bd(e). bearb. Bearb. begr. bes. betr. BGBI. bspw. BVerfG BVerfGE bzw. c(c). C.
= anderer Ansicht = li. Vatikanisches Konzil, Dekret "Apostolicam Actuosita-
tem" am angegebenen Ort Acta Apostolicae Sedis, Romae 1909 ff. Amtsblatt am Ende = Archiv für katholisches Kirchenrecht, Innsbruck 1857 ff. (Mainz 1862 ff.) = II. Vatikanisches Konzil, Dekret "Ad Gentes" = allgemein = allocutio = L'Annee Canonique, Paris 1952 ff. = Anmerkung(en) = Annuario Pontificio = apostolisch(-e, -er, -es) = Archiv des öffentlichen Rechts, Berlin 1886 ff. = argurnenturn = Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Berlin 1933 I 34 ff. = Artikel = Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Berlin 1907/08 ff. = Acta Sanctae Sedis, Romae 1872- 1908 = ausführlich = Band(Bände) = bearbeitet = Bearbeiter = begründet = besonders = betreffend = Bundesgesetzblatt = beispielsweise = Bundesverfassungsgericht = Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Tübingen 1952 ff. = beziehungsweise = canon(es) = Coetus
= = = =
Abkürzungsverzeichnis cap. CCEO CCL CD CGG CIC CIC-Fontes ComCod I [Bearb.] COMM CorpJC DDC ders. Diss. d.h. DH DirEccl DS
dt. DV ebda. ed. EheG EMRK EphlurCan erstm. EssG
et al. Extrav. Comm. f(f).
FAZ FS GA
Gazz.Uff.
9
= capitulum = Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium = The Code of Canon Law, A text and commentary, hg. v. J. Coriden et. al., New York 1985 II. Vatikanisches Konzil, Dekret "Christus Dominus" Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Enzyklopädische Bibliothek in 30 Teil bänden, Freiburg I Basel I Wien 1981-1982 = Codex Iuris Canonici = Codicis Iuris Canonici Fontes, ed. Petrus Gasparri et Iustinianus Seredi, 9 vol., Romae 1923- 1939 = Commento aJ Codice di Diritto Canonico, a cura di Mons. Pio Vito Pinto, Roma 1985 Communicationes, Typis Polyglottis Vaticanis 1969 ff. Corpus Juris Canonici = Dictionnaire de Droit Canonique, hg. v. R. Naz, 7 tom., Paris 1935 - 1965 = derselbe = Dissertation = das heißt = II. Vatikanisches Konzil, Erklärung "Dignitatis humanae" 11 Diritto Ecclesiastico, Roma 1926 ff. Denzinger, H., Schönmetzer, A., Enchiridion Symbolorum, Definitionum et Declarationum de rebus fidei et morum, Editio XXXVI, Barcinone I Friburgi Brisgoviae I Romae 1976 = deutsch = II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution "Dei Verbum" = ebda. = editio; editor(es) = Ehegesetz = Europäische Menschenrechtskonvention Ephemerides Iuris Canonici, Romae 1945 ff. = erstmals = Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, begr. v. J. Krautscheidt u. H. Marre, hg. v. H. Marre u. J. Stüting, Münster 1969 ff. = Evangelisches Staatslexikon, hg. v. H. Kunst et al.; 2.Aufl., Stuttgart 1975; 3.Aufl., Stuttgart 1987 = et alii = Extravagantes Communes = (fort)folgende [Seite(n)] = Frankfurter Allgemeine Zeitung = Festschrift = Hans Barion, Gesammelte Aufsätze, hg. v. W. Böckenförde, Paderbom 1984 = Gazzetta Ufficiale
Abkürzungsverzeichnis
10 GE
= II. Vatikanisches Konzil, Dekret "Gravissimum Educatio-
GG GnkKR
= Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland = Grundriß des nachkonziliaren Kirchenrechts, hg. v. J. Listl, H. Müller u. H. Schmitz, Regensburg 1980 = Geschäftsordnung = II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution "Gaudium et Spes" = Handbuch des katholischen Kirchenrechts, hg. v. J. Listl, H. Müller u. H. Schmitz, Regensburg 1983 = Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, hg. v. E. Friesenhahn u. U. Scheuner in Verb. mit J. Listl, Berlin 1974-1975 = Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hg. v. J. Isensee u. P. Kirchhof, Heidelberg 1987 ff. = Herder-Korrespondenz, Freiburg i. Br. 1946 ff. = herausgegeben = Herausgeber = heiliger = Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hg. v. A. Erler und E. Kaufmann, Berlin 1971 ff. = Internationale Katholische Zeitschrift "Communio", Frankfurt I Main 1972 ff. = II. Vatikanisches Konzil, Dekret ,,Inter mirifica" = S. Pufendorf, De Jure Naturae et Gentium = insbesondere = Institutiones = instruktiv = Ius Publicum Ecclesiasticum = lus Privatum Ecclesiasticum = italienisch = lus Canonicum, Pamplona 1961 ff. = Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, neue Folge, Tübingen 1951 ff. = jeweils = Juristenzeitung, Tübingen 1946 ff. = katholisch = J. Auer I J. Ratzinger, Kleine Katholische Dogmatik, Regensburg 1970 ff. = Kommentierung = Lex Ecclesiae Fundamentalis = II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution "Lumen Gentium" = Liber = Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl. samt 3 Ergänzungsbänden mit den Texten des 2. Vatikanischen Konzils [LThK, Suppl., 1.-III.], hg. v. J. Höfer u. K. Rahner, Freiburg i. Br. 1957- 1968
GO GS
HbkKR HbStKR HbStR HerdKorr hg. Hg. hl., Hl. HRG IKZComm IM ING insb. Inst. instr. IPE IPrivE ital. IusCan JöR n. F. jew. JZ kath. KKD Komm. LEF LG Lib. LThK (Suppl.)
nis"
Abkürzungsverzeichnis
11
masch.schriftl. MDCI [Bearb.]
= maschinengeschrieben = Manual de Derecho Canonico. Obra a cargo del Instituto Martin de Azpilcueta, Universidad de Navarra, Facultad de Derecho Canonico, Pamplona 1988. MP = Motu Proprio MonEccl = Monitor Ecclesiasticus, Romae 1876 ff. MThZ = Münchener Theologische Zeitschrift, München 1950 ff. MünstKomm I [Bearb.] = Münsterischer Kommentar zum Codex luris Canonici, (Loseblatt), hg. v. K. Lüdicke, Essen 1985 ff. m.w.N. = mit weiteren Nachweisen = Neue Juristische Wochenschrift, München u. a. 1946147 ff. NJW n.o = numero Österreichisches Archiv für Kirchenrecht, Wien 1950 ff. ÖAfKR OT = li. Vatikanisches Konzil, Dekret "Optatam Totius" = Pontificia Commissio Codici luris Canonici RecognoscenPCR ·do
PCRO PerRMCL PJR PO Pp. PrALR RabelsZ RDC Rev.mus RGG3 s.
s.
SC Schweiz. ZGB SM sog. Sp. StC StdZ StLS/6 /7
Suppt.
= Pontificia Commissio Codici luris Canonici Recognoscendo Orientalis = Periodica de re morali canonica liturgica, Romae 1905 ff. = Praxis juridique et religion, Strasbourg 1984 ff. = li. Vatikanisches Konzil, Dekret "Presbyterorum Ordinis"
= Papst = Preußisches Allgemeines Landrecht = Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht, Berlin 1961 ff. = Revue de Droit Canonique, Strasbourg 1951 ff. = Reverendissimus = Die Religion in Geschichte und Gegenwart, hg. v. K. Galling, 3.Aufl., Tübingen 1956-1962 siehe Seite Sacra Congregatio Schweizerisches Zivilgesetzbuch Sacramentum Mundi. Theologisches Lexikon für die Praxis, hg. v. K. Rahner u. A. Darlap, Freiburg I Basel I Wien 1967- 1969 = sogenannt(e, -er, -es)
= Spalte
= Studia Canonica, Ottawa 1967 ff. = Stimmen der Zeit, Freiburg i. Br. 1915 ff. = Staatslexikon, hg. v. der Görresgesellschaft, 5.Aufl., Freiburg i. Br. 1926-1932; 6.Aufl., Freiburg i. Br. 1957-1970; 7.Aufl., Freiburg i. Br. 1985-1989 = Supplementum(a)
12 SynDoc TE ThQ TN tom. TP TR TRE TThZ u. a. UG unveränd. V.
v. a. Verf. vgl. vol. VwVfG z. B. ZevKR
zit. ZRGKan.Abt. ZStW zusf.
Abkürzungsverzeichnis Schlußdokument der Bischofssondersynode "Feier, Prüfung und Förderung des 2. Vatikanischen Konzils" vom 24.11.7.12.1985 in Rom = Lex Ecclesiae Fundamentalis, Textus Emendatus ( 1971) = Theologische Quartalschrift, Tübingen 1818 ff. = Lex Ecclesiae Fundamentalis, Textus Novissimus (1980) = tomus I tome(s) = Lex Ecclesiae Fundamentalis, Textus Prior (1969) = Lex Ecclesiae Fundamentalis, Textus Recognitus (1976) = Theologische Realenzyklopädie, Berlin 1974 ff. = Trierer Theologische Zeitschrift, Trier 1947 ff. = unter anderem I und andere = A. Utz, B. von Galen (Hg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer Entfaltung, Aachen 1976 = unverändert(e, -er, -es) = von = vor allem = Verfasser = vergleiche = volumen (volumina) = Verwaltungsverfahrensgesetz = zum Beispiel = Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Tübingen 1951 ff. = zitiert = Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung, Weimar 1911 ff. = Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Berlin 1881 ff. = zusammenfassend
Einleitung Im Zuge ihrer Berichterstattung über die politische Neugestaltung Polens nach dem Ende der kommunistischen Ära kolportierte eine deutsche Tageszeitung, "die" katholische Kirche Polens fordere, daß die neu zu beschließende polnische Verfassung die bisher konstitutionell verankerte Trennung von Staat und Kirche 1 nicht mehr enthalten dürfe. Denn die sei, so ein katholischer Intellektueller, ein ,,kommunistischer Grundsatz" und verhindere, so Polens Primas Glemp, daß die polnische Gabe an Europa und die Welt, ein Gemeinwesen der Gerechtigkeit und Liebe aufzubauen, geleistet werde 2 • Wären die Äußerungen richtig wiedergegeben, stünde ihnen das klare Bekenntnis zur Unabhängigkeit von Staat und Kirche in den Dokumenten des 2. Vatikanischen Konzils "Gaudium et Spes" und "Dignitatis Humanae" 3 entgegen. Aber selbst wenn die Äußerungen so nicht getan worden wären, wäre die Tatsache, daß sie so dargestellt wurden, ein Beleg für einen von vielen gehegten Verdacht, wonach die katholische Kirche in politischen Dingen mit mehreren Zungen rede, je nachdem wie es für ihre eigentlichen Ziele, Machterwerb und Machterhalt, am günstigsten erscheint 4 • Erstaunlicherweise kommt kaum jemand auf den Gedanken, zur Beantwortung der Frage, was hier gilt, das Kirchenrecht heranzuziehen. Die vorliegende Arbeit will dem abhelfen. Sie hat die Absicht festzustellen, ob sich dem eben gehegten Verdacht verbindliche kirchenrechtliche Aussagen entgegenhalten lassen. Oder überläßt das kanonische Recht diese heiklen Fragen um Glaube und Politik, um Kirche und Macht tatsächlich dem freien Spiel der Kräfte? Die Arbeit will diesen Fragen anband des neuen "Codex Iuris Canonici" des Jahres 1983 5 als dem zentralen Rechtsdokument der römisch-katholischen WeltI Zum verfassungsgeschichtlichen Kontext geben 0. Luchterhandt, Neuere Entwicklungen der Religionsgesetzgebung in Europa, in: ZevKR 35 (1990), S. 283-318, und H. Ehnes, Licht im Osten? Das Verhältnis von Staat und Kirche in Osteuropa neugeordnet, in: Evangelische Kommentare 24 (1991), S. 459-463, nähere Informationen. 2 S. Dietrich, Glemps Gabe an Europa, in der FAZ vom 5. 6. 1991. 3 Dazu ausf. unten Erstes Kapitel, Abschnitt III., 1. 4 Dieser häufig zu hörende Vorwurf wird (dankenswert) klar geäußert von J. Klein (Skandalon), S. 124, Anm. 5 und S. 127-130 (vgl. unten Erstes Kapitel, Abschnitt Il., S. 58 - 62); ebenso C. Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, hier zitiert nach der Ausgabe München 1925, S. 7: "Mit jedem Wechsel der politischen Situation werden anscheinend alle Prinzipien gewechselt, außer dem einen, der Macht des Katholizismus. ,Man reklamiert von den Gegnern alle Freiheiten im Namen der gegnerischen und verweigert sie ihnen im Namen der eigenen katholischen Prinzipien."'. Diese Vorwürfe können sich bspw. auf die Ausführungen von Ottaviani I Damizia, vol. II., S. 57 mit Anm. 167 stützen.
14
Einleitung
kirehe nachgehen. Dabei gilt es zunächst, nicht aus dem Blick zu verlieren, daß sich die als "Verhältnis von Kirche und Staat" bezeichnete transpersonal-institutionelle Seite der Beziehung von christlichem Glauben und Politik im Lauf der Geschichte vielfach gewandelt hat. Davon konnten Versuche rechtlicher Ordnung dieses Verhältnisses nicht unberührt bleiben. So muß sich auch diese Arbeit zunächst mit der historischen Bedingtheit kirchlicher Aussagen zu Politik und Staat befassen 6 • Denn nur dann kann sie unter inhaltlich-systematischem Aspekt mit dazu beitragen, dem heute geführten, aktuellen Dialog von katholischer Kirche und den Staaten ein sichereres Fundament zu geben - sicher allerdings nur in eben dem Maße, in dem Recht überhaupt Handlungssicherheit zu gewährleisten vermag. Einen grundsätzlichen Einwand gegen unsere Fragestellung gilt es bereits hier zu widerlegen. Man wird zwar darauf verweisen können, daß in der allerersten Phase der Kodexreform, nämlich im Jahre 1968, in einem internen Arbeitskreis zur Gliederung des künftigen, neuen CIC "alle darin übereinstimmten, in den neuen Codex keine Vorschriften aufzunehmen, die die Beziehung der Kirche nach außen" beträfen 7 • Und da dieser Hinweis in der "Praefatio", d. h. dem offiziellen Geleitwort des neuen Kodex nochmals erwähnt worden ist 8 , sei offenkundig, daß auch für das Verhältnis der Kirche zum Staat den Bestimmungen des Kodex nichts zu entnehmen sei 9 • Dem ist aber nicht nur entgegenzuhalten, daß schon das auf systematischer Grundlage erarbeitete Ergebnis, der CIC I 1983 habe keine rechtsförmige Aussage zum Verhältnis von Kirche und Staat getroffen, für sich genommen bemerkenswert wäre. Vielmehr stellt auch eine vereinzelte Äußerung in einem recht frühen Stadium der Gesetzgebung kein sehr hoch einzustufendes Indiz für den späteren Gesetzesinhalt dar. Denn nur der ist für die juristische Arbeit entscheidend und sollte er nicht klar und eindeutig sein, folgt seine Auslegung methodischen Regeln (cc. 17-19 CIC I 1983), bei denen auf die "significatio verborum" des promulgierten Gesetzestextes abzustellen ist. Dabei darf eine einzelne legislatorische Äußerung auch nicht mit der in c. 17 erwähnten "mens legislatoris" gleichgesetzt werden, die bei Auslegungszweifeln zur Klärung des eigentlich gemeinten Textsinnes bemüht werden soll. Denn darunter ist eben nicht jede Einzeläußerung der am Gesetzgebungsprozeß beteiligs Promulgiert, also amtlich verkündet, durch Papst Johannes Paul Il. am 25. Januar 1983 mit der Apostolischen Konstitution "Sacrae disciplinae Ieges", AAS 75 (1983), Pars II (Separatfaszikel), S. VII- XIV, an die sich dann, S. 1- 317, die offizielle Textfassung des CIC anschließt (Corrigenda ebda., Appendix, S. 321-324); in Kraft getreten laut der genannten Promulgationskonstitution am l. Advent des Jahres 1983, also am 27. November 1983. 6 Wie hier H. Barion (Kirche oder Partei?}, GA, S. 465 und 468. 7 G. Dalla Torre, S. 502, Anm. 7 m. w. N. s In der im Auftrag der deutschsprachigen Bischofskonferenzen herausgegebenen lateinisch-deutschen Ausgabe "Codex des kanonischen Rechts", 3. Aufl., Kevelaer 1989, findet sich der Hinweis aufS. XLVIII (lateinisch) bzw. aufS. IL (deutsch). 9 H. F. Köck (Konkordate), S. 42, Anm. 85.
Einleitung
15
ten Personen zu verstehen, sondern sie ist die umfassende Bezeichnung für die Denkart, den Leitungsstil und die tragenden Wertvorstellungen, die den Gesetzgeber während des gesamten Gesetzgebungsprozesses, der für den neuen CIC immerhin rund 15 Jahre währte, bestimmten 10• Die eben dargelegte Problematik der Wechselbezüglichkeit von historischer Erfahrung und konkreter Rechtsetzung bestimmt auch den Gang der Untersuchung. Die Arbeit befaßt sich in ihrem Ersten Kapitel mit der historischen Dimension des Themas, um die diesbezüglich bedeutsamen ,,kulturellen und ekklesiologischen Voraussetzungen" (E. Corecco) der beiden Kirchenrechtskodifikationen der Jahre 1917 und 1983 herauszuarbeiten. Einsetzend mit der historischen Zäsur der Reformation wird in Abschnitt I. die Reaktion der Kanonistik auf die im Gefolge der Glaubensspaltung neu definierten rechtlichen Determinanten des Verhältnisses Kirche-Staat referiert. Diese Reaktion wird üblicherweise als kirchenrechtliche Epoche des "lus Publicum Ecclesiasticum" bezeichnet. Sein Entstehen und sein Einfluß werden bis hin zur Kodifikation des Jahres 1917 nachgezeichnet. Im Abschnitt II. wird die auch für unser Thema aufschlußreiche Kontroverse um die "Tragweite" des CIC/ 1917 für das rechtliche Verhältnis von katholischer Kirche und modernem Staat dargestellt. Der letzte, dritte Abschnitt des historischen Kapitels hat den ekklesiologischen Aufbruch des 2. Vatikanischen Konzils (1962-1965) zum Gegenstand, das nach eigener Intention auch die Rechtsentwicklung der katholischen Kirche entscheidend beeinflussen wollte. Dabei wird das Augenmerk besonders auf die Entwürfe für eine "Lex Ecclesiae Fundamentalis", eine Art Grundordnung für die römisch-katholische Kirche und die mit ihr "unierten" Kirchen, zu richten sein. Denn in ihnen fanden sich explizite Aussagen zu Fragen des Verhältnisses von Kirche und Staat. Im Zweiten Kapitel soll versucht werden, in vollständiger und systematischer Weise jene Rechtsaussagen des neuen Kodex, die von staatskirchenrechtlicher Relevanz sind, zu erfassen und zu interpretieren - in ihrer jeweiligen Genese wie auch ihrem systematischen Zusammenhang. Insofern wird hier eine rechtsdogmatische Arbeit geleistet. Soweit es zum besseren Verständnis oder zur Veranschaulichung des Gesagten nötig oder dienlich erscheint, auf bestimmte staatliche oder vertragsrechtliche Rechtsnormen Bezug zu nehmen, werden bevorzugt die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Bundesrepublik Deutschland herangezogen. Auch Bezugnahmen auf kirchliches Partikularrecht sind hauptsächlich dem Recht der zuständigen teilkirchlichen Autoritäten des deutschen Sprachraumes entnommen. 10 MünstKomm I Socha, Komm. zu c. 17, Anm. 12. Darüberhinaus scheint auch im kanonischen Recht die sog. objektive oder evolutive Auslegung, die zur Folge haben kann, daß das Gesetz ,,klüger" sein kann als der Gesetzgeber, nicht völlig unzulässig oder ausgeschlossen zu sein. Wohlwollend z. B. R. Castillo Lara (Authentische Auslegung), S. 223- 226. Allg. zu den spezifischen, von profan-juristischen Mustern nicht unwesentlich abweichenden Auslegungsmethoden des kanonischen Rechts vgl. W. Aymans I K. Mörsdorf, S. 182-185 und G. May I A. Egler, S. 205 und 208 I 209.
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Einleitung
Vor dem aufschlußreichen Hintergrund der Gesetzesterminologie "in politicis" (Abschnitt 1.) wird im Abschnitt II. versucht, den methodologischen und inhaltlichen, die Gesamtkirche betreffenden Ansatz für die über den ganzen Kodex verstreuten Einzelvorschriften mit Staat-Kirche-Bezug zu finden. Diese Einzelnormen des CIC werden dann in zwei Richtungen systematisiert: "ratione subiecti" - Abschnitt III. - , indem die verschiedenen, im CIC geregelten hierarchischen Stufen der katholischen Kirche samt ihren jeweiligen kanonischen Rechtssubjekten auf ihre spezifische Relation zu Staat oder Politik hin befragt werden, "ratione objecti" - Abschnitt IV. - , indem die Zuordnung beider Rechte, verstanden im objektiven Sinn, aus der Perspektive des Kodex untersucht wird. Die Fragestellung der vorliegenden Studie läßt sich also dahingehend komprimieren, ob und inwieweit für den neuen Kodex (noch) vom "Ius Publicum Ecclesiasticum Externum in Iure Codicis Iuris Canonici" gesprochen werden kann 11• Natürlich wäre es auch überaus reizvoll, der rechtshistorischen und rechtsdogmatischen Untersuchung noch eine dritte, rechtstheoretische folgen zu lassen. Gegenstand dieser Untersuchung müßte insbesondere die Frage sein, ob und inwieweit die kirchliche Ordnung, soweit sie rechtsförmige Aussagen über ihr Verhältnis zur staatlichen Ordnung trifft, im Konfliktfall auch für diese "fremde" Rechtsordnung Verbindlichkeit besitzt. Der Frage, was laut Kodex "in politicis" gilt, würde die Frage folgen, wie es gilt. Damit müßten fundamentale Fragen über Grund, Modus und Umfang der Rechtsgeltung überhaupt und der Geltung des Kanonischen Rechts im besonderen beantwortet werden, zumal die Kirche in diesem Bereich offenkundig kein Mittel zur zwangsweisen Durchsetzung ihrer nicht oder nicht adäquat erfüllten Ordnungsvorstellungen besitzt 12• Der Versuch einer Antwort auf diese ebenso wichtigen wie schwierigen Fragen hätte den Rahmen dieser schwerpunktmäßig rechtsdogmatischen Arbeit gesprengt. Wenn aber zutrifft, daß die kirchliche "Stellungnahme zu Religionsfreiheit und Errungenschaften des modernen Rechtsstaates über die Selbstinterpretation des christlichen Glaubens und sein Verhältnis zur modernen Welt mitentscheidet" 13 , darf schon die vorliegende, begrenzte Analyse der rechtsförmigen Stellungnahme der
11 So auch Dalla Torre, S. 503. Ausgeklammert bleibt in dieser hier vorgelegten Studie allerdings jener Bereich des überkommenen Ius Publicum Ecclesiasticum Externum, der das Verhältnis der katholischen Kirche zu den anderen religiösen Gemeinschaften betrifft; dazu jetzt Spinelli I Dalla Torre, S. 179-210 und speziell für den neuen CIC I. Riedel-Spangenberger, Codex Iuris Canonici und seine ökumenischen Implikationen, in: Catholica 38 (1984), S. 231250 sowie W. Schulz, Questioni ecumeniche nel nuovo Codice di Diritto Canonico, in: ders. I G. Feliciani (Hg.): Vitam impendere vero. Studi in onore di Pio Ciprotti, Roma 1986, S.l71-184. 12 List! (Aussagen), S. 11. 13 E.-W. Böckenförde (Kirche und moderne Welt), S. 177; jüngst wiederholt in der Einleitung (S. 7) zu Band III seiner "Schriften zu Staat-Gesellschaft-Kirche", Freiburg i. Br. 1990.
Einleitung
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katholischen Kirche zu ihrem Verhältnis zum modernen Staat hoffen, sowohl vor dem kirchenrechtlichen wie vor dem staatlich-rechtlichen Forum Beachtung zu finden 14•
14 Die ,,Erfassung des Ius Publicum Ecclesiasticum Extemum seu intersociale als Aufgabe gerade auch des weltlichen Juristen" stellt Barion in (Konzilskritik), GA, S. 518 heraus. Zum interdisziplinären Dialog zwischen Theologie, Kirchenrecht und Jurisprudenz eindringlich U. Stutz (Geist), S. 233 f.; R. Bäumlin, S. 6 f. und 22; A. Hollerbach (Neuere Entwicklungen), S. 16 und sein Diskussionsbeitrag in EssG 19 (1984), S. 49. Negative Folgen der wechselseitigen Entfremdung der kirchlichen und der staatlichen (Rechts)Ordnung(en) deutet K. Hesse, S. 455 f., an.
2 Göbel
ERSTES KAPITEL
"Societas Perfecta" und "Populus Dei"; Dogmen- und entstehungsgeschichtliche Aspekte I. Die vorkodikarische Doktrin des "Ius Publicum Ecclesiasticum" (IPE) Mit Luther und der Reformation begann in Europa eine neue Epoche. In soziopolitischem Kontext prägten diese neue Zeit vor allem folgende Faktoren: Weltlichkeit der politischen Ordnung, Rechtsetzungshoheit des entstehenden Staates und das Prinzip der Rechtsgleichheit aller Individuen 1• Weltlichkeit der politischen Ordnung bedeutete, daß sich ihre Allgemeinheit nicht länger von der christlichen Religion her definierte, sondern aus innerweltlicher Zweckrationalität erwuchs 2 • Die politische Organisation in Gestalt des Staates wurde über Rechtsgewährleistung und jurisdictio hinaus zum Träger eigenständiger Rechtsetzungsgewalt in Überlegenheit über den hergebrachten Rechtszustand 3 , und an die Stelle ständisch-korporativer Einbindungen trat das Prinzip der Rechtsgleichheit als Grundelement der politisch-sozialen Ordnung. Zu ihrem Ausgangs- und Zielpunkt war das aus den vorgegebenen Ordnungszusammenhängen freigesetzte, sich selbst bestimmende Individuum geworden. Mit der Reformation als Dissens über die Glaubenswahrheit endete für den christlich-abendländischen Kulturkreis aber auch das überkommene Ordnungsmodell des "unum corpus christianum" 4 mit seiner juristischen Ausformung sich I E.-W. Böckenförde (Kirche und moderne Welt), S. 155-157; ergänzend dazu und noch grundlegender, nämlich zum Spezifischen des "modernen Bewußtseins" ders. in (Kirche und modernes Bewußtsein), S. 153-156. 2 Hierin liegt der Grundansatz der Säkularisierungskategorie; vgl. dazu nur H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt/ Main 1966, S. 9-74; U. Ruh, Säkularisierung (Teilband 18,2 von CGG), passim, bes. S. 64; aus theologischer Sicht bahnbrechend K. Rahner, Theologische Reflexionen zum Problem der Säkularisation, in: Schriften zur Theologie, Band VIII, S. 637-666. 3 Sog. "innere" Souveränität; vgl. H. Dreier, Art. "Souveränität" in StL7 , Bd. IV. (1988), Sp. 1203-1208. 4 Bedeutungsgleich sind zu verstehen ,,res publica christiana" und "universitas christiana"; vgl. zum ganzen angesprochenen geistesgeschichtlichen Sachverhalt nur statt vieler: G. J. Ebers, S. 108 ff.; P. v. Sivers, Res Publica Christiana, München 1969; R. Schwarz (Eigenberechtigte Gewalt), S. 41 f.; H. Quaritsch, Staat und Souveränität, Frankfurt/Main 1970, S. 45-95.
I. Die vorkodikarische Doktrin des IPE
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gegenseitig ergänzender, grundsätzlich miteinander harmonierender Rechtssysteme geistlicher und weltlicher Prägung, dem "ius utrumque" 5 • Die Grundfrage des nunmehr "selbständigen" profanen Rechts lautete seitdem nicht mehr, wie konsentierte Glaubenssätze in äußerer Ordnung zu wahren und zu schützen sind, sondern wie Menschen verschiedenen Glaubens friedlich, unter Ausschluß gegenseitiger Unterdrückung und Gewaltanwendung, miteinander leben können 6• Profanes - späterhin noch spezifischer: staatliches - Recht hatte seitdem also nicht mehr die Primärfunktion einer "Tugend- und Wahrheitsordnung, sondern einer Friedens- und Freiheitsordnung" 7 • Auf dem Feld des katholischen Kirchenrechts formierte sich in und durch die Auseinandersetzung mit den Phänomenen Staatlichkeit und profanem Rechtsverständnis eine neue kanonistische Teildisziplin, das "Ius Publicum Ecclesiasticum" (IPE). In jeder Hinsicht "reflektierte" sie den Stand der katholischen Bemühungen um den rechten Ort der Kirche im neu definierten Koordinatenkreuz von Politik und Recht. Ihre Probleme und ihre Lösungsansätze können nur verstanden werden, wenn sie als Antwort auf die neuzeitliche Staats- und Rechtstheorie und deren konkrete praktisch-politische Auswirkungen begriffen werden. Diese Theorie wurde am wirkungsvollsten von Samuel von Pufendorf formuliert. Er galt den Juristen des IPE als Hauptrepräsentant der neuen Lehre. Auf ihn bezogen sie sich mit ihrer Erwiderung und ihren eigenen Systementwürfen. Deshalb wird im ersten Unterabschnitt dieses Kapitels (1., 1.) zunächst Pufendorfs Theorie des rechten Verhältnisses vom Staat zu den Kirchen erläutert. Seine Theorie galt den Kirchenrechtlern auch als ursächlich für die repressive Kirchenpolitik der absolutistischen Fürsten. Dieser Politik wollten sie schlagende rechtliche Argumente entgegensetzen. Sie bildete sonach den eigentlichen, konkreten Anlaß des Entstehens des IPE. Im Unterabschnitt 1., 2. wird dann dessen wesentlicher Inhalt 5 Zu diesem Begriff G. Dolezalek im HRG, Bd. II. (1978), Sp. 502-504 sowie mein Aufsatz (Europäische Rechtskultur), S. 21, jeweils m. w. N. Zum paradoxen Fortbestehen der Idee des "ius utrumque" sogar im protestantischen Raum M. Hecke! (Staat und Kirche), S. 35-44 und S. 173-178 (Abschnitt VII., Der Gedanke der respublica christiana). 6 Grundlegend nach wie vor E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Säkularisation und Utopie, Ebracher Studien, Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1967, S. 75-94. Einen guten Überblick vermittelt U. Scheuner, Staatsraison und religiöse Einheit des Staates. Zur Religionspolitik in Deutschland im Zeitalter der Glaubensspaltung, in: Staatsraison. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffes, hg. v. R. Schnur, Berlin 1975, S. 363-405. Die Problematik thematisieren jüngst wieder M. Stolleis (Öffentliches Recht), S. 126 ff. und 394 ff. und - anschaulich resümierend - J. Isensee, Die Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates, in: G. Hunold I W. Korff (Hg.): Die Welt für morgen. Pranz Böckle zum 65. Geburtstag, München 1986, S.164ff. (167-168). 7 E.-W. Böckenförde, Einleitung zur Erklärung über die Religionsfreiheit; zit. nach H. Lutz (Hg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, Darmstadt 1977, S. 410. Aus kirchenrechtlicher Perspektive vgl. M. Hecke!: Zur Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts von der Reformation bis zur Schwelle der Weimarer Verfassung, in: ZevKR 12 (1966/67), S. 1-38; sowie G. Luf (1979). 2*
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1. Kap.: "Societas Perfecta" und ,,Populus Dei"
expliziert, zentriert um den Begriff der Kirche als "societas (iuridice) perfecta". Abschließend wird die Rezeption und Fortentwicklung dieser Doktrin durch das kirchliche Lehramt geschildert. In den Lehrschreiben Papst Leos XIII. kann die ausgereifte, "amtliche" Formulierung der Thesen des IPE erblickt werden.
1. Das Entstehen des IPE a) Die neuzeitliche Staatstheorie und die Kirchen; Samuel von Pufendorfs kol/egialistischer Ansatz Der Naturrechtier und Reichspublizist Samuel von Pufendorf (1632-1694) 8 stand in klarer Tradition zu den geistigen Vätern der politischen Modeme, zu Hobbes und Grotius. "In ihrem Spannungsfeld" 9 bemühte auch er sich darum, "diesseits der Glaubensspaltung und ihrer verheerenden politischen Folgen ... in der Formulierung einer unkonfessionell-christlichen gemeineuropäischen Sozialethik fundamentaler Sätze des gesellschaftlich Richtigen dem Rechtsbewußtsein eine neue Grundlage zu geben." 10• Als Methode zu diesem Ziel stand ihm ein unvermittelter Rekurs auf Glaube und Offenbarung nicht mehr zur Verfügung11. Er bediente sich daher wie bereits seine Vordenker einer allgemein für einsichtig erachteten "Vemunft"-Argumentation, die Recht in der Natur des Menschen grundgelegt sah 12. Das hatte einerseits eine Säkularisierung, andererseits aber auch eine Systematisierung des Rechts, nunmehr konsequent ,,Naturrecht" benannt, zur Folge 13 • Den einzelnen Menschen als Ausgangspunkt jeder Sozialphilosophie zeichneten nach Pufendorf drei Grundeigenschaften aus: - personalitas (Moralität zentral hierfür die Willensfreiheit); - imbecillitas (Bedürftigkeit); - socialitas 8 Grundlegend L. Krieger (1965)- zu Pufendorf Biographie auf den S. 5 -68und H. Denzer (Moralphilosophie) (1972). Das Echo, das Pufendorf auch in der Kanonistik gefunden hat, darf als weiterer Beleg für seine breite Wirkung angesehen werden. Zur Rezeptionsgeschichte allg. Denzer (Klassiker), S. 50-52 und Krieger, S. 255266. Zur Rezeption in Frankreich neuestens S. Zurbuchen, Naturrecht und natürliche Religion. Zur Geschichte des Toleranzbegriffs von Samuel Pufendorf bis Jean-Jacques Rousseau, Würzburg 1991; zu England, vor allem in seiner Wirkung auf John Locke und David Hume, nunmehr S. Buckle, Naturallaw and the theory of property, Oxford 1991, S. 53-124. Diese breite Wirkung beruhte sicherlich auch auf einer Eigenschaft Pufendorfs, die Krieger, S. 3, treffend beschreibt, wenn er ihn "the fundamental human type of mediator" nennt. 9 Ch. Link (Herrschaftsordnung), S. 13. 10 H. Hofmann (Rechtsstaatsdenken), S. 83. 11 Stalleis (Öffentliches Recht), S. 282 I 83 arbeitet klar die Pufendorfsche Separierung von Glaube und Vernunft heraus. 12 Allg. dazu Krieger, S. 51-68 (,,Pufendorf's Method"). 13 N. Hammerstein, S. 176.
I. Die vorkodikarische Doktrin des IPE
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(Geselligkeit). Schon im "status naturalis" 14 der fundamentalen Gleichheit und damit der Herrschaftsfreiheit der Individuen 15 -von Pufendorf, durchaus ungewöhnlich für die damalige Zeit, zur unhist01ischen Fiktion erklärt 16 - zeigte sich eine erste Stufe der Gesellung in Ehe, Familie und Hausgemeinschaft 17 • Doch als dem "status naturalis" eigentlich entgegengesetzt galt ihm erst der "status civilis" 18, der Zustand unter einem durch sukzessive Vertragsschlüsse 19, also durch menschliche Willensentschließungen und Setzungen zustandegekommenen Staat. Ihn definierte Pufendorf als "societas hominum independens, quae summo imperio continetur & regitur" 20 • Seine Berechtigung und Finalität wird ganz unmetaphysisch, "vernunftgemäß" begründet: "Der erste Endzweck des Staates ist die Sicherheit und daß alle einmütig mit vereinigter Macht gewaltsame Eingriffe anderer ablenken." 21 • Garantie dafür, daß dieser Zweck erfüllt werden kann, ist die Souveränität des Staates, sein "summum imperium" 22 • Diese Souveränität gründet wie ihr Hobbes 'sches Vorbild nicht mehr in göttlicher Setzung, sondern im Herrschaftsvertrag. Nicht zuletzt deshalb gilt ihm der Staat als die "vollkommenste Gemeinschaft" ("perfectissima societas" 23 ) und "so sehr [als] die eigentliche Form menschlicher Gemeinschaft, daß Pufendorf die vorstaatlichen Gemeinschaften als Glieder eines Körpers betrachtet, die nach dem Abbild des Körpers (des Staates) gestaltet sind." 24• Mit dem Begriff "societas perfecta" greift Pufendorf zwar begrifflich auf eine Aristoteles bzw. Thornas von Aquin entlehnte und damit vorneuzeitliche Kategorie zurück 25 , wobei es auch ihm darum 14 Dazu Hofmann (Lehre vom Naturzustand), S. 104 I 105; Denzer (Moralphilosophie), S. 106-111. 15 Dazu ausf. H. Welzel (Naturrecht I Gerechtigkeit), S. 140-142, der deswegen und wegen seiner Rezeption in den neuenglischen Kolonien in Pufendorf auch den Ahnherrn der Idee der Bürger- und Menschenrechte sehen will (ebda., S. 142-144). Dies wird vielfach bestritten; siehe nur jüngst wieder J. Schröder, Art. "Pufendorf' im StL7 , Bd. IV. (1988), Sp. 6201621. 16 Denzer (Moralphilosophie), S. 114. 17 Denzer (Moralphilosophie), S. 156-160; Hammerstein, S. 181. 18 De officio, Lib. II, cap. V ff. 19 Denzer (Moralphilosophie), S. 165-171; Krieger, S. 118-126. 20 De habitu § 30. Zum Staatsbegriff ausf. Denzer (Moralphilosophie), S. 171-174. 21 ING VII,2,13 und VII,4,3; ausf. auch Link (Herrschaftsordnung), S. 139 f. 22 Dazu H. Rabe, S. 34 I 35; Hammerstein, S. 186 f.; vgl. De officio II,7 (Staatsrechte, potestas) sowie 11,9 (komplementäre Staatspflichten). 23 ING VII,1,1. Zum systematischen Zusammenhang Krieger, S. 114-116. 24 Denzer (Moralphilosophie), S. 160 mit Hinweis auf ING Vl,1,1. 25 Zuerst Aristoteles, Politik I, 1252 b (,,koinonia teleios"); kommentierend dazu dann Thomas v. Aquin, In politicorum Lib. 1., 1,1,31.; zu dieser Tradition ausf. Schwarz (Eigenberechtigte Gewalt), S. 39-49. Der Rückgriff auf diese beiden Philosophen wird im Kirchenrecht des IPE geradezu zur stehenden Redewendung. Für die Zeit nach lokrafttreten des CIC- vgl. z. B. 1921 F. Solieri, Institutiones luris Ecclesiastici, Pars I Lib. II, S. 89 oder 1958 Ottaviani I Damizia, vol. I., S. 48- wird 'dies auch dadurch verständlich, daß die Lehre des heiligen Thomas durch c. 1366 § 2 CIC I 1917 im wahrsten Sinne des Wortes kanonisiert wurde.
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1. Kap.: "Societas Perfecta" und "Populus Dei"
geht, die Naturgemäßheil des Staates dadurch zu erweisen, daß im Staat die Natur des Menschen zu ihrer Vollendung gelangt. Doch Pufendorf kommt es nun eminent auch auf die organisatorische Entstehung des Staates aus einem Vertrag an, der jede Herrschaft legitimiert. Damit entspricht seine Staatstheorie genau dem neuzeitlichen Individualismus, der aristotelischer Teleologie und thomasischem Ordo-Denken fremd ist, gehen doch beide übereinstimmend davon aus, daß der Mensch mit Naturnotwendigkeit zur Bildung staatlicher Gemeinschaft geführt wird. Der alte Terminus "societas perfecta" hat damit einen neuen Sinn bekommen26. Das sind aber auch neue Prämissen für die Frage der Zuordnung von Kirche(n) und Staat als damals wichtigstem unter den Problemen der Stellung innerstaatlicher Gemeinschaften. Trotz gewisser Schwankungen 27 in den Aussagen zum Verhältnis von Kirche und Staat zeichnet Pufendorfs späte Schrift "De habitu religionis christianae ad vitam civilem" (1687) doch ein relativ klares Bild hiervon 28, das ihn zumindest nach einhelliger Auffassung seiner Zeitgenossen zum Vater der sogenannten "Kollegialtheorie" 29 hat werden lassen 30. Zwei Grundprinzipien leiten danach die Pufendorfsche Zuordnung von Staat und Kirchen: Die Wesensverschiedenheit des Staates und der Kirchen sowie der Jurisdiktionsprimat des Staates. Zunächst erscheinen Kirche(n) und Staat streng voneinander geschieden, im Blick auf ihren jeweiligen Zweck so gut wie im Blick auf ihre Rechtsqualität und ihre Organisation. Die Einheitsvorstellung des Mittelalters ist unwiederbringlich vorbei. Für die Zuordnung, jetzt im Sinne einer klaren Über-Unterordnung, gilt sinngemäß: "Die Kirche lebt im Staat in der Art eines Vereins." - "Ecclesia inest civitati per modum collegii" 31 . Verständlich werden diese Thesen, insbesondere die letztgenannte, durch Pufendorfs protestantische Glaubensüberzeugungen. Zeitlebens überzeugter Lutheraner32 meint Religion für ihn etwas schlechthin Individuelles, einen Akt freier 26 Denzer (Moralphilosophie), S. 164 f.; List! (Kirche und Staat), S. 68.
21 So Denzer (Moralphilosophie), S. 210. Rabe, S. 69, weist auf die Schrift "Historisch-politische Betrachtung der geistlichen Monarchie des Stuhls zu Rom" aus dem Jahre 1682 (Krieger, S. 226: 1679) hin. 28 In seinem HauptwerkING (1672) hat Pufendorf es noch dabei bewenden lassen, für die Frage des Staatskirchenrechts summarisch auf Grotius zu verweisen: ING VII, 4, 11. 29 Erster Überblick bei Scheuner, Art. "Kollegialismus" in RGG 3, Bd. 3 (1959), Sp.l720-1721; K. Schlaich, Art. "Kollegialismus" im EStL, Bd. 1., Sp. 1810-1814. Jo Schiaich (Kollegialtheorie), S. 52 ff.; List! (Kirche und Staat), S. 71 ff.; zur diesbezüglichen Wirkungsgeschichte Pufendorfs auch Schiaich (Die Kirche), S. 369. 31 Vgl. De habitu §§ 39-41. Darin baut Pufendorf zwar eine historische Argumentation auf. Sie harmoniert in ihren Ergebnissen aber mit den Sätzen seiner abstrahierenden Naturrechtslehre; vgl. Denzer (Moralphilosophie), S. 210. 32 Welzel (Naturrecht/ Gerechtigkeit), S. 136; E. Wolf (Ordnung), S. 393. Pufendorf ist auch durchaus von einem manifesten "antirömischen Affekt" geprägt (um mit einem mittlerweile geflügelten Wort C. Schmitts aus "Römischer Katholizismus und politische
I. Die vorkodikarische Doktrin des IPE
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Gewissensentscheidung, der keinerlei institutioneller Vermittlung bedarf 33 und eigentlich auch kein Gegenstand von Vernunfterkenntnis ist 34• Mit dem lutherischen Protestantismus geht auch er von einem dualistischen Kirchenbegriff aus 35 , der Scheidung zwischen der unsichtbaren Kirche Christi 36 und den sichtbaren Kirchen als Werk der Geschichte, gleichsam als "Notbauten unter der Herrschaft natürlicher Gesetze" 37• Damit gehört die Ordnung der (sichtbaren) Kirchen als natürliche dem Naturrecht, als positive dem Staatsrecht an 38 • Unter diesen Prämissen ist es auch nur konsequent, die Kirchen gleich anderen Personengruppen 39 wie Collegia als freie Zusammenschlüsse zur Verwirklichung eines bestimmten Zwecks zu behandeln 40 • Damit gleicht die Kirche einer herrForm", a. a. 0 . (Einleitung, Anm. 4), S. 5, zu sprechen)- vgl. nur De habitu, Introductio, wo die Katholiken bewußt pejorativ als "illos, qui Pontificis Romani sectarn sequuntur" bezeichnet werden. Weitere Nachweise bei Welzel (Naturrechtslehre), S. 102. 33 Welzel (Naturrechtslehre), S. 101; Denzer (Moralphilosophie), S. 211. 34 Wolf (Rechtsdenker), S. 361. 35 Wolf, ebda.; Schiaich (Kollegialtheorie) S. 65 ff.; ausf. F. Schenke, S. 42. Er nennt die beiden Kirchenbegriffe Pufendorfs vom "Regnum Christi" einerseits und dem "Coetus Fidelium" andererseits "gut lutherisch", eine Bemerkung, die von Rabe, S. 42, als zu vereinfachend kritisiert wird. 36 De habitu § 29 (S. 69 I 70): ,,regnum Christi constituit unio fidelium sub Christo rege, sed quod non est de hoc mundo adeoque nec paris naturae cum illis statibus, qui summo imperio civili reguntur" [mit nachfolgenden Schriftzitaten; G.] oder auch Jus Feciale, § 59 (S. 204 I 205): "Universitas eorum, qui huic foederi accedunt, Regnum Christi constituunt, in peculii velut vicem a Patre ipsi assignatum. In quod iste omnes invitat, ac vocat, eamque vocationem non respuentes in dilectissimos sibi cives adsciscit, eosque regit ac protegit ... [Wiederum folgen Schriftzitate; G.]. Huius regni, quod & Ecclesiae nomine venit, qui genuinus civis est, omnium a Christo partorum beneficiorum est particeps, sitque adeo membrum corporis Mystici, cujus caput Christus est, a quo Spiritus velut vitalis in omnia membra influit, ut omnes horum actiones a Christo pretium fortiantur, ac Deo in isto placeant: ac ut, quae alicui eorum inferuntur, ipsum Christum tangant, sicuti Princeps iniurias civibus illatas ad se pertinere judicat." 37 Wolf (Rechtsdenker), S. 362. 38 Zum Verhältnis von Naturrecht und positivem Recht bei Pufendorf vgl. Link (Herrschaftsordnung), S. 117 ff., insbes. S. 119 f. sowie Hammerstein, S. 184 f. Nach A. Endrös, S. 12113 und 16 bzw. S. 57-63 sowie 75-82 hat das Problem der rechtlichen Einordnung insbesondere der protestantischen Landeskirchen Pufendorf veranlaßt, den Begriff der Körperschaft des öffentlichen Rechts ("corpus publicum") zu prägen, der dann Eingang in das PrALR des Jahres 1794 (Zweyter Theil, Eilfter Titel, Erster Abschnitt, §§ 17-18, "Oeffentlich aufgenommene" [Kirchengesellschaften]) gefunden habe. 39 Pufendorf bekannter Vergleich der Kirchen mit der Ost-Indischen Compagnie in Holland findet sich in einem Brief an Thomasius vom 9.4.1692; Nachweis bei Denzer (Moralphilosopie), S. 210 mit Anm. 10. 40 Schenke, S. 52 ff., will demgegenüber "feine Nüancen" (S. 61) feststellen, wenn Pufendorf in § 39 von De Habitu statt "ecclesias igitur constat fuisse collegia" von "habuisse indolem ... " spricht. Er schreibt aufS. 57: "Sie haben etwas von der Art der Collegien an sich, ohne, so muß man schließen, selbst Collegia ... zu sein.". Demgegenüber bleibt entscheidend, was auch Schenke (S. 59) zugestehen muß, daß der Sinn des Collegia-Status der Kirchengemeinden in ihrer Ein- und Unterordnung in die staatliche Rechtssphäre liegt, nämlich gerade wegen der damit implizierten "Vemeinung eines
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1. Kap.: "Societas Perfecta" und "Populus Dei"
schaftsfreien "societas aequalis". Ihre potestas ecclesiastica liegt bei der Gesamtheit der Gläubigen, was wiederum mit dem protestantischen Glaubenssatz des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen zusammenstimmt 41 • Hiervon wesensverschieden ist der Staat als (einzige) "societas inaequalis", die - durch Unterwerfungsvertrag konstituiert - durch eine Ungleichheit zwischen Herrschaft und Untertanen gekennzeichnet ist 42 • Mit dem Rechtstitel, über Sicherheit und Eintracht unter den Untertanen zu wachen, stehen dem Staat daher auch weitgehende Eingriffsrechte in kirchliche Angelegenheiten zu, so bei der Bestellung der Geistlichen, der Inspektion ihrer Amtsführung, der Einberufung von Synoden zwecks Behebung von Glaubensstreitigkeiten und anderem mehr 43 • Wenngleich diese Eingriffsmöglichkeiten des Staates geringer und vor allem auf einer sorgfältiger differenzierten Rechtsgrundlage zu beruhen scheinen als im Vergleich zu früheren staatskirchenrechtlichen Ausführungen Pufendorfs 44 , ist doch die Grenze der innerkirchlichen Rechtsmacht des Fürsten keineswegs eindeutig markiert und bildet damit den "Punkt, wo die Gefährdung der kirchlichen Freiheit ansetzen kann" 45 • Die explizite Beschränkung staatlicher Kirchenaufsicht durch die Herausarbeitung der originären Kirchengewalt ist (erst) das Verdienst der zeitlich nach Pufendorf entstandenen "Kollegialtheorie" 46• Nur auf den ersten Blick paragöttlichen Sonderrechts" für die sichtbare(n) Kirche(n). Die göttliche Mitwirkung bei der Gründung der Kirche, die Pufendorf in De habitu, § 32, tatsächlich anklingen läßt, wirkt sich rechtlich nicht aus. Das belegen ausdrücklich noch einmal § 41: "Ecclesiae ideo non exeunt naturam collegii" sowie die Fortsetzung der Aussage in § 39 (S. 111): "Eas [ecclesias] igitur constat habuisse indolem collegiorum, seu ejusmodi societatum, queis plures homines certi cujusdam negotii gratia inter se connectuntur, salvo summorum imperantium in eosdem iure. Qua de re consuli possunt JCti. ad tit. D. de ,Collegiis & Corporibus, & inprimis Jacobus Cujacius VII. observat. XXX.'" 41 Denzer (Moralphilosophie), S. 213; De habitu § 39 (S. 113): "Est autem ea natura collegiorum ornnium, quae libera hominum coitione constant, ut aliquid habeant democratiae simile hactenus, ut quae eam in universum concemunt negotia communi omnium consensu sint expedienda ... Unde consequitur, ut radicaliter & originarie facu1tas constituendi . .. Ministros Ecclesiae sit penes totam Ecclesiam, universumque coetum fidelium." 42 List1 (Kirche und Staat), S. 74. 43 De habitu, §§ 44-49. 44 Denzer (Moralphilosophie), S. 215. 45 Denzer, ebda.. Angriffsziel ist für Pufendorf nicht zuletzt die römisch-katholische Kirche. In seiner Schrift "De concordia verae politicae cum religione christianae", veröffentlicht als eine seiner "Dissertationes Academicae Selectiores" in Uppsa1a 1677, führte er aus, daß der kanonische Gehorsamsanspruch des Papstes nicht nur dem Gewissen, sondern auch einer rechten Staatsraison zuwiderlaufe: Krieger, S. 225 I 226. Ähnlich Jus Feciale, §§ 11 und 12. 46 Diese Kirchengewalt wurde in späterer Terminologie als Inbegriff der "iura in sacra" gefaßt im Gegensatz zu den herrscherliehen sog. "iura circa sacra". Hierzu und zu der genannten Wirkung der "Kollegia1theorie" ausf. Schiaich (Kollegialtheorie), s. 131 ff. Die kollegialistische Terminologie konnte dabei allerdings an Pufendorf anknüpfen. In De habitu, §§ 44 ff., ist zwar von ,jura principum circa Ecclesiam" die Rede und diese sind auch implizit auf die "äußerliche Direktion" der Kirche beschränkt (vgl.
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dox kann auch die Tatsache erscheinen, daß der Staat trotz dieser weitgehenden Aufsichts- und Eingriffsrechte gegenüber den Kirchen in praxi ein vehementes Interesse an der Förderung des christlichen Glaubens hatte 47 • Er handelte hier, ganz seiner Zielsetzung entsprechend, vor allem aus Gründen der Sittenzucht 48 • Denn schließlich galt ein guter Christ auch als gehorsamer Untertan. Das Staatskirchentum des Absolutismus - auch in seiner aufgeklärten Form - 49 war damit rechtlich grundgelegt 50 •
b) Neuzeitliche Staatspraxis und die Kanonistik Dadurch, daß der "doppelschichtige" 51 Augsburger Religionsfriede von 1555 für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation eine faktische Neutralität in religiöser Hinsicht etablierte und die Problematik der gemeinsamen Konfession für alle Untertanen qua "ius reformandi" in die einzelnen Territorien verschoben hatte, bildete er den Grundstein einer fatalen gegenseitigen "Utilität" 52 von Staaten und Kirchen. Denn der Landesherr bestimmte die Konfession und damit den Einflußbereich der Kirchen, und die Kirchen zeigten sich dafür erkenntlich in der moralischen Stärkung der Staatsgesinnung. Dieses neuerliche Bündnis von "Thron und Altar" war aber durchaus nicht nur auf die protestantischen Territorien und ihr landesherrliches Kirchenregiment beschränkt, sondern sozusagen reichsgemein und damit Kennzeichen der gesamten Epoche. Zu diesem Umstand trug zum einen die Rezeption der oben skizzierten Theorie bei. Er erklärte sich aber auch daraus, daß der Westfälische Friede von 1648 das paritätische 53 System Welzel (Naturrechtslehre), S. 105 f.), doch wird der Bereich kirchlichen Handeins und Dienstes, der dem Zugriff des Herrschers nicht offensteht, noch nicht positiv umschrieben oder mit dem Terminus ,jura in sacra" benannt. 47 Etwa De habitu, § 7. Ein anderer gesellschaftlich wirksamer Glaube als der christliche oder gar ein geduldeter öffentlich praktizierter Nicht-Glaube lagen ohnehin jenseits der Vorstellungskraft Pufendorfs und seiner Zeit; vgl. Scheuner, a. a. O.(Anm. 6), S. 404. Dies soll nach C. Schmitt, Die vollendete Revolution. Bemerkungen und Hinweise zu neuen Leviathan-Interpretationen, in: Der Staat4 (1965), S. 51-69 (52), sogarfürThomas Hobbes gelten. 48 Link, Art. "Kirchenrecht (= Staatskirchenrecht)", im HRG, Bd. II. (1978), Sp. 763 ff. (805 I 806). Aus zeitgenössischer Perspektive erstaunlich kritisch E. Moy, s. 68. 49 Vgl. den Überblick bei A. v. Campenhausen, S. 18 - 27. so Der wichtige Aspekt, daß Pufendorfs Lehre den Grundstein zu einer Neuinterpretation des landesherrlichen Kirchenregimentes bildet- nicht mehr nämlich qua territorialer Hoheit, sondern qua Übertragung seitens der Glaubensgemeinde -, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter verfolgt werden; vgl. aber Schiaich (Kollegialtheorie), S. 235 ff.; Denzer (Moralphilosophie), S. 215 f.; Listl (Kirche und Staat), S. 70 und Rabe, s. 74-78. 51 Hecket (Staat und Kirche), S. 192; ebda., S. 20-22 ausf. zur "Dialektik" des neuen Reichsstaatskirchenrechts. 52 Wolf (Ordnung), S. 131 f. 53 Vgl. M. Heckel, Art. "Parität" in EStL3 , Bd. II., Sp. 2412-2420; B. M. Kremer, S. 119-132.
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zum Angelpunkt der europäischen Mächtebalance gemacht hatte (hie die katholischen Territorien Habsburgs, Frankreichs und Spaniens, da die protestantischen Englands und Schwedens, dazwischen das zerstückelte Reich). Die katholischen Herrscher griffen als Rechtfertigung ihrer Kirchenhoheit nicht mehr auf vorreformatorische Rechtstitel wie Kirchenadvokatie oder Patronate zurück, sondern beriefen sich direkt auf ihre Souveränität als Landesherren, auf die (ausschließliche) Verantwortung des Souveräns für die sphaera huius vitae, die ihnen schließlichkraftgöttlichen Mandats anvertraut sei 54. So bildete sich ein "gemeineuropäisches Instrumentarium" 55 von "iura circa sacra" 56 bei Kompetenz-Kompetenz des Staates 57 , ein stattliches Arsenal von Aufsichts- und Eingriffsrechten des Staates gegenüber den Kirchen, aus dem vor allem die Papstwahlexklusive 58 , das Placetum Regium (Exequatur)59 und der Recursus ab abusu 60 hervorstachen. Dieser politischen Entwicklung zur Vielfalt souveräner Territorialstaaten korrespondierte innerkirchlich - katholischerseits mit dem sog. Episkopalismus eine Bewegung, die nach Unabhängigkeit der Partikularkirchen von päpstlicher Jurisdiktion strebte 61 . Der Episkopalismus verstand sich als Fortsetzung der konziliaristischen Idee des ausgehenden Mittelalters vom obersten Jurisdiktionsprimat allgemeiner, ökumenischer Konzilien 62 . Dieser erste Anlauf scheiterte bekanntlich63. Diesmal, unter den Vorzeichen der aufstrebenden Moderne, schien die Chance zum Erfolg wesentlich größer zu sein. Die Rezeption der aufklärerischen philosophisch-juristischen Ideen und die Auseinandersetzung mit ihnen im katholischen Kirchenrecht setzte in der 1. Hälfte des 18. Jh. 64 ein und ist mit den Namen der sog. "Würzburger Schule"
54 Link, Art. "Kirchenrecht (=Staatskirchenrecht)" im HRG, Bd. II. (1978), Sp. 805 I
806. 55
Campenhausen, S. 24 f.; H. E. Feine, S. 515-518; R. Minnerath (Droit de l'Eglise),
s. 24.
56 Einen Überblick geben Ebers, S. 191 f., sowie Hergenröther I Hollweck, S. 101107. Eine Darstellung der staatlichen Kirchenaufsicht im Verhältnis zur katholischen
Kirche für die Zeit nach dem Kulturkampf gibt P. Hinschius (Allgemeine Darstellung), S. 279-336. Zum Begriff der "iura circa sacra", der Kirchenhoheit, im Gegensatz zu den "iura in sacra", dem Kirchenregiment, instr. M. Hecke! (Kirche und Staat), Anhang
s. 245-247.
57 Campenhausen, S. 24, Köck (Kompetenzabgrenzung), S. 80 I 81 und S. 90-92. 58 Feine, S. 512 ff. 59 K. Mörsdorf, Art. "Placet" in LThK, Bd. 8 (1962), Sp. 545 m. w. N. 60 P. Hinschius, (Kirchenrecht, VI), S. 266-278; E. Eichmann, Der recursus ab abusu nach deutschem Recht, Breslau 1903. 61 Hier im Sinne eines Oberbegriffs für einzelne regionale "Los-von-Rom"-Bestrebungen der Neuzeit (bspw. des Gallikanismus oder des deutschen Febronianismus); ebenso Campenhausen, S. 26; anders A. Erler, S. 50-52. 62 Vgl. dazu P. Meinhold, Art. "Konziliarismus" im EStL2 (1975), Sp. 1379-1381 (nicht mehr aufgenommen in die 3. Aufl. 1987). 63 Feine, S. 411-433.
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verbunden 65 • Johann Kaspar Barthel ( 1697- 1771) war der erste Kanonist, der kanonisches Recht entgegen dem überkommenen "Ordo Decretalium" 66 und genuin protestantischer Gepflogenheit entsprechend 67 in öffentliches und privates Recht unterteilen wollte 68 • Daneben machte er sich inhaltlich aber auch für die episkopalistischen Tendenzen im Reiche stark 69 . Sein Plan, ein "Jus Canonicum Catholicum secundum principia Nationis germanico genio accomodatum" zu verfassen, blieb allerdings unverwirklicht 70 •
64 "Die Grundideen des Kirchenrechts jener Zeit wurden in Deutschland vor allem aus zwei urprünglich voneinander völlig unabhängigen Quellen geschöpft: Aus der rationalistischen Naturrechtslehre und aus dem Episkopalismus gallikanisch-febronianischer Prägung.": so J. Neumann (Kirche und kirchliche Gewalt), S. 8. Kritik an diesem kirchenrechtlichen Ansatz ebda., S. 110. 65 Aus der mittlerweile reichhaltigeren Literatur vgl. A. Oe Ia Hera I Ch. Munier, S. 37 ff.; List! (Kirche und Staat), S. 88 ff.; M. Zimmermann, S. 17- 19 ; Minnerath (Droit de l'Eglise), S. 28 f.; E. Fogliasso (Vaticano Il), S. 13 ff. Eine beispielhafte Schilderung der Lehre eines Kanonisten im Umkreis der Würzburger Schule, nämlich Franz Xaver Zechs (1692- 1772) gibt L. Müller, Kirche, Staat, Kirchenrecht. Der Ingolstädter Kanonist Franz Xaver Zech S. J. (1692-1772), Regensburg 1986, insbes. hier S. 99- 102 (gegen Oe La Hera I Munier, S. 44, Anm. 35). Ähnliche naturrechtliche Ansätze der deutschen Kirchenrechtswissenschaft des 18. Jahrhunderts referiert Neumann (Kirche und kirchliche Gewalt), S. 81-99. Vgl. auch E. Plassmann, Staatskirchenrechtliche Grundgedanken der deutschen Kanonisten an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, Freiburg 1968 (besprochen von Hollerbach in: Der Staat 12 (1973), S. 129 ff.). 66 Vgl. List! (Kirche und Staat), S. 9 f.; Fogliasso (Vaticano II), S. 7 ff.; F. Merzbacher, Johann Caspar Barthel (1697-1771), in: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 39 (1977), s. 183-201. 67 Nachweis des konfessionellen Urprungs der Entstehung eines eigenen "Ius Publicum" im Deutschen Reich bei Stolleis (Reformation und öffentliches Recht), S. 54-65. 68 Oe Ia Hera I Munier, S. 37 I 38. Zur allmählichen Entwicklung der Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht seit dem späten 16. Jh. durch das aufgeklärte Naturrecht grundlegend D. Wyduckel, S. 11-177 (vgl. auch ders. im Vorwort, S. 5: "Die hier vorgelegte Untersuchung will ... im Rückgriff auf die Geltungsgrundlagen des öffentlichen Rechts zugleich seine Entwicklungsbedingungen darstellen.... Öffentliches Recht erscheint vor diesem Hintergrund nicht etwa bloß als Gegensatz eines immer schon vorausgesetzten Privatrechts, sondern wird bereits vom Ansatz her als autonome Antwort auf sich anbahnende politische und soziale Veränderungen begriffen, wie sie mit der Herausbildung des frühneuzeitIichen Staates allenthalben hervortreten."). Diese These bestätigt neuestens noch einmal Stolleis (Öffentliches Recht), S. 394-399. Instruktiv noch immer M. Bullinger, S. 16-36. Seit der Arbeit von H. Müllejans darf als gesichert gelten, daß im älteren kanonischen Recht bis hin zum CorpJC der Unterscheidung von Ius Publicum zu Ius Privatum, sofern sie überhaupt auftaucht, keine tragende Bedeutung zukam: vgl. ebda., S. 187 I 188. In unserem Zusammenhang wird deutlich, daß das Aufkommen der Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht im staatlichen Bereich ein durchaus anderes Ziel hatte als das, dem sich die späteren römischen Kanonisten verschrieben hatten: Schiaich (Die Kirche), S. 365-367; vgl. auch die kritischen Bemerkungen bei S. Gagner, S. 49-57. 69 List! (Kirche und Staat), S. 16; Raab (Neller), S. 193 f. 10 List!, ebda.
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Mittlerweile hatte aber bereits Johann Adam von lekstatt (1702-1776), ein gleichfalls aufklärerisch gesinnter, seit 1746 in Ingotstadt lehrender Staats- und Kirchenrechtslehrer 1731 programmatisch die Ausformung einer eigenständigen Disziplin des Jus Publicum Ecclesiasticum und deren Trennung vom Jus Ecclesiasticum Privatum gefordert 71 , und sein Schüler Georg Christoph Neller (17091783) hatte 1746 anonym "Principia luris Publici Ecclesiastici" publiziert 72 • Dieses Werk wurde zwar bereits 1750 von Rom indiziert, fand aber dennoch nicht bloß im josephinischen Österreich starke Beachtung. Von ihm laufen auch Verbindungslinien zu Nikolaus von Hontheim 73 • Dessen Werk "De statu Ecclesiae et legitima potestate Romani Pontificis liber singularis" aus dem Jahre 1763, das er unter dem Pseudonym Justinus Febronius veröffentlichte, wurde zur wichtigsten Schrift des sog. "Febronianismus" 74 als der bedeutendsten deutschen episkopalistischen Strömung. Einen eher gemäßigten Standpunkt vertrat dagegen Johann Nepomuk Endres (1730-1791), der Schüler und Lehrstuhlnachfolger Barthels 75 • Er trat zwar für eine methodische Erneuerung der Kanonistik ein, ging aber inhaltlich ausdrücklich auf Distanz zum Febronianismus 76• Unzweifelhaft romtreu schrieben auch der Kanonist und spätere Bischof Philipp Anton Schmidt (1734-1805) und der Jesuit JakobAnton von Zallinger zum Thurn (1735- 1813). Dabei übernahmen sie gleichzeitig die neu aufgekommene Systematik und BegrifflichkeiL Schmidts Hauptwerk "lnstitutiones Iuris Ecclesiastici Germaniae accomodatae" (1771) wird zum Ausgangspunkt für die sog. römische Epoche der Juspublizistik, eingeleitet von Kardinal Giovanni Soglia (1779-1856). Der erste Band ("Tomulus Primus") von Schmidts Schrift beschäftigte sich denn auch, nach einer kurzen historischen Einführung, mit dem von ihm so genannten "Jus Ecclesiasticum Publicum" 77 • Auf gleicher Linie, aber11 Ebda., S. 17; Oe Ia Heral Munier, S. 38-40. Die Schreibweise schwankt: Fogliasso (II Codice), De Ia Hera I Munier und P. Huizing (Öffentliches Recht) schreiben "Ickstadt". Die korrekte Schreibweise ist allerdings die mit "tt". Zur Person Iekstaus vgl. die Nachweise bei Müller, S. 36 I 37, Anm. 61 und 62. n List! (Kirche und Staat), S. 13-15. 73 So bereits J. F. v. Schulte, S. 214 I 215. Zu Person und Wirken Hontheims (17011790) neuestens W. Seibrich, Art. "Hontheim, Johann Nikolaus", in: E. Gatz (Hg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches. 1648-1803, Berlin 1990, S. 192-195. 74 Hierzu Raab, Art. "Febronianismus" in EStL2 , Sp. 663-665 (in die 3. Aufl. 1987 nicht mehr aufgenommen). Die Mitautorenschaft Nellers am ,,Febronius" Hontheims ist nicht mit letzter Sicherheit zu erweisen, darf aber als wahrscheinlich gelten: dazu wiederum Raab (Neller), S. 199-202. 75 Zu ihm eingehend Merzbacher, Der Kanonist Johann Nepomuk Endres (17301791). Leben und Werk eines deutschen Kirchenrechtiers vor der Säkularisation, in: AfkKR 139 (1970), S. 42-68; auch List! (Kirche und Staat), S. 19, v. a. Anm. 46. 76 Dies ist das Hauptanliegen der Schrift "Oe necessario jurisprudentiae naturalis cum ecclesiastica nexu, et illius hac in usu" Würzburg 1761; vgl. auch List! (Kirche und Staat), S. 25. 77 Pars I: Historia Juris Ecclesiastici critica (aufgeteilt nach Epochen); Pars II: Jus Ecclesiasticum Publicum. Caput I.: Ecclesia in se spectata; Caput II: Nexus Ecclesiae cum Republica.
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neben pädagogischen Erwägungen- mit deutlich polemischerer Spitze, verfaßte 1784 Zallinger seine "Institutiones Juris Naturalis et Ecclesiastici Publici Libri V"7a.
Im Umfeld der römischen Kurie und des Papstes tauchte der Begriff des IPE erstmals 1824 auf, als im Zuge der Reform der Unterrichtsverwaltung des Kirchenstaates 79 in Rom und Bologna eigene Lehrstühle für "Jus Publicum Ecclesiasticum" eingerichtet wurden. Der Unterrichts- und Prüfungsstoff dieses Faches war weitgehend in den 100 "Theses ex Iure Publico Ecclesiastico" aus dem Jahre 1826 enthalten 80• Dieser Katalog dogmatisch-kirchenrechtlicher Leitsätze trägt die Handschrift Giovanni Soglias und erinnert stark an die josephinische "Synopsis Juris Ecclesiastici publici et privati" F. S. Rautenstrauchs 81 • Mit den "Theses" inhaltlich weitgehend identisch war das von Soglia eigens für das neue Fach konzipierte Lehrbuch "Institutiones Iuris Publici Ecclesiastici" 82• Giovanni SogHa, Kirchenrechtslehrer, Bischof und Kardinal darf somit als die "führende Mittlerpersönlichkeit" (Listl) gelten, die die neue kanonistische Richtung hoffähig machte. Die mit ihm anhebende römische Epoche des IPE mit ihren vielfältigen Auswirkungen endete erst kurz vor dem 2. Vatikanischen Konzil 83 • Den Schlußakkord markierte das Werk Kardinal Alfredo Ottavianis 84 • Als eigene kanonistische Disziplin ist das Ius Publicum Ecclesiasticum heute sehr in den Hintergrund getreten 85 • Ob und wie sein Inhalt, den es im folgenden in seinen Grundlinien 78 Zum ganzen De la Hera I Munier, S. 45-50 sowie List! (Kirche und Staat), S. 1821. Fraglich ist, ob nicht Schmidt - im Gegensatz zu Zallinger - das neue Schema sogar aus innerer Überzeugung übernommen hat; vgl. List! (Kirche und Staat), S. 20, unter Hinweis auf Wernz, lus Decretalium I, S. 68 mit Anm. 55. Zum expliziten Rückgriff Schmidts auf die Kontroverstheologie Bellarmins siehe Minnerath (Droit de l'Eglise), S. 27 f. sowie Zimmermann, S. 19. 79 Apost. Konstitution "Quod divina sapientia" Leos XII.; vgl. die Nachweise bei List! (Kirche und Staat), S. 21, Anm. 54. so Abgedruckt bei Listl (Kirche und Staat), S. 236-244. a1 List! (Kirche und Staat), S. 22. Zur Person Rauteostrauchs s. bei Schulte dieS. 245247. 82 Erste Auflage Loreto 1842; im folgenden zitiert nach der "Ersten Pariser Ausgabe" aus dem Jahre 1856, eigentl. 1853: so List! (Kirche und Staat), S. 4 I 5, Anm. 2 gegen Schulte, S. 540. Bis dahin wurde auf der Grundlage des oben genannten Werks von Zallinger unterrichtet. 83 So setzen die Ordinationes (=Ausführungsbestimmungen) zur Unterrichtsregelung "Deus Scientiarum Dominus" Papst Pius XI. vom 24. 5. 1931, also noch lange nach Inkrafttreten des CIC I 1917, das IPE als kirchenrechtliches Hauptfach fest: vgl. AAS 23 (1931), S. 241 ff.; Huizing (Öffentliches Recht), S. 586; Spinelli I Dalla Torre, S. 31. 84 "Institutiones Iuris Publici Ecclesastici"; 2 Bde.; Editio Prima, Romae, ohne Jahr (wohl 1925 I 26), letzte Auflage unmittelbar vor dem 2. Vatikanischen Konzil: Editio Quarta- emendata et aucta adiuvante Josepho Damizia; Romae 1958-1960 (nach der auch hier zitiert wird); zu diesem Werk W. Böckenförde (Rechtsverständnis), S. 6- 15. Einen Überblick über diese römische Epoche des IPE gibt List! (Kirche und Staat), S. 28-39; zu ihren Anfangen auch M. Zimmermann, S. 20-25. as Art. 76b) der Apostolischen Konstitution "Sapientia Christiana" über die Studien an den kirchlichen Universitäten und Fakultäten vom 15. 4. 1979, AAS 71 (1979),
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nachzuzeichnen gilt, fortlebt, ist eines der Rätsel, die die "Gegenwartslage" des katholischen Kirchenrechts aufgibt 86 •
2. Die "Societas perfecta"-Doktrin und das Lehramt a) Die "societas perfecta"-Formel als Kernthese des "Jus Publicum Ecclesiasticum" Schon bei Soglia finden sich mehrere und eingehende Bezugnahmen auf die "protestantes" 87, insbesondere aufPufendorf 88 • Sie dienen ihm und seinen kanonistischen Kollegen als "Aufhänger" ihrer kirchenrechtlichen Darstellung. Dabei bildet sich schon bald eine feste Abfolge der Gedanken heraus, die leicht anhand der Gliederungen ihrer Werke nachzuvollziehen ist. Diese Darstellungsstruktur 89 hebt an mit einer Begriffsbestimmung dessen, was IPE eigentlich ist - also der Themenangabe 90 • Darauffolgt die Explikation der Begriffe "societas" und "eccleS. 469-499 (476) erwähnt allerdings einen zweiten Zyklus des Studiums des Kirchenrechts "addito studio affinium disciplinarum". Die Durchführungsverordnung der SC Pro lnstitutione Catholica in AAS 71 (1979), S. 500-521, führt in Art. 56 (S. 515) als eine solche "disciplina connexa" auch das ,,Ius Publicum Ecclesiasticum" auf. Es steht damit neben Fächern wie Rechtsphilosophie, Römischem Recht oder Grundlagen des weltlichen Rechts. 86 Vgl. nur (für's erste): R. Puza (Kirchenrecht), S. 86; Huizing (Öffentliches Recht), S. 586 und 588; Schiaich (Die Kirche), S. 362 ff. (insbes. S. 365); ausführlich G. Saraceni (Chiesa e Comunita politica), S. 161-185: "'lus Publicum Ecclesiasticum Extemum' e prospettive conciliari". Neueste Kontinuitätsthesen bei Spinelli I Dalla Torre, S. 40-44, und Listl (Kanonistische Teildisziplin). Beachtenswert für diese Diskussion scheint mir besonders der Hinweis von Spinelli I Dalla Torre, S. 34, daß nicht nur die ekklesiologischen Wandlungen des 2. Vaticanum das IPE in Frage gestellt hätten, sondern ebenso Entwicklungen innerhalb der Staatslehre und der Rechtsphilosophie (Stichworte: pluralistischer Staat; Anerkennung der theoretischen Pluralität der Rechtsordnungen). Ebenso bereits E.-W. Böckenförde (Staat I Gesellschaft/Kirche), S. 30-32. Erste Ansätze für eine inhaltliche Umgestaltung des IPE finden sich bei P. Lombardia (1967), S. 85-112 und Fogliasso (Vaticano li), S. 61-120. Eine geschlossene neue Theorie des IPE will dann 1968 Juan Calvo geben. 87 Lib. I "De Statu Ecclesiae", S. 151 ff. u. S. 178 ff. 88 Inwieweit dabei diese Autoren von den römischen Kanonisten richtig interpretiert wurden, was z. B. Schiaich (Die Kirche), S. 371, bezweifelt, kann hier dahinstehen. 89 Zum ganzen De Ia Hera I Munier, S. 53-57 (sie geben eine Definitionsübersicht ähnlich der hier vorgelegten). Beste Darstellung im Blick auf Kommendes, nämlich auf das Kap. IX des Schemas "De ~cclesia" in der Vorbereitungsphase des letzten Konzils 1962 bei Minnerath (Droit de l'Eglise), S. 85 -119; knapp und übersichtlich R. Schwarz (Eigenberechtigte Gewalt), S. 5- 14. 90 Die Darstellung variiert natürlich je nach der Grundintention des Werkes: Soglias Ausführungen sind vielfach noch tastend, wo Tarquini- als Kurzlehrbuch- griffigapodiktisch, Cavagois hingegen - ein nach heutigen Maßstäben "großes Lehrbuch" differenzierend und weiter ausholend angelegt ist. Die Grundgedanken dieses Werkes von Cavagois faßt W. Böckenförde (Rechtsverständnis), S. 30-36, prägnant zusammen. Soglia schaltet vor seine InstiPE sehr allgemein gehaltene "Praenotiones in lus Ecclesiasticum" (wobei er wie selbstverständlich ius ecclesiasticum = ius canonicum setzt);
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sia"- also eine Art "Allgemeiner Teil" 91 - , und schließlich folgen die konkreten juristischen Ableitungen, der ,.Besondere Teil" 92 • Der einheitliche Begriff für die traktierte Rechtsmasse, nämlich ebenfalls "lus Publicum Ecclesiasticum", kristallisiert sich hingegen erst allmählich heraus. dort findet sich das Gliederungsschema IPE I IPrivE in § 6 (S. 8). Schneidig dagegen auf nur gut einer Seite Tarquini in einer nicht näher bezeichneten Art von Einleitung vor dem Liber Primus, wohingegen Cavagnis in seinen "Prolegomena" (S. 2-21) sehr differenziert und auch einige ausführliche Hinweise auf das Schrifttum gibt. Ottaviani beginnt innerhalb des Liber I "Jus Publicum Internum" wieder mit sog. "Praenotiones" (S. 1- 18), wie bereits Soglia es getan hatte. 9 1 Soglia konzipiert seinen Liber I rund um die "potestas ecclesiastica" und ihre Bestandteile, Tarquini den Liber I "De Ecclesiae Christi potestate in se spectata" mit einem umfangmäßig weit überwiegenden Caput Primum "De Ecclesiae potestate, quae ex eius natura deducitur", danach einem Caput Secundum "De Ecclesiae Potestate, quatenus publicis conventionibus, sive, ut dicunt, concordatis determinatur" (nur ca. 8 Seiten!); für Cavagnis vgl. den "Ordo tractationis" als § 4 der Prolegomena: "Pars Generalis determinat fundamentalia principia iuris publici ecclesiastici; Pars Specialis ex iisdem evolvit plures quaestiones; liber I 1.ae partis loquitur de potestate Ecclesiae in se spectatae". Wie man sieht, handelt es sich damit also um die gleiche Struktur wie bei Tarquini. Ottaviani hingegen gliedert gleich: "Volumen I: Ius Publicum Internum", Untertitel ,,Ecclesiae constitutio socialis et potestas", Pars I "Principia Generalia" mit der Entfaltung der "societas perfecta"-Doktrin; Pars II "De natura et potestate Ecclesiae" (Anwendung auf die Kirche); Volumen II: "Ius Publicum Externum" ("Ecclesia et Status'} Auch M. Conte a Coronata (1948) beginnt sein IPE noch mit sozialphilosophischen Uberlegungen (Praenotiones), S. 1-43, und folgt dabei der eingebürgerten Darstellungsstruktur. n Soglia: Liber II "De Rectoribus Ecclesiae Eorumque Juribus et Officiis" (Caput I "De Rarnano Pontifice eiusque adiutoribus"; Caput II "De Episcopis eorumque iuribus et officiis"); Liber III "De Persanis et Rebus Ecclesiasticae Potestatis subjectis" (im Vergleich zu späteren Werken des IPE recht lückenhaft). Tarquini: Liber Secundus ,,De Subjecto Potestatis Ecclesiasticae, seu de personis, in quibus illa iure residet - Caput Primum: De vera Ecclesiae constitutione ; - Caput Secundum: De praecipuis systematis, quae a vera Ecclesiae constitutione aberrarunt; - Caput Tertium: De fontibus iuris ecclesiastici privati, seu iuris canonici proprie [Hervorhebung vom Verf.] dicti" (als Kurzlehrbuch in Beschränkung auf die allgemeinen Lehren). Cavagnis: "lib. II. de subiecto potestatis Ecclesiae; lib. III., qui est I. 2.ae partis, evolvit quaestiones de superioritate et independentiae Ecclesiae, comparate ad societatem civilem; lib. IV. quaestiones de directa competentia Ecclesiae." -zu III.: "De Regio Placet"; "De Regia Nominatione"; "De Appellatione tamquam ab abusu"; "De Ecclesiastica Immunitate"; "De Potestate Ecclesiae indirecta in Temporalia". -zu IV.: "De Potestate Ecclesiae quoad Fidem seu Doctrinam" (Verkündigungs- und Schulrecht); "De Potestate Ecclesiae quoad mores, idest pro fidelium sanctificatione" (Sakramentenrecht, Vermögensrechte, aber auch als Art. VIII: "De Iure Ecclesiae Acquirendi Iurisdictiones, et praesertim De Iure Summi Pontificis Habendi Regnum Temporale"; "Potestas Organica Ecclesiae" (u. a. Organisationsgewalt und Legationsrecht). Ottaviani: Volumen II (s.o.); - Sectio I "Relationes iuridicae inter Ecclesiam et Statum"; - Sectio II "Principia luridica relationum conventionalium"; - Sectio III "Laicismi socialis conatus et Ecclesiae defensio". Abschließend ein "Titulus unicus" als eine Art Dokumentation: "Ecclesiae condicio in hodiernis rebus publicis" , S. 327-394. Hier gibt Ottaviani den Wortlaut verschiedener staatlicher Staatskirchenrechtsregelungen und Konkordate wieder sowie zum Abschluß die Enzykliken "Immortale Dei" Leos XIII. vom 1. November 1885, ASS 18 (1885), S. 161-180 und "Divini Redemptoris" ('De communismo atheo') Pius' XII. vom 19. März 1937, AAS 29 (1937), S. 65 - 106.
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1. Kap.: ,.Societas Perfecta" und ,.Populus Dei"
In äußerster Kürze stellt Soglia in der "Praefatio Auctoris" zu seinen ,.Institutiones Iuris Ecclesiastici Privati" die systembildende Rechtsdichotomie dar: ,.Jus Ecclesiae Privatum est illud, quod privatorum jura et officia determinat. Quemadmodum Ius Publicum Ecclesiasticum universae Ecclesiae negotia moderatur." Er bezieht sich damit auf den institutionellen Charakter der Gesamtkirche im Gegensatz zu den Individualrechten und -pflichten der Kirchenglieder, trifft also eine Unterscheidung nach dem jeweiligen Rechtsträger bzw. subjektiv Berechtigten93. In der Vorrede seines IPE-Buches 94 wird er dann genauerund leitet ab: ,.Ius Ecclesiasticum ... est complexio earum legum, quibus Ecclesia regitur." 95 • ,.Ratione objecti" zerfällt das Ius Ecclesiasticum dann in öffentliches und privates. "Hinc Jus Publicum complectitur eas Ieges, quibus divinae huius societatis, et eorum qui in ea potestatem gerunt, iura et officia determinantur. Jus vero Privatum iis legibus continetur, quae jura et officia privatorum definiunt." Tarquini versucht nochmals zu präzisieren: "Est igitur Ius Publicum Ecclesiasticum ... legum systema, quibus Ecclesiae constitutio definitur [Hervorhebung vom Verf.] .. . Constitutionis autem nomine ea statuta intelligimus, quibus alicuius societatis regimen ordinatur, sive respectu potestatis ... sive respectu personarum, in quibus dicta potestas resideat." IPE wird also als kirchliches Verfassungsrecht verstanden, was nochmals deutlich macht, daß bei der Differenzierung zwischen "Publicus" und "Privatus" eine komplexe Rezeption der (gerade auch als Unterrichtsfach 96) neu entstandenen weltlichen Rechtsdisziplin des "Ius Publicum", des Staatsrechts, vollzogen wurde. Allerdings findet sich noch keine abschließende Kategorisierung des gesamten materiellen Rechtsstoffes nach diesen Begriffen. Davon kann überhaupt erst seit F. C. v. Savigny die Rede sein 97 • Die abgerundete und gleichwohl differenzierte Definition des IPE findet sich dann bei Cavagnis: "Ius Publicum Ecclesiasticum subjective et formaliter sumptum, est ius competens Ecclesiae ut societatis perfectae" 98 , IPE begriffen unter dem Aspekt der Rechtsmacht, aufgrundderer die Kirche als Rechtssubjekt Rechte und Ansprüche geltend machen kann; sodann "efficienter autem i. p. e. est systema legum determinantium iura et officia Ecclesiae tamquam perfectae societatis", also als Recht im objektiven Sinn, d. h. im Sinne einer bestimmten Gesamtheit von Normen. Cavagnis führt also den "springenden Punkt" des IPE schon in seine Definition ein. Mit der Weitsicht eines Spätwerkes kann Ottaviani dann resümieren 99, daß - "objective consideratum"- "definitur IPE: systema legum 93 S. XIII I XIV. 94 S. XI.
95 Dabei ist das "regitur" wohl weit zu verstehen, etwa im Sinne von ,.Kirchenrecht ist das Gefüge der Gesetze, nach denen die Kirche lebt." 96 Vgl. Stolleis, (Öffentliches Recht), S. 141-146. Zusammenfassend ders., ebda., s. 395/96. 97 Gagner, S. 31-40; Bullinger, v. a. S. 16 ff. 98 IPE n.o 23 u. 24; S. 9. 99 IPE, vol. I, Praenotiones I, n.o 6 (S. 7).
I. Die vorkodikarische Doktrin des IPE
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de constitutione, iuribus et mediis Ecclesiae tamquam societatis perfectae in finem supematuralern ordinatae." 100. Nun mag es scheinen, als sei die "societas perfecta"-Lehre bei ihrer Geburt bereits erwachsen, also in allen Hauptbestandteilen, wenn auch nicht in allen Einzelheiten, bereits bei Soglia vorhanden gewesen. Dem ist aber nicht so. Ihre Grundthese allerdings, als Antithese zur aufgeklärten Staatspraxis und Staatsrechtslehre putendorfscher Provenienz, war klar. Die systematische Fundierung hingegen verdankte sie erst der Einarbeitung der neubelebten aristotelisch-thomistischen Sozialphilosophie, deren Protagonist der italienische Jesuit Luigi Taparelli d' Azeglio (1793 - 1862) mit seinem Hauptwerk "Saggio teoretico di Diritto Naturale appoggiato sul fatto" 101 war 102• Erstmals bei Tarquini wird dann explizit aufTaparelli aufgebaut 103 • Dadurch gewann die Darstellung des IPE an Stringenz, wenn auch nicht automatisch zugleich an Überzeugungskraft Nicht weit entfernt von einer Axiomatisierung entstand damit ein System des Kirchenrechts von beeindruckender Geschlossenheit. Dieses zweite, sozialphilosophische Bein des IPE (als Wissenschaftszweig so gut wie als Rechtsmaterie) verbietet es auch, das IPE pauschal (!) als apologetische und unkreative Reaktion auf die protestantische Aufklärung und Staatsrechtslehre der Neuzeit zu verstehen 104. 100 Ebda. wird demgegenüber das Jus Privatum definiert als "systema legum quibus membrorum Ecclesiae iura et officia determinantur, pro particulari bono singulorum". In der l. Aufl. 1925 hieß es übrigens noch " ... pro ipsorum regimine et sanctificatione" . 101 Erste Auflage Palermo 1840-1843; bereits 1845 liegt die erste und bisher einzige deutsche Übersetzung durch F. Schöttl und C. Rioecker vor unter dem Titel "Versuch eines auf Erfahrung begründeten Naturrechts". 102 Ausf. List! (Kirche und Staat), S. 124-133; vgl. auch Schwarz (Eigenberechtigte Gewalt) S. 5 mit Anm. 3; zur Rechts- resp. Naturrechtskonzeption Taparellis s. G. Hammerstein, S. 101-103, bzw. E. Di Robilant, S. 19-32; zum Verhältnis von Kirche und Staat nach Taparem vgl. L. Musselli, S. 28-35 m. w. N. Eine direkte Abhängigkeit Taparellis von Chr. Wolff meint M. Thomann in Stolleis (Staatsdenker), S. 277 I 78, feststellen zu können: "Wie viele andere neoscholastische oder neothomistische Autoren vulgarisiert Taparem wolffsches Naturrecht." Die Bewertung der Leistung Taparellis im deutschen rechtsphilosophischen Schrifttum ist, soweit von ihr überhaupt Notiz genommen wird, schwankend. Positiv ("neugewonnene Internationalität des katholischen Denkens") spricht sich H. Maier (Sozial- und Staatslehre), S. 13, aus; kritisch dagegen (im Anschluß an J.-M. Aubert und Thomann) Hollerbach (Christliches Naturrecht), S. 28 I 29. Die Bedeutung Taparems für die Staatslehre Leos XIII. hebt A. Acerbi (Chiesa nel tempo), S. 61 f., hervor. Allg. zu ihm neuerdings H. M. Schmidinger in E. Coreth (Hg.), Christliche Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert, Band 2, Graz 1988, S. 111-116 und S. 124-127. Als weiterer führender Kopf dieser sozialphilosophischen Richtung muß Taparems Ordensbruder Matteo Liberatore (1810-1892) genannt werden. 103 Im ersten allgemeinen - Teil seines Werkchens ist Taparelli der weitaus am meisten zitierte Autor; vgl. dort die S. 13 ff. sowie die S. 11, 28, 39 und 42. 104 So aber die herrschende Meinung im neueren Schrifttum: Huizing (Öffentliches Recht), S. 587 f.; Corecco (Ordinatio), S. 482; Luf (Freiheitsgeschichte), S. 559 I 560; J. Provost I K. Walf, S. 160. Für eine differenzierende Betrachtung hingegen List! (Kirche und Staat), S. 124 und Fogliasso (Vaticano li), S. 40 ff.
3 Göbel
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I. Kap.: "Societas Perlecta" und "Populus Dei"
Das herausragende Kennzeichen des IPE ist die besondere Mühe, Kirchenrecht aus dem "richtigen", d. h. theologisch-dogmatisch stimmigen Kirchenbegriff zu entwickeln 105 • Über den Rechtsbegriff hingegen zerbricht sich keiner der Autoren allzu sehr den Kopf. Er scheint auch in seinen Differenzierungen zu jener Zeit noch weitgehend konsentiert gewesen zu sein 106• Umso mehr galt der Kirchenbegriff als erläuterungsbedürftig, wobei im Gegensatz zu heute nicht das Kirchenrecht als solches in Frage gestellt wurde, sondern nur diskutiert wurde, welcher konkrete Geltungsanspruch ihm zukommt. In der damaligen Zeit schien dieses Unterfangen aber kaum anders zu lösen zu sein denn unter Rückgriff auf das überkommene staatsphilosophische und staatsrechtliche Begriffsinstrumentarium. Das nutzten die Kanonisten aber jetzt ganz in ihrem Sinne und funktionierten es damit gleichsam um: war der Begriff des Staates als "societas perfecta" die naturrechtliche Begründung für seine Kirchenaufsicht, sollte nun der Begriff der Kirche als "societas perfecta" die naturrechtliche Begründung ihrer Freiheit vom Staat und ihrer Eigenrechtsmacht liefern. Dieser Gedankengang sei im folgenden erläutert. Da Recht soziale Beziehung unter Menschen zum Gegenstand hat 107 , wird als Ausgangspunkt der Rechtsbegriff der "societas" genommen 108 • Auf die Kirche 105 "Der Kirchenbegriff vor allem ist die formgebende Voraussetzung des kirchlichen Verlassungsrechts, das wiederum weithin nichts anderes ist und sein kann als ein Abbild des theologischen Begriffs von der Kirche. Bezeichnenderweise wurde die Frage nach dem Wesen der Kirche in dem ... Zeitraum gegen Ende des I8. Jahrhunderts nicht von der Theologie, sondern von der Kirchenrechtswissenschaft gestellt. Diese mußte nämlich feststellen, daß es der weltlichen Rechtswissenschaft gelungen war, den Begriff des National-Staates absolutistischer Prägung juridisch zu umschreiben, während eine Begriffsbestimmung der Kirche völlig vom jeweiligen (kirchen)politischen Standort geprägt und abhängig war, somit weder zureichend noch umfassend sein konnte.": Neumann (Kirche und kirchliche Gewalt), S. 516. Eine Bestätigung dieser Ansicht und eine genaue Analyse des Kirchenbildes von der "übernatürlichen societas perlecta" bietet die Studie von N. Timpe, S. 72-II9. 106 Vgl. Tarquini, S. I; Cavagnis, "Prolegomena", S. 2-4. 101 Tarquini "De Iure Ecclesiastico Publico": "I. lus etsi plura significat, ... , systema legum exprimit, quibus societas aliqua ordinatur, ut et conservari et finem suum assequi possit." (S. 4). 1os An dieser Stelle muß klargestellt werden, worauf List! (Kanonistische Teildisziplin), S. 479, zu Recht hingewiesen hat, daß das IPE nicht das Rechtsaxiom "ubi societas, ibi ius" voraussetzt, wie Corecco (Theologie des Kirchenrechts), S. 85, De Ia Hera/ Munier, S. 35 und jüngst wieder L. Gerosa, Diritto ecclesiale e pastorale, Torino I99I, S. I9, sowie A. Borras, Les sanctions dans l'Eglise, Paris I990, S. 208/209 (jeweils ohne Quellenbeleg), behauptet haben. Die Autoren des IPE gehen vielmehr im Grundsatz übereinstimmend davon aus, daß es auch "societates" gibt, denen keine rechtlichen Beziehungen eigen sind. Es sind dies die sog. "societates amicabiles": Cavagnis, Pars Prima Generalis, Lib. I, Cap. I, Art. II (Generatim), § I, n.o 75 "definitio societatis iuridicae" (S. 43 I 44); Ottaviani I Damizia, vol. I., Pars I (Principia Generalia), Art. II (Divisio societatum), S. 39 mit Anm. 22. Erst und nur für die "societas iuridica" behauptet etwa Cavagnis, ebda., Art. I., n.o 64 (S. 37): "Ex fine [societatis; G.] pendet status iuridicus seu quale et quantum ius competat societati ex eius natura ut sit et operetur seu mediis utatur.". Für die Juspublizisten gilt also lediglich, wenn man so will, das
I. Die vorkodikarische Doktrin des IPE
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gemünzt, hat er bei den römischen Kanonisten nun zwei Stoßrichtungen: die Kirche ist nach innen, gegenüber ihren Gliedern, den Gläubigen, herrschaftliche "societas inaequalis", nach außen, im Gegenüber zu anderen societates (vorzüglich aber im Vergleich mit dem Staat) "societas perfecta" 109• Unter einer "societas" wird eine "multitudo hominum ea ratione coeuntium, ut collatis viribus sibi comparet ad certurn communemque finem assequendum" verstanden 110• Hieraus folgt, nach ausführlicher Erörterung des Neuen Testamentes und der "auctores probati" (angefangen bei den Kirchenvätern über Thomas 111 , Bellarmin bis hin zu Endres und Zallinger): "Atqui Ecclesia est conjunctio plurium hominum quae imperio per Apostolos, eorumque successores administrato, sibi proprio, et aliunde non dependente continetur, quemadmodum toto hoc libro demonstratum est. Ergo Ecclesia est status, sive societas inaequalis." 112 • Der Sinn dieser Ausführungen ist eindeutig: Kirche ist nicht demokratisch, sondern hierarchisch. Herrschaftsgewalt wird in ihr ausgeübt durch den Papst und die Bischöfe, was im "Besonderen Teil" der !PE-Traktate auch ausführlich expliziert wird. Die zweite Stoßrichtung geht offen nach außen. Auch hier findet sich methodisch dieselbe Vorgehensweise: auf eine sozusagen "neutrale" Definition einer "societas perfecta" folgt die Affirmation in Bezug auf die Kirche. Bei Soglia ist dieses "societas perfecta"-Konzept noch nicht so klar herausgearbeitet. Ganz deutlich ist es aber bereits bei Tarquini. Er definiert: "societas perfecta autem ea [societas] dici debet, quae est in se completa, adeoque media ad suum finem obtinendum sufficientia in semetipsum habet." 113• Man begegnet also erneut der Axiom: "ubi societas iuridica, ibi iura necessaria ad finem societatis prosequendum". Daß die Kirche Christi, die katholische Kirche, nun aber "societas iuridica" sei, das war den !PE-Autoren nicht zweifelhaft und wurde von ihnen auch ausführlich begründet. 109 Diesen Sachverhalt stellt Schiaich (Die Kirche), S. 368-374, nochmals klar heraus. 110 Tarquini n.o 6, S. 3 mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Taparelli; Ottaviani I Damizia, vol. I, n.o 15, S. 29-24 noch differenzierter und m. w. N. III Zu seinem Kirchenbegriff und zum vorneuzeitlich "herrschenden" Kirchenbegriff überhaupt der instruktive Überblick bei Merzbacher (Wandlungen des Kirchenbegriffs), insbes. S. 94-98 sowie S. 161-163. 112 Soglia, Lib. I, Cap. I, § 9 conclusio (S. 178), aber auch schon vorher Lib. I, vor Cap. I, S. 151, mit ausdrücklichem Bezug auf die Definition Pufendorfs in "De habitu" § 11, (S. 33): "Statum intelligimus ejusmodi conjunctionem plurium hominum quae imperio per homines administrato, sibi proprio, et aliunde non dependente continetur" vgl. aber auch Pufendorf selbst in "De officio" II, Cap. VI, 10 (S. 352 I 353) sowie oben in diesem Abschnitt, 1., a). Eine von Soglia abweichende Definition bringen Ottaviani I Damizia, vol. I, n.o 22 (Divisio societatum) (S. 41): "inaequalis vero dicitur societas in qua, vi ipius constitutionis, non omnibus paria iura competunt, sed aliquibus praeesse, ceteris vero subesse competit." Die Bezeichnung der "Ecclesia" als "status" oder ,,res publica" hat eine bis ins Mittelalter zurückreichende Tradition: vgl. Listl (Kirche und Staat), S. 110, der auf Jakob v. Viterbo (gest. 1308) verweist. Vollends "en vogue" ist diese Begrifflichkeil seit den Ausführungen Bellarmins gegen Ende des 16. Jh.s; vgl. dazu F. X. Arnold, S. 326 u. S. 81 mit Anm. 17. 113 IPE n.o 6 (S. 4) mit Bezug auf Thomas v. Aquin, Summa theo1ogiae, I-li, quaestio 90, art. 3, ad 3 -hier zeigt sich noch einmal deutlich die neuscholastische Tendenz!; 3*
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I. Kap.: "Societas Perfecta" und ,,Populus Dei"
Autarkie-Argumentation, die bereits für Bellarmirr den entscheidenden Grund für die Unabhängigkeit der Kirche gegenüber den Staaten abgab 114• Die Bejahung des "societas perfecta"-Charakters der Kirche wird interessanterweise doppelt gesichert 115 : "Societatem perfeetarn eam esse diximus, quae est in se completa, adeoque media ad suum finem obtinendum . . . Prop. 1.a Ecclesia Christi est societas perfecta natura sua. Prop. 2.a Ecclesia est soietas perfecta ex voluntate divini [Hervorhebungen vom Verf.] sui Institutoris." 116 : ihrer gesellschaftlichen Natur nach ist die Kirche vollkommen, weil sie rechtlich verfaßte und in ihrer Art höchst-autoritative Gesellschaft ist, einen letzten Zweck verfolgt und ihr alle Mittel eigen sind, diesen Zweck zu verwirklichen. Aus dem Stifterwillen Christi ist sie vollkommen, einmal weil Christus sie als eine universale und unabhängige gewollt haben muß (sonst wäre sein Verkündigungsauftrag [Mt. 28, 18-20] an die Apostel und die Vollmachtübertragung [Mt. 16, 18/ 19] unerfüllbar 117 ), zum anderen weil sein Wille ausdrücklich der Heiligen Schrift zu entnehmen ist und von der Lehrtradition der Kirche nie in Zweifel gezogen wurde 118• Wichtigstes materiales Element jeder "societas", auch der "perfekten", ist aber ihr Zweck. In ihm liegen Grund und Grenze der "potestas societatis". Die Bedeutung des Zweckes expliziert Tarquini mit einem schulmäßigen Syllogismus: "lus est potestas ad illud, quod ad rationis normam competit: at in qualibet societate quidquid alienum est a fine non est ad rationis normam, quia non habet rationem sufficientem; siquidem ratio sufficiens societatis tota est in fine (huic 1.). Ergo iura omnia, quae pro sua natura societati competunt, prodeant ex fine necesse est." 119 . Zweck der Kirche ist die "sanctificatio animarum, quae nonnisi geminarum virium conspiratione comparari potest" 120 • ungewöhnlich umständlich dagegen Cavagnis, IPE Lib. I, n.o 60 (S. 34); Ottaviani I Damizia, vol. I, n.o 25 (S. 46) wieder im Anschluß an Tarquini. 114 Arnold, S. 100 ff. und 324 ff. 115 Zu dieser zweispurigen, aus Naturrecht und Offenbarungsrecht gemischten Begründung auch Barion (Kirche oder Partei?), GA, S. 496 m. w. N. 116 Tarquini, IPE Lib. I, cap. I. um, sectio secunda, n.o 42-44 (S. 30- 32); ebenso, wenn auch wie stets differenzierter, Cavagnis, IPE, Prima Pars Generalis, Lib. I, Cap. li (De iuridica perfectione Ecclesiae)- anhebend mit "ecclesiae notio"- Art. III und IV, n.o. 234-245 und n.o 246-259 (S. 133 ff.); Ottaviani, Vol. I, Pars II "De natura et potestate Ecclesiae", Tit. II "Demonstratio perfectionis iuridicae Ecclesiae", Art. I "Ecclesiae perfectio ex eius natura"; Art. II "Ecclesiae perfectio ex traditione et praxi", (S. 150168). Den Ausführungen kann hier nicht bis in die letzten Verästelungen hinein nachgegangen werden. 111 Hier haben wir es laut Cavagnis, ebda., n.o. 246 - 249 (S. 141 f.) mit einer sog. "probatio ex absurdo" zu tun. 11s Es ist hier nicht der Ort, auf die Schlüssigkeit der vorgetragenen Argumente einzugehen. Immerhin ist diese Trennung der beiden Propositiones für den ,status perfectionis [juridicum)' der Kirche insofern aufschlußreich, als sie zeigt, daß die Vertreter des IPE von der widerspruchsfreien Übereinstimmung von Naturrecht und göttlichem Recht, von Natur und Übematur (Gnade) ausgingen und diese Übereinstimmung aufzuweisen suchten. 119 IPE, n.o 7 (S. 5).
I. Die vorkodikarische Doktrin des IPE
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Ein weiteres, sich (notwendig) aus dem Wesen als Gesellschaft ergebendes Erfordernis ist eine "auctoritas" als das "ius obligandi socios in ordine ad consecutionem finis" 121 • Der Träger oder das Subjekt dieses Rechts besitzt dementsprechend sog. Jurisdiktionsgewalt (potestas iurisdictionis), die sich in die drei Grundfunktionen der gesetzgebenden, richterlichen und ausführenden Gewalt (diese letzgenannte anfangs noch auf die Sanktionsgewalt, die sog. potestas puniendi oder coactiva, beschränkt) unterteilt 122 • Wiederum folgt die Anwendung auf die Kirche: "Quoniam vero Ecclesia, re, ut societas iuridica et quidem perfecta, constituta est, illa iura imperii in ea evidenter debent esse sine quibus societas iuridica perfecta ne cogitari quidem potest." 123 . Dabei wird jedoch von allen Autoren betont, daß die potestas der Kirche von anderer Qualität ist als die des Staates. Ottaviani stellt apodiktisch in der ersten Auflage (1925) seines !PEWerkes fest: "Potestas Ecclesiae est spiritualis et supernaturalis origine, obiecto et fine." 124• Also in erster Linie doch keine Übergriffs-, sondern eine Unabhängigkeits- (und Abwehr-)position, wenngleich die Superiorität der Kirche über den Staat wegen ihres edleren Zweckes weiterhin ohne Abstriche behauptet wird und vornehmlich für katholische Staaten ("civilis societas catholica est quae constat membris catholicis, et principia catholica agnoscet ut normam legislationis. ") die "potestas indirecta"-Lehre Bellarmins beibehalten wird 125 • Wenn so von den Autoren des IPE die Kirche als "societas perfecta" vorgestellt wurde, war ihnen ihr begrenzter Blickwinkel durchaus bewußt. In den ausführlicheren Abhandlungen zum IPE ist denn auch die "societas perfecta"-Formel im
120 Ebda. n.o 4 (S. 2); desgleichen bei Cavagnis, IPE, Pars Prima Generalis, Lib. I, n.o 46 (S. 27), zum Zweck des Staates ders. ebda., n.o 368 (S. 232). 121 Ottaviani, Vol. I, Pars I, Tit. II, Cap. I, Art. I, n.o 28 (S. 57); vgl. auch Taparelli (Saggio, deutsch Bd. 1), S. 174 ff. 122 Zum ganzen Schwarz (Eigenberechtigte Gewalt), S. 8-10 sowie S. 12- 14; die Gewaltfunktionsunterscheidung allgemein (!) behandelt am ausführlichsten Ottaviani, vol. I, n.o 38-68 (S. 71-112). 123 Ottaviani, Vol. I, Pars Il, Sectio II (De Ecclesiae Potestate), n.o 109 (S. 174 f.); vgl. auch Soglia, Lib. I, cap. I, §§ 4 ff. (er unterscheidet nach Potestas legum ferendarum, iudicandi, puniendi). Cavagnis übernimmt diese Unterscheidung, schlägt selbst aber schon vor: "Melior est divisio in potestatem legislativam, iudicialem, exsecutivam" , 1l.ae , Lib. I, Cap. I, Art. li. n.o 98 (S. 57 f.). Mit Bezug auf die Kirche setzt er sich dann insbesondere mit der Frage auseinander, ob und inwieweit der Kirche auch eine Strafgewalt zukomme: ebda., Art. IV, n.o 269 ff. und Art. V, n.o 279 ff. (S. 164-188). 124 Ebda. (S. 207). Etwas differenzierter dann ders. in der 4. Aufl. 1958, S. 175. Auf S. 208 heißt es weiter: "Hinc patet quomodo, praesertim ratione finis et objecti, Ecclesiae potestas distinguatur a civilis societatis potestate et ab hac omnino independens esse debeat ... ". 125 Cavagnis, Pars Prima Generalis, Lib. I, Caput III (De Relationibus Iuridicis Ecclesiae et Societatis Civilis), Art. III, n.o 386 (S. 244 ff.). Allg. zur "potestas indirecta"Konzeption vgl. Barion, Art. "Potestas indirecta", in: EStL, l. Aufl. 1966, Sp. 15921593, auch abgedruckt in GA, S. 509-510 und E.-W. Böckenförde (Staat-GesellschaftKirche), S. 19-26.
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1. Kap.: "Societas Perfecta" und "Populus Dei"
Sinne einer "societas iuridice perfecta" eingeschränkt 126• Damit sollte zum Ausdruck gebracht werden, daß die "societas perfecta"-Formel die komplexe Realität "Kirche" nicht in ihrer Fülle erfaßt, sondern nur unter dem Blickwinkel ihrer von Christus selbst gewollten Rechtsgestalt 127 • Obgleich die Offenbarung (revelatio) als wichtigste Quelle auch des IPE anerkannt 128 und seine Abhängigkeit von theologischer Dogmatik ohne Zögern akzeptiert wurde 129, sollte aber doch die Kirche gerade mit den Begriffen und Methoden des Naturrechts betrachtet werden 130, damit "tune iura Ecclesiae defendenda sunt, in quantum fieri potest, ex iis principiis iuris naturalis quae admittunt vel admittere debent et adversarii" 13 1• "Societas perfecta" war also kein theologischer Begriff, sondern für die Autoren des IPE eindeutig ein naturrechtlicher Begriff 132• Nur sollte und konnte nach ihrer Auffassung dieser Begriff, theologisch wohl begründet, auch für die katholische Kirche passend gemacht werden. Damit schien er wie kein anderer Begriff geeignet zu sein, die Gegner einer freien und gesellschaftsmächtigen katholischen Kirche mit ihren eigenen begrifflichen Waffen zu schlagen. Denn immerhin verfügte die katholische Kirche mit dem IPE nunmehr über eine feste philosophisch-juristische Grundlage, auf der die konkreten Beziehungen von Kirche und Staat verhandelt werden konnten. Dabei, es sei noch einmal betont, war auch das IPE der Versuch, (Staats)Kirchenrecht material auf einem theologischdogmatisch adäquaten Kirchenbegriff aufzubauen. Methodisch fanden allerdings die geistigen Strömungen der Zeit Aufnahme, so daß A. Rouco-V arela zutreffend bemerken kann, daß für das IPE "Kirchenrecht und Kirchenrechtswissenschaft strukturell nach denselben ontologischen und logischen Regeln gebaut [seien], die das Wesen des Rechts und der Rechtswissenschaft bestimmen. Die Besonderheiten liegen auf dem Feld der ... ,causae externae', die der rechtlichen Wirklich126 List! (Kanonistische Teildisziplin), S. 465. Durchgängig von "societas iuridice perfecta" sprechen allerdings nur Ottaviani I Damizia. 121 Ottaviani I Damizia, vol. I., Pars li: De natura et potestate Ecclesiae, Titulus 1: De Ecclesia ut societate, S. 141 ff., heben an mit einer an Bellarmin angelehnten theologischen Kirchendefinition und führen dann aus, daß die Elemente dieses theologischen Begriffes in der "societas"-Begrifflichkeit des IPE unverkürzt bewahrt werde. Ihnen geht es um die ,,notio iuridica Ecclesiae", denn: "Dicimus namque Ecclesiam legitime exsistere tamquam societatem, et quidem societatem iuridicam, quia ita voluntate sua disposuit Christus eius divinus Conditor. Argumenta praecipua, hac super re, paucis perstringere opportunum ducimus, cum ex theologia fundamentali iam nota supponi possint; sit erga: Propositio: Iure divino exsistit Ecclesia tamquam societas iuridica." [Hervorhebung im Original; G.] (n.o 89, S. 142). 12s Cavagnis, Prolegomena, § 3, S. 21. 129 Ebda., (n.o 43), S. 23; Ottaviani I Damizia, vol. 1., Praenotiones, Articulus V, n.o 13, s. 25. 130 Cavagnis, ebda.; Ottaviani I Damizia, ebda., S. 25 I 26: " .. . cum iis igitur dimicandum est potius, in vindicandis (quantum fieri potest) iuribus Ecclesiae, auxilio iuris naturalis: hinc desumuntur ex philosophia naturali, ex qua parte ius sociale respicit, ea quae ecclesiasticae quoque societati aptari possunt." 131 Cavagnis, ebda. (n.o 44), S. 24. 132 A. A. Listl (Kanonistische Teildisziplin), S. 465 u. 480.
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keit der Kirche Existenz und Ziel verleihen" 133 • Daher blieb das IPE, obwohl im Anspruch zeitlos, doch Kind seiner rationalistischen Zeit, und das katholische Kirchenrecht bekam eine institutionell-formale Schlagseite 134• Ohne das Zugeständnis aber, wenigstens einen Teilaspekt des "Kirche-Mysteriums" 135 zutreffend erkannt zu haben 136 sowie geschichtliche Herausforderungen mutig angenommen zu haben, muß die Tatsache unverständlich bleiben, daß das IPE vom päpstlichen Lehramt in weiten Teilen und beharrlich aufgenommen wurde, wie im folgenden gezeigt wird.
b) Die Lehre vom Staat und dem Verhältnis von Kirche und Staat im Magisterium Leos Xlll. Wohl erstmals vom Apostolischen Stuhl in einem offiziellen kirchlichen Dokument während des Gnesen-Posenschen Kirchenkonfliktes (1837 -40) erwähntm, entwickelte sich der Begriff der Kirche als "societas perfecta" im 19. Jh. allmählich zur ,,klassischen Kurzformel für die wesensmäßige Verschiedenheit der Kirche gegenüber dem Staat, für ihre Eigenrechtsmacht und damit ihre Unabhän133 (Rechtstheologie heute), S. 7; ebenso De Ia HeraiMunier S. 57 f. Ein schönes Beispiel für den Methodensynchronismus liefert noch Solieri (1921), wenner-nach Inkrafttreten des CIC- am Ende seines Buches, S. 332, die Kirchenvertassung charakterisiert: "prono alveo descendit Ecclesiae Christi regimen esse monarchicum aristocratico elemento coadiuvatum" . 134 Statt vieler vgl. nur P. Granfield, S. 463, mit Bezug auf Y. Congars Diktum einer "Hierarchiologie" statt einer Ekklesiologie; De Ia Hera I Munier, S. 51. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch ein "obiter dictum" R. Guardinis in: Liturgische Bildung (1923), hier entnommen der Schriftensammlung R. Guardini, Liturgie und liturgische Bildung, Würzburg 1966, S. 85: "Corpus mysticum und Hierarchie sind Ausdrucksformen der gleichen Grundvorstellung, wonach alles Lebendige vom Vater, in Christus, durch die Kraft des Heiligen Geistes, zu einer Welt tiefster Lebensgemeinschaft wiedergeboren ist, stark, reich und voll klarer Ordnung. So hat die vortridentinische Zeit über die Kirche gedacht. Dann trat der kirchenrechtliche Begriff der societas perfecta [Hervorhebung im Original; G.], einer ,geordneten Gesellschaft' immer mehr in den Vordergrund. Dieser faßt von der kirchlichen Seinsfülle nur das Äußere, auch besitzt er geringere religiöse Fruchtbarkeit. Er stellt wohl die starken Kräfte des Politischen und Rechtlichen, der Zucht und Treue in das Reich-Gottes-Verhältnis hinein, bietet aber den tieferen religiösen Kräften keine rechte Nahrung. Solange er vorherrscht, fehlt im Kirchenbewußtsein gerade jenes Lebendige, das liturgisches Verhalten trägt. Anzeichen sind aber da, daß auch diese zeitweise zurückgedrängte Vorstellungsreihe samt dem zu ihr gehörenden Lebensgefühl wieder erwacht." 135 Vgl. R. Sobanski (Mysterium); W. Aymans im HbkKR, S. 3- 11. 136 Vgl. wiederum Sobanski (Grundlagenproblematik), S. 129-135 sowie List! (Kirche und Staat), S. 189 f. Dies ist beileibe keine rein juristische Konstruktion, wie Köck (Aspekte), S. 42 I 43, meint, sondern eine aus theologischen Vorgaben gefolgerte Aussage. Ebenso bereits Merzbacher (Wandlungen des Kirchenbegriffs), S. 159 - 168. m K. Walf (societas pertecta?), S. 108; E. R. Huber I W. Huber Bd. I, S. 406-433 (430); R. Sebott (Ecclesia ut societate pertecta), S. 110 [auf den Seiten 110-113 findet sich eine hilfreiche, gedrängte Zusammenstellung der amtskirchlichen Dokumente bis hin zum 2. Vaticanum, die eine explizite Bezugnahme auf den Terminus der "societas peifecta" aufweisen.].
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1. Kap.: "Societas Perfecta" und "Populus Dei"
gigkeit in ihrem Eigenbereich von der staatlichen Gewalt" 138 • Erstes päpstliches Dokument, in dem die Kirche als "societas perfecta" bezeichnet wurde, war 1860 das Apostolische Schreiben "Cum Catholica Ecclesia" von Pius IX. 139 anläßlich der Annexion der nördlichen Gebiete des Kirchenstaates durch das Königreich Sardinien-Piemont. Pius IX. war es dann auch, der in seiner Enzyklika "Quanta Cura" vom 8.12.1864 und vor allem im "Syllabus Errorum" vom selben Tag 140 "eine kaum zu überschätzende kirchenamtliche Einflußnahme auf die Entwicklung des Jus Publicum Ecclesiasticum" einleitete 141 • Im Syllabus wurden 80 Thesen verschiedener neuzeitlicher Geistesströmungen als Irrtümer verurteilt. Gut die Hälfte davon hatte das Verhältnis von Staat und Kirche zum Gegenstand 142 • Sozusagen unter negativen Vorzeichen enthielten die Thesen des Syllabus damit ein "materiell vollständiges System des Jus Publicum Ecclesiasticum, in dem sich bereits" - wenn auch nicht in wissenschaftlich-systematischer Anordnung - "nahezu sämtliche Elemente und Problemstellungen finden, die in den späteren klassischen Lehrbüchern des kanonischen Rechts enthalten sind" 143 • Inhaltlich war der Syllabus deutlich von der Konzeption des konfessionellen Staates geprägt, wie er vor allem in den romanischen Ländern im 19. Jahrhundert noch existierte und dort das Vorstellungsbild über das Staat-KircheVerhältnis beherrschte 144• Mit Leo XIII. (1810-1903; Papst seit 1878) erreichte die auf der "Societas perfecta"-Doktrin aufbauende katholische Staatslehre ihre Reife und endgültige Form 145 • Als sein Hauptanliegen, dem er in vielen Lehrschreiben seines langen List! (Kirche und Staat), S. 104. Abgedruckt in CIC-Fontes, Bd. ll, S. 933 ff.; List! (Staat und Kirche), S. 134 f. In diesem Schreiben leitet Pius IX. die Notwendigkeit des Fortbestandes des Kirchenstaates in seinem ganzen bisherigen Umfang aus der "societas perfecta"- Doktrin ab. List!, ebda., bemerkt dazu allerdings, daß diese konkrete juridisch-politische Forderung aus den Grundsätzen, die von den Autoren des IPE entwickelt worden sind, nicht mehr abgeleitet werden könne. Der klerikale Protest hingegen, der anonym 1871 in der Civilta Cattolica gegen die Annexion des Kirchenstaates ventiliert wird (und damit einer der ersten Beiträge zur später sog. "Römischen Frage" war), bezieht sich in seiner juristischen Begründung allerdings nicht, wie damals Pius IX., auf die Argumentationen des IPE, sondern auf die im CorpJC aufgezeichnete päpstliche Zwei-Schwerter-Lehre. 140 Apostolisches Schreiben vom 8. 12.1864; UG I 162-179. 141 List! (Kirche und Staat), S. 139; zum ganzen ebda., S. 141-158. 142 V. a. die§§ V und VI (Thesen 19-55): DS 2919-2955. 143 List! (Kirche und Staat), S. 141. 144 List! (Kirche und Staat), ebda. Interessante Aufschlüsse über das staatskirchenrechtliche Denken Pius'IX. vermittelt auch das "Schema de Ecclesia Christi" des I. Vatikanischen Konzils, abgedruckt bei J. G. Mansi, Sacrorum Conciliorum Nova et Amplissima Collectio, Bd. 51, Amheim I Leipzig 1925, Sp. 539-551; vgl. F. v. d. Horst, S. 116 ff. (v. a. S. 143 ff.), W. Böckenförde (Rechtsverständnis), S. 80-84 sowie wiederum List! (Kirche und Staat), S. 159-172. Zum I. Vatikanischen Konzil allgemein: R. Aubert, Vaticanum I, Mainz 1965; darin auf den S. 309-319 auch eine auszugsweise deutsche Übersetzung des genannten Schemas. 145 Allg. zu Leo XIII.: H. Maier, Art. "Leo XIII.", StL7 , Bd. III. (1987), Sp. 905907 m. w. N; R. Aubert, Art. "Leo XIII.", LThK, Bd. 6 (1961), Sp. 953-956; zu seiner 138
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Pontifikates deutlich Ausdruck gegeben hat, kann der Versuch gelten, die unverkürzte Glaubenstradition mit dem modernen Geist und insbesondere dem modernen Staat, mit anderen Worten die Kirche mit der herrschenden Kultur zu versöhnen 146 und durch eine moderate kirchenpolitische Praxis auf einen friedlichen Ausgleich mit den Staaten hinzuwirken 147 • Die zeitgeschichtliche Ausgangslage war allerdings ungünstig: politisch beherrschte die Szene nach außen ein hypertropher Nationalismus und ein zunehmender Antagonismus der Nationalstaaten, nach innen ein unduldsamer Liberalismus, der die Kirche in einen "Kulturkampf' nach dem anderen verwickelte; auf wirtschafliebem Gebiet erzeugte die forcierte Industrialisierung als Gegenreaktion eine sich vielfach auch glaubensfeindlich gebärdende sozialrevolutionäre Arbeiterbewegung; von den philosophischen Lehrkanzeln wurde der Rationalismus als Glaube an die Selbstherrlichkeit der eigenen, menschlichen Vernunft gepredigt 148 • Neu war bei Leo, daß er nicht dabei stehen blieb, die genannten Theorien in Bausch und Bogen als Irrtümer zu verdammen und ihre praktischen Konsequenzen als verderblich zu brandmarken 149 , wie es seine Vorgänger seit Pius VI. (1775-1799) getan hatten. Vielmehr erkannte er die geistige Herausforderung, die in den neuen Lehren für den katholischen Glauben lag und umriß daher positiv die katholische Position, wobei er nicht zuletzt positive Aspekte der neuen Lehren als solche würdigte. Als Stellung innerhalb der katholischen Staatslehre: Minnerath (Droit de l'Eglise), S. 4951; Maier (Sozial- und Staatslehre), S. 9; List! (Kirche und Staat), S. 175 f. Die Schreiben Leos XIII. werden in den folgenden Fußnoten, soweit möglich, zitiert nach dem 3-bändigen Werk "Die katholische Sozialdoktrin", herausgegeben von A. F. Utz und B. v. Galen, das hier unter der Sigle "UG" mit Bandangabe in römischer Zahl und Seitenangaben in arabischen Zahlen zitiert wird. Dies geschieht im Interesse der Leser, die diese zweisprachige Ausgabe eher zur Hand haben dürften als die umfangreiche Sammlung Leonis XIII. Pontificis Maximi Acta, 23 vol., Romae 1881 ff., auf die hier aber ausdrücklich hingewiesen sei. 146 0 . Köhler in H. Jedin (Hg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. VI I 2, Freiburg 1973, S. 12 ff.; Acerbi (Chiesa nel tempo), S. 11 und 88; Minnerath (Droit de l'Eglise), S. 49; Tischleder (Staatslehre), S. 13. 147 List! (Kirche und Staat), S. 173. 148 Zur politischen Situation vgl. nur Acerbi (Chiesa nel tempo), S. 13- 28; Tischleder (Staatslehre), S. 9 ff. Dabei kann man, überblickt man die Lehrschreiben Leos, durchaus eine gewisse Fixierung Leos auf die romanische Staatenwelt bemerken, der er entstammt und in der er u. a. als päpstlicher Diplomat gewirkt hat: Isensee, S. 145 mit Anm. 13; Acerbi (Chiesa nel tempo), S. 20 ff. Es ist aber sicherlich übertrieben, wenn Isensee ebda. schreibt: "Außerhalb des päpstlichen Blickfeldes lag der (protestantisch dominierte) angelsächsische Kulturkreis: damit die Erfahrung staatlicher Stabilität, innerhalb deren sich die Liberalisierung und die Demokratisierung vollzogen ... ".So schreibt Leo XIII. einen ausführlichen apostolischen Brief "Longinqua Oceani" vom 6. 1.1895 an die Bischöfe der Vereinigten Staaten gerade zu ihrer spezifischen politischen Situation: ASS XXVII (1894/95) S. 387-399; UG III, S. 2380-2401; sowie am 22.1.1899 den Brief "Testern Benevolentiae" an den Erzbischof von Baltimore: UG I, S. 310-327. 149 Zu seinen "Hauptgegnem" erklärt er die "principia et fundamenta novi iuris" ("Immortale Dei", UG III 2116 (2135)), d. h. diejenigen geistigen Strömungen, die Recht, Staat und Gesellschaft von ihrem metaphysisch-naturrechtliehen Lebens- und Wurzelgrund lösen; ähnlich bereits Pius IX, alloc. "Multis Gravibusque" vom 17.12.1860, CIC-Fontes II, S. 937.
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geistige Grundlage diente ihm hierbei die neubelebte Thomas-Tradition 150 • Daraus folgte, wie R. Minnerath assoziierte, ein "hellerer Ton" als noch bei seinen Vorgängern 151 • Dennoch klang aus fast allen Schreiben Leos auch eine nicht zu überhörende Besorgnis um den Bestand des Glaubens und die dadurch anscheinend mitgefährdete öffentliche bürgerliche Ordnung heraus 152• Leo XIII. entwickelte also ein auf philosophischen, d. h. naturrechtliehen Grundlagen ruhendes kirchenpolitisches System 153 • Dabei kreiste seine Naturrechtslehre bezeichnenderweise um den Begriff der menschlichen Freiheit. Denn für Leo hatte gerade eine individualistisch-autonom pervertierte Freiheitsvorstellung seit der Renaissance bis hin zum Liberalismus zur Leugnung und Entstellung des Rechtsgedankens geführt. Daher ist die eigentlich fundamentale Enzyklika seines Pontifikates eher in "Libertas Praestantissimum" 154 als in der großen politischen Enzyklika "Immortale Dei" 155 zu erblicken 156 • Und noch in einer seiner letzten Äußerungen, in "Pervenuti all'anno" vom 19.3.1902 157 , kam Leo an zentraler Stelle auf die Bedeutung der Freiheit zu sprechen 158 • Leo definiert Freiheit als "das vernunftgemäße Recht, überall ungehindert nach den Normen des ewigen Gesetzes das Gute zu wirken" 159 • Damit ist Freiheit inhaltlich bestimmte Freiheit, Zustimmung zu den Geboten der Vernunft, die eben nicht autonom gesetzt sind, sondern sich an der "Iex aeterna Dei" 160 als ISO Vgl. die Enzyklika "Aeterni Patris" vom 4. 8. 1879, ASS XI (1878/79), S. 98 ff. (abgedruckt in DS 3135-3140), oder auch das Schreiben an die bayerischen Bischöfe "Officio Sanctissimo" vom 22. 12. 1887 bei UG III 2528 (2539 ff.); Tischleder (Staatslehre), S. 13 I 14. Zu den Auswirkungen dieser von Leo XIII. mitangeregten ThomasRenaissance speziell in Deutschland: G. Hammerstein, S. 107-110. Einen kurzen Vergleich der Staatslehre Leos mit derjenigen der Hll. Thomas und Augustinus gibt 0. Schilling (Leo XIII.), S. 108-112. I5I Minnerath (Droit de l'Eglise), S. 49 u. 51. 152 So etwa in der Enzyklika "Nobilissima Gallorum Gens" vom 8. 2. 1884, ASS XVI (1883), S. 241-248; UG III, S. 2514-2527 (2517 f.); "Pervenuti all'anno" vom 19. 3.1902; ASS XXXIV (1901 /02), S. 513-532; UG Ill, S. 2558-2595 (2559 ff.); vgl. auch unten Anm. 182. 153 List! (Kirche und Staat), S. 177; "lmmortale Dei" UG III 2116 (2128): "Eiusmodi est, quam summatim attigimus, civilis hominum societatis christiana temperatio, et haec non temere neque ad libidinem ficta, sed ex maximis ducta verissimisque principiis, quae ipsa naturali ratione confirmantur." 154 Vom 20.6.1888; ASS XX (1887), S. 593-613; UG I, S. 180- 223. 155 Vom 1.11.1885; ASS XVIII (1885), S. 161-180; UG III, S.2116-2153. Walf (Kirchenrecht), S. 148, wähnt als eigentlichen Autor dieser Enzyklika gar Felice Cavagnis. Handfeste Belege vermag er dafür nicht zu bringen. I 56 Wie hier Tischleder (Staatslehre), S. 14-28 und Isensee, S. 147-151. A. A. Minnerath (Droit de l'Eglise), S. 51: "La pierre d'angle reste l'expose magistral d'lmmortale Dei". 157 S. o. Anm. 152. 158 "Pervenuti", UG III 2258 (2573 und 2583). 159 ,,Pervenuti", UG III 2258 (2582): "la facolta ragionevole di operare speditamente e Iargamente il bene secondo Je norme della !egge etema".
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der Autorität Gottes zu orientieren haben. Freiheit wird zur Fähigkeit des Menschen, die Vollendung seines Wesens zu erreichen 161 • Der alles menschliche Handeln normierende Wille Gottes ist verkörpert in der "Lex aeterna". Ihre zeitliche Ausprägung findet sie im natürlichen Sittengesetz, d. h. den moralischen Grundbefindlichkeiten, die dem Menschen als Geschöpf Gottes zu eigen sind und durch das natürliche Erkenntnisvermögen der Vernunft erfaßt werden können. Den Bereich rechtlicher Normierung im strengen Sinne bildet aus dem Gesamt dieser "Lex aeterna" das "Ius naturale". Ihm darf die "Lex humana" - das positive menschliche Gesetznicht widerstreiten, ohne ihre Verpflichtungskraft einzubüßen. So kann Leo mit Thomas "Gesetz" als "ordinatio rationis" definieren, Anordnung der Vernunft 162• Das Gesetz wird geradezu die Regel der Freiheit: "Nichts ist so falsch und verkehrt, als wenn einer denken und behaupten wollte, weil der Mensch von Natur aus frei sei, darum müsse er gesetzlos sein . .. Gerade das Gegenteil ist der Fall: weil der Mensch von Natur aus frei ist, darum muß er dem Gesetz untergeben sein." 163• Diese Konzeption gilt auch für die menschliche Gesellschaft. "In der menschlieben Gesellschaft besteht darum die Freiheit nicht darin, daß jeder tut, was ihm beliebt, ... sondern darin, daß wir durch die Staatsgesetze wirksamer den Geboten des Ewigen Gesetzes nachleben können. Die Freiheit derer, welche regieren, besteht nicht darin, daß sie ohne Grund und nach Willkür befehlen können, ... die Wirkkraft der menschlichen Gesellschaft muß vielmehr darin bestehen, daß ihr Ursprung aus dem Ewigen Gesetz klar erhellt und sie nichts verordnen, was nicht in diesem als dem Ausgangspunkte des gesamten Rechts enthalten ist." 164• Damit ist klar: die Ordnung der Gesellschaft ruht auf der Anerkennung der höchsten Wahrheiten 165 • Wahrheit ist Ordnungsprinzip des Gemeinwesens, und 160 "Libertas" UG I 180 (190): "Ex quo intelligitur, omnino in aetema Dei lege normam et regulam positam esse libertatis, nec singulorum dumtaxat hominum, sed etiam communitatis et coniunctionis humanae.". 161 "Libertas", UG I, 180 (192): "Natura igitur libertatis humanae, quocumque in genere consideretur, tarn in personis singulis quam in consociatis, nec minus in iis qui imperant, quam in iis qui parent, necessitatem complectitur obtemperandi summae cuidam aetemaeque rationi, quae nihil est aliud nisi auctoritatis iubendi, vetantis Dei. Atque hoc iustissimum in homines imperium Dei tantum abest ut libertatem tollat aut ullo modo diminuat ut potius tueatur ac perficiat. Suum quippe finem consectari et assequi, omnium naturam est vera perfectio: supremus autem finis, quo libertas aspirare debet humana, Deus est." 162 "Libertas" UG I 180 (188) und ebenso die Enzyklika "Sapientiae christianae" vom 10. 1.1890, ASS XXII (1889 I 90), S. 385 -404; UG 111, S. 2252-2289 (2258): ,,Non est Iex, nisi iussio rectae rationis a potestate legitima in bonum commune perlata .. . neque est recta ratio putanda, quae cum veritate dissentiat et ratione divina: neque verum bonum, quod summo atque incommutabili bono repugnet, vel a caritate Dei torqueat hominum atque abducat voluntates."; erläuternd dazu Schilling (Leo XIII.), S. 7-17. 163 "Libertas" UG I 180 (189). 164 Übersetzung, ebda. S. 191. 165 Enzyklika "lnscrutabili" vom 21.4.1878, ASS X (1877 /78), S. 585-592; UG I, s. 340-357 (343 I 345).
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da die Kirche im Besitze der Wahrheit ist, dominiert sie das Gemeinwesen "natürlich" auch 166. Wurzel der Staatsbildung ist die soziale Veranlagung des Menschen 167 • "Von Natur ist es dem Menschen angeboren, in der staatlichen Gemeinschaft [in societate civili] zu leben; denn da ihm in der Vereinzelung die zum Leben notwendige Pflege und Fürsorge fehlt, ebenso auch die geistige und seelische Ausformung nicht möglich ist, deswegen hat die göttliche Vorsehung es so geordnet, daß er in eine menschliche Gemeinschaft, die häusliche sowohl wie die staatliche, hineingeboren wurde; denn nur diese letztere kann seinen Lebensbedarf voll und ganz decken." 168 • Dann folgt die Distanzierung von den modernen Staatsvertragstheorien: der Staat ist nicht eine Nützlichkeitsentscheidung des Menschen, sondern ein sittlich-sozialer Organismus, den die Menschennatur mit ununterbrochen innerlich wirksamer Kraft aus sich hervortreibt 169 • Der Staat ist also eine naturrechtliche Notwendigkeit 170, die Staatsgewalt - paternalistisch gedacht 171 - ist göttlichen Ursprungs 172• Was das Wesen des Staates betrifft, lassen sich zwei Hauptmerkmale 173 unterscheiden: der Staat ist natürliche und vollkommene Gemeinschaft, und er ist organische Gliedgemeinschaft 174• Als übergreifende Ordnungsgröße ist er damit die Vollendung anderer natürlicher Gemeinschaften wie Familie und Kommune. Seine Souveränität wird akzeptiert, nicht aber im Sinne einer Verabsolutierung, sondern nur gebunden an den Staatszweck 175 • Gerade daraus erwächst ihm aber auch seine grundlegende Unabhängigkeit gegenüber der Kirche 176• Staatszweck Isensee, S. 152 ff. Enzyklika "Diutumum Illud" vom 29.6.1881, ASS XIV (1881 I 82) S. 4-14; UG III 2092-2115 (2099); so auch die berühmte Sozialenzyklika "Rerum Novarum" vom 15.5. 1891, ASS XXIII (1890 I 91), S. 641-670, UG I, S. 496-553 (541). 168 "Immortale" , UG III 2116 (2119). 169 "Diuturnum", UG III 2092 (2101). 110 Ebda. S. 2099; "Immortale", UG III 2116 (2119). 11 1 "Diuturnum", UG III 2092 (2111 f.); "Rerum Novarum" UG I 496 (528): "cura paterna"; J. C. Murray (Contoversy), S. 23. 112 "Diuturnum", UG III 2092 (2101): "Denn wenn die Gewalt der Staatslenker gewissermaßen eine Teilhabe an der göttlichen Gewalt ist, so empfängt sie eben deswegen fortgesetzt eine übermenschliche Würde; nicht zwar jene gottlose und höchst törichte, wie sie ehedem die heidnischen Kaiser, die nach göttlichen Ehren strebten, forderten, sondern eine wahre und echte, von Gottes Gnaden und als Wohltat von ihm empfangen [eamque dono quodam acceptam beneficioque divino]"; "Au milieu" vom 16.2.1892, ASS XXIV (1891 I 92), S. 519-529, UG III, S. 2356-2378 (2369 I 2371) mit dem Zitat von Röm. 13, l. 173 Tischleder (Staatslehre), S. 60 ff. 174 Der Staat wird nicht monistisch gedacht, sondern aufgebaut aus kleineren Zwischenorganismen, die ihr eigenes Lebensrecht besitzen und zum gemeinsamen Wohl zusammenwirken; vgl. "Rerum Novarum" UG I 496 (529 I 531 und 541 I 543) sowie die Enzyklika "Humanum Genus" vom 20. 4. 1884, Leonis XIII Pontificis Maximi Acta IV (1885), S. 43-70, UG I, S. 72-105 (91 I 93). 175 Vgl. "Immortale", UG III 2116 (2126). 166
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ist für Leo (nur) das Gemeinwohl des staatlichen Organismus selbsti 77 • In der Sorge um dieses Gemeinwohl obliegt dem Staat allerdings nicht bloß "negativ" die Obhut über Polizei und Rechtsschutz ("Nachtwächterstaat"), sondern er hat auch - subsidiär(!)- "positiv" für die Wohlfahrt seiner Untertanen zu sorgen und sich um die sozial Bedürftigen zu kümmern ("Sozialstaat") 178 • Im Interesse seiner Untertanen kann es für den Staat aber auch keine sittliche und religiöse Neutralität geben 179• Sorge für das Allgemeinwohl umfaßt auch Vermittlung der (wahren) geistigen und sittlichen Werte 180• Die Staatsform hingegen teilt die Gottgegebenheit und Unwandelbarkeit der Staatsgewalt nicht. Jene ist nicht eindeutig durch das Naturrecht festgelegt, sondern gehorcht geschichtlichen Bedingtheiten 181 • Gerade die demokratische Staatsform ist nach Leo, wenn dem Ton seiner Worte auch ein gewisses Unbehagen anzumerken ist 182, mit katholischen Prinzipien durchaus vereinbar 183 • Damit eng "Sapientiae", UG III 2252 (2275). "Notre Consolation" vom 3. Mai 1892: ASS XXVI (1891 I 92), S. 641-647; UG III, S. 2852-2863 (2856 I 58): "C'est que 1e bien commun de Ia societe l'emporte sur tout autre interet: car il est Je principe createur, il est l'element conservateur de Ia societe humaine d'oii il suit que tout vrai citoyen doit Je vouloir et Je proeurer a tout prix. Or, de cette necessite d'assurer Je bien commun, derive comme de sa source propre et immediate Ia necessite d'un pouvoir civil qui, s'orientant vers le but supreme, y dirige sagement et constamment !es volontes multiples des sujets, groupes en faisceau dans sa main." 178 Ausf. "Rerum Novarum" UG I 496 (525-541); vgl. auch "Au Milieu", UG III 2356 (2370):"Et ce grand devoir et respect et de dependance perseverera, tant que !es exigences du bien commun Je demanderont, puisque ce bien est, apres Dieu, dans Ia societe, Ia loi premiere et demiere." 179 "Sapientiae", UG III 22252 (2275); "Libertas", UG I 180 (203 I 205). 180 "Libertas", ebda. S. 200: "Deinde qui populo praesunt, hoc omnino rei publicae debent, ut non solum commodis et rebus extemis, sed maxime animi bonis, legum sapientia, consultant." 181 Ausf. "Au Milieu" UG III 2356 (2367); "Immortale" UG III 2116 (2118): "Ius autem imperii per se non est cum ulla reipublicae forma necessario copulatum: aliam sibi vel aliam assumere recte potest, modo utilitatis bonique communis reapse efficientem."; "Notre Consolation", UG III 2852 (2857); einen aufschlußreichen Vergleich der hierzu divergierenden Auffassungen Joseph De Maistres und Leos XIII. referiert Tischleder (Staatsgewalt), S. 159-197. Zur Indifferenz der katholischen Kirche gegenüber der "politischen Form" nach der Lehre Leos XIII. auch Barion (Kirche oder Partei ?), GA, S. 477-482 (sog. "Ralliement-Modell"). 182 So in "Diutumum", UG III 2092, in der Leo XIII. auf die Ermordung Zar Alexanders II. 1881 anspielt und die Demokratie allgemein als besonders anfällig für öffentlichen Aufruhr darstellt; problematisiert wird das Prinzip der Volkssouveränität in "Immortale Dei", UG III 2116 (2134), das zurückgewiesen wird, soweit der Wille des Volkes als die eigentlich autoritative Quelle der Herrschaft behauptet wird, vgl. G. Saraceni (Chiesa e Comunita politica), S. 139- 142 m. w. N. 183 "Diutumum", UG III 2092 (2094). "lnterest autem attendere hoc loco, eos, qui reipublicae praefuturi sint, posse in quibusdam causis voluntate iudicioque deligi multitudinis, non adversante neque doctrina catholica .. . nihil est, cur non Ecclesiae probetur [Hervorhebung vom Verf.] aut unius aut plurium principatus, si modo iustus sit, et in communem utilitatem intentus."; ebenso "Libertas" UG I 180 (220): "Atque etiam nolle 176
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zusammenhängend realisiert er auch die für den neuzeitlichen Staat fundamentale Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. So ermuntert, ja beauftragt er mehrmals die Katholiken jeder gesellschaftlichen Position zur aktiven politischen Beteiligung und Mitgestaltung, sowohl zur Förderung des Gemeinwohls als auch zur Wahrung katholischer Eigeninteressen 184• Aufbauend auf der dargelegten Staatslehre kann Leo diese Linien weiterziehen und seinen Systementwurf des Verhältnisses von Kirche und Staat erstellen 185. So wie Leo XIII. Religion und Politik als aufeinander bezogene Unterschiedenheiten wahrnimmt 186, betont er stets aufs neue die wesensmäßige und damit unaufheb- und unaufgebbare Unterschiedenheit von Kirche und Staat 187• Sie hat ihren letzten Grund im Wesen (auch) der Kirche als einer "societas perfecta" 188 , insofern nämlich beide "societates perfectae" unterschiedliche Endzwecke haben. Es wäre aber ein Fehlschluß, daraus die vollständige Trennung ("disparatio"; "Separation") von Kirche und Staat, mit anderen Worten die religiöse Neutralität des Staates ableiten zu wollen 189 • Im Interesse eines harmonischen Zusammenwirkens zum Wohl derselben Schutzbefohlenen, der "ordinata colligatio" 190, erhebt Leo die grundsätzliche Forderung einer friedlichen und freundschaftlichen Verständigung zwischen Kirche und Staat 191 mit dem Ideal des konfessionellen Staates 192 und reipublicae statum popolari temperatum genere, non est per se contra officium, salva tarnen doctrina catholica de ortu atque administratione publicae potestatis."; dazu vgl. auch Köhler a. a. 0. (Anm. 146), S. 244 und - resümierend - S. 252 f.; Tischleder (Staatslehre), S. 252 ff.; zu den Mißverständnissen, die bzgl. dieser Frage aufgetaucht sind vgl. die Gegenpolemik Tischleders in (Staatsgewalt), S. 40-75, bes. S. 65 ff. 184 "Immortale", UG III 2116 (2130: "communitas atque societas civilis"); ebda., 2147 ff.; "Sapientiae", UG III 2252 (2273 ff.); ,,Longinqua Oceani", UG III 2380 (2395 ff.) 185 Gesamtdarstellungen bei Tischleder (Staatslehre) S. 262- 342; Schilling (Leo XIII.), S. 48-57 und List! (Kirche und Staat), S. 174-187. 186 Enzyklika "Cum Multa Sint" vom 8.12.1882 an den spanischen Episkopat, ASS XV (1882), S. 241-246; UG III 2218 (2221). 187 "Sapientiae", UG III 2252 (2272): "Ab omni politico genere imperii distat christiana respublica [!; G.] p1urimum."; "Pervenuti", UG III 2558 (2582): "La distinzione immutabile e perpetua dei due poteri". 188 "Libertas", UG I 180 (217); "Immortale", UG lli 2116 (2125,2137,2143); "Sapientiae", UG III 2252 (2267, 2273); ,,Nobilissima", UG III 2514 (2521); "Officio Sanctissimo", UG III 2528 (2553); Brief an den Preußischen Episkopat "Iampridem Nobis" vom 6. Januar 1886, ASS XVIII (1885), S. 387-394, UG III 2746 (2751). Einen leisen Vorbehalt will Walf (societas perfecta?), S. I 12, darin sehen, daß Leo im Schreiben "Praeclara Gratulationis" vom 20.6. 1894, CIC-Fontes III, S. 446, zu "societas perfecta" ein "ut dicimus" hinzufügt. 189 "Libertas", UG I 180 (217); "Au Milieu", UG III 2356 (2376): ,,Nous ne voulons pas nous arreter a demontrer ici tout ce qu'a d'absurde Ia the6rie de cette separation" - dort wird jedoch zugleich die Tolerabilität einer nicht explizit glaubensfeindlichen Trennung, wo sie denn schon bestehe, zugestanden; in gleichem Sinne zum amerikanischen Trennungssystem in "Longinqua Oceani", UG III 2380 (2385). 190 "Immortale", DS 3168 und UG III 2116 (2128). 19 1 "Diuturnum", UG III 2092 (2107 I 2109) (eher historisch); "Immortale", UG III 2116 (2127) mit dem berühmten Bild der zwei sich überschneidenden Kreise (wieder
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der rechtlichen Verständigung durch Konkordate 193 • Aus dem sittlichen Wächteramt der Kirche auch über den Bereich der natürlichen Sittlichkeit folgt eine mittelbare Gewalt der Kirche gegenüber dem Staat im Sinne einer negativen Abhängigkeit, die lediglich untersagen will, daß der Staat Gesetze erläßt, die dem aller Willkür entzogenen positiven und natürlichen göttlichen Gesetz widersprechen 194• Zu beachten bleibt hierbei: wenn die Kirche auch ein solch negatives Urteil fällt, betätigt sie nicht irgendwelche unmittelbare Jurisdiktionsgewalt über den Staat, sondern macht Gebrauch von ihrer Lehrgewalt. Sie greift nicht durch den Erlaß positiver staatlicher Gesetze in die Hoheitsrechte des Staates ein, sondern "schützt nur ... das Gewissen ihrer Kinder durch die unfehlbare Feststellung, daß der Staat seine Befugnisse überschritten hat und ein verpflichtendes Gesetz überhaupt nicht vorliegt." 195. Eine Würdigung der Lehren Leos kommt nicht umhin festzustellen, daß die vorneuzeitliche Einheitskonzeption vom inhaltlichen Zusammenwirken zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt prinzipiell noch aufrechterhalten wird 196• Auch das staatliche Recht legitimiert sich vollständig aus der Moral, denn es ist nach Leo nichts anderes als eine "facultas moralis" 197 • Dennoch findet sich eine Abschwächung dieser Position, die von gewissem Verständnis für den modernen Staat zeugt. Denn die Potestas indirecta gegenüber der Institution Staat mildert sich im Grunde zu einer Potestas directiva gegenüber den christlichen Staatslenkern und Bürgern 198 • Ein positiv-neutrales Trennungsmodell und die Gewährung aufgenommen z. B. bei Böckenhoff, S. 81 I 82); "Sapientiae", UG III 2252 (2257 und 2275); ,,Nobilissima", UG III 2514 (2520: "necessaria est et utilitati publicae consentanea utriusque concordia."). 192 "Libertas", UG I 180 (202): "Deus est, qui hominem ad congregationem genuit atque in coetu sui similium collocavit, ut quod natura eius desideraret, nec ipse assequi solitarius potuisset, in consociatione reperiret. Quamobrem Deum civilis societas, quia societas est, parentern et auctorem suum cognoscat necesse est, atque potestatem dominatumque vereatur et colat. Vetat igitur iustitia, vetat ratio atheam esse, vel, quod in atheismum recideret, erga varias, ut loquuntur, religiones pari modo affectam civitatem, eodemque singulis iura promiscue largiri. - Cum igitur sit unius religionis necessaria in civitate professio, profiteri eam oportet quae unice vera est"; weitere Hinweise bei List! (Kirche und Staat), S. 182-184. 193 Tischleder (Staatslehre), S. 290-294 m. w. N. 194 "Sapientiae", UG III 2252 (2275 I 2277). 195 Tischleder (Staatslehre), S. 300 (zum ganzen vgl. ders., ebda., S. 299-304) und Böckenhoff, S. 89 I 90. 196 Ebenso W. Böckenförde (Rechtsverständnis), S. 89 unten. 197 "Libertas", UG I 180 (204). Es wäre interessant, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der kirchlichen bzw. kanonistischen Konzeption von Recht als einer "facultas moralis" und der eines Grotius oder Pufendorf herauszuarbeiten, die Recht ("ius") im Sinne der subjektiven Berechtigung ebenfalls als "facultas moralis" kennzeichnen. Für Pufendorf vgl. ING I, 1, 20 und III, 5, 1. Zu Grotius und Pufendorf vgl. diesbzgl. weiterführend K. Olivecrona, The concept of a right according to Grotius and Pufendorf, in: Rechtsfindung. Beiträge zur juristischen Methodenlehre. Festschrift für Oscar Adolf Germann zum 80. Geburtstag, hg. v. P. Noll u. G. Stratenwerth, Bem 1969, S. 175-197. 198 E.-W Böckenförde (Staat I Gesellschaft I Kirche), S. 25 I 26.
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individueller wie korporativer Religionsfreiheit liegen zumindest im Bereich des Denkmöglichen 199, auch wenn sie nicht als wünschenswert erscheinen. Eigentliches Objekt der päpstlichen Kritik bleibt der "liberale Freiheitsentwurf in seiner ideologischen Dimension" 200• Die bleibende Frage, die die leoninischen Lehräußerungen dem staatlichen Recht stellen, lautet somit: wieviel "Wahrheit" braucht die "Freiheitsordnung Recht", um überhaupt als solche gelten zu können? 201
II. Das Verhältnis von Kirche und Staat im CIC I 1917 Weder kirchenrechtliche Lehrbücher noch päpstliche Lehrschreiben oder Verlautbarungen sind als solche selbst schon Kirchenrecht. Sie sind es allenfalls potentiell. Die Frage, die sich deshalb nunmehr stellt, lautet, ob und inwieweit die von den katholischen Kirchenrechtlern des IPE entwickelte und von den Päpsten des letzten Jahrhunderts rezipierte Lehre vom rechten Verhältnis von Kirche und Staat Eingang in die Kodifikation des universellen Kirchenrechts aus dem Jahr 1917 gefunden hat, die die Rechtstexte des CorpJC förmlich aufhob und damit eine neue Epoche katholischen Kirchenrechts markierte. In einem ersten Unterabschnitt (II., 1.) soll die Entstehungsgeschichte des Kodex daraufhin durchleuchtet werden, ob sich in ihr bereits Indizien für eine Rezipierung der Thesen des IPE auffinden lassen. Im folgenden Unterabschnitt (II., 2.) wird die Ausgangsfrage für den Normkomplex des Kodex rechtsdogmatisch präzisiert, und es werden die konträren Basisthesen dazu vorgestellt. Im letzten Unterabschnitt (II., 3.) wird die Grundthese, die bejaht, daß die Rechtsaussagen des IPE auch im CIC I 1917 normativ bestätigt worden seien, nochmals danach differenziert, mit welcher Grundintention das wohl geschehen sei: wollte der Kodex von 1917 der Welt also den katholischen Glaubensstaat oktroyieren oder doch das liberale Modell der Trennung von Kirche und Staat bestätigen? 199 "Immortale" UG III 2116 (2142 I 2144): "Revera si divini cultus varia genera eodem iure esse, quo veram religionem, Ecclesia iudicat non licere, non ideo tarnen eos damnat rerum publicarum moderateres, qui, magni alicuius aut adipiscendi boni, aut prohibendi causa mali, moribus atque usu patienter ferunt, ut ea habeant singula in civitate locum." 2oo Isensee, S. 142 I 143; List! (Kirche und Staat), S. 217-219. So auch bereits Murray (Totalitarian Democracy), S. 546 ff.; a. A. E.-W. Böckenförde (Staat I Gesellschaft I Kirche), S. 113 mit Anm. 11. 201 Eine andere Frage ist die, ob auch das kanonische Recht die Wende zur "Friedensund Freiheitsordnung" mitvollzogen hat oder mitvollziehen sollte (so offenbar E. M. Maier (1985)) und sich die leoninische Frage damit auch an das kirchliche Recht richten würde. Voraussetzung dafür wäre, wenn das denkbar ist, eine "pluralistische" Dogmatik bzw. systematische Theologie, die die gewissensbezogenen Glaubenszweifel der einzelnen Kirchenglieder anerkennt und ihr zweifelndes Miteinander zu organisieren sucht. Damit wäre aber auch eine weitere, neue Stufe der Individualisierung der (profanen) Gesellschaft erreicht: die neuzeitliche Politik suchte das Gegeneinander von Glaubensüberzeugungen von der allgemein-politischen Ebene auf die Ebene der "Gesellschaft" abzudrängen. Dort sollten Gemeinschaften verschiedenen Glaubens miteinander auskommen. Nun würden auch diese bislang homogenen Gruppierungen durch die Anerkennung eines Rechts zum Zweifeln und Dissentieren individualisiert.
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1. Kanonisches Recht, Kodifikation und Kodex Um das eigentliche Kirchenrecht stand es im 19. Jh. nicht unbedingt zum besten. "Seit Pierre Matthieu (Petrus Matthaeus) im Jahre 1590 seinen Liber Septimus Decretalium in Lyon hatte erscheinen lassen, . .. waren keine authentischen und auch keine nennenswerten privaten Sammlungen der kirchlichen Rechtsbestände seit dem Abschluß des Corpus Iuris mit den Clementinen bzw. den Extravaganten mehr erfolgt." 1• Doch war seitdem die kirchliche Rechtsentwicklung und Rechtssetzung nicht stehengeblieben. Das mußte zu einer Zeit, in der das Buch einziges und nichtmals voll entwickeltes Informationsmedium war, Unübersichtlichkeit und Uneinheitlichkeit des Rechtsstoffes nach sich ziehen. Beides begünstigte wiederum die Entwicklung vielgestaltigen Gewohnheitsrechts, das kaum mehr jemand überblicken konnte. Letzte Folge alles dessen war weitgreifende Rechtsunsicherheit Andererseits hatten die dem Vernunftrecht entsprungenen weltlichen Kodifikationen der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert2 - im besonderen der Code Civil des Jahres 1804 3 - , die die für ein Rechtsgebiet geltenden Gesetze (virtuell) vollständig nach einer systematischen Ordnung zusammenfassen wollten\ überall, nicht zuletzt in kirchlichen Kreisen, einen starken Eindruck hinterlassen. Schließlich hatten sich auch, wie wir bereits gesehen haben, die Zeiten so gründlich geändert, daß mit mittelalterlichen Gesetzen in vielerlei Hinsicht kaum mehr "Staat zu machen" war. Hauptsächlich diese drei Gründe - Rechtsunsicherheit, weltliche Leitbilder, sozialer Wandel - waren es, die im Vorfeld des I. Vatikanischen Konzils 5 und auf dem Konzil selbst 6 Bischöfe verschiedener Nationen für eine grundlegende Neuordnung des kanonischen Rechts votieren ließen. Neben der Anregung zu einer "nova collectio canonum" war auch schon explizit von einer "codificatio" bzw. einem "novus codex" die Rede 7 • Doch blieb dies alles Projekt, da italieniI Feine, S. 637. Eine gewisse Ausnahme bildete lediglich der ,,Juristenpapst" Benedikt XIV. (Prospero Lambertini, 1770- 1758), der immerhin seine eigenen Konstituionen sammelte. Dazu Laemmer, S. 27-35. Zur Person und den Werken Lambertinis auch Schulte, S. 503-510. 2 Allg. dazu F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. Göttingen 1967, S. 322 ff.; F. Elsener, S. 43-48. 3 Fikentscher I, S. 423-431. 4 Zum Begriff "Kodifikation" Ch. Starck im StL7 , Bd. III. ( 1987), Sp. 563; R. Herzog, Art. "Kodifikation", EStL2 , Sp. 1316117 (nicht mehr enthalten in der 3. Aufl. 1987). Eine Diskussion des Vollständigkeitspostulats für den weltlichen Bereich findet sich bei K. Schmidt, Die Zukunft der Kodifikationsidee, Karlsruhe 1985, S. 17-22. Hinweise auf die parallele Diskussion im Bereich der italienischen Zivilistik geben Spinelli I Dalla Torre, S. 62, Anm. 29. Für den CIC vgl. weiterhin M. Falco, S. 275-279 und Corecco (Kulturelle Voraussetzungen), S. 3-9. s Vgl. Laemmer, S. 48-50; A. Pillet, S. 38-43 mit Hinweis auf Collectio Lacensis, Vol. VII, S. 826 ff. ; P. Gasparri, Praefatio, S. XXXII-XXXIV. 6 Pillet, S. 44; Gasparri, Praefatio, S. XXXIV -XXXV. 7 Teilweise Wiedergabe der Voten bei Gasparri, Praefatio, S. XXXII-XXXV; Stutz (Geist), S. 130- 132; Falco, S. 7 - 10.
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sches Militär am 20.9.1870 der ehrwürdigen Versammlung ein vorzeitiges Ende aufzwang. Gleichfalls unberücksichtigt blieben damit auch die Anregungen der "Commissio diplomatico-ecclesiastica" unter Kardinal Reisach, deren Vorarbeiten über kirchenpolitische Dekrete 8 vor den Augen der leitenden Congregatio Cardinalicia directrix (wohl hauptsächlich wegen zu enger Berührung mit der von Beginn an dominierenden dogmatischen Kongregation sowie um eine befürchtete Intervention des Staates zu vermeiden 9 ) keine Gnade und somit keinen Eingang in die Beratungen des Konzils fanden. Immerhin war erkennbar, daß die Kirchenleitung grundsätzlich gewillt war, die Frage des Verhältnisses von Kirche und Staaten auch kirchenrechtlich anzupacken 10• Danach blieb es einige Jahrzehnte still um die Kirchenrechtsreform, sieht man von doch recht bemerkenswerten privaten Kodifikationsvorschlägen ab 11 • Erst Papst Pius X. nahm den Ruf der Konzilsväter 12 mit seinem Motu Propria "Arduum Sane Munus" vom 19. 3. 1904 13 auf, das die Kirchenrechtserneuerung offiziell ankündigte. Schon allein diese Tatsache, die den Papst als den seit dem I. Vaticanum wiedererstarkten Herrscher zeigte, der sich anschickte, umfassend 8 Die "lnstructio quomodo in Commissione diplomatico-ecclesiastica res tractandae erunt" vom Februar 1869 ist im Wortlaut wiedergegeben bei Laemmer, S. 56-59. 9 H. Jedin in LThK, Suppl. III., S. 613 links oben. 10 Laemmer, S. 55, zitiert ein Votum Reisachs vom 19.9.1867 (nach Cecconi-Molitor): " ... Unterliege es keinem Zweifel, dass das Verfahren und die Maßnahmen des Heiligen Stuhls in kirchlich-politischen Dingen nicht wenige und geringe Modificationen in das gemeine Kirchenrecht eingeführt haben, welche deshalb als eine Entwicklung dieses Rechtes selbst betrachtet werden können, so sei es zweckmässig, ja nothwendig, dass alle die fraglichen Acte des Heiligen Stuhles, Concordate oder besondere Concessionen, Privilegien u. s. w. in ihrem Verhältnis zum gemeinen canonischen Recht studirt würden, um das Ergehniss dieser Studien der Disciplinarcommission mitzutheilen ... Endlich werde es auch sehr nützlich sein, in die Discussion allgemeiner Fragen einzutreten und die Principien festzustellen, nach welchen die Kirche in den auftauchenden politischreligiösen Angelegenheiten zu verfahren habe."; vgl. weiterhin G. Mantuano, passim. 11 Laemmer, S. 160-193; J. A. Faßbender, S. 3-7. Es handelte sich um die Arbeiten von Gaspare de Luise (1875), Emanuele Colomiatti (1888 ff.), Albert Pillet (1890), Enrico Maria Pezzani (1893), F. Deshayes (1895) sowie die Strafrechts- und damit Teilkodifikation des Eichstätter Kirchenrechtiers Joseph Hollweck (1899) [zu ihm und seinem Anteil an der Strafrechtskodifikation im CIC I 1917 nunmehr ausf. Vismara Missiroli I Musseli, S. 111-152 einschl. des Abdrucks von Hollwecks "Vota" im Zuge der CIC-Entstehung]. Dabei gliedertenDe Luise und Deshayes offen nach der juspublizistischen Unterscheidung in öffentliches und privates Kirchenrecht, und alle Autoren außer Colomiatti und Hollweck äußern sich in ihren Entwürfen auch über das Verhältnis von Kirche und Staat; vgl. Laemmer, S. 162, 174, 184185, 190; Pillet, S. 55-61 sowie M. Falco, S. 13. 12 Demgegenüber hält P. Landau, S. 5, Anm. 31 (unter Berufung aufS. Kuttner in The Jurist 1968, S. 140) dafür, daß den Vätern des I. Vatikanischen Konzils bloß eine Ergänzung des CorpJC vorgeschwebt habe, aber keine völlige Neukodifikation. Diese Idee habe vielmehr erst 1904 Kard. Pietro Gasparri durchgesetzt. Die These Landaus läßt sich hier nicht widerlegen, würde aber bedeuten, daß Gasparri in seiner "Praefatio" vorsätzlich falsch berichtet hätte. 13 ASS XXXVI (1903 I 04), S. 549-551; erläuternd zu dieser Äußerung N. Hilling (Reformen 1), S. 12-16.
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planend und lenkend den Gedanken eines unwandelbaren Weltrechts umzusetzen 14, ließ für die neue Kodifikation inhaltlich "vatikanisches Kirchenrecht" (U. Stutz) 15 erwarten. Die Vorarbeiten zum CIC selbst gingen unter strengster Geheimhaltung vor sich 16• Daher ist über sie offiziell nur das wenige bekannt, was Pietro Gasparri (1852- 1934), der erste Sekretär und spätere Präses der für die Reform verantwortliehen Kardinalskommission 17 und "eigentlicher Schöpfer des CIC" (Mörsdorf) 18 , in seiner "Praefatio" zur offiziellen Textausgabe des CIC mitgeteilt hat 19• Einen gewissen Anhaltspunkt dafür, daß das lus Publicum Ecclesiasticum und somit die Fragestellung des Verhältnisses von Kirche und Staat(en) in den Vorarbeiten eine Rolle gespielt haben muß, liefern uns allerdings schon einige Namen aus dem Kreis der beteiligten Kirchenmänner. Allen voran begegnet uns, in der "nicht lange nach" dem 25. 3. 1904 errichteten fünfköpfigen Sonderkommission 20 der Kardinalskommission, der Schaltzentrale der CIC-Erarbeitung 21 , kein geringerer als die herausragende Figur des IPE, Kardinal Felice Cavagnis. Seine 14 Hierzu Elsener, S. 43 ff., der Parallelstrukturen der weltlichen Kodizes zum CIC herausarbeitet; zu den geistesgeschichtlichen Bedingungen instr. auch Ch. Link in Behrends I Link, S. 150-174; Stutz (Konkordat und Codex), S. 692 unten, sowie neuestens, auch im Vergleich zur Kodifikationserneuerung nach dem Konzil Corecco (Kulturelle Voraussetzungen), S. 3-16 (zum CICI 1917 ebda., S. 7-9) 1s Ausf. in (Kirchenrecht), S. 358- 368; ders. (Geist), S. 50 und 155 I 56. 16 Hierzu Falco, S. 26-29. Verständnis zeigt Stutz (Geist), S. 21 I 22: "Die Kurie schien ihre Vorarbeit mit Recht nicht Erfahrungen aussetzen zu wollen, wie wir sie mit dem ersten Entwurf zum Bürgerlichen Gesetzbuch und seinen Motiven gemacht haben, sondern es, was für die Wissenschaft vielleicht ein Verlust, für die Praxis des Gesetzbuches aber sicherlich ein Gewinn ist, vorzuziehen, erst das fertige Werk den Augen der kirchlichen und ausserkirchlichen Oeffentlichkeit auszusetzen." 11 Konstituiert durch päpstlichen Erlaß in ASS XXXVI (1903104), S. 551; zu den Mitgliedern instr. Hilling (Reformen II), Jhg. 1915, S. 91-95. 18 Art. "Gasparri", StL6 , Bd. IV. (1960), Sp. 648. Zu Gasparri darüberhinaus Stutz (Geist), S. ll ff. und Elsener, passim. 19 In Schmitz (Gesetzessystematik) finden sich, allerdings ohne weitere Quellenangabe, Wiedergaben verschiedener Canones der CIC-Entwürfe aus den Jahren 1912 I 1913. 20 Gasparri, Praefatio, S. XXXVII; Stutz (Geist), S. 9; Hilling (Reformen Il), S. 91 ff. 21 Zum besseren Verständnis hier eine kurze Übersicht über den Verlauf der Reformarbeiten zum CICI 1917: - 1904 bis 1905: "Postulata" der Bischöfe zum Prozeß der Kodifikation; - 1906: "Vota" der Beauftragten der Kommission zu den einzelnen Teilen der Arbeit; - 1907 bis 1908: "Schemata", d. h. Einzelschemata zu den vorher festgelegten Einzelgebieten; - 1908: "Consulta" und Adunanze (ital.: Versammlungen) der Consultoren zu den Schemata; - 1912-1913: ,,Nova Schemata"; hierzu in der Folge dann "Animadversiones" der Ortsbischöfe und Oberen (nicht mehr im Orginalwortlaut erhalten, sondern nur in der Aufbereitung durch Kardinal Gasparri; nicht vollständig); - 1914 bis 1917: Abschlußredaktion (bedingt durch den I. Weltkrieg keine größeren Arbeiten mehr, aber immerhin einige Überarbeitungen der Schemata); Gesamtschema 1916.
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Mitarbeit währte allerdings nur bis zum Jahre 1906, in dem er 65jährig verstarb. Immerhin darf man wohl aus den Worten Gasparris, man habe die Sonderkommission ins Leben gerufen, "quo res celerius et expeditius praecederet", schließen, daß bis zum Tode Cavagois bereits ein erhebliches Arbeitspensum abgeleistet worden war. Unter den 42 Konsultoren finden sich drei, die schon in ihren Veröffentlichungen für das IPE Stellung bezogen hatten: Mariano de Luca 22 , Enrico Maria Pezzani 23 und Albert Pillet 24 • Die beiden Letztgenannten taten ihren Dienst bis zum Ende der Gesetzgebungsarbeit 25 • Der neue Codex luris Canonici konnte von Pius X. nicht mehr promulgiert werden. Dies tat sein Nachfolger Benedikt XV. (1914-1922) am Pfingsttag (27. Mai) 1917 mit der Konstitution "Providentissima Mater Ecclesia" 26 , die fortan 22 Zu ihm Hilling (Reformen li), S. 94 mit Anm. 2. De Lucas "Iuris Ecclesiastici Publici Institutiones", Romae 1901, muß ein gängiges, wenn auch nicht epochemachendes Werk des IPE gewesen sein. Ottaviani zitiert es regelmäßig, aber nicht oft und verzeichnet es in seiner "Literaturliste" zum IPE im Vol. I, S. 18-25. Musselli, S. 21, Anm. 44, kennzeichnet sein Denken als "jeder Neuerung verschlossen und auf die Unterordnung der staatlichen unter die kirchliche Gewalt fixiert" . Als Beleg bzw. Indiz dafür mag gelten, daß De Luca sein Werk als Kommentar zu demjenigen Tarquinis (vgl. oben Abschnitt I, 2.a) konzipiert. Der Untertitellautet denn auch "Institutiones traditae iuxta methocturn Card. Tarquini". In seiner Praefatio nennt der Autor auch einige andere Kanonisten, die zu studieren sich lohne, u. a. Phillips. Dessen neue Konzeption der Potestas Ecclesiae als im dreifachen Amte Christi (dem prophetischen, priesterlichen und königlichen) gründend und somit konstituiert als "magisterium, ministerium et imperium" lehnt er ausdrücklich ab. Sein Fazit: "Omnia vel ambigua vel obscura." 23 S.o. Anm. 11. 24 Er hatte sich in seinem Buch "De la Codification du droit canonique" (Lilie 1897), S. 34 I 35, ausdrücklich auch für eine Kodifikation des öffentlichen Rechts der Kirche ausgesprochen: "Le pouvoir administratif ecclesiastique doit pourvoir ala bonne direction des fideles, mais i1 doit aussi avoir des relations avec le pouvoir civil, et nous savons tous combien ces relations sont difficiles et delicates . . . Le droit public de 1'Eglise n 'a jamais ete codifie encore, et le Syllabus, !'admirable Syllabus de Pie IX, est Ia seule tentative qui ait ete faite dans ce sens par I'autorite competente . . . Une declaration nette et precise des droits de 1'Eglise servait certainement de nature a faire cesser ou tout au moins a diminuer l'antagonisme existant aujourd'hui entre eile et les societes civiles, et cette pacification plus ou moins complete serait au grand avantage des deux parties.". Seine Darstellung der Regelungsgegenstände geht davon aus, daß keine eigene Unterteilung in ,,lus Publicum" und "Jus Privatum" nötig sei. Vielmehr werden, im Text verstreut, die Freiheitsrechte gegenüber der staatlichen Gewalt benannt, die der Kirche als "societas perfecta" gebühren: Pillet, S. I f. (Kirche als societas perfecta); S. 70 171 (Abschnitt "Des Prolegomenes", "OU doivent etre exprimes !es principes et les prolegomenes de Ia jurisprudence ecclesiastique"); S. 72-75, wo betont wird, der neue Codex müsse die Arbeit des antiliberalistischen "Syllabus Errorum" von 1864 vollenden; S. 114: die Vermögensfähigkeit der Kiche wird als "institution divin~ dans son principe" benannt; S. 121, natürliche Strafgewalt: "Il en est de meme pour l'Eglise, et Je principe de son pouvoir judiciaire a ete ecrit par Dieu lui-meme dans son immuable constitution" sowie S. 132: Verbindung von Strafgewalt und Justizhoheit 2s Vgl. Stutz (Geist), S. 10, Anm. 2 (nach dem AnnPont 1916, S. 569 f.). 26 Zusammen mit dem Urtext des CIC I 1917 findet sie sich publiziert in einem separaten Faszikel als Pars II des Jahrgangs 9 (1917) der AAS; vgl. dazu auch Stutz (Geist), S. 34 I 35.
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auchjeder amtlichen Textausgabe des Gesetzbuches vorangestellt wurde, weshalb man sie als "integrierenden Bestandteil des CIC" bezeichnet hat 27 • Gleich ihr erster Satz hob programmatisch an: "Providentissima mater Ecclesia, ita a conditore Christo constituta, ut omnibus instructa esset notis quae cuilibet perfectae societati [Hervorhebung vom Verf.] congruunt ..." 28 •
2. Die Grundproblematik: Die Aussagequalität vereinzelter Bestimmungen des CIC Am Pfingstfest des Jahres 1918, dem 19. Mai, trat der Kodex in Kraft. Damit begann eine neue Epoche des Kirchenrechts und der Kirchenrechtsgeschichte. C. 6 bestimmte: "Codex vigentem huc usque disciplinam plerumque retinet, licet opportunas immutationes afferat. ltaque: 1. o Leges quaelibet, sive universales sive particulares, praescriptis huius Codicis oppositae, abrogantur, nisi de particularibus legibus aliud expresse caveatur; ..." 29 • Nach der Meinung von Stutz "absorbiert der Kodex das gesamte bisherige Recht, er saugt und nimmt es auf. Er wird dadurch zur Hauptquelle, zu der die älteren, nur noch für Auslegungszwecke in loser- man möchte sagen, höchst akademischer- Beziehung verbleiben. Nicht einmal als subsidiäre Quelle im eigentlichen Sinn ... kommt das Corpus Iuris Canonici für das Recht des Kodex in Betracht . . . In Tat und Wahrheit ist der Kodex mit seinem Anhange fortan die Quelle des gemeinen katholischen Kirchenrechtes schlechthin, nicht allein die wahre, sondern auch die einzige; es erscheint durchaus gerechtfertigt, wenn er von der Seminar- und Universitäten-Kongregation in dem oben erwähnten Erlasse [AAS IX (1917), S. 439] als authenticus et unicus fons iuris canonici hingestellt und bezeichnet wird ... Was ergibt sich daraus? Nichts anderes, als dass alles, was bis zum Erlass des Kodex . .. geschehen ist, der Rechtsgeschichte angehört." 30 • Es wäre aber voreilig, die (Wieder)Aufnahme des Terminus "societas perfecta" in der Walf (societas perfecta?), S. 113, Anm. 26. V. Ernst, S. 69, sprach in diesem Zusammenhang von der "dogmatischen Fundamentalwahrheit des Kirchenrechts". Und J. Klein (Skandalon I Tragweite), S. 124 I 125, interpretierte: "Der Welt und speziell dem Staat gegenüber kleidet sich die Kirche also auch heute in das Gewand der rechtlich verstandenen "societas perfecta", etwas vollkommen Unbegreifliches, wenn man nicht beachten würde, daß sie mit diesem Begriff alle ihr zugewachsenen Rechte deckt und die Möglichkeit gewinnt, für die Position gegenüber dem Staat den gemeinsamen Boden der gleichen rechtlichen Begriffswelt zu behaupten." 29 "Unter der vigens Ecclesiae disciplina versteht man das geltende Kirchenrecht in seiner unter Berücksichtigung der Verhältnisse herkömmlichen Anwendung": Sägmüller (Lehrbuch4 ) , S. 169. 30 Stutz (Geist), S. 164-166; ebenso Ebers, S. 223 und J. Haring, S. 113; dezidiert a. A. Barion (Konkordat und Kodex), GA, S. 143. Aus den Bestimmungen c. 6, 2° 4 °leitete Kard. Gasparri allerdings das Bedürfnis ab, die "altrechtlichen" Quellen des CIC I 1917 in einer neunbändigen, chronologisch geordneten Reihe herauszugeben, den Codicis Iuris Canonici Fontes: siehe ebda., vol. I, Romae 1926, S. V. 27 28
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Promulgationsbulle als kodikarische Festlegung im Sinne der geschilderten Lehren des IPE zu deuten 31 • Die Konstitution ist, anders als die Dokumente im Anhang, nicht Gesetzestext - und "integrierender Bestandteil" allenfalls insoweit, als sie ein wichtiges Mittel der subjektiv-historischen Auslegung der CICNormen darstellt 32• Zwei unbestreitbare Fakten lassen hingegen grundsätzlich an der Relevanz des CIC für Staat-Kirche-Fragen zweifeln: Weder taucht der Begriff "societas perfecta" im Kodex selbst auf, noch hat das Verhältnis von Kirche und Staat in ihm einen systematischen Ort. Seine Gliederung orientiert sich vielmehr am Gaianischen Institutionenschema 33 • Zumindest, soviel ist sicher, wurde also die Systematik des IPE nicht übernommen. Auf die Kategorisierung des kirchlichen Rechtsstoffes nach "publicus" und "privatus" hat sich der Gesetzgeber nicht eingelassen. Das muß für den Inhalt aber noch nicht präjudizierend wirken 34• Auch die negativ gefaßten Einleitungscanones des Liber Primus "Normae Generales" über den Geltungsbereich des Gesetzes, die cc. 1 -6, geben zu unserer Frage, von einer allerdings wesentlichen Ausnahme abgesehen, wenig her 35 • C. 1 beschränkt die Geltung des CIC auf die lateinische Kirche, c. 2 schließt das "ius liturgicum" aus, c. 5 beseitigt widersprechendes Gewohnheitsrecht, c. 6 regelt die (nur ausnahmsweise) Fortgeltung bisherigen Gesetzesrechts, c. 4 macht einen Vorbehalt zugunsten wohlerworbener Rechte Dritter sowie der vom Hl.
31 Dies tut aber Fleiner, S. 8 I 9: "Mit einem einzigen Satze hat vielmehr der Codex für die katholische Kirche die volle und selbständige Gesetzgebungsgewalt gegenüber dem Staat in Anspruch genommen, nämlich mit den Worten der Publikationsbulle ... , es übe die Kirche die ihr stiftungsgemäß von Christus übertragene Rechtsetzungsgewalt aus als eine ,societas perfecta•." 32 Schmitz (Gesetzessystematik), S. 15, rechnet immerhin das Glaubensbekenntnis mit zum Kodex. Mir scheint auch das zu weitgehend zu sein. 33 "Personae, Res, Actiones" als die in das CorpJC aufgenommenen Gliederung des Rechtslehrbuches des spätklassischen Juristen Gaius, die von dem Kirchenrechtier Giovannni Lancelotti 1563 übernommen und erweitert wurde: Aymans I Mörsdorf, S. 44; vgl. weiter Stutz (Geist), S. 38 I 39; S. Kuttner (Systematik), S. 16. Hierfür plädierte auch schon Pillet, S. 53 I 54 (plan des lnstitutions). 34 Faßbender, S. 100 f. Es sei nur angemerkt, daß die im CIC I 1917 vorfindliehe Systematik praktisch derjenigen des Privatentwurfes von Albert Pillet entspricht (Prolegomena; Tractatus 1: De Personis; Tractatus li: De Rebus; Tractatus III (dreiteilig) De Iudiciis; De Poenis; De Delictis et de Criminibus; vgl. Laemmer, S. 174, sowie Pillet selbst, S. 70- 134, der sich doch so klar für eine Kodifizierung des "öffentlichen Kirchenrechts" samt seiner äußeren Seite stark gemacht hat (a. a. 0., Anm. 24). Auch Erler, S. 126 I 127, schreibt ganz unbeschwert: "Von seinem Vorgänger (dem CorpJC) unterscheidet er sich vor allem dadurch, daß jener im wesentlichen ,Fallrecht' darstellte, während das neue Gesetzbuch eine Kodifikation ist, und zwar die umfassendste auf dem Gebiet des ,öffentlichen Rechts'". M. Conte a Coronata bringt als "Introductio", Bd. I, 1, seines umfangreichen Erläuterungswerks zum CIC ("lnstitutiones luris Canonici") in ungeschmälerter Breite das "lus Publicum Ecclesiasticum", das in Aufbau und Inhalt auch praktisch mit dem klassischen Werk von Cavagnis identisch ist, vereinzelt allerdings auch Bezüge zum neuen CIC herstellt, wie z. B. aufS. 75 bzw. 81 (zu c. 2214 § 1) oder aufS. 114, Anm. 2 (zu c. 1557 § 1, 1°). 35 Vgl. die Übersicht bei Hilling (Allgemeine Normen), S. 4 ff.
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Stuhl gewährten Privilegien und Indulte 36• Diese Norm bezieht sich nur auf kirchenintern erworbene Vergünstigungen 37 • Aufschlußreich erscheint hingegen c. 3, der besagt, daß die vom Apostolischen Stuhl mit verschiedenen Staaten ("nationes") geschlossenen Verträge ("conventiones") ungeachtet etwaig entgegenstehender Bestimmungen des CIC ihre volle Kraft behalten 38 • Daraus lassen sich nun zwei konträre Schlußfolgerungen ziehen, die gleichzeitig die zwei gegensätzlichen Grundpositionen zum Thema "Kodex und Staat" markieren. Die ratio legis ist allerdings eindeutig: der Kodex soll die bestehenden, oft heiklen Kirche-Staat-Verhältnisse nicht unnötig belasten. Aber ist deshalb im CIC keinerlei Außenrecht? So folgerte in der Tat U. Stutz: "Das Verhältnis von Staat und Kirche ist von dem Gesetzbuch ausgeschlossen, entsprechend der streng innerkirchlichen Aufgabe, in deren Dienst es steht. Jedenfalls aber auch aus Vorsicht. Man wollte vermeiden, durch Aufrollung dieser Frage dem Werke Steine in den Weg zu legen. Vielleicht war man überdies der Meinung, es komme dabei doch vornehmlich auf den Einzelfall und die Praxis an. Demgemäß bestimmt gleich im Anfang der dritte Kanon: ... [es folgt der ins Deutsche übertragene Gesetzeswortlaut; G.] Die Berührungen des Gesetzbuches mit dem Staat und seinen Rechten sind also gleichfalls nur gelegentliche, beiläufige, zum Teil mittelbare." 39• Dieser Meinung haben sich Chr. Meurer 40 , M. Falco 41 und K. Mörsdorf42 angeschlossen. Aber: seinem Wortlaut nach gilt c. 3 nur für die bereits vor dem lnkrafttreten des CIC abgeschlossenen Verträge. Gilt er auch für eventuell noch zu schließen-
36 "Privileg und Indult sind Gunsterweise eines Hoheitsträgers mit Gesetzgebungsgewalt, die dem objektiven Recht entgegenstehen (contra ius) oder dieses ergänzen (praeter ius). Ein begrifflicher Unterschied zwischen Privileg und Indult ist nicht eindeutig zu ermitteln.": Mörsdorf (Lehrbuch I), S. 70. 37 Stutz (Geist), S. 110, Anm. I; ders. (Konkordat und Kodex), S. 694 oben. 38 In diese Bestimmung ist jedoch die immanente Schranke entgegenstehenden "ius divinum" hineinzulesen. Wo also der CIC solches wiedergibt, bleibt er auch gegenüber Staatskirchenverträgen wirksam: Hollerbach (Verträge), S. 114; vgl. neben c. 3 aber c. 1471 bzgl. vertraglich gewährter Indulte "praestandi ad ecclesiam vacantem vel ad beneficium vacans", der in seiner Zurückhaltung (,,non inde ius patronatus oritur" und "strictam interpretationem pati oportet") eine eher gegenläufige Tendenz aufweist. 39 (Geist), S. 109 I 110. Ebenso eine bei J. Calvo, S. 88, zitierte Stellungnahme von H. J. Cicognani I D. Staffa, Commentarium ad Librum primum Codicis luris Canonici, vol.l., Romae 1939, S. 45: "Per canonem tertium ius concordatarium excluditur a Codice, et dici potest quod excluditur ius publicum Ecclesiae." 40 Der CIC und das bayerische Staatskirchenrecht, S. 3 ff. 41 s. 281. 42 (Lehrbuch 1), S. 42: "Der CIC ordnet nur das innere Kirchenrecht und hat es vermieden, das Verhältnis von Kirche und Staat grundsätzlich zu regeln, jedoch nimmt er gelegentlich hierzu Stellung, teils um gewisse Freiheiten der Kirche vom Staat zu fordern, teils um bestimmte staatliche Regelungen in ihrer Wirkkraft für den kirchlichen Bereich festzulegen."
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de? 43 Sodann können die Vereinbarungen- c. 3 unbenommen- allenfalls die CIC-Normen regional, teilkirchlich, nicht prinzipiell außer Kraft setzen 44• Darüberhinaus stellt sich stets die Frage nach dem auch der Kirche unverfügbaren göttlichen Recht. Und enthält der CIC "doch nicht wieder zuviel, um nicht erkennen zu lassen, daß er dieses Verhältnis in das Gebiet seiner Regelung mit einbegriffen hat, daß seine Schöpfer eine feste, prinzipielle Stellung einnahmen . . . ?"45.
Als erster hat im Jahre 1957 Joseph Klein (1891-1976) 46 im CIC ein geschlossenes politisches Programm, nämlich das des katholischen Glaubensstaates, zu erkennen geglaubt 47 • Ihm hielt Hans Barion (1899-1967) 48 , aufbauend auf der Arbeit seines Schülers J. A. Faßbender 49 in einem langen Festschriftbeitrag 50 und einer bald darauf erschienenen lexikalischen Studie 51 die These entgegen, der CIC biete zwar "die Zusammenfassung aller grundsätzlichen Normen zum Verhältnis von Kirche und Staat" 52 , doch beschränke sich "die staatsrechtliche Tragweite des CIC ... darauf, die religiöse Selbständigkeit der Kirche, ihre Unabhängigkeit vom Staate in ihren eigenen Angelegenheiten an allen wesentlichen Punkten festzulegen." 53 • Diese Position haben sich, noch für die Rechtslage unter der Geltung des CIC/ 1917 P. Mikat 54, A. Hollerbach 55 und J. Listl 56 zu eigen gemacht 57. 43 Zu einfach Eppler, S. 64: "Daß der Codex Konkordaten, die nach seinem Inkrafttreten geschlossen werden, keinen Abbruch tut, versteht sich von selbst." 44 Mikat (Lehre/ Schriften), S. 353; List! (Kirche und Staat), S. 191. 45 F. Noisten, S. 19. 46 Urspr. kath. Priester; seit 1949 Prof. für Geschichte der Philosophie in Göttingen; 1953 Übertritt zum Protestantismus; weitere Lebensdaten bei P. Krämer (Grundlegung), s. 18. 47 Er wählte den bezeichnenden Titel "Von der Tragweite des kanonischen Rechts", in: Evangelische Theologie 17 ( 1957), S. 97- 116; Wiederabdruck samt einer Antikritik zu H. Barion in (Skandalon), S. 115 -147; nach dieser Ausgabe wird hier zitiert. 48 Kath. Priester. Zwischen 1933 und 1945 Prof. für Kirchenrecht in Braunsberg und Bonn. Über ihn W. Böckenförde (Korrekter Kanonist) und H. Flatten, Nachruf Hans Barion, in: AfkKR 142 (1973), S. 71 -79. 49 Das göttliche Recht im Codex Iuris Canonici; Diss. theol. Bonn 1949. Diesen Hinweis gibt der ,,korrekte Kanonist" Barion selbst in (Tragweite), GA, S. 292, Anm. 6. so Von der Tragweite des geltenden kanonischen Rechts; in: Festgabe für Joseph Lortz, hg. von E. lser1oh und P. Manns; Baden-Baden 1958, Bd. 1, S. 549-586. 51 "Kirche und Staat,6." in RGG 3 , Bd. 3 (1959), Sp. 1336-1339; nicht abgedruckt in der Sammlung W. Böckenfördes, GA. Eine Würdigung dieser Edition sowie eine Würdigung des "beiseite geschobenen" Barion findet sich bei G. May (Hans Barion). 52 RGG 3 , Sp. 1338. Dort gebraucht Barion auch den Terminus "Programm" und setzt ihn, gleich Hollerbach (Verträge), S. 113, in Beziehung zu konkordatären Vereinbarungen. Ursprünglich ist er auf Kleins Thesen (Skandalon), S. 131, gemünzt. Vgl. (Tragweite), GA, S. 290. s3 (Tragweite), GA, S. 293. 54 (Lehre I Schriften), S. 353. 55 (Verträge), S. 112-114; ders. (Lex Ecclesiae Fundamentalis), S. 318. 56 (Kirche und Staat), S. 190-195.
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Unstreitig ist lediglich zweierlei: der CIC entwirft keine Staatslehre und keine Staatstheorie im Sinne einer systematischen Auffassung über das Wesen des Staates und seine ideale, d. h. dem katholischen Glauben am meisten entsprechende Verfassung. Dennoch setzt er, über viele Normen zerstreut, die Realitäten "Kirche" und "Staat" zueinander in Bezug. Es stellen sich mithin zwei Grundfragen. Steht hinter diesen Bezugnahmen ein ordnender Sinn, der an der Rechtsqualität und Verbindlichkeit des Kodex teilhat? Die Frage wird bejaht von Klein, Barion und anderen, verneint von Stutz und Mörsdorf. Welches Gesicht hätte dieser "Hintersinn"? Ein aggressiv-totalitäres - so Klein - oder ein defensiv-konziliantes, wie Barion meint? Um einer Klärung dieser Fragen näherzukommen, werden im folgenden die "umfassenderen" Positionen Kleins und Barions dargestellt. Diese Darstellung fungiert sodann als Problemfolie für die parallelen Erwägungen zum CIC I 1983.
s1 Unklar bleibt die Position Sägmüllers in (Lehrbuch4 ), S. 263: "Der CJC enthält seinem Inhalt [Hervorhebung im Original; G.] nach nur das innere Kirchenrecht, die kirchlichen Disziplinargesetze. Doch wird da und dort auch Prinzipielles berührt, behandelt und festgesetzt, werden da und dort auch prinzipielle Bestimmungen gegeben über Naturrecht, Glaube, Verhältnis von Kirche und Staat [Hervorhebung vom Verf.] und wird so doch auch äußeres Kirchenrecht normiert." Die Darstellungen von v. Ernst (1918), Schönegger (1919) [dort insbes. die Seiten 461-464], Noisten (1922) und Fleiner (1932) haben die Problematik zwar aufgegriffen, aber weder systematisch noch vom Problemverständnis her durchdrungen und sind daher keiner der aufgezeigten Positionen eindeutig zuzuordnen. Gleiches gilt von der Schrift von Lutz ( 1929). Bei ihr kommt noch hinzu, daß sie keine wissenschaftliche Studie sein will, sondern eine "politische Aufklärungsschrift" (S. 3). Dementsprechend gibt er keine systematische Analyse des CIC "in seinen ,Konfliktsbestimmungen' ",sondern ein buntes Sammelsurium von kanonischen Vorschriften, denen er zumeist irgendeinen Artikel der Schweizer Bundesverfassung gegenüberstellt, gegen den die zitierte kanonische Regelung verstoßen soll. Er bekennt sich dabei zur Sohmschen These von der Unmöglichkeit eines geistlichen Kirchenrechts und zur absoluten Verpflichtungskraft des Staatsgesetzes. Der Rechtskonflikt ist damit vorentschieden. Ein Beispiel: zu c. 218 § 1 CIC I 1917 über den Jurisdiktionsprimat des Papstes führt er aufS. 54 aus: "Verstößt gegen die Ueberordnung der Staatsgewalt (Staatssouveränität), speziell Art. 49-54 und 58 Abs. 2 der Bundesverfassung: ,Alle Gewalt ist Staatsgewalt' ." Der Kodex beweist ihm damit, was er schon vorher wußte: der Katholizismus ist eine gemeingefährliche, freiheitsfeindliche Machtorganisation. Bei den "Barion-Anhängem" hingegen ist folgendes Mißverständnis zu verzeichnen: offenbar in Unkenntnis der Ursprünge der Barionsehen Thesen- alle genannten Autoren weisen nämlich lediglich den RGG-Artikel nach- bleibt für sie die Front Klein-Barion außer Betracht. Lediglich der Gegensatz Stutz-Barion wird betont: so jüngst auch wieder List! (Aussagen), S. 12 mit Anm. 7 und G. Assenmacher, S. 208, Anm. 470. Den Ausführungen von Stutz zu unserem Problem hat Barion aber offensichtlich keinerlei Bedeutung zugemessen.
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3. Die konträren Systemthesen: Glaubensstaat oder Trennungsregime a) Glaubensstaat (loseph Klein)
Kleins Thesen 58 sind nicht zu verstehen, ohne seine kirchenrechtsphilosophischen, von Barion als "antekanonistisch" apostrophierten Prämissen 59 zu kennen, die ihm das heuristisch-hermeneutische Instrumentarium zur Interpretation des CIC in die Hand geben. So ist für Klein Recht wesentlich und notwendig rationale Regulierung von Macht und kontrollierte Ausübung von Zwang nach objektivierten, für alle Betroffenen gleich geltenden Kriterien. Es hat allerdings die immanente Tendenz zur "Wucherung" und so zur Usurpation rechtsfremder Sachgebiete. Es ist eine je neu geschichtlich zu bewältigende Aufgabe, Rechtskritik zur Rechtsbegrenzung zu üben. Nach Klein gibt es "personale Bereiche, die wesensgemäß dem Recht entzogen sind und der persönlichen Entscheidung des Individuums überlassen bleiben müssen" (S. 120). Solchermaßen vorrechtlich ist auch das "Ethisch-Religiöse": "Die Konstitution des Religiösen (und des Ethischen) ist nicht vom Objektivismus des Rechts, sondern nur vom Subjektiven her zu fassen" (S. 145). "Ius und Ratio gehen immer Hand in Hand. Dieratio überwältigt den Glauben, und das ius zwingt den Willen. Beide heben die Entscheidungsmöglichkeit und Freiheit des Glaubens auf." (S. 120 I 121) 60 Der Katholizismus hat aber gerade dieses Recht zu seinem "Wesensprinzip" erkoren (S. 118 I 119). Geistesgeschichtliche Voraussetzung dieses "Einerleiss Referiert wird nur aus dem Artikel "Von der Tragweite des kanonischen Rechts" und der in (Skandalon) mitenthaltenen Replik auf Barion, zitiert als (Skandalon I Tragweite). 59 Über die Barion seinerseits allerdings nicht diskutieren zu müssen glaubt. Er meint vielmehr, Kleins Thesen schon ,,rein kanonistisch" widerlegen zu können. Wenn Klein sich hiergegen in (Skandalon I Tragweite), S. 165 I 166, vehement wehrt und Barion methodische Zwiespältigkeit vorwirft, da dessen Position selbst eine "ante- oder praeterkanonistische" Position voraussetze, wird man Klein Recht geben müssen. Ähnlich wie hier May (Hans Barion), S. 582. Im übrigen kontrastiert diese Haltung Barions merkwürdig mit einer glaubhaften Versicherung Kleins im Vorwort, S. VI, unter dem 17.12.1948 zu seiner Schrift (Normierung): "Die Bonner Katholisch-theologische Fakultät verlieh mir auf Grund der vorliegenden Abhandlung am 26. Juli 1944 den akademischen Grad eines Dr. theol. habil. Ich sage der Fakultät ... meinen aufrichtigen Dank. Ganz besonders danke ich Herrn Professor Hans Barion, der mir gerade wegen meiner Beschäftigung mit philosophischen und moraltheologischen Fragen [Hervorhebung vom Verf.] zur Habilitation im Kirchenrecht riet und den mit Rücksicht auf seine starke berufliche Inanspruchnahme Widerstrebenden wiederholt anspornte." 60 Hier hat sich Klein also die theologische Grundoption, die er in (Normierung), S. 8-44, noch als PositionSohms herausgearbeitet hatte, zu eigen gemacht. Schon ebda., S. 26, führte er aus: "Sohms These über das Verhältnis von Kirche und Kirchenrecht besteht unabhängig von seinem Rechtsbegriff. Sie ist, wenn man seine religiöse Entscheidung anerkennt, von zeitloser Gültigkeit. FürSohm ist die Abwehr des geistlichen Rechts eine notwendige Form der Abwehr der Verrechtlichung und das heißt der Vermenschlichung des Evangeliums ... ".
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Rechts", also der strukturellen Identität von politischem Recht und religiösem Recht, war die mittelalterliche Identität von Bürger und Christ (S. 119). Da dieser "Rechtsbegriff der mittelalterlichen Christenheit und seine Konsequenzen in die römisch-katholische Kirche eingeordnet sind" (S. 123), ist dem Katholizismus ein ,,Zurückgehen und Sichbeschränken auf das vorrechtlich gegebene EthischReligiöse, das unter Substanzverlust rechtlich eingefangen ist und als solches auch im geltenden kanonischen Recht letztlich noch auf dem Personalen steht, nicht möglich" (S. 122). Somit kann das kanonische Recht nur totalitär sein: "Die Grundlegung des kanonischen Rechts involviert aber einen absoluten Totalitarismus deshalb, weil das geistliche Recht die letzte menschliche Substanz oder die Existenz des Menschen als solche betrifft, seine Existenz vor Gott." (S. 123). Damit handelt die Kirche schlimmer als selbst der totalitärste Staat: "Im Staat bleibt das Recht immer nur ein schattenhafter Abklatsch des grundsätzlichen Totalitarismus der katholischen Kirche; denn diese vertritt das überhaupt letzte menschliche Anliegen, transponiert es aber formal in das Rechtliche und pervertiert es zu einer Frage der Macht." (ebda.). Und ein letztes: weil die Kirche Machtpositionen zu unwandelbaren Rechtsprinzipien überhöht, kann jegliches Nachgeben in diesen Fragen nur opportunistisch begründet ("eine Frage des kleineren Übels") 61 und kein echter Gesinnungswandel sein (S. 127 -130) 62 . Auch die Kodifikation steht unter der Opportunitätsmaxime: "Nur der Stand der rechtlich geregelten Opportunität ist positivrechtlich zu erfassen, wenn ein Prinzip feststeht und ein Gesetz mit Rücksicht auf die faktischen Verhältnisse erlassen ist." (S. 169). Deshalb muß unter Umständen auch außerhalb des CIC nach den Grundpositionen geforscht werden 63 • Auf diesem Rechtsfelsen erhebt sich dann der Anspruch des absoluten Glaubensstaates. Seine Fundamente sind zum einen die Präsentation der Kirche als "societas perfecta" in c. 100 § I, zum andem die Geltungserstreckung des kanonischen Rechts auf alle Getauften in c. 87. 61 Einen Beleg für Kleins Vermutung bietet neben den von Klein im Text angeführten Zitaten Nell-Breunings und Pius' XII. auch der Aufsatz von Schönegger, S. 465 I 466. 62 Anders die Einschätzung bei Stutz (Geist), S. 181 : "Das neue kirchliche Recht geht nicht darauf aus, der staatlichen Rechtsordnung Herrschaftsgebiete wieder abzunehmen, welche die Entwicklung des letzten halben Jahrtausends deren festen Bestande einverleibt hat, und die das staatlich-bürgerliche Recht unmöglich wieder aus seinem Bereiche entlassen kann." Soweit Stutz im neuen CIC eine Tendenz zur "Vergeistigung" des Kirchenrechts sehen will, zeiht ihn Klein (S. 124) "grandioser Naivität" und setzt in einer Fußnote hinzu: "Wer kennt schon den Katholizismus und seine abgrundtiefe Verwandlungs- und Versteckkunst! Die Zurückdrängung der kirchlichen Machtansprüche erfolgte unter dem Druck der Verhältnisse, sehr wider Willen der Kirche. Von Vergeistigung im eigentlichen Sinne könnte man mit Recht sprechen, wenn der prinzipielle Anspruch weltlicher und geistlicher Rechtsmacht freiwillig aufgegeben und nicht nur ein faktisches Nachgeben aus Opportunismus erfolgt wäre." 63 Z. B. in den Beschlüssen des Tridentinum (S. 168) oder dem Syllabus (S. 157 I 158).
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In c. 100 § 1, der der Kirche die Qualität einer juristischen Person auf Grund direkter göttlicher Anordnung und damit unabhängig von aller bestehenden menschlichen Jurisdiktionsgewalt zuschreibt, sieht Klein die "fundamentale Rechtsbestimmung" (S. 125). Der Missionsauftrag des Evangeliums wird durch diese juristische "metabasis eis allo genos" (ebda.) 64 zu einem Ingerenztitel auf alle Bereiche menschlichen Lebens. Dies findet Klein bestätigt in den prozessualen Kanones cc. 1556 und 2198 (S. 120/ 121). Die Aussage "Prima sedes a nemine iudicatur" hat nach Klein nicht bloß prozeßrechtliche Relevanz, sondern "allgemeine Bedeutung" 65 • C. 1553 über die Alleinzuständigkeit der Kirche in Gerichtsverfahren bestätigt dies für Klein. Dort heißt es in § 1, 2 °: "Ecclesia iure proprio et exclusivo cognoscit: ... De violatione legum ecclesiasticarum deque omnibus in quibus inest ratio peccati, quod attinet ad culpae definitionem et poenarum ecclesiasticarum irrogationem" 66 • C. 2198 67 untermauere diese Bestimmung. Eine weitere "Konsequenz aus der grundlegenden Formulierung über die ipso iure divino überall bestehende Rechtspersonalität der Kirche" (S. 133) finde sich im Vermögensrecht, nämlich in den cc. 1495 und 1496 68, die laut 64 Es sei hierzu nur angemerkt, daß der Vorwurf einer "Metabasis eis allo genos" pikanterweise nur wenig später, nämlich in der Festschrift für Carl Schmitt 1959, von einem Mitglied des Schmitt-Zirkels, dem sich auch Barion zugehörig fühlte, nämlich von Ernst Forsthoff, gegen die Staatsrechtslehre bzw. Verfassungsrechtsprechung der jungen Bundesrepublik erhoben wurde: sie wandle durch den Rekurs auf eine philosophisch begründete Wertelehre das juristisch-normative Verfassungsgefüge um und löse so die klaren Konturen des Rechtsstaats auf; zu dieser Diskussion s. Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatliehen Verfassung?, AöR 85 (1960), S. 241-270 (262). 65 "Für den Jurisdiktionsinhaber des geistlichen Amtes, letztlich also für den Papst, besteht die generelle Möglichkeit, in das weltliche Recht überall da einzugreifen, wo er eine Verletzung der Zuständigkeit der Kirche sowie eine Übertretung ihrer Gesetze und Gebote feststellt. Recht verstanden heißt das, diese Ingerenz geht noch weiter und kann jederzeit und überall ,ratione peccati' Platz greifen." (S. 120) 66 Unverblümt- und damit die Argumentation Kleins stützend der kirchentreue v. Ernst: "Damit ist der Kirche die sogenannte "indirekte Gewalt" über das Zeitliche zugesprochen. Die Kirche vertritt in ihrem Rechtsbuche des 20. Jahrhunderts noch immer den gleichen Grundsatz, wie schon Bonifaz VIII. in der richtig interpretierten Bulle "Unam Sanctam" (I. Extrav.comm. 1.8) und Innozenz III. in seinen Dekretalen "Novit" und "Per venerabilem" (l3.X.II.1-l3.X.IV.l7) ihn vertraten, und ebenso Pius IX. im Syllabus (n. 24, 42) und Pius X. in seiner Encyclica wider den Modemismus (Pascendi dominici gregis) vom 21.9.1912." (S. 71). 67 Die Norm besagt: "Eine Straftat, die lediglich ein kirchliches Gesetz verletzt, wird, ihrer Natur gemäß, nur durch die kirchliche Autorität geahndet, zuweilen, wo dieselbe Autorität es für nötig und tunlieh erachtet, auch von dem um Hilfe ersuchten weltlichen Arm ("brachium saeculare"); eine Straftat, die nur ein staatliches Gesetz verletzt, straft aus eigenem Recht, unbeschadet der Vorschrift des c. 120, die zivile Autorität; allerdings ist es möglich, daß die Kirche sündenhalber ("ratione peccati") zuständig ist." In Kleins Lesart: "Die Kirche geht da nicht von ihren Prinzipien ab, wo sie faktisch ihren Einfluß dahin durchsetzen kann, die Gesetze des ius canonicum mit Hilfe der Gesetze des Staates gegenüber allen Getauften in Anwendung zu bringen und die Beobachtung des von ihr vertretenen und interpretierten Naturrechts auch von allen nichtgetauften Bürgern zu erzwingen:" (S. 130). Ausf. zu c. 2198 CIC I 1917 unten Zweites Kapitel, Abschnitt II, 2.c).
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Klein nicht nur ein unabhängiges Beitragsrecht statuieren, sondern auch den Anspruch der Kirche auf Freiheit von staatlicher Besteuerung enthalten. So gliedern sich diese Normen ein in den "größeren Zusammenhang der von der Kirche bis heute beanspruchten Immunität" (S. 133), wie er sich nicht zuletzt in den Privilegia Fori et Immunitatis der cc. 120, 121 niedergeschlagen hat 69 • Zweite Säule des Rechtsabsolutismus der Kirche gegenüber der Welt und dem Staat bilde c. 87 (S. 136 ff.)1°: "Damit ist der Anspruch des kanonischen Rechts begründet, alle Getauften ausnahmslos zu verpflichten: jeder Getaufte untersteht dem Papst." Das werde durch c. 12, der besagt, ein kanonisches Gesetz gelte auch gegenüber nicht katholisch Getauften, bekräftigt 71 • Die daraus folgenden freiheitsberaubenden Konsequenzen exemplifiziert Klein an zwei Sachgebieten: dem Ehe- und dem Schulrecht Zwar bestehe für Akatholiken kein Zwang zur kanonischen Eheschließungsform, doch "abgesehen von dem Hindernis der Religionsverschiedenheit sind die getauften Nichtkatholiken von den kirchlichen Ehehindernissen nicht ausgenommen. Vor allem aber: wer je katholisch war, d. h. in diesem Falle, wer in der katholischen Kirche getauft wurde oder zu ihr konvertiert ist, unterliegt für immer der katholischen Eheschließungsform." (S. 137) Das nach Klein Fatale daran ist: "Nur die Einhaltung dieser Form läßt bei den zu ihr Verpflichteten religiös-ethische Bindungen hinsichtlich der Ehe zustande kommen." (S. 138) Sein Paradebeispiel für den angeblichen kanonischen Glaubenszwang, das er deswegen auch besonders ausführlich abhandelt, ist jedoch für Klein das Schul68 C. 1495 § 1: "Die Katholische Kirche und der Heilige Stuhl haben das angeborene Recht ("ius nativum"), frei und unabhängig von staatlicher Gewalt, zeitliche Güter zu den von ihnen verfolgten besonderen Zwecken zu erwerben, zu besitzen und zu verwalten." C. 1496: "Die Kirche hat auch das Recht, unabhängig von staatlicher Gewalt, von den Gläubigen dasjenige einzufordern, was zum Gottesdienst, zum standesgemäßen Unterhalt der Kleriker und übrigen Bediensteten und zu allen weiteren, ihr eigenen Zwecken benötigt wird." 69 C. 120 § 1: "Kleriker müssen in Zivil- so gut wie in Strafsachen vor dem kirchlichen Richter verklagt werden, wenn nicht partikularrechtlich anderes vorgesehen ist." § 2: "Kardinäle, Legaten des Heiligen Stuhls, Bischöfe, auch Titularbischöfe ... dürfen ohne Erlaubnis des Heiligen Stuhls nicht vor einem Laienrichter erscheinen; alle übrigen, die sich eines privilegium fori [Gerichtsstandsprivileg] erfreuen, benötigen die Erlaubnis ihres Ortsordinarius; diese Erlaubnis darf der Ordinarius jedoch, vor allem wenn ein Laie Kläger ist, nur aus einem gerechten und schwerwiegenden Grund verweigern, dann namentlich, wenn er sich vergeblich bemüht hat, den Parteienstreit zu schlichten." C. 121: "Alle Kleriker sind vom Militärdienst sowie dem klerikalen Status fremden Obliegenheiten und Bürgerpflichten befreit." Zu diesen Standesprivilegien der Kleriker auch unten Zweites Kapitel, Abschnitt Il., 2 a) und b). 10 C. 87: "Durch die Taufe wird der Mensch in der Kirche Christi zur Person mit allen Christenrechten und Pflichten, es sei denn, daß, was die Rechte betrifft, eine Sperre, die das Band der kirchlichen Gemeinschaft hindert, oder eine Kirchenstrafe besteht." 71 Ebenso, wenngleich überspitzt, formuliert Lutz, S. 14: "Alle Getauften sind auch nach dem Codex Katholiken."
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recht des Kodex (S. 131-133 und in der Replik auf den S. 153 -158). Den Auftakt macht c. 1322 § 2, durch den die Kirche für sich "das gesamte Erziehungs- und Bildungswesen für alle Getauften" reklamiert (S. 131) und damit letztlich das ihr im Mittelalter zugewachsene historische Bildungsmonopol zu perpetuieren versucht (S. 132 und 157). Konkretisiert werde dieser Anspruch dann in c. 1372 § 172 • Das dort auftauchende "fideles omnes" versteht Klein extensiv (S. 155). Als Fazit hält Klein fest: "Die rechtliche Grundlegung der Kirche und die in ihr gründende kirchliche Macht sind also nicht eine innerkirchliche Angelegenheit, sondern sie greifen in ihren Konsequenzen weit über den katholischen Bereich hinaus und berühren unmittelbar das Recht des Staates." (S. 133)13• Der "totale Zugriff auf die Welt" (S. 120) - das ist nach Klein die Tragweite des kanonischen Rechts.
b) Trennungsregime (Hans Barion) J. A. Faßbenders Untersuchung "Das göttliche Recht im Codex Iuris Canonici" (1949) hatte sich die Frage vorgenommen, "wie die beiden Bestandteile des Kirchenrechts, göttliches und menschliches Recht, im CIC unterschieden sind und welche Rolle die als solche charakterisierten Sätze göttlichen Rechts im Rechtsgefüge des CIC spielen" (S. 10). Als Ergebnis verzeichnet er, daß "der kirchliche Gesetzgeber bestrebt war, einzelnen besonders wichtigen Haupttiteln des neuen kirchlichen Gesetzbuches einen Hauptrechtsgrundsatz (Fundamentalkanon) göttlich-rechtlicher Qualität voranzustellen, der die meisten weiteren Rechtssätze in sich birgt und trägt. Die als göttliches Kirchenrecht bezeichneten n "Alle Gläubigen sind von klein auf so zu unterrichten, daß ihnen nicht nur nichts vermittelt wird, was katholischer Religion und der Ehrenhaftigkeit der Sitten widerspricht, sondern daß die religiöse und moralische Unterweisung einen vorzüglichen Platz einnimmt." 73 Klein hält es für sehr gefährlich, die Ansprüche der Kirche zu belächeln: "Es wäre aber vollkommen falsch, wenn man annehmen wollte, daß derartige Bestimmungen unter den heutigen parlamentarischen und demokratischen Verhältnissen utopisch und eben deshalb harmlos und ungefährlich wären. Richtiger schon wäre es, an Hand nachweisbarer, aber unberechtigter, kanonisch jedoch erwünschter Effekte die Begrenztheit demokratischer Prinzipien aufzuweisen. In Wirklichkeit sind die kanonischen Prinzipien und Bestimmungen aber auch unabhängig von direkt praktischen Konsequenzen von sehr großer Tragweite. So gibt es eine Menge staatlicher Vergehen, die für das katholische Gewissen keinen Deliktscharakter haben. Nach kirchlicher Auffassung besteht überall da ungültiges und nicht verpflichtendes Recht, wo staatliche Gesetze den kirchlichen Rechtsbestimmungen nicht entsprechen. Sie binden den Katholiken nicht im Gewissen, und er wird sich ihnen nur um der Vermeidung größerer Übel willen fügen." (S. 134) Der in diesen Worten kundgetane Vorwurf, Katholiken müßten schlechte Demokraten, ja überhaupt schlechte Staatsbürger sein, ist konsequent. Wer wie Klein nur den Staat als Rechtsgemeinschaft anerkennt (S. 115), muß seinen Gesetzen auch absoluten Verpflichtungsgehalt beimessen. Dem muß sich der Katholik verweigern. Kleins Ansicht nach hat der absolute Verpflichtungsanspruch staatlichen Rechts aber keine Auswirkungen für den Christgläubigen, da für ihn das Religiöse als eine vom Politischen unberührte Sphäre des Privat-Individuellen, Höchstpersönlichen gedacht wird.
II. Das Verhältnis von Kirche und Staat im CIC I 1917
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Kanones bilden also sozusagen das tragende Gerüst des ganzen CIC." (S. 153). Angesichts zeitgeschichtlicher Bedrohungen des kirchlichen Rechts durch öffentliche Meinung und Staat "erachtete es der kirchliche Gesetzgeber als seine besondere Pflicht, im CIC alle Grundprinzipien der kirchlichen Rechtsordnung besonders herauszuheben und mit der Note "divini iuris" auszuzeichnen." (S. 171). So ist es nach Faßbender auch zu erklären, daß "das Verhältnis von Kirche und Staat nahezu vollständig in den formell als göttliches Kirchenrecht bezeichneten Kanones geregelt i~t" (S. 120). Der Charakter der katholischen Kirche als Rechtskirche wird in c. 100 § 1 als göttlichen Rechts qualifiziert. "Die Charakterisierung der Kirche als einer persona moralis iuris divini ist gleichbedeutend mit der Definition der rechtlichen Struktur der Kirche als einer sog. societas perfecta der übernatürlichen Ordnung" (S. 97). "In c. 100 § 1 ist also zugleich auch das Verhältnis von Kirche und Staat im Grunde festgelegt." (S. 99). Unter systematischem Aspekt bedeutet das: "Gemäß der in dem Fundamentalkanon 100 § 1 getroffenen Feststellung bildet die kath. Kirche hinsichtlich ihrer rechtlichen Qualität und Struktur eine societas perfecta iuris divini positivi, welche ihrem Wesen gemäß in allseitiger und vollkommener Autonomie und Souveränität besteht ... Autonomie und Souveränität ... aber äußern sich praktisch in vielfaltiger Hinsicht und sind näherhin bestimmt in den dem Fundamentalkanon 100 § 1 zugehörigen abgeleiteten Kanones: 218 § 2, 265, 1038, 1322, 1352, 1495 § 1, 1496, 1499 § 1, 1553 § 1 (mit 120, 614, 680), 1960, 2214 § 1. Die Freiheit und Unabhängigkeit der katholischen Kirche, ihre Autonomie und Souveränität in den hierin erläuterten Fällen wird ausdrücklich hervorgehoben mit den Wendungen: ius proprium et exclusivum, ius privativum, independens a qualibet humana auctoritate (civili potestate), ius nativum" (S. 157 I 158 sowie 163) 74 • Darüberhinaus ergibt sich laut Faßbender aus den formellen Bezugnahmen noch folgendes: (a) aus cc. 100, 218: ein System der Exemtionen und Immunitäten - c. 1556, c. 1160, c. 1179, das kirchliche Asylrecht (mit c. 2325), c. 14175 ; (b) aus c. 1322 die cc. 1372 § 1 (Glaubensgerechter Unterricht), 1373 (Pflichtfach Religionsunterricht), 1375 (Recht der Kirchen zur Schul- und Hochschulgründung), 1381 (Kirchliche Aufsicht über den Religionsunterricht) (S. 120 I 121). 74 Als Würdigung hält Faßbender fest: "Wenn der kirchliche Gesetzgeber im CIC auch kein System des göttlichen Rechts bieten wollte, so schließen sich doch die zufälligen Bezugnahmen darauf zu einem ·wohlgegliederten Ganzen zusammen, das seinen inneren Zusammenhang der Anlehnung an die von Pius IX. und Leo XIII. besonders betonten rechtlichen und theologischen Grundsätze verdankt. Insofern läßt sich die innere Systematik dieser formellen Bezugnahmen auf das göttliche Recht doch auf zeitgeschichtliche Momente zurückführen: es handelt sich um ein ausgezeichnetes Beispiel der Parallelität zwischen der kirchlichen Lage und der Akzentuierung der kirchlichen Lehre. Insofern läßt sich nicht verkennen, daß gerade in diesen formellen Bezugnahmen ein polemisches Moment erster Ordnung verborgen liegt." (S. 171 I 172) 75 Vgl. hierzu Syllabus, These 32, die in den CIC-Fontes nur bei C. 121 erwähnt wird; Assenmacher, S. 166 f.
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Über die Frage nach der formellen Einarbeitung göttlichen Rechts in den CIC gelangt Faßbender somit zum Aufweis einer göttlich-rechtlichen Struktur des Verhältnisses von Kirche und Staat, die sich im CIC widerspiegelt. Diesen Ansatz hat Barion aufgegriffen und in Erwiderung auf Klein zu den oben genannten Thesen verdichtet. Zunächst aber macht Barion drei methodische Anmerkungen: Zum ersten erscheint ihm eine systematische Methode (wie sie Faßbender durchexerziert) adäquater zu sein als die, von ihm so genannte, "Quodlibet-Methode" Kleins 76 . Darum glaubt Barion auch, auf Kleins "antekanonistischen Protest" nicht eingehen zu müssen 77 • Zweiter methodischer Vorwurf an Klein ist, das Kirchenrecht (auch das IPE) mit der katholischen Staatslehre verwechselt zu haben und sich somit - selbst die inhaltliche Richtigkeit der Aussagen unterstellt- "in der Beweisgrundlage vergriffen zu haben." 78. Klein lese die katholische Staatslehre in den CIC hinein 79 . Und zum dritten müssen nach Barion die von Klein außenrechtlich interpretierten Kanones c. 1556 und c. 1372 innenrechtlich gedeutet werden8°. Auf dieser methodischen Grundlage bekämen aber die von Klein herangezogenen Kanones einen anderen Sinn: "Wurzelkanon" (RGG3, Sp. 1336), also ein "Kanon des CIC, der sich nicht mehr auf einen anderen göttlich-rechtlichen Kanon des CIC zurückführen läßt" 81 sei in der Tat c. 100 § 1. Ihm zugeordnet seien weitere "Fundamentalkanones", vorzüglich im Lehrrecht, Vermögensrecht, Prozeß- und Strafrecht: cc. 1322 § 2, 1352 (Freie Klerikerausbildung), 1375, 1495 § 1, 1499 § 1, 1496, 1553 § 1, 1960, 2214 § 1, 2198. "Sie vindizieren im einzelnen kirchliche Rechte und Aufgaben gegenüber jeglichem staatlichen Eingriff." "Das von den zitierten Fundamentalkanones des CIC proklamierte Verhältnis von Kirche und Staat hat das Ziel, die religiöse Selbständigkeit der Kirche, 76 "Die Quodlibet-Methode Kleins kann also im Rahmen der positiv-rechtlichen Erörterungen seiner CIC-Argumente nicht akzeptiert werden. Vielmehr müssen die Kanones wieder in den systematischen Mutterboden eingepflanzt werden, aus dem er sie, teilweise, mit rücksichtsloser Hand herausgelöst hat." (Tragweite), GA, S. 289 sowie 292. 77 (Tragweite), GA, S. 288. 78 (Tragweite), GA, S. 299-301 sowie 321. 79 Das versucht Barion ohne den polemischen Kontext auch in (Ordnung und Ortung), GA, S. 204, zu verdeutlichen: "Daß die teilkirchliche Ortung des c. 329 § 1 nach der Anschauung der Kirche von der staatsrechtlichen unabhängig ist, läßt sich am einfachsten aus der Art und Weise ableiten, mit der der CIC seinerseits die politische Gliederung der Welt als nicht existent behandelt . .. Wo er auf Einzelstaaten als Partner der Kirche . .. Bezug nimmt, geschieht dies so, daß eine unmittelbare Erwähnung politisch-staatlicher Völkerrechtssubjekte umgangen wird." (Zur Kritik dieser These unten Zweites Kapitel, Abschnitt I., 1. a). Ähnlich auch Böckenhoff I Koeniger, S. 182 I 183: "So begreift man auch, we!Ul das neue kirchliche Rechtsbuch überall da, wo es von dem Staat und den Regierungen zu handeln hat, nie eine bestimmte Staats- und Regierungsform nennt, sondern immer nur in allgemein gültiger Redeweise von der bürgerlichen Gewalt, von der weltlichen Gewalt, von der Iaikaien Regierung oder ähnlich spricht." 80 (Tragweite), GA, S. 2891290 und S. 2921293. 81 Ebda., S. 292.
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ihre Unabhängigkeit vom Staat bei ihren eigenen Angelegenheiten in allen wesentlichen Punkten festzulegen. Dabei setzt der CIC, wie besonders die Schulkanones deutlich machen, als Normal-Staat einen weltanschaulich und verfassungsmäßig pluralistischen Staat voraus, ... daß das Normalbild des CIC von ihrem gegenseitigen Verhältnis das der staatlich anerkannten oder das der, vertragsgesicherten Trennungs-Kirche' (U. Stutz) ist." 82. Eine weitere, hier nicht bis ins Einzelne darzulegende Kontroverse betrifft die Frage, ob gegenüber Akatholiken die kanonische Disziplin gilt und nötigenfalls sogar die Zwangsmittel des kanonischen Rechts anwendbar seien. Klein bejahte diese Frage unter Hinweis auf die objektivierten Norrnvoraussetzungen, die sich das kanonische Rechtper se angegeignet habe, indem es die Kirche als Rechtskirche präsentiere 83 . Barion weist das zurück und hält dagegen, auch das kanonische Recht greife mit seinen Sanktionen erst dann ein, wenn der objektiv eines Vergehens Schuldige auch eine subjektive Schuld in seinem Tun erkenne. Ein Glaubenszwang gegen Häretiker sei ausgeschlossen, da es sich hierbei um "Überzeugungstäter"84 handele 85 . Klein hält diese Auffassung zwar für löblich, ja "einen Positionswechsel, der eine Revolution des Katholizismus impliziert" 86 ganz im Sinn seiner Konzeption einer "Kirche der freien Gefolgschaft" 87 , aber doch so nicht im CIC auszumachen 88 . Daneben bleibt aber - quasi als "Stachel im Fleisch" - in seiner klaren Normaussage die "Einspannung" des weltlichen Arms für den Vollzug kirchlicher Sanktionen. Ihn kann auch Barion nicht wegdiskutieren. Er spielt jedoch die Bedeutung dieses Kanons herunter, da der"weltliche Arm" bei geistlichen Strafen ohnehin nicht gelte (diese wirkten "ex opere operato") und er bei zeitlichen Strafen (c. 2214 § 1 ! 89) "eine weisungsgebundene Ergänzung ihres Rechts und nicht etwa ein autonomer Bereich protegierender staatlicher Mitwirkung" sei 90 • 82 Zitate jeweils aus RGG3, Sp. 1337. 83 (SkandaloniTragweite), S. 137-145. 84 (Tragweite), GA, S. 317. Hier bezieht sich Barion m. E. auf eine bekannte, namentlich durch G. Radbruch angestoßene strafrechtspolitische Diskussion aus den Jahren der Weimarer Republik, vgl. dazu im Rückblick E. Heinitz, Der Überzeugungstäter im Strafrecht, in: ZStW 85 (1966), S. 615-637 sowie im Anschluß daran P. Noll, Der Überzeugungstäter im Strafrecht. Zugleich eine Auseinandersetzung mit Gustav Radbruchs rechtsphilosophischem Relativismus, ebda., S. 638-662. 85 (Tragweite), GA, S. 301-319. 86 (Skandalon I Tragweite), S. 170 und 179. 87 Zu dieser grundsätzlichen ekklesiologischen Position vgl. P. Krämer (Grundlegung), s. 32-46. 88 (Skandalon I Tragweite), S. 170-180; Barion eliminiere das Delikt der Häresie und setze an seine Stelle ein Delikt Heuchelei mit Namen Häresie (S. 170). 89 "Es ist angeborenes und ureigenes Recht der Kirche, ihr unterworfene Straftäter vonjeder menschlichen Macht unabhängig sowohl mit geistlichen als auch mit zeitlichen Strafen zu belegen." ("coercendi poenis turn spiritualibus turn etiam temporalibus") 90 (Tragweite), GA, S. 313. Dazu List! (Kirche und Staat), S. 194 und Mikat (Lehre I Schriften), S. 356. 5 Göbel
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Die dargelegte Kontroverse zeigt neben hohem argumentativem Niveau doch auch ein gerüttelt Maß an Aneinandervorbeireden, was andeutet, daß es sich hier um Grundfragen handelt, um die gerungen wird. Immerhin ist nunmehr nach diesen gegensätzlichen Positionsbestimmungen doch das ihnen Gemeinsame überzeugend dargetan: mit c. 100 § 1 wird der katholischen Kirche, auch wenn der Begriff selbst nicht fällt, die "societas perfecta"-Lehre ins Stammbuch geschrieben 91 • Einige ihrer wichtigsten Defensivpositionen finden sich denn auch im CIC (Eigenberechtigte Gewalt, Organisationsgewalt, Vermögensfähigkeit, Strafanspruch), meist sprachlich markiert mit Wendungen wie "ius proprium et exclusivum" oder "independens a qualibet auctoritate civile". Dies muß, um die oben gestellte erste Ausgangsfrage zu beantworten, als Widerlegung der Stutzsehen These gewertet werden, daß das Verhältnis der Kirche "ad extra" vom CIC ausgeschlossen worden sei und nur beiläufige Berührungen stattgefunden hätten. Vielmehr hat in den genannten Bestimmungen ein systematischer, normativer Wille Ausdruck gefunden, nämlich Freiheitspositionen gegenüber dem Staate zu bestimmen. Daß ein so hellsichtiger Gelehrter wie Stutz in einem ihm offenbar so wichtigen Problembereich von einer irrigen Grundthese ausging, muß auf den ersten Blick verwundern. Mit P. Landau dürfen wir jedoch annehmen, daß gerade seine Ausführungen zu "Codex und Staat" dazu beitragen sollten, das durch den Kulturkampf noch immer aufgeheizte kirchenpolitische Klima im Deutschen Reich zu entspannen 92 • 91 Ebenso Wemz/Vidal, Bd. II, S. 31; M. Conte a Coronata 1/2, S. 163-165; G. Michiels, S. 8- 11; Faßbender a. a. 0 .; K1einermeilert, S. 170 ff.; Noisten, S. 41 und 49; Mikat (Lehre I Schriften), S. 353 mit Anm. 79; Listl (Kirche und Staat), S. 195. Auch die Studie von Fogliasso (Il Codice) bemühte sich, den Gehalt des CIC an ,.Ius Publicum" darzutun, nachdem sie die Synonymität der Begriffe IPE und Ius Canonicum Publicum expliziert hatte. Im Schema zu den Büchern I und II des CIC aus dem Jahre 1912 sollte c. 1 noch folgendermaßen lauten: "Christus Dominus, Unigenitus Dei Filius, verus Deus et verus homo, Redemptor generis humani, catholicam instituens Ecclesiam ad supematuralern hominum sanctificationem in hac vita et eorundem aetemam beatitudinem in vita futura, ei contulit, independenter a quacumque humana auctoritate, omnem potestatem ad suum finem consequendum necessariam." zitiert nach Schmitz (Gesetzessystematik), S. 10, Anm. 3. In den CIC-Fontes erscheint auch die ,.berühmte" propositio 19 des Syllabus von 1864 (DS 2919): ,.Ecclesia non est vera perfectaque societas plane libera, nec pollet suis propriis et constantibus iuribus sibi a divino suo fundatore collatis, sed civilis potestatis est definire, quae sint Ecclesiae iura ac limites, intra quos eadem iura exercere queat". Lutz, S. 12, bringt c. 100 § 1 darüberhinaus noch mit der bekannten Aussage des Tridentinum Sess. VI. ,.Canones de iustificatione", can. 21, von Christus als Gesetzgeber in Zusammenhang. Auch das ist zutreffend. Auch nach Erlaß des CIC bleibt die Kategorie der "societas perfecta" die unbestrittene ekklesiologische und damit auch kanonistische Primärkategorie. In keinem kanonistischen Text bis hinein in die 30er Jahre habe ich Zweifel an ihr ausmachen können. Eine Umorientierung hin zu einem "sakramentalen" Kirchenbild in der Kanonistik setzt erst ein unter dem Eindruck der Enzyklika "Mystici Corporis" Pius XII. aus dem Jahre 1943, DS 3800-3822, der "Volk-Gottes"-Theologie sowie der neu erwachenden Kirchlichkeit der liturgischen Bewegung, der Katholischen Aktion und Jugendbewegung. Vordenker waren Kanonisten wie A. Hagen, V. Del Giudice, K. Mörsdorfund W. Bertrams: Timpe, S. 19 - 26 sowie S. 120 ff.
III. Der Weg zu einem neuen Codex
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Daneben enthielt der CIC aber auch Titel positiver Ingerenz (cc. 87, 12 in Verbindung mit cc. 2214 § 1, 2198 sowie cc. 120, 121 und 1179) 93 • Zusammengenommen mit den erwähnten Freiheitspositionen ergibt sich sonach ein inhaltlich diffuses, ambivalentes Bild 94, so daß sich jede der referierten Systemthesen auf Anhaltspunkte im CIC zu stützen vermag. Dieses Dilemma zu lösen scheint kaum möglich, kann hier aber auch dahinstehen 95 • Denn der CIC I 1917 ist mittlerweile außer Kraft getreten. Die Frage, die sich jetzt stellt, lautet vielmehr: enthält der neue CIC noch Elemente "hierokratischer" Provenienz?
111. Der Weg zu einem neuen Codex Das Regelwerk des CIC I 1917 blieb nur rund 40 Jahre unangefochten, obwohl es von seinen Verfassern gewiß auf längere Dauer hin konzipiert worden war. Aber schon als Papst Johannes XXIII. am 25. Januar 1959 ankündigte, ein Ökumenisches Konzil einzuberufen, das sich der Aufgabe des "aggiomamento", der Verheutigung kirchlicher Existenz, stellen sollte, stufte er die Revision des CIC als Krönung des konziliaren Aufbruchs ein 1• Der neue CIC des Jahres 1983 92 Landau, S. 11-15. S. 13: "Das Buch von Stutz hat wesentlich dazu beigetragen, eine vom Kulturkampf erzeugte Atmosphäre des Mißtrauens zwischen Staat und Kirche zu beseitigen." Und auf S. 15 würdigt Landau "den Kirchenpolitiker Stutz als einen ausgesprochen irenischen Charakter". Daß diese Haltung keineswegs selbstverständlich war, beweist etwa die Schrift von Lutz aus dem Jahre 1929. Bestätigend auch Carlen (Kirche und Staat), S. 585. 93 Spinelli I Dalla Torre, S. 90, bringen diesen Befund auf die einfache, aber wohl zutreffende Formel, der CIC /1917 habe (wenngleich nicht offen) die Lehre der kirchlichen "potestas indirecta in temporalibus" übernommen. 94 Diesen Eindruck teilt Musselli, S. 23/24. 95 Außer Betracht bleibt an diese Stelle auch, was Stutz (Geist), S. 175 ff., "Bürgerlichrechtliche Einschläge" nennt. Es handelt sich darum, daß der CIC in seine innerkirchliche Regelung Konstruktionen und Rechtsgedanken des säkularen Bereichs hineinnimmt. Stutz unterscheidet drei Arten: (a) naturrechtliche Übernahmen (S. 181-188) (vgl. hierzu auch A. Landolt, S. 19 ff. und S. 75 ff.; Di Robilant, S. 139-152 (bzgl. der "allg. Erwähnungen"), S. 153-177 (im Regelungskontext "Ehe") sowie Hollerbach, Art. ,,Naturrecht. IV, 3.", Ste, Bd. III.(1987), Sp. 1312-1315); (b) römisch-rechtliche Übernahmen (S. 180-228); seiner Meinung nach v. a. die Konstruktion der "persona moralis", also der Rechts- und Handlungsfähigkeit; (c) Positiv-staatlich-bürgerliche Übernahmen (S. 228-234), unter die er die einzelnen Verweise des CIC auf das staatliche Zivilrecht, also z. B. die "Leges Canonizatae" rechnet (hier in einem weiten Sinn verstanden; enger, ersichtlich im Anschluß an Dei Giudice, S. 12/13 und Eppler, S. 48, Anm. 143 bzw. S. 53, Anm. 160, die unter dem Begriff nur solche in Bezug genommene staatliche Normen fassen, die "eigentlich" dem Kirchenrecht zuwiderlaufen - und damit ungültig wären. Kritisch dazu schon P. Ciprotti (Teoria della Canonizzazione), S. 28-35). Zu diesem ganzen Problem ausf. unten im Zweiten Kapitel, Abschnitt IV. 1 Ansprache "Questa festiva ricorrenza"; AAS 51 (1959), S. 63-69 (68); im Hinblick auf diese von ihm ins Auge gefaßte Ankündigung verweigerte Papst Johannes XXIII. bereits am 12. 12. 1958 die Promulgation des ostkirchlichen Sakramentenrechts: Fürst (Kirchenrechtskodex), S. 137. Die erste kanonistische Reaktion auf die Ankündigung im deutschsprachigen Raum stellt das Gutachten K. Mörsdorfs, Erwägungen zur Anpassung des Codex luris Canonici
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I. Kap.: "Societas Perfecta" und "Populus Dei"
will deshalb von seinem Gehalt her bewußt Frucht des Zweiten Vatikanischen Konzils sein 2 • Auch die Auslegung und Anwendung seiner Normen soll sich an den Aussagen und dem Geist des 2. Vaticanum orientieren 3• Deshalb ist es unerläßlich, der kanonistischen Detaildarstellung einen Aufriß der konziliaren Lehre in toto, wenn auch unter besonderer Berücksichtigung seiner "lnter-Potestates"-Aussagen, voranzustellen (Unterabschnitt III., 1.) 4 • Neben dem Anstoß zu einer Reform des Kodex, deren Rahmendaten zur besseren Orientierung in einem eigenen Unterabschnitt (III., 2.) behandelt werden, kam durch die konziliaren Beratungen auch die Idee einer Lex Ecclesiae Fundamentalis auf, einer Art Grundordnung der Kirche, die funktionell staatlichen Verfassungen verwandt schien. In den Entwürfen dazu wurde explizit zum Verhältnis von Kirche und Staat Stellung bezogen. Deshalb wird im Unterabschnitt III., 3. darüber ausführlich referiert werden, zumal von dort aus direkte Linien zur Normierung im neuen CIC I 1983 laufen.
1. Der konziliare Impuls a) Das Geheimnis Kirche Auf die Frage, was denn nun das Eigentliche und Besondere dieses Konzils gewesen sei, was seinen kirchengeschichtlichen Kairos ausgemacht habe, wird wohl zu antworten sein: die erstmals in der Geschichte vertiefte Besinnung der katholischen Kirche auf ihr eigenes Wesen. Waren die Konzilien der frühen Kirche christologische, die des Mittelalters und auch das Tridentinum kontroverstheologische (ohne spezifischen dogmatischen Schwerpunkt), wird man das Vaticanum II in Fortführung dessen, was im Vaticanum I bruchstückhaft begonnen wurde, ein ekklesiologisches Konzil nennen dürfen 5• Diese Bewertung wird (datiert vom 17. 3. 1960) dar, erstmals veröffentlicht in ders., (Schriften), S. 777-822. Leider ist eine Würdigung des m. E. als höchst bedeutsam zu veranschlagenden Wirkens von Mörsdorf im Zuge der CIC-Reform in der Monographie A. Cattaneos über Mörsdorf (1986) nicht enthalten. 2 So ausdrücklich und statt aller auch Pp. Johannes Paul II. in der Apost. Konst. "Sacrae disciplinae Ieges": "Quare Codex non modo ob ea quae continet, sed etiam iam in suo ortu prae se fert afflatum huius Concilii", AAS 75 (1983) Pars II, Separatfaszikel, S. IX.
3 P. Felici, S. 121 ; Bischofssondersynode 1985, HerdKorr 40 (1986), S. 46; List! (Aussagen), S. 15. Zurückhaltend gegenüber einem allgemeinen Auslegungstopos der ,,konzilskonformen Auslegung" allerdings MünstKomm I Socha, Komm. zu c. 17,
Anm. 13.
4 Eine erste umfassende Rezeption des Konzils durch die Kanonistik bietet: "La Chiesa dopo il Concilio"- Atti del Congresso Intemazionale di diritto canonico, Roma, 14-19 gennaio 1970, 2 vol., hg. von der Facolta di Giurisprudenza der Universita di Roma, Milano 1972; zum Staat-Kirche-Verhältnis darin insbes. die Beiträge von L. Spinelli, G. Saraceni, P. A. D' Avack, J. Maldonado, A. De La Hera und G. Olivero, vol. 1., S. 289-453.
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bestätigt durch die Bischofssondersynode, die vom 24.11. bis zum 8.12.1985 in Rom 6 zum Thema "Feier, Prüfung und Förderung des Zweiten Vatikanischen Konzils" 7 stattfand. Dementsprechend darf man mit H. de Lubac die Dogmatische Konstitution über die Kirche, "Lumen Gentium" (LG), als das "Meisterstück" des Konzils bezeichnen 8 , als sein Zentrum, von dem aus die anderen Konzilsdekrete und Erklärungen erhellt werden 9 • Ziel der Konstitution war es zum einen, die Lehre über die Kirche "ex professo" darzulegen, zum zweiten, die Lehre des I. Vatikanischen Konzils über die Kirche 10 zu vervollständigen 11 • Dabei hat sie, wie auch alle übrigen Konzilsdokumente, keine abweichenden Auffassungen expressis verbis verurteilt und so auch keine Lehrdefinitionen-ex negativo- geliefert 12• Vielmehr versuchte LG, ihren Gegenstand mit der Methode sich ergänzender Bildbegriffe annäherungsweise zu erfassen 13 • Schon daraus ist ersichtlich, daß die Kirche in ihrer konziliaren Selbstreflexion nicht umhin kann, sich selbst als Glaubensgeheimnis anzuerkennen 14 • Folgerichtig ist auch das erste Kapitel von LG mit "De Ecclesiae Mysterio" überschrieben und stellt uns die Kirche als universales Heilssakrament, also sichtbar-enigmatisches Zeichen der göttlichen Heilsgnade, vor Augen (Art. I) 15 • Unter den zahlreichen deutenden und selbst wieder zu deutenden Bildbegriffen nimmt der des s Barauna I Grillmeier, S. 140 und 142; Neumann (Kirchliche Gewalt), S. I und 3; H. Jedin (Vaticanum und Tridentinum), S. 13 I 14. 6 Deutsch gut greifbar in HerdKorr 40 (1986), S. 34-48; die Dokumentation gliedert sich in die 2 Dokumente: "Botschaft" bzw. "Schlußdokument", S. 38-48. Hinzu kommt ein kommentierender Bericht von U. Ruh, S. 34-38. 7 Ebda. S. 40: das Schlußdokument (im folgenden "SynDoc" abgekürzt) führt in seinem Teil II "Besondere Themen der Synode" auf: A. Das Geheimnis der Kirche; B. Quellen, aus denen die Kirche lebt; C. Die Kirche als "Communio"; D. Sendung der Kirche in die Welt. W. Kasper (Herausforderung), S. 416, spricht, gerade im Hinblick auf diese Synode, von der neu angebrochenen ,,Phase der integralen authentischen Interpretation und Realisation des Konzils, der dritten Phase der Konzilsrezeption nach den Phasen des "Überschwangs" und der "Resignation". s BaraunaiDe Lubac, S. 16. 9 Philips in LThK, Suppl. II., S. 139. 10 V. a. die Konstitution "Pastor aetemus", DS 3050-3075. Zu den ekklesiologischen Tendenzen auf dem Vaticanum I: Acerbi (Due ecclesiologie), S. 13-29. 11 BaraunaiBetti, S. 1901 191; Jedin. 12 Während dieses Faktum allermeist positiv beurteilt wird, so etwa jüngst wieder durch G. Alberigo, S. 114 ff., nennt es May (Reform), S. 47, "eines der größten Versäumnisse, keine Verurteilungen ausgesprochen zu haben". Das Konzil habe die Wahrheit der Lehraussage der Anbiederung an den Zeitgeist geopfert. 13 Barauna I Cerfaux, S. 220 ff.; Baraunal Semmelroth, S. 371; Timpe, S. 263-283; Aymans im HbkKR, S. 3. 14 Barauna I Semmelroth, S. 365; J. Auer in KKD, Bd. VIII, S. 31 - 34. 15 Dazu Grillemeier in LThK, Suppl. III., S. 157 (Kommentar); Barauna I Smulders, S. 290; De Lubac, Die Kirche, Einsiedeln 1968, S. 181 ff.
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1. Kap.: "Societas Perfecta" und ,,Populus Dei"
Volkes Gottes (LG, Kapitel2, Art. 9-17) eine zentrale Stellung ein: die Verwirklichung des Heils geschieht im Wege der Bildung einer geschichtlich-konkreten Heilsgemeinde. Dieser Gedanke enthält in nuce die sog. "Communio-Ekklesiologie" als "die zentrale und grundlegende Idee der Konzilsdokumente" 16 und dies nicht zuletzt auch als "Grundlage für die Ordnung in der Kirche" 17 • Mit diesem Ansatz, der einer früher verbreiteten soziologisch-hierarchologischen Verkürzung des Kirchenbildes vorbeugen wollte und Ausdruck dessen sein sollte, daß "die Botschaft von der Kirche, wie sie vom Zweiten Vatikanischen Konzil beschrieben wird, trinilarisch und christozentrisch" ist 18, vollzog sich nach allgemeiner Auffassung auch die endgültige methodologische Emanzipation der Ekklesiologie von soziologisch-juridischen Begriffskategorien hin zu genuin theologischen Begründungen 19• Als Heilssakrament für die Welt ist wesentliches Kennzeichen und "Finalität" der Kirche als ganzer und somit auch eines jeden ihrer Glieder ihre Missionarität (Art. 17 f. LG) 20, ihr Gesendetsein in die Welt zur Weiterverbreitung der Frohbotschaft von der umfassenden und definitiven Erlösung in Jesus Christus.
b) Kirche und Welt Durch die Intention des "aggiornamento" ist bereits impliziert, daß das Konzil bestrebt war, die ,,zeichen der Zeit" ernst zu nehmen 21 und im Blick auf sie die 16 SynDoc, HerdKorr 40 (1986), S. 44; W. Kasper, Art. "Katholische Kirche !.4." im StL7 , Bd. III. ( 1987), Sp. 330 I 331; systematisch dazu die Schrift von 0. Saier, "Communio" in der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils, München 1973. Gegen Mißverständnisse dieses Konzepts W. Bertrams (Bedeutung des 2. Vatikanischen Konzils), S. 142-152 sowie L. Scheffzcyk, Communio Hierarchica, in: Ecclesia Militans. Festschrift für Remigius Bäumer, Paderborn 1988, Bd. 1, S. 553-569, insbes. S. 568: "Darum steht die Hierarchie nicht gegen die Communio. Sie ist vielmehr das Organ der Communio, durch dessen Existenz und Wirken die Communio sich als Gemeinschaft mit Christus, dem unsichtbaren Herrn, erweist, der aber repräsentativ anwesend ist und wirkt. Mit dieser zeichenhaft-personalen Gegenwart und Wirkweise Christi ist die Kontinuität der von Christus ursprünglich und bleibend gesetzten Heilsordnung gesichert." Doch ist die Ekklesiologie von LG weder "fehlerfrei" noch vollkommen einheitlich. L. Bouyer, L'Eglise de Dieu, Paris 1972, kritisiert die juristische Ignoranz von LG und das Fehlen des Heiligen Geistes in deren ekklesiologischer Betrachtung (zitiert bei Beyer (Redactione), S. 547-550). Eine Zwiespältigkeit der LG-Ekklesiologie, die versucht, auch die "societas perfecta"-Doktrin beizubehalten, konstatiert Acerbi (Due ecclesiologie), insbes. S. 49-105 und S. 485-553. Ebenso H. Pottmeyer (Ekklesiologie), S. 272283 (276 ff.). Zu dieser "Dialektik" der Konzilsaussagen und ihrer hermeneutischen Bewältigung: Kasper (Herausforderung), S. 418-421. 11 SynDoc ebda. 18 SynDoc, S. 42. Das "Besondere" des Kirchenbildes des Vaticanum II zeigt knapp auf J. Auer in KKD, Bd. VIII, S. 64-67. 19 Barauna I Semmelroth, S. 366-368; H. Pottmeyer (Konzilskritik), S. 55; E.-W. Böckenförde (Staat I Gesellschaft I Kirche), S. 32-36. zo SynDoc, S. 46-48; BaraunaiGuillou, S. 613 ff.; J. Ratzinger, S. 376-388; J. Auer in KKD VIII, S. 310-329.
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kirchliche Verkündigung zu präzisieren. John Courtney Murray, Konzilsteilnehmer und einflußreicher Mitautor der konziliaren Erklärung "Dignitatis humanae" (DH) über die Religionsfreiheit, identifiziert als solche Zeitmerkmale vor allem ein wachsendes Bewußtsein für die Würde der menschlichen Person 22 und eine zunehmende Bewegung zur Einheit der Menschheitsfamilie hin 23 • Diese W ahmehmung hatte - neben dem neuen Kirchenverständnis - eine perspektivische Erweiterung der Betrachtung des Verhältnisses "Kirche- Welt" zur Folge. In seinen DokumentenGSund DH 24 vollzieht das Konzil eine Entinstitutionalisierung des angesprochenen Verhältnisses, das bis dato nur unter dem institutionellen Blickwinkel "Kirche- Staat" traktiert wurde 25 • So kann Murray ausführen: "Nach DH und GS sind die treffenden Termini eher ,Religion und Herrschaft' [statt Kirche und Staat; G.], Religion in einem historisch-vielfältigen Sinn ... wie in Pacem in terris. Dieses engere Problem existiert im Innem der, und ihr untergeordnet, weiteren Problematik von ,Religion und menschlicher Gesellschaft •." 26 Ein dritter entscheidender Gesichtspunkt, der eine neue Sicht des Verhältnisses Kirche - Staat mitbedingt, ist die Herausstellung der "Autonomie der irdischen Wirklichkeiten" in Art. 36 GS, was nicht zuletzt darauf abzielt, daß Christen und Kirche zu der in starkem Maße antireligiös und antikirchlich verwurzelten Modeme ein fruchtbares Verhältnis zu gewinnen vermögen 27 • Diese Stellungnahme des Vaticanum II hat allerdings einige Rätsel aufgegeben und auch manche Fehldeutung provoziert 28 • 21 Zu Herkunft, Bedeutung, aber auch Ambivalenz des Begriffes "Signa Temporum" nunmehr ausführlich A. Losinger, S. 114-121. 22 Diese Ausgangsbeobachtung nimmt C. Corral zum Anlaß, auch die Problematik Kirche - Staat der "primacia de Ia persona" als Grundprinzip zu unterstellen: zit. nach R. Sebott (John Courtney Murray), S. 243. M. E. ist das dem Gedanken nach richtig, doch wenig klärend. Es handelt sich beim genannten Grundsatz um eine Voraussetzung für die unten aufzuführenden Prinzipien des Kirche-Staat-Verhältnisses. 23 (lssue Vatican II), S. 583 I 584. Die juristische "Aufbereitung" dieses zweiten "Signum temporum" leistet jetzt F. Petroncelli Hübler (Comunita Internazionale). 24 Die Entstehungsgeschichte von DH anband der Acta Synodalia ist knapp dokumentiert bei J. Hendriks (Oe libertate religiosa), S. 86-91. 25 K. Rahner, Art. "Kirche und Welt" in: SM Il, Sp. 1336; Mikat, Art. "Kirche und Staat. III." in: StL7 , Bd. III. (1987), Sp. 479 (beinahe identisch mit ders., Art. "Kirche und Staat" in SM II, Sp. 1294-1336 (Sp. 1311)). 26 (lssue Vatican II), S. 596; Calvo, S. 174 I 175. 27 A. Auer in L ThK, Suppl. III., S. 385; D. Grimm, S. 14 I 15. Einen in unserem Zusammenhang wichtigen Teilaspekt der "iusta autonomia" hat bereits Papst Pius XII. mit seiner Formel von der "sana laicita dello stato" vorgeprägt hierzu Spinelli I Dalla Torre, S. 94 I 95. 2s Obwohl bereits GS 36 selbst versucht hat, dem vorzubeugen: "Wird aber mit den Worten ,Autonomie der zeitlichen Dinge' gemeint, daß die geschaffenen Dinge nicht von Gott abhängen und der Mensch sie ohne Bezug auf den Schöpfer gebrauchen könne, so spürt jeder, der Gott anerkennt, wie falsch eine solche Auffassung ist." Daß hier ein glattes Parkett betreten wird, mag eine Reminiszenz an Pufendorf verdeutIichen. Denzer (Moralphilosophie), S. 268 m. w. N., schreibt über dessen Auffassung:
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1. Kap.: "Societas Perfecta" und "Populus Dei"
In GS, vor allem aber in DH entwirft nun das Konzil "Leitlinien" für das Verhältnis von Kirche und Staat 29 • In Art. 13 DH heißt es lapidar: "Libertas Ecclesiae est principium fundamentale in relationibus inter Ecclesiam et potestates publicas totumque ordinem civilem." Dieses Grundprinzip impliziert, ohne auf die nähere Bestimmung des Begriffes der Kirchenfreiheit einzugehen 3o, als weitere Grundsätze (a) die Autonomie oder den Dualismus von Kirche und Staaten im Sinne gegenseitiger Unabhängigkeit von Organisation und Autoritätsstrukturen und (b) Kooperation beider Sozialgebilde im Dienste an den ihnen beiden zugehörenden Menschen 31 • In der Frage nach der Kontinuität dieser Staatslehre zur herkömmlichen katholischen Staatsauffassung (insbesondere zu der Leos XIII.) herrscht ein rechtes Durcheinander 32 • Das hängt sicher auch damit zusammen, daß eine falsche begriffliche Alternative konstruiert wurde. Denn diese Alternative kann nicht lauten: "societas perfecta" oder "libertas religiosa" 33 . Wer das tut, vermengt ekklesiologisches Prinzip und kirchenrechtliche Konsequenz. Richtigerweise sind gegenüberzustellen: (a) "societas perfecta" und "populus Dei" (resp. "communio fidelium") einerseits 34; (b) das System der "potestas indirecta" und das der "libertas religiosa" "Indem Gott nicht mehr die unmittelbare Ursache aller Dinge ist, erhält die Welt ihre Eigengesetzlichkeit. Das bedeutet, daß es [nach Pufendorf; G.] eine Wahrheit der Natur gibt, die von der Wahrheit Gottes unabhängig ist." Zum Vergleich auch K. Rahner, Art. "Kirche und Welt" in SM II, Sp. 1336-1357 (Sp. 1353 ff.): "Die Kirche muß auch in ihrem konkreten Lebensgefühl und nicht nur in ihrer abstrakten Theorie das mittelalterliche Ideal einer sehr direkten und universalen Gestaltung aller menschlichen Wirklichkeit aufgeben." Die Bischofssondersynode 1985 hat sich in SynDoc, S. 42 links, noch einmal gezwungen gesehen, ausdrücklich zu bekräftigen, daß die besagte Autonomie nicht Immanentismus bedeutet, d. h. eine autonomistische Sicht von Mensch und Welt propagiert, die die Dimension des göttlichen Geheimnisses übersieht, sie vernachlässigt oder gar leugnet. Zum ganzen Problemkomplex nunmehr zusammenfassend die bereits erwähnte Arbeit von Losinger, "Iusta Autonomia", 1989. 29 Einen knappen und doch m. E. ausgewogenen Überblick über die Staat-KircheLehre des 2. Vaticanum geben nunmehr MDC I P. Lombardia u. J. Otaduy, S. 790-799 und P. Leisching, S. 99-105. 30 Problem: die Natur der Kirchenfreiheit als Unterfall der Individualreligionsfreiheit oder als Analogon zu ihr? Zur Diskussion vgl. Musselli, S. 73 m. w. N. sowie Colella (Liberta Religiosa), S. 64-67 m. w. N. Zusammenfassend L. Misto, Liberta Religiosa e Liberta della Chiesa. 11 fondamento della relazione Chiesa - Communita politica nel quadro del dibattito post- conciliare in Italia, Brescia 1982. 31 Vgl. Sebott (John Courtney Murray), S. 242 ff; Granfield, S. 463 I 464; D'Avack (Problema Storico-Giuridico), S. 376 ff. zur grundsätzlichen Tragweite der Erklärung DH und ihren drei "informatorischen Prinzipien": a) Glaubensfreiheit; b) Schutz der Person; c) Inkompetenz des Staates in religiösen "Optionen"; Überblick auch bei Spinelli I Dalla Torre, S. 92-102. 32 Ebenso Hendriks (De libertate religiosa), S. 85 I 86 m. w. N. 33 So der Aufsatz von J. Königsmann. 34 Kontrastierend K. Schiaich (Die Kirche), S. 375: "Das Zweite Vatikanische Konzil hat dem Kirchenrecht die Aufgabe gestellt, vom Societas-Verständnis der Kirche zu ihrem Communio-Charakter fortzuschreiten. Damit ist die societas perfecta-Formel an
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andererseits 35 • Daß (b) von (a) präjudiziert werden kann, ist damit natürlich nicht von vorneherein geleugnet. So ist denn die Rede von "kopernikanischer Wende" (Gnägi, Dalla Torre)36 , "direktem Gegensatz" (Sebott)37, "grundsätzlicher Revision" und "deutlicher Zäsur" (Listl)3 8, "Prinzipienwechsel" (Musselli)39 bis hin zu "voller Kontinuität bei Weiterentwicklung" (Murray) 40 • Die Frage, welche Meinung da am günstigsten liegt, soll hier nicht abstrakt beantwortet werden. Denn zum einen ist unsere Fragestellung konkret-normativ, zum anderen scheint uns der neue CIC gerade ein Teil dessen zu sein, was Murray mit Bezug auf das 2. Vatikanum forderte: "The work of systematization remains tobe done ... " 41.
2. Aus den Vorarbeiten zum neuen CIC Mit der Einsetzung der "Pontificia Commissio Codici Iuris Canonici Recognoscendo" (im folgenden: PCR) durch Papst Johannnes XXIII. am 28. 3. 1963 42 begann die zwanzigjährige Arbeit der CIC-Reform, die ihren Abschluß in der Promulgation eines neuen CIC durch Papst Johannes Paul II. am 25. 1. 1983 fand. Damit war man zwar schneller als weiland die Väter des BGB (18731896), aber doch deutlich langsamer als Kardinal Gasparri und seine Mitarbeiter der Wurzel getroffen." Obgleich der begrifflich-dogmatische Gegensatz richtig gesehen wird, ist an der Schlußfolgerung, die ein Ausschließlichkeitsverhältnis von Cornrnunio und Societas postuliert, zu zweifeln. 35 Bzgl. letztgenanntem Gegensatz ebenso J. Maldonado (Relaciones), S. 389. Während der durch DH vollzogene Übergang zur Anerkennung der Religionsfreiheit, der konsequenterweise den Abschied der traditionellen Lehre von der "potestas indirecta" nach sich zog, im allgerneinen begrüßt wurde, wertete May (Reform), S. 36 I 37, diesen "Bruch" eindeutig negativ. 36 Gnägi, S. 474 f.; Dalla Torre, S. 507. 37 Sebott (John Courtney Murray), S. 210. 38 (Kirche und Staat), S. 206 bzw. 209. 39 s. 79. 40 (Issue Vatican II), S. 588 und 593; gegen ihn ausdrücklich E.-W. Böckenförde (Staat I Gesellschaft I Kirche), S. 113, Anrn. 11. Wie Murray jetzt wieder List! (Kanonistische Teildisziplin), S. 463. Eine interessante Deutung des Positionswechsels zwischen dem Begriff von Religionsfreiheit im Syllabus (1864) und DH (1965) gibt Hendriks in (De libertate religiosa): Die zwei Ausgangsprämissen für die Beurteilung der Religionsfreiheit hätten sich grundlegend gewandelt. Erstens anerkenne die Kirche nun den sozusagen rein juristischen Staat, der sich religiös für inkompetent erkläre. Zweitens gehe sie von einem neuen Verständnis menschlicher Würde aus, das es zulasse, die moralisch-religiöse Grundentscheidung dem freien Individuum statt gesellschaftlichen oder staatlichen Institutionen zu überantworten. Logische Konsequenz hiervon sei die Zubilligung politischer und rechtlicher Toleranz: s. 97198. 41 (Issue Vatican II), S. 606. 42 AAS 55 (1963), S. 363 I 364; Einen Überblick über die CIC-Reform verschafft Schmitz im HbkKR, S. 34-40 rn. w. N.
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1. Kap.: "Societas Perfecta" und "Populus Dei"
(1904-1917). Dies verblüfft, da doch nicht wie noch 1904, wenn der Ausdruck erlaubt ist, eine "Codificatio ex nihilo" gefordert war. Die Reformarbeit läßt sich in drei Phasen unterteilen, in (1) eine Vorbereitungsphase zwischen 1963 und 1967 in Form der Arbeitsplanung und Konstitutierung der verschiedenen Arbeitskreise (Coetus Studiorum), (2) eine Entwurfsphase zwischen 1968 und 1980 (mit insgesamt 10 Einzelschemata 1972 bis 1977 und dem ersten Gesamtschema aus dem Jahre 1980) und schließlich (3) eine Revisionsphase von 1980 bis 1982, erst durch eine erweiterte PCR 43 , dann durch den Papst selbst samt einer kleinen Schar persönlicher Berater 44 • Ob auch die Vorarbeiten zum CIC I 1983 von einer prägenden Persönlichkeit wie einst von Gasparri dominiert wurden, läßt sich im Moment noch nicht entscheiden. Das bisher veröffentlichte Materialläßt eher auf "Teamwork" der beteiligten Personen schließen 45 • Zwischen April1966 und Oktober 1971 konstituierten sich 46, gebildet aus den Mitgliedern (Sodales) und Beratern (Consultores) 47 , insgesamt 15 Arbeitskreise 48 • Die Coetus entsprachen in ihrem jeweiligen Sachbereich mit Ausnahme der Coetus "De Ordinatione Systematica Codicis", "De Procedura Administrativa" und "De Lege Ecclesiae Fundamentali" 49 stets bestimmten Abschnitten des alten CIC von 1917. Aufs Ganze gesehen war man also, geht man von der äußeren COMM 14 (1982), S. 117-119. COMM 19 (1987), S. 263. 45 Am ehesten wird man einen bestimmenden Einfluß von Kardinal Pericle Felici (1911 - 1982) unterstellen dürfen, der immerhin vom 24. 2. 1967 bis zu seinem Tod am 22. 3. 1982 als Präsident der PCR amtierte. Sein Vorgänger war Kardinal Ciriaci zwischen dem 28. 3. 1963 bis zum 30. 11. 1966, sein Nachfolger Kardinal Rosalio Castillo Lara seit dem 17.5.1982, der dann seit Januar 1984 auch Präses der Nachfolgeorganisation der PCR, nämlich der "Pontificia Commissio Codici Iuris Canonici Authentice lnterpretando" ist: vgl. AnnPont 1990, S. 43• und S. 1178. Statuten dieser Kommission in AAS 76 (1984), s. 433 f. Unter den übrigen Reformmitarbeitern ragen m. E. vor allem W. Onclin als Secretarius adjunctus (vgl. COMM 1 (1969), S. 14) und K. Mörsdorf hervor. Beide nahmen von Beginn an bis zum Ende der Kodexreform an allen wichtigen Coetus (De Lege Fundamentali Ecclesiae; De ordinatione systematica; De normis generalibus deque personis physicis et moralibus; De Sacra Hierarchia) teil. Im übrigen sei auf die im Verlauf dieser Arbeit fortlaufend gegebenen einzelnen sachlichen Belege verwiesen. 46 Zur Gründung der ersten lO Coetus im Januar 1966 durch päpstliches Dekret: COMM 1 (1969), S. 44. 47 Unter den insgesamt rund 100 Konsultoren fanden sich zunächst nur 8, seit der Kooptation Prof. W. Plöchls dann letztendlich 9 Laienkanonisten. Fünfvon ihnen stammten aus romanischen Ländern. 48 In COMM 19 (1987), S. 262-308, findet sich eine "Synthesis Generalis Laboris Pontificiae Commissionis Codici Iuris Canonici Recognoscendo", besorgt von J. Fox und G. Corbellini. Sie enthält die Termine und Arbeitsthemen der Sessiones (= Vollversammlungen von jeweils mehrtägiger Dauer; daneben traf man sich, eher informell, zu kürzeren sog. "adunationes") der einzelnen Coetus sowie einen Verweis auf deren Veröffentlichung in den COMM. Die Zusammenstellung ist hilfreich, aber nicht ohne Lücken und Ungenauigkeiten insbesondere bei Zeitangaben. 49 Zu den Arbeiten dieses letztgenannten Coetus s. in diesem Abschnitt, unten 3. 43
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Arbeitseinteilung aus, bestrebt, Vorhandenes, wenn bewährt, zu bewahren. Allerdings sollten doch neue Akzente gesetzt werden: einmal eben auf dem Gebiet des für kirchliches Recht völlig neuartigen Verwaltungsrechtsschutzes, aber auch im kirchlichen Verfassungsrecht Darauf deutet vor allem die Tatsache hin, daß für das Recht der Laien, bis dato ein unbedeutender kleiner Abschnitt im CIC (cc. 682-725 CIC I 1917), ein eigener Arbeitskreis ins Leben gerufen wurde. Zwar hat die PCR seit 1969 ein eigenes Publikationsorgan, die "COMMUNICATIONES" (mittlerweile im 24. Jahrgang 1992), und es sollen sukzessiv alle Sessiones der Arbeitskreise bis hin zur Erstellung des Schemas 1980 publiziert werden - und das allein wäre schon ein signifikanter Unterschied zur Arbeit am CIC I 1917 "sub secreto Pontificis" - , aber die Akten der PCR und ihrer Coetus sind bisher erst zu einem kleinen Teil veröffentlicht 5°. Es läßt sich somit feststellen, daß zwar seitens des Heiligen Stuhles Wille zur Transparenz hinsiehtlieh der Kodifikationsvorarbeiten herrscht, aber doch noch viele Lücken im entstehungsgeschichtlichen Material klaffen. Dies nicht zuletzt auch im Hinblick darauf, daß wir nie sicher sein können, ob das, was wir über eine Coetus-Sessio veröffentlicht finden, auch der im Wesentlichen vollständige Inhalt der Beratungen gewesen ist.
50 Bisher ist folgender Stand der Publikation zu verzeichnen: (1) Series Sessionum Prima (bis zu den Einzelschemata): - vollständig: - C. "De Norrnis Generalibus"; - C. "De Persanis Physicis et Moralibus (seu luridicis)"; - C. "De Laicis et Associationibus Fidelium"; - C. "De Magisterio Ecclesiastico". - Sog. "Syntheses Laboris": - C. "De Sacra Hierarchia"; - C. "De Institutis Perfectionis"; - C. "De Sacramentis"; - C. "De Locis et Temporibus Sacris"; - C. "De Iure Poenali"; - C. "De Processibus". - Sog. "Syntheses Generales Laboris": - C. "De Matrimonio". -Keine Veröffentlichungen: - C. "De Ordinatione Systematica"; - C. "De Procedura Administrativa". (2) "Series Altera" (bis zum Schema 1980): -Im Grundsatz vollständig: Revision des Schema betr. - Liber II, De Populo Dei (3 Coetus); - Liber IV, De Sacramentis, (2 C.); - Liber VII, De Processibus, (1 C.). - In Teilen publiziert: - Liber VI, Jus Poenale (1 C.); - Keine Publikation: - Liber I, Norrnae Generales (1 C.); - Liber III, De Magisterio Ecclesiastico (1 C.)
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1. Kap.: "Societas Perfecta" und "Populus Dei"
Nachdem, wie gezeigt, die Einteilung der Arbeitskreise am alten CIC orientiert blieb, ist noch das Augenmerk auf das Zustandekommen der Gesetzessystematik zu richten und zu fragen, ob hieraus bereits Rückschlüsse auf unser Thema zu ziehen sind. Obwohl der CIC I 1917 für das Verhältnis zum Staat keinen systematischen Ort hatte, konnten ja seine Normen durchaus als systematisch gedeutet werden. Auch der CIC I 1983 behandelt nicht explizit, also in einem eigens dafür reservierten Abschnitt, das Verhältnis Kirche- Staat. Er weicht aber in der Systematik der Bücher nicht unerheblich vom alten Kodex ab. Die Ahnung, daß das Gaianische Institutionenschema bzw. die Systematik des französischen Code Civil dem kirchlichen Gesetzbuch nicht voll angemessen sein könnten, begleitete die CIC-Reformarbeiten von Beginn an. So warf Punkt 10 der "Principia quae Codicis Iuris Canonici Recognitionem dirigant", die von einem Koordinationskreis (Coetus Centralis) der PCR auf seiner Sitzung vom 3. -7.4. 1967 erarbeitet, der Bischofssynode (30.9.-4.10. 1967) vorgelegt und von ihr approbiert wurden 51, das Problem der "innovatio ordinis" auf, "praesertim in dispositione librorum secundi et tertii" des CIC I 1917 52. Gerade auch in der Gesetzessystematik solle sich der Geist des Konzils niederschlagen, aber auch "wissenschaftliche Erfordernisse kanonischer Gesetzgebung" sollten zu ihrem Recht kommen 53 . Eine endgültige Gliederung sei jedoch erst dann sinnvoll, wenn sämtliche Einzelpartien revidiert worden seien. Unter dem Eindruck dieser Anregung beschloß die Bischofssynode die Errichtung eines eigenen Arbeitskreises "De Ordinatione Systematica Codicis" und gab ihm folgende Frage auf: "Ob im neu zu schaffenden Codex die Systematik des gegenwärtigen CIC, nach Gebühr erneuert, beibehalten werden soll oder eine neue Systematik einzuführen ist ... " 54. Die Antwort des Coetus, der sich vom 2.- 4. Februar 1968 55 zu seiner einzigen Sessio zusammenfand 56, war eindeutig: "Alle [Consultores dieses Coetus;G.] waren sich darüber einig, daß die Struktur der Bücher des pianisch-benediktinischen Codex im neuen Codex nicht beibehalten werden kann." 57 . Der Coetus machte auch bereits einen Vorschlag, unter Verwendung des "Tria-MuneraSchemas"58 den neuen CIC in sieben Bücher aufzuteilen 59 . Dieser Vorschlag 51 52 53 54
Praefatio zum CICI 1983, a. a. 0. (Einleitung, Anm. 5 und 8), S. XL. COMM 1 (1969), S. 85. Ebda. COMM 1 (1969), S. 46. 55 So die Angabe ebda.; anders, nämlich "Anfang April 1968", die Praefatio zum CIC I 1983, S. XLVIII. 56 Mitglieder waren: A. Stickler (Relator), R. Bidagor, W. Onclin, S. Lourdusamy, C. Flusin, K. Mörsdorf, A. Dordett, F. McManus sowie die Laienkanonisten 0. Giacchi, P. Lombardla und S. Kuttner: COMM 1 (1969), S. 29. 57 Praefatio, a. a. 0. (Anm. 55). Zum gleichen Ergebnis kommt Huizing (Reform), S. 673 I 614 bei der Übersicht über die kanonistischen Publikationen bis zum Jahre 1965. 58 Ausf. hierzu L. Schick, Das Dreifache Amt Christi und der Kirche. Frankfurt 1982; A. Femandez: Munera Christi et Munera Ecclesiae. Historia de una teoria, Pamplona 1982.
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erwies sich trotz der zum Ausdruck gebrachten Vorläufigkeit als so tragfähig, daß diese Grundeinteilung letztlich auch im CIC I 1983 übernommen wurde, wenngleich in Unterpunkten noch manches umgruppiert wurde und die Regelung etwa des Verwaltungsrechtsschutzes, im Schema Novissimum 1982 noch unter Liber VII, Pars V, Sectio I, Titulus I enthalten 60 , ganz entfiel. Zeitgleich mit dieser Zusammenkunft hatte im übrigen schon Coetus-Mitglied Mörsdorf öffentlich61 den Vorschlag gemacht, den CIC in 7 Bücher aufzuteilen 62. Diese Einteilung war insofern konsequent, als in derselben Sitzung des Coetus "De Ordinatione Systematica" "alle eins gewesen sind, Normen über die Beziehung der Kirche nach außen nicht in den neuen Codex aufzunehmen" 63. Auch diese Option entsprach dem öffentlich geäußerten Vorschlag Mörsdorfs 64 , der das sog. "äußere Kirchenrecht" einem "zu schaffenden Grundgesetz (Lex Fundamentalis) vorbehalten" wollte, immerhin aber einen CIC imaginierte, der "gelegentlich die Freiheitsrechte der Kirche dem Staat gegenüber zum Ausdruck bringt". Damit stellt sich für den CIC I 1983 dieselbe Grundproblematik wie für seinen Rechtsvorgänger. Aus seiner teilweise neuen Systematik, so unser Zwischenergebnis, läßt sich kein Rückschluß auf eine inhaltliche Befassung der einzelnen Coetus mit dem Verhältnis Kirche I Staat ziehen. Immerhin ist, negativ, soviel klar: eine explizite Kompetenzzuweisung für unseren Problemkomplex zugunsten eines bestimmten Arbeitskreises wurde im Rahmen der eigentlichen CIC-Vorarbeit nicht getroffen. Dieses Defizit, wenn man es überhaupt als solches begreifen will und darf, findet seine Ursache aber nicht zuletzt in dem Plan und den Vorentwürfen zu einem kirchlichen Grundgesetz, einer "Lex Ecclesiae Fundamentalis", die deshalb an dieser Stelle ausführlicher besprochen werden muß. 59 COMM 9 (1977), S. 229 I 230: Liber I "Normae generales"; Liber II: "De Populo Dei"; Liber III: "De Ecclesiae munere docendi"; Liber IV: "De Ecclesiae munere sanctificandi"; Liber V: "De iure patrimoniali Ecclesiae"; Liber VI: "De sanctionibus in Ecclesia"; Liber VII: .,De tutela iurium seu de processibus". 60 Angabe bei P. Valdrini, Injustices et Droits dans l'Eglise, Strasbourg 1983, S. 371. 6t Nämlich im AfkKR 137 (1968), S. 3-38 (S. 15 ff.). 62 Er teilte ein: I. AUgemeine Normen; Il. Verfassungsrecht; III. Verbandsrecht (1. Religiosenverbände I Ordensrecht; 2. Kirchliches Vereinsrecht); IV. Geistlicher Dienst (1. Dienst am Wort I Magisterium Ecclesiae; 2. Dienst am Sakrament); V. Vermögensrecht; VI. Strafrecht; VII. Prozeßrecht. Er baute damit auf der Dissertation seines Schülers Schmitz, (Gesetzessystematik), aus dem Jahre 1963 auf, der zu vergleichbaren Ergebnissen gelangt ist, allerdings nur die Libri I-III des CIC I 1917 behandelte. Auch Schmitz verwendete a11erdings nicht das .,Tria-Munera-Schema". Kein Gehör fand dagegen offenbar der Vorschlag des Mitkonsultors S. Kuttner, der eine von Systematisierungszwängen freie, topische Anordnung der Materien des kanonischen Rechts favorisierte. Dies entspreche guter kanonistischer Tradition und gebe die Möglichkeit, den Stoff sachgerecht zu ordnen. Er brachte als Beispiel die Anordnung der einzelnen Sakramente: ders., S. 15-21. Vgl. jetzt aber die Gliederung des CCEO; vgl. unten Zweites Kapitel, Abschnitt Il., 1., c), (1). 63 Praefatio zum CIC, a. a. 0. (Einleitung, Anm. 5), S. XLVIII. 64 (Systematik), S. 13.
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3. Das Verhältnis der Kirche "ad extra" im Projekt einer "Lex Ecclesiae Fundamentalis" (LEF) a) Werden und Vergehen der Idee einer LEF Die Zeit um das 2. Vatikanische Konzil muß auch für das Kirchenrecht und die Wissenschaft vom Kirchenrecht als eine Zeit besonderer Gärung bezeichnet werden. Und dies bereits bevor die "Ergebnisse" des Konzils in Form seiner Dokumente vorlagen. Als kennzeichnend für diese Gärung im Kirchenrecht, insbesondere auch im IPE, sei hier beispielhaft nur das Werk von Giuseppe Ferrante, Summa Juris Constitutionalis Ecclesiae, Rom 1964, vorgestellt. In Gliederung und Hauptthesen folgte es noch den bereits dargestellten Grundrissen des IPE, suchte jedoch nach Wegen der Erfassung und Verarbeitung neuer doktrineller Entwicklungen. Diese Suche nach einer neuen Form für eine altbewährte Materie schlug sich gleich in dreifacher Weise nieder: (a) sprachlich, indem immer wieder in den fortlaufenden lateinischen Text italienische Erläuterungen eingefügt wurden 65 ; (b) systematisch, indem Ferrante versuchte, das alte IPE als "Ius Constitutionale Ecclesiasticum" neu zu begreifen 66 , das übrigens wiederum einen ,Pars Externum' ("De relationibus inter Ecclesiamet civilem potestatem") enthalten sollte 67 ; (c) inhaltlich, wobei ihm besonders das überkommene kirchliche Demokratieverständnis revisionsbedürftig erschien 68 • Ferrantes Fazit aus alledem: "Absurdum sane est ... ius publicum Ecclesiae idem intactum remanere ... Praeterea ius Ecclesiae constitutionale de progressibus iuris Civitatis rationem habeat necesse est." 69 • Die Scholle, aus der ein neues Kirchenrecht erwachsen konnte, war also bereits aufgebrochen 70 • So verwundert es nicht, daß schon während der beratenden Sessionen des 2. Vatikanischen Konzils die Anregung für eine gemeinsame Grundordnung für
65 Dazu der Autor selbst in der Praefatio seines genannten Werkes, S. 6: "inserti sunt lingua italica plurimi auctorum loci; id fecimus duabus ducti rationibus; primout doctrina ipsa comprobaretur et illustraretur, secundo ut eadem efficaci sermone nostrae aetatis redderetur." 66 Zu dieserneuen Begrifflichkeil schon Ferrante, S. 1 sowie ausf. S. 50 ff.; vgl. auch Musselli, S. 44. 67 Ferrante, S. 53. 68 Ebda., S. 265-279. 69 Ebda., S. 6: es sei offensichtlich absurd, das öffentliche Recht der Kirche in der bisherigen Gestalt unverändert zu belassen. Überhaupt sei es notwendig, daß das Verfassungsrecht der Kirche von den Fortschritten des staatlichen Rechts Kenntnis nehme. 70 Eine erste, von der überkommenen Methodik des IPE losgelöste, den Konzilsaussagen verpflichtete Neuformulierung des IPE bringt dann 1968 der spanische Kanonist Juan Calvo. Seine Thesen können hier allerdings nicht erläutert werden. Denn unsere Thematik ist auf den CIC begrenzt und will und kann keine Theoriegeschichte des IPE als Wissenschaftszweig geben. Und auf die damals bereits im Gang befindliche Kodexreform geht Calvo mit keinem Wort ein.
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die lateinische und die orientalischen Kirchen vorgebracht wut:de 71 , um damit die Einheit in der Vielfalt katholischer Kirchen zu dokumentieren (Dominanz des ökumenischen Aspekts) 72• Dieser leise Ruf wäre vielleicht noch ungehört verhallt, hätte ihn nicht Papst Paul VI. in seiner Rede vor der PCR am 20. 11. 1965 aufgegriffen: "Peculiaris vero exsistit quaestio eaque gravis, eo quod duplex est Codex Iuris Canonici, pro Ecclesiae latina et orientali, videlicet num conveniat communem et fundamentalem condi Codicem ius constitutivum Ecclesiae continentem."73. Diese Äußerung wurde zur Initialzündung für das Projekt LEF, das im folgenden für das uns beschäftigende Thema näher untersucht werden soll 74. Schon fünf Tage nach dieser prinzipiellen Anfrage bejahte die Vollversammlung der PCR die Opportunität, eine LEF zusammenzustellen und gab die Erarbeitung eines Schemas derselben in Auftrag 75 . Eine wohl kleingehaltene "Commissio Privata" 76 erarbeitete im Jahre 1966 eine "Prima quaedam adumbrata propositio Codicis Ecclesiae Fundamentalis", die dem Coetus Centralis der PCR vorgelegt, von diesem aber für zu leicht befunden und zum Nachbessern zurückgegeben wurde. Dabei führte der Coetus Centralis aus, daß es dringlich sei, "ut relationes in eadem lege determinentur quae intercedant oportet inter Ecclesiam et humanam consortionem" 77 • So erarbeitete der Privatzirkel eine zweite ,,Adumbratio", die dem Coetus Centralis auf dessen Sitzung vom 3. und 4. April 1967 vorlag. Am 27. desselben Monats wurde dann ein eigener Arbeitskreis eingerichtet, der Coetus "De Lege Ecclesiae Fundamentali" 78 . Auch die Bischofssynode vom Oktober 1967 sowie die PeR-Vollversammlung am 28.5. 1968 sprachen sich
71 Seitenszweier Bischöfe der maronitischen bzw. ukrainischen Kirche; so- ohne genauere Angaben, aber in der Sache übereinstimmend- J. Gerhartz, S. 10, und Felici in COMM 3 (1971), S. 171. Auch in der Konsultorensitzung von 6. Mai 1965 legte Praeses Kard. Ciriaci dem Gremium als Grundfrage der gesamten Codexreform die Frage vor, "utrum unus an duo Codices faciendi sunt, unus pro Orientalibus et alter pro aliis praemisso Codice quodam Fundamentali": COMM 1 (1969), S. 37. n Aymans, HbkKR, S. 66. 73 COMM 1 (1969), S. 41 =AAS 57 (1965), S. 985. Zur Bedeutung Pauls VI. für die Grundlagendiskussion im kanonischen Recht vgl. den Aufsatz von Beyer, Significato e funzione del diritto canonico. II pensiero di Paolo VI, in: Vita Consacrata 1982, S. 739-750. 74 Für die Jahre 1965 - 1977 ist die Bibliographie zur LEF verzeichnet beiM. Zimmermann, Revision ofthe Code ofCanon Law, RIC-Supplement 29, Strasbourg 1977, S. 3546; einen guten Überblick verschafft J. Beyer (Redactione). 75 COMM 1 (1969), S. 114. 76 So die Bezeichnung in COMM 19 (1987), S. 304. 11 COMM 1 (1969), S. 114/115. 78 Ein Verzeichnis der Mitglieder gibt COMM 1 (1969), S. 29-30. Es handelte sich um 12 Kanonisten mit W. Onclin als Relator, unter ihnen R. Bidagor, C. Co1ombo, K. Mörsdorf, W. Bertrams und P. Ciprotti. Darüberhinaus auch COMM 5 (1973), S. 189: der Coetus erscheint nunmehr erweitert auf 23 Mitglieder. Unter den Kooptierten finden sich so bekannte Namen wie die Bischöfe G. Benelli und J. Hamer, die Kanonisten A. Dordett, A. De1 Portillo, P. Lombardfa und der Dogmatiker 0 . Semmelroth.
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ausdrücklich für eine LEF aus 79 • Nach drei Sitzungen lag Mitte 1969 der erste reguläre Entwurf, der "Textus Prior" (TP), vor. Nach Überarbeitung wurde der so bereinigte Entwurf als "Textus Emendatus" (TE) mit Schreiben vom 10. 2. 1971 allen Bischöfen und Ordensoberen der Welt zur Stellungnahme übersandt 80 • Nach Eingang der oft recht kritischen Voten der Bischöfe 81 wurde der TE gründlich überarbeitet und 1976 ein neues Schema vorgestellt, hier "Textus Recognitus" (TR) genannt 82 , das den Reformkommissionen für die Codices, nicht jedoch dem Weltepiskopat zugeleitet wurde. Ein letzter Entwurf, der "Textus Novissimus" (TN), datiert aus dem Jahre 1980, lag also zeitlich parallel zum Schema 1980 des CIC vor 83 • Aus bislang nicht bekannten bzw. nicht verlautbarten Gründen wurde die LEF aber nicht als eigenes Gesetz promulgiert. Es wurden vielmehr in der Endphase der Reform Teile des letzten LEF-Entwurfs in den CIC eingearbeitet und zwar 31 Canones vollständig und weitere 13 teilweise bzw. sinngemäß. Da das mehr als die Hälfte des TN war, konnte W. Aymans resigniert, aber zutreffend konstatieren, daß das Projekt einer LEF als eigenständiges Gesetzeswerk zumindest auf absehbare Zeit "in aller Stille zu Grabe getragen" worden sei 84 • Obwohl anerkannt ist, daß die Kirche seit jeher "verfassungstheologische Grundprinzipien" 85 besitzt, nur eben ohne sie in einem formellem Verfassungsgesetz formuliert zu haben 86, hat doch der Versuch einer solchen Formulierung eine Anzahl schwerwiegender Probleme allgemein-kirchenrechtstheoretischer Natur aufgeworfen 87 • Erstes und schwerstes Problem war die Frage, was denn 79 Der PCR-Vollversammlung lag folgende Frage vor: "Utrum placeat ut Codici Iuris Canonici praeponatur Lex Fundamentalis, altiora principia atque maiora praescripta continens, cum ex iure divino turn ex iure ecclesiastico deprompta, quibus ius constitutionale Ecclesiae definiatur"; Abstimmungsergebnis: Placet 31; Non Placet 0; Placet luxta Modum: 9; COMM 1 (1969), S. 112. 80 Trotz offizieller Geheimhaltung wurden der Wortlaut von TP und TE bekannt und veröffentlicht. Eine Synopse von TE und TP im lateinischen Originalwortlaut bietet der Sammelband "Legge e Vangelo", Discussione su una !egge fondamentale per Ia chiesa, herausgegeben vom Religionswissenschaftlichen Institut der Universität Bologna, Brescia 1972, S. 491-556. Die Relation W. Onclins findet sich ebda., S. 557-657. Deutsche Fassung des TE in HerdKorr 25 (1971), S. 239-249. 81 Einen repräsentativen Eindruck davon vermittelt auch die Diskussion der Bischöfe auf der Bischofssynode des Jahres 1971: COMM 3 (1971), S. 179-185. 82 Deutsche Fassung in HerdKorr 32 (1978), S. 623-632 samt einer kritischen Einführung von A. Albelli, ebda., S. 617-623. 83 Die Normen des TN sind den Zusammenstellungen und Kommentaren in COMM 12 (1980), S. 25-47 und COMM 13 (1981), S. 44-82, zu entnehmen. Die Redaktoren der PCR gingen also noch 1980 von einer Promulgation einer LEF als sicher aus. Dementsprechend weist auch das Schema 1980 des CIC für die von der LEF behandelten Bereiche keine oder nur ganz allgemein gehaltene Normen auf: vgl. z. B. die cc. 201, 202 oder 277 des Schema CIC 1980. 84 In: HbkKR, S. 69. 85 Schmitz (Reform), S. 46. 86 Reimer! (Grundordnung), S. 210; Mörsdorf (Systematik), S. 13; Gerhartz, S. 10; Schmitz (Reform), S. 47.
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alles in eine LEF aufgenommen werden sollte. Die Formel von den "principia fundamentalia constitutiva Ecclesiae, innixa in iure divino aut antiqua traditione communi pro universa Ecclesia" 88 war zwar konsensfahig, aber sehr vage. Schärfer, gleichzeitig aber dementsprechend problematischer war die Aussage Kardinal Felicis in der 7. Sitzung des Coetus LEF: "In lege fundamentali clare exponi debent: a) iura et officia fundamentaha omnium christifidelium ... b) functiones et organa constitutionalia quae auctoritatem in Ecclesia exercent" 89 . Dies erinnert stark an das Konzept einer Staatsverfassung als Bürgerstatusgarantie und I oder Organisationsstatut Gelöst ist damit auch nicht die "kirchenrechtstheoretische Schwierigkeit, nach welchen Kriterien das durch die LEF neu angesetzte Normgefalle innerhalb des kanonischen Rechts geordnet werden soll" 90. Gewiß ist Ausgangspunkt das Ius Divinum, doch besteht (a) die Schwierigkeit, dies "genau zu umschreiben, abzugrenzen und inhaltlich exakt zu bestimmen" 91 und (b) die Einsicht, daß sich eine LEF nicht bloß auf Sätze göttlichen Rechts beschränken kann 92 . Ein zweites, ebenso gravierendes Problem betraf die sprachliche Fassung der LEF, verbarg sich doch dahinter nichts weniger als ein bestimmtes Rechtsverständnis93. Die Relatio W. Onclins zum TE vermittelte einen Einblick in die unterschiedlichen Diskussionsstandpunkte 94. Forderten die einen eine bewußt 87 Schmitz (Reform), S. 29-30, will die Probleme unter die Stichworte Possibilität und Opportunität subsumieren. Das ist so richtig wie banal, da sich beide Fragen an der Beantwortung sachlicher Probleme entscheiden. Genauer Th. G. Barberena, Quaestiones Systematico- Iuridicae de Lege Ecclesiae Fundamentali, in: "De Lege Ecclesiae Fundamentali Condenda" - Conventus Canonistarum Rispano-Germanus, Salamanticae diebus 20-23 Januarii 1972 habitus, Salamanca 1974, S. 73- 87; und R. Reinemann (Verpaßte Chance), S. 145-157. 88 COMM 12 (1980), S. 27. 89 COMM 6 (1974), S. 62. 90 Aymans, RbkKR, S. 70. 91 Reinemann (Verpaßte Chance), S. 152. 92 Was die Frage aufwirft, mit welchen Rechtssätzen sie sich noch zu beschäftigen hat. Mörsdorf (Systematik), S. 11- 13, gibt dazu als Faustformel an: "nicht allein das auf göttlicher Anordnung beruhende Grundgefüge der kirchlichen Verfassung, sondern auch das, was durch kirchliche Gesetzgebung und Gewohnheit allen Teilkirchenverbänden gemeinsam und für die eine Kirche Jesu Christi bezeichnend ist". Reimer! (Grundordnung), S. 211 ff., nennt als Kriterien für die Zuordnung von Normen zu einem kirchlichen Grundgesetz: (a) Nähe zum göttlichen Recht; (b) (wo vorhanden) gefestigte Tradition; (c) Normlogisch höherrangige Normen, als da wären (l) Rechtserzeugungsregeln; (2) Rahmennormen; (3) Normen höherer Normgeber; (4) Normen erschwerter Dispensabilität. 93 Auf der Bischofssynode 1967 verhandelte man folgendermaßen: "3. De natura theologica vel iuridica huius legis fuit aliqua disceptatio. De communi vero sententia, Iex fundamentalis enuntiare debet principia theologica, quibus innitur Ecclesiae constitutio seu ordinatio; non potest tarnen esse expositio mere theologica, immo nec praecipue theologica, et formam iuridicam habere debet." COMM 2 ( 1970), S. 85; vgl. auch COMM 4 (1972), S. 124/125. 94 COMM 4 (1972), S. 149-151. 6 Göbel
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theologisch-pastorale Ausdrucksweise mit wörtlichen Übernahmen aus der Bibel und den Dokumenten des 2. Vaticanum, war die Mehrheit der Bischöfe eher für eine "juristischere" Sprache als sie in den bisher vorgelegten Schemata verwendet worden war. Damit ist ein drittes Problem angesprochen: die methodische Nähe bzw. Abgrenzung zum weltlich-staatlichen Verfassungsverständnis. Hier zeigen die veröffentlichten Voten eine Tendenz weg von unreflektierter Nachahmung hin zu deutlicher Betonung der methodischen und sachlichen Eigenständigkeit der kirchlichen Grundordnung 95 • Dennoch bleibt der Eindruck einer gewissen Unbeholfenheit angesichts der methodischen Herausforderung und Faszination durch die profanen Konstitutionen. All diese zunächst noch ungelösten allgemeinen Probleme haben die inhaltliche Kritik besonders am frühen ersten Entwurf, dem TP bzw. TE, noch verschärft 96 • Mit zunehmender Dauer der Arbeiten nahm der Protest ab. Es verwundert auch deswegen, daß das Projekt kurz vor seinem Abschluß gestoppt wurde.
9s COMM 2 (1970), S. 85 qnd S. 87 I 88: "distincte indicentur organa quorum et negotia de universa Ecclesia tractare"; COMM 3 (1971 ), S. 59 f.: "iura fundamentaHa civium - iura fundamentaha onmium christifidelium . .. " (ebda., S. 62); COMM 6 (1974), S. 69; COMM 13 (1981), S. 28. Für den neuen Kodex als "Lex fundamentalis" plädierte 1968 noch Huizing (Reform), S. 675: "Der kirchliche Rechtskodex muß ein Grundgesetz sein, eine ,Verfassung', worin lediglich die grundlegenden und allgemeinen Normen enthalten sind- nicht mehr, vor allem keine pastoralen Ordnungen wie Pfarrorganisation und Status der Geistlichkeit ... Mit Hinsicht auf die persönlichen Rechte sind manche staatliche Gesetzgebungen dem kanonischen Recht voraus; die neue kirchliche Gesetzgebung könnte sich von diesen Gesetzen - wie einstmals vom Römischen Recht und anderen Rechten - inspirieren lassen." Zu einer Unvergleichbarkeit des Charakters der LEF mit weltlichen Verfassungen gelangen im Ergebnis bezeichnenderweise die weltlichen Juristen V. Onida, "Lo Schema Legis Ecclesiae Fundamentalis e l'esperienza del costituzionalismo modemo" in: "Legge e Vangelo", S. 169- 190, und K. Schiaich (Die Kirche), S. 367 I 368. Sie betonen, die staatlichen Verfassungen seien Produkte konkreter historischer Prozesse und Umstrukturierungen und hätten zum Ziel, einen gewissen Machtzustand zwischen rivalisierenden gesellschaftlichen Gruppen zu stabilisieren. Der LEF gehe es dagegen vielmehr um eine Momentaufnahme der Struktur der kirchlichen Gesellschaft, wie sie schon immer bestehe. Daneben sei das Verhältnis zwischen Regierung und Bürger im Staat grundsätzlich anders konzipiert als das Verhältnis von Hierarchie zu den Gläubigen in der Kirche. Das Abgrenzungsbedürfnis von Seiten der Kirche schlug sich bezeichnenderweise vor allem in der Diskussion um den Namen des Projektes nieder; Vgl. COMM 2 (1970), S. 85; COMM 3 (1971), S. 60 f.; ebda. S. 110 und 113; COMM 4 (1972), S. 126 ff.; COMM 5 (1973), S. 199 f.; COMM 13 (1981), S. 82, bis schließlich 1980 in der Schlußsitzung des Coetus LEF "Lex Ecclesiae Fundamentalis seu Ecclesiae Catholicae universae Iex canonica fundamentalis" allgemeine Billigung fand. 96 Überblick bei Beyer (Redactione), S. 537-546. Man vgl. nur die Protestnote einer stattlichen Gruppe "progressiver" Theologen (u. a. H. Küng und K. Rahner) in "Kein Grundgesetz der Kirche ohne Zustimmung der Christen", S. 89-92. Auf Einzelheiten der Diskussion wird nur in unserem thematischen Rahmen eingegangen.
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b) Das Caput l/1 des Textus Emendatus der geplanten LEF Nachdem also der allererste "Aufriß" zur LEF das Verhältnis von Kirche, Staat und Völkergemeinschaft noch nicht behandelt hatte 97 , was aber vom Coetus Centralis für notwendig erachtet wurde, wartete schon der TP mit einem eigenen Kapitel "De Ecclesia et Hominum Consortione", also "Über die Kirche und die menschliche Gemeinschaft", auf (cc. 84-95 des Schemas). Damit lag zum ersten Mal seit langem wieder eine quasi-offizielle Zusammenstellung der Materie des IPE mit systematischem Anspruch vor, deren Stellen- und Quellenwert am ehesten mit den Aussagen der Kapitel XIII bis XV des "Schemas über die Kirche Christi" des I. Vatikanischen Konzils zu vergleichen sein dürfte 98• Schon deshalb kommt diesem Entwurf hohe Bedeutung zu. Die hier zu leistende inhaltliche Analyse wird von dem gegenüber dem TP leicht modifizierten TE des Jahres 1971 ausgehen, der auch dem Weltepiskopat zur Stellungnahme unterbreitet wurde. Darauf folgt eine Untersuchung, wie dieses Kapitel bis hinein in den TN des Jahres 1980 sozusagen fortgeschrieben wurde. Das Caput III des TE 99 enthielt 12 Canones ohne weitere Untergliederung, was einem Anteil am Gesamtschema von nur etwa einem Achtel entsprach. Will man auf einer inneren Gliederung des Kapitels insistieren, so kann man am ehesten unterteilen in: -
1.: cc. 84-87: Die eigengeartete Sendung der Kirche als doktrineile sedes materiae des Verhältnisses der Kirche zu jeder Form menschlicher Gemeinschaft;
-
2.: cc. 88-94: Die Kirchen- und Religionsfreiheit als juristisches Grundprinzip dieses Verhältnisses und seine konkreten Ausprägungen;
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3.: c. 95: Die Stellung der Kirche in der Völkergemeinschaft 100•
Im einzelnen hatten die Kanones folgenden Inhalt: c. 84 § 1 machte die Aussage, daß die Kirche für das ewige Heil der Menschen gestiftet wurde und schon deswegen notwendige Verflechtungen mit den übrigen menschlichen Gemeinschaften habe 101 • § 2 statuierte eine generelle Gehorsamspflicht der Gläubigen hinsichtlich kirchenamtlicher Lehraussagen zum Verhältnis der Kirche zu den sog. "menschlichen Gemeinschaften mit zeitlicher Zielsetzung" 102• C. 85 § 1 Vgl. oben S. 79. Siehe wiederum Listl (Kirche und Staat), S. 170- 172. 99 Lateinischer Text z. B. in Coetus Canonistarum Salamanticae 1972, a. a. 0. (Anm. 88), S. 42-46; deutsche Übertragung in HerdKorr 25 (1971), S. 247-249. 100 Dieser letzte Kanon des Abschnitts fällt somit wirklich aus dem Rahmen. Nicht anders auch die Beurteilung von Beyer (Redactione), S. 542, der allerdings unterteilen will in: (l) Kirche und Welt; (2) Kirche und Staaten; (3) Kirche und Völkergemeinschaft 101 Der Kanon stellt ein mixturn compositum mehrerer Konzilsaussagen dar, nämlich aus LG 38, GS 40 sowie AG 36. 102 "hominum consortia temporales fines prosequentia" 97
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brachte die grundsätzliche Abgrenzung der Kirche von allen weltlichen Gesellschaften 103 durch ihre spezifisch religiöse Sendung 104• Die Anerkennung der spezifischen Autonomie der zeitlichen Dinge und weltlichen Gesellschaften 105 wurde in c. 85 § 2 bekräftigt. Als Appendix dazu erscheint auch der Weltauftrag der Laien, wobei auf c. 30 § 2 TE 106 Bezug genommen wurde. C. 86 § 1 traf die Grundaussage über die Autonomie und Souveränität der Kirche als höchste Gesellschaft in ihrem Bereich 107, § 2 dieses Kanons postulierte eine "sana cooperatio" (GS 76) von Kirche und "societas politica" 108 • Die positive Wirkung der kirchlichen Präsenz auf das Wohl der Menschheit im ganzen bekräftigte c. 87 § 1 109. C. 87 § 2 wiederholte die schon altehrwürdige Aussage, daß die Kirche kein bestimmtes politisches, wirtschaftliches oder gesellschaftliches System favorisiere, machte sich jedoch (in einem erst im TE enthaltenen Zusatz) den Schutz der Menschenwürde und der "inalienabilia iura hominum" zur Aufgabe. In c. 88 § 1 wurde die individuelle Religionsfreiheit ausdrücklich als der Menschenwürde und der Offenbarung entsprechend anerkannt und von der Kirche für alle Menschen vindiziert. § 2 desselben Kanons forderte - mit recht pathetischen Worten- die kollektive Religionsfreiheit (wenn auch unter ordre-publicVorbehalt) für alle religiösen Gemeinschaften ein. Dieser Kanon war auch der einzige des gesamten LEF-Schemas, der das Verhältnis der katholischen Kirche zu anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften ansprach. C. 89 beanspruchte für die Kirche eine ihrer Sendung angemessene Freiheit 110• Satz 2 des c. 89 übernahm in nicht gerade glücklicher Abwandlung die Aussage von DH Art. 13: "Libertas Ecclesiae principium est fundamentale quo relationes Ecclesiam inter et potestates publicas totumque civilem ordinem reguntur." 111 103 Hier sprach der TE plötzlich, eine Formulierung Pauls VI. bei einer Konzilsrede aufnehmend, von "societates" statt von "consortia". 104 Hier übernimmt der TE wieder wörtlich die Pastoralkonstitution GS Art. 42. 105 In Anlehnung an GS 36; vgl. dazu oben 1., b). Der in c. 85 § 2 gleichzeitig formulierte "Schöpfungsvorbehalt" stieß auf herbe Kritik Hollerbachs in (Lex Ecclesiae Fundamentalis), S. 323. 106 ,,Praesertim in rebus temporalibus gerendis et muneribus saecularibus exercendis, Christitestimonium [christifideles laieil reddunt, res temporales secundum Deum ordinantes." 101 Hier wird Leo XIII., Immortale Dei, Nr. 6 = UG III, 2116 (2126) wiederaufgenommen. 108 Wegen der grammatikalischen Bezugnahme des§ 2 auf§ 1, in dem von "societas politica" gesprochen worden ist. 109 Einmal davon abgesehen, daß es sich bei diesem Kanon um eine reine Absichtserklärung handelt, will sein Sinn auch deswegen kaum überzeugen, weil das angesprochene Thema bereits in c. 84 § 1 enthalten war. 110 Es fällt die enorme rhetorische Verstärkung auf: "plena et perfecta libertas atque independentia a quacumque humana potestate". Es handelt sich in diesem Satz 1 nicht um eine Konzilsaussage. 111 Art. 13 DH lautete: "Libertas Eccclesiae est principium fundamentale in relationibus inter Ecclesiam et potestates publicas totumque ordinem civilem."
III. Der Weg zu einem neuen Codex
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Die Liste konkreter Einzelfreiheiten hob an mit c. 90 § 1, der Freiheit zur Verkündigung des Evangeliums, und setzte sich fort in der im kirchenrechtlichen Umfeld neuen Aussage "principia moralia etiam de ordine sociali annuntiare rebus humanis, quatenus personae humanae iura fundamentaha aut animarum salus id exigant" 112• Unter Erwähnung eines allgemeinen Erziehungsziels 113 reklamierte c. 91 Schulgründungsfreiheit, c. 92 postulierte eine Art Medienzugangsrecht, c. 93 114 proklamierte unter der bemerkenswerten Bezugnahme auf die Glieder der Gesamtkirche eine Art generelle Missionsfreiheit, wie sie allerdings auch schon in c. 89 Satz 1 und 2 angesprochen wurde. C. 94 war ein inhomogenes Konglomerat von Rechten: § 1 wollte die freie Ämterbestellung sichern, § 2 die ungehinderte Klerikerausbildung, § 3 die freie caritative Betätigung und § 4 die Abgabenhoheit und Vermögensfähigkeit der Kirche 115 • C. 95 § 1 führte aus, daß die Kirche auf internationaler Ebene die Völkerverständigung und, im Vergleich zum TP neu, die Gerechtigkeit zu fördern gedenke. Dies wurde in § 2 dahingehend erläutert und bekräftigt, daß die Kirche ihre solidarische Teilnahme nur an solchen Projekten versprach, die dem Frieden und der Förderung des Geistes des Evangeliums dienen. Bei dem Versuch, dieses Caput III TE in die Tradition der katholischen Doktrin vom rechten Verhältnis von Kirche und Staat zu stellen, ist zunächst anzumerken, daß in der Tatsache, daß der TE dem Verhältnis der Kirche ad extra ein eigenes Kapitel zubilligt 116, die bis dato gebräuchliche Unterteilung von Ius Publicum Externum und Jus Publicum Internum Ecclesiae noch durchschimmert. In dem Beharren des Entwurfs auf der eigengearteten, grundsätzlich unpolitischen Sendung der Kirche wird die altehrwürdige "Finis"-Argumentation des IPE in einer theologisch griffigeren Weise aufgenommen. Das Autonomiepostulat sowie der Katalog konkreter Einzelfreiheiten, die daraus abgeleitet worden sind, werden schon sprachlich stereotyp mit "Ecclesiae competit ius" wiedergegeben. Sie zeigen eine deutliche Kontinuität zu den früheren Aussagen. Aber auch die Methode der Deduktion eines Grund(freiheits)rechts aus einer theologischen Aussage sowie die deduktive Entfaltung von Einzelfreiheiten aus dem Basisfrei112 Hollerbach (Entwicklungen), S. 77, glaubt in dieser Aussage eine Neuformulierung des kirchlichen Anspruchs "in dem früher von dem Gedanken der ,potestas indirecta' beherrschten Bereich" zu entdecken. Ähnlich Calvo, S. 192, für die (auch) zugrundeliegende Konzilserklärung AA 24. 113 Eine Zusammenstellung aus den Art. 3, 6 und 8 GE; LThK, Suppl. II., S. 366-402. 114 "Eam libertatem sibi vindicat Ecclesia quae sibi competit quatenus est societas hominum qui iure gaudent vivendi in societate civili secundum fidei christianae praescripta atque ideo participandi omnia quae ipsis praebet Ecclesia salutis media." 11s Es handelte sich um eine Wiederaufnahme von c. 1495 §I CIC/ 1917. Weitere Bezugnahmen des TE, Caput III auf den alten CIC fanden sich in c. 90 § I (c. 1322 CIC/ 1917), c. 91 (c. 1375 CIC/ 1917) und c. 94 § 2 (c. 1352 CIC/ 1917). 116 Kapitel I TE- "De Ecclesia seu Populo Dei" -enthielt die allgemeinen Christgläubigenpflichten und -rechte sowie die hierarchische Struktur der Kirche; Kapitel II - "De Ecclesiae Muneribus" handelte vom Lehr-, Hirten- und Leitungsamt der Kirche.
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1. Kap.: "Societas Perfecta" und "Populus Dei"
heilsrecht ist dieselbe geblieben. Geändert hat sich hingegen die Einschätzung des richtigen Abstands der zwei "societates supremae" (vgl. c. 86 § 1 TE). Eine Übernahme von kirchlichen Glaubens- oder Lehrinhalten durch den Staat wird weder erwartet noch gar gefordert, sondern die grundsätzliche Nichtidentifikation des Staates mit religiösen Anschauungen als das rechte Verhältnis vorausgesetzt und mit GS Art. 76 eine "sana cooperatio" (c. 86 § 2 TE) von Kirche und "societas politica" befürwortet. Daneben ist eine Rezeption der neuzeitlichen individuellen Freiheitsrechte zu konstatieren. Die Kirche macht sich zur Anwältin der Menschenrechte (cc. 85 § 2; 87 § 2; 90 § 2), indem sie sich selbst an sie bindet und sie für alle zu schützen verspricht. Die im 2. Vaticanum vorangetriebene Entinstitutionalisierung der Betrachtungsweise des Verhältnisses Kirche Staat kommt im TE nur sehr blaß, nämlich in Form eines Appendix zum c. 85 § 2 zum Tragen. Hingegen wurde die perspektivische Erweiterung des Problemkomplexes Kirche - Staat in jenen von Kirche - Menschliche Gemeinschaften bewußt in normative Aussagen umzusetzen versucht 117 • Im Spiegel der Kritik werden allerdings Inhalte wie Defizite des zitierten TEAbschnittes noch klarer. Mit C. Corral 118 lassen sich drei grundsätzliche Kritikpositionen unterscheiden: (a) die Position derjenigen, die befürworten, das Caput 111 ganz fallenzulassen. Ihre Begründung: -das Caput III entspreche nicht dem Kirchenverständnis des 2. Vaticanum, denn es operiere noch immer mit der Blickverengung auf die beiden höchsten Gesellschaften (so namentlich G . Alberigo119; - es genüge eine Norm, die den für den Abschluß von Konkordaten zuständigen und damit kompetenten kirchlichen Gesprächspartner für bilaterale Fragen festlege (so die Kanonisten der spanischen Zeitschrift ,,Ius Canonicum" 120); (b) das Caput III müsse grundlegend überarbeitet werden, insbesondere was die systematische Ordnung anbelangt (vertreten durch das "Colloquium Hispano-Germanus", Salamanca 1972 121 ); (c) es könne, mit mehr oder weniger tiefgreifenden textlichen Verbesserungen, erhalten bleiben wie es ist (so die Studienkreise von Kanonisten, die sich nach ihrem Tagungsort als Münchener bzw. Heidelberger Kreis bezeichnen lassen 122). Diese drei Grundpositionen finden sich auch in den bischöflichen Stellungnahmen zum TE wieder 123 . Hinter diesen Grundpositionen stehen kritische Einzelbeobachtungen sowohl in methodischtechnischer wie in materieller Hinsicht. 111 Vor allem in den beiden Anfangskanones cc. 84 und 85. 11s (De Relatione), S. 630 I 631. 119 Una !egge costituzionale per Ia Chiesa: garanzia di restaurazione, in: Concilium (ital.) 7 (1971), S. 189-192. 120 Nachweis bei Corral (De relatione), S. 630, Anm. 11. 121 A. a. 0 ., Anm. 87. 122 Der Münchner Kreis: W. Aymans et al., Lex Ecclesiae Fundamentalis. Bericht über die Arbeitsergebnisse eines kanonistischen Symposions in München 1971, in: AfkKR 140 (1971), S. 407 -506; Der Heidelberger Kreis: P. Weber, Coetus Peritorum Heidelbergensis, in: PerRMCL 62 (1973), S. 423-466. 123 Wiedergegeben in der Relation Onclins, COMM 4 (1972), S. 157-159.
III. Der Weg zu einem neuen Codex
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Die methodische Kritik läßt sich in Kritik an der Systematik sowie Kritik an sprachlicher Formulierung einteilen. Zum erstgenannten Kritikpunkt: selbst wenn man die Notwendigkeit eines eigenen Kapitels "De Ecclesia et hominum consortione" bejaht, ergeben sich folgende Bedenken: -
c. 84 § 2 erscheint falsch eingeordnet; seine Gehorsamspflicht gehört viel eher in den Abschnitt über Grundrechte und -pflichten der Gläubigen;
-
c. 87 § I muß vorgezogen werden zu dem ihm inhaltlich korrespondierenden c. 85 § 1. Als eigener Kanon ist er im Grunde ebenso überflüssig wie c. 92;
-
c. 93 beruht zwar auf Art. 13 DH, ist aber zum einen schon in c. 84 § 1 mitenthalten, zum anderen wird der Sinn, den die Aussage in DH 13 als eine Art zweites, nämlich sozialphilosophisches Bein für die Kirchenfreiheit neben dem "mandatum divinum" hat, hier in der LEF nicht mehr deutlich; c. 94 ist besser in einzelne Kanones zu zerlegen, was die Aussagetransparenz erhöhen würde; c. 95 könnte auch vorgezogen werden, weil in ihm die Gleichung Universalität der Sendung = Universalität der kirchlichen Präsenz Ausdruck findet und die Sendung der Kirche in den ersten Kanones des Abschnitts ausgesprochen wird.
Sprachliche Schwierigkeiten sind (das Problem der oft unreflektiert wörtlich übernommenen theologischen Aussagen des 2. Vaticanum sogar ausgeklammert) die Inkonstanz im Wortgebrauch und zum andem Fehlgriffe in der Terminologie. Beispielhaft seien aufgeführt: während c. 85 § 2 von "inalienabilia iura personae humanae" bzw. c. 87 § 2 von "inalienabilia iura hominum" spricht, redet c. 90 § 2 von "personae humanae iura fundamentalia". Die cc. 84 und 85 bieten ein buntes Sammelsurium von Ausdrücken für menschliche Sozialverbände: "humanae consortiones"; "consortia temporalia hominum"; "societates temporales"; "societas politica", sogar die ganze Menschheit firmiert als "communitas hominum". Stattdessen hätte dem Entwurf die durchgehende Verwendung des Ausdrucks "communitas" für die Kirche selbst statt des mehrmaligen Rekurses aus den Begriff "societas" gut angestanden 124• Ein klarer terminologischer Fehlgriff ist das "subditos" in c. 86 § 1, durch das das staatliche Untertanenmodell unreflektiert auf den kirchlichen Bereich übertragen wird 125 • Vgl. die Anregung amerikanischer Bischöfe, zit. bei Beyer (Redactione), S. 545. In beiden Codices ist der "subditus" eine geläufige Erscheinung, von einer konzeptuellen Änderung ist im neuen CIC nichts zu spüren, im Gegenteil! Vgl. für den alten Kodex die cc. 201 § 3; 501 § I; 593; 962; 1043; 1509, 7°; 2186; 2214 § l ; 2253, 3°; 2413 § l CIC/ 1917. Für den neuen CIC mißlich: c. 87 § 1 (Bischöflicher Dispens von Gesetzen, die für seine "subditi" [fideles!;G.] erlassen worden sind) und c. 91. Sehr deutlich auch c. 136: "Potestas exsecutivam aliquis, licet extra territorium existens, exercere valet in subditos [Hervorhebungen vom Verf.], etiam a territorio absentes, nisi aliud ex rei natura aut ex iuris praescripto constet. . . " Vgl. darüberhinaus cc. 618; 630 § 4; 751 ; 862; 885 § 2; 124
125
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1. Kap.: "Societas Perfecta" und "Populus Dei"
Die inhaltliche Kritik läßt sich auf 3 Stichworte bringen: (a) Kompetenzüberschreitung; (b) Ökumenische Unterbilanz; (c) Hierarchische Engführung. Ad (a): Vor allem J. Neumann sieht im Caput III TE und insbesondere in seinen cc. 8994 den "Versuch, einseitig Konkordatsbestimmungen zu formulieren" 126• Damit, so Neumann, handele es sich um eine "differenzierte Neuauflage der sogenannten ,potestas indirecta', um macchiavellistische Anweisungen an die weltlichen Mächte für den Umgang mit der Kirche, die gegenüber demokratischen Staaten unnötig und gegenüber totalitären unwirksam sind." 127 • Ad (b): Alle Kritiker sind sich darin einig, daß dieLEFauch ihr Verhältnis zu anderen religiösen und christlichen Gemeinschaften klarstellen müsse. Ad (c): Nicht wenige Kritiker sehen einen ekklesiologischen Bruch zwischen dem Bild einer als Gemeinschaft in der Zeit pilgernden Kirche, die dem Wohl der Menschen dienen will in den cc. 84, 85 § 1, 87 und dem einer staatsähnlichen, nach Befehl und Gehorsam funktionierenden "societas perfecta" in den cc. 86 § 1, 88-94 128 • Dadurch beschränke sich die Kirche auf ihren hierarchischen Aspekt. Der Auftrag der Laien gerade zur Gestaltung in politischen Angelegenheiten werde davon überlagert. So zeigte sich am TE zwar deutlich ein neues, wenn der Vergleich erlaubt ist, melodisches Thema, dessen Durchführung jedoch an manchen Dissonanzen krankte. Der Entwurf, hier nur nach seinem dritten Teil beurteilt, erwies sich als noch nicht ausgereift.
c) Die späteren Überarbeitungen dieses Abschnitts In weiteren 5 Sitzungen 129 erarbeitete der Coetus LEF unter Berücksichtigung der bischöflichen Voten und der literarischen Kritik ein neues Schema, das 1976 fertiggestellt, aber nur den Mitgliedern der PCR sowie der PCRO zugeleitet wurde. Der Wortlaut dieses Schemas, des Textus Recognitus (TR), läßt sich allerdings aus den Sitzungsberichten erschließen, die in den COMMUNICATIONES veröffentlicht wurden 130• Dieser neuerliche Entwurf wich in erheblichem Maße vom TE ab. Schon ein Blick auf die Gliederung der beiden Schemata belegt das: 886 § 1 und§ 2; 967 § 3; 968 § 2; 969 § 2; 974 § 4; 1015 § 2; 1019 § 1; 1025 § 3; 1030; 1052 § 2; 1054; 1077 § 1; 1078 § 1; 1079 § 1; 1109; 1110; 1196, 1°; 1245; 1355 § 2; 1373; 1383. 126 Neumann (Gespött), S. 40. Von "typischer Konkordatsmaterie" spricht auch R. Strig1 (Marginalien), S. 26. 121 Ebda. 128 W. La Due, S. 8; Hollerbach (Lex Ecclesiae Fundamentalis), S. 325. 129 Sessio VI vom 20.-23.11.1972, COMM 4 (1972), S.120-160 und COMM 5 (1973), S. 196-216; Sessio VII vom 17.-22.12.1973, COMM 6 (1974), S. 60-74; Sessio VIII vom 23. -26.4. 1974, COMM 8 (1976), S. 78-108; Sessio IX vom 17. -21.3. 1975, COMM 9 (1977), S. 83-116; Sessio X vom 23.-27.2.1976, COMM 9 (1977), S. 274303. 130 Schmitz (Reform), S. 52; eine solche Rekonstruktion in deutscher Sprache findet sich in HerdKorr 32 (1978), S. 623-632.
III. Der Weg zu einem neuen Codex TE (1971)
89 TR (1976)
. I.
Präambel Kapitell: Die Kirche oder das Volk Gottes
Teil/: Über die Kirche
Art. I: Die Gesamtheit der Christgläubigen
Kap. 1: Über alle Christgläubigen
Art. 2: Die kirchliche Hierarchie
Kap. 2: Die hierarchische Struktur der Kirche
./.
Kap. 3: Die Sendung der Kirche und die mit ihr verbundenen Rechte
Kapitell/: Die Dienste der Kirche
Teil I/: Die Dienste der Kirche
Art. 1: Verkündigungsdienst
Kap. 1: Verkündigungsdienst
Art. 2: Heiligungsdienst
Kap. 2: Heiligungsdienst
Art. 3: Hirtendienst
Kap. 3: Hirtendienst
./.
Kapitel l/1: Die Kirche und die menschliche Gesellschaft
./.
Schlußbestimmungen
Ein eigenes Kapitel "De Ecclesia et humana consortione" existierte also nicht mehr. Dies bedeutete jedoch nicht, daß die Sache selbst aufgegeben worden wäre. Vielmehr sind die Normen des Caput III TE in die zwei "Restkapitel" des TR eingearbeitet worden. Sie finden sich nunmehr in Teil I., Kap. 3 und in Teil II., Kap. 1 und Kap. 3. Im einzelnen sind folgende Änderungen zu verzeichnen: (1) Weglassen ganzer Paragraphen
-
c. 84 § 2 über die Gehorsamspflicht der Gläubigen gegenüber den von den Hirten der Kirche vorgelegten Prinzipien über die Beziehung Kirche "hominum consortia temporales fines prosequentia";
-
c. 88 § 1, die Vindikation der (individuellen) libertas religiosa für alle Menschen; c. 88 § 2 als Vindikation der korporativen Religionsfreiheit für alle Kirchen, kirchlichen Gemeinschaften und übrigen religiösen Gemeinschaften.
-
(2) Weglassen von Sätzen oder Satzteilen -
c. 84 § 1, jetzt c. 50 § 1, ist reduziert auf seinen Satz 1; Satz 2 mit der Beschreibung der Kirche als Ferment und Seele der ganzen Menschheit wurde fallengelassen;
90 -
1. Kap.: "Societas Perfecta" und "Populus Dei"
c. 87 § 2, nunmehr c. 52 § 2, läßt den dem TP erst hinzugefügten Zusatz "und nicht zuletzt die Würde der Menschen schützen und deren unveräußerlichen Rechte gewährleisten" wieder weg. (3) Umstellungen von Normen
-
-
Im neuen Kapitel "Sendung der Kirche" findet man nun: c. 87 § 2 TE vorgezogen als c. 51 § 2 TR. C. 86 tritt als c. 53 dahinter zurück. Beide bilden die theologischen Einleitungskanones zum Abschnitt. C. 53 ist neu zusammengesetzt als Art kirchenrechtlicher Zentralkanon: c. 89 Satz 3 TE wird vorgezogen und dem früheren c. 86 vorangestellt. Das ergibt eine interessante Verknüpfung von 2. Vaticanum und Leo XIII. und bildet so einen manifesten Ausdruck des Kontinuitätsbestrebens der LEF-Redaktoren. Auch c. 95 TE wird vorgezogen und taucht nun als c. 54 TR auf. Im Kapitel "Verkündigungsdienst" erscheinen: die früheren cc. 90 und 92, letzterer nun einfach als Parenthese im neugefaßten c. 57; c. 91 (über die Schulgründungsfreiheit und das kirchliche Erziehungsziel) wird zum c. 65. Im Kapitel "Hirtendienst", der die "potestas regiminis" behandelt, wird c. 94 umgruppiert und aufgeteilt und bildet nun die cc. 81 und 82. (4) Umformulierungen Von paradigmatischer Bedeutung erscheint die Umformulierung der "libertas Ecclesiae" i.m bisherigen c. 89 Satz 3 zum neuen c. 53 § 1, wo von der "libertas in re religiosa" die Rede ist 131 •
-
In c. 53 § 2, der Anleihe bei "Immortale Dei" , wird statt des bisherigen "societas politica" auf den Einwand eines Konsultors hin "societas civilis" approbiert. "Subditos" im selben Kanon wird zu "homines suae [Ecclesiae] ditionis"; das freischwebende "suprema" bleibt allerdings 132• Daß damit Schwierigkeiten im Vorstellungsbild mancher Konsultoren heraufbeschworen wurden, beweist eine Intervention, die sich gegen das "afferendi lucem" im neuen c. 50§ 2 (dem früheren c. 85 § 1) wendet, weil dadurch die "potestas coactiva" der Kirche nicht zum Ausdruck komme 133 • Dem antwortet ein anderer Konsultor mit dem "schlagenden" Argument, daß die potestas coactiva im Zusammenhang dieses Kanons doch gar nicht Platz greifen könne, weil er die 131
Als Alternative wurde auch vorgeschlagen "libertas religionis" : COMM 9 (1977),
s. 102. 132 133
Ebda. Ebda., S . 98.
III. Der Weg zu einem neuen Codex
91
Beziehung der Kirche zur ganzen Menschheit behandle, der Kirche aber potestas coactiva nur gegenüber den Gläubigen "sive subditos" zukomme 134! Vergleichbares Denken offenbaren die Stellungnahmen zu c. 54 TR (c. 95 TE). Die Forderung eines Konsultors, die internationale Rechtspersönlichkeit der Kirche mit "quia omnibus hominibus est destinata" zu begründen, wehrt Relator Onclin ab: die Kirche habe Rechtspersönlichkeit, weil sie "die höchste Gesellschaft in der geistlichen Ordnung" (societas suprema in ordine spirituali) sei. Den Konsultoren bleiben zwar Restzweifel, so daß sie anregen, den c. 54 neu und kürzer zu fassen l3s. Das allerdings unterblieb 136. Zusammenfassend läßt sich zu dieser ersten Überarbeitung sagen: durch eine einschneidende systematische Änderung, durch die das Caput III TE in die anderen beiden Kapitel des LEF-Entwurfes eingearbeitet wurde, wurde der theologische Zusammenhang zwischen kirchlicher Sendung und Präsenz der Kirche in der menschlichen Gemeinschaft klarer herausgearbeitet. Im ganzen läßt sich auch eine Straffung der Aussagen "ad extra" feststellen. Es bleiben aber noch immer Unklarheiten: -
Der Laienauftrag wurde nach wie vor nicht klar formuliert. Denn nur in diesem Zusammenhang läßt sich wohl zweifelsfrei und unmißverständlich von "libertas in re religiosa" sprechen.
-
Das im institutionellen Kontext m. E. treffendere "libertas Ecclesiae" wurde ohne Not aufgegeben. Insofern scheint mir auch der c. 105 des Münchener Alternativentwurfes nicht korrekt zu sein, in dem es lapidar hieß: "Libertas fundamentale est principium quo relationes Ecclesiam inter et potestates publicas totumque ordinem civilem reguntur." 137 • Sein § 2 bezieht sich wiederum nur auf den Staat, die "societas civilis". Das muß im Vergleich zur konziliaren Auffassung als verengend angesehen werden 138.
Am 24.-29.9.1979 sowie am 7.-12.1.1980 139 traf sich der Coetus LEF erneut, um über das Schema des TR zu beraten und einen neuen Entwurf, der die endgültige Vorlage parallel zum CIC-Schema bilden sollte, fertigzustellen. Ver134 135 136
s. 63.
Ebda. Ebda., S. 103. Vgl. den genau entsprechenden Kanon c. 55 im TN von 1980; COMM 13 (1981),
m AfkKR 140 (1971), S. 502 oben. Ein Kanon, der das grundlegende Prinzip des Staat-Kirche-Verhältnisses formuliert, müßte nach meinem Dafürhalten etwa folgenden Wortlaut haben: "Independentia et autonomia in toto ordine temporali, praesertim in relationem ad societatem civilem, secundum propriam missionem spiritualem gaudet Ecclesia, quae est in campo suae missionis pro fidelibus omnibus in ea congregati auctoritas suprema." - "Der Kirche gebührt in allen zeitlichen Dingen, besonders im Verhältnis zu den Staaten, Unabhängigkeit und Autonomie nach Maßgabe ihrer eigenen, geistlichen Sendung, in deren Rahmen sie für alle ihr zugehörenden Gläubigen (die) höchste Autorität ist." 139 COMM 19 (1987), S. 307. 138
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1. Kap.: "Societas Perfecta" und "Populus Dei"
folgt man die Angaben darüber in den COMMUNICATIONES 140, so ergibt sich unter Berücksichtigung der dort beschlossenen Textänderungen 141 folgende letzte Fassung der kirchenstaatsrechtlich relevanten Artikel einer geplanten LEF: "can. 50 § 1. Ecclesia, quae est communitas spiritualis fidelium, his in terris in societatem hierarchice ordinatam constituta est ad regnum Dei, a Christo inchoatum, assistente et vivificante Sancto Spiritu, ulterius in hoc mundo dilatandum, donec in fine saeculorum in lpso consumetur. § 2. Ecclesia igitur missionem habet sibi propriam, non quidem ordinis politici, oeconomici vel socialis, sed ordinis religiosi, cuius ratione munus sibi vindicat afferendi lucem et vires quae hominum communitati, secundum Iegern divinam constituendae et firmandae, inservire possunt, firmo quidem praescripto can. 58 § 2.
can. 51 § 1. Ecclesia temporalium rerum societatumque ordinis temporalis propriam agnoscit autonomiam, cuius ratione, servato quidem ordine a Creatore in ipsa rerum natura condito, res creatae et ipsae societates temporales propriis legibus valoribusque gaudent, secundum quos homines, agnitis quidem et firmis inalienabilibus personae humanae iuribus, ordinem temporalem libere exstruunt; christifideles quidem, prae aliis laici, iuxta propriam vocationem, curent ut secundum Deum ordinentur res terrenae atque ipsae consortiones temporales. § 2. Cum vi suae naturae et missionis ad nullam alligetur peculiarem culturae humanae formam, ad nullum etiam politicum, oeconomicum vel sociale systema, Ecclesia, ex hac sua universalitate, ligamen inter diversas hominum communitates et nationes exsistere potest, praesertim ubi ipsae eidem fident eiusque veram libertatem ad suam missionem adimplendam agnoscant.
can. 52 Ecclesia, evangelicae veritati fidelis , libertatem religiosam, tamquam hominis dignitati et Dei revelationi consonam, agnoscit atque vindicat omnibus hominibus, qui quidem, turn singuli turn inter se consociati, ab omni coactione ex parte sive singulorum sive coetuum socialium et cuiusvis potestatis humanae immunes esse debent ut secundum suam conscientiam vitam religiosam, privatim et publice, intra debitos limites ducere valeant. can. 53 § 1. Ecclesiae ius est ut ea semper fruatur libertate, quam salus hominum curanda requirit; in sua missione adimplenda (...) plena et perfecta (...) gaudere libertate atque independentia a quacumque humana potestate, atque nemini licet huius missionis exercitium directe vel indirecte impedire. § 2. Eam libertatem quoque sibi vindicat Ecclesia quae sibi competit quatenus est societas hominum qui iure gaudent vivendi in societate civili secundum fidei christianae praescripta atque ideo recipiendi omnia quae ipsis praebet Ecclesia salutis media.
COMM 12 (1980), S. 25-47; COMM 13 (1981), S. 44-110. Kürzungen werden im Normtext ( . ..) markiert, Wortänderungen fett und Einschübe in kursiv gesetzt. 140 141
III. Der Weg zu einem neuen Codex
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cano 54 § 1. Libertas in re religiosa principium est fundamentale quo relationes Ecclesiam inter et potestates publicas totumque civilem ordinem regunturo § 20 Ecclesia et societas civilis in proprio ordine sunt ab invicem independentes et autonomae; utraque, Iicet certos habeat quibus contineatur terminos, sua cuiusque natura et missione definitos, in suo genere est (o o) supremao 0
§ 30 Quoniam autem ambae, licet diversa ratione, eorundem hominum vocationi personali
et sociali inserviunt, munus suum proprium in membrorum suorum bonum efficacius adimplent, cum sanam cooperationem, quantum id Iocorum temporumque adiuncta suadeant, aut sinant, inter se colant. cano 55 § 10 Ecclesia, personam quidem habens in societate gentium universali, in eadem cum societatibus civilibus vires coniungit ad iustitiam, cooperationem, concordiam et pacem inter omnes gentes fovendaso § 20 Huius quidem societatis gentium operas et actiones Ecclesia participat tantum in causis quae ad missionem suam spiritualem pertinent, praesertim ad pacem in spiritu Evangelii in mundo fovendamo
cano 58 § 10 Ecclesiae, quippe cui Christus Dominus fidei depositum concrediderit ut ipsa, Spiritu Sancto assistente, veritatem revelatam sancte custodiret, intimius perscrutaretur, fideliter annuntiaret atque exponeret, officium est et ius nativum, etiam mediis communicationis socialis sibi propriis adhibitis, a qualibet humana potestate independens, omnibus gentibus Evangelium praedicandi. § 20 Ecclesiae competit semper et ubique principia moralia etiam de ordine sociali annuntiare, necnon iudicium ferre de quibuslibet rebus humanis, quatenus personae humanae iura fundamentalia aut animarum salus id exigant.
cano 66 Ecclesiae competit ius institutionem religiosam et moralem curandi itemque ius erigendi et dirigendi cuiusvis generis et gradus scholas aliaque educationis instituta, in quibus integram iuvenum institutionem et formationem fide illuminatam iuvenum prosequitur,(o oo) quos parentes, primi ac praecipui eorum educatores, eiusdem concredunt, iuvat in propria persona secundum Dei consilium plenius evolvendao cano 82 § 1. Ecclesiae competit ut, libere et independenter a quavis humana potestate, regimen christifidelium spirituale curet, atque servatis legibus divinis societatis ecclesiasticae constitutionem ordineto § 20 Uni auctoritate Ecclesiae competenti ius est admittendi eos quibus animus est ad ministerium in Ecclesia se conferre, atque curandi ut apte praeparentur ac instituantur Ecclesiae ministri, ita ut veri animarum pastores efformentur, habiles qui officia sibi in Ecclesia commissa diligenter implere valeant. § 30 Uni auctoritati ecclesiasticae competenti ius est proprium, peculiare et (o 0o) exclusivum, nominandi, instituendi atque transferendi Episcopos ceterosque Ecclesiae ministros, secundum Ieges Ecclesiae propriaso
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l. Kap.: "Societas Perfecta" und "Populus Dei"
§ 4. Nemini impedire licet quominus auctoritates ecclesiasticae cum Apostolica Sede, cum aliis auctoritatibus ecclesiasticis et cum christifidelibus libere communicent.
can. 83 § 1. Ecclesiae, ut divinum mandatum caritatis erga proximum exsequi valeat simulque ipsa sua actione caritatem praedicet, competit, ut, quantum locorum temporumque adiuncta id suadeant, opera caritatis et misericordiae erga egenos et infirmos erigat, atque opera caritativa mutui auxilii, quibus omnimodae necessitates humanae subleventur, ordinet. § 2. Ecclesiae, in procurando bono hominum spirituali, rebus temporalibus eget et utitur, quantum propria eius missio id postulat; quare ipsi ius competit nativum acquirendi, retinendi atque administrandi ea bona temporalia quae ad fines sibi proprios, praesertim ad cultum divinum ordinandum, ad honestam ministrorum suorum sustentationem necnon ad opera apostolatus vel caritatis exercenda, requiruntur."
Zum besseren Verständnis gebe ich hier eine von mir gefertigte Übersetzung, die sich möglichst nahe an den Originaltext hält und nach Möglichkeit auch die meiner Meinung nach vielfach zu komplizierten Satzstrukturen der lateinischen Vorlage respektiert. "can. 50 § 1. Die Kirche, geistliche Gemeinschaft der Gläubigen, ist hier auf Erden als hierarchisch geordnete Gesellschaft verfaßt, um - durch Christus berufen und vom Heiligen Geist bestärkt und lebendig gemacht- das Reich Gottes in dieser Welt auszubreiten, bis es am Ende der Zeit in Ihm aufgeht. § 2. Die Kirche hat deshalb ihre eigene Sendung, die nicht der politischen, wirtschaftlichen oder sozialen, sondern der religiösen Ordnung angehört. Daher beansprucht sie für sich die Aufgabe, Licht und Kraft zu bringen, die dem Aufbau und der Stärkung der Gemeinschaft der Menschen dienen können, die mit dem göttlichen Gesetz aufzubauen und zu festigen ist. Kanon 58 § 2 bleibt dabei unberührt.
can. 51 § l. Die Kirche anerkennt die besondere Autonomie der zeitlichen Dinge und zeitlichen Gesellschaften, durch die sich, vorbehaltlich der vom Schöpfer in der Natur dieser Dinge grundgelegten Ordnung, die erschaffenen Dinge und die genannten zeitlichen Gesellschaften ihrer eigenen Gesetze und Werte erfreuen, nach denen die Menschen in Erkenntnis auch der festen, unveräußerlichen Rechte der menschlichen Person, die zeitliche Ordnung frei auferbauen; die Christgläubigen aber, und unter ihnen vor allem die Laien entsprechend ihrer besonderen Berufung, sollen sich darum bemühen, daß die irdischen Angelegenheiten und dieselben zeitlichen Gemeinschaften gottgefällig geordnet werden. § 2. Keiner besonderen Form menschlicher Kultur oder irgendeinem politischen, wirtschaftlichen oder sozialen System verpflichtet, vermag die Kirche kraft ihrer Natur und Sendung undkraftihrer Universalität als Band zwischen den verschiedenen menschlichen Gemeinschaften und Nationen zu wirken, besonders wo diese selbst ihr vertrauen und ihre wahre Freiheit zur Erfüllung ihrer Sendung anerke!Ulen.
can. 52 Treu der Wahrheit des Evangeliums anerkennt die Kirche die Religionsfreiheit, die der Menschenwürde und der Offenbarung Gottes entspricht und fordert sie ein für alle Menschen, damit diese, einzeln oder in Gemeinschaften, frei vonjedem Zwang einzelner,
III. Der Weg zu einem neuen Codex
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irgendwelcher Verbände oder anderer menschlicher Mächte entsprechend ihrem Gewissen privat oder öffentlich unter Wahrung der geziemenden Grenzen ihr religiöses Leben zu führen vermögen. can. 53 § I. Es ist das Recht der Kirche, daß ihr stets die Freiheit gewährt wird, die sie benötigt, um sich um das Heil der Menschen zu bemühen. Bei der Erfüllung ihrer Sendung erfreut sie sich völliger und vollkommener Freiheit gegenüber jedweder menschlichen Macht, und es ist niemandem erlaubt, sei es unmittelbar, sei es mittelbar, die Ausübung dieser Sendung zu behindern. § 2. Auf diese Freiheit beruft sich die Kirche darüberhinaus, als sie ihr zukommmt, insoweit sie Gesellschaft von Menschen ist, die sich des Rechts erfreuen, im Staat entsprechend der Gebote des christlichen Glaubens zu leben und ebenso all die Dinge zu erhalten, die ihnen die Kirche zu ihrem Heil darreicht.
can. 54 § 1. Die Religionsfreiheit ist das Grundprinzip, durch das die Beziehungen zwischen der Kirche, den öffentlichen Gewalten und der gesamten zivilen Ordnung bestimmt werden. § 2. Kirche und Staat sind in ihrer Ordnung voneinander unabhängig und autonom. Wenn auch beide bestimmte, durch die je eigene Natur und Sendung umschriebene Grenzen haben, sind sie doch jede in ihrem Bereich in Bezug auf die ihnen zugehörenden Menschen höchste [Gesellschaft]. § 3. Weil aber beide, wenn auch unter verschiedenem Gesichtspunkt, der persönlichen und sozialen Bestimmung derselben Menschen dienen, erfüllen sie ihren je eigenen Dienst zum Wohle ihrer Glieder besser, wenn sie eine gesunde Zusammenarbeit unter sich pflegen, soweit es die Umstände von Zeit und Ort empfehlen oder zulassen.
can. 55 § I. Die Kirche, die in der universalen Völkergemeinschaft Rechtsperson ist, verbindet
in ihr mit den Staaten ihre Kräfte, um Gerechtigkeit, Zusammenarbeit, Eintracht und Frieden zwischen allen Völkern zu fördern.
§ 2. Sie nimmt teil an den Werken und Unternehmungen der Völkergemeinschaft, soweit diese sich auf ihre geistliche Sendung beziehen, insbesondere aber, um den Frieden in der Welt im Geiste des Evangeliums zu fördern.
can. 58 § I. Es ist die Pflicht und das angeborene Recht der Kirche, der Christus der Herr das Glaubensgut anvertraut hat, damit sie die geoffenbarte Wahrheit mit Hilfe des Heiligen Geistes heilig bewahre, genauer durchdringe und gläubig verkünde und auslege, von jedweder menschlichen Macht unabhängig und mit Hilfe der ihr eigenen Verständigungsmittel, allen Völkern das Evangelium zu predigen. § 2. Der Kirche steht zu, immer und überall die moralischen Prinzipien auch über die soziale Ordnung zu verkünden und alles Menschliche zu beurteilen, soweit die Menschenrechte oder das Seelenheil es erfordern.
can. 66 Der Kirche steht das Recht zu, für die religiöse und moralische Unterweisung zu sorgen und daher Schulen jeglicher Art und Stufe sowie andere Bildungseinrichtungen zu
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1. Kap.: "Societas Perfecta" und "Populus Dei"
griinden und zu leiten, in denen die umfassende Unterrichtung und Ausbildung der Jugend im Lichte des Glaubens gepflegt wird. Durch diese Einrichtungen hilft die Kirche denjungen Menschen, die ihr die Eltern, ihre ersten und bevorzugten Erzieher, anvertrauen, die eigene Person entsprechend dem Ratschluß Gottes vollkommener auszubilden. can. 82 § 1. Der Kirche steht es zu, sich frei und unabhängig von jedweder menschlichen Macht um die geistliche Leitung der Christgläubigen zu sorgen und unterWahrungder göttlichen Gesetze die Verfassung der kirchlichen Gesellschaft zu ordnen.
§ 2. Einzig der zuständigen kirchlichen Autorität kommt das Recht zu, die aufzunehmen, die sich in den Dienst der Kirche stellen wollen, und dafür zu sorgen, daß sie in geeigneter Weise vorbereitet und dem Dienst der Kirche eingegliedert werden, auf daß sie sich geeignet erweisen, die Ämter sorgsam zu erfüllen, die ihnen in der Kirche übertragen werden. § 3. Einzig der zuständigen kirchlichen Autorität kommt das eigene, besondere und ausschließliche Recht zu, Bischöfe und alle übrigen Diener der Kirche entsprechend ihren eigenen Gesetzen zu benennen, einzusetzen und zu versetzen.
§ 4. Niemandem ist es erlaubt, irgendwelche kirchlichen Autoritäten daran zu hindern, mit dem Apostolischen Stuhl, untereinander oder mit den Christgläubigen frei zu verkehren.
can. 83 § 1. Um den göttlichen Auftrag der Nächstenliebe ausführen zu können und zugleich in ihrem Handeln die Liebe zu verkündigen, steht es der Kirche zu, soweit es die örtlichen und zeitlichen Umstände erfordern, Werke der Liebe und Barmherzigkeit zugunsten der Bedürftigen und Kranken zu errichten und karitative Werke gegenseitiger Hilfe, durch die alle Arten menschlicher Bedrängnisse gelindert werden, zu ordnen. § 2. Die Kirche benötigt und gebraucht in ihrer Sorge um das Seelenheil Vermögen, soweit es ihre Sendung erfordert; deshalb kommt ihr selbst das angeborene Recht zu, das Vermögen zu erwerben, zu veräußern und zu verwalten, das sie für die ihr eigenen Zwecke, vor allem für Gottesdienst, für angemessenen Unterhalt ihrer Diener und nicht zuletzt um der Ausführung von Werken des Apostolats und der Nächstenliebe willen benötigt."
Damit liegt uns - wenngleich nicht approbiert - die jüngste zusammenhängende, offizielle kirchliche Äußerung zur Staat-Kirche-Problematik vor. Im Vergleich zum TR finden sich sprachliche Glättungen in den cc. 53 § 1 und § 2, 54 § 2, 66, 82 § 1 und § 3. Hauptänderung ist aber auf Vorschlag des Relators Onclin die Wiedereinführung des c. 88 § 1 TE als neuer c. 52, also die Reklamation der Religionsfreiheit (libertas religiosa) für alle Personen und Gemeinschaften. Dabei stellen sich allerdings drei gewichtige Probleme: Wie kann etwas vindiziert werden für solche, die dem vindizierenden Verband gar nicht angehören? Das "vindicare" ergibt dann nur als moralisches "Eintreten für" einen klaren Sinn, nicht aber als "beanspruchen" im strikt juristischen Sinn. Umfaßt das kirchliche Eintreten für die Religionsfreiheit auch deren negative Seite, also das Recht, Atheist oder Agnostiker zu sein, also gerade keine Religion zu haben oder auszuüben? Der Rekurs auf das individuelle Gewissen ("secundum suam
III. Der Weg zu einem neuen Codex
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conscientiam") legt das nahe. Sind "libertas religiosa" in c. 52 und "libertas in re religiosa" in c. 54 § 1 bedeutungsgleich? Man wird auch diese Frage bejahen wollen, wird aber gleichzeitig einräumen müssen, daß damit eine eindeutige Aussage, ob die Kirchenfreiheit aus der individuellen Religionsfreiheit erwächst oder nur ein bloßes Analogon zu ihr ist, noch nicht getroffen ist. Bemerkenswert ist weiterhin, daß anläßlich der Wiedereinführung des c. 88
§ 1 TE in den Coetus-Beratungen eine Grundsatzdebatte um die Fortgeltung der
"societas perfecta"-Doktrin aufbrach, die aber von Onclin mit dem Hinweis abgefangen wurde, inhaltlich sei sie in den Kanones enthalten. Daher glaubte man die Diskussion nicht bis zu einer Einigung fortführen zu müssen, sondern offenbar um des lieben Friedenswillen vorzeitig beilegen zu können 142 • Dieselbe Problematik kam auch bei der Diskussion um den c. 54 TN zum Tragen 143 : 5 Konsultoren wollten § 2 ersetzt wissen durch "Ecclesia et societas politica in proprio ordine sua quisque natura et missione definito, sunt ab invicem independentes et autonomae." Die Formel von den beiden je höchsten Societates sollte also entfallen. Dies scheiterte wiederum nicht zuletzt am Einspruch Onclins. Auch der Alternativvorschlag "in proprio ordine Ecclesia supremitate [Hervorhebung vom Verf.] ex divina institutione" vermochte sich nicht durchzusetzen. Manche Konsultoren waren der Meinung, das Wort "suprema" könne entfallen, weil es im Konzept der Unabhängigkeit und Souveränität bereits philosophisch vorausgesetzt sei. Dennoch - erstaunlich genug -: "His omnibus attentis, et placet omnibus ut maneat textus uti iacet [also im TR; G.], suppressis tantum verbis ,erga homines suae ditionis "'. Zu dem Katalog einzelner Freiheitsrechte in den cc. 82 und 83 weisen die COMMUNICATIONES keine nennenswerte Diskussion mehr aus 144• Als Fazit der Diskussionen um die LEF bleibt im Blick auf unsere Fragestellung festzuhalten: (1) Die LEF geht, bis hin zu ihrem letzten Entwurf 1980 (TN) expressis verbis auf die Frage des Verhältnisses von Kirche und Staat ein. (2) Man hat versucht, dem Verhältnis von Kirche und Staat in Anlehnung an die 142 COMM 13 (1981), S. 58: "Generales Animadversiones ad Caput 111": ,,Iuxta animadversionem 2, Relator proponit ut textus praecedentis schematis (can. 88 § 1) reassumatur in Lege Ecclesiae FundamentalL Quoad animadversionem 1 notat Ecclesiam conditam esse a Iesu Christo, qua de causa- et non solum propter merum ius associationis - vindicari debet libertas Ecclesiae in propria missione adimplenda: idque licet nullo in canone adhibeatur expressio ,societas iuridica perfecta'. Concordat unus Consultor, animadvertens hanc doctrinam semper ab Ecclesia propugnatam esse, ipsamque derelinqui non posse, uti in animadversione postulatur. Ecclesia est societas suprema in suo genere, et haec est doctrina Concilii. Proponit igitur [?; G.] ut Iransitus fiat ad examen concretum canonum, quod placet. [Hervorhebung vom Verf.]". Siehe desgleichen auch ebda., S. 63, anläßlich der Diskussion des c. 55 § 2: "Animadversio generalis ad Tit. li, ab uno Patre facta, non recipitur, quia non videtur fundata in realitate textus." 143 COMM ebda., S. 61 - 63. 144 COMM ebda., S. 78-80.
7 Göbel
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1. Kap.:
"Societas Perfecta" und "Populus Dei"
Konzilsdokumente von GS und DH eine neue Grundlage zu geben. Die Religionsfreiheit sollte die Grundlage dieses Verhältnisses bilden und es sollte nicht losgelöst von theologischer Begründung, sondern im Rahmen des Kapitels über die "Sendung der Kirche" abgehandelt werden. (3) Eine wirkliche Überwindung der "societas perfecta"-Doktrin bzw. eine überzeugende Alternativkonzeption wurde nicht erreicht 145 • Vor dem Hintergrund der postkonziliaren Selbstsicherheit, mit der "Religionsfreiheit" gleichsam den Stein der Weisen für die heutige Kompetenzabgrenzung von Kirche und Staat gefunden zu haben und daher der überkommenen Lehre nicht mehr zu bedürfen, muß das erstaunen - und nachdenklich machen. (4) Eine lngerenz der Kirche im Politischen wird (a) nurmehr als moralisch-appellative, nicht mehr als juridisch-koerzisive verstanden und (b) hauptsächlich auf die Menschenrechte bezogen, deren Verwirklichung und Wahrung die Kirche ausdrücklich auf ihre Fahnen schreibt. Die Legitimationsgrundlagen der Menschenrechte werden mit angesprochen: Menschenwürde und Offenbarung. Also zeigt sich für die Kirche auch in den Menschenrechten die Erkenntnis einer höheren Ordnung und nicht bloß die pragmatische Setzung menschlicher Zweckrationalität. Auch hier ist damit ein philosophisches Konzept vorausgesetzt, das universal einsichtig sein soll, ein Konzept, in dem sich weltliche Einsicht und gläubige Einsicht, natürliche und "erleuchtete" Vernunft treffen, nachvollziehbar also auch für die, die Gott und Glaube nicht anerkennen und gemeinsame Bezugsbasis für staatliches und kirchliches Recht. Nur orientiert sich diese nun nicht mehr wie einst an einer Institutionentheorie, sondern am menschlichen Individuum, an seiner Struktur und seinen generellen Bedürfnissen, also gewissermaßen an einer bestimmten Subjekttheorie.
145 So mit Bezug auf c. 55 TN, der die internationalen Beziehungen der Kirche zum Gegenstand hatte, auch das Ergebnis der Analyse von Petroncelli Hübler, S. 124-126.
ZWEITES KAPITEL
Unabhängigkeit und Kooperation - Rechtsdogmatische Aspekte I. Die Terminologie des CIC I 1983 "in politicis" Gerade eine Kodifikation, die beansprucht, bestimmte Lebens- oder Sachbereiche virtuell vollständig normativ zu erfassen, lebt wesentlich vom einheitlichen und genauen Gebrauch ihrer Begriffe 1• Deshalb soll am Beginn der rechtsdogmatischen Untersuchung unternommen werden, durch Sichtung der Begrifflichkeit des neuen CIC erste Hinweise auf mögliche Regelungsintentionen "in politicis" zu erhalten. Dies erscheint umso wichtiger, als der CIC eine grundsätzlich innerkirchliche Ordnung sein will 2 • Insoweit verwundert es nicht, wenn es für unseren Fragenkreis auch innerhalb des neuen CIC keinen systematischen Ort gibt 3 • Dieser Umstand bedeutet für eine Untersuchung der Terminologie zum einen eine Erschwerung, da die Aufmerksamkeit des Gesetzgebers jeweils auf andere Themenbereiche konzentriert war und das Verhältnis zur Staatenwelt allenfalls "mitbewußt" war. Zum anderen verspricht sie jedoch mehr Aufschluß, weil zu vermuten steht, daß in der Wortwahl unbefangener agiert wurde.
1. Die beiden Rechtsträger, "Ecclesia" und "Civitas" Die Terminologie des CIC "in politicis" bietet wegen der erwähnten Umstände ein reich differenziertes Bild. Am leichtesten ist noch festzuhalten, welche Begriffe der CIC nicht oder nicht mehr aufgenommen hat: (a) Nicht aufgenommen ebenso wie im CIC /1917 -ist der Terminus "status" 4 , der sich doch im neueren I Schon der CIC /1917 als erste Kirchenrechtskodifikation ließ allerdings in dieser Hinsicht nach allgemeinem Urteil noch vieles zu wünschen übrig: Stutz (Geist), S. 221 ; Köstler, S. 9 und 11; Mörsdorf (Rechtssprache), S. 3 und 33 I 34. z "Codex eo . .. spectat, ut talem gignat ordinem in ecclesiali societate, qui, praecipuas tribuens partes amori, gratiae atque charismatibus, eodem tempore faciliorem reddat ordinatam eorum progressionum in vita sive ecclesialis societatis, sive etiam singulorum hominum, qui ad illam pertinent.": Johannes Paul II., in "Sacrae disciplinae Ieges", a. a. 0. (Einleitung, Anm. 5), S. XVIII. Für den CICI 1917 schon eindringlich Stutz (Geist), S. 3, 109 und 178. 3 Dazu List! (Aussagen), S. 9. 4 Die Verwendung von "Secreteria Status seu Papali" in den cc. 360, 361 CIC I 1983 ist hier auf ihre Weise, nämlich als Ausnahme, signifikant.
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2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
kirchenrechtswissenschaftlichen Schrifttum durchaus noch gewisser Beliebtheit erfreute 5 ; (b) Nicht mehr aufgenommen im Blick auf weltliche Herrscher ist der Begriff "principatus" 6• Als nota bene: dieser Begriff ist jetzt (erstmals) dem päpstlichen Primat zugeordnet worden. C. 333 besagt: "Romanus Pontifex ... super omnes Ecclesias particulares earumque coetus ordinariae potestatis obtinet principatum [Hervorhebung vom Verf.]" 7 • Faßt man nun die positive Terminologie ins Auge, so ist zu bedenken, daß im CIC schon aufgrund seiner weltweiten Geltung (cc. 1 und 11) nicht nach verschiedenen Staatstypen oder Staatsformen differenziert wird, sondern der ,,Staat" eine einheitliche Kategorie bildet. Für diese einheitliche Kategorie findet sich aber kein einheitlicher Begriff, sondern es begegnen gleich eine ganze Reihe von Ausdrücken, die weithin synonym gebraucht werden. Ein gewisser Schwerpunkt liegt indes auf dem Begriff "civitas", der bevorzugt im terminologisch besonders ergiebigen Gesandtschaftsrecht (cc. 362-367) auftaucht, nämlich in den cc. 362, 363 § 1, 365 § 1 und 365 § 1, 2°. Daß mit "civitas" gerade die politisch-staatliche Herrschaft bezeichnet ist, läßt sowohl c. 354 erkennen, wo von der "Civitas Vaticana", also vom Staat der Vatikanstadt, die Rede ist, als auch c. 1316, wo "civitas"- mit ,,Staat" zu übersetzen- dem geographischen Begriff "regio" gegenübergestellt wird. Zweideutig ist dagegen die Wortwahl in c. 1215 § 3 CIC/ 1983, der vom Kirchenbau "in dioecesi vel civitate" spricht. Hier ist wohl bloß der regionale Unterschied zwischen "plattem Land" und der Stadt eines Bischofssitzes gemeint. Die Worte "vel civitate" wären um der Homogenität der Wortwahlwillen besser weggelassen worden. Hingegen steht c. 227 (civitas terrena) quer zu dieser erläuterten, überwiegenden Wortbedeutung. Hier spricht der Kodex eine theologisch verdankte Sprache, die den theologischen Unterschied von irdischem Diesseits und himmlischem Jenseits transparent machen soll. In Wortverbindungen taucht "civitas" in den cc. 364,7° (moderatores civitatis), 1405 § I, I o (civitatis magistratum) und I548 § 2, I o (civitatum magistratus) auf. Sehr häufig wird auch das Adjektiv "civilis" gebraucht, das demselben Wortfeld entstammt und zu den unterschiedlichsten Substantiven tritt (actus, auctoritas, coemeterii, documentum publicum, effectus, forum, iudex, ius, legislatio, Iex, matrimonium, norma, obligatio, officium, potestas, societas und titulus). Das Wortfeld "civis" steht also im CIC grundsätzlich für den staatlich-politischen Bereich. Sein Gegenüber ist die "Ecclesia" mit den ihr zugehörenden "christifideles": c. 204 § 1. Da diese immer auch "cives" sind, steht man unvermit-
s Für das IPE vgl. nur nochmals die Schriften von Ottaviani I Damizia, für das neuere Schrifttum etwa Corral (De Relatione) oder Sebott (Ecclesia ut societate perfecta). 6 Für den CIC/ 1917: cc. 600, 3°und 1557 § 1, 1°. 1 Was die deutsche Übersetzung mit "Vorrang" wiedergibt. Es handelt sich übrigens um eine Übernahme aus den LEF-Schemata, genau dem c. 31 § 1 TN.
I. Die Terminologie des CIC I 1983 "in politicis"
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telt vor dem Problem der Verträglichkeit beider Einbindungen, d. h. auch der Rangordnung im Falle von Normwidersprüchen. Als weitere Bezeichnungen des staatlichen Bereichs erscheinen "auctoritas civilis" (cc. 377 § 5; 1152 § 2; 1344 § 2; 1479) 8 , "natio" (cc. 3; 197; 242 § 1; 312 § 1, 2°; 362; 383 § I; 433 § 1; 439 § 2; 447; 448 §I und § 2; 518), "Res Publica" (cc. 362; 365 § 1, 1°) 9 , "potestas civilis" (cc. 285 § 3; 1059; 1254 § 1) und "societas civilis" (cc. 353 § 4; 793 § 2; 797; 799). Undeutlich bleibt der Sinn von "potestas humana" (cc. 747 § 1; 1057 § 1 10 und 1141). Es fällt auf, daß in einzelnen Büchern bzw. Tituli schon eine einheitliche Terminologie angestrebt wurde. So spricht das Gesandtschaftsrecht der cc. 362367 bevorzugt von "civitas", während im Titel "Teilkirchenverbände" (cc. 368572) der Begriff "natio" dominiert. Eine CIC-umgreifende begriffliche Abstimmung hat aber offenbar nicht mehr stattgefunden. Dem CIC ist darüberhinaus die Einteilung der Staatsgewalt in ihre 3 Grundfunktionen geläufig: Gesetzgebung erscheint als "legislatio civilis" (c. 197), die Exekutive, genauer gesagt die Regierungsmitglieder, als "moderatores civitatis" (c. 364, 7°) bzw. als "magistratus civitatis" und "magistratus civilis" (cc. 1405 § 1, 1°; 1548 § 2, 1°; 1672), die Judikative firmiert als "forum civile" (cc. 1288; 1675 § 1; 1692 § 2 und§ 3) oder "iudex civilis" (c. 1716 § 2). Als Konsequenz aus der Existenzzweier voneinander unabhängiger Rechtsträger ergeben sich zwei unterschiedene, sich größtenteils nicht überschneidende Rechtskreise. Dem kirchlichen "ius canonicum" I "ius Ecclesiae" I "ius ecclesiasticum"11 steht, ganz allgemein gesprochen, das nicht-kirchliche, allermeist also national-staatliche Recht gegenüber 12 . Der CIC nennt es in schöner Regelmäßigkeit "ius civile" (cc. 98 § 2; 105 § 1; 231 § 2; 492 § 1; 668 § 1 und § 4; 1105 § 2; 1274 § 5; 1284 § 2, 3°; 1290; 1299 § 2; 1500) bzw. seine Einzelnormen "Iex (Ieges) civilis (civiles)" (cc. 22; 110; 1062 § 1; 1071 §I, 1°-2°; 1284 § 2, 3°; 1286, 1°; 1714; 1716 § 1 und§ 2) 13• Nach wie vor 14 unterscheidet der CIC 8 Wohingegen "auctoritas publica" in den cc. 362 und 363 § 1 einen engeren Bereich zu bezeichnen scheint; zu denken ist an internationale Organisationen und Konferenzen; vgl. Köck (Hl. Stuhl), S. 297 ff. und 479 ff. 9 Die Bemerkung von F. Noisten, S. 6, im CIC I 1917 werde die "starke" Bezeichnung ,,Res Publica" für "Staat" nicht verwendet, ist unzutreffend, wie c. 2269 § 1 CIC I 1917 beweist. 10 Dieser Ausdruck ist gerade nicht bedeutungsgleich mit "potestas civilis" in c. 1059! 11 Zur terminologischen Unschärfe des CIC diesbezüglich schon für den alten Kodex Stutz (Geist), S. 221 und Mörsdorf (Rechtssprache), S. 43 f. 12 Dalla Torre, S. 515. Als "dritte" Rechtsmasse wird noch das Völkerrecht, "ius internationale", in c. 362 erwähnt. I3 Statt des unklaren "in societate civili Ieges" im c. 799 hätte der Gesetzgeber besser das schlichte und eindeutige "Ieges civiles" verwenden sollen. Zur Terminologie diesbezüglich auch nochmals unten, Abschnitt IV., 1.). 14 Zum CICI 1917 Stutz (Geist), S. 232m. w. N.
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2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
aber nicht zwischen staatlichem privaten und staatlichem öffentlichen Recht. Beide Normkomplexe figurieren bei ihm unter dem gemeinsamen Oberbegriff "ius civile" 15 • Welche konkreten staatlichen Normen im CIC etwa als "Ieges canonizatae" aufgenommen werden Uetzt hat der CIC im c. 22 eine allgemeine Regelung auch dieses Phänomens eingeführt), muß aus dem Normierungskontext der verweisenden kirchenrechtlichen Norm erschlossen werden 16• Bereits diese erste rechtssprachliche Sichtung zeigt somit, daß sich für den CIC I 1983 die These nicht aufrechterhalten läßt, die H. Barion noch für den CIC I 1917 aufgestellt hatte, daß nämlich das kirchliche Gesetzbuch eine bewußt apolitische Terminologie verwende 17• Neben diesen zumeist schon dem CIC I 1917 geläufigen Benennungen nähert sich der CIC I 1983 nun auch der für die moderne Staatenwelt grundlegenden Problematik des Zusammenspiels von Staat und Gesellschaft 18 • Dabei werden an mehreren Stellen die sog. vermittelnden Instanzen erwähnt. Der CIC führt die "factio politica" (cc. 287 § 2 und 317 § 4 ), also die politische Partei, auf, eine "consociatio syndicalis" (c. 287 § 2), also eine Gewerkschaft sowie, sehr unbestimmt, in c. 3 "aliae societates politicae", eine Neuheit gegenüber dem c. 3 CIC I 1917, der den vertraglichen Kontakt auf "nationes" beschränkt sein ließ. Ob hiermit allerdings noch der Bereich der sog. "intermediären Gewalten" gemeint ist, erscheint äußerst fraglich. Desweiteren verzeichnet der CIC auch das "bonum commune societatis" (cc. 287 § 2 und 795) 19 sowie den "ordo socialis" (nur in c. 747 § 2). In diesem Zusammenhang müssen auch die Beiwörter "temporalis" (z. B. mit "ordo temporalis" 20 und "res temporalis" 21 ) und "saecularis" (z. B. mit "munus saeculare" 22 und "officium saeculare" 23) gesehen und genannt werden. Hier spricht der CIC I 1983 eine neue, der Theologie entlehnte Sprache.
Neuhaus (CIC), S. 502. Dazu ausf. unten Abschnitt IV., 2.). 11 Barion (Ordnung und Ortung), GA, S. 204 mit Anm. 26 und S. 205 mit Anm. 27: Beleg sei (a) die gehäufte Verwendung der indifferenten Begriffe "natio" und ,,regio" statt der spezifischen Begriffe "civitas" oder "Res publica" und (b) die geographische Aufzählung in c. 340 § 2 CIC I 1917, die die Abneigung des CIC dokumentiere, die Existenz konkreter Staaten zur Kenntnis zu nehmen. 18 So auch Listl (Aussagen), S. 31. Vgl. allg. E.-W. Böckenförde (Staat I Gesellschaft I Kirche), S. 46 ff. 19 Im Gegensatz zum innerkirchlich verstandenen "bonum publicum" der cc. 116 § I; 1201 § 2; 1348 etc. (vgl. H. Zapp, (Lemmata), S. 74 sowie X. Ochoa, S. 57) oder im CIC I 1917 der cc. 1638 § 2 oder 2223 § 4. 20 c. 298 § l. 21 Ce. 225 § 2; 327; 713 § 2; 768 § 2; 1741, 5°. 22 c. 225 § 2. 23 c. 285 § 4. 15
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I. Die Terminologie des CIC I 1983 "in politicis"
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2. Die Autonomieformeln der Kodizes Aufschlußreich vermag abschließend ein Blick auf die formelhafte, stereotype Verwendung von Autonomiebekundungen sein. Sie ist bereits im CIC I 1917 vorgeprägt, und ihr Archetyp lautet "a civili potestate independens" 24 • Der kirchliche Gesetzgeber hat aber auch hier wohl aus sprachästhetischen Gründen "con variazioni" gearbeitet, was folgende Übersicht (die Kanones sind in der Reihenfolge ihres Auftretens im Kodex angeordnet) verdeutlichen soll: -
Klerikerausbildung, c. 232 CIC I 1983:
"Ecclesiae officium est atque ius proprium et exclusivum eos instituendi, ... " c. 1352 CIC/ 1917: "Ecclesiae est ius proprium et exclusivum eos instituendi ... "; -
Päpstliche Leitungsgewalt, c. 33/ CIC I 1983:
". . . qui ideo vi muneris sui suprema, plena . . . gaudet potestate, quam semper libere exercere valet", c. 218 § 2 CIC/ 1917: "Haec potestas est vere episcopali, ... a quavis humana auctoritate independens"; -
Legationsrecht, c. 362 CIC I 1983:
"Romano Pontifici ius est nativum et independens legatos mittendi ... ", c. 265 CIC/ 1917: "Romano Pontifici ius est, a civili potestate independens, ... legatos mittendi"; -
Freie Verkündigung, c. 747 § 1 CIC I 1983:
"Ecclesiae . . . officium et ius nativum independens, Evangelium praedicandi",
a qualibet humana potestate
c. 1322 § 2 CIC/ 1917: "Ecclesiae, independenter a qualibet civili potestate, ius est ... evangelicam doctrinam docendi."; -
Vermögensfähigkeit, c. 1254 § 1 CIC I 1983: " ... iure nativo, independenter a civili potestate, acquirere ... ",
c. 1495 § 1 CIC/ 1917: "Ecclesia catholica et Apostolica Sedes nativum ius habent libere et independenter a civili potestate acquirere ... ";
24
So bereits in den cc. 265; 1322 § 2; 1495 §I und 1496 des CIC/ 1917.
2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
104
-
Abgabenhoheit, c. 1260 CIC I 1983: "Ecclesiae nativum ius est exigendi a christifidelibus ...", c. 1496 CIC/1917: Ecclesiae ius quoque est, independens a civili potestate, exigendi ... ";
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Strafgewalt, c. 1311 CIC I 1983: "Nativum et proprium Ecclesiae ius est Christifideles delinquentes poenalibus coercere. ", c. 2214 § 1 CIC/1917: "Nativum et proprium Ecclesiae ius est, independens a qualibet humana auctoritate ... coercendi sibi subditos ... ";
-
Gerichtshoheit, c. 1401 CIC I 1983: "Ecclesia iure proprio et exclusivo cognoscit ... ", c. 1553 CIC/1917: "Ecclesia iure proprio et exclusivo cognoscit ... ";
Aus dieser Gegenüberstellung lassen sich - vorerst - zwei Schlußfolgerungen ableiten. Erstens: die Sachposition "kirchliche, institutionelle Unabhängigkeit und Autonomie" wird auch im CIC /1983 mit unverminderter Stärke behauptet. Zweitens: es hat eine terminologische Verschiebung fort vom "a civili potestate independens" hin zum Rekurs auf ein "ius nativum" (ergänze: "Ecclesiae") stattgefunden, zu einem Begriff, der im gesamten CIC übrigens nur in besagten Autonomieformeln auftaucht 25 •
II. Der Grundansatz: Die Katholische Kirche als "Persona moralis" - ihre Rechte und ihr Auftrag Obwohl ein nicht geringer Teil des LEF-Entwurfs von 1980 in den neuen CIC inkorporiert wurde, geschah dies mit den grundlegenden, kirchenstaatsrechtlich relevanten cc. 51-54 TN nicht. Andererseits fand die Norm des früheren c. 100 § 1, Halbsatz 1 CIC /1917, nach Meinung verschiedener Autoren 1 der "Fundamentalkanon" über das Verhältnis der Katholischen Kirche zu den Staaten, noch in der Endredaktion, also 1982 2, als c. 113 § I Eingang in das überarbeitete Gesetzeswerk. Daher soll dieser Kanon "Catholica Ecclesia et Apostolica Sedes, moralis persona rationem habent ex ipsa ordinatione divina" zum Ausgangspunkt unserer dogmatischen Überlegungen gemacht werden (Unterabschnitt II., 1., a)3. Vgl. Ochoa, S. 251 I 252 und Zapp (Lemmata), S. 348. S. o. Erstes Kapitel, Abschnitt II., 2. 2 Im Schema 1980 findet sich diese Bestimmung nicht (vgl. zu diesem Befund CCL/ Kneal, S. 80), ebensowenig im Schema Novissimum. 25 1
II. Der Grundansatz: Die Katholische Kirche als "Persona moralis"
105
Der neu definierte Begriff der "persona moralis" wird allerdings nur in seinem Gehalt deutlich, wenn er im Zusammenhang mit den vom CIC an mehreren hervorgehobenen Stellen formulierten "iura nativa" der Kirche gesehen wird (Unterabschnitt II., 1., b). Ein Vergleich der kodikarischen "persona moralis"Konzeption mit den Basiskonzepten der LEF, des CCEO und des Schrifttums soll den ersten Gang der dogmatischen Untersuchung beschließen (Unterabschnitt II., 1., c ). Die inhaltliche Tragweite des "persona moralis"-Konzeptes wird bestätigt und spezifiziert, wenn anschließend (Unterabschnitt II., 2.) ein Vergleich zum CIC I 1917 gezogen wird, der den (allerdings begrifflich anders gefaßten) "persona moralis"-Ansatz noch mit einer Reihe spezieller kirchlicher Eingriffsrechte in den staatlichen Hoheitsbereich gekoppelt hatte. Darauf verzichtet der neue CIC nunmehr ersatzlos. Abschließend wird versucht, das "persona moralis"-Modell als formale Konzeption näher zu kennzeichnen und ihm durch Verknüpfung mit einer weiteren kodikarischen Grundsatznorm, dem Recht auf Verkündigungsfreiheit in c. 747 § 1 CIC I 1983, eine schärfere inhaltliche Kontur im Blick auf das kodikarische Verständnis vom Verhältnis der Kirche zu den Staaten zu verleihen (Unterabschnitt II., 3.). 1. Die Katholische Kirche als "Persona Moralis"
und ihre "Jura Nativa"
a) Das "Persona Moralis"-Modell Im CIC des Jahres 1917 haben sich die Begriffe "Persona Moralis" und "Persona Iuridica" als synonym erwiesen 4 • Sie bezeichneten die Fähigkeit nichtphysischer Größen, Träger von Rechten und Pflichten zu sein. Innerhalb dieser Gruppe von Rechtssubjekten ließ sich dann unterteilen in solche personae morales (seujuridicae) "ex ipsa ordinatione divina", eben laut c. 100 § 1 die Kirche selbst sowie der Heilige Stuhl, und solche "sive ex ipso iuris praescripto sive e speciali competentis superioris ecclesiastici concessione data", also Rechtsträger auf Grund eines autoritativen Akts einer menschlichen Gewalt. Wie sich aus den zu c. 100 § 1 von P. Gasparri edierten "Fontes" ergibt und von den Kanonisten einhellig hervorgehoben wurde S, ist der hier in Rede stehende erste Teil der Norm c. 100 § 1 Ausfluß und Ausdruck der bereits beschriebenen "societas perfecta"-Doktrin und besagt, mit den Worten Lammeyers: "Keine irdische Auto3 Ebenso List! (Aussagen), S. 18; Mikat, StL7 , Bd. III. (1987), Sp. 480; Aymans/ Mörsdorf, S. 93. 4 G. Michiels (Principia Generalia), S. 366; J. Lammeyer, S. 140 (kritisch zu diesem Werk W. Doskocil in AfkKR 140 (1970), S. 648); Falco, S. 133 - 140; Köstler, S. 261. s Wie Anm. 1.
106
2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
rität könnte diesen beiden Instituten Rechtssubjektivität verleihen oder entziehen. Dies geht schon aus dem Begriff der Kirche als einer societas perfecta hervor, die souverän und völlig unabhängig vom weltlichen Machthaber ist ... "6. Diese begriffliche "Promiskuität" von "persona moralis" und "persona iuridica" ist allerdings begriffsgeschichtlich angreifbar. Wie M. Lipp in einer neueren Untersuchung 7 überzeugend dargetan hat, hatte der von Pufendorf kreierte Begriff der "persona moralis" keinen Bedeutungsbezug zur Figur der "Juristischen Person"8. Denn deren Konzept wurde von Savigny für das Privatrecht als Lösung des vermögensrechtlichen Problems (und Regelungsbedürfnisses) der technischen Verselbständigung eines Sondervermögens mit entsprechender Haftungsbeschränkung entwickelt 9• Für Pufendorf hingegen bezeichnete eine "persona moralis nichts anderes als den Menschen inmitten eines Netzes rechtlich bedeutsamer [moralischer] Beziehungen ... Die einzelne natürliche Person erscheint damit in rechtlicher Hinsicht als eine Vielzahl von personae morales, ganz entsprechend den verschiedenen status, die einer Person zukommen" 10• Die "persona moralis composita" ist die vertragliche Absprache verschiedener Individuen, einen solchen statuszuteilen 11 , also allenfalls- zieht man die Weiterentwicklung der Pufendorfschen Konzeption durch Chr. Wolff mit in Betracht- eine Vorläuferio oder "dogmengeschichtliche Leitfigur" der sog. "Personengesellschaft" 12 • Eine Personengesellschaft aber muß keineswegs zwingend oder wesensgemäß eine juristische Person, also selbständige Trägerio von Rechten und Rechtspflichten sein. Aller Wahrscheinlichkeit nach folgte der CIC, als er "personae morales" mit "personae juridicae" identifizierte, der Terminologie der italienischen und französischen Ziviljurisprudenz 13• Pufendorfs staatsphilosophisches ErklärungsLammeyer, S. 144. "Persona Moralis", "Juristische Person" und "Personenrecht" - eine Studie zur Dogmengeschichte der ,)uristischen Person" im Naturrecht und Frühen 19. Jahrhundert, in: Quademi Fiorentini 11 I 12 (1982 I 83), S. 217-262, hier S. 234. s Gegen H. Schnizer, Die juristische Person in der Kodifikationsgeschichte des AGBG, in: Festschrift für Walter Wilburg, Graz 1965, S. 143-180 (147). 9 F. Wieacker, Zur Theorie der Juristischen Person des Privatrechts, in: Festschrift für E. R. Huber zum 70. Geburtstag, Göttingen 1973, S. 339-383 (S. 345 und 358 f.). 10 Lipp, S. 236. Ebenso bereits Denzer (Moralphilosophie), S. 291. II Lipp, ebda. Insofern kann Pufendorf allerdings auch den Staat als "persona moralis composita" bezeichnen: De Officio II, 6, 10 und ING VII, 2, 13: "persona moralis composita, cujus voluntas, ex plurium pactis implicita & unita, pro voluntate omnium habetur, ut singulorum viribus & facultatibus ad pacem & securitatem communem uti possit." Indem Pufendorf den Staat als "persona moralis composita" definiert, also als Willenseinheit, kommt, wie Denzer (Moralphilosophie), S. 185, formuliert, "der Gedanke des Entstehens der Staatspersönlichkeit ins Spiel". 12 Ebda., S. 250. 13 Stutz (Geist), S. 189 und S. 199; Lammeyer, S. 141. Ebenso A. M. Punzi Nicolo, S. 31-33. Sie unterteilt die juristischen Personen in natürliche und "moralische". Alle nicht natürlichen juristischen Personen sind damit "moralische Personen". In diese Richtung schon Pillet, S. 79, der für den Entwurf des Buches "De Personis" des neuen CIC vorschlägt, den juristischen Sprachgebrauch zu übernehmen und die 6
1
II. Der Grundansatz: Die Katholische Kirche als "Persona moralis"
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modell war zu einer rechtstechnischen Konstruktion mutiert. Der CIC I 1917 näherte sich aber durch seine innere Differenzierung wieder der Ursprungskonzeption, ließ den üblichen Sprachgebrauch damit aber gleichzeitg fragwürdig werden. Im neuen CIC wird hingegen eine abweichende Terminologie verwendet. Der Ausdruck "persona moralis" wird nunmehr exklusiv für die "ex ordinatione divina" bestehenden und damit obersten kirchlichen Rechtsträger Gesamtkirche und Heiligen Stuhl gebraucht, wie aus der nunmehr einmaligen Verwendung dieses Terminus im c. 113 § I folgt. Für sämtliche übrigen Rechtsträger verwendet der Kodex jetzt einheitlich den Ausdruck "persona iuridica". Die Termini juristische und moralische Person sind nicht mehr gleichzusetzen 14 • Ob jedoch die Intention dieser späten Einfügung der "persona moralis" in den CIC lediglich, wie ein amerikanischer Kommentar meint, "eine Bekräftigung dessen [gewesen sei], was schon im zweiten Paragraphen gesagt war und eine Betonung, daß die Kirche selbst, um gar nicht von der korporativen Struktur der Kirche, dem Heiligen Stuhl zu reden, eine juristische Person [juridic entity] ist" 15 , muß bezweifelt werden. Vielmehr findet sich im neuen CIC ein Konzept der "moralischen Person" wieder, das 1968 von W. Onclin (1905-1989) 16, dem Sekretär der PCR und Relator des Coetus "De Personis" anläßtich eines Kanonistenkongresses 17 entwickelt wurde 18 • Darin trennte er scharf Persona moralis und Persona iuridica und ordnete die erste dem "ordo sociologicus", die zweite dem "ordo juridico positivus" zu. Die persona iuridica entstehe kraft Gesetzes oder krafteines Aktes der zuständigen Autorität, die persona moralis hingegen konstituiere sich durch die Menschen selbst ohne Zutun irgendeiner sozialen Autorität 19 • Personen bzw. Rechtssubjekte zu unterteilen in "!es personnalites physique ou morales". Der Code Civil von 1804 selbst erwähnt die Unterscheidung in natürliche und juristische Personen nicht, wohl aber der Codice Civile del Regno D'Italia aus dem Jahre 1865, der sich systematisch und inhaltlich aufs engste an den Code Civil anlehnte. In seinem art. 2 hieß es: "1 comuni, le provincie, gli istituti pubblici civili od ecclesiastici, ed in generale tutti i corpi morali Iegalmente riconosciuti, sono considerati come persone [Hervorhebung vom Verf.], e godono dei diritti civili secondo le leggi e gli usi osservati come diritto pubblico." Und damit ist der Sache nach die Rechtsfähigkeit nicht-natürlicher Personen schon anerkannt, nur noch nicht (wie in c. 99 CICI 1917 oder den Art. 52, 53 Schweiz. ZGB) auf den Begriff gebracht. 14 S. Bueno Salinas, S. 191; Schnizer in HbkKR, S. 455. Zumindest schief ist es, wenn F. Pototschnig im HbkKR, S. 118, Anm. 26 schreibt: "Die Katholische Kirche und der Apostolische Stuhl werden in c. 113 § 1 als juristische Personen kraft göttlichen Rechts verstanden". 15 CCL I Kneal, S. 80. 16 Zur Bedeutung des Löwener Kirchenrechtiers Onclin, insbesondere für die Reform des CIC, vgl. die Würdigung von L. Oe Fleurquin in lusCan 59 (1990), S. 15-18. 11 "Oe Personalitate Morali vel Canonica", in: Acta Conventus Intemationalis Canonistarum, Romae diebus 20-25 mai 1968 celebrati, Typis Polyglottis Vaticanis 1970, S. 121-157. G. Lo Castro, S. 31 I 32, Anm. 15, macht darauf aufmerksam, daß Onclin Gedanken des Konsultors Carlo Lombardi aus den Vorarbeiten zum CIC I 1917 wieder aufnimmt, die sich seinerzeit allerdings nicht durchzusetzen vermochten. 18 Bueno Salinas, S. 137; F. Messner, S. 126 I 127.
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2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
Unter solche personae morales im eigentlichen Sinne subsumierte Onclin in einem nächsten Schritt die sog. "societates necessariae". Solche seien: "in ordine temporali sunt Civitas seu Societas Civilis, Statum civilem hodie qua dicunt, et etiam societas intemationalis communitatem gentium quae complectitur; in ordine religioso est Ecclesia" 20. Bezüglich des Staates stützt sich Onclin auf die "ständige Lehre der christlichen Autoren", die jüngst noch einmal vom 2. Vatikanischen Konzil, insbesondere in Art. 74 GS, bestätigt worden sei 21 . Für die Völkergemeinschaft zieht er Art. 84 GS heran. Die Kirche sei als von Gott selbst zusammengerufener soziologischer Verband ("compago visibilis scilicet societas constituta et ordinata") in Art. 2 und 8 LG definiert und ihr sei, wie Art. 5 LG ausführe, die Sendung (missio) aufgetragen, "das Reich Christi zu verkünden und unter allen Völkern aufzurichten". "Wenn also", so Onclin schlußfolgernd, "die Menschen diesen der Kirche übertragenen göttlichen Sendauftrag anerkennen müssen, dann sind sie zugleich gehalten, sie als Subjekt derjenigen Rechte und Pflichten anzuerkennen, die zur Erfüllung dieser Sendung notwendig sind, das heißt als persona moralis" 22. Das gelte in analoger Weise auch für den Staat23. In dieser Theorie Onclins fungiert also die moralische Person als eine der juristischen Person im üblichen Sinne übergeordnete Figur und ist auch nicht Regelungsgegenstand für das kanonische Recht 24. So gelangte Onclin auch abschließend zum Reformvorschlag, in c. 100 § 1 zwischen "personalitas moralis" und "personalitas iuridica" zu differenzieren 25 • Daß diese neue Theorie 26 die Reformgesetzgebung im angesprochenen Bereich entscheidend beeinflußt hat, läßt sich aus den bisher veröffentlichten Materialien 19 Onclin, S. 131. 20 Ebda., S. 131 I 132. 21 Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt die Analyse J. Maldonados (Relaciones), S. 386: "En concilio menciona varias veces el ,orden moral objetivo' (Asf, en GS, 74 y DH, 7 y 8), y afirma que ,Ia norma suprema de Ia vida humana es Ia misma ley divina, etema, objetiva y universal' (DH, 3), que fundamenta, tanto el ,ordenjuridico positivo', necesario ,para Ia cooperaci6n ciudadana' y ,Ia protecci6n eficaz e indepentiente de los derechos de las personas' (GS, 75), como el establecimiento de ,Ia basefirme de Ia convivencia' entre los pueblos (GS, 89)." 22 Onclin, S. 133. 23 Ebda., S. 135. 24 Bueno Salinas, S. 138; M. Kaiser, S. 474. 2s S. 137: "Per modum conclusionis . .. deduci possunt haec quae sequuntur. lpsa Catholica Ecclesia [Hervorhebung vom Verf.], utpote divinitus missione propria, scilicet fine proprio, instructa, ipso iure divino est persona moralis; persona autem iuridica tantum dici potest in ordine iuris gentium, minime vero in ordine intemo canonico quem ipsa Ecclesia creat. Aliae vero Christifidelium consociationes seu personarum universitates, ... sive eas erigat ipsa ecclesiastica auctoritas, sive eas constituant christifideles ... Quare optare quis potest ut in can. 100 Codicis I. C. distinctio fiat inter personalitatem moralem, quae quidem ipsi Catholicae Ecclesiae iure divino competit, et personalitatem iuridicam seu canonicam ... ." [Hervorhebungen vom Verf.]. 26 Neu insofern, als sie von den Erwägungen des alten CIC-Gesetzgebers abweicht; insgesamt ist sie aber die Theorie, die dem ursprünglichen Konzept der "persona moralis" näher steht und sich von der rechtstechnischen Ebene lösen will.
II. Der Grundansatz: Die Katholische Kirche als "Persona moralis"
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deutlich ersehen 27 • Im zuständigen Reformcoetus .,De Personis" 28 vertrat man allerdings die Auffassung, daß die moralische Person im CIC besser gar nicht erwähnt werden solle, da die personalitas der Kirche nicht ordinis juridici, sondern eben ordinis moralis sei und vom Kodex vorausgesetzt werden könne. 'Denn auch im staatlichen Recht werde, ganz ähnlich, die moralische Personalität des Staates selbst nicht erwähnt, sondern vorausgesetzt 29 • Die Personqualität des Heiligen Stuhls hingegen sei im kanonistischen Schrifttum umstritten und schon deshalb sei es besser, ihre personalitas im neuen CIC nicht zu erwähnen, in dem allein die juristische Person zu behandeln sei 30• Und konsequent erläutern die Stellungnahmen des Coetus "De Personis" zu den cc. 1 -80 des Schemas "De Populo Dei" 1977, mit "De Personis in genere" überschrieben: "Personae iuridicae in iure recognito proposito vocantur illa obligationum et iurium subiecta quae non sunt personae physicae seu homines individui, et quidem sive iam in ordine morali sunt personae, sed ordine canonico uti tales agnitae, sive ordine canonico uti tales prima constitutae." 31 • Zwar werden hier die personae morales nicht erwähnt, aber es wird immerhin zwischen einer moralischen und rechtlichen Sphäre unterschieden, wobei die erstgenannte der zweiten vorgeht: der einzelne Mensch, jede individuelle Person ist eben schon aus vorrechtliehen Gründen rechtsfähig- auch im kanonischen Recht. Und was für den einzelnen Menschen und die natürliche Person gilt, läßt sich auf die sog. "notwendigen Gemeinschaften" übertragen 32 • Neben der eben aufgezeigten theoretisch-terminologischen Klärung des "persona moralis"-Konzeptes bleibt für c. 113 § 1, durch den die Aussage des c. 100 27 COMM 9 (1977), S. 240: "Sunt in Ecclesia etiam personae iuridicae seu canonicae subiecta scilicet obligationum et iurium canonicorum quae earum indoli congruunt, ... In priore Codice, a. 1917, vocantur personae morales. Rectius autem vocantur personae iuridicae, quia reversa ipso ordine iuridico positivo Ecclesiae uti subiecta obligationum et iurium canonicorum constituuntur." 2s Dessen Relator Onclin war: COMM 1 (1969), S. 32. 29 COMM, ebda.: "Notetur in proposito schemate mentionem non fieri de personalitate morali qua, secundum CIC a. 1917, can. 100 § I, e ipsa ordinatione divina gaudent Catholica Ecclesia atque Apostolica Sedes. Ecclesiae Catholicae personalitas non est ordinis iuridici, excepta quidem eius personalitate iuris gentium, sed est moralis, et ideo in Codice iuris affirmare non debet, sed supponitur; in iure civitatum similiter non affirmatur, sed supponitur personalitas moralis ipsius Societatis civilis." 30 COMM, ebda.: "Ad personalilalern Apostolicae Sedis quod attinet, commentatores CIC minime conveniunt ... ", zit. unter den Praenotanda, S. 6, zum Schema "Liber II. De Popule Dei" des Jahres 1977. 31 COMM 6 (1974), S. 93-115 (98). 32 Dieses Konzept scheint auch nicht auf Widerstand gestoßen zu sein. Nur die systematische Stellung wurde, wie auch die Stellungnahme der Deutschen Bischofskonferenz aus dem Jahre 1978 zum Schema "De Populo Dei" anregte, geändert. Die Normen über die juristische Person wanderten in den Liber I "De Normis Generalibus"- die cc. 70 ff. des Schemas "De Populo Dei" wurden zu den cc. 110 ff des Schemas 1980 und - mit der Ergänzung des c. 113 § 1 -zu den cc. 113 ff. des CIC I 1983. Vgl. zur systematischen Stellung die Diskussion in COMM 12 (1980), S. 52-54; dazu auch Bueno Salinas, S. 192-194 sowie Punzi Nicolo, S. 50-53.
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2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
§ 1 CIC I 1917 letztlich doch wieder in den Kodex aufgenommen wurde, auch die Norm des c. 6 § 2 CICI 1983 bedeutsam, wonach die Kanones des neuen Kodex, soweit sie altes Recht wiedergeben, auch unter Berücksichtigung der kanonischen Tradition zu würdigen ("aestimare") sind. Damit aber steht auch von daher die Doktrin des IPE und des "societas perfecta"-Modells wieder zur Debatte. Über die Gründe, das Konzept der "persona moralis" - in letzter Minute! - doch noch in den CIC aufzunehmen, läßt sich nur mutmaßen. Bueno Salinas führt zwei Gründe ins Feld, die gewisse Plausibilität beanspruchen dürfen: (1) Die Nichtrealisierung einer LEF, in die eine derartige Aussage über den Charakter der Gesamtkirche viel eher gepaßt hätte; (2) c. 113 § 1 als eine nach innen zielende Bekräftigung der bisher gültigen Meinung, die ja gerade in ihrem Schweigen über die moralische Personalität des Bischofskollegiums beredt war 33 • Die Überlegung, mit dieser Bestimmung den kirchlichen Anspruch auf völkerrechtliche Repräsentanz der Kirche zu bekräft~gen, wie es für den CIC I 1917 nahelag, als die Welt in Kriegswirren lag und die Idee eines Völkerbundes durch die Initiative des amerikanischen Präsidenten W. Wilson gerade neu aufgekommen war 34, dürfte für den CIC I 1983 keine Rolle gespielt haben 35. Denn die Präsenz der Katholischen Kirche bei den internationalen Organisationen und die Völkerrechtssubjektivität des Heiligen Stuhles ist (derzeit) völkergewohnheitsrechtlich anerkannt und unbestritten 36• Sicher jedoch dokumentiert c. 113 § 1 den Willen des Gesetzgebers, die Rechtsfigur der "persona iuridica" nicht als reine rechtstechnische Kunstfigur ohne ontologisches Fundament erscheinen zu lassen 37 •
Mit der Einfügung des c. 113 § 1 brechen damit zwei der grundlegenden Probleme des kanonischen Rechts auf: (a) Das der Frage, welche Rolle dem Naturrecht im Kirchenrecht zukommt, weil in der Tat mit dieser neu formulierten "persona moralis"-Theorie eine "personalidad juridica primaria" (Bueno Salinas)38 behauptet wird, die in der Spannung zwischen soziologischer Realität, Bueno Salinas, S. 199. In dieser Richtung auch der Hinweis bei Petroncelli Hübler (Comunita Intemazionale), S. 13 I 14. 3~ In diesem Sinne interpretieren c. 113 § 1 allerdings Spinelli I Dalla Torre, S. 86. 36 Dazu näher unten Absclmitt III., l.,a). 37 So sinngemäß auch MDC I J. F. Ortiz u. T. Rincon, S. 169. 38 Vgl. auch Caputo, S. 96: "ordinamento giuridico primario" und Spinelli I Dalla Torre, S. 44: "diritto canonico come ordinamento giuridico primario"; erläuternd G. Saraceni (Introduzione), S. 40 f. Die systematisch-rechtsphilosophische Verortung dieser Begriffsbildung wird nicht offengelegt. Man wird aber nicht fehlgehen, sie in der Institutionentheorie S. Romanos grundgelegt zu sehen, die auch im spanischen kanonistischen Schrifttum rezipiert wurde, z. B. bei Calvo, S. 67-71, der sich hierbei hauptsächlich auf das nicht ins Deutsche übertragene Buch Romanos ,,Principii di diritto costituzionale generale", 2. Auf!., Milano 1947 bezieht. Romano war es auch, der mit durchschlagenden Argumenten (S. 107 -110) die These kritisierte, daß die Ordnung der vom moralischen Standpunkt aus "notwendigen" Gemeinschaften eine rechtliche Sonderqualität besäße, wie sie von R. Sohm (Weltliches und geistliches Recht), S. 12 ff., vertreten wurde. 33
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d. h. aber doch naturrechtlicher Vorgegebenheit, und ius divinum positivum ("ex ipsa ordinatione divina") steht; (b) das Problem des Verhältnisses von Primat und Kollegium, und zwar in der Frage, ob diese eigengeartete Rechtspersönlichkeit wirklich nur der Universalkirche und dem Heiligen Stuhl und nicht auch dem Bischofskollegium eignetJ9 •
b) "Jura Nativa" als subjektive Rechte Die Tragweite des "persona moralis"-Modells läßt sich aber nur erfassen, wenn wir die Aussage des c. 113 § 1 in Beziehung setzen zu einem ganzen Ensemble von so bezeichneten "jura nativa", wobei hier der Terminus "ius proprium et exclusivum" als gleichbedeutend anzusehen ist. Diesen Zusammenhang haben für den CIC /191 7, als Zusammenhang zwischen "persona moralis ex ordinatione divina" und "ius nativum", bereits G. Michiels 40 und J. Faßbender 41 herausgestellt. Begrifflich sind mit diesen "jura nativa" diejenigen Rechte umschrieben, die der Kirche kraft ihrer Einrichtung und Gründung durch Christus zukommen 42 • Sie lassen sich nach traditioneller Auffassung jedoch auch aus der Natur der Kirche als "societas perfecta" herleiten. "Recht" wird dabei im subjektiven Sinne als Einzelberechtigung und Anspruch verstanden 43 • Diesen besonderen Berechtigungen lassen sich mit Michiels 44 sog. "jura adventitia" gegenüberstellen, "quae ab Ecclesia acquiri possunt et de facto acquiruntur titulo humano". Wie bereits aus der Übersicht im vorangegangenen terminologischen Unterabschnitt hervorgeht, übernimmt der CIC/1983 alle schon im CIC/1917 festgeBueno Salinas, S. 200. Bejahend hinsichtlich der Qualität des Bischofskollegiums als moralischer Person neuestens Aymans I Mörsdorf, S. 313. Ebenso Coccopalmerio, (Persona iuridica), S. 391 f. unter Hinweis auf die Eingangskanones des Abschnitts "Oe Bonis Temporalibus", cc. 1255 und 1257. Immerhin führt das 2. Vaticanum in Art. 22 LG aus: "Sicut, statuente Domino [Hervorhebung vom Verf.], Sanctus Petrus et ceteri Apostoli unum Collegium apostolicum constituunt, pari ratione Romanus Pontifex, successor Petri, et Episcopi, successores Apostolorum, inter se coniuguntur." Und c. 336 CIC I 1983 bezeichnet es, allerdings ohne Bezugnahme auf eine göttliche Weisung als "subiectum quoque supremae et plenae potestatis in universarn Ecclesiam exsistit". 40 (Principia Generalia), S. 372: "Ecclesia Catholica persona moralis est ex ordinatione divina ... Haec ratione et ipsa voluntate divina Ecclesiae ut ,iura propria et nativa' campetunt jura omnia quae ipsis necessaria sunt ut effective attingat finem specificum ipsi qua societati juridicae perfectae a Christo praestabilitum ... etiarn vero sie dicta jura publica et intemationalia, specificae eius naturae consentanea. Ita v. g., juxta explicita Codicis verba: cc. 196, 1322 § 2, 1495 § 1, 1499 § 1, 1496, 1553 § 1, 2214 § 1". 4t S. 50-52. 42 Faßbender ebda., Landolt, S. 24; Ghesquieres, S. 63 I 63. 43 Köstler, S. 204, rechte Spalte. 44 (Principia Generalia), S. 372, Anm. 2. 39
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schriebenen "jura nativa" 45 mit Ausnahme des c. 331, der das auf die päpstliche Amtsgewalt gemünzte "a quavis humana auctoritate independens" zu einem "quam semper libere exercere valet" abschwächt. So statuiert also der neue Kodex noch sieben "iura nativa", nämlich c. 232 (Klerikerausbildung), c. 362 (Recht der freien Legation), c. 747 § 1 (Verkündigungsfreiheit), c. 1254 § 1 (Allgemeine Vermögensfähigkeit), c. 1260 (Abgabenhoheit), c. 1311 (Strafgewalt) und c. 1401 (Justizhoheit) 46 • Als Berechtigte dieser "iura nativa" ist in allen Fällen, von der Ausnahme des c. 362, wo von "Romano Pontifici ius" die Rede ist, die Kirche selbst genannt 47 • Auch das belegt die gerade Linie zwischen dem c. 113 § 1 und den aufgeführten subjektiven Rechten. Und es wäre ein Indiz mehr für die Auffassung Bueno Salinas, daß sich der c. 113 § 1 darauf hätte beschränken müssen, der Universalkirche die Qualität einer persona moralis zuzuschreiben 48. Damit kann als Zwischenergebnis festgehalten werden, daß im neuen CIC die in den Eingangskapiteln beschriebene "societas perfecta"-Lehre dem methodischen, nämlich institutionentheoretischen Grundansatz nach beibehalten worden ist, durch den c. 113 § 1 auch in begrifflich klarerer Form 49 • Wie sich an den Einzelberechtigungen, den "jura nativa", ablesen läßt, hat die Deklarierung der Kirche als "persona moralis" sowohl eine kirchenintern strukturierende Funktion als auch eine kirchenextern defensiv-vindikative Funktion. Denn sie stellt die Kirche analog der Staatstheorie der beginnenden Neuzeit als eine in ihren Hoheitsfunktionen nicht ergänzungsbedürftige überindividuelle Institution vor, der die zur Verwirklichung ihres spezifischen Zweckes als notwendig erachteten Handlungsmöglichkeiten höchstkompetentiell eigen sind 50• Die Autonomie der Kirche gegenüber anderen Sozialgebilden, also ihre wirksame Eigengesetzlich45 Die Formel "a civili potestate independens" ist, wie Faßbender, S. 52, zurecht herausstellt, eine Schlußfolgerung aus einem Ius Nativum und deshalb mit seiner ausdrücklichen Erwähnung gleichzustellen. Ebenso, wenn auch lediglich in Bezug zum jetzigen c. 362, dem vormaligen Art. III des Motu Propio "Sollicitudo omnium Ecclesiarum" Pauls VI., W. Plöchl (Gesandtschaftsrecht), S. 124, Anm. 9. 46 Vgl. dazu auch Hollerbach, Art. "Naturrecht, IV., 3.: Naturrecht und Kirchenrecht"im ste, Bd. III. (1987), sp. 1312-1315 (1313). 47 Das spricht dafür, die Norm des c. 362 nicht als "ius nativum" im eigentlichen Sinne, sondern als Derivatrecht der Primatialgewalt, c. 331 CIC I 1983, anzusehen. Ähnlich dürfte es sich auch mit der Regelung des c. 377 § 1 CIC I 1983 verhalten, die bezüglich der Ernennung der Bischöfe sagt: "Episcopos libere Summus Pontifex nominat, aut legitime electos confirmat." Das dort aufgeführte "libere" übernimmt die Aussage des c. 329 § 2 CIC I 1917 und ist (einschränkend) dahingehend zu interpretieren, daß es sich auf Einflußnahmen außerkirchlicher Mächte, insbesondere der Staaten, bezieht. Dies ergibt der Kontext zu c. 377 § 5, denn eine auch innerkirchliche Abwehrhaltung würde die neue Norm selbstwidersprüchlich erscheinen lassen. 48 Bueno Salinas, S. 200, mit dem Zusatz allerdings, daß sich diese persona moralisQualität der Universalkirche dann auf ihr Leitungsorgan, den Apostolischen Stuhl, übertrage. 49 Bestätigend Valdrini (Droit Canonique), S. 126 I 127. so Ebenso Dalla Torre, S. 505 I 506.
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keit, wird somit nach wie vor mit einem naturrechtliehen Denkmodell 51 zu begründen versucht52 • c) Vergleich und Kritik
Aus diesem Zwischenergebnis jedoch den Schluß zu ziehen, es habe sich in der kanonischen Doktrin des Verhältnisses von Kirche und Staat gegenüber dem Vorgängerkodex nichts getan, wäre voreilig 53 • Denn im Gegensatz zum CIC I 1917, für den eine Erwähnung des Kirchenbegriffs selbst jenseits seiner juridischtechnischen Grundintention lag, bemüht sich der neue Kodex in c. 204, dem Eröffnungskanon des kirchlichen Verfassungsrechts, eine heilsgeschichtliche Umschreibung der Kirche und ihrer Sendung zu geben 54 . Er bringt im Gefolge der Kirchenkonstitution Lumen Gentium deutlich zum Ausdruck, daß die Sendung der Kirche von allen ihren Gliedern erfüllt wird, also weder vorrangig noch gar ausschließlich von der geistlichen Hierarchie 55• Der institutionellen Form der Kanones 113 § 1 und 204 § 2 wird in c. 204 § 1 ihre personale Substanz vorangestellt: die "societas ordinata" ist zugleich "communio fidelium" 56. Damit ist zunächst mehr programmatisch denn konkret (das heißt hier: Rechtsfolgen bedingend) ein entscheidender Schritt der Distanzierung von einem ausschließlich oder überwiegend hierarchischen Kirchenbild vollzogen 57. In direktem Zusammenhang damit, nämlich der Aussage in § 2, daß die Kirche Christi sich in der Katholischen Kirche verwirklicht ("subsistit"), ist auch die Selbstbegrenzung des Geltungsbereichs des kanonischen Rechts durch die cc. 96 und 11 CIC I 1983 ("baptizati in Ecclesia Catholica" gegenüber den cc. 87, 12 CIC I 1917) zu sehen. 51 Dem also ein Schluß von einem Sein auf ein Sollen zugrunde liegt; a. A. Pototschnig,
s. 878.
Corecco (Kulturelle Voraussetzungen), S. 17-20. So aberMikatim StL7 , Bd. III. (1987), Sp. 482.: "Mag auch die Bezeichnung der K. als einer ,societas perfecta' auf dem Konzil in den Hintergrund getreten sein; der Sache nach begegnet die mit dem Begriff verbundene Konzeption im CIC I 1983 letztlich doch ungebrochen [Hervorhebung vom Verf.] wieder ... "; ebenso allerdings auch List! (Kanonistische Teildisziplin), S. 476. 54 MünstKomm I Reinhardt, Komm. zu c. 204, Anm. 1; ComCod I Pinto, Komm. zu c. 113 § 1, s. 67. 55 CCL I Provost, S. 124. 56 Zur grundlegenden Bedeutung der Sakramente für die im c. 205 bezeichnete "communio" vgl. auch Caputo, S. 183. 57 Es geht nicht an, die Aussage "societas ordinata", wie Walf (Kirchenrecht), S. 149 f., es tut, mit "societas perfecta" gleichzusetzen. Ebenso, für Art. 8 LG: List! (Kirche und Staat), S. 225, Anm. 49. Die Tatsache, daß mit der Aussage auch das hierarchische Element in der Kirche (vgl. Art. 8 LG, Satz 1) Berücksichtigung findet, läßt noch keinen Schluß auf die unmodifizierte Übernahme des "societas perfecta"-Modells zu. Vielmehr wird man mit R. Sobanski (L 'Ecclesiologie), S. 259 I 260, sagen können, daß auch c. 204 § 2 das Kirche-Mysterium in seiner Komplexität, nämlich seiner sichtbaren wie unsichtbaren Seite, zum Ausdruck bringt. Es ist ein Hinweis auf die Analogie der Kirche zum Geheimnis der Inkarnation; vgl. dazu dens. in (Grundlagenproblematik), S. 129 I 130. 52 53
8 Göbel
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Als Anknüpfungspunkt von Rechtsfolgen (Berechtigungen und Verpflichtungen) tritt neben den Formalakt der Taufe die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Communio Ecclesiae, die mit der Ecclesia Christi aller Getauften nur teilidentisch ist. Hier ist jetzt also explizit der Versuch gemacht, die Kirche aus genuin theologischen Anschauungen heraus zu begreifen. Damit stehen, ohne die praktischen Konsequenzen der letztgenannten Sichtweise hier bereits aufzuzeigen, "zwei grundlegende Konzepte zur Begründung des übrigen kanonischen Rechts bereit. Die Kirche Christi verwirklicht sich in der hierarchisch verfaßten Katholischen Kirche. Der Getaufte begründet die Kirche, ein gesendetes Volk. Das macht aber aus der Kirche noch keine Gesellschaft, die auf dem Willen ihrer Mitglieder gründet, weil in ihrer Taufe die Tat Christi wirkt. Es macht aus ihr aber ebensowenig eine von ihren Mitgliedern getrennte Institution, eben weil das Volk die Kirche ist."5B. Es stellt sich hier die Frage, ob beide Konzepte unverträglich sind und der CIC I 1983 nicht besser daran getan hätte, sich juristischer Kategorien ganz zu entschlagen und die durch "iura nativa" gekennzeichneten Anliegen rein theologisch zu begründen 59. Eine fundierte Kritik dieses zweispurigen Systems des CIC wird allenfalls dann möglich, wenn sich Alternativkonzepte aufzeigen lassen. Darum sei ein Blick auf den Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium (CCEO) des Jahres 1990 60 und noch einmal auf die oben bereits vorgestellte LEF (jüngster Entwurf; TN) geworfen. Abschließend soll eine kritische Äußerung aus dem kanonistischen Schrifttum diskutiert werden. (l) CCEO
Schon beim ersten Durchgang der Gliederung des Gesetzbuchs fällt auf, daß sich diese Gliederung nicht um den Grad von Abstraktheil bemüht wie diejenige des CIC. Wir finden im CCEO weder Libri noch Partes, sondern der "Titulus" ist umfassendste Gliederungseinheit Insgesamt dreißig "Tituli" weist der CCEO auf. Immerhin läßt sich eine dem CIC vergleichbare Anlage feststellen, mit der wichtigen Ausnahme allerdings, daß der CCEO- nach sechs "Canones Praeliminares" zum Geltungsbereich des Gesetzbuches- mit der Materie "Volk Gottes" anhebt, genauer mit dem Titulus "De Christifidelibus eorumque omnium iuribus et obligationibus". Auf einen Abschnitt "De Norrnis Generalibus" hat der CCEO 58 CCL I Provost, S. 126, rechte Spalte. 59 Dies ist wohl der Hintergrund folgender kritischer Bemerkung Coreccos in (Justifications), S. 86: "The legal entity of the ,moral person', in effect, even when it designates a theological reality of fundamental importance, like for example the college of bishops, is not capable of playing any definitory role taken from its ecclesiological profile. lt remains ajuridical superstructure of a positive character, both legitimate and useful, but incapable of adaequately comprehending the ontological reality at its base." 60 Promulgiert von Papst Johannes Paul II. mit der Konstitution "Sacri Canones" vom 18. 10. 1990 mit vorgesehenem Inkrafttreten zum 1. 10. 1991: AAS 82 (1990), S. 1033 1044; im Anschluß daran der Gesetzestext selbst S. 1045-1363.
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also verzichtet. Dessen Teile finden sich über das gesamte Gesetzbuch verstreut 61 • Bereits daraus läßt sich ersehen, daß der CCEO keinen juridisch-technischen Schwerpunkt haben soll, sondern einem erneuerten Kirchenbewußtsein Form verleihen will 62 • C. 7, also praktisch der erste Kanon des CCEO, ist eine wortgleiche Entsprechung zum c. 204 CIC I 1983 (insoweit kann also auf das eben Gesagte verwiesen werden). Hingegen erscheint c. 207 § 1 CIC I 1983 (die Übernahme der Ständetrennung Kleriker I Laien von c. 107 CIC I 1917) in bemerkenswert abgewandelter Form erst als c. 323 § 2 CCEO zu Beginn des Titels "De Clericis" 63 • Der Terminus "persona moralis" hat dagegen keine Aufnahme in den CCEO gefunden. Der entsprechende Titulus XIX regelt in seinem 2. Abschnitt nur die "personae juridicae" (vgl. c. 920 CCEO), und zwar nach gleichem Muster wie die cc. 113 § 2 ff. CIC I 1983. Damit stellt sich aber doch die Frage, ob Kirche und Heiliger Stuhl nicht als "personae morales" vorausgesetzt werden 64 • Denn wenn wir einen Vergleich mit der "iura nativa"-Reihe des CICI 1983 machen, ist zu beobachten, daß auch der CCEO ganz ähnliche Bestimmungen aufweist. Zwar fehlen Bestimmungen, die den cc. 362 (Gesandtschaftsrecht) und 1401 CIC I 1983 (Sachliche Gerichtszuständigkeit) entsprechen. Aber "Jura Nativa" finden sich in c. 595 § 1 zur Verkündigungsfreiheit 65 sowie c. 1007 CCEO zur Vermögensfähigkeit 66 • Immerhin fallt bei dieser Bestimmung der gegenüber 61 Titulus XIX: De Personis et de actibus juridicis Titulus XX: De officiis Titulus XXI: De Potestate Regiminis Titulus XXII: De Recursibus adcersus decreta administrativa (diese Titel sind angesiedelt zwischen dem Sakramenten- und dem Vermögensrecht); Titulus XXIX: De lege, de consuetudine et de actibus administrativis Titulus XXX: De praescriptione et de temporibus supputatione (diese Titel finden sich ganz am Ende des Gesetzbuches noch nach dem Strafrecht). 62 E. Eid, S. 13 I 14 und 23. R. Potz, selbst Mitarbeiter der PCOR, spricht im HbkKR, S. 61, explizit vom "pastoralen Charakter" dieses Kodex: die "Ieges perfectae" seien auf das Nötigste zu beschränken. Und C. G. Fürst, seit 1978 ebenfalls Mitarbeiter der PCOR, spricht in (Kirchenrechtskodex), S. 139 I 140, davon, daß der CCEO durchaus eine ,,katholische Alternative" zum CIC sei und zeige - besonders in den Bereichen Eherecht und Strafrecht - , daß "innerhalb der katholischen Kirche in einem gar nicht so engen Rahmen Platz für durchaus divergierende rechtliche (und theologische) Lösungen ein und desselben Problems, durch denselben Gesetzgeber sanktioniert, möglich sind" .. 63 Wortlaut des c. 323 § 2 CCEO: "Ratione sacrae ordinationis clerici ex divina institutione a ceteris christifidelibus distinguuntur." 64 In diesem Zusammenhang möchte ich auf einen bemerkenswerten Unterschied zum CIC hinweisen. Der CCEO wiederholt in c. 42 wörtlich die Aussage des Art. 22 LG -oben zitiert in Anm. 39- zur Kirchenleitung in Einheit von Papst und Bischofskollegium. 65 "Ecclesiae ... ius nativum a qualibet potestate independens et obligatio est omnibus hominibus Evangelium praedicandi." 66 "Ecclesiae in procurando bono hominum spirituali bonis temporalibus eget et utitur, quatenus propria eius missio id postulat, quare ipsi ius nativum competit acquirendi, possidendi, administrandi atque alienandi ea bona temporalia, quae ad fines ei proprios ... necessaria sunt." Dieser Kanon entspricht beinahe wörtlich dem c. 83 § 2 des LEFEntwurfs TN.
s•
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c. 1254 § 1 CIC I 1983 erhöhte, theologisch inspirierte Begründungsaufwand auf. Besonders kraß gerät dieser sprachliche Unterschied zwischen c. 1311 CIC I 1983 und dem blumig formulierten c. 1401 CCEO, der versucht, den kirchlichen Strafanspruch zu legitimieren 67 • In c. 1011 CCEO ist das "ius nativum" des c. 1260 CIC I 1983 zum einfachen "ius" abgeschwächt und c. 328 CCEO, der die Klerikerausbildung regelt, spricht von "Ecclesiae proprium ius et obligatio", nicht wie c. 232 CIC I 1983 von einem "Ecclesiae ius proprium et exclusivum". Es ist nicht ganz einfach, aus den zusammengetragenen Fakten Schlüsse zu ziehen. Sicher ist nur, daß das Autonomiepostulat, das sich auch an die Staaten richtet, aufrechterhalten wird. Denn substantiell sind alle Autonomiethesen des lateinischen CIC im CCEO beibehalten (die Ebene der internationalen Rechtsbeziehungen brauchte der CCEO nicht mehr zu regeln). Fraglich bleibt, inwieweit diese aber noch durch das "societas perfecta"-Modell begründet werden. Hier ist die Sachlage nicht eindeutig, doch geht ein deutlicher Trend dahin, auch die kirchliche Autonomie gegenüber dem Staat genuin theologisch, aus göttlicher Stiftung der Kirche als Communio Fidelium und Trägerio einer göttlichen Sendung herzuleiten 68 - frei von Bezugnahmen auf naturrechtliche Kategorien. (2) LEF Ein Vergleich der Normierung des CIC mit derjenigen der LEF ist deswegen nicht ganz unproblematisch, weil diese von vorneherein eine andere gesetzgebensehe Zielsetzung haben sollte als jene. Der wesentliche Inhalt ihrer kirchenstaatsrechtlich relevanten Articuli wurde auch bereits oben dargestellt und bewertet. Hier soll es allein noch einmal um einen gerafften konzeptionellen Vergleich gehen. Dabei soll insbesondere geprüft werden, inwieweit sich auch in der LEF Reste des "Societas perfecta"-Modells erhalten haben, um abschließend zum CIC-Modell Stellung nehmen zu können. Ausgehend von der letzten Entwurfsfassung, dem TN des Jahres 1980, ist zunächst als signifikant festzuhalten, daß, obwohl in den cc. 1 ff. des TN bereits ausführlich auf das Wesen der Kirche eingegangen wurde, das Caput III ("Die Sendung der Kirche und die aus ihr hervorgehenden Rechte") in c. 50 nochmals darauf zu sprechen kommt, nun allerdings in sehr synthetischer Art und Weise. 67 "Cum omnem rationem init Deus, ut errantem ovem reducat, illi, qui ab Eo solvendi et ligandi potestatem acceperunt, morbo eorum, qui delinquerunt, convenientem medicinam afferant, eos arguant, obsecrent, increpent in omni patientia et doctrina, immo poenas imponant, ut vulneribus a delicto illatis medeatur ita, ut neque delinquentes ad desperatonis praecipitia impellantur neque frena ad vitae dissolutionem et legis contemptum relaxentur." 68 Bei diesem gesamten Problemkomplex steht, wie Hollerbach im StL7 (a. a. 0. Anm. 46), Sp. 1313, richtig sieht, die Frage im Hintergrund, "ob bei einem exklusiv theologischen Verständnis von Kirchenrecht auf der Grundlage der sog. CommunioEkklesiologie überhaupt noch Raum ist für ein spezifisch natürliches Recht in der Kirche".
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Dort wird die Kirche als "communitas spiritualis fidelium, bis in terris in societatem hierarchice ordinatam constituta . . . ad regnum Dei . . . in hoc mundo dilatandum" vorgestellt. Die Redaktoren der LEF hielten also offensichtlich, um auf die oben aufgeworfene Frage nach der Möglichkeit einer Koexistenz von theologisch und naturrechtlich begründetem Recht zurückzukommen, eine solche Harmonie für denkbar: göttliches Mandat und damit spezifische Materie vollzieht sich in allgemein-menschlichen Strukturen und generellen Formen. Gnade und Natur schließen einander nicht aus. Beinahe im selben Atemzug, nämlich in § 2 des zitierten Kanon, wird die Eigenart der göttlichen Sendung aber nochmals herausgestellt und als "ordinis religiosi" bezeichnet. Schon damit ist die kirchliche Autonomie gegenüber politisch-staatlichem Einfluß behauptet. Der TN geht aber noch einen Schritt weiter, indem er im c. 51 erklärt: "Ecclesia temporalium rerum societatumque ordinis temporalis propriam agnoscit autonomiam". Hierin ist e contrariodie gleichsam komplementäre Kirchenfreiheit ausgesagt. Expressis verbis wird sie dann im schon oben behandelten c. 53 § 2 TN statuiert, bemerkenswerterweise "quoque quatenus est societas hominum" . Nach alldem erscheint die Wiederaufnahme der leoninischen Dichotomie in c. 54 § 2 TN in zweifacher Hinsicht problematisch: (a) was die Kirche betrifft, ist die Aussage redundant - ihre Autonomie ist bereits behauptet und begründet; (b) was den Staat betrifft, scheint sie über das Ziel einer kirchlichen Gesetzgebung hinauszuschießen, denn hier wird eine rein staatstheoretische Aussage gemacht, aber keine kanonische Rechtsfolge bestimmt. Auch im jüngsten Entwurf zu einer LEF hat sich also kein neuer stringenter Grundansatz etablieren können, der kanonisch-verbindlich eine Begründung der Zuordnung von Kirche und Staat leisten könnte und gleichzeitig die methodische Problematik der juspublizistischen Begründung über das "societates perfectae"-Modell hätte hinter sich lassen können. Die inhaltliche Ausgestaltung dieses Verhältnisses wurde jedoch durchaus konsequent, auf der Grundlage der "libertas religiosa" unternommen, wie bereits oben gezeigt worden ist. (3) Schrifttum Nachdem also in sämtlichen neuerenkirchenrechtlichen Gesetzbüchern bzw. Verfassungsentwürfen ein tragflihiges Alternativkonzept zur rechtlichen Begründung des uns interessierenden Ordnungsproblems nicht zu finden ist, sollte erwartet werden, daß zumindest in der jüngeren kanonistischen Literatur weiterführende Alternativkonzepte entwickelt werden. Dem ist jedoch nicht so. Da die kodikarische Seite der Rechtsbeziehung von Kirche und Staat bislang nicht systematisch untersucht wurde, ist auch aus dem Schrifttum keine systematische Alternative zum entwickelten, der Tradition verhafteten CIC-Modell zu erkennen 69 • Der 69 Diese Feststellung trifft ebenso List! (Kanonistische Teildisziplin), S. 480 mit Anm. 75 und S. 485.
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einzige ersichtliche Neuansatz ist die folgende, eher beiläufige Bemerkung E. Coreccos: "Im kulturellen Kontext der Gegenwart hat sich die Beziehung zwischen Kirche und Staat weniger an den Spitzen der zwei Institutionen zu orientieren, sondern muß vielmehr im Recht des Menschen auf Gewissensfreiheit ihre Grundlage finden. Die ,libertas Ecclesiae' muß mehr in der Gewissensfreiheit als in der Betonung der institutionellen Gewalt der Kirche, welche jener des Staates parallel gegenüberstünde, ihren eigenen genetischen Ort suchen, worauf übrigens auch ,Gaudium et Spes' ganz eindeutig hingewiesen hat." 70. Dem läßt sich zunächst entgegenhalten, daß auch die Grundnorm des c. 113 § 1 CIC I 1983 mit den ihr zugeordneten Einzelfreiheitsrechten, wie W. Aymans es tut, als Ausdruck eines Freiheitsanspruches der Kirche interpretiert werden kann, der auf dem Menschenrecht der Gewissens- oder besser der Religionsfreiheit gründet71. Diese Deutung, soweit sie suggerieren wollte, c. 113 § 1 sei in den Kodex aufgenommen, um den Anspruch der Kirche auf das Grundrecht der Religionsfreiheit zu betonen, schiene mir zwar weder mit der Systematik noch der Entstehungsgeschichte und Auslegungstradition dieser Normen zu harmonieren. Sie bringt aber auf alle Fälle zutreffend zum Ausdruck, daß auch die noch erhaltene juspublizistische Begründung der Kirchenfreiheit gegenüber dem Staat, die der CIC erkennen läßt, nicht der nunmehr vollzogenen Anerkennung der Religionsfreiheit widerspricht. Es stellen sich für die von Corecco offenbar favorisierte Begründung der Kirchenfreiheit aus der individuellen Religionsfreiheit allerdings andere gewichtige Probleme. Denn was aus der Sicht des modernen Staates bzw. seines Staatsrechts unzweifelhaft adäquat erscheint, wird damit noch nicht automatisch kirchenrechtlich umsetzbar und tauglich. Denn abgesehen von der Unbestimmtheit der Aussage Coreccos: impliziert sie nicht, daß die Kirche ad extra als nicht mehr denn die Summe der Individualfreiheiten ihrer Glieder aufzutreten imstande ist? Kann das mit der auch noch nach neuerem ekklesiologischem Verständnis zutreffenden Aussage vereinbar sein, daß die Kirche ad intra, also gegenüber ihren Gläubigen, ein qualitatives "Mehr" verkörpert, ein "Mehr" gegenüber der Summe des Glaubenssinns und der Gutwilligkeit ihrer Glieder? Dieser Hiatus scheint mir eine schlechte Voraussetzung zu bieten, um auf dem Weg der kanonischen Realisierung und Sicherung der auf dem Konzil begonnenen theologischen Selbstvergewisserung der Kirche im modernen kulturellen Kontext wirklich weiterführen zu können. Als Ergebnis dieser vergleichenden Betrachtungen zeigt sich, daß eine fundierte und durchgreifende Kritik des dargestellten traditionsgebundenen Ansatzes (noch?) nicht in Sicht ist. Andererseits ist zu konstatieren, daß die formale Beibehaltung des "societates perfectae"-Ansatzes inhaltlichen Weiterentwicklungen nicht im Wege steht. Diesen Sachverhalt werden die folgenden Ausführungen noch untermauern. Die augenfällig stagnierende Kreativität in bezug auf die 10 Corecco (Kulturelle Voraussetzungen), S. 20. 71 Aymans I Mörsdorf, S. 92 I 93.
II. Der Grundansatz: Die Katholische Kirche als "Persona moralis"
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kanonische Bewältigung des Kirche-Staat-Problems scheint mir ein Symptom der (bewußt herbeigeführten?) Krise der kanonistischen Teildisziplin des Ius Publicum Ecclesiasticum in toto zu sein, auch wenn sich die Stimmen mehren, die sie weiterhin für unentbehrlich halten 72 •
2. Der Grundansatz "ex negativo": Die Rücknahme kirchlicher Sonderrechte gegenüber staatlicher Hoheit Im vorangegangenen Abschnitt wurde dargelegt, wie der neue Kodex mit dem zentralen Kanon 113 § 1 die Kirche als "Persona moralis", d. h. vor-rechtlich begründeten Sozialverband, kennzeichnet und ihr auf dieser Grundlage bestimmte "iura nativa" zuschreibt, die es der Kirche ermöglichen sollen, ihren Auftrag, der zunächst noch nicht näher erläutert wird, unter den Bedingungen menschlichzeitlicher Existenz zu bewältigen. Dabei ist der CIC-Konzeption die staatliche Gewalt und Ordnungsmacht als wesentlicher Faktor dieser menschlich-zeitlichen Existenz durchaus gewärtig, weshalb auch sprachlich deutlich der Wirkbereich der Kirche von dem des Staates abgegrenzt und so ein Bereich freien Wirkens und eigengesetzlichen Handeins reklamiert wird. Es hat sich weiterhin gezeigt, daß diese Konzeption des Kodex methodisch der im ersten Kapitel in ihren Grundzügen dargestellten Theorie des Ius Publicum Ecclesiasticum folgt. Die Scheidung der beiderseitigen Wirkbereiche und des Freiheitsbereiches der Kirche, dem ein Eingriffsverbot für den Staat korrespondiert, wird, obgleich der CIC mit dem c. 204 die theologische Komplexität des Kirche-Mysteriums aufnehmen will, letztlich doch sozialphilosophisch mittels einer Argumentation zu begründen versucht, die juristische Allgemeingültigkeit beansprucht und an allgemeine Einsichten der Vernunft und Denkgesetzlichkeit appelliert. Im ersten Kapitel wurde darüberhinaus deutlich, daß die Theorie des IPE als zeitgebunden-geschichtliche Antwort auf das existentielle Ordnungsproblem des In-Beziehung-Setzens von Kirche und Staat noch einen Schritt über die reinliche Abgrenzung hinausging und aus der postulierten Höherwertigkeit des Zweckes der kirchlichen societas eine zumindest grundsätzliche rechtliche Ingerenz der Kirche in die staatliche Sphäre hinein abzuleiten können glaubte. Diese Ingerenz wurde mit dem Schlagwort von der "potestas indirecta" der Kirche gegenüber staatlicher Gewalt bezeichnet. Die Doktrin des 2. Vatikanischen Konzils brach mit diesem Anspruch. So ist es Zielsetzung dieses Unterabschnittes zu untersuchen, ob der theoretischen Regression die juristische gefolgt ist, ob also auch der neue CIC- immer vor der Folie seiner Vorgängerkodifikation betrachtet72 So entschieden wieder List!, (Kanonistische Teildisziplin), mit zwei Begründungen: (I) funktional sei das IPE unentbehrlich, um eine gemeinsame rechtliche Bezugsebene zwischen Kirche und Staat zu schaffen bzw. zu erhalten (S. 486); (2) theologisch sei das IPE geeignet, die komplexe Struktur der Realität Kirche deutlich zu machen und zu bewahren (S. 490).
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signifikante Streichungen enthält, die als Nachvollzug des bereits aufgezeigten Theoriewandels begriffen werden können. Es geht also darum, ob das Schweigen des Reformgesetzes insofern ein beredtes Schweigen ist, als sich daraus ex negativo die neue Positionsbestimmung der katholischen Kirche "in politicis" auch juridisch-dogmatisch verorten läßt. Dabei fallt das Augenmerk, worauf schon List! hingewiesen hat 73 , auf drei Streichungen des neuen CIC gegenüber dem CIC des Jahres 1917, die hier auf ihre Signifikanz für das Kirche-StaatVerhältnis untersucht werden sollen: nämlich auf das Entfallen der drei Rechtsinstitute des "Privilegium Fori", des "lus Asyli" sowie des kirchlichen Anspruchs auf das sog. "Brachium saeculare", allesamt Rechtsinstitute mit einer langen kanonischen Tradition.
a) "Privilegium Fori" Im Kodex des Jahres 1917 war unter den einleitenden, allgemeinen Kanones des Titels "De luribus et privilegiis clericorum" als c. 120 das sog. "Privilegium Fori" verzeichnet, dessen § 1 als Grundsatz beinhaltete, daß Kleriker in sämtlichen gerichtlichen Streitigkeiten, seien sie zivilrechtlicher oder auch strafrechtlicher Natur, vor den kirchlichen Richter zu laden seien, soweit nicht für bestimmte Gebiete rechtmäßig etwas anderes vorgesehen werde 74 • Im Absatz 2 des c. 120 bestimmte der CIC I 1917, daß gewisse hohe geistliche Würdenträger nicht ohne Erlaubnis des Heiligen Stuhls vor dem Laienrichter erscheinen dürfen, die übrigen "privilegio fori gaudentes" nicht ohne Erlaubnis des Ortsordinarius, in dessen Jurisdiktionsbereich die Streitsache verhandelt werden soll. Der letzte Halbsatz konzedierte aber, daß dieser Ortsordinarius die genannte Erlaubnis vor allem, wenn ein Laie Kläger ist und ein Versuch vorgängiger gütlicher Einigung fehlgeschlagen ist, nur aus gerechtem und schwerwiegendem Grund verweigern sollte 75 • Schließlich sollen die Geistlichen jedoch, die vor Gericht geladen werden, ohne daß eine Erlaubnis eingeholt worden ist, zur Vermeidung größeren Übels dennoch erscheinen, allerdings den Oberen verständigen, dessen Erlaubnis hätte eingeholt werden müssen (c. 120 § 3) 76• List! (Aussagen), S. 20 f. und 28. "Clerici in omnibus causis sive contentiosis sive criminalibus apud iudicem ecclesiasticum conveniri debent, nisi aliter pro locis particularibus legitime provisum fuerit." 75 "Patres Cardinales, legati Sedis Apostolicae, Episcopi etiam titulares, Abbates vel Praelati nullius, supremi religionum iuris pontificii Superiores, Offleiales maiores Romanae Curiae, ob negotia ad ipsorum munus pertinentia, apud iudicem laicum conveniri nequeunt, sine venia Sedis Apostolicae; ceteri privilegio fori gaudentes, sine venia Ordinarii loci in quo causa peragitur; quarn tarnen licentia Ordinarius, praesertim cum actor est laicus, ne deneget sine iusta et gravi causa, turn maxime cum controversiae inter partes componendae frustra operarn dederit." 76 "Si nihilominus ab eo qui praehabuerit veniam, conveniantur, possunt, ratione necessitatis, ad vitanda maiora mala comparere, certiore tarnen facto Superlore a quo venia obtenta non fuit." 73
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Rechtssystematisch handelte es sich um ein "unechtes Privileg" gemäß c. 71 CIC/ 1917 77 , weil es eben für den betroffenen Personenkreis nicht Ausnahmerecht, sondern regelmäßiges Recht darstellte, gegenüber dem für alle geltenden Gesetz (Iex generalis) aber den Charakter des Sondergesetzes (Iex specialis) trug 78 • Obgleich das "Privilegium Fori" eine nicht unbedeutende Rolle im mittelalterlichen Machtkampf zwischen Sacerdotium und Imperium spielte 79 und auf zunehmenden Widerstand der aufumfassende Entscheidungs- und Urteilskompetenz drängenden Staaten stieß, wurde kirchlicherseits noch in der Neuzeit der Grundsatz des "Privilegium Fori" aufrechterhalten 80• Noch während der Redaktionsarbeiten am damals ersten Kirchenrechtskodex schärfte Papst Pius X. in dem MotuProprio "Quantavis Diligentia" vom 9. 10. 1911 81 die Beachtung des "Privilegium Fori" ein. Für die Gebiete Deutschlands und Österreichs wurde das Motu Proprio allerdings durch Erklärung des Kardinalstaatssekretärs Merry del Val gegenüber dem preußischen Gesandten beim Vatikan vom 16. 12. 1911 wieder dahingehend relativiert, daß das "Privilegium Fori" in den genannten Gebieten qua "desuetudo" weggefallen sei 82• In den Entwürfen zum CIC/ 1917 war das "Privilegium Fori" jedoch von Beginn an präsent 83 und durch c. 2341 Hierzu A. Van Hove, S. 205 - 225. Van Hove, S. 26- 33; Mörsdorf (Lehrbuch I), S. 148. Das Rechtsinstitut des "unechten Privilegs" ist übrigens mit dem neuen CIC fortgefallen, wie aus der neugefaSten Legaldefinition des c. 76 § 1 CIC I 1983 deutlich wird. Dazu Heimerl I Pree, S. 69 und Aymans I Mörsdorf, S. 256 I 257. Im übrigen war die Bezeichnung "privilegium" für die cc. 120, 121 CIC I 1917 in einem ganz anderen Sinn gemeint: nämlich als Privilegien im staatsrechtlichen Sinn, eben nur kirchenrechtlich fundiert! Denn innerkichenrechtlich hätte es keinen Sinn gemacht, die überkommenen sog. Standesprivilegien Privilegien zu nennen, denn dann wäre das gesamte Klerikerrecht privilegiertes Recht - und das wäre kaum in der Intention des damaligen Gesetzgebers gewesen, für den der Laienstand gewiß keinen rechtlichen Grundstatus darstellte, den das Klerikerdasein vorausgesetzt hätte. 79 Zur Geschichte dieses Kampfes noch immer grundlegend G. Teilenbach (Libertas), S. 178-192 (Höhepunkt des Kampfes: der sog. "Dictatus Pa~ae" Gregors VII. 1075. Zur Geschichte des "Privilegium Fori" Sägmüller {Lehrbuch ), S. 339-346; allg. zur mittelalterlichen Privilegientheorie: G. Le Bras, L' Age Classique 1140- 1378, Sources et Theorie du Droit; Tome VII der Histoire du Droit et des Institutions de I'Eglise en Occident, Paris 1965, S. 487-513. Den interessanten Versuch, das Wirken und das Martyrium des Bischof Thomas Beckett ( 1118- 1170) umfassend als Kampf um die Geltung gerade des "Privilegium Fori" (das in den Konstitutionen (bzw. der Assize) von Clarendon 1164 (1166) von Seiten des Königs Heinrichs Il. von England bestritten wurde) zu deuten, macht jüngst die Biographie von Pierre Aube, Thomas Beckett, Zürich 1990 (Original Paris 1988), insbes. S. 171 ff. 80 Ausf. hierzu die Untersuchung W. Kochs, S. 155-190, der auch die Rechtspraxis bezogen auf die Schweizerischen Kantone wiedergibt. 81 AAS 3 (1911), S. 555 f.; wiedergegeben bei Koch, S. 161 I 162. 82 L'Osservatore Romano vom 16. 12. 1911, Nr. 346; Stutz (Geist), S. 116m. w. N.; Mörsdorf (Lehrbuch I), S. 254 f. Auf gleichlautende Erklärungen für Belgien und Holland verweist Jone, S. 151. Allg. zum stillschweigenden Privilegienverzicht (seites des Gesetzgebers; denn nach c. 123 CIC I 1917 konnte der einzelne Berechtigte nicht von sich aus auf ein Privileg verzichten) vgl. Van Hove, S. 258-272. 11
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auch strafbewehrt. Dies erschien konsequent, schließlich sollte der CIC ja eine universale Rechtsordnung sein. Die Nichtgeltung in den Territorien deutscher Zunge hätte sich also als Ausnahmerecht dargestellt. Aber durch den Vorbehalt abweichenden Rechts bereits abgeschwächt, hat das "Privilegium Fori", soweit ersichtlich, keine größeren Irritationen zwischen Kirche und Staaten ausgelöst, zumal die Kirchenleitungen z. B. in manchen deutschen Diözesen versuchten, einem Konflikt dadurch zuvorzukommen, daß sie die Problematik vom Anspruch an den Staat auf die Disziplin des Klerus verlagerten und ihre Kleriker anwiesen, selbst keine Klagen, namentlich keine Strafklagen, anhängig zu machen ohne Erlaubnis der bischöflichen Behörde, die umgekehrt von einem angezeigten Kleriker umgehend hierüber in Kenntnis gesetzt werden mußte 84 • Sonach in praxi schon nahezu bedeutungslos, bedurfte es nurmehr des theoretischen Nachvollzugs, um das "Privilegium Fori" völlig gegenstandslos zu machen. Dies geschah in GS 76: "Das Irdische und das, was am konkreten Menschen diese Welt übersteigt, sind miteinander eng verbunden, und die Kirche selbst bedient sich des Zeitlichen, soweit es ihre eigene Sendung erfordert. Doch setzt sie ihre Hoffnung nicht auf Privilegien, die ihr von der staatlichen Autorität angeboten werden. Sie wird sogar auf die Ausübung von legitim erworbenen Rechten verzichten, wenn feststeht, daß durch deren Inanspruchnahme die Lauterkeit ihres Zeugnisses in Frage gestellt ist oder wenn veränderte Lebensverhältnisse eine andere Regelung fordem." 85 • So tauchte das "Privilegium Fori" nicht mehr namentlich in den Vorarbeiten zum CIC I 1983 auf, sondern der zuständige Reformcoetus "De Clericis" betonte generell und unzweideutig, daß es unter den heutigen Verhältnissen keinen Sinn mehr mache, sich auf Standesprivilegien zu berufen 86• Mit dem Erlaß des neuen CIC, der vom "Privilegium Fori" keinerlei Notiz mehr nimmt, hat dieses Rechtsinstitut sein unwiderrufliches Ende gefunden. Etwas anders ist die Rechtslage allerdings beim sog. "Privilegium Immunitatis", das in c. 121 statuiert war 87, wonach sämtliche Kleriker sowohl vom Militär83 Im Schema "De Personis" des Jahres 1912 erscheint es in noch verkürzter Form als c. 29: "Clerici sive in civilibus sive in criminalibus apud iudicem ecclesiasticum conveniri debent, ad normam can. 2 ,De Iudiciis'." Im Schema 1914 ist der Kanon dann bereits dem späteren c. 120 CIC I 1917 vergleichbar mit zwei nicht wesentlichen Abweichungen. "Animadversiones" zu diesem Kanon werden nicht verzeichnet. Immerhin wird man aber wohl den auch von Stutz (Geist), S. 115, Anm. 1 hervorgehobenen späteren Zusatz "nisi aliter pro locis particularibus legitime provisum fuerit" als auf die Intervention mitteleuropäischer Bischöfe zurückgehend ansehen dürfen. 84 J. Linnebom, Art. "Klerus" im StL5 , Bd. III. (1929), Sp. 428; Mörsdorf (Lehrbuch I), S. 256. 85 Pastorale Konstitution "Gaudium es Spes", zitiert nach der Übersetzung in LThK, Suppl. III, S. 533. 86 COMM 3 (1971), S. 192; COMM 9 (1977), S. 244; A. Celeghin, S. 6-10. 87 "Clerici omnes a servitio militari, a muneribus et publicis civilibus officiis a statu clericali alienis immunes sunt." Zur Geschichte Koch, S. 32-42; 65 -71 ; 125- 134; 191 205; Wemz/Vidal, Bd. II, Nr. 80-82, S. 91-93. Bemerkenswerterweise sah der CIC/ 1917 für die Verletzung des "Privilegium Immunitatis" keine Strafsanktion vor.
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dienst wie von standesfremden Diensten und öffentlichen Ämtern befreit sein sollten - und zwar kraft kirchlichen Eigenrechts. Diese Regelung wird gleich der Rechtspraxis bzgl. des "Privilegium Fori" während der Geltung des alten CIC nicht mehr als direkter kirchlicher Freistellungsanspruch gegen den Staat aufrechterhalten, wohl aber als Gebot der Zurückhaltung bis hin zum Verbot unter den Pflichten der Kleriker rubriziert (cc. 285-289 CIC I 1983) 88.
b) "Jus Asyli" Als weiteres, anscheinend ersatzlos entfallenes Recht der Kirche (als Institution) gegenüber staatlichen Autoritäten ist das kirchliche Asylrecht zu nennen. Es hatte seinen Ort in c. 1179 CIC I 1917 und besagte, daß sich die Kirche (hier auch im speziellen Sinne als Gebäude oder Gebäudekomplex zu verstehen) des Asylrechts dergestalt erfreue, daß strafrechtlich Verfolgte ("rei"), die sich in sie flüchten, von dort grundsätzlich nicht ohne Zustimmung des Ortsordinarius bzw. des Kirchenvorstehers ergriffen werden dürften 89. Auch bei diesem Anspruch handelte es sich um ein althergebrachtes Rechtsinstitut90, das in Anlehnung an das antike Interzessionsrecht 91 , aber deutlich geschieden von archaischen Formen magischen oder sakralen "Asyls" 92 kirchlicherseits aus dem Gedanken der "misericordia" entwickelt wurde und vielfaltige Funktionen erfüllte93 . In der Hauptsache diente es dazu, Exzessen der Strafabodung vorzubeugen. Damit förderte es die Humanisierung der Strafrechtspflege. Das Asylrecht implizierte aber auch einen prinzipiellen Vorrang der kirchlichen Gerichtsbarkeit vor der weltlichen und damit einen universalen Machtanspruch der Kirche auch in weltlichen Angelegenheiten 94 . Dies zeigte sich insbesondere noch an der Bulle "Cum alias" Papst Gregors XIV. aus dem Jahre 1591 95, in der entscheidend war, daß dem kirchlichen Gericht die verbindliche Feststellung darüber vorbehalten wurde, wann ein sog. "crimen exceptum" vorliege und 88 Zusammenfassend jetzt P. Ciprotti (Leggi civili), S. 284 I 285 sowie ausf. unten Abschnitt III., 2., b). 89 "Ecclesia iure asyli gaudet ita ut rei, qui ad illam confugerint, inde non sint extrahendi, nisi necessitas urgeat, sine assensu Ordinarii, vel saltem rectoris ecclesiae." Eine strafrechtliche Sanktion der Verletzung des Asylrechts findet sich in c. 2325 CIC I 1917, nämlich als "Sakrileg". 90 Ausf. P. Hinschius, Bd. IV, S. 387- 398; P. Landau, Art. "Asylrecht III." in TRE, Bd. IV. (1979), S. 319-327. Zum Asylrecht von Pilgerstätten und insbesondere zur räumlichen Ausdehnung dieses Rechts über den eigentlichen Sakralraum hinaus neuestens L. Carlen (Wallfahrt und Recht), S. 235 I 236 m. w. N. 91 Dazu eingehend P. Timbai Duclaux de Martin, S. 8-94. n 0. Henßler, Art. "Asylrecht" im HRG, Bd. I. (1971), Sp. 243-246 (245). 93 G. Robbers, S. 32-35 nennt fünf "Begründungsmöglichkeiten". 94 Robbers, S. 35; Landau, a. a. 0 . (Anm. 90), S. 324. 95 Die Bulle "Cum alias" wird als eine der Fontes zu c. 1179 verzeichnet. Text bei Bindschedler, S. 251 - 264 (dort auch mit Erläuterung); Timbai Duclaux de Martin, S. 442 I 443 und 474-476.
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demgemäß die Auslieferung an das weltliche Gericht zu erfolgen habe (§ 5). Denn damit beanspruchte der Papst, ohne sich für allzuständig zu erklären, doch eine bestimmte Kompetenz-Kompetenz für sich 96 • Auf derselben Linie liegt die Miterwähnung des Asylrechts im Syllabus Errorum, dessen propositiones 30 und 43 als Fontes zu c. 1179 angegeben werden 97• Mit der Herausbildung einer rationalen und funktionsfahigen staatlichen Strafgerichtsbarkeit und überhaupt der umfassenden staatlichen Gerichtshoheit hatte das kirchliche Asylrecht seine frühere Ordnungsfunktion verloren und wurde dementsprechend von den Staaten nicht mehr anerkannt 98 • Somit klaffte hier ein tiefer Graben zwischen Anspruch und Wirklichkeit, der sich diesmal auch in den Materialien zum CIC /1917 niederschlug. Hier findet sich bereits im Schema 1913/ A ein c. 457, der, von stilistischen Abweichungen abgesehen, dem späteren c. 1179 CIC /1917 entsprach. Hierzu merkten die Bischöfe von Köln, Lyon und Quebec an, daß die Staaten das Asylrecht nicht anerkennen würden und der Kanon deshalb Ieerlaufe. Lyon ging gar so weit vorzuschlagen, den Kanon ganz zu streichen. Eine Auswirkung haben diese Eingaben allerdings nicht gehabt. Bei diesen Ausführungen sollte aber nicht vergessen werden, daß sich das Asylrecht nur als ein Teilrecht der umfassenderen "Lokalimmunität" geweihter Stätten darstellte 99 , die in c. 1160 CIC /1917 100 verankert war und in c. 1213 CIC /1983 in weniger defensiver Form fortbesteht. Das Asylrecht des c. 1179 hingegen wurde, obgleich im Schema "De Munere Sanctificandi, Pars II" des Jahres 1977 als c. 14 noch enthalten 101 , nicht mehr in das überarbeitete Gesamtschema zum CIC des Jahres 1980 übernommen 102 • 96 Genauer gesagt die Kompetenz des "Quis interpretabitur?" als Spielart der nach dezisionistischer Seh- und Sprechweise im Verhältnis vom Staat zu nicht-staatlichen Gruppen entscheidenden Frage "Quis judicabit?"; hierzu vgl. nochmals C. Schmitt, Die vollendete Reformation. Bemerkungen und Hinweise zu neuen Leviathan-Interpretationen, in: Der Staat 4 (1965), S. 51-69 (65). 97 Prop. 30: "Ecclesiae et personarum ecclesiasticarum immunitas a iure civili ortum habuit."; Prop. 43: ,,Laica potestas auctoritatem habet rescindendi, declarandi ac faciendi irritas solemnes conventiones (vulgo ,concordata') super usu iurium ad ecclesiasticam immunitatem pertinentium cum sede Apostolica initas sine huius consensu, immo et ea reclamante." DS 2930 und 2943; letzteres obgleich die Katholische Kirche gleich in mehreren Konkordaten der Beseitigung des Asylrechts zustimmen mußte; Nachweise bei Hinschius IV, S. 397, Anm. 1. 98 Hinschius IV, S. 393 und 397. 99 WemziVidal, Bd. IV I 1, S. 459-461; Erler, Art. "Asylrecht, 3." im RGG 3 , Bd. 1, Sp. 668. 100 Einen interessanten Verlauf nahm auch die Entstehung von c. 1160 CIC I 1917, der bereits im Schema 1913 I A wie im späteren CIC lautete. Auf Anregung der Kölner Kirchenprovinz wurde die Erwähnung der "auctoritas civilis" in den Schemata 1913 I Bund 1916 (dort als c. 1162) weggelassen, in der Endredaktion, die nicht dokumentiert ist, aber wieder eingefügt. Damit war die ursprüngliche Fassung wiederhergestellt. 101 "Qui ad aliquam ecclesiam aliumve locum sacrum ad asylum obtinendum confugerint extrahendi non sunt sine assensu competentis auctoritatis ecclesiasticae" . Vgl. auch
COMM 4 (1972), S. 161 I 162.
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Neuerdings werden im deutschsprachigen juristischen Schrifttum Zweifel daran geäußert, ob der CIC den Anspruch auf ein Kirchenasyl tatsächlich aufgegeben habe oder der Anspruch nicht doch unausgesprochen in c. 1213 CICI 1983 fortbestehe 103 • Diese Stimmen können- entgegen der Prognose der Deutschen Bischofskonferenz im Zuge der CIC-Reform 104 - auf zwei neuere Staatskirchenverträge verweisen, nämlich erstens auf den Vertrag zwischen Spanien und dem Heiligen Stuhl vom 3. Januar 1979, Art. II Nr. 5 105 sowie zweitens den postkodikarischen "Accordo" zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien vom 18. 2. 1984 106• Und der 1989 erschienene, von der Päpstlichen Kommission zur Authentischen Interpretation des CIC edierte "Codex Iuris Canonici Fontium annotatione auctus" verzeichnet tatsächlich als Quelle zu c. 1213 CIC I 1983 auch den c. 1179 des CIC I 1917. Dabei ist aber zu beachten, daß ratio legis im Zusammenhang mit c. 1213 nicht mehr eine aus kirchlichem Suprematieanspruch folgende lngerenz in staatliche Strafverfolgung sein kann, sondern nurmehr die kirchliche Immunität als Teilaspekt der Freiheit der besonderen religiösen Sendung der Kirche und ihrer gottesdienstlichen Existenz (cc. 834, 840, 1205 CICI 1983), der jede Gewaltanwendung, und sei sie noch so gerechtfertigt, diametral zuwiderläuft. C. 1213 beansprucht also auch die Rücksichtnahme auf die Freiheit religiösen Wirkens 107 und nicht mehr Ingerenz in staatliche Hoheitsbereiche. Er ist deshalb, wie jüngst noch einmal U. Jakobs betont hat, "als Auffangtabestand für das kirchliche Asylrecht kaum geeignet und so auch nicht gemeint" 108. Gerade heute gilt also, was P. Hinschius bereits 1888 mit Blick auch auf Art. 7 des italienischen Garantiegesetzes vom 13. Mai 1871, der als Vorläufer der Immunitätsregelungen in den italienischen Konkordaten von 1929 und 1984 gelten darf, feststellte: "Obgleich die Kirche heute allerdings noch das Verlangen erheben kann, dass die in die Kirche geflüchteten Verbrecher unter möglichster Schonung des Gottesdienstes und unter Beobachtung der der Heiligkeit der Kirchen entsprechenden Rücksicht von den staatlichen Organen verhaftet werden, so ist dies doch eine 102 Deutlich die Stellungnahme der Deutschen Bischofskonferenz: "Can. 14 kann ersatzlos gestrichen werden. Begründung: Das Asylrecht ist vollends antiquiert und wird selbst dort, wo es bislang konkordatsrechtlich gesichert ist, aufgegeben werden. Es ist nicht Sache eines Gesetzgebers, historische Erinnerungen wachzuhalten." Dieser Ansicht haben sich augenscheinlich die Consultores angeschlossen: COMM 12 (1980), S. 332 und 337 f. 103 Robbers, S. 39; L. Gramlich, S. 200. 104 Vgl. eben Anm. 102. 10s AAS 72 (1980), S. 29 - 36 (31), span.-dt. im AfkKR 148 (1979), S. 531-539; Wortlaut: "Los Iugares de culto tienen garantizada su inviolabilitad con arreglo a las leyes.", der laut Robbers, S. 39, als auch das Asylrecht umfassend ausgelegt werde. 106 "Art. 5, 2.: Salvo i casi di urgente necessita, Ia forza pubblica non potra entrare, per l'esercizio delle sue funzioni, negli edifici aperti al culto, senza aveme dato previo avviso all'autorita ecclesiastica." Zit. nach AAS 77 (1985), S. 524. Diese Bestimmung ist wortgleich mit Art. 9 Abs. 3 des "Concordato" des Jahres 1929, vgl. Schöppe, S. 175 101 Ebenso MDC I T. Rincon, S. 538 ("parte importante del derecho de libertad religiosa"). 108 U. Jakobs, S. 33 f.
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Forderung, welche mit dem ehemaligen kirchlichen Asylrecht nichts zu thun hat, sondern durch den Charakter der betreffenden Stätten, in welchen auch jede andere profanierende Handlung zu vermeiden ist, gerechtfertigt wird." 109 • Hierin liegt auch die rechtliche Problematik der zahlreichen aktuellen Fälle, in denen sich Personen - neuerdings vornehmlich ausländische Staatsangehörige als Schutz vor Abschiebung in ihren Heimatstaat - vor staatlichem Zugriff in kirchliche Örtlichkeiten flüchten 110•
c) "Brachium Saeculare" Präzise gefaßt meint der kanonische Begriff des "brachium saeculare" ("weltlicher Arm") die Strafvollstreckung wegen eines kirchlich festgestellten Delikts durch den Staat, ohne daß er dieser Vollstreckung ein eigenes unabhängiges Erkenntnisverfahren oder eigene Unrechtstatbestände zugrundelegen würde 111 • In den Machtkämpfen des Mittelalters war die Formel vom "brachium saeculare" ein weiterer wichtiger Baustein in der päpstlichen Theorie von der Zuordnung der zwei Gewalten. Gemäß dieser Theorie umfaßte das kirchliche "Ius Gladii" auch die Blutgerichtsbarkeit ("effusio sanguinis", etwa bei Ketzern). Sie sollte jedoch nicht von der Kirche selbst ausgeübt werden ("Ecclesia non sitit sanguinem" 112), sondern eben durch Inanspruchnahme des weltlichen Arms 113 • Auch wenn diese Theorie in Gänze die Wende zur Neuzeit nicht überlebte, hielt doch gerade die !PE-Doktrin wegen des Analogieschlusses von staatlicher Hoheit auf kirchliche Hoheit am Recht der Kirche fest, auch "zeitliche Strafen" ("poenae temporaliae", vgl. c. 2214 §I CIC/ 1917 im Gegensatz zu c. 1311 § 1 CIC/ 1983) zu verhängen, die sie mit Hilfe des "brachium saeculare" vollstrecken zu können beanspruchte 114 • Immerhin war dieser Punkt geeignet, selbst den überzeugten Theoretikern des IPE die Grenzen ihres grundlegenden Analogieschlusses vor Augen zu führen 11 \ und so wurde letztlich doch im 19. Jahrhundert das 109 Bd. IV., S. 397 I 398. Im Ergebnis dann ebenso Robbers, S. 40 und MünstKomm I Reinhardt, Komm. zu c. 1213, Anm. 2. 110 Beispiele und Nachweise bei Robbers, S. 30-32; Jakobs, S. 36137. 111 Hinschius VI, S. 279 (der Aspekt der staatlichen Hilfe bei der Ermittlung von kirchlichen Straftaten, den Hinschius zu Recht miterwähnt, kann hier vernachlässigt werden, da auch sie auf das Ziel einer beliehenen Vollstreckung hinausläuft). 112 Hierzu A. Erler, Art. ,,Ecclesia non sitit sanguinem" im HRG, Bd. I. (1971), Sp. 795-798. 113 Hierzu prägnant die Rezension H. Barions zuR. Castillo Lara, Coaccion Ecclesiastica y Sacro Romano Imperio, Turin 1956, ursprgl. ZRGKan. Abt. 43 (1957), S. 354358; jetzt auch GA, S. 407-411 (dort auch zu den Verästelungen der ,,Ius Gladii"Theorie); für die frühe Neuzeit auf breiter Quellengrundlage Hinschius, Bd. VI, S. 184208. Soweit ersichtlich jüngste Zusammenstellung der historischen Quellen bei R. Laprat, Art. "Bras Seculier. (Livraison au)" in DDC, II., Sp. 981- I 060. 114 A. Dordett (Zwischen Syllabus und Canon 2214 § 1), S. 701-706. 11s Dordett, ebda.; Calvo, S. 10/11. Deutlichen Abstand nehmen auch Ottaviani I Damizia, vol. I., Pars II, Titulus IV, Caput I (De potestate Ecclesiae coactiva), Art. III (De iure gladii), n.o 178- 184 (S. 288- 303).
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"brachium saeculare" zum freiwilligen Angebot des Staates rückinterpretiert, auf das die Kirche je nach den Umständen zurückgreifen mochte 116• Umso mehr konnte es erstaunen, daß der CIC I 1917 in seinem c. 2198 117 , das zweifelsohne als Anspruch und nicht als staatliches Angebot verstandene "brachium saeculare" in nachgerade klassischer Formulierung reanimierte. So konnte Stutz 118 zutreffend davon sprechen, hier werde die kirchliche Zuständigkeit für die Straf- und Streitv~rfahren hinsichtlich der sog. "delicta und causae mixti fori" "von neuem" zur Geltung zu bringen versucht 119 • Diese Neuaufnahme hat jedoch, sieht man von der Kontroverse zwischen J. Klein und H. Barion 120 ab, weder theoretische Irritationen noch praktische Konsequenzen gezeitigt. Meist nur der Vollständigkeit halber beiläufig erwähnt 121 , wurde dem c. 2198 mit zwei Argumenten die Spitze genommen. Zum einen geschah dies unter Hinweis auf c. 1933 § 3 CIC I 1917, wonach eine kirchliche Strafverfolgung nicht stattfinden soll, wenn der Täter ein Laie ist und die staatliche Bestrafung in ausreichender Weise für das öffentliche Wohl sorge. Zum anderen wurde ins Feld geführt, daß "im übrigen" (z. B. beim "sprichwörtlichen" amtsenthobenen Pfarrer, der sein Pfarrhaus nicht räumt) auch das System der Trennung von Kirche und Staat "ausreichende Möglichkeiten" biete, um den Widerspenstigen zu zähmen 122• Die Reform des Kodex hat, gelenkt von Punkt 9. der Reformleitlinien "De Recognoscendo Iure Poenali" 123 , das "brachium saeculare" offenbar in aller Stille 116 Neben den bei Dordett, S. 705, Anm. 76 und S. 706, Anm. 78 genannten Autoren vgl. weiter Hergenröther I Hollweck, S. 610; S. Aichner, S. 700 und 704; Sägmüller, (Lehrbuch2 ), S. 747-748. Auch die CIC-Fontes führen alsjüngste Quelle die Konstitution Benedikts XIV. "Providas" vom 18.3.1751, § 8, aber eben keine Quelle mehr aus der Zeit des IPE an. Das vorkodifikatorische Standardwerk zum kanonischen Strafrecht, "De delictis et poenis" des späteren CIC-Konsultors M. Lega, 2. Aufl. 1910, erwähnt das allgemeine Problem der Strafvollstreckung ebensowenig wie das Rechtsinstitut des "brachium saeculare". 117 "Delictum quod unice laedit Ecclesiae Iegern, natura sua, sola ecclesiastica auctoritas persequitur, requisito interdum, ubi eadem auctoritas necessarium vel opportunum iudicaverit, auxilio brachii saecularis; delictum quod unice laedit Iegern societatis civilis, iure proprio, salvo praescripto can. 120, punit civilis auctoritas, licet etiam Ecclesia sit in illud competens ratione peccati, delictum quod laedit utriusque societatis Iegern, ab utraque potestate puniri potest." Die Diskussion um die "delicta mixti fori" im Zuge der Entstehung des CIC sowie die Textstufen, die dann zum c. 2198 hinführten, dokumentiert nunmehr Vismara Missiroli, S. 34 I 35 und S. 54 I 55. 11s (Geist), S. 121. 119 Nichtachtung des "brachium saeculare" und damit Behinderung der Ausübung kirchlicher Jurisdiktion war nach c. 2334 § 2 crc I 1917 mit der "excommunicatio latae sententiae speciali modo Sedi Apostolicae reservata" strafbewehrt; hierzu R. Naz, Art. "Bras seculier. (Appel au)" in DDC, II., Sp. 980-981. 120 Referiert oben im Ersten Kapitel, Abschnitt II. 121 Koeniger, S. 438; Wemz I Vidal, Bd. VII., S. 35 (nur indirekte Erwähnung). 122 Mörsdorf (Lehrbuch III), S. 313; VermeerschI Creusen, Bd. III., Nr. 385, S. 221. 123 "In recognitione iuris poenalis Ecclesiae, principium reducendi poenas in Codice stabilitas, nemo est qui non acceptet. Verum suppressionem omnium poenarum ecclesia-
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2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
verabschiedet 124 • Und für das Schrifttum ist das Entfallen des c. 2198 anscheinend ebenfalls keines Kommentars mehr bedürftig 125 • Damit hat sich die weiter fortgeschrittene Doktrin der Trennung von kirchlicher und staatlicher Gewalt so unspektakulär durchgesetzt, daß sich die vehemente und ausladende, Ende der 50er Jahre geführte Diskussion zwischen Klein und Barion über die "Tragweite" gerade auch des c. 2198 CIC I 1917 atavistisch ausnimmt. Andererseits impliziert der ersatzlose Wegfall des in c. 2198 verankerten kirchlichen lngerenzrechts des "brachium saeculare" noch keineswegs den Fortfall der juspublizistischen Begründung und Begründbarkeit des kanonischen Strafrechts 126• Und schließlich sticarum, cum ius coactivum, cuiuslibet societatis perfectae proprium, ab Ecclesia abiudicari nequeat, nemo canonistarum admittere videtur. Mensestut poenae generatim sint ferendae sententiae et in solo foro extemo irrogentur et remittantur. Quod ad poenas latae sententiae attinet, etsi a non paucis earum abolitio proposita sit, mens est ut illae ad paucos omnino casus reducantur, imo ad paucissima eaque gravissima delicta." COMM 1 (1969), S. 84 I 85. 124 Die bisher veröffentlichten Materialien der CIC-Reform, Coetus "De Iure Poenali", Übersicht in COMM 19 (1987}, S. 296-299, enthalten keine Erwähnung des "brachium saeculare". Am ehesten dürfte die Entscheidung schon in der Vorbereitung zur 1. Sessio (28.- 29. 11. 1966) gefallen sein, für die Relator Pio Ciprotti den Mitkonsultoren bereits im Mai einige "Vorfragen zum Kanonischen Strafrecht" vorlegte. Aus ihren Voten erarbeitete er dann eine "Relatio praevia de recognoscendis normis de delictis et poenis": COMM 2 (1970), S. 99. Auch die beiden begleitenden Analysen des "Schema Documenti 'quo Disciplina Sanctionum seu Poenarum in Ecclesia Latina denuo ordinata" 1973, nämlich Schwendenwein in AfkKR 142 (1973) bzw. Zapp (Strafrechtsreform) erachten es offenbar nicht für notwendig, den besagten Abschied vom "brachium saeculare", der im Schema 1973 per Schweigen dokumentiert ist, noch einmal zu vermerken. Im übrigen ist bisher nur eine Stelle der CIC-Strafrechtsreform ersichtlich, an der die Consultores auf die Abgrenzung des kanonischen vom zivilen Strafrecht zu sprechen kamen: COMM 9 (1977}, S. 318, wo es um die Strafbarkeit schwerwiegender, auch staatlich sanktionierter Einzeldelikte wie ,.Völkermord, Angriffskrieg, Pornographie[!; G.] und ähnlichem" ging. 125 Solchermaßen kommentarlos bspw. die Monographie von A. Borras, Les sanctions dans I 'Eglise, Paris 1990, die Kommentierung von ComCod I F. Nigro, S. 749-824 und diejenige bei MDC I A. Marzoa, S. 677-717. Nur Strigl im HbkKR, S. 927, läßt sich in einer allgemeinen Bemerkung einführenden Charakters ohne Nennung des c. 2198 CIC I 1917 dahingehend ein, daß ,.unsere Gegenwartsverhältnisse es nicht mehr sinnvoll erscheinen lassen, an den früher gerne [?; G.] erhobenen Anspruch auf Gewährung des weltlichen Armes zur Sicherung der kirchlichen Gemeinschaftsordnung noch festzuhalten." 126 Den Nachweis seiner Beibehaltung hat vielmehr L. Gerosa mit seiner Dissertation ,.La scomunica e una pena?" Fribourg 1984, zusammengefaßt im AfkKR 154 (1985}, S. 83-120, geführt (gegen seine konkreten Schlußfolgerungen zum Verständnis der Exkommunikation vgl. aber V. De Paolis (Aspectus), S. 241-253). Damit hat Gerosa zugleich die Grundlagendiskussion um die Berechtigung eines kanonischen Strafrechts neu belebt: vgl. auch F. Adami, S. 62-69; V. De Paolis (Aspectus}, S. 223-226; A. Marzoa Rodriguez, La censura de excomunion, Pamplona 1985; vgl. auch ders. im MDC, S. 677- 717; A. Borras, L' Excommunication dans Je nouveau code de droit canonique. Essai de definition, Paris 1987. Soweit die "societas perfecta"-Lehre allerdings als alleiniges Fundament des kanonischen Strafrechts angesehen wird, wozu Corecco und Gerosa neigen, tritt ihnen A. Borras. Les sanctions dans I'Eglise. Commentaire des Canons 1311 - 1399, Paris 1990,
li. Der Grundansatz: Die Katholische Kirche als "Persona moralis"
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bedeutet der Fortfall des c. 2198 auch nicht das Ende des Phänomens staatlicher Vollstreckungshilfe bei Verstößen gegen die Kirchendisziplin 127 • Der Anspruch auf ein "brachium saeculare" im eingangs definierten ursprünglichen und spezifischen Sinne ist heute allerdings nurmehr ein Stück Kirchenrechtsgeschichte 128 • Die Rücknahme der geschilderten drei kirchlichen lngerenzansprüche sieht man sie im Gesamt der neuen kanonischen Rechtsordnung- unterlegt mithin die Absicht des Gesetzgebers, im Verhältnis Kirche-Staat nicht mehr die
S. 200-207 unter Berufung auf die authentischen Quellen des c. 1311 CIC I 1983 entgegen und bezeichnet diese Ansicht als "exzessiv" (S. 201). AufS. 207-216 entwickelt Borras sodann seine Sicht der heutigen Begründung und Begründbarkeit der kirchlichen Strafgewalt. Angesichts dieser Diskussion bzw. angesichtsder sehr weitgehenden Ausführungen Gerosas ist sehr zweifelhaft, ob die Bemerkung von A. Eser (1989), S. 501 f. und 498, zutrifft, der glaubte feststellen zu können: "besonders auffallend . .. ist, daß sich diese abolitionistischen Tendenzen ... auf das weltliche Strafrecht beschränken. Demgegenüber wird dem kanonischen Kriminalrecht bei aller Kritik die grundsätzliche Existenzberechtigung nicht abgesprochen.". Als weiteres Anzeichen für die neu in Gang gekommene Grundlagendiskussion muß c. 1401 CCEO, der Eingangskanon zum Titel XXVII ("De Sanctionibus Poenalibus in Ecclesia") des neuen Ostkirchenkodex angesehen werden, der in deutlichem und gewiß bewußten Gegensatz zu c. 1311 CIC /1983 formuliert ist (den genauen Wortlaut s. o. Anm. 67). 127 Wenn Strigl (Brachium saeculare heute) glaubte, ein "brachium saeculare" auf disziplinarrechtlicher Ebene, also für Kleriker und Dienstnehmer, in dem Sinne begründen zu können, daß hier der Staat direkt gegen den kirchlich Gemaßregelten ohne eigenen Vollstreckungstitel vorgeht, mag das aus kirchenrechtlicher Sicht vielleicht angehen. Jedenfalls überzog er damit aber das staatlich garantierte kirchliche Selbstbestimmungsrecht (vgl. für die Bundesrepublik Deutschland Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 III WRV). Die Problematik verlagert sich vielmehr darauf, inwieweit der Staat bei seiner eigenrechtlichen Kognition der kirchlichen Inanspruchnahme das im kirchlichen Eigenrecht zum Ausdruck kommende kirchliche Selbstverständnis übernehmen muß oder darf! Als konkretes Beispiel sei die Argumentation des BVerfG aus dem kanonischen Strafrecht als Ausdruck kirchlichen Selbstverständnisses anläßlich der Kündigung eines Arztes an einem katholischen Krankenhaus, der öffentlich für die Entpönalisierung des Schwangerschaftsabbruchs Position bezogen hatte, genommmen: BVerfGE 70, S. 138173 (170 f.), der sog. "Fall Rommelfanger" (das Verfassungsgerichtsurteil ist im Verfahren nach der EMRK nunmehr bestätigt worden; Nachweis bei Hollerbach (Europa), S. 258 I 259). Ein weiterer aktueller Konfliktfall sind die staatlich-rechtlichen, genauerhin beamtenrechtlichen Rechtsfolgen der Rücknahme des bischöflichen "Nihil obstat" für katholische Universitätstheologen aufgrund eines kircheninternen Lehrbeanstandungsverfahrens; hierzu neuestens die Kontroverse zwischen W. Schachten, Quis iudicabit?. Das konfessionell gebundene Staatsamt eines katholischen Universitätstheologen und die beamtenrechtliche Fürsorgepflicht des Staates im Bereich der Grundrechte, Berlin 1989, einerseits und G. May, Rezension des Buches von Schachten in AfkKR 158 (1989), S. 653-659, andererseits. Wenn überhaupt, dann kann hier von letzten Resten eines "brachium saecuIare" gesprochen werden. Dies hat H. Reimer intuitiv erlaßt und pointiert formuliert in seinem Artikel "Ein Bannstrahl, den der Staat bezahlt" in der Süddeutschen Zeitung vom 10. 5. 1989. Zur aktuellen bundesdeutschen rechtspolitischen Diskussion um die Theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten vgl. meinen Aufsatz (Neue Bewegung), S. 190 mit Anm. 5. 12s Ebenso Ghesquieres, S. 66. 9 Göbel
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2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
eigene Suprematie unter zwei prinzipiell Gleichen zu behaupten, was ihr bis dato nicht ganz zu Unrecht den Vorwurf eingetragen hatte, sich als ,,Macht unter Mächten" (J. Neumann) zu gerieren. Heute ist es ihr "nach außen" ausschließlich darum zu tun, Freiheit für ihr "Um-Willen" einzufordern, von dem sie glaubt, daß es im göttlichen Mandat selbst gründet.
3. Die inhaltliche Ausrichtung: Evangelisierung und Menschenrechte In einem dritten und letzten Schritt zur Klarlegung des kanonischen Basiskonzepts der Beziehung der Kirche zum Staat bzw. zu den Staaten soll auf die kodikarische Benennung eben dieses "Um-Willen" eingegangen werden. Der Schritt setzt voraus, daß Freiheit, wie schon anhand der Lehräußerungen Leos XIII. (s.o. I. Kapitel, 1., 2., b)) gezeigt wurde, nach kirchlicher Lehre in ihrem Vollsinn stets Freiheit "für", also positive Freiheit, nicht bloß Freiheit "von", also negative Freiheit, ist. Insofern liegt hierin wohl auch der richtige Kern der "Finis"-Argumentation des IPE (s. o. 1. Kapitel, 1., 2., a)) und darf die jetzt erläuterte Norm als kanonisches "aggiornamento" dieses Gedankens aufgefaßt werden.
a) Verkündigungsauftrag C. 204 § I CIC I I983, der, wie wir bereits erläutert haben (s. o. 1., a), die grundlegende Charakterisierung der Kirche als "Volk Gottes" fixiert, nennt als ihr "Um-Willen" recht allgemein ihre "Sendung", die in der Welt zu erfüllen ihr von Gott anvertraut sei(" . .. missionem, ... quam DeusEcclesiaein mundo adimplendam concredidit."). Immerhin trifft derselbe c. 204 § I bereits eine Verknüpfung zum Tria-Munera-Schema, den drei Ämtern Christi nämlich, so daß es eigentlich naheläge, auch die kirchliche Sendung mithilfe dieser Aufteilung besser zu begreifen und zu konkretisieren 129 • Ein erstes Hindernis auf diesem Weg ist aber bereits, daß der CIC selbst in seiner Gliederung dieses Tria-MoneraSchema nur unvollständig übernimmt: das "munus regendi" ist nicht eigenes Gliederungsprinzip geworden, sondern steckt inhaltlich in den Büchern I ("Allgemeine Normen") und II ("Volk Gottes"). Immerhin läßt sich je eine Fundamentalnorm für jedes "munus" ausmachen: c. I29 § I für das "munus regendi", c. 747 § I für das "munus docendi" und schließlich c. 834 § I für das "munus sanctificandi". Für die Nutzanwendung zur Klärung des Begriffs der kirchlichen "missio" 129 Grundlegend L. Schick, Das Dreifache Amt Christi und der Kirche. Zur Entstehung und Entwicklung der Trilogien, Frakfurt 1982; zusf. ders., Teilhabe der Laien am Dreifachen Amt Christi: Ein zu realisierendes Programm, in J. Pfammater I F. Furger, Die Kirche und ihr Recht, Theologische Berichte XV, ZürichlEinsiedeln 1986, S. 39-81 (insbes. S. 40-49 und S. 68-75 (dort zum CIC I I983)).
II. Der Grundansatz: Die Katholische Kirche als "Persona moralis"
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aber müssen hier schon Probleme aufkommen. Gibt es, da diese "missio" ja als "in mundo adimplenda" gedacht ist, wirklich eine eigene "missio" des Amtes? Oder baut sich die kirchliche Sendung, was an die Mörsdorfsche Formel von "Wort und Sakrament" erinnert 130, nach außen nurmehr aus Verkündigungs- und Heiligungsdienst auf? Einen anderen, einleuchterenden Zugang zur Umschreibung der kirchlichen "missio" bietet meines Erachtens eine extensive Interpretation 131 des c. 747 § I CIC I 1983. Dieser Kanon stellt ohne Zweifel eine "Fundamentalnorm" 132 dar. Denn hier stößt man unmittelbar auf biblischen Wurzelgrund, nämlich den zentralen sog. Missionsbefehl Jesu an seine Jünger (Mt. 28, 19 und Mk. 16, 15). Dabei ist eben gerade Mission umfassend gemeint, nämlich nicht nur als Predigt, Lehre oder Wortverkündigung. Deshalb erscheint auch eine Interpretation dieser Mission in Analogie zu dem johanneischen Primat des Wortes (Joh. 1, 1) nicht abwegig: in diesem Sinne meint dann "Wort" nicht bloß gesprochene Belehrung, sondern schöpferische Heilszusage, die jede Art personalen Ausdrucks umfaßt. Daß es sich bei c. 747 § 1 um eine absolut zentrale kanonische Norm handelt, läßt sich weiterhin daran ablesen, daß sich eine c. 747 § 1 entsprechende Norm nicht bloß im CCEO findet (c. 595 § 1 CCEO), sondern daß inhaltsgleiche Normen sowohl im Schema "De Munere Docendi" des Jahres 1977 (c. 1) wie auch in den zeitlich parallelen Entwürfen zur LEF (c. 58 § 1 TN; c. 90 § 1 TE; c. 89 § 1 TP) enthalten waren. Auch im Zuge der CIC-Reform hatten die textlichen Fassungen eine große Konstanz 133 • Dies sicher auch deshalb, weil schon der Vorgängerkanon c. 1322 CIC I 1917 einem sicheren dogmatischen Fundament aufruhte, das zuletzt auf dem 1. Vatikanischen Konzil in der Dogmatischen Konstitution "Dei Filius" formuliert worden war 134 und vom 2. Vatikanischen Konzil erneut bestätigt worden isti 35 • Gegenüber c. 1322 CIC I 1917 hat c. 747 § 1 nun aber die gesamte Kirche im Sinnne von c. 204 § 1 zum Normsubjekt, nicht nur das amtskirchliche "magisterium ecclesiasticum". Dies folgt aus der Buchüberschrift "De Ecclesiae munere docendi" gegenüber dem "De magisterio ecclesiastico" des alten Kodex. In den jeweiligen Einzelnormen wird dann das konkrete kirchliche Rechtssubjekt spezifiziert (Bsp.: cc. 756-759) 136 • Neben dieser grundlegenden Erweiterung sind zwei sprachliche Formulierungsvarianten hier interessant und näherer Betrachtung wert. Zum ersten: hieß Hierzu nunmehr A. Cattaneo, S. 51 -55. Zum methodischen Problem der extensiven Interpretation s. R. Castillo Lara (Authentische Interpretation), S. 221-223. 132 MünstKomm I Mussinghoff, Komm. zu c. 747, Anm. 1. 133 COMM 19 (1987), S. 221-227; COMM 20 (1988), S. 1221123 sowie S. 170 und 130 131
s. 204.
OS 3000-3045 (insbes. cap. 2 und 3); CCL I Coriden, S. 546. Der offiziöse CIC "Fontium annotatione auctus" nennt: IM 3; LG 24 und 25; CD 19; DV 7 bis 10 sowie DH 13. 136 Arrieta, S. 244 -248; MDCI J. A. Fuentes Alonso, S. 375. 134
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2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
es in c. 1322 § 2 CIC I 1917 noch, das Pflichtrecht der Kirche sei es, allen Völkern die evangelische Doktrin zu lehren ("evangelicam doctrinam docendi"), faßt c. 747 § 1 den zugrundeliegenden theologischen Sachverhalt zugleich treffender und weiter: Das Evangelium verkündigen ("Evangelium praedicandi") 137 ! Darüberhinaus ist ein "annuntiaret" der geoffenbarten Wahrheit als Handlungsmodus zu den anderen beiden Modi des "heiligen Bewahrens" und des "getreuen Auslegens" im c. 1322 § 1 CIC I 1917 getreten. Es ist also nicht bloß ein Lehraussagenkomplex (doctrina) zu vermitteln, sondern das ganze Evangelium als Lebenszusammenhang. Das Geoffenbarte ist nicht nur in der Wissenschaftsmanier des 19. Jahrhunderts auszulegen und zu überliefern, sondern es ist zu verkündigen -"in Wort und Tat". Die ganzheitliche Dimension der christlichen Botschaft ist mithin schon in c. 747 § 1 angesprochen- mehr als in c. 1322 CICI 1917. Die zweite auffällige sprachliche Abweichung gegenüber c. 1322 CIC I 1917 ist die Änderung der Unabhängigkeitsformel "a civili potestate independens" zu "a qualibet humana potestate independens" 138. Diese Aussage deutet, wie W. Onclin in den Coetus-Beratungen erläuterte, die Unterscheidung von "ius" und "exercitium iuris" an. Diese Rechtsausübung aber sei situationsgebunden 139• Und auch hier erweitert der CIC seine Bezugnahme von staatlicher Fixierung auf allgemeine Bedingungen, so daß auch alle nicht-staatlichen Mächte, wie z. B. Parteien oder Medien 140, umfaßt werden. Die Tatsache, daß der CIC den Verkündigungsauftrag daneben aber als "ius nativum" ausgestaltet hat, schafft eine systematische Beziehung zum "Wurzelkanon" des c. 113 § 1. Dabei muß, wie im vorletzten Abschnitt herausgearbeitet wurde, c. 113 § 1 als Formalprinzip kirchlicher Existenz aufgefaßt werden, das material zwei andere Prinzipien beinhaltet bzw. sich auf sie bezieht: einmal nach innen, also als inhaltliche Charakterisierung der Binnenstruktur der Kirche: das hierarchische Element (potestas regiminis: c. 129 § 1); zum anderen nach außen, also als inhaltliche Charakterisierung ihres Auftrags, nämlich der Verkündigung: eben c. 747 § 1. Insofern korrespondiert c. 747 § 1 als eines der beiden materialen Prinzipien dem Formalprinzip der Kirche als "Persona moralis", c. 113 § 1. Damit ist die Wechselbezüglichkeit und Komplementarität beider Materialprinzipien dargetan. Die Wirkungsweise und Funktion des in diesem Sinne interpretierten c. 747
§ 1 CIC I 1983 sei an zwei ganz unterschiedlichen, konkreten Beispielen aufge-
zeigt. Eine der klassischen "res mixtae" ist das Friedhofs- bzw. Bestattungsrecht Vom Staat aus Gründen der Gefahrenabwehr beansprucht, sieht die Kirche darin
137 Zum Wortsinn von "praedicare" als "verkündigen" über das technische "predigen" hinaus vgl. Köstler, S. 272. 138 Vgl. COMM 19 (1987), S. 226. 139 COMM ebda.; zum Begriff "exercitium iuris" vgl. Pototschnig im HbkKR, S. 114 I 115. 140 MünstKomm/Mussinghoff, Komm. zu c. 747, Anm. 3.
II. Der Grundansatz: Die Katholische Kirche als "Persona moralis"
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einen wesentlichen Ausdruck ihres Heiligungsdienstes und ihrer "cura animarum". Der neue CIC regelt in seinem c. 1240 diesen kirchlichen Anspruch d.reistufig. Wenn möglich soll die Kirche eigene Friedhöfe (1. Stufe: c. 1240 § 1, 1. Alt.) 141 oder doch für ihre Gläubigen einen abgeteilten Bereich auf einem staatlichen Friedhof unterhalten (2. Stufe: c. 1240 § 1, 2. Alt.)l 42 • Sollte selbst das nicht erreicht werden können, sind die einzelnen Gräber ordnungsgemäß einzusegnen (3. Stufe: c. 1240 § 2) 143 • Während die ersten beiden Stufen als Soll-Normen und nicht als strikte Rechtsansprüche 144 gefaßt sind, präsentiert sich c. 1240 § 2 als ius cogens. Außenrechtlich, also gegenüber dem Staat als Friedhofseigner, setzt c. 1240 § 2 damit ein Zugangs- und Einsegnungsrecht für katholische Geistliche voraus. Beides muß als in dem auch nach außen formulierten Fundamentalkanon des c. 747 § 1 CICI 1983 grundgelegt betrachtet werden. Denn die allgemeinen Normen zu den liturgischen Handlungen, cc. 834-839, beinhalten keine solche außenrechtliche Normaussage 145 • Soweit die Kirche allerdings eigene Friedhöfe besitzt, nehmen diese als "Loca sacra" an der in c. 1213 generell postulierten Lokalimmunität teil und sind daher Regelungsobjekt einer gegenüber c. 747 § 1 spezielleren Norm. Das zweite Beispiel betrifft das Recht auf freien Verkehr der Gläubigen untereinander und der Teilkirchen untereinander. Während das entsprechende Recht für den Heiligen Stuhl bereits in c. 362 CIC I 1983 impliziert ist 146, bildet in den angesprochenen Fällen c. 747 § 1 eine Art At1ffangberechtigung. Zusammenfassend läßt sich sagen: in c. 747 §I CICI 1983, der deutlicher, adäquater und umfassender formuliert ist als sein kodikarischer Vorläufer, c. 1322 CICI 1917, findet sich der bleibende Legitimationsgrund für kirchliche Existenz und damit auch das "Wofür" oder "Um-Willen" ihrer Handlungsfreiheit ad extra, wie sie formaliter bereits in c. 113 § 1 CIC I 1983 normiert wurde.
b) Menschenrechtsschwelle Der zweite Paragraph des c. 747, der besagt, daß es der Kirche zukomme, immer und überall die sittlichen Grundsätze auch über die soziale Ordnung zu verkündigen wie auch menschliche Dinge jedweder Art zu beurteilen, insoweit die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen dies erfor141
"Coemeteria Ecclesiae propria, ubi fieri potest, habeantur, ... " vel saltem spatia in coemeteriis civilibus fidelibus defunctis destinata [habean-
142 " •••
tur]"
"Si vero hoc obtineri nequeat, toties quoties singuli tumuli rite benedicantur." Anders noch c. 1206 § 1 CIC/ 1917, der allerdings gleich seiner Verletzung gewärtig war: vgl. c. 1206 § 2. Das ist wieder das Problem des Unterschieds von "ius" und "exercitium iuris"! 145 Insbesondere c. 838 § I ist eine rein innerkirchliche Zuständigkeitsbestimmungsnorm. 146 Vgl. unten Abschnitt III., 1., a), (2), aa). 143
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2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
dem 147, hat hingegen keine Entsprechung im überkommenen kanonischen Recht, in Sonderheit dem CIC I 1917. Er stellt damit im Rahmen des Kodex eine rechtliche Neuerung dar, die hier auf ihren spezifischen Norminhalt untersucht werden soll. Eine Norm desselben Wortlauts findet sich erstmals im 1. Entwurf zu einer LEF (c. 90 § 2 TE). Damals wurde sie konsequent in das bereits besprochene Caput III eingeordnet, das die Staat-Kirche-Beziehungen regeln sollte 148 • Diese Bestimmung fand, anders als c. 747 § 1, erst nach 1980 Eingang in den Kodifikationsprozeß, als nämlich das Projekt einer LEF endgültig ad acta gelegt worden war. A. Hollerbach hat nunmehr jüngst die Auffassung vertreten, c. 747 § 2 sei deshalb so bedeutsam für das Kirchenrecht, weil hier "die Kirche in dem früher von dem Gedanken der ,potestas indirecta' beherrschten Bereich ihre Aufgabe, freilich auch ihren Anspruch neu formuliert und präzisiert" habe 149 • Dies ist sicher richtig, doch wächst damit c. 747 § 2 noch keine eigenständige Bedeutung zu: die Verwerfung der "potestas indirecta"-Doktrin wird vielmehr zuerst in dem System der Freiheiten, wie sie die Autonomieformeln rund um c. 113 § 1 entfalten, sodann aber in der Rücknahme der Ingerenzansprüche grundgelegt Insofern ist c. 747 § 2 rein deklaratorischer Natur und erfüllt keine tragende kanonischsystematisierende Funktion. Damit ist aber noch nichts über die Tragweite der Erwähnung der "iura fundamentalia", der Menschenrechte, ausgesagt. Es ist vorab festzuhalten, daß diesem Kanon nicht die Verbindlicherklärung der Menschenrechte innerhalb der Kirche und des Kirchenrechts zu entnehmen ist, wie dies in der jüngeren Kanonistik immer wieder diskutiert wurde 150• Schon im geltenden CIC würde sich die Berufung auf die Menschenrechte im profanen Verständnis und unter Zugrundelegung eben dieser Standards geradezu als "Pandorabüchse" entpuppen 151 • Und da c. 147 "Ecclesiae competit semper et ubique principia moralia etiam de ordine sociali annuntiare, necnon iudicium ferre de quibuslibet rebus humanis, quatenus personae humanae iura fundamentaHa aut animarum salus id exigant." 148 S.o. Erstes Kapitel, Abschnitt Ill., 3.; c. 90 § 2 TE mit Verweis auf Art. 76 GS: Später c. 58 § 2 TN. 149 (Entwicklungen), S. 77; ähnlich Ghesquieres, S. 63. Köck (Kompetenzabgrenzung), S. 88, Anm. 68 und S. 89. ISO Erstmals systematisch wohl P. Hinder, Grundrechte in der Kirche, Freiburg I Schweiz 1977; sodann in einem anregenden Essay J. Neumann, Menschenrechte auch in der Kirche ? , Zürich I Einsiedeln 1976; erste größere Debatte in "Les Droits fondamentaux du chretien dans l'Eglise et dans Ia societe", Actes du IVe Congres Internationale de Droit Canonique, publie par E. Corecco, N. Herzog, A. Scola, Fribourg I Suisse 1981. I5I Um nur drei nach weltlichem Verständnis sicher "menschenrechtswidrige" Regelungen des CIC zu nennen: a) c. 868 § 3 CIC, das Nottaufrecht gegen den Willen der Eltern (kritisch dazu Hollerbach, Bemerkungen zum kanonischen Taufrecht, ZevKR 29 (1984), S. 145-169 (157 -159)); b) c. 1321 § 3, das der strafrechtlichen Unschuldsvermutung (vgl. Art. 6 II EMRK und Art. 11 Nr. 1 der Allg. Erklärung der Menschenrechte (UNO)) zuwiderläuft: hierzu Eser, S. 506 und Waider (1986), S. 175 I 176;
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747 § 2 gegenüber c. 747 § 1 nichts weitergehendes einführt (denn der Auftrag der Kirche ist nicht die Verkündung der Menschenrechte bzw. die Überwachung ihrer Respektierung, wie es sich andere internationale Organisationen zur Aufgabe gemacht haben (z. B. Amnesty International oder die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte)), kommt c. 747 § 2 keine konzeptionell tragende Bedeutung zu152. Immerhin ist dieser Kanon nicht völlig funktionslos. Denn er ist zum einen eine durchaus respektable, sozusagen juridisch verfestigte Deklamation der Tatsache, daß die kirchliche Lehrautorität ihren Frieden mit der Idee der Menschenrechte gemacht hat, und in diesem Sinne kommt ihm nicht zu unterschätzende Signalwirkung zu 153 • Zum zweiten kann c. 747 § 2 sozusagen als Schwellenwert für politische Äußerungen der Institution Kirche, d. h. der Amtsträger, angesehen werden 154. Wenn c. 747 § 2 hier so interpretiert wird, daß er als Normadressat nur die Amtskirche hat 155 , widerspricht dies nur scheinbar der eben gegeben Interpretation, daß c. 747 § 1 alle kirchlichen Rechtssubjekte, also gerade auch die Laien, betreffe. Die Aussage des c. 747 § 1 kann für sich alleine stehen. Zur Normaussage des c. 747 § 2 besteht keine zwingende Verbindung. Sodann entstammt die Formulierung des c. 747 § 2 beinahe wörtlich dem Text von Art. 76 GS, einem eindeutig institutionellen Kontext 156. Und schließlich: welchen Sinn sollte c. 747 § 2 für Laien haben, wenn ihnen c. 227 sogar die gemeinbürgerliche Freiheit zugeschrieben hat, die über die in den Menschenrechten verbürgten c) c. 1399 widerspricht dem Grundsatz ,,nulla poena sine lege" (hierzu Art. 7 EMRK und Art. 11 Nr. 2 der Allg. Erklärung der Menschenrechte (UNO): Waider, S. 169; Puza (Kirchenrecht), S. 390. Hier bleibt allerdings anzumerken, daß dieses Problem im Strafrechts-Coetus sozusagen "auf dem Tisch" war: COMM 7 (1975), S. 94. Zur (Nicht)Geltung von im weltlichen Recht selbstverständlichen Verfahrensstandards (vor allem im Blick auf den kirchlich bislang nicht vorhandenen Verwaltungsrechtsschutz) kritisch Hollerbach, Art. "Naturrecht IV, 3. (Naturrecht und Kirchenrecht)", in StC, Bd. III. (1987), Sp. 13141 1315. 152 A. A. SpinelliiDalla Torre, S. 219 (ohne nähere Begründung). 153 Der derzeitige Papst Johannes Paul li. (seit 1978) darf mit Fug und Recht als einer der großen zeitgenössischen Propagandisten der Menschenrechtsidee angesehen werden: vgl. die Nachweise bei ,,Johannes Paul li. und die Menschenrechte. Ein Jahr Pontifikat", hg. von 0. Höffe u. a., Freiburg I Schweiz 1981 sowie. Ph.-1. Andre-Vincent, Les droits de l'homme dans I'enseignement de Jean Pau!II., Paris 1983. Die theologische Begründbarkeil resümiert anschaulich W. Kasper, Die theologische Begründung der Menschenrechte, in: Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft, Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Mikat; hg. von D. Schwab u. a., Berlin 1989, S. 99 - 118; den Differenzierungen im und vom profanen Menschenrechtsverständnis gehen nach: E.-W. Böckenförde IR. Spaemann (Hg.): Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen - Säkulare Gestalt - Christliches Verständnis, Stuttgart 1987. 154 Im Ansatz ähnlich List! (Aussagen), S. 23: "Grenzen, die hier dem kirchlichen Öffentlichkeitsauftrag gezogen werden. 155 Ebenso MDC I J. A. Fuentes Alonso, S. 382 I 383 ("Juicios de Ia Jerarqufa sobre cuestiones temporales"). 156 Ebenso eindeutig die Parallelstelle AA 24 am Ende; vgl. LThK, Suppt. II., S. 678.
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Grundfreiheiten deutlich hinausgeht? Nach allem muß festgehalten werden, daß die Einordnung der juridifizierten Konzilsaussage von GS 76 als c. 747 § 2 als unglücklich angesehen werden muß. Die Fundamentalnorm des c. 747 § 1 CIC hätte für sich stehen müssen. Die Aussage des jetzigen c. 747 § 2 hätte, anhebend mit den Worten "Pastoribus Ecclesiae competit .. . ",einen besseren Platz nach dem jetzigen c. 748 gehabt, also nach und im Unterschied zum Kanon über die Infallibilität. Denn die kommt Lehraussagen zur sozialen Ordnung schlechterdings nicht zu. Doch unabhängig von seiner fragwürdigen Stellung erfüllt c. 747 § 2 auch in dieser hier vertretenen beschränkten Interpretation einen wichtigen Zweck. Er soll gewährleisten, daß nicht jede politische Petitesse zum Gegenstand einer Stellungnahme der amtskirchlichen Autorität gemacht wird. Die Voraussetzung für eine derartige öffentliche Äußerung muß Problemen mit echter Menschenrechtsrelevanz vorbehalten werden. Damit wird die Meßlatte des c. 747 § 2 auch sofort konkret, was ein willkürlich gewähltes Beispiel verdeutlichen mag: bei bischöflichen Wahlhirtenbriefen wäre polizeiliche Folter oder die Vernichtung ungeborenen menschlichen Lebens durch ungehindertes Abtreiben gewiß einer Erwähnung wert, nicht jedoch Usancen der Leitzinspolitik oder des Asylverfahrens. Dabei sollte sich die Kirche im Interesse der Homogenität ihrer Äußerungen an ihren eigenen Stellungnahmen zu den Menschenrechten orientieren, seien sie nun konziliar, oberhirtlieh oder synodal, und nicht unbesehen die staatlichen oder internationalen Menschenrechtsverbürgungen zum Maßstab machen. Als Ergebnis dieses Abschnitts läßt sich festhalten: mit dem in c. 747 § 2 vindizierten Titel der Menschenrechte wird für die christliche Verkündigung auch im Rahmen des sozialen und politischen Bereichs nichts über das hinaus rechtlich erfaßt, was nicht schon durch den Verkündigungsauftrag des c. 747 § 1 gedeckt wäre. Aber politischen Stellungnahmen und Aktionen der Amtskirche wird eine gewisse Eingreifschwelle gesetzt. Daneben bekräftigt c. 747 § 2 den schon anderweitig aus den CIC-Regelungen ersichtlichen definitiven Abschied von der Doktrin der "potestas indirecta". Indirekt bestätigt mit dem Kanon 747 § 2 auch das kanonische Recht ein Phänomen modernen Rechtsdenkens, das unlängst mit dem Arbeitstitel "Die Universalität der Menschenrechte" zu fassen versucht wurde 157, aber vorerst nur ihre Ubiquität bedeuten dürfte 158 •
111. Die spezifischen Beziehungsebenen zwischen kirchlichen Rechtssubjekten und dem Staat im CIC Nachdem im vorhergehenden Abschnitt die juristisch-dogmatische Grundlegung für das Verhältnis der Kirche zu den Staaten gesucht und in den cc. 113 157 158
L. Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, Bonn 1987.
Hollerbach (Globale Perspektiven), S. 38-40.
III. Kirchliche Rechtssubjekte und Staat im CIC
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§ 1 und 747 § 1 CIC I 1983 gefunden wurde, soll in diesem Abschnitt der CIC induktiv daraufhin untersucht werden, auf welchen einzelnen, konkreten Beziehungsebenen er normativ auf das Phänomen Staat Bezug nimmt. Zur Strukturierung dieser Analyse erscheint die Einteilung in Institution und Individuum als subjektive Beziehungsebenen staatlichen Handeins am geeignetsten 1• Im ersten Unterabschnitt (III., 1.) werden die institutionellen Zuständigkeitsebenen von Kirche und Staat zueinander in Bezug gesetzt, und zwar indem im ersten Schritt das staatlich-politische Gegenüber der Universalkirche, im zweiten Schritt das politische Gegenüber der Partikularkirchen mit ihren jeweiligen Handlungsformen der institutionellen Verbindung in den Blick genommen werden. Im zweiten Unterabschnitt (III., 2.) soll gezeigt werden, daß der neue CIC die bereits im 2. Vaticanum angelegte Linie der Entinstitutionalisierung im Bereich der politischen Betätigung der Kirche aufgenommen hat. Als Gliederungsprinzip erschien die kirchenverfassungsrechtliche Unterscheidung zwischen Klerus und Laie sowohl methodisch wie von der Sache her angemessen.
1. Institutionelle Zuständigkeitsebenen
a) Der internationale Bereich Den historischen wie rechtlichen Vorgang der Selbstorganisierung der Völker als Staaten hat die katholische Kirche, ihrem Verständnis nach an kein Territorium gebunden, sondern mit göttlichem Auftrag bis an die Enden der Erde gesandt, stets mit Interesse verfolgt. Ihre faktische Präsenz in diesen Territorien sowie ihre eigene Territorialherrschaft im Kirchenstaat bis 1870 ließen die Kirche auf internationaler Ebene aktiv werden, auch als zu Beginn dieses Jahrhunderts die Eurozentrik internationaler Kooperation durch die Völkerbundsidee in die globale Dimension umschlug. Nicht zuletzt das 2. Vatikanische Konzil hat im Dokument "Gaudium et Spes" (Art. 89) programmatisch die kirchliche Präsenz in der "communitas internationalis" zur ureigenen kirchlichen Aufgabe erklärt 2 • Die ' Älmlich bereits Puza (Kirchenrecht), S. 82 und S. 92. Da der Beitrag Puzas (Weltkirche) zur Festgabe Schwendenwein exakt identisch ist mit dem Abschnitt "Kirche und Staat" in (Kirchenrecht), S. 77-97, wurde von weiteren Nachweisenjenes Festschriftbeitrags abgesehen. 2 "Ecclesia, euro, divina sua missione innixa, omnibus hominibus Evangelium praedicat et thesauros gratiae elargitur, ubique terrarum ad pacem firmandam et solidum fundamenturn ponendum consortionis fratemae hominum et populorum confert: cognitionem scilicet legis divinae et naturalis. Quapropter Ecclesia in ipsa communitate gentium omnino praesens esse debet ad cooperationem inter homines fovendam et excitandam; et quidem tarn per suas institutiones publicas quam per plenam ac sinceram collaborationem omnium christianorum, solo desiderio omnibus inserviendi inspiratam." in LThK, Suppl. III, S. 574, innerhalb der Sectio 2: "De communitate intemationali aedificanda": Art. 83-90; ebda., S. 564-579. Diese Zentralaussage sowie den konziliaren Lehrzusammenhang erläutert Petroncelli Hübler, S. 56-80.
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2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
Katholische Kirche beließ es dabei nicht bei lehramtliehen Äußerungen, sondern verfestigte ihren Anspruch auch in kanonischen Regelungen. Die Problembereiche, die darin hauptsächlich erlaßt sind, sind zum einen das der Art der kirchlichen Präsenz im Rahmen der internationalen Beziehungen und des internationalen Rechts, also das Problem ihrer Völkerrechtssubjektivität, zum anderen die Formen ihrer Aktion. Ihr "wie" ist Gegenstand vor allem des kirchlichen Gesandtschaftsrechts, ihr "was" kreist um die Frage der Staat-Kirche-Verträge. Soweit diese Problembereiche in den CICI 1983 Eingang gefunden haben bzw. aus ihm Antworten herzuleiten sind, werden sie im folgenden behandelt. ( 1) Kirchliche Präsenz im Bereich des internationalen Rechts Die Qualität einer Präsenz im internationalen Recht wird entscheidend davon bestimmt, ob ihr die Merkmale der Völkerrechtssubjektivität, also der Fähigkeit, Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten zu sein \ eignen. "Geborene" Völkerrechtssubjekte sind die (National)Staaten - ungeachtet der Schwierigkeit, ihre innere Souveränität mit einer supranationalen Ordnung zusammenzudenken 4 • Es besteht allerdings auch Einigkeit darüber, daß sie nicht die einzigen Völkerrechtssubjekte sind und diesbezüglich in noch näher zu bestimmender Hinsicht Organen der Katholischen Kirche Völkerrechtssubjektivität zukommt. Unsicher ist, wie H. F. Köck zu Recht bemerkt, die völkerrechtliche Terminologie, "was die Bezeichnung jener Institution angeht, in der die Katholische Kirche international in Erscheinung tritt ... Es wird vom Papst oder vom Hl. bzw. Apostolischen Stuhl, vielfach auch aber einfach von der Katholischen Kirche, schließlich vom Vatikan gesprochen." 5• Die einer Begriffsklärung zugrundezulegenden Ausgangsbegriffe sind kirchlichem Recht und I oder kirchlicher Lehre zu entnehmen, da die Völkerrechtswissenschaft kein Mandat dafür hat, Institutionen zu definieren, die ihre Existenz aus einer anderen Rechtsordnung herleiten 6• Eine Begriffsklärung für die Katholische Kirche gibt uns Art. 8 LG 7 , ein Text, der in c. 204 CIC I 1983 wiederaufgenommen und somit bekräftigt wird. Die Legaldefinition des Heiligen Stuhls findet sich in c. 361 CICI 1983 8 • Vom Chr. Tomuschat, Art. "Völkerrecht" im EStL3 , Bd. 2, Sp. 3886. Köck (Hl. Stuhl), S. 29 - 33. s Ebda., S. 11. 6 Ebda., S. 12. 7 " ••• fidei, spei et caritatis communitatem his in terris ut compaginem visibilem constitutus ... qua [Christus] veritatem et gratiam ad omnes affundit. Societas autem organis hierarchicis instructa et mysticum Christi Corpus, coetus adspectabilis et communitas spiritualis, Ecclesia terrestris et Ecclesia caelestibus bonis ditata, non ut duae res considerendae sunt, sed unam realitatem complexam affirmant ... Haec est unica Christi Ecclesia, quam in Symbolo unam, sanctam, catholicam et apostolicam profitemur.", zit. nach LThK, Suppl. I., S. 170. 8 ,,Nomine Sedis Apostolicae vel Sanctae Sedis in hoc Codice veniunt non solum Romanus Pontifex, sed etiam, nisi ex rei natura vel sermonis contextu aliud appareat, 3
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Heiligen Stuhl, sozusagen der "Regierung" und dem obersten Repräsentationsorgan der Kirche, zu unterscheiden 9 ist der Staat der Vatikanstadt. Er entstand 1929 durch die Lateranverträge zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien 10 und ist das "staatliche Akzessorium des Heiligen Stuhls, dessen Unabhängigkeit er sichert" 11 • In Art. I der "Legge Fondamentale della Citta del Vaticano" vom 7. 6. 1929 12 ist der Papst als weltlicher und geistlicher Souverän und Inhaber der vollen gesetzgebenden, ausführenden und rechtsprechenden Gewalt des Staates der Vatikanstadt bestimmt. Der Papst und damit der Heilige Stuhl, der ihn repräsentiert, hat somit die Doppelstellung des obersten Organs der Katholischen Kirche sowie eines Souveräns des Staats der Vatikanstadt n. Die Völkerrechtswissenschaft ist allerdings uneins über die Völkerrechtssubjektivität der Katholischen Kirche selbst 14, eine Frage, der hier aber nicht weiter nachgegangen werden soll. Denn jedenfalls besteht Einigkeit über die (partikuläre) Völkerrechtssubjektivität des Heiligen Stuhls 15 und des Staates der Vatikan-
Secretaria Status, Consilium per publicis Ecclesiae negotiis, aliaque Romanae Curiae Instituta." Diese Norm entspricht sinngemäß dem c. 7 CIC I 1917. Die Abweichungen bei der Umschreibung der römischen Kurie gehen zurück auf die unter Pp. Paul VI. 1967- 1975 durchgeführte Kurienreform, deren Hauptstück die Apostolische Konstitution "Regimini Ecclesiae Universae" vom 15.8.1967 (AAS 59 (1967), 885 -928) bildet; Nachweise zum Ganzen in den Bänden 10 und 47 der ,,Nachkonziliaren Dokumentation", herausgegeben von H. Schmitz, Tri er 1968 bzw. 1976. Vgl. auch den c. 360 CIC I 1983 im Gegensatz zu den ungleich ausführlicheren cc. 242 - 264 CIC I 1917. Hier hat also einmal mehr eine deutliche Entschlackung des Kodex stattgefunden. 9 Unzutreffend insoweit noch K1einermeilert, S. 193. Zur herrschenden sog. "dualistischen Theorie" vgl. die Nachweise bei W. Schulz (Citta del Vaticano), S. 662-667 m.w.N. 10 Den Text siehe bei Schöppe, S. 161-170. " J. H. Kaiser in Strupp I Schlochauer, Bd. III., S. 781 ; vgl. auch die Vorrede zum "Trattato fra Ia Santa Sede e L 'Italia", also eben dem Lateranvertrag von 1929, Schöppe, S. 161 = Mercati II, S. 84; Schulz (Citta del Vaticano), S. 671-674 ("Dienststaat"). Uber die Rechtsstellung der Vatikanstadt sowohl in staats- wie in völkerrechtlicher Hinsicht informiert noch immer zuverlässig R. Raffel (1961). 12 AAS Suppl. 1 (1929), n. 1, 8. Juni 1929, S. 1-4; jetzt auch in W. Schutz (Hg.) (Leggi e Disposizioni), vol. I., S. 23-27. 13 Den Charakter des "Kirchenstaates" als aus theologischen Gründen notwendig absoluter Monarchie betont scharf Barion (Ordnung und Ortung), GA, S. 201 I 202. Diese Bemerkung Barions zielt aber zweifelsohne weiter, nämlich auf das "Regiment" der katholischen Kirche selbst. Diesbezüglich wird eine prononciert a. A. neuerdings immer häufiger vertreten. Als Beispiel hierfür zitiere ich P. Neuner, Die Kirche Monarchie, Demokratie, Gemeinschaft?, in: StdZ 1990, S. 651-660 (660): "Selbst wenn die Kirche nicht einfachhin und ohne jede Einschränkung demokratisiert werden kann, bedeutet das nicht, daß sie deshalb monarchisch oder gar absolutistisch regiert werden dürfte. Monarchie und Absolutismus sind einer trinitarisch verpflichteten Kirche jedenfalls ungleich fremder als demokratische Strukturen." 14 Verneinend etwa J. H. Kaiser, a. a. 0. (Anm. 11), unter Angabe abweichender Autoren. 15 Köck (Hl. Stuhl), S. 774 f. ; H. Rust, S. 49 - 70 (S. 70, Anm. 4 m. w. N); 0. Kimminich, S. 202 I 203.
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2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
stadt 16• Beider Qualität ist aber insoweit singulär, als dem Heiligen Stuhl Völkerrechtssubjektivität unabhängig von einem Territorium eignet und dem Staat der Vatikanstadt nicht die einem Staat üblicherweise eigene Befriedungs- und Ordnungsfunktion zukommt 17 • Vielmehr soll dieser den Heiligen Stuhl territorial absichern. Deswegen ist er auch auf eine strikte völkerrechtliche Neutralität festgelegt 18 • Als Grund der Völkerrechtssubjektivität des Heiligen Stuhls wird ein diplomatisches Herkommen genannt, das sich zum Gewohnheitsrecht ausgewachsen hat 19 und seine Anerkennung im völkerrechtlichen Gesetz des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen vom 18. 4. 1961, Art. 14 und 16 Abs. 3, gefunden hat 20 • Dieser Sachverhalt läßt sich auch vom kanonischen Recht her erschließen, wobei allerdings von den gewählten Formulierungen her offen bleibt 2 1, ob ein kirchenrechtlicher Anspruch auf Völkerrechtssubjektivität erhoben wird. Im Zuge der Neufassung des Rechts der päpstlichen Gesandten, des Legationsrechts, erklärte Pp. Paul VI. in der Vorrede zum Motu Proprio "Sollicitudo Omnium Ecclesiarum" (MP "Soll")22 : "Wir entsenden sie [die Legaten; G.] auch zu den höchsten Trägem der Staatsgewalt, nämlich dorthin, wo die Katholische Kirche gleichsam verwurzelt oder doch irgendwie gegenwärtig ist. Das Recht dazu liegt [erstens; G.] von Natur aus in dem uns eigenen geistlichen Amte und ist [zweitens; G.] zudem im Laufe der Jahrhunderte durch gewisse geschichtliche Ereignisse sehr begünstigt worden." 23 • Und weiter, etwas paradox: "Das vertrauensvolle 16 W. Schulz im HbkKR, S. 301 f.; P. van Lierde im StL6 , Bd. VII. (1962), Sp. 1196; A. Verdross I B. Simma, S. 237 und 248. 11 Raffel, S. 41-50. 18 Ciprotti (Hl. Stuhl), S. 556; Art. 24 "Trattato" vom 11. 2. 1929: Schöppe, S. 169 = Mercati II, S. 90: "La Santa Sede, in relazione alla sovranitil. ehe Je compete anche
nel campo intemazionale, dichiara ehe essa vuole rimanere e rimarril. estranea alle competizioni temporali fra gli altri Stati ed ai Congressi intemazionali indetti per tale oggetto, a meno ehe Je parti contendenti facciano concorde appello a1la sua missione di pace, riservandosi in ogni caso di far valere Ia sua potestil. morale e spirituale. In conseguenza di cio Ia Cittil. del Vaticano saril. sempre ed in ogni caso considerata territorio neutrale ed inviolabile." 19 Spätestens seit der Periode zwischen 1870 und 1929; vgl. nur Köck (Hl. Stuhl),
s. 309.
20 BGBI 1964 II, S. 959; zu diesem Übereinkommen weiterhin Verdross I Simma, S. 248 und Kimminich, S. 343-350 m. w. N. Die Geschichte der erst jüngst (1984) vollzogenen diplomatischen Anerkennung des Hl. Stuhles durch die USA erläutert instruktiv J. Coriden (Diplomatie recognition), passim. 21 Undangesichts des (derzeit) für die Kirche günstigen Stands der völkerrechtlichen Meinung auch offen bleiben kann! 22 Ausf. zu diesem nachkonziliaren Gesetz unten (2), aa). 23 Zitiert nach der deutschen Übersetzung bei Ganzer I Schmitz, S. 47. Einen schönen Vergleich des "Diplomatenpapstes" Pauls VI. zitiert Jean Guitton in seinem Buch "Dialog mit Paul VI.", Wien 1967, S. 44: "Das Papsttum", so Paul VI.",ist keine Nation, es hat keinen Platz unter den Nationen. Seiq Territorium ist winzig, gerade ein Vorwand, um zu existieren, das Minimum an Leiblichkeit, das die Seele zum Leben
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Gespräch [zwischen den "vollkommenen Gesellschaften" Kirche und Staaten; G.] erfolgt durch die offiziellen Beziehungen zwischen Kirche und Staat, die durch das Völkerrecht geschaffen wurden." 24 Der LEF-Entwurf des Jahres 1980, also der TN, formulierte in seinem c. 55 prägnant: "§ I. Ecclesia, personam quidem habens in societate gentium universali, in eadem cum societatibus civilibus vires coniugit ad iustitiam, cooperationem, concordiam et pacem inter omnes gentes fovendas. § 2. Huius quidem societatis gentium operas et actiones Ecclesiae participat tantum in causis quae ad missionem suam spiritualem pertinent, praesertim ad pacem in Spiritu Evangelii in mundo fovendam." 25 • Die geistliche Sendung fungiert als Grund und Grenze 26 internationaler Präsenz der Katholischen Kirche, determiniert damit aber noch nicht automatisch das Völkerrecht 27 • Von daher erscheint es nicht als falsch, eine entsprechende Bedeutungsschicht auch im Fundamentalkanon des c. 113 § 1 CIC I 1983 zu entdecken 28 • Die Hervorhebung des Heiligen Stuhls bekäme auch und gerade im Bezug auf die internationale Rechtspersönlichkeit kirchlicher Institutionen ihren guten Sinn. Es erscheint aber nicht zwingend, aus diesem Kanon einen direkten Anspruch auf Völkerrechtssubjektivität herleiten zu wollen. Dies wird nämlich insbesondere im Blick auf das Derivathoheitsrecht des c. 362 CIC I 1983 fraglich. Denn diese Vorschrift des neuen Rechts enthält, in Abweichung vom c. 265 CIC I 1917, die Selbstbindung an die "normae iuris internationalis", soweit es das Legationsrecht zu den staatlichen Autoritäten angeht 29 • Und damit gibt auch der neue CIC meines Erachtens, wie Kö.ck es schon für den alten CIC feststellte, "zu erkennen, daß er keinen rechtlichen Anspruch auf Völkerrechtssubjektivität postuliert" 30 • braucht. Das Papsttum ist etwas anderes und in gewissem Sinn mehr als eine Nation. Es spielt keine Rolle unter den Nationen, aber es kann von ihnen eingeladen werden. Wie der Jesusknabe von den Schriftgelehrten." 24 Ganzer I Schmitz, S. 49. 25 Übersetzung s. o. Erstes Kapitel, Abschnitt III., 3., c), Anm. 140. 26 Vgl. nochmals Art. 42 GS sowie Petroncelli Hübler, S. 131. 27 Auch CCL I Provost, S. 302, drückt sich vorsichtig aus: "Die Grundlage für diese internationale Rolle des Hl. Stuhls ist seine weltweite geistliche Mission - die ihn auch zu einer internationalen Entität verschiedener Natur von der eines Staates macht, ihm aber dennoch einen genuinen Platz im Völkerrecht zuweist." 28 Vgl. dazu oben, Abschnitt Il., 1., a). 29 C. 265 CIC I 1917lautete: "Romano Pontifici ius est, a civili potestate independens, in quamlibet mundi partem Legatos cum vel sine ecclesiastica iurisdictione mittendi."; demgegenüber der neue c. 362 CIC I 1983: "Romano Pontifici ius est nativum et independens Legatos suos nominandi ac mittendi sive ad Ecclesias particulares in variis nationibus vel regionibus, sive simul ad Civitates et ad publicas Auctoritates, itemque eos transferendi et revocandi, servatis quidem normis iuris internationalis, quod attinet ad missionem et revocationem Legatorum apud Res Publicas constitutorum.[Hervorhebung vom Verf.]" Der CICI 1917 sprach in c. 267 § 1, 1°etwas sibyllinisch von "fovent, secundum normas a Saneta Sede receptas [Hervorhebung vom Verf.], relationes inter. .. " und gibt gerade dadurch zu verstehen, daß er eine unmittelbare Geltung des Völkerrechts ablehnt. 3o Köck (Hl. Stuhl), S. 297.
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Ein Gegenargument läßt sich ebensowenig aus c. 1404 des CIC I 1983 (dem früheren c. 1556 CIC I 1917)31 herleiten, der auf der Primatialgewalt beruht, die - in c. 331 CIC I 1983 statuiert - "den Gedanken ausschließen will, daß es eine kirchliche Instanz, z. B. das allg. Konzil gebe, das über den Papst urteilen könne" 32• Einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit hingegen könnte sich der Papst, sollte er Beteiligtenstatus haben, nicht unter Berufung auf das Kirchenrecht entziehen 33 . (2) Kirchliche Aktion im Internationalen Recht
Wie F. Petroncelli Hübler zutreffend herausgestellt hat 34, eröffnet der neue CIC als rechtlicher Rahmen eine Vielfalt an Möglichkeiten, wie die Kirche auf der Grundlage ihres Verkündigungsauftrags (c. 747 § 1) in der modernen internationalen Gemeinschaft handeln kann. Im folgenden sollen die klassischen institutionellen Instrumente, nämlich das Legationsrecht und das Konkordatsrecht kanonistisch untersucht werden. Die Möglichkeiten der Bischofskonferenzen, auf internationalem Terrain aktiv zu sein, wie sie c. 459 andeutet, werden in einem späteren Abschnitt behandelt35 • Auf die Möglichkeit des Heiligen Stuhls, gemäß c. 312 § 1, I o internationale Vereine von Gläubigen zu errichten, sei an dieser Stelle wenigstens hingewiesen 36• aa) Legationsrecht
Im Zuge des 2. Vatikanischen Konzils, das als einen Schwerpunkt seiner theologischen Diskussion das Verhältnis der Ortskirchen zur Universalkirche hatte 37, kam der Wunsch der Konzilsväter zum Ausdruck, sowohl die Kurie neu zu organisieren als auch den Aufgabenbereich der päpstlichen Legaten neu zu bestimmen. Dieser Wunsch wurde im Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe, "Christus Dominus" vom 28.10.1965 in Art. 9 II festgeschrieben 38 • Diesem Auftrag folgend, promulgierte Papst Paul VI., selbst einst päpstlicher Diplomat, 31 Im Wortlaut: "Prima Sedes a nemine iudicatur."- "Der Papst kann von niemandem vor Gericht gezogen werden." 32 MünstKomm I Lüdicke, Komm. zu c. 1404, Anm. 1. 33 Ebenso Petroncelli Hübler, S. 158 f.; J. H. Kaiser, a. a. 0. (Anm. 11), linke Spalte Mitte; a. A. Schoen, S. 333. 34 (Comunita Intemazionale), S. 131-135. 35 S. unten Abschnitt III., 1., b) (2). 36 Instr. dazu Petroncelli Hübler, S. 221-238: "I Fedeli catto1ici e Ia realta intemazionale. 3. L'apostolato associato nella normativa canonica". 37 Vgl. nur Art. 22 und 23 LG, LThK, Suppl. 1., S. 220-233. 38 "Exoptant autem Sacrosancti Concilii Patres ut haec Dicasteria, quae quidem Romano Pontifici atque Ecclesiae Pastoribus eximium praebuerunt auxilium, novae ordinationi . . . subiciantur ... Exoptant pariter ut, ratione habita muneris pastoralis Episcoporum proprii, legatorum Romani Pontificis officium pressius determinetur." zit. nach LTHK Suppl. III., S. 162.
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am 24. Juni 1969 das Motu Proprio "Sollicitudo omnium Ecclesiarum" 39 • Als eines der frühesten Gesetze, die den Geist des Konzils zu atmen versprachen, fand es ein lebhaftes Echo. Die für das päpstliche Gesandtschaftswesen seit eh undje 40 prägende Doppelfunktion von innerkirchlicher Repräsentanz der Universalkirche bei den Ortskirchen und politischer Repräsentanz der Universalkirche bei den Staaten blieb zwar weiterhin bestimmend, doch verlagerte sich der Schwerpunkt des Gesetzeswerks, der Konzilsintention entsprechend, auf das innerkirchliche Aufgabenfeld 41 • Und diese Seite hat auch in der Diskussion um das MP "Soll." die uns hier beschäftigende "äußere" Tätigkeit der päpstlichen Legaten völlig in den Hintergrund gedrängt. Dennoch läßt sich auch diese Diskussion um die sozusagen politische Funktion der Legaten strukturieren. Hauptkritikpunkte der überwiegend negativen Resonanz 42 auf die entsprechende Regelung im MP "Soll." waren gesetzestechnische Mängel wie schlechte Gliederung und befremdlich hölzerne kuriale Sprache 4 3, Nichtberücksichtigung der nationalen Bischofskonferenzen 44 und die weiter beibehaltene Nichtzulassung von Laien zum päpstlichen diplomatischen Dienst 45 • Trotz allem war aber mit dem MP "Soll." bereits eine feste Grundlage für die Kodexreform vorhanden, und es war nur die Frage, welche Einzelnormen der CIC aufnehmen sollte und ob Akzentverschiebungen zu verzeichnen sein würden. Ausweislich der Übersicht in COMM 19 (1987), S. 262 ff. (274) hat sich der Coetus "De Sacra Hierarchia" auf seiner 15. Sessio vom 2.-6.12.1974 mit dem Thema der päpstlichen Legaten beschäftigt. Die entsprechenden Verhandlungen sind jedoch (noch) nicht veröffentlicht und der einschlägige "Arbeitsbericht" 46 erwähnt dieses Gebiet mit keinem Wort, sondern beschränkt sich auf die Wiedergabe der Normvorschläge zum bischöflichen Koadiutor. Im Schema "De Populo Dei" ( 1977) waren die einschlägigen Vorschriften als Caput V der 2. Sectio ("De Ecclesiae Constitutione Hierarchica") des 2. Buches ("De Personis in specie") als cc. 177-184 verzeichnet. Der Auftaktkanon 177 bestimmte wie c. 265 CIC I 1917 das freie Ernennungs- und Abberufungsrecht des Papstes hinsichtlich seiner Legaten, allerdings unter dem schon im MP "Soll." III, 1. eingefügten Vorbehalt "servatis quidem normis iuris internationalis, quod 39 AAS 61 (1969), S.473-484; deutsch-lateinisch bei Ganzer/Schmitz, S.40-67. Im folgenden abgekürzt als MP "Soll.". 40 Zur historischen Entwicklung ausf. K. Walf, Die Entwicklung des päpstlichen Gesandtschaftswesens in dem Zeitabschnitt zwischen Dekretalenrecht und Wiener Kongreß 1159-1815, München 1966; knapper Ganzer I Schmitz, S. 9-16; CCL I Provost, vor c. 362, S. 300 I 301; Plöchl (Gesandtschaftsrecht), S. 116-118. 41 Ganzer I Schmitz, S. 18 f. 42 Ausnahmen machen nur Plöchl (Gesandtschaftsrecht) und Martin. 43 Walf (Motuproprio), S. 122/123. 44 Ganzer I Schmitz, S. 37; Hollerbach (Neuere Entwicklungen), S. 25 ff. 45 Hierzu Ganzer I Schmitz, S. 21 I 22 einerseits, Martin, S. 573 andererseits. 46 COMM 7 (1975), S. 161-172.
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attinet ad missionem et revocationem legatorum de quibus supra apud societates politicas constitutorum". C. 178 § 1 übernahm die Definition des "Legaten" in I, 1. MP "Soll.", c. 178 § 2 des Schemas "De Populo Dei" des Jahres 1977 die des "ständigen Geschäftsträgers" aus I, 3. des MP "Soll.". C. 179 definierte wie II, 1. MP "Soll." den Delegaten bei internationalen Konferenzen, c. 180 wie bereits II, 2. MP "Soll." den "Apostolischen Delegaten". Die cc. 181 und 182 des Schemas 1977 versuchten, den Aufgabenkatalog der IV -XI MP "Soll." gerafft wiederzugeben. Dabei entsprach der erste Kanon, also c. 181, der "äußeren", diplomatischen Aufgabenseite des Legaten (vgl. X. MP "Soll."). C. 183 des Schemas 1977 erwähnte die Exemtion des Legaten von der bischöflichen Gewalt (XII, 1. MP "Soll."). C. 184 ist eine Wiederaufnahme des c. 268 CIC I 1917 und betraf das Amtsende des Legaten. Nachdem dieses Schema dem Weltepiskopat vorgelegt worden war und die Stellungnahmen eingegangen waren, beriet der Coetus "De Populo Dei" am 12.2.1980 während seiner V. Sessio über das Legationsrecht 47 • Abgesehen von Änderungen einzelner Formulierungen und textlichen Straffungen wurde die innerkirchliche Seite der äußeren wieder- wie es schon im MP "Soll." der Fall war - vorgeordnet: so in den cc. 302 und 303 des Schemas CIC 1980. Eine gravierendere Änderung erfuhr der c. 183 des Schemas "De Populo Dei" 1977: hier wurden die bisher in 2° und 3° aufgeführten Legatenprivilegien in einem Punkt zusammengefaßt und auf eine Anregung Kardinal Castillo Laras hin, der ein Vorschlag der Deutschen Bischofskonferenz zugrunde lag, wurde die Verknüpfung mit den eigentlichen Legatenaufgaben (früher: "Ut Legatus officium suum aptius perficere valeat. .. ") gekappt und nunmehr entspannter formuliert: "Attenta peculiari legati muneris indole: ... ". So gingen die Vorschläge als cc. 299-305 in das Schema CIC 1980 ein. Die Endredaktion hat dann aber noch einige einschneidende Änderungen vorgenommen: Zum ersten hat sie die beiden Kanones, die eine Legaldefinition enthielten, herausgestrichen und durch den eher summarischen c. 363 CIC I 1983 ersetzt 48 • Sodann hat sie den Aufgabenkatalog im innerkirchlichen Bereich leicht umgestaltet: der sehr allgemein gehaltene c. 302 § 1 des Schemas CIC 1980 entfiel und hineingenommen wurde (als teilweiser Ersatz dafür) im c. 364, 7° CIC I 1983 die Formel: "ea, quae pertinent ad Ecclesiae et Apostolicae Sedis missionem, consociata cum Episcopis actione, apud moderatores Civitatis tueri." 47 Die Diskussion ist verhältnismäßig ausführlich dokumentiert in COMM 9 (1980), 236-244. Anwesend waren Kard. Felici, der PCR-Sekretär Castillo Lara, Relator Onclin und die Konsultoren Van Zuylen, Mörsdorf, Dei Portillo, Bavdaz, Eid, Aymans und Gismondi. 48 Der Kanon lautet: "§ 1. Legatis Romani Pontificis officium committitur ipsius Romani Pontificis stabili modo gerendi personam apud Ecclesias particulares aut etiam apud Civitates et publicas Auctoritates, ad quas missi sunt. - § 2. Personam gerunt Apostolicae Sedis ii quoque, qui in pontificiam missionem ut Delegati aut Observatores deputantur apud Consilia internationaHa aut apud Conferentias et Conventus."
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Vor allem aber - und für unser Thema besonders bemerkenswert - wurde in der Endredaktion noch ein zweites Mal auf die Normen des Völkerrechts Rekurs genommen: in die Kompetenznorm des c. 303 § 1 Schema CIC 1980 wurde ein "iuxta iuris internationalis normas" eingefügt. So präsentiert sich uns jetzt das Legationsrecht der cc. 362-367 CICI 1983, wobei zu beachten ist, daß diejenigen Normen des MP "Soll.", die keine Aufnahme in den Kodex fanden, weiterhin gemäß c. 6 § 1, 2° und 4 o CIC I 1983 fortgelten 49 • Der CICI 1983 als Neuformulierung der Normen des MP "Soll." steht somit in klarer Tradition zu den Normen des CIC I 1917. Schon die juristische Konstruktion des Legationsrechts als päpstliches "ius nativum" belegt das 5°. Damit ist unausgesprochen auch das historisch durchaus nicht unumstrittene Recht auf freien Verkehr des Heiligen Stuhls mit den Ortskirchen und ihren Gläubigen vorausgesetzt und von diesem "ius nativum" erfaßt 51 , wie es mit einer eigenen Bestimmung übrigens auch schon der TN zu einer LEF in c. 82 § 4 TN reklamiert hatte. Bemerkenswert sind aber zum einen die Einfügung der Normen des Völkerrechts als (neue) Legitimationsgrundlage für die eigentlich diplomatischen Aufgaben der Legaten, die Hervorhebung der innerkirchlichen Aufgaben der Legaten (Wahrung der Einheit und des Einverständnisses von Papst und Ortsbischöfen) sowie die Erwähnung auch der ökumenischen Beziehungen in c. 364, 6° CIC I 1983. Zumindest beratend sind nun auch die Bischöfe in die Arbeit eines päpstlichen Legaten einzubeziehen (cc. 364, 2° und 3°, 6°, 7°; 365 § 2; 366, 2° CIC I 1983). Im alten CIC hingegen schienen diese noch ganz unabhängig vom Ortsepiskopat agieren zu können. Was das Verhältnis von Kirche und Staat anbelangt, bleibt es grundsätzlich dabei, daß dieses Verhältnis vom Heiligen Stuhl und dessen Vertretern wahrzunehmen ist. Der neue Kodex umschreibt diesen Prozeß nunmehr aber genauer als der CICI 1917 - ganz entgegen der sonst anzutreffenden Tendenz zur Entschlackung des Gesetzbuches. Er tut dies einmal, indem er sich nicht auf die Erwähnung von (National-)Staaten beschränkt, sondern mit dem Ausdruck "Öffentliche Autoritäten" (die internationalen Räte etc.) auch den Bereich interund supranationaler Institutionen in sein Blickfeld rückt 52, zum anderen, indem er ausdrücklich den Legaten die Weisung der Förderung von Staat-Kirche-Verträ49 Mikat im HbkKR, S. 298; CCL I Provost, S. 302. Dies betrifft insbesondere die Bestimmung, daß nur Priester Legaten sein können sowie einzelne Aufgabenfelder, die der CIC I 1983 nicht erwähnt hat; vgl. aber die Generalklausel des c. 364, 8°CIC I 1983. 5o So führte PCR-Sekretär Castillo Lara, COMM 9 (1980), 237, aus: "Der Ausdruck ,ius nativum' muß erhalten bleiben, weil Berufung und Auftrag der Legaten von der Natur der Kirche selbst abhängen, die autonom und unabhängig vom Staat ist."; ausf. D. Le Toumeau (Legats), S. 230-233. s1 List! (Aussagen), S. 30. Vgl. weiter Scheuner im HbStKR, Bd. Il., S. 299-344. 52 Bei denen gemäß MP "Soll." auch Laien mit der Vertretung des Hl. Stuhls beauftragt werden können und in der Praxis auch regelmäßig beauftragt werden; vgl. Köck (Hl. Stuhl), S. 479 ff.
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gen, welcher Form auch immer, mit auf den Weg gibt. Durch c. 364, 7° gibt der Kodex darüberhinaus zu verstehen, daß er durchaus Probleme im StaatKirche-Verhältnis realisiert, wenngleich die Kooperation erstes Anliegen bleibt 53 • Und in c. 365 § 1, 1o hätte man sich durchaus die Formel des Vaticanum II in Art. 76 GS von der "sana cooperatio" vorstellen können. Zumindest aber wird man diese Norm im Licht dieser konziliaren Formel interpretieren müssen, in der auch die grundlegende Trennung von Kirche und Staat sowie der Verzicht auf eine staatliche Privilegierung der katholischen Kirche, die dem Grundsatz der Religionsfreiheit widerspricht, mitausgesagt ist.
bb) Vertragsschlüsse (Staat-Kirche-Verträge) Wenn der Vertrag das genuine rechtliche Verständigungsmittel zwischen Freien und Gleichen ist, sich die Internationale Gemeinschaft als eine solche Gemeinschaft von Freien und Gleichen versteht und, wie gesehen, der Heilige Stuhl Mitglied dieser Gemeinschaft ist, muß unser besonderes Augenmerk zwangsläufig auf den Komplex der Staat-Kirche-Verträge gerichtet sein. Denn in der Erwähnung der "conventiones" in c. 365 § 1, 2° CIC I 1983 erschöpft sich die Stellungnahme des Kodex zu diesem Thema nicht. Terminologisch ist der Begriff der "conventio", der in den cc. 3, 289 § 2 und 365 § 1, 2° erscheint, der kanonische Oberbegriff für die verschiedenen vertraglichen Gestaltungen, die zwischen Staaten und Katholischer Kirche praktiziert werden 54• Terminologisch hervorgehoben ist der Untertyp des "concordatum" durch den c. 365 § 1, 2° CIC I 1983. Im Schema CIC 1980 (c. 303 § l , 2°) war auch noch von "stipulationibus quae ,modus vivendi' appellantur" die Rede, doch hat die Endredaktion diese Erwähnung wohl aus Vereinfachungsgründen gestrichen, da ohnehin "aliisque huiusmodi conventionibus" erwähnt waren 55 • Eine Geringschätzung des Vereinbarungstyps des "modus vivendi" wird in dieser redaktionellen Maßnahme also nicht gesehen werden dürfen 56• Auf den allgemein gehaltenen Terminus "pactum", wie er noch in c. 255 CIC I 1917 auftaucht, wurde ebenfalls verzichtet. 53
Zur Rolle der Legaten im Staat-Kirche-Verhältnis auch Le Toumeau (Legats),
s. 254-257.
54 Puza (Vereinbarungen), S. 123. Davon zu unterscheiden sind innerkirchliche "conventiones", wie sie in den cc. 271 § 3, 296, 790 § 1, 2°und 1714 CIC I 1983 angesprochen sind. 55 Eine größere Flexibilität in der Formenwahl der jüngeren vertragsrechtliehen Praxis konstatiert Hollerbach (Konkordatsrecht), S. 156. 56 Andererseits sind bisher erst drei "Modus Vivendi" abgeschlossen worden. Als erstes der mit der Tschechoslowakei vom 17. 12. 1927, dt. bei Schöppe, S. 500-503; danach am 24.7. 1937 mit Ecuador, dt. bei Schöppe, S. 86- 91 m. w. N .; zuletzt mit Tunesien vom 27.6.1964- dazu Hollerbach (Konkordatsrecht), S. 154 I 155m. w. N., Text bei P. Ciprotti I E. Zampetti, I Concordati di Giovanni XXIII e dei primi anni di Paolo VI, 1958-1974, Milano 1976, S. 138 -143; Originaltext in AAS 58 (1964), S. 917924.
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In diesem Zusammenhang stellen sich nun mehrere Fragen, zu deren Beantwortung das geltende kanonische Recht zumindest mit heranzuziehen ist: die Frage nach dem "Recht der Vertragsgrundlage" (Puza), nach der Abschlußkompetenz auf kirchlicher Seite, nach einer möglichen Transformation des Vereinbarungsinhaltes ins kirchliche Recht und nach dem inhaltlichen Verhältnis von CIC als gemeinem Recht und Vertragsrecht. Die erste Frage betrifft die rechtliche Verankerung einer Bindung der Parteien, die sich im Wege eines Konkordats oder ähnlicher Institute vereinbaren. Während die Legaltheorie, die in Staat-Kirche-Verträgen einseitige Machtnachlässe seitens des Staates erblickte 57 und für den Staat allenfalls eine moralische Bindung an ihre Zusagen einräumte 58 , von der Kirche seit jeher abgelehnt wurde 59 , wird im Kodex deutlich, daß er gleichfalls die mittelalterlich-kirchliche Privilegientheorie verwirft. Denn alter wie neuer CIC unterscheiden die "conventiones" in c. 3 deutlich von den "iura quaesita" und "privilegia", die sie jeweils in c. 4 behandeln 60 • Dadurch, daß eben dieser c. 3 solchen Staat-Kirche-Vereinbarungen des Heiligen Stuhls den Rang einer dem CIC selbst vorgehenden 61 Rechtsquelle einräumt, wird vollends deutlich, daß sich nicht nur die staatliche Theorie, sondern auch die kirchliche durch ihr kanonisches Recht die sog. "Vertragstheorie" zueigen gemacht hat62. Im Rahmen dieser Theorie ist allerdings weiter umstritten, welches das eigentliche Recht der Vertragsgrundlage bzw. der "gemeinsame Rechtsboden" der verschiedenen Vereinbarungen ist. Im deutschen staatsrechtlichen Schrifttum der 30er Jahre, das sich mit den konkordats- und kirchenvertragsschwangeren 20er Jahren auseinanderzusetzen hatte 63, wird, auf E. Kaufmann zurückgehend 64, das staatlich-kirchliche Vertragsrecht insgesamt als ein Rechtsbereich sui generis, nämlich als Koordinationsrechtsordnung oder "Staat-Kirche-Recht" dargestellt, das allein durch die Willenseinigung beider Teile, sich vertraglich zu binden und 57 Prägnantes Resümee des Theorienstreites über die Rechtsnatur der Konkordate bei Calvo, S. 206-211. 58 So noch 1914 Stutz (Kirchenrecht), S. 392 ff. (398). 59 In diesem Sinne Pius IX. in These 43 seines "Syllabus Errorum", DS 2943: "Laica potestas auctoritatem habet rescindendi, declarandi ac faciendi irritas solemnes conventiones (vulgo ,concordata') super usu iurium ad ecclesiasticam immunitatem pertinentium cum Sede Apostolica initas sine huius consensu, immo et ea reclamante." 60 So bereits Schoen, S. 320, Anm. 7. Der alte CIC war in seinem c. 1471 zwar noch etwas doppeldeutig, aber mittlerweile ist diese Bestimmung beseitigt. 61 Wobei, wie D. Pirson, Art. "Vertragsstaatskirchenrecht" in EStL3 , Bd. 2, Sp. 3826 richtig bemerkt, "selbstverständlich" auch c. 3 unter dem ungeschriebenen Vorbehalt des Ius divinum steht. 62 E. R. Huber (Verträge), S. 79. 63 Nachweise bei Hollerbach (Verträge), S. 101, sowie P. Schoen, S. 318, Anm. 1 und 2. 64 Genauer gesagt auf seine Schrift "Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sie stantibus", Tübingen 1911, bes. S. 153- 159.
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die übernommenen Pflichten zu wahren ("pacta sunt servanda"), entsteht. Diese Auffassung wurde in neuerer Zeit prononciert von A. Hollerbach vertreten 65 • Vorzug dieser Theorie ist es, für sämtliche Staat-Kirche-Verträge, also auch für solche mit nicht-katholischen Partnern und für sog. Bischofsverträge auf katholischer Seite einheitlich argumentieren zu können 66 • Dagegen steht die Auffassung, es handle sich zumindest bei den Konkordaten im engeren Sinne um echte völkerrechtliche Verträge, wie sie namentlich von H. F. Köck 67 formuliert und begründet wurde. Der CIC nimmt zu dieser Streitfrage nicht Stellung. Man wird jedoch nicht fehlgehen, in seiner durch c. 365 § 1 nochmals verstärkten Berufung auf das Völkerrecht ein Indiz für die letztgenannte Meinung zu erblicken. Auch die Frage nach der Abschlußkompetenz für Staat-Kirche-Verträge auf kirchlicher Seite erfährt nach wie vor keine eindeutige Beantwortung aus dem Kodex 68 • Wie für den alten CIC gilt auch für den neuen, daß er ein "ius tractatuum", also eine Norm oder einen Norrnkomplex, der das Recht, Verträge mit Inhabern staatlicher Autorität schließen zu dürfen, einem bestimmten Träger kirchlicher Hoheitsbefugnisse positiv zuwiese und andere damit gleichzeitig ausschlösse, nicht gibt 69 • Daher muß grundsätzlichjeder Inhaber ordentlicher kirchlicher Leitungsgewalt (potestas regiminis) berechtigt sein, im Rahmen seiner Gesetzgebungs- (potestas legislativa) oder ausführenden Gewalt (potestas administrativa)- cc. 129 § 1, 135 § 1 und§ 2 CIC/ 1983- derartige Vereinbarungen einzugehen. Damit kommen als kirchliche Vertragspartner nicht nur der Papst (c. 331) und der einzelne Diözesanbischof (cc. 381 § 1 und 391 § 1) in Betracht, sondern ebenso Zusammenschlüsse von Trägern dieser Leitungsgewalt 70 , sofern ihnen durch das gemeine Recht eigene, also gewissermaßen korporative Leitungsgewalt zugesprochen wird: somit etwa das Ökumenische Konzil (c. 336) oder das Partikularkonzil (c. 445) 7 1• Hinsichtlich der Aufgabenverteilung zwischen Papst und Ortsbischof hat der neue Kodex bekanntlich den vom 2. Vaticanum vorgegebenen Wechsel vom Konzessions- zum Reservationssystem in den Zuständigkeiten mitvollzogen 72 • 65 (Verträge), S. 99 ff. und S. 176; für die evangelischen Kirchenverträge vgl. auch Rust, S. 185- 188. 66 Hollerbach (Konkordatsrecht), S. 141. 67 (Hl. Stuhl), S. 332 ff., zusf. S. 403; ders. (Aspekte), S. 21; zustimmend May (Vereinbarungen), S. 43; Heimerl I Pree, S. 27; Pirson, a. a. 0. (Anm. 61), Sp. 3822 I 3823; List! (Konkordate und Kirchenverträge), Bd. I., S. 6; die Streitfrage relativierend Rust,
s. 95196. 68
197.
Am ausführlichsten zu diesem Problem noch immer Hollerbach (Verträge), S. 189-
69 Zum alten Recht May (Verträge), S. 427; Puza (Vereinbarungen), S. 126; Hollerbach (Verträge), S.l90; H. Wagnon, S.l121 113. 10 Allg. dazu May (Verträge), ebda. 11 Ähnlich Hollerbach (Verträge), S. 190. 72 Art. 8 und 11 CD; zum ganzen Mörsdorf (Hirtenamt), S. 331 ff.; Walf (Einführung), s. 70 ff.
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Nach c. 381 § 1 streitet nunmehr für den Ortsbischof die Vermutung, daß er alle Gewalt besitzt, die zur Ausübung seines Hirtendienstes erforderlich ist. Im alten CIC wurde die Abschlußkompetenz im Rahmen der päpstlichen Kompetenz für die sog. "causae maiores" des c. 220 CIC I 1917 behandelt, in den cc. 255, 263, 1o CIC I 1917 hingegen überwiegend keine ausschließliche Kompetenzzuweisung an den Heiligen Stuhl erblickt, sondern eine verwaltungsorganisatorische Bestimmung für Verträge, die bereits vom Hl. Stuhl verhandelt bzw. abgeschlossen worden waren 73 • Hinzu kam nach G. May das alte Rechtsinstitut der "affectio papalis" 74 • Andererseits gilt grundsätzlich die Möglichkeit der Delegation 75 im Sinne des c. 131 § 1 Alt. 2 CIC I 1983 76 • Da derneue Kodex aberdavon abgesehen hat, an zusammenhängender Stelle die Befugnisse des Papstes zusammenzufassen, bleibt es im großen und ganzen bei der Rechtslage wie unter der Geltung des alten CIC: der Papst bzw. der Heilige Stuhl ist kompetenter Partner für Konkordate im engeren Sinn, in denen also eine umfassende Regelung des Verhältnisses Staat-(Teil)Kirche getroffen werden soll 77 sowie für solche Übereinkommen, die Fragen des gemeinen Rechts betreffen. Als solche, die zugleich typische Vertragsmaterien sind, sind etwa das kirchliche Ämterwesen, insbesondere die Besetzung von Bischofsstühlen, das Zirkumskriptionsrecht, das Schulund Hochschulrecht zu nennen 78 • Darüberhinaus ist aber eine Kompetenz der Diözesanbischöfe, insbesondere für Vereinbarungen mit nicht-gesamtstaatlichen Partnern, nicht ausgeschlossen 79 • Wagnon, S. 115, Anm. 2 gegen F. M. Capello; Hollerbach (Verträge), S. 192. May (Vereinbarung), S. 35. 75 Puza (Vereinbarungen), S. 128. 76 Heimerl I Pree, S. 113 und 114 ff. 77 So schon D. Scheven, S. 643 I 644. 78 Überblick bei R. Minnerath (L'Eglise et !es Etats), S. 215-419. 79 So jetzt wieder ausdrücklich Spinelli I Dalla Torre, S. 121 I 122. Auch Onclin in COMM 14 ( 1982), S. 135: "Item revera Ecclesia aliquas particulares conventiones facit." Beispiele für Bischofsverträge aus jüngster Zeit (d. h. nach Inkrafttreten des neuen CIC): -Vertrag der Erzdiözese Salzburg mit dem Land Tirol vom 11. November 1983 über die Sicherheitsverfilmung der Matrikeln des Tiroler Anteils (Abi. Salzburg 1983, s. 222 f.); -Vereinbarung des Landes Hessen und der Bistümer Fulda, Limburg und Mainz vom 14. Juni 1984 über die Katholische Seelsorge in der Polizei des Landes Hessen, Abdruck AfkKR 153 (1984), S. 253-254; - Vereinbarung zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen und den (Erz-)Bistümem [auf Landesgebiet] vom 22. Januar 1985 zur Durchführung des Art. VIII des Vertrages zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen und dem Heiligen Stuhl vom 26. März 1984 = AfkKR 154 (1985), S. 593-596. - Vereinbarung zwischen dem Land Niedersachsen und den (Erz-)Diözesen Hildesheim, Osnabrück, Münster, Fulda und Paderbom vom 6. Mai 1986 über den kirchlichen Dienst an Polizeivollzugsbeamten durch die Katholische Kirche im Lande Niedersachsen (Polizeiseelsorge), Abi. Münster 120 (1986), S. 126 ff.; -Vereinbarung zwischen dem Bundesminister der Verteidigung und dem Katholischen Militärbischof vom 6. April 1987 mit Zustimmung des Heiligen Stuhles über den 73
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In der Geschichte sind sie oft genug sogar mit einem umfassenden Kompetenzanspruch aufgetreten 80• Für die Kompetenz der Bischöfe spricht auch der neue c. 4 CCEO, der von den "Codicis canones initas aut approbatas [Hervorhebung vom Verf.] a Saneta Sede cum nationibus ... conventiones non abrogant neque iis derogant" spricht. Streitig ist hingegen die Frage der Zustimmungsbedürftigkeit von Bischofsverträgen. Hier stehen sich die kuriale Auffassung, nach der jeder Bischofsvertrag der Zustimmung des Heiligen Stuhles bedürfe 81 , und die, wenn man so will, "episkopale" Auffassung gegenüber, die eine Mitwirkung nur in den Fällen annimmt, in denen der Hl. Stuhl eigentlich positiv kompetent wäre 82 • Die erstgenannte Meinung beruft sich auf eine "seit unvordenklichen Zeiten gewohnheitsrechtlich verfestigte" Praxis des Heiligen Stuhles, zumindest im Wege stillschweigender Tolerierung seine Zustimmung zu Bischofsverträgen zu erklären. Die zweite Auffassung hingegen hat nicht nur den erwähnten Übergang vom Konzessions- zum Reservationssystem argumentativ im Rücken, sondern auch die Tatsache, daß es kaum möglich erscheint, eine unvordenkliche (d. h., gemäß c. 26 CIC/ 1983, mehr als lOOjährige) Praxis der Zustimmung des Hl. Stuhles zu konstruieren. Vielmehr sind die Befürworter der "kurialen" Aufassung gezwungen, ein Schweigen des Heiligen Stuhles zu Bischofsverträgen, die ohne sein Wissen geschlossen wurden, als Tolerierung zu deuten. Sie messen damit sogar dem unbewußten Schweigen einen (positiven) Erklärungswert zu. Das genügt aber nicht, um eine consuetudo einzuführen. Sodann scheint es bereits begrifflich ausgeschlossen, daß der universale Gesetzgeber eine consuetudo für sich selbst begründet, spricht doch die Definitionsnorm des c. 23 CIC I 1983 von der consuetudo einer Glaubensgemeinschaft: "Ea tantum consuetudo a communitate fidelium introducta vim legis habet" 83 • Insoweit möchte ich mich in dieser Frage der Meinung anschließen, daß diejenigen Verträge, die die Bischöfe im Rahmen ihrer Kompetenz abgeschlossen haben, keiner Zustimmung durch den Heiligen Stuhl mehr bedürfen. Diese ist nur in den Fällen erforderlich, in denen Bischöfe Verträge mit staatlichen Partnern schließen, für die eigentlich der Heilige Stuhl nach den oben genannten Grundsätzen sachlich zuständig gewesen wäre. Sind aber Bischofsverträge, die eigentlich materiell der Kompetenz des Heiligen StuhEinsatz von Pastoralreferenten in der Katholischen Militärseelsorge, Abi. Militärbischof 23 (1987), S. ll-13. Bezeichnend ist, daß es sich stets um Regelungen eines bestimmten einzelnen Sachproblems handelt, nicht um die umfassende Regelung der Staat-Kirche-Beziehung mit allen typischen Vertragsmaterien. Hier scheint sich eine neue Phase in der Praxis der StaatKirche-Verträge abzuzeichnen: Spinelli/Dalla Torre, S. 126. so Schnizer (Bischofskonkordate), S. 348; bestätigend May (Vereinbarung), S. 33. SI May (Verträge), S. 427 I 428 (vorsichtiger ders. noch in (Vereinbarungen), S. 36: "in der Regel"); ihm folgend G. Lenz, S. 131 I 132 und MünstKomrn I Socha, Komm. zu c. 3, Anrn. 2. sz Puza (Vereinbarungen), S. 131; offengelassen von Hollerbach (Verträge), S. 193. 83 AyrnansiMörsdorf, S. 197.
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les zuzuweisen wären, in diesem Sinn ordnungsgemäß, d. h. qua Delegation oder mit Zustimmung des Heiligen Stuhls abgeschlossen worden, gilt für sie ebenfalls die Bestandsgarantie des c. 3 CIC I 1983 analog 84• Bezüglich der nationalen Bischofskonferenz hat sich die Erwartung von Hollerbach, sie werde in den Rang einer "persona moralis" hineinwachsen und so die Befugnis erwerben, durch ihren Vorsitzenden oder in ähnlicher Weise eigenverantwortlich Staatskirchenverträge abschließen zu können 85 , nicht erfüllt. Auch nach dem neuen CIC ist die Bischofskonferenz kein Träger ordentlicher Gewalt, wie sich aus c. 455 § 1 CIC I 1983, der ihre Befugnisse umreißt und der die Ausführungen in Art. 38 IV CD aufnimmt, ergibt. Jedenfalls ist stets Überprüfung und Promulgation der Vereinbarungen durch den Heiligen Stuhl erforderlich, was sich e contrario aus der Norm des c. 455 § 2 CIC I 1983 für allgemeine Dekrete folgern läßt. Diese Bestimmung erscheint mir hier, also für staatskirchenrechtliche Vereinbarungen, bei denen die Legislativkompetenz auch Anknüpfungspunkt für die Abschlußkompetenz ist, analog anwendbar zu sein 86. Die deutsche staatskirchenrechtliche Praxis kennt immerhin ein Abkommen über die Versorgungheimatvertriebener Seelsorger und Kirchenbediensteter zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Bistümern und Erzbistümern im Bundesgebiet, vertreten durch den Erzbischof von Köln (damals Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz) vom 27. Juni 1958 87, welches durch Abkommen vom 30. 12. 1984 zwischen der BRD und dem Verband der Diözesen Deutschlands erneuert wurde 88• Eine Beteiligung des Heiligen Stuhls geht aus dem Text nicht hervor 89• Auch die Vereinbarung über die katholische Seelsorge im Bundesgrenzschutz zwischen der Bundesregierung und den Katholischen Bischöfen in der Bundesrepublik vom 29. Juli bzw. 12. August 1965 ist hier einzuordnen 90• Hier wurde in § 20 der Vereinbarung ihr Inkrafttreten jedoch ausdrücklich von der Bestätigung des Heiligen Stuhls abhängig gemacht 91 • Was den staatlichen Partner angeht, so ist der c. 3 CIC I 1983 offener als noch c. 3 CIC I 1917. Mit der Erwähnung von "conventiones initas cum aliis societatibus politicis" sind nunmehr auch internationale oder supranationale Organisatio84 Puza (Vereinbarungen), S. 133; Lenz, S. 132 I 133; Schmitz im HbkKR, S. 55. So nun auch ausdrücklich der oben bereits zitierte c. 4 CCEO. 85 (Verträge), S. 190; zurückhaltender bereits ders. (Konkordatsrecht), S. 127; vgl. auch Puza (Vereinbarungen), S. 128. 86 In dieselbe Richtung argumentiert Aymans I Mörsdorf, S. 115. 87 Text bei List! (Konkordate), Bd. I., S. 62-65. 88 List!, ebda., S. 62, Anm. 1. Zum Verband der Diözesen Deutschlands s. u. b), (2). 89 Eine entsprechende schriftliche Anfrage des Verfassers an das Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz blieb unbeantwortet. 90 Bei List! (Konkordate), Bd. I., S. 85-93. 91 Ob und wann sie erfolgt ist, läßt sich der Literatur nicht entnehmen. Im übrigen verweise ich auf Anm. 89.
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nen einerseits bzw. rechtliche Teilsubjekte eines Staates wie etwa Bundesländer andererseits mitberücksichtigt 92 • Anders als auf staatlicher Seite bedarf es auf seiten der katholischen Kirche keiner eigenen gesetzlichen Transformation des Konkordats bzw. der staatskirchenvertraglichen Vereinbarung, um den entsprechenden Inhalt als partikulares Kirchenrecht in Geltung zu setzen 93 • Dies findet seinen Grund in der Einheit der Leitungsgewalt, die in ihren drei Ausprägungen (vgl. c. 135 CIC I 1983) in ihrem jeweiligen Träger und damit in der kirchlichen Vertragspartei verwirklicht ist. Die Notwendigkeit, einen "eigentlichen" Träger der staatlichen Hoheitsgewalt, wie etwa in demokratischen Staaten (vgl. nur Art. 20 Abs. I GG) das vom Volk gewählte Parlament, in den Rechtsschöpfungsprozeß miteinzubeziehen, entfällt damit 94 • Daneben stellt auch hier c. 3 CIC I 1983 eine unmittelbare Geltung auf, die jedoch voraussetzt, daß das Konkordat oder der Bischofsvertrag ordnungsgemäß, d. h. in der in c. 7 CICI 1983 vorgeschriebenen Weise durch Veröffentlichung in den AAS bzw. den diözesanen Amtsblättern promulgiert wird 95 • Den typischen oder möglichen Inhalt von Konkordaten spricht der Kodex bewußt nicht an. Vielmehr fungiert c. 3 als eine formale Kollisionsnorm. Vertragsrecht bricht kodikarisches Recht. Allerdings ist auch in diesen Grundsatz die immanente Schranke hineinzulesen, daß der CIC auf seine Geltung weder verzichten will noch verzichten kann, wo er göttliches Recht positiviert hat 96• Eine mittelbare Bezugnahme des CIC auf Vertragsstaatskirchenrecht wird man nur in c. 377 § 5 erblicken können, der die freie Besetzung des Bischofsamts anspricht. Dennoch wird man, so glaube ich, das Ganze des CIC als Normgefüge auch heute noch mit Fug und Recht als "Konkordatsprogramm" bezeichnen dürfen 97 • Denn im CIC will die Kirche ihr Leben gemäß ihren genuinen Wesenseigenschaften ordnen. Für diese eigengeartete Ordnung erwartet sie, wiederum rechtlich gesichert, Freiheit von seiten der weltlichen Mächte. Die Norm des c. 3 CIC I 1983 erscheint vor diesem Hintergrund pragmatisch, ja weise. Sie macht es möglich, eine optimale innere Ordnung zu statuieren, diese in die Verhandlungen mit den staatlichen Partnern als eigene Position einzubringen und doch mögliche Abstriche als Konzessionen darzustellen. 92 Spinelli I Dalla Torre, S. 69 (" . . . dinnanzi al declinare della figura dello Stato sovrano ed ... di relazionarsi con Ia pluralita di centri nei quali si va riorganizzando il potere secolare."); Heimerl I Pree, S. 27; ComCod I Pinto, S. 2; MünstKomm I Socha, Komm. zu c. 3, Anm. 3. 93 Hollerbach (Verträge), S. 154 f .; Puza (Vereinbarungen), S. 132 I 133; a. A. May (Verträge), S. 427. 94 Aymans I Mörsdorf, S. 113. Der grundlegende Unterschied zwischen kirchlicher Gewalteneinheit und staatlicher Gewaltentrennung ist ebda., S. 423 I 424, dargestellt. 95 Puza (Vereinbarungen), S. 132 I 133. 96 MünstKomm I Socha, Komm. zu c. 3, Anm. 7. 97 So, noch für den CIC I 1917, Hollerbach (LEF), S. 318; für die vorkodikarische Zeit aufschlußreich Ciprotti, 11 diritto canonico nella diplomazia ecclesiastica, in: Festschrift R. Bidagor, Bd. 1, S. 167-195, sowie Kleinermeilert, S. 174 ff.
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Eine genaue Liste des Übereinstimmens und Abweichens von Vertragsstaatskirchenrecht und Kodex kann an dieser Stelle nicht geboten werden, wäre aber gewiß einer eigenen Untersuchung wert. Allgemein wird man jedoch folgendes feststellen dürfen: war früher sogar in manchen Konkordaten ein sehr weites Entgegenkommen seitens des Staates festzustellen 98 , so hat sich die Lage im Zuge des in Art. 76 V GS ausgesprochenen Privilegienverzichts 99 , der von Puza kirchenrechtlich als "materielle Grenze der Jurisdiktionsgewalt des kirchlichen Vertragspartners" begriffen wird 100, wesentlich gewandelt. Unter der Prämisse dieses Bedeutungswandels staatskirchenvertragsrechtlicher Vereinbarungen weg von "pacta unionis" hin zu "pacta Iibertatis et cooperationis" 101 wird man aber solche Vereinbarungen auch heute noch auch aus der Sicht des Kirchenrechts - und ohne Rücksicht auf konkrete pastorale Opportunitäten - als taugliche Instrumente eines angemessenen Interessenausgleichs zwischen Kirche und Staat ansehen dürfen 102 • Kanonisch wird diese Auffassung der Staat-Kirche-Vereinbarungen als "pacta libertatis" deutlich an der neu in den CIC aufgenommenen Norm des c. 377 § 5, wonach in Zukunft staatlichen Autoritäten keine Rechte und Privilegien in Bezug auf Wahl, Nomination, Präsentation oder Designation von Bischöfen mehr eingeräumt werden sollen 103 • Die Norm geht bis hin zu ihrem Wortlaut auf das 2. Vatikanische Konzil zurück 104 und betrifft unmittelbar eine der klassischen Konkordatsmaterien 105 • Ebensowenig allerdings wie "politi98 So insbes. die oft genug vermerkte Anerkennung der Katholischen Kirche als "Societas Perfecta" in den Konkordaten mit Spanien aus dem Jahre 1953, Art. 2 I, Schöppe, S. 481, und demjenigen mit der Dominikanischen Republik 1954, Art. III, bei Schöppe, S. 72; dazu Minnerath (L'Eglise et !es Etats), S. 60-63.; Kleinermeilert, S. 191 ff. - sowie die Anerkennung der Katholischen Religion als Staatsreligion in ehendiesen Konkordaten sowie im Trattato der Lateranverträge mit Italien 1929, Art. 1, bei Schöppe, S. 162. Ein Hinausgehen über den (alten) Kodex darf darin aber nicht gesehen werden, da der alte CIC, wie gezeigt, in c. 100 § 1 die "societas perfecta"Doktrin inhaltlich aufgenommen und sich mit der Frage nach der Möglichkeit oder Notwendigkeit der Anerkennung des katholischen Bekenntnisses als Staatsreligion nicht befaßt hat. Im übrigen scheint schon theoretisch ein qualitatives "Mehr" als der Standard des kanonischen Rechts selbst unmöglich zu sein. 99 Hierzu sehr ausf. L. Spinelli, II sistema concordatario e Ia dottrina del Vaticano li, in: Festschrift R. Bidagor, Bd. I, S. 197-220 sowie Schnizer (Institutionelle Grenzen), passim. 100 (Vereinbarungen), S. 137. 101 Hollerbach (LEF), S. 326 I 321; etwas anders (..in concreto [Hervorhebung vom Verf.] sinnvariierendes Instrument") ders. in (Konkordatsrecht), S. 156. 102 Puza (Vereinbarung), S. 137; Köck (Aspekte), S. 61-63; List! (Aussagen), S. 17 f. ; Spinelli I Dalla Torre, S. 67 mit Anm. 39; vehement a. A. (unter Berücksichtigung vor allem der italienischen Konkordatslage) Colella (Liberta Religiosa), S. 173- 198 m. w. N. V gl. zur Evolution der Konkordate auch die umfassende Darstellung Minneraths (L'Eglise et !es Etats), 1983, der für den Zeitraum zwischen 1846 und 1981 den konkreten Wandlungen konkordatärer Normierungen nachgeht. 103 "Nulla in posterum iura et privilegia electionis, nominationis, praesentationis vel designationis Episcoporum civilibus auctoritatibus conceduntur". 104 Art. 20 CD; zur Entstehungsgeschichte Zapp (Bischofsemennung). 105 Vgl. nur Schöppe, S. XXIII und List! (Konkordate), Bd. 1., S. 9.
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2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
sehe Klauseln" oder bischöflicher Treueid unter den Anwendungsbereich dieser Vorschrift fallen 106, betrifft sie das in Teilen Deutschlands, der Schweiz und Österreichs konkordatär vereinbarte und praktizierte Bischofswahlrecht von Domkapiteln 107 • An dieser Stelle sei ein kleiner Exkurs gestattet: in ähnlich moderater Weise wie c. 377 § 5 nimmt der neue CIC in c. 523 CIC/ 1983 zu abweichendem Partikularrecht Stellung, wie es vor allem die in der Schweiz verbreiteten Pfarrerwahlrechte darstellen 108 • Er bleibt damit sogar hinter dem Appell von CD 31 zurück, der nahelegte, auf eine Abschaffung dieser überkommenen Rechte zu dringen.
106 Mörsdorf, Komm. zu Art 20 CD in LThK, Suppl. II., S. 186. Vgl. aber auch die Revision des Haitianisehen Konkordats vom 28. 3. 1860 (Schöppe, S. 135- I 38 und Mercati I, S. 929-934) in seinem Art. 4 und Art. 5: unter ausdrücklicher Berufung auf Art. 20 CD vereinbaren der Heilige Stuhl und die Republik Haiti durch Vertrag vom 8. August 1984, abgedruckt in Afk.KR 153 (1984), S. 548-549, daß das bisherige präsidiale Nominationsrecht für Bischöfe ersatzlos wegfällt und der Heilige Stuhl alle Bischöfe frei ernennen kann (Art. 4, Abs. 1 n. F.), daß aber weiterhin eine vorherige Anfrage des Heiligen Stuhls bei der Haitianisehen Staatsregierung wegen Bedenken allgemeinpolitischer Art gegen den Kandidaten stattfindet (Art. 4, Abs. 2 und 3 n. F.). Auch der bischöfliche Treueid ist in Art. 5 n. F., wenngleich in abgeschwächter Form, beibehalten. 101 Dies folgt sowohl aus dem eindeutigen Wortlaut ("auctoritates civiles" , wohingegen das Domkapitel eine "auctoritas ecclesiastica" ist) als auch aus dem Regelungszusammenhang mit c. 377 § 1, dem zu entnehmen ist, daß ein Bischofswahlrecht, worunter das im Text genannte mitteleuropäische Kapitelwahlrecht fällt (CCL I Green, S. 321), über c. 329 § 3 CIC I 1917 hinaus, nicht mehr als Konzession, sondern als gleichwertige Form der Bischofsbestellung (so schon Zapp (Bischofsemennung), S. 502) anzusehen ist. Soweit List! (Bischofsstühle), S. 470 f., eine andere Meinung vertrat, hat er sie jetzt in (Kanonistische Teildisziplin), S. 20, zumindest relativiert, wenn nicht aufgegeben ("wohl nicht in direktem Widerspruch zu c. 377 § 5 CIC"; ebenso bereits ders. (Aussagen), S. 22, im Jahre 1984). Auf tatsächliche oder vermeintliche staatliche Pressionen zur Durchsetzung des Kapitelwahlrechts, insbesondere im Zuge des Preußischen Konkordats 1928 I 29, worauf List! in (Bischofsstühle), S. 32 und S. 40 f. abhebt, kommt es bei dieser Frage nicht an. Im übrigen tragen die aus akribischer Aktenkenntnis geschriebenen Darlegungen von H. Mussinghoff, Theologische Fakultäten im Spannungsfeld von Staat und Kirche, Mainz 1979, S. 260 f. mit Anm. 375, auf die sich List! beruft, seine Pressionsthese jedenfalls nicht. Der entscheidende Streitpunkt zwischen kirchlicher und staatlicher Seite war wohl die sog. "Schulklausel" bzw. ihr Fortfall. Die Preußische Staatsregierung wurde ganz im Gegenteil in den Landtagsberatungen über das Konkordat scharf deswegen attackiert, weil das Konkordat der Kurie zu große Rechte bei der Bischofswahl einräumte: vgl. Mussinghoff, ebda., S. 316. Das Kapitelwahlrecht kann sich ungeachtet seiner konkreten kirchenpolitischen Veranlassung im neuzeitlichen Mitteleuropa als theologisch sinnvoll erweisen und unabhängig von staatlichem Einfluß kanonisch legitimiert praktizieren lassen; vgl. dazu die Überlegungen von G. Greshake, Bischofsernennungen im Lichte einer Theologie des kirchlichen Amtes und einer Communio-Ekklesiologie, in: ders. (Hg.), Zur Frage der Bischofsernennungen in der römisch-katholischen Kirche, München I Zürich 1991, S. 104- 139. 108 Carlen (Kirche und Staat), S. 588 I 589.
III. Kirchliche Rechtssubjekte und Staat im CIC
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b) Der national-staatliche Bereich ( 1) Kirchliche und staatliche "Ortung" Das kirchliche Recht versteht unter dem Begriff Zirkumskription die Festlegung der territorialen Grenzen, der räumlichen Ausdehnung einer Teilkirche, sei es nun einer Diözese, einer Kirchenprovinz oder eines teilkirchlichen Zusammenschlusses. Das rechtsphilosophische Problem, das hinter diesem Begriff steht, ist das des Verhältnisses von Ordnung und Ortung, also die Frage, ob und inwieweit Recht als verbindlicher Verhaltensentwurf einer räumlichen Bezugnahme, Fixierung oder auch Konkretisierung bedarf. Sie ist damit ein Ausschnitt der größeren Frage nach den notwendigen Bedingungen der Rechtsgeltung. Für das deutschsprachige kanonistische Schrifttum hat sich - im Anschluß an Überlegungen C. Schmitts für das profane Recht, insbesondere das Völkerrecht 109 - dieses wenig behandelten Themas bisher soweit ersichtlich einzig Hans Barion angenommen 110• Für das im Rahmen dieser Arbeit zu behandelnde Thema muß die Fragestellung allerdings auf die Frage nach dem Verhältnis kirchlicher und staatlicher Ortung oder, einfacher ausgedrückt, auf die Frage nach dem Verhältnis von Staats- und Kirchengrenzen beschränkt werden. Für die Rechtslage unter der Geltung des CIC I 1917 verzeichnet Barion in einem ersten Schritt, daß die Ortungsproblematik schon aus c. 8 § 2 CICI 1917 aufscheine, der besagte: "Lex non praesumitur personalis, sed territorialis, nisi aliud constet." Nachdem er im Anschluß an das kanonistische Schrifttum die zitierte Norm einschränkend dahingehend auslegt, daß "Iex" die "Iex particularis" meint, hat er schon an diesem allgemeinen Kanon das grundlegende Ordnungsproblem des kirchenverfassungsrechtlichen Dualismus von Universalkirche (Papst) zu Teilkirche (Bischof) aufgewiesen 111 • Aus c. 329 § 1 CIC I 1917, der für ihn ein sog. Wurzelkanon ist, also göttliches Recht kodifiziert 112, folgt für Barion, daß eine Teilkirche notwendig geortet sein muß. Dabei bedingt die Territorialverfassung die Bischofsverfassung, und "der territorial, nicht bloß personal strukturierte Regierungsbereich eines Bischofs ist damit als göttlich-rechtliches Element der kanonischen Ordnung erwiesen." 113 Was nun "das Ortungsverhältnis zwi109 Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln 1950; hier insbes. die "Fünf einleitenden Corrolarien", S. 11 -51. 110 Barion, Ordnung und Ortung im Kanonischen Recht, in: Festschrift für Carl Schmitt zum 70. Geburtstag. Dargebracht von Freunden und Schülern. Hrsg. von Hans Barion, Ernst Forsthoff, Wemer Weber. Berlin 1959, S. 1- 34; hier zitiert nach den "Gesammelten Aufsätzen" (GA) Barions, hrsg. von W. Böckenförde, S. 181-214; die Ausführungen P. Negwers, S. 16-27, der im übrigen auch die Schrift Barions nicht gekannt zu haben scheint, müssen diesbezüglich als rudimentär angesehen werden; vgl. auch G. May (Hans Barion), S. 581. 111 Barion (Ordnung und Ortung), GA, S. 181-183. 11 z Zu dieser Konzeption bereits oben Erstes Kapitel, Abschnitt 11., 3., b). 113 Barion (Ordnung und Ortung), GA, S. 187.
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2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
sehen den Ecclesiae Peculiares und den einzelnen Staaten, auf deren Territorium sie errichtet sind" betrifft, postuliert Barion ein Verhältnis gegenseitiger Unabhängigkeit, also nicht bloß der staatlichen Zirkumskription von der kirchlichen (bemerkenswert seine Formulierung "einen theologischen Titel für die kirchliche Mitwirkung bei der ,Teilung der Erde' gibt es nicht"), sondern auch umgekehrt der kirchlichen Zirkumskription von der weltlich-politischen. Auch dies begründet Barion, ohne die rechtstechnische, allgemeine Zirkumskriptionsnorm des c. 215 § 1 CIC I 1917 überhaupt zu erwähnen, einmal mehr aus c. 329 § 1, aber auch aus einer terminologischen Zusammenstellung, der er entnehmen zu müssen glaubt, daß der CIC "die politische Gliederung der Welt als nichtexistent behandelt" 114• Eine zwingende Grenze der (theoretischen) gegenseitigen territorialen Nichtwahrnehmung trete erst dann ein, wenn Kirche und Staat ihre Interessen im Rahmen eines Konkordates abzustimmen suchten 115 • Auch das 2. Vatikanische Konzil geht vom Grundsatz der Unabhängigkeit der Kirchengrenzen von den Staatsgrenzen aus 116• Das Dekret über die Hirtensorge der Bischöfe in der Kirche "Christus Dominus" vom 28. 10. 1965 117 behandelt in den Art. 22 bis 24 die "Dioecesium Circumscriptio". Diese müsse der wirksamen bischöflichen Hirtenaufgabe dienen. Deshalb solle sich die Überprüfung der bestehenden Zirkumskriptionen nach pastoralen Kriterien wie z. B. der Bevölkerungsstruktur oder Klerikerdichte richten. Die politische Einteilung wird auch genannt, aber eben nur als eines unter vielen Kriterien, nicht zwingend und sozusagen unter den erwähnten pastoralen Vorzeichen 118 • An diesem grundlegenden Befund hat auch der neue CIC des Jahres 1983 nichts geändert. Die Gesamtkirche ist Universalkirche, also über die ganze Welt verbreitet, wie auch c. 204 § 2 CIC I 1983 ("in hoc mundo") bestätigt, allerdings als eine "Communio Ecclesiarum" (LG Art. 23, 1) bestehend aus den verschiedenen Teilkirchen ("Ecclesiae Particulares") 119• Der grundlegende Sachverhalt ist Ebda., S. 202-205. Ebda., S. 206. 116 Hollerbach (Konkordatsrecht), S. 216. 111 AAS 58 (1966), S. 673-696; hier zitiert nach LThK, Suppl. II, S. 148-247 (mit einem Kommentar Mörsdorfs). 118 Art. 23, 1): "Gleichzeitig trage man dafür Sorge, daß demographische Zusammenfassungen der Bevölkerung mit den staatlichen Behörden und sozialen Einrichtungen, die ihre organische Struktur ausmachen, möglichst in ihrer Einheit gewahrt bleiben ... Gegebenenfalls achte man auch auf die Grenzen der staatlichen Bezirke (attendatur etiam, si casus ferat, ad fines circumscriptionum civilium) .. . " 119 Der neue CIC verwendet für die Teilkirche (erfreulich) konsequent den Ausdruck "Ecclesia particularis". Der im CIC I 1917 noch gebräuchliche Terminus "Ecclesia peculiaris" taucht nicht mehr auf. Die Erklärung findet sich in der Gesetzgebungsgeschichte. In den Coetus "De Clericis" I "De Sacra Hierarchia" einigte man sich schon früh auf die entsprechende Terminologie; Ecclesiae peculiares seien die ritusverschiedenen Kirchen, so daß etwa die maronitische Rituskirche sowohl "Ecclesia particularis" wie auch "Ecclesia peculiaris" sei; COMM 18 (1986), S. 57. 114
11s
III. Kirchliche Rechtssubjekte und Staat im CIC
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also einfach: "Die Kirche als ganze ist weltweite Communio, nicht gebunden an ein bestimmtes Gebiet oder an ein bestimmtes Volk. Als Volk Gottes ist sie ... in erster Linie eine personale Gemeinschaft . .. Gleichwohl wird dieses Personalprinzip von einem Territorialprinzip grundlegend strukturiert." 120• Ob allerdings dieses Territorialprinzip, wie Barion es für den alten CIC festzustellen können glaubte, "divini iuris" ist, erscheint mir auf der Grundlage des neuen CIC mehr als zweifelhaft 121 • Denn zunächst wird die territoriale Verortung der jeweiligen Teilkirche in c. 372 § I nurmehr als Regelfall beschrieben 122• Vor allem aber kommt die "ex institutione divina" verliehene Vollmacht den Ortsbischöfen nicht mehr, wie noch in c. 329 §I CIC/ I9I7, als "Regierenden eines kirchlichen Territoriums", sondern nurmehr, wenn c. 375 so richtig zu lesen ist, durch die sakramentale Weihe als ,_,successores Apostolorum" zu 123 • Daß hier tatsächlich ein "Paradigmenwechsel" stattgefunden hat, läßt sich wiederum nur durch den Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte erkennen und belegen. Denn der Eingangskanon zum Abschnitt "Teilkirchen" sollte ursprünglich folgenden Wortlaut haben, wenn auch nur als Diskussionsgrundlage: "Canon I, § 1. In Ecclesia universali exstant Ecclesiae particulares, i. e. dioeceses aliaeque fidelium communitates [Hervorhebung vom Verf.] quaein iure dioecesi aequiparantur ... " Hierzu fragte nun ein Consultor, "ut, quod id fieri possit, adhibeatur verbum ,communitates', loco verbi ,circumscriptiones'. Ecclesiae enim particulares quae universalem Ecclesiam efforment non sunt circumscriptiones territoriales, sed fidelium communitates sive Populi Dei portiones. His dictis ceteri Consultores assentiunt, sed Rev.mus Secretarius Ad. [W. Onclin; G.] proponit ut, saltem provisorie, remaneat titulus ,De circumscriptionibus ecclesiasticis'. In redigendis autem canonibus prae oculis haberi debet verbum ,circumscriptio' vel ,deliminatio' 124 communitatem fidelium aut Ecclesiarum particularium non necessarie significare ,circumscriptionem territorialem', quia talis deliminatio portionis Populi Dei fieri etiam potest iuxta criterium mixturn circumscriptionis (territorialis simul et personalis) vel iuxta criterium unice personale, attentis videlicet quibusdam specificis qualitatibus personarum." 125 • Wenn auch die eben zitierte Meinung sich hinsichtlich der Bedeutung von "circumscriptio" nicht bis in den CIC hinein Aymans, HbkKR, S. 246. Soweit gegen meine Überlegung eingewendet würde, ius divinum bleibe ius divinum, auch ohne daß es im Kodex positiviert würde, müßte dem entgegengehalten werden, daß schon der alte CIC das Territorialprinzip nicht so eindeutig wie Barion es zu erkennen glaubte, als göttlichen Rechts normierte. Die Überlegungen, die dem neuen Kodex diesbezüglich zugrundeliegen, bestätigen noch deutlicher das Gegenteil. 122 "Pro regula [Hervorhebung vom Verf.] habeatur ut portio populi Dei quae dioecesim aliamve Ecclesiam particularem constituat, certo territorio circumscribatur, ita ut omnes comprehendat fideles in territorio habitantes." 123 "§ 1: Episcopi, qui ex divina institutione in Apostolorum locum succedunt per Spiritum Sanctum qui datus est eis, in Ecclesia Pastores constituuntur." 124 Dieser Ausdruck findet im endgültigen CIC keine Verwendung mehr. 120 121
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COMM 18 (1986), S. 56.
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2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
hat behaupten können 126, bleibt sie doch repräsentativ für die gewandelte theologische Auffassung und damit Rechtsbegründung, die davon ausgeht, daß sich die teilkirchliche Ordnung nicht primär als ein vollständiges Netz von Regierungsbezirken, sondern als ein vollständiger Verbund von Personengemeinschaften darstellt 127 • Nach c. 373 CIC I 1983 ist die "Organisationsgewalt" für die Errichtung von Teilkirchen, also auch die territoriale "circumscriptio" der Diözese, Teil der päpstlichen Primatialgewalt, die gemäß c. 331 ("libere" = Abbreviatur für die Autonomieformel "libere et independenter a quavis auctoritate civili") als von jeder staatlichen Gewalt unabhängig verstanden wird. Allein dadurch wird bereits deutlich, daß der postulierte Grundsatz der Unabhängigkeit der kirchlichen Grenzen von den politischen Grenzen im CIC I 1983 enthalten ist und damit beibehalten wird 128 • Diesem rechtsdogmatischen Befund steht allerdings der historische entgegen. Denn in aller Regel verlief die Ausbreitung und Einteilung der Jurisdiktionsbezirke parallel zur weltlich-politischen Entwicklung 129• In der Periode absolutistischen Staatskirchenturns versuchten die staatlichen Stellen dann, noch verbliebene Abweichungen von Kirchen- und Staatsgrenzen zu beseitigen 130 und das vor allem durch konkordatäre Festlegungen oder ähnliche rechtliche Instrumentarien 126 "Circumscriptio" bedeutetjetzt durchgehend ,,räumliche Umschreibung". Die Bildung einer nicht-territorialen kirchlichen Struktur, etwa einer Personalprälatur, (cc. 294297 CIC I 1983), unterfällt dem Terminus "erectio". Zu dieser Problematik M. Benz, S. 49-60. Er will allerdings die Personalprälatur nicht als Teilkirche und damit der Kirchenverfassung zugehörig einordnen, sondern als sog. Inkardinationsverband und damit dem kirchlichen Vereinsrecht nahestehend. A. A. MDC I J. L. Gutierrez, S. 330333 ("nueva estructura jenirquica de Ia lglesia")). 121 Bestätigend COMM 17 (1985), S. 90, wo Auszüge aus der Relatio von Mörsdorf für den Coetus "De Clericis" ("De Sacra Hierarchia") wiedergegeben werden: "Certum quidem est Conc. Vat. II non plena admisisse systema, vi cuius dioecesis est pars territorialis seu territorialiter semper distincta in Ecclesia universalis, sed Concilium aliam notionem dioecesis extollere, cuius ratione est ,portio Populi Dei, quae Episcopo cum cooperatione Presbyterii concreditur ... ' (Decr. Christus Dominus, n. 11). Territorium quidem momentum habet, non uti elementum constitutivum dioecesis, sed ut determinativum portionis Populi Dei seu communitatis personarum quae dioecesim constituit. Exinde apparet quod regula generali dioecesis, quae est communitas personarum, determinari potest territorio, sed quod etiam alia ratione definiri potest haec communitas, quin detur anomalia in iure. De hoc principio omnes concordant." 128 Zur heiklen Problematik, die diesbezüglich in der Schweiz auftritt, wo Art. 50 IV der Bundesverfassung eine staatliche Genehmigung für die Errichtung von Bistümern auf schweizerischem Gebiet vorsieht, vgl. Carlen (Kirche und Staat), S. 587 I 588. Zur wegen des landesherrlichen Kirchenregimentes zunächst andersgearteten Entwicklung in den deutschen protestantischen Territorien siehe die grundlegende Untersuchung von K. Müller, Staatsgrenzen und evangelische Kirchengrenzen, neu hg. von v. Campenhausen, Tübingen 1988. 129 P. Negwer, S. 27- 56; Barion (Ordnung und Ortung), GA, S. 202 I 203; Mörsdorf, Komm. zu "Christus Dominus" in LThK, Suppl. II., S. 188 zu Art. 22. 130 Neumann (Rezension Negwer), S. 637.
III. Kirchliche Rechtssubjekte und Staat im CIC
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kirchlicherseits rechtsverbindlich verankern zu lassen 131 • Bezogen auf die deutschen Territorien lassen sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nach der politische Neuordnung durch den Wiener Kongreß (September 1814 bis Juni 1815), eine Reihe päpstlicher sog. Zirkumskriptionsbullen verzeichnen 132 und für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts Zirkumskriptionsabreden in etlichen Konkordaten 133 , was aber angesichts der oben erläuterten universalkirchlichen Rechtslage mit Barion als "Konzession" zu bezeichnen sein dürfte, auch wenn diese Konzession "inzwischen selbstverständlicher Grundsatz für die Beziehungen zwischen Kirche und Staat geworden" sei 134• In praxi hatte sich also in der Neuzeit der dem rechtlichen Grundsatz entgegengesetzte Brauch etabliert und wurde und wird über den jeweiligen c. 3 CIC auch kanonisch gesichert 135 •
131 Negwer, S. 56-62; M. Bierbaum, Art. "Zirkumskriptionsbulle" im LThK, Bd. 10, Sp. 1381 I 1382. 132 Für Preußen die Bulle "De Salute Animarum" aus dem Jahre 1821 bei Huber I Huber, Bd. I, S. 203-221 sowie die Bulle "Pastoralis Officii Nostri" des Jahres 1930 bei Huber I Huber IV, S. 339-345 (in ihrer Folge auch die Bulle "Germanicae gentis" 1957 zur Errichtung des Bistums Essen: AAS 49 ( 1957), S. 993- 995; das entsprechende Konkordat bei List! (Konkordate) II, S. 230-233.), für die sog. Oberrheinische Kirchenprovinz die Bulle "Provida Solersque" von 1821: Huber/Huber I, S. 246-257 sowie 1824 für Hannover die Bulle "Impensa Romanorum Pontificum", Huber I Huber I, S. 299-308. Für Bayern kommt die auf der Grundlage des Konkordats vom 5. 6. 1817 (bei Huber I Huber I, S. 170- 177) erlassene Zirkumskriptionsbulle "Dei ac Domini nostri Jesu Christi" vom 1.4.1818, verkündet im Regierungsblatt für das Königreich Baiern 1821, Sp. 803 ff. (Huber I Huber I, S. 196) hinzu. Einen guten historischen Überblick gibt nunmehr List! in (Bistumsgrenzen), S. 234-238. 133 Bsp. bei Negwer, S. 63 I 64; Minnerath (L'Eglise et !es Etats), S. 268-271; Inhaltsverzeichnis Stichwort ,,Zirkumskription" bei Schöppe, S. 584 und für die Bundesrepublik bei List! (Konkordate), Bd. I., S. 801. 134 Barion (Ordnung und Ortung), GA S. 206. 135 Eine signifikant abweichende, den juristischen Grundsatz bestätigende Praxis gab es in den beiden deutschen Staaten während der Teilung bis zur Wiedervereinigung 1990 (dazu Hollerbach (Rechtsprobleme), S. 132 I 133), gibt es aber auch im konfessionell wie national brisanten Irland, wo bspw. die Diözese Armagh sich sowohl auf Territorium der Republik Irland als auch Großbritanniens (Nordirland) erstreckt. Über ein bisher nicht veröffentlichtes Arbeitspapier "Überlegungen zu einer Neuumschreibung der Bistumsgrenzen in der Bundesrepublik Deutschland" vom 13. I 14. Juni 1975, erstellt von einer Kommission der Gemeinsamen Synode der Bundesrepublik Deutschland, berichtet List! (Bistumsgrenzen), S. 240-245. Darin wurde u. a. eine Neuumschreibung empfohlen, die die Landesgrenzen und die landesinternen Verwaltungsgrenzen berücksichtigt. Ferner wurden Modelle vorgeschlagen, die von der "Deckungsgleichheit eines Bistums mit den Verwaltungsbereichen eines Oberzentrums" ausgehen solle. Damit wurde also direkt Bezug genommen auf staatliche, gesetzlich ausdifferenzierte Raumordnung und Landesplanung. Die Nichtverwirklichung der kirchlichen Neuplanungen hingen nach List! (Bistumsgrenzen), S. 241, allerdings mit der Befürchtung der westdeutschen Bischöfe zusammen, eine Neuordnung der Diözesanzirkumskription in der Bundesrepublik könne der Regierung der DDR eine willkommene Handhabe bieten, ihrerseits vom Heiligen Stuhl die Vomahme einer endgültigen Neuregelung der Bistumsgrenzen auf ihrem (damaligen) Territorium zu fordern. Dies aber sei auch nicht im bischöflichen Interesse gewesen.
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2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
(2) Die Bischofskonferenz Dieser hergebrachte Grundsatz scheint durch den neuen CIC nunmehr allerdings in Frage gestellt, gebieten doch die cc. 447,448 § 1 für die Bischofskonferenz den direkten Rückgriff auf die staatliche Grenze: "Die Bischofskonferenz, als ständige Einrichtung, ist der Zusammenschluß der Bischöfe einer Nation oder eines bestimmten Gebietes [coetus episcoporum alicuius nationis vel certi territorii], die gemeinsam gewisse pastorale Aufgaben für die Gläubigen ihres Gebietes ... ausüben" [munera quaedam pastoraHa coniunctim pro christifidelibus sui territorii exercentium]. Daß hierbei der Zusammenschluß in den Grenzen einer "Nation", womit Staatsgrenzen gemeint sind, die nicht nur faktische, sondern gerade auch rechtliche Regel ist und der Zusatz "vel certi territorii" die rechtliche Ausnahme darstellt (zumal für einen Raum, für den bereits eine nationale Bischofskonferenz besteht), folgt aus c. 448 § }136. Die historische Folgerichtigkeit dieser Normen ist allerdings nicht zu bestreiten. Seit 1830 bildeten sich in Europa zunächst informelle Zusammenkünfte der Ortsordinarien auf dem Gebiet einer Nation mit dem Ziel, ihre Vorgehensweise abzustimmen und die katholischen Interessen besser gegenüber den selbstbewußt gewordenen Territorialstaaten behaupten zu können - also eine wirksame Kirchenpolitik treiben zu können 137 • Bis zum 2. Vaticanum hatten sich in dieser Weise bereits 44 nationale Bischofskonferenzen gebildet l3s, so daß zu Recht von gewohnheitsrechtlicher Anerkennung gesprochen werden konnte 139, auch ohne daß die rudimentäre Regelung des c. 292 CIC I 1917 strapaziert werden mußte. Definitive rechtliche Anerkennung erfuhr die Institution Bischofskonferenz dann in den Art. 37 und 38 CD 140• Die Art 37 CD zugrundeliegende gesetzgebensehe Motivation berief sich auf die zeitbedingte Ausübung des bischöflichen Dienstes: in einer dem "Textus Recognitus" (1965), p. 111 a 1 angefügten Bemerkung wird diesbezüglich vor allem auf jene Fragen verwiesen, die eine ganze Nation angehen, z. B. die Schulfrage, Fragen der Verwaltung, des verantwortlichen Gebrauchs der bürgerlichen Rechte "et his similia". Außerdem seien zuweilen öffentliche Erklärungen erforderlich, denen größeres Gewicht zukomI. Iban, S. 44. Grundlegend noch immer G. Feliciani (Conferenze Episcopali), S. 15-158. Für den deutschen Sprachraum P. Leisching, Die Bischofskonferenz, 1963 sowie R. Lill, Die ersten deutschen Bischofskonferenzen, 1964; Kurzübersicht bei Heinemann (Bischofskonferenz), S. 93-95. 138 Nach der Auflistung im AnnPont 1962, S. 773-777. 139 Barion (Konzilskritik), GA, S. 516; H. Müller, Art. "Bischof', StL7 , Bd. I. (1985), Sp. 815. 140 Zur kanonistischen Ausdeutung der konziliaren Lehre siehe W. Bertrams (Conferentiae Episcoporum), wo er der Bischofskonferenz ipso iure kanonische Rechtsfähigkeit zuspricht - interessanterweise gegen andere Meinungen, die ebenso wie er am CICReformprozeß beteiligt waren: COMM 18 (1986), S. 115. 136 137
III. Kirchliche Rechtssubjekte und Staat im CIC
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me, wenn sie im Namen aller Bischöfe vorgetragen würden 141 • Damit stellt die Entstehungsgeschichte wiederum eindeutig auf kirchenpolitische Themen ab, was aber andererseits nicht zwingend bedeutet, daß das Vaticanum selbst nicht eine theologische Läuterung hätte einleiten können. Jedenfalls ist aber bereits in Art. 38, l CD die kirchliche Ortung (wenngleich relativiert) an die staatliche Ortung angekoppelt, was nunmehr die cc. 447 und 448 § l, wie dargestellt, übernehmen, obgleich in den entsprechenden Coetus-Beratungen zunächst eine andere Konstituierung vorgeschlagen worden war 142 • Es ist also nunmehr eine echte hierarchische Zwischeninstanz zwischen den hierarchischen "Eckgrößen" Universalkirche I Papst und Teilkirche I Bischof 143 entstanden 144, die Legislativkompetenz besitzt und der der CIC eine Fülle von Einzelzuständigkeiten zuschr~ibt 145 •
Die Bewertung dieser Weiterentwicklung, gerade unter dem hier interessierenden Aspekt der Zirkumskription, ist unterschiedlich. Barion schrieb in seinem dritten "Kanonistischen Bericht" über das 2. Vatikanische Konzil: "Die Bischofskonferenzen sind ein bedeutender Fortschritt zum episkopalistischen Polyzentrismus geworden. Denn ihre nunmehrige nationalstaatliche oder mehrstaatlich großräumliche, also politische Gliederung ist ein Bruch mit dem überkommenen Recht, das zwar praktisch auch mit den politischen Grenzen und Räumen sich abfinden muß, aber in der Theorie auf das nachdrücklichste Partikularsynoden und Bischofskonferenzen als rein kirchliche Zusammenschlüsse behandelt. Wieweit dieser Bruch dem Konzil überhaupt zu Bewußtsein gekommen ist, geht aus den amtlichen Sitzungsberichten nicht hervor; jedenfalls ist er eine faktische Verstärkung des progressistischen Polyzentrismus, weil er politischer Dynamik Einlaß in die teilkirchlichen Zusammenschlüsse von Rechts wegen gewährt." 146• Demgegenüber meint W. Aymans abwiegelnd: "Daß die Bischofskonferenzen zumeist auf nationaler Ebene organisiert sind, ist in den kulturellen, mehr noch in den rechtlich-sozialen Lebensbedingungen der Kirche wohlbegründet." 147 • Der als Anfrage eben aufgeworfene Streit braucht hier nicht entschieden zu werden. Es muß aber angemerkt werden, daß die politische Dynamik auf das Institut "Bischofskonferenz" auch insoweit durchschlägt, als internationale bzw. Zitiert nach Mörsdorf im LThK, Suppl. li., S. 232, Anm. 29. COMM 17 (1985), S. 109: "c. 12 §I. Episcoporum Conferentia, quae quidem natura sua est perpetua, constituatur in singulis regionibus, in districtibus regionalibus in regione ecclesiastica legitime erectis, atque in provinciis ecclesiasticis regioni ecclesiasticae non adscriptis." 143 Krämer (Bischofskonferenz), S. 405. 144 Aymans (Wesensverständnis), S. 46; Petroncelli Hübler, S. 205; Reinemann (Bischofskonferenz), S. 100-102. 145 Aymans (Wesensverständnis), S. 54-61 sowie Schmitz I Kalde (1990) am Beispiel der drei deutschsprachigen Bischofskonferenzen. 146 (Konzilskritik), GA, S. 518. 147 (Wesensverständnis), S. 49. 141
142
II Gäbe!
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2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
supranationale politische Entwicklungen ihre kirchenrechtliche bzw. kirchenorganisatorische Entsprechung finden 148 • Der erstgenannte Problembereich ist im CIC normativ bereits antizipiert. C. 459 lautet: "§ 1. Die Beziehungen zwischen den Bischofskonferenzen, vor allem den benachbarten, sollen gepflegt werden, um das höhere Wohl zu schützen.§ 2. Wenn die Konferenzen aber Unternehmungen oder Pläne internationalen Charakters vorhaben, muß der Apostolische Stuhl gehört werden." Diese Bestimmungen gehen auf Art. 38, 5. CD bzw. das Motu Propria "Ecclesiae Sanctae" Pauls VI. vom 6. 8. 1966 149 Abschnitt I, 41, § 4 und § 5 zurück. In den letzten Jahren haben sich die interkonferentiellen Beziehungen mehr und mehr verstärkt 150• So bestehen derzeit, von der Zusammenarbeit der Bischofskonferenzen eines besonderen Sprachgebietes abgesehen, vier institutionalisierte Zusammenschlüssse auf kontinentaler Ebene bei einer Sonderentwicklung im europäischen Raum. Es sind dies, bei unterschiedlicher Organisationsstruktur und Intensität der Kontakte 151 für Lateinamerika der Lateinamerikanische Bischofsrat (CELAM) seit 1955, derzeit organisiert auf Grund des am 9. 11. 1974 approbierten Statuts m, für Afrika das Symposion der Bischofskonferenzen Afrikas und Madagaskars (SCEAM) seit 1968 mit überarbeiteten Statuten aus dem Jahre 1987; für Asien die Föderation asiatischer Bischofskonferenzen (FABC) seit 1970 mit den Statuten des Jahres 1972 sowie für Europa der Rat der ·Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE), 1971 ins Leben gerufen und derzeit verfaßt durch das am 19. Dezember 1981 endgültig approbierte Statut vom 10. Januar 1977 153 • Die beiden Bischofskonferenzen Deutschlands 154 haben sich im Zuge der am 3. 10. 1990 vollzogenen staatlichen Einigung ebenfalls vereinigt, indem die bisher der Berliner Bischofskonferenz angehörenden Oberhirten der Deutschen Bischofskonferenz beigetreten sind, nicht ohne allerdings auf einer eigenen Regionalkonferenz zu bestehen 155 • Das neue Statut ist unter dem 25. September 1990 beschlossen und danach dem Heiligen Stuhl zur Approbation vorgelegt worden 156. Hierzu jetzt zusammenfassend Petroncelli Hübler, S. 199-238. AAS 58 (1966), S. 757 -787; Nachkonziliare Dokumentation, Band 3; Trier 1967. 150 Zur konziliaren Entwicklung und kanonistischen Perspektive der internationalen Bischofskonferenzen nunmehr G. Kalumbu Ngindu, Les conferences episcopales internationales. Une lecture de C. D., 38, & 5" et du can. 448, & 2, Kinshasa I Libreville I Munich 1988. 151 Zum ganzen I. Fürer in Pottmeyer I Müller, S. 271 - 292, Petroncelli Hübler (Comunita Intemazionale), S. 208-220. 152 Abdruck bei Iban, S. 289-307. 153 Abdruck bei R. Astorri, S. 212-214. Die Entstehung und die Tätigkeit der CCEE ist nunmehr gründlich dokumentiert bei Christian Thiede, Bischöfe - kollegial für Europa. Der Rat der Europäischen Bischofskonferenzen im Dienst einer sozialethisch konkretisierten Evangelisierung, Münster 1991. 154 Deutsche Bischofskonferenz, Statut vom 26. 9. 1984, rekognosziert arn 22. 1. 1985 (AfkKR 155 (1986), S. 143-154); Berliner Bischofskonferenz, Statut vom 10. 10.1981, rekognosziert "experimentum gratia approbata" arn 7. 4. 1984 (Abdruck bei Astorri, S. 96-102). 155 FAZ vom 6. 9. 1990, S. 5. 148
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III. Kirchliche Rechtssubjekte und Staat im CIC
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Aber auch supranationale Entwicklungen blieben nicht ohne Folgen im Bereich der bischöflichen Zusammenarbeit: Für die Zusammenarbeit mit der Europäischen Gemeinschaft ist mit Statut vom 3. März 1980 die "Commissio Episcopatuum Communitatis Europae" errichtet worden 157 • Festzuhalten bleibt also, daß, wie Barion vorausgesehen hat, die politische Dynamik auf die kirchliche Institutionenbildung durchschlägt - und zwar als eierneoturn movens. Die Problematik "Bischofskonferenz" hat jedoch darüberhinaus noch eine zweite Seite, _nämlich die Frage nach einer möglichen Staat-Kirche-Kompetenz. Damit ist nicht allein die Frage nach der spezifischen Kompetenz gemeint, vertragliche Bindungen mit staatlichen Partnern einzugehen 158 • Vielmehr verstehe ich darunter das generelle Recht, namens der katholischen Kirche für diese gegenüber staatlichen Organen aufzutreten und mit ihnen zu verhandeln. Im CIC steht dazu hinsichtlich der Bischofskonferenzen nichts 159• In c. 447 heißt es zum Zweck der Bischofskonferenz nur lapidar, daß die entsprechenden Bischöfe "gewisse pastorale Aufgaben [munera quaedam pastoralia] für die Gläubigen ihres Gebietes nach Maßgabe des Rechts gemeinsam ausüben". Nun ist der Terminus "pastorale Aufgabe" gewiß so weit, daß er so gut wie jede Aufgabe zu erfassen geeignet ist, sicher auch die W ahmehmung kirchlicher Interessen gegenüber staatlichen Mandatsträgem und Funktionären. Andererseits ist die entsprechende Kompetenz durch c. 364, 7° expressis verbis und eindeutig dem Heiligen Stuhl in Gestalt seiner Legaten zugeordnet. Dazu kontrastiert aber zumindest die tatsächliche Lage in den industrialisierten Ländern des "Alten Europa". Hier haben sich "praeter codicem" 160 Zuständigkeiten der nationalen Bischofskonferenzen herausgebildet, die eine Subsumtion unter das "Gewohnheitsrecht" (cc. 23- 28 CIC I 1983) nahelegen. Dies sei an Beispielen erläutert, ohne daß dafür Vollständigkeit reklamiert werden soll.
156 Meine schriftliche Anfrage an das Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, ob und wann das Statut approbiert wurde, blieb ohne Antwort; siehe auch oben Anm. 89. 157 Die Schreibweise "Europae" folgt der des AnnPont 1990, S. 1044. Abdruck des Statuts bei Astorri, S. 215-218 und Thiede, a. a. 0. (Anm. 153), S. 239-242. Zum Gründungsvorgang ebda., S. 106-109. I. Fürer in Pottmeyer I Müller, S. 273; Hollerbach (Europa), S. 261, der allerdings auch auf die Ständige Vertretung des HI. Stuhls bei den Europäischen Gemeinschaften hinweist, die seit 1970 (Köck (HI. Stuhl), S. 748)) in der Rechtsform einer Apostolischen Nuntiatur besteht, allerdings vom belgischen Nuntius in Personalunion wahrgenommen wird. 158 Dazu bereits eben a), (2). 159 Schon in der ersten grundlegenden Studie G. Felicianis (Conferenze episcopali) taucht in der abschließenden systematischen Funktionsanalyse, S. 529-545, die StaatKirche-Kompetenz nicht auf. 160 lban, S. 44, will als mittelbare Hinweise auf eine politische Kompetenz der Bischofskonferenzen im CIC die cc. 1062 § 1 und 1714 auffassen. Hierbei handelt es sich jedoch nur darum, wenig bedeutsame kirchliche Normen mit jeweils geltendem staatlichen Recht abzustimmen. Ein Auftreten der Bischofskonferenznamens der Kirche gegenüber staatlichen Autoritäten ist mit diesen Vorschriften nicht verknüpft.
II*
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2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
Zwar wies schon das Statut der bisherigen Deutschen Bischofskonferenz 161 keine unmittelbare Bezugnahme aufkirchenpolitische Probleme auf 162• Es enthielt aber in Kapitel VI, welches mit "Sekretariat und weitere Dienststellen" überschrieben war, in Art. 35 sowie Art. 42 (2) die Bezugnahme auf das sog. "Kommissariat der deutschen Bischöfe in Bann". Im neuen Statut hat sich diesbezüglich nichts verändert. Gleich der politischen Einigung hat sich auch bei der kirchlichen Vereinigung das Recht des Westens durchgesetzt. Was sich hinter diesem Kommissariat verbirgt, verschweigen die Statuten, ebenso wie § 17 der "Geschäftsordnung der Deutschen Bischofskonferenz" vom 24.9. 1985 163 , der lautet: "Aufgabenstellung und Arbeitsweise des Kommissariats der deutschen Bischöfe sowie die Zusammenarbeit mit den Organen und mit den anderen Dienststellen der Deutschen Bischofskonferenz regelt eine eigene Geschäftsordnung für das Kommissariat der deutschen Bischöfe... Soweit für bestimmte Sachbereiche Regelungen nur auf der Ebene der Bundesländer möglich sind, ist eine gegenseitige Information und Abstimmung zwischen den Kommissariaten der Bischöfe in den Bundesländern, dem Kommissariat der deutschen Bischöfe in Bann und den sachlich betroffenen Kommissionen der Bischofskonferenz erforderlich." Besser bekannt ist das "Kommissariat der deutschen Bischöfe" unter der Bezeichnung "Katholisches Büro". Es wurde schon kurz nach dem 2. Weltkrieg in Bann eingerichtet und sollte sich um die Kontakte der Ortskirchen zu den politischen Institutionen bemühen 164• Sein Verhältnis zur Apostolischen Nuntiatur war zumindest theoretisch ein problematisches 165 • In der Geschäftsordnung für besagtes Kommissariat vom 24. 9. 1985 (in Kraft seit dem 1. 1. 1986) heißt es in § 2 "Das Kommissariat wird im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz in politischen Fragen tätig gegenüber den Organen des Bundes, den gemeinsamen Einrichtungen der Bundesländer ... sowie im Zusammenhang damit auch gegenüber übernationalen Stellen." § 3 listet dann die Regelaufgaben des Kommissariates aufl 66 • Das verdeutlicht, daß die Deutsche Bischofskonferenz hier 16 1 162
Vgl. oben Anm. 154.
Art. 1 (1) bestimmte den Zweck in enger Anlehnung an den gleichfalls unspezifi-
schen c. 447 CIC I 1983: ,,Zum Studium und zur Förderung gemeinsamer pastoraler Aufgaben, zu gegenseitiger Beratung, zur notwendigen Koordinierung der kirchlichen Arbeit und zum gemeinsamen Erlaß von Entscheidungen sowie zur Pflege der Verbindungen zu anderen Bischofskonferenzen . .. ". Ebenso Art. 1 (1) des neuen Statuts der (Gesamt)Deutschen Bischofskonferenz des Jahres 1990. 163 AfkKR 155 (1986), S. 155-165; hier S. 161. 164 W. Wöste, HbStKR, Bd. 11., S. 285- 287; ders., Die Aufgaben des "Katholischen Büros", in G. Gorschenek (Hg.), Katholiken und ihre Kirche, München I Wien 1976, S. 96-104; Hollerbach (Verträge), S. 190 Anm. 5. 165 Ganzer I Schmitz, S. 34 I 35. 166 "§ 3, (1) Dem Kommissariat obliegt insbesondere a) die Beobachtung der gesamten Entwicklung des politischen und gesellschaftlichen Bereichs und der Gesetzgebungsvorhaben des Bundes, b) die sachkundige Begleitung bei der Vorbereitung von Gesetzen und politischen Entscheidungen,
III. Kirchliche Rechtssubjekte und Staat im CIC
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aus eigenem Recht zu handeln meint, zumal § 10 der neuen GO des Kommissariates nicht mehr, wie Hollerbach 1965 noch feststellen konnte, einen Kompetenzvorbehalt zugunsten des Heiligen Stuhles enthält 167, sondern lediglich eine Informationspflicht statuiert l68. Im Gegensatz zu der nur scheinbaren Zurückhaltung des Statuts der Deutschen Bischofskonferenz in kirchenpolitischen Angelegenheiten bekannte sich das Statut der (ehemaligen) Berliner Bischofskonferenz aus dem Jahre 1981 offen zu einer kirchenpolitischen Kompetenz. In Art. 2 ("Aufgaben") wurde als letzter der sieben Aufgabenbereiche die "Behandlung von Fragen im Verhältnis von Kirche und Staat, soweit die Bischofskonferenz für diese legitimiert ist" genannt. Und Art. 7 besagte: "In die Zuständigkeit der Vollversammlung fallen:... Entscheidungen von besonderer pastoraler, ökumenischer und kirchenpolitischer Bedeutung, soweit für letztere die Bischofskonferenz legitimiert ist." 169• In Art. 30 des Statuts wurde vorgesehen, eine dem westdeutschen "Katholischen Büro" vergleichbare Einrichtung zu schaffen. Dies geschah allerdings dann doch nicht. Immerhin sind diese Statuten vom Heiligen Stuhl rekognosziert und damit als mit geltendem Kirchenrecht vereinbar anerkannt worden. Auf europäischer Ebene hat sich, wie berichtet wird, auch die CCEE theoretisch an Staat-Kirche-Fragen gewagt, ohne allerdings ein Ergebnis oder eine Entscheidung erzielt zu haben 170• Auch verschiedene amerikanische Bischofskonferenzen
c) die Abgabe von Stellungnahmen zu Gesetzgebungsvorhaben des Bundes, d) die Durchführung von Beschlüssen der Organe der Deutschen Bischofskonferenz (2) Soweit Aufträge, Beschlüsse und Weisungen der Organe der Deutschen Bischofskonferenz nicht vorliegen, arbeitet das Kommissariat eigenverantwortlich und in eigener Initiative. Es ist den jeweils zuständigen Organen der Deutschen Bischofskonferenz berichtspflichtig. (3) Das Kommissariat ist an die Beschlüsse und Weisungen der Deutschen Bischofskonferenz gebunden." 167 Hollerbach (Verträge), S. 190, Anm. 5, unter Berufung auf eine wohl offizielle "Verlautbarung über Aufgaben, Stellung und Organisation des Katholischen Büros Bonn". 168 § 10. "Das Kommissariat unterhält im Auftrag des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz ständigen Kontakt mit dem Apostolischen Nuntius und informiert darüber den Vorsitzenden und den Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz." Keine politische Funktion kommt hingegen dem sog. "Verband der Diözesen Deutschlands" zu, zu dem sich im Jahre 1968 alle 21 bundesdeutschen Diözesen in der weltlichen Rechtsform einer Körperschaft des öffentlichen Rechts gemäß Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV zusammengeschlossen haben. Er ist allein für die überdiözesanen Finanz- und Haushaltsangelegenheiten der Diözesen zuständig, etwa den interdiözesanen Finanzausgleich und die Verwendung des Kirchensteueraufkommens. Zum ganzen List! (Verband). 169 Astorri, S. 97 I 98; ähnlich Statut der Italienischen Bischofskonferenz, Art. 5 , Astorri, S. 122, und Statut der Jugoslawischen Bischofskonferenz, Art. 1 d, Astorri, S. 139, bei dem sich allerdings nun die grundsätzliche Frage stellt, ob es durch die politische Entwicklung obsolet geworden ist.
2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
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nehmen mehr oder minder deutlich eine eigenständige Position gegenüber dem Staat in Anspruch 111. Ein weiteres neueres Betätigungsfeld ergibt sich für die Bischofskonferenzen im Rahmen des Konkordatsrechts. Hierfür ist das neue italienische Konkordat 172 als erstes Konkordat, das nach lokrafttreten des CIC abgeschlossen wurde, ein Lehrbeispiel 173 • Federführend und Vertragspartei war natürlich, entprechend der oben bereits entwickelten Zuständigkeit, der Heilige Stuhl. Immerhin aber sind durch das Konkordat mehrere heikle Punkte ganz oder in den Einzelheiten ungeregelt geblieben und qua Delegation zum Aushandeln einer konkreten, verbindlichen Übereinkunft für die kirchliche Seite der italienischen Bischofskonferenz übertragen worden. Im einzelnen handelt es sich um folgende Materien: Art. 7, 6.: Staatliche Finanzhilfen für die Kirche (mit Punkt 3, b) des Protocollo Addizionale); Art. 11: Institutionalisierte Seelsorge; -
Art. 12: Schutz der Kulturgüter;
-
Art. 13, 2. mit Generalverweis: "Ulteriori materie per Je quasi si manifesti l'esigenze di collaborazione tra Ia Chiesa Cattolica e lo Stato potranno essere regolato sia con nuovi accordi tra Je due Parti sia con intese tra Le competenti autorita dello Stato e La Conferenza Episcopale ltaliana [Hervorhebung vom Verf.]";
-
Punkt 5, b) des Protocollo Addizionale zu Art. 9: Katholischer Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen 174.
Andere neuere Konkordate mit ausdrücklicher Delegationsanordnung zugunsten der belegeneo Bischofskonferenz sind mir zwar nicht ersichtlich. Dennoch 170 Hollerbach (Europa), S. 254 I 255: zitiert I. Fürer in "Stimmen der Weltkirche" 16, Bonn 1982, S. 66- 86 [CCEE 1971 - 1982]. Der Vorgang wird erstaunlicherweise nicht erwähnt bei Thiede, a. a. 0 . (Anm. 149). 171 Am deutlichsten Art. 1, e) des Statuts der Brasilianischen Bischofskonferenz"cuidar
do relacionamento com os Poderes pub1icos, a servico do ben comun, ressalvado o conveniente entendimento com a Nunciatura Apost6lica, no ambito de sua competencia especifica." (bei Iban, S. 93). Vgl. auch aus den Statuten der jeweiligen Bischofskonferenz: Art. 21 a) Bolivien; Art. 6 c) Venezuela und Art. 50 c) Columbien (Iban, S. 88, 279 und 138 I 139). 172 AAS 77 (1985), S. 521-535; italienisch-deutsch in AfkKR 154 (1985), S. 323-341. 173 Hierzu Feliciani (Nuove Prospettive), passim. 174 Es sind bislang folgende spätere Vereinbarungen ergangen: - Zum Religionsunterricht: Vereinbarung zwischen der Conferenza Episcopale Italiana und dem Minister für öffentlichen Unterricht vom 14. 12. 1985, transformiert durch d. p.r. (decreto presidente della repubblica) 16 die. 1985, n. 751 , Gazz.Uff. vom 20. 12.1985, n. 299;
-Zur Finanzhilfe: gemeinsames Protokoll vom 15.11.1984, niedergelegt nunmehr im !egge 20 maggio 1985, n. 206 = Suppl. Gazz. Uff. 27 maggio 1985, n. 123 sowie !egge 20 maggio 1985, n. 222 = Suppl. Gazz. Uff. 3 giugno 1985, n. 129.
III. Kirchliche Rechtssubjekte und Staat im CIC
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läßt sich m. E. von einer zunehmenden Kompetenzverlagerung "in politicis" hin zu den Bischofskonferenzen sprechen, bei einem allerdings noch unangefochtenen Supervisionsrecht des Hl. Stuhles, sei es der Kurie, sei es der Nuntiaturen. P. Krämer regte daher an, den Bischofskonferenzen diese Mitwirkungsrechte bei der "Ausgestaltung des Beziehungsverhältnisses zwischen der Kirche und der politischen Gemeinschaft" auch im CIC zu verbriefen 175 • Er begründete dies einmal damit, daß dieser Tatbestand nunmehr auch in der "lnstructio Laboris" der kurialen Bischofskongregation aus dem Jahre 1987 anerkannt sei 176 und schließlich damit, daß Rechtsentwicklungen im Kodex festgehalten werden müßten, um eine ähnliche Rechtsunsicherheit qua Unübersichtlichkeit zu vermeiden, wie sie ehedem vor Erlaß des CIC I 1917 bestanden habe. So zutreffend diese Überlegungen auch sein mögen- es ist auch zu bedenken, daß der CIC universales Kirchenrecht ist und daß demgegenüber nur ein kleiner Teil der bestehenden Bischofskonferenzen der Welt in der Lage sein dürfte, dem Staat als kompetenter und nicht manipulierbarer Verhandlungspartner gegenüberzutreten - nämlich in den zivilisatorisch und institutionell hochentwickelten Ländern des ohnehin noch christlich geprägten, abendländischen Kulturkreises einschließlich Nordamerikas und Teilen Lateinamerikas. Für alle anderen Gebiete scheint auch praktisch die gesamte Inter-Potestates-Materie zumindest derzeit beim Heiligen Stuhl noch besser aufgehoben, so daß mir eine umgehende Änderung des Universalrechts im angestrebten Sinne (noch) nicht ratsam erscheint und die bisherige Praxis der Duldung im Einzelfall vorzuziehen ist. Zusammenfassend bleibt daher festzuhalten, daß dort, wo der Kodex ausdrücklich institutionelle Kontakte zwischen Staat und Kirche anspricht, der Heilige Stuhl für die kirchliche Seite für allein und umfassend zuständig erklärt wird. Das schließt aber begrenzte Kompetenzen der entsprechenden Partikularautoritäten, also der Ortsordinarien so gut wie der Bischofskonferenzen für das "lus inter potestates" nicht schlechthin aus. Nur hat der CIC wohl um seiner Homogenität als universale Kirchenrechtsordnung willen davon abgesehen, bestimmte bereits etablierte Zuständigkeiten der Lokalautoritäten, sei es im Vertragsrecht, sei es im allgemeinen Verkehr zwischen Kirche und Staat bzw. inter- und supranationalen Institutionen, eigens festzulegen.
175 Krämer in Pottmeyer I Müller, S. 265 ff.; Andeutung der Ergänzungsbedürftigkeit der Zuständigkeiten der Bischofskonferenz auch bei Heinemann (Bischofskonferenz),
s. 100. 176
In deutscher Fassung in HerdKorr 1989, S. 168-175 (hier S. 174).
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2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
2. Politisches Handeln des einzelnen Gläubigen a) Die Prärogative des Laien im Bereich von Politik und Staat Der CIC des Jahres 1917 hatte den (kirchlichen) Laien noch kaum im Blick 177 • Ohne eigene rechtliche Identität (cc. 107, 948 CIC/ 1917) blieb er beiläufig wahrgenommenes Versorgungsobjekt (c. 682) und Handlanger des Klerikers (cc. 373 § 3, 1521 § 2, 1333 § 1), des eigentlichen Protagonisten der pio-benediktinischen Kodifikation 178, dessen Kompetenzen und Privilegien sie durch zahlreiche Verbote vor etwaigen Anmaßungen der rangniederen Laien zu sichern suchte (cc. 683, 1209 § 2, 1233 § 4, 1342 § 2, 1385 § 1, 1503, 1931). Der CIC des Jahres 1983 hat mit dieser Blickverengung gebrochen 179• Er weiß sich damit der theologischen Neu- oder Wiederentdeckung des Laien verpflichtet, die im Gefolge der Formierung von Katholischer Aktion und Katholischem Verbändewesen 180 in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anhob 181 und als dessen erster geschlossener Entwurf das 1953 erschienenen Werk Yves Congars "Jalons pour une Theologie du Laicat" gelten kann 182• Gerade auch das 2. Vatikanische Konzil bemühte sich um die theologische Klärung des "Laientums", vor allem in der Kirchenkonstitution "Lumen Gentium", nämlich in deren Caput IV, Art. 30-38 183 wie auch in einem eigenen Dekret, "Aposto1icam Actuositatem" vom 18. 11. 1965 184• Der theologische Klärungsprozeß dauert allerdings noch an 185 • 111 Zur Rechtslage gemäß dem CICI 1917 vgl. E. Rößer, Die Stellung des Laien in der Kirche nach dem kanonischen Recht, Würzburg 1949; J. Trummer, Der Laie im Codex Iuris Canonici, in: Der Laie in der Kirche, Seckauer Diözesan-Synode 1960, Graz 1961, S. 47-66; K. Mörsdorf, Die Stellung des Laien in der Kirche, RDC 10111 (1960 I 61), S. 214-234 =(Schriften), S. 411-431. Zur Rechtslage des "Laienstandes" vor Inkrafttreten des CIC I 1917 erstaunlich ausführlich: Bergenröther I Hollweck, s. 201-207. 178 Das Fazit von Stutz (Geist), S. 83, ist nachgerade zum geflügelten Wort geworden: da die Katholische Kirche die Kirche des Klerus sei, sei auch ihr Recht "fast ausnahmslos Geistlichkeitsrecht". 179 Diekanonistische Literatur zum "Laien" ist mittlerweile uferlos: vgl. die Nachweise bei MünstKomm I Reinhardt, Literaturverzeichnis vor 204. 180 J. Verschure, Art."Katholische Aktion" in LThK, Bd. 6 (1961), Sp. 74-77; K. Walf (Laie), S. 4; Neuner, S. 93- 114. 181 K. Mörsdorf, Art. "Laie, III., Laienfrömmigkeit" in LThK, Bd. 6 (1961), Sp. 737739; R. Aubert in: Bilanz der Theologie, Bd. II: Die Theologie im 20. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1969, S. 65-67. 182 Dt. unter dem Titel "Der Laie. Entwurf zu einer Theologie des Laientums" Stuttgart 1957. Zusammenfassung der Gedanken dieses Werkes bei Neuner, S. 162-170. 183 AAS 57 (1965), S. 5-57; LThK, Suppl. I., S. 260-283. 184 AAS 58 (1966), S. 947 -990; LThK, Suppl. II., S. 602-700. 185 So hatte die 7. Bischofssynode, deren Vollversammlung vom 1. 10. bis 30. 10. 1987 in Rom stattfand, das Thema: "Berufung und Sendung der Laien in Kirche und Welt zwanzig Jahre nach dem Il. Vatikanum"; Dokumentation in der HerdKorr 1986, S. 323-331; 1987, S. 257 I 58,410 I 11,521 - 525, 569-579; Pp. Johannes Paul Il.: Nachsynodales Apostolisches Schreiben "Christifideles Laici" vom 30. 12.1988, AAS 81
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Der CIC I 1983 hat eine neue Grundlegung des kirchlichen Verfassungsrechts gebracht. Die Kirche wird als Volk Gottes charakterisiert und unter den ihr Zugehörenden eine kraft der Taufe fundamental gleiche Würde unabhängig von irgendeiner hierarchischen Position postuliert (cc. 204 § 1, 208 CICI 1983). Ekklesiologischer Grundstatus ist mithin der "christifidelis" 186• Sämtliche "christifideles" ohne Ausnahme sind "zur Ausübung der Sendung berufen, die Gott der Kirche zur Erfüllung in der Welt anvertraut hat", wenngleich dies jedem "christifidelis" gemäß seiner "je eigenen Stellung" obliegt. Dieser konziliare Ansatz läßt sich auf die Kurzformel von der "diversitas ministerii, sed unitas missionis" bringen, die sich in AA 2 findet 187• Auf diesem Grundstatus, der durch den Pflichten- und Rechtekatalog der cc. 208-223 näher ausgefaltet wird 188 , erhebt sich die Differenzierung zwischen geistlichen Amtsträgem (Klerikern) und Laien, festgesetzt durch c. 207 § 1, eine Norm, in die gegenüber dem sonst inhaltsgleichen c. 107 CIC I 1917 das "inter christifideles" eingefügt wurde 189 • Den spezifischen Charakter des Auftrags der Laien in der ekklesialen Heilsökonomie versucht c. 225 § 1 CIC I 1983 deutlich zu machen. Dabei stellt c. 225 § 1 nur noch einmal eine Bekräftigung der Aussage der cc. 204 § 1 und 211 dar, während c. 225 § 2 die konziliaren Aussagen, genauerhin die typologische Umschreibung 190 des Laien durch LG 31 ("Laicis indoles saecularis propria et peculiaris est") und AA 7 ("Laicos autem oportet ordinis temporalis instaurationem tamquam proprium munus assumere") 191 übernimmt. Der "Weltauftrag" des Lai(1989), S. 393- 521; vgl. aber auch den theologischen Überblick von Neuner, der auf S. 215 ff. bereits für den Abschied vom Laienbegriff eintritt; ähnlich für den kanonistischen Bereich jetzt Coccopalmerio (Christifidelis et Laici), S. 423 I 424: statt "laicus" votiert er für "christifidelis non ordinatus". 186 Den konzeptionellen Wechsel von einer ursprünglich ähnlich wie in den Entwürfen zur LEF geplanten Definition des "Laien" in Anlehnung an LG 31 hin zu einer Begriffsbestimmung des "christifidelis" während der Reform des CIC zeichnet Coccopalmerio, (Christifidelis et Laici), S. 383-394, nach. Immerhin ist hier die kodikarische Terminologie geradezu peinlich konsequent - bis hin zu den "christifideles delinquentes" des c. 1311 CIC I 1983. 187 Ob damit wirklich der "Christifidelis" zum "Hauptdarsteller auf der Bühne des kirchlichen Verfassungsrechts" avanciert ist, wie H. Müller (Rechtsstellung des Laien), S. 471, optimistisch meint, wird von Walf (Laie), S. 17, sowie von W. Böckenförde (Neuer CIC), S. 2539, lebhaft bestritten. 188 Interessanterweise rezipiert der CIC nicht die konziliare Diktion vom "Sacerdotium commune", wie sie in LG 10 gebraucht wurde. 189 Kritik an der kanonischen Konzeption bei H. Müller (Rechtsstellung des Laien), S. 476-479 sowie bei Walf (Laie), S. 7-9. 190 Also kein Begriff im strengen Sinne; dementspr. listet AA 7, 1. unter "ordo rerum temporalium" auf: "die Güter des Lebens und der Familie, Kultur, Wirtschaft, Kunst, berufliches Schaffen, die Einrichtungen der politischen Gemeinschaft [communitatis politicae instituta], die internationalen Beziehungen". 19 1 Vgl. MünstKomm I Reinhardt, Anm. 4 und 5 zu c. 225; Valdrini (Droit canonique), S. 64. Zum Laienbegriff instruktiv auch Punkt 1.2. der Stellungnahme der Deutschen Bischofskonferenz zur Bischofssynode 1987 "Der Laie nach ,Lumen Gentium'", HerdKorr 1986, S. 324. Reformarbeit: COMM 17 (1985), S. 168-174.
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en schließt seine innerkirchliche Berufung und Amtsfähigkeit nicht aus, wie aus den c. 228 und c. 129 § 2 klar hervorgeht. Doch bleibt jener "Weltauftrag" das Proprium des Laien, das theologisch begründet zu sein beansprucht 192 • Nachdem nun, in Ausfaltung des in c. 225 allgemein ausgesprochenen Weltcharakters und Weltauftrags des Laien c. 226 § 1 Ehe und Familie sowie § 2 Kindererziehung als typische, grundsätzlich dem Laienapostolat zugeordnete Lebensbereiche aufnimmt, lenkt c. 227 das Augenmerk auf die "libertas in rebus civitatis terrenae, quae omnibus civibus competit". Dieser Kanon hat im Schrifttum bislang gewisse Verwirrung gestiftet. Bei einigen Autoren erscheint er als bloße Verstärkun& der grundsätzlichen Aussage in c. 225 § 2 und bleibt somit funktionslos 193 , wähfend andere Autoren zwar einen spezifischen Bezug zu den neuzeitlichen Menschen- und Bürgerrechten sehen, diesen aber nicht allein für den Laien vindiziert sehen wollen 194, so daß eine Aufnahme in den Katalog der allgemeinen Rechte der Gläubigen nähergelegen hätte. Weder Entstehungsgeschichte noch Gesetzessystematik zwingen jedoch zu einer dieser Auslegungsvarianten. Vielmehr beruhen sie darauf, daß die Interpreten im c. 227 allzu unvermittelt eine Wiederaufnahme des Theologoumenons von der "iusta autonomia rerum terrenarum", das in GS 36 niedergelegt ist, zu entdecken wähnen 195 • Den Materialien hingegen läßt sich dieser Rekurs nicht entnehmen. Vielmehr ist die angeführte Formulierung Art. 37 LG 196 entlehnt. Gewiß ist auch schon in den Beratungen gefragt worden, ob der Kanon nicht besser zu dem allgemeinen Katalog der Rechte der Gläubigen zuzuordnen sei 197 • Darauf wurde geantwortet, es handle sich um eine spezifische Laienfreiheit, da es viele weitliehe Angelegenheiten politischer, ökonomischer und vergleichbarer Art gebe, die Kleriker ohne Erlaubnis der Heiligen Hirten, die im Klerikerrecht spezifiziert sei, nicht wahrnehmen dürften 198 • Dieser Hinweis geht meines Erachtens in die richtige Richtung. C. 22( betrifft nämlich unter den vielfaltigen "res 192 Andererseits kommt der "indoles saecularis" den Laien nicht in reiner Ausschließlichkeit zu. Dies ist auch nach Coccopalmerio, (Christifidelis et laici), S. 420, der Grund dafür, warum die ursprünglich vorgesehene Definition des "Laien" nicht aufrechterhalten werden konnte. 193 Kaiser in HbkKR, S. 187: MünstKomm I Reinhardt, Komm. zu c. 227, Anm. 1 und 2. 194 CCL I Provost, S. 163. 195 So P. Boekholt, S. 70 I 71; Schwendenwein (Das neue Kirchenrecht), S. 135 I 136; MünstKomm I Reinhardt, a. a. 0. (Anm. 193). 196 "lustam autem libertatem quae omnibus in civitate terrestri competit pastores observanter agnoscent", COMM 17 (1985), S. 175 f. 197 COMM 17 (1985), S. 202. . 198 Anders allerdings COMM 13 (1981), S. 317, wo es um die Revision des Schemas "Liber II. De Popu1o Dei" aus dem Jahre 1977 ging; in den ansonsten unveränderten c. 525 des Schemas 1977 wurde vor "laicus" ein "christifidelis" eingefügt. Dazu heißt es erläuternd: "L'aggiunta di ,christifide1ibus' e neccessaria perehe Ia norma non e rivolta solamente ai laici, ma a tutti." Diese Bemerkung widerlegt sich selbst.
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terrenae" den spezifisch politischen Bereich, also den Bereich der Menschenund Bürgerrechte und die Teilnahme am politischen Meinungsbildungsprozeß, etwa in Form parteipolitischen Engagements. Damit ist zugleich impliziert, daß (1) die katholische Kirche ihren Frieden mit den modernen Menschen- und Bürgerrechten gemacht hat 199 und (2) der CIC offenbar als Staatsmodell 200 ein demokratisches im Auge hat, ohne daß er es schon nötig hätte, dies offen kundzutun. Diese Interpretation, die also dem kirchlichen Laien die Prärogative im Politischen zuspricht und damit die Kleriker e contrario zu politischer Zurückhaltung mahnt 201 , stimmt überein mit der Systematik des CIC, nämlich der komplementären Normierung des Klerikerrechts 202 und dem Wortgebrauch des Gesetzbuches, wie er bereits oben 203 analysiert worden ist, wo das Wortfeld civitas I civis als den staatlich-politischen Bereich kennzeichnend herausgearbeitet wurde. Damit ist nicht gesagt, daß hier den Laien kirchlicherseits ein Alleinvertretungsanspruch zugeschrieben würde: dagegen spricht bereits c. 222 § 2, der alle Gläubigen zum Einsatz für soziale Gerechtigkeit verpflichtet als auch der für die Amtskirche geltende c. 747 § 2, der auch die Schrankenformel des c. 227, 2. Halbsatz verständlich werden läßt 204. Die Norm leidet indes auch unter Formulierungsschwächen. Zum einen muß klargestellt werden, daß Regelungsadressat nicht die weltliche, sondern die kirchliche Obrigkeit ["relate ad Hierarchiam, non erga civilem auctoritatem"] ist205 • Zum anderen hätte sich der Kanon sprachlich so fassen lassen, daß den Laien eine Ermunterung, sich aus gläubiger Grundhaltung politisch und sozial zu engagieren, positiv hätte nahegelegt werden können. Der CIC I 1983 beläßt es aber nicht nur bei dieser sozusagen generellen Prärogative der Laien sub specie rerum politicarum, sondern verlängert sie in einen 199 CCL I Provost, S. 163. Ebenso schon zu c. 747 § 2 oben Abschnitt II., 3. 200 Mit dem Begriff "Staatsmodell" ist nicht eine theoretische Idealvorstellung bezeichnet, etwa im Sinne eines Staates, der katholischer Auffassung am meisten entspricht, sondern die praktische Einschätzung, daß diese Staatsform die gegenwärtige politische Situation auf der Welt dominiert. 201 So auch Neumann (Modernisierungstendenzen), S. 407. Es wäre durchaus auch zulässig, statt "Autonomie" oder "Libertas" von "Kompetenz" zu sprechen: so die Intervention von N. Lobkowicz auf der Bischofssynode 1987, zitiert nach D. Seeher in HerdKorr 1989, S. 522. Denn auch LG 35 spricht ausdrücklich von "in profanis disciplinis competentia". 202 Dazu ausf. in diesem Abschnitt b). 203 Abschnitt I. 204 Sie kann sich auch berufen auf GS 43, AA 24 und PO 9, vgl. COMM 17 (1985), S. 175. Daß dieser Vorbehalt paternalistisch sei, wie Walf (Laie), S. 9, meint, ist unzutreffend. Eine solche Wertung unterschlägt den allgemeinen Auftrag des Lehramtes, auch "in rebus socialibus" Stellung zu beziehen. 2os Deutlich COMM 17 (1985), S. 175 I 176: "de iuribus enim laicorum relate ad civilem auctoritatem nihil, uti patet, dicendum est in iure canonico"; bestätigend Valdrini (Droit canonique), S. 65.
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konkreten Bereich, dem von jeher das besondere Augenmerk der Kirche galt: in den des staatlichen Schulwesens, genauerhin des katholischen Religionsunterrichts an den staatlichen Schulen 206. Zwar erklärt sich die katholische Kirche als ganze in c. 804 § 1 CIC für diese Art von Unterricht, nämlich die "institutio religionis" 207, für umfassend zuständig, doch muß, zumindest was die Schulen in nicht-katholischer Trägerschaft angeht, diese Kompetenz als eine Mandatskompetenz und nicht als Originärkompetenz angesehen werden. Der CIC I 1983 beruft sich nämlich in deutlichem Gegensatz zu seinem Vorgänger auf das natürliche Recht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen 208 . Dies wird schon im bereits erwähnten "Katalog der Grundrechte" , nämlich in c. 226 § 2, deutlich gemacht, wo im übrigen sogar noch von "educatio christiana", ebenso wie in der Komplementärnorm des c. 217, gesprochen wird. Dieses Elternrecht wird dann nochmals in c. 1136 (im Abschnitt über die Ehe) und in c. 793 § 1 CIC/ 1983 bekräftigt209. Dadurch gelangt der CIC auch folgerichtig zu einem, wie Mussinghoff formuliert, "gesellschaftlichen Konzept von Schule" 210, wie es aus c. 796 § 1 deutlich wird, wo die Schulen als "vorzügliche Hilfe" für die Eltern bei der Erfüllung ihrer Erziehungsaufgabe bezeichnet werden. Der Kodex übernimmt und begründet damit das schon in den Dokumenten des 2. Vaticanum klar herausgearbeitete Postulat des Subsidiaritätsprinzips im Bereich öffentlicher Schulen unter Zurückweisung eines Schulmonopols des Staates 211 . Weiterhin werden die Lehrer in c. 796 § 2 ausdrücklich an den Elternwillen, auch den sozusagen organisierten, gebunden 212 • Nun scheint dem Kodex dieses natürliche Elternrecht 213 zwar auszureichen, um eine Beachtung des elterlichen Willens zum Religionsunterricht 206 Dazu jetzt auch ausf. Spinelli I Dalla Torre, S. 271 -278. 201 Diesen Begriff mit "schulischem Religionsunterricht" zu übersetzen habe ich, gegen Schmitz (Rezension Rees), S. 651 I 652, keine Bedenken. Wie hier bereits W. Rees, S. 188- 190. Pikanterweise wurde von maßgeblicher Seite noch in den Reformarbeiten die Meinung vertreten, der Kirche stünde die Aufsicht über den gesamten Religionsunterricht zu, also auch z. B. über den protestantischen: COMM 20 (1988), S. 179. Das war eine noch über den CIC I 1917 hinausgehende Position! 208 Im alten CIC kam dem Elternrecht keine tragende Rolle zu; vgl. c. 1372 § 2: hier handelte es sich nicht um ein originäres Elternrecht, sondern um die Eltempflicht, den Kindem die rechte Glaubenserziehung angedeihen zu lassen (so auch c. 1335). 209 Auf den Menschenrechtsgehalt des Elternrechts wurde bereits in den Vorarbeiten zum neuen CIC hingewiesen: COMM 20 ( 1988), S. 132 I 133; dort auch die Bezugnahme auf die Konstitution DH. Zum ganzen vgl. nunmehr auch F. G. Morrisey, The rights of parents in the education of their children (Canons 796- 806), in: StC 23 ( 1989), S. 429-
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210 MünstKomm I Mussinghoff, Anm. 2 vor c. 796. 211 J. Hendriks (Schola catholica), S. 279-303. 212 Bei dieser heftigen Betonung des Elternrechts zur Erziehung verblüfft es in der Tat, worauf MünstKomm I Mussinghoff, c. 796, Anm. 6 hinweist, warum der CIC die Mitwirkung des jungen Christen als Schüler nicht erwähnt hat, zumal AA 12 ihn schon zum eigenständigen Träger christlicher Sendung erklärt hat. m So ausdrücklich Mussinghoff (Familienrecht), S. 112-113.
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seitens der Staaten zu begründen, nicht jedoch gleichzeitig die Pflicht der Eltern, von ihrem Recht gegenüber den Staaten auch Gebrauch zu machen 214 • Eine solche Pflicht aber hat der CIC, ohne daß es dafür ein normatives Vorbild im alten CIC gegeben hätte, in den cc. 797 und 799 postuliert 215 • Diese Pflicht wird allerdings besser über den Erziehungsauftrag der Kirche zu begründen sein, wie er- GE 3 folgend- im c. 794 niedergelegt ist. Weiterhin zur Begründung tauglich ist auch die theologische Aussage, daß auch die Laien teilhätten am prophetischen Amt Christi (cc. 204 § 1; 224; 225 § 1 CIC) 216 • Die Frage, ob das Elternrecht gegenüber dem kirchlichen Recht zur Erziehung rangbesser ist 217 , kann hier auf sich beruhen 218 • Sicher ist jedenfalls, daß der kirchliche Erziehungsauftrag den elterlichen nicht verdrängt und Kirche und Eltern zum Wohl der Kinder und Jugendlichen einträchtig zusammenzuarbeiten haben 219• Damit ist ein eindeutiger Begründungswechsel hinsichtlich des katholischen Religionsunterrichts an staatlicl!.en Schulen vollzogen. Hatte der CIC I 1917 in c. 1373 noch, ohne nähere Begründung und durchweg unter Berufung auf "Fontes" aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Recht beansprucht, daß zumindest in allen Elementarschulen Religionsunterricht zu erteilen sei, so hat er diesen Anspruch jetzt aufgegeben und seine Umsetzung unter dem Titel eines "Menschenrechts" Eltern und damit Laien überantwortet 220, die aufgrund ihrer Teilnahme an der kirchlichen Sendung die Garanten dafür sind, daß der Kirche von den Staaten die Möglichkeit eingeräumt wird, Religionsunterricht zu erteilen. Eine Antwort auf die weitergehende Frage, ob darüberhinaus den katholischen Laien auch für die katholischen Schulen selbst eine Prärogative zugemessen wird und damit für einen bestimmten Bereich das Subsidiaritätsprinzip in der Kirche festgeschrieben wird, ist dem CIC nicht zu entnehmen und wohl auch aus den Dokumenten des Konzils nicht schlüssig herzuleiten 221 • Das Konzil beschränkte sich darauf, von einem Miteinander im Apostolat zu sprechen, einem Apostolat, das auch in der Gründung einer katholischen Schule bestehen kann 222 • 214 Die Aufnahme des Wortes "officium" in c. 793 § I will mir dafür noch nicht genügen. 215 Zu der Formulierungsschwäche des c. 799 vgl. bereits oben Zweites Kapitel, Abschnitt 1., Anm. 13. 216 In c. 835 § 4 CIC wird die Kindererziehung gar als Teilnahme am Heiligungsdienst der Kirche und damit dem priesterlichen Dienst Christi deklariert; Zum Verhältnis "Munus Docendi" und Schulrecht ausf. Castillo Lara (Livre III), S. 39-54. 211 So Rees, S. 182 und 185. 21s Zur Begründung aus der Heilssendung Christi: COMM 7 (1975), S. 155. 219 So Castillo Lara (Livre III), S. 24 und Morrisey, a. a. 0. (Anm. 209), S. 437 I 438. 220 Ebenso Ghesquieres, S. 67 und Spinelli I Dalla Torre, S. 275, die diesen Begründungswechsel im größeren Zusammenhang des inhaltlichen Übergangs von der Lehre der "potestas indirecta" zur Anerkennung der vollen Autonomie des Ordo Temporalium sehen. 221 Hendriks (Schola catholica), S. 304-307. 222 Ebda., S. 308.
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Als Ergänzung und Bestätigung des "gesellschaftlichen Konzepts" von Schule erscheint c. 800 CICI 1983, der wie bereits c. 1375 CICI 1917 den Anspruch der Kirche gegenüber den politischen Autoritäten formuliert, eigene Schulen jedweder Art, also auch allgemeinbildender Natur, zu gründen und zu leiten. Ebensowenig wie im CIC I 1917 ist dieser Anspruch allerdings als "ius nativum" gekennzeichnet. Es handelt sich also nicht um ein unverzichtbares Kernrecht, das den innersten Bereich der Verkündigungsfreiheit mitkonstituieren würde. Immerhin war es der Kirche doch so wichtig, daß es ihr ratsam erschien, es um der Betonung realer, nicht bloß mit Worten bekundeter Verkündigungsfreiheit willen auch im Kodex zu formulieren. Vorzüglich in diesen kirchlichen Schulen wird es darum gehen, die Weisung für eine "vera educatio", wie sie in c. 795 CIC I 1983 neu aufgenommen ist, tatkräftig umzusetzen. Und hier ist mit der Formulierung, die jungen Menschen sollten befähigt werden, am sozialen Leben aktiv teilzunehmen, ein weiterer Beleg dafür vorhanden, daß der CIC ein partizipatorisches Modell des öffentlichen Lebens vor Augen hat.
b) Der Kleriker im Spannungsfeld von Bürgerrechten und Kirchenpflichten Wenn im folgenden von "Klerikern" gesprochen wird, ist der enge kanonische Begriff des "Klerikers" zugrundegelegt, wie er aus den cc. 207 § 1, 1008 CIC folgt und diejenigen Gläubigen meint, die durch die sakramentale Weihe zu geistlichen Amtsträgem ("ministri sacri") bestellt worden sind 223 • Sie bilden neben den Laien einen besonderen "Stand" im Gottesvolk 224, deren über die allgemeinen Rechte und Pflichten (cc. 208- 223) hinausgehende spezifische rechtliche Gebundenheit in den cc. 232 bis 293 normiert wird. Unter diesen Normen bezieht sich eine ganze Reihe auf die persönliche Lebensführung. Ihre positive Komponente wird in c. 276 § 1 zusammengefaßt: "In ihrer Lebensführung sind die Kleriker in besonderer Weise zum Streben nach Heiligkeit verpflichtet, da sie, durch den Empfang der Weihe in neuer Weise Gott geweiht, Verwalter der Geheimnisse Gottes zum Dienst an seinem Volke sind." Mit dieser Bestimmung entwirft der neue CIC wie bereits sein Vorgänger (vgl. c. 124 CICI 1917) ein 223 Damit sind also nicht erfaßt (a) die Priesteramtskandidaten; vgl. c. 232 und (b) die Ordensangehörigen und Angehörigen eines Säkularinstituts, die vom neuen CIC als Angehörige des "Standes des geweihten Lebens", cc. 207 § 2, 573-746 ("De lnstitutis vitae consecratae et de societatibus vitae apostolicae") angesehen werden. Eine andere Begrifflichkeit legt Assenmacher, S. 32 I 33, seiner Studie über die Wehrpflichtbefreiung zugrunde. Zum "Rückzug" des Klerus aus der Politik auch 0. Rossi, S. 295. 224 Der Begriff "Stand" wurde in der jüngeren Theologie vielfach problematisiert, ja angefeindet. Hier wird dazu keine Position bezogen, sondern der Tatsache Rechnung getragen, daß der geltende CIC die vertikale Scheidung der Christifideles hat weiterbestehen lassen.
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Idealbild der Kleriker als "Geistliche", also wie P. Valdrini treffend resümiert 225, als "hommes de priere, hommes de sciences sacn!es, reconnus et reconnaissables par leur conduite en rapport avec leur etat, enfin hommes de paix et d'unite". Zur klärenden Absicherung dieser Lebensform normiert der neue CIC aber in den cc. 285 bis 289 auch eine Art Negativliste von Verhaltensformen und Betätigungen, die als dem Klerikerstand (oder Klerikerdasein) unzuträglich benannt werden und in ihren Einzelheiten den Gehalt des früheren "privilegium immunitatis" (c. 121 CIC I 1917) aufrechterhalten, obgleich erklärter Wille war, die Lebensform der Kleriker ohne spezielle Privilegien zu konstituieren 226 und dieser Entschluß auch, wie oben gezeigt, tatsächlich größtenteils in die Tat umgesetzt worden ist. Aufgrund der schon im alten CIC getroffenen Differenzierung zwischen standeswidrigem Verhalten, von dem völlig Abstand zu nehmen ist (c. 285 § 1) und standesfremdem Verhalten, das nach Möglichkeit vermieden werden soll (c. 285 § 2) 227 , normiert der CIC in den cc. 285 § 3 ff. (nicht abschließend) Einzelverbote jeweils mit Erlaubnisvorbehalt zugunsten der ortskirchlichen Autorität (Ausnahme c. 285 § 3), von denen einige auch unmittelbar den politischen Bereich tangieren. Das erste Verbot unter ihnen ist der eben schon erwähnte c. 285 § 3 CIC I 1983, der eine inhaltliche Verschmelzung von c. 138 § 2 und § 4 CIC/ 1917 darstellt, diese Verbote aber noch verschärft 228 , da er keine Einzelerlaubniserteilung durch die zuständige ortskirchliche Autorität mehr zuläßt. Unter den "officia publica, quae participationem in exercitio civilis potestatis secumferunt" sind sämtliche drei Funktionen staatlicher Hoheitsgewalt, also Legislative, Exekutive und Judikative zu verstehen 229 • Bemerkenswert ist, daß erst in der Endredaktion des CIC der Erlaubnisvorbehalt in der Zuständigkeit des Heiligen Stuhles bzw. des Ortsordinarius gestrichen wurde 230• Dies entspricht insbesondere den Vorstel-
(Ministres sacres), S. 334; zum neuen "Imago Clerici" auch A. Celeghin, S. 50-53. COMM 3 (1971), S. 192: "De sententia consultorum coetus, sermo faciendus non est de clericorum privilegiis, immo haec privilegia abolenda sunt. De privilegiis clericorum igitur quaestionon est in schemate proposito."; COMM 9 (1977), S. 244; zusammenfassend Ce1eghin, S. 6-10. 227 Schwendenwein (Das neue Kichenrecht), S. 157; zum alten Recht: Assenmacher, S. 213 f. sowie Sägmüller (Lehrbuch4 ), S. 364 ff. mit vielen Nachweisen auch bzgl. der Rechtsquellen dieser Verbote. 228 Was aber bereits auf der Linie von Entscheidungen der "Authentischen Interpretation" liegt: Entscheidungen vom 25.4. 1922, abgedruckt in: Codicis Iuris Canonici Interpretationes authenticae seu responsa, collecta de Joseph Bruno, 1935, S. 10/11. 229 COMM 16 (1984), S. 181; COMM 14 (1982), S. 173. 230 C. 146 § 2 Schema 1977 (De Populo Dei) lautete wie folgt: "Officia publica, ea praesertim quae participationem in exercitio laicalis potestatis secumferunt, ne assumant, Episcopi sine licentia Sanctae Sedis, nec alii clerici nisi obtenta, in locis ubi intercessennt prohibitio pontificia, Iicentia eiusdem Sanctae Sedis, in aliis vero locis Iicentia turn Ordinarii proprii, turn Ordinarii loci in quo potestatem administrationemve exercere intendunt." Ebenso c. 260 § 2 Schema 1980. 225
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Iungen Papst Johannes Pauls II., der von Beginn seines Pontifikates an die strikte Inkompatibilität von Priesteramt und Staatsamt betont hatte 231 und auf dessen persönliche Intervention im Jahre 1980 zwei Ordensmänneraus den Vereinigten Staaten, P. Robert F. Drinan und Fr. Robert J. Comell ihre Kandidatur zu den Wahlen zum Repräsentantenhaus bzw. zum Kongreß zurückzogen 232 . Darüberhinaus hat der Heilige Stuhl durch den Sekretär der Päpstlichen Kommission zur Authentischen Interpretation des CIC, Julian Herranz, unter dem 26. August 1984 eine ungewöhnlich lange offizielle Stellungnahme zu c. 285 § 3 CIC veröffentlichen lassen 233 , in der melufach unter Bezugnahme darauf, daß die priesterliche Berufung zur Bezeugung und Verbreitung übernatürlicher Werte die ratio legis dieser Vorschrift bilde, hervorgehoben wurde, daß diese Norm universalen Charakter habe und keinerlei Ausnahme dulde 234 • Von daher wird auch zu bezweifeln sein, ob hinsichtlich des c. 285 § 3 CIC eine Dispensbefugnis des Ortsordinarius gemäß c. 87 § I CIC besteht, wie vereinzelt vertreten wird 235 • Ohne Vorbild im CIC des Jahres 1917 ist hingegen c. 287 § 2, wonach Kleriker in politischen Parteien und an der Leitung von Gewerkschaften nicht aktiv teilnehmen dürfen, es sei denn, eine solche exponierte Betätigung wäre nach dem Urteil der zuständigen kirchlichen Autorität erforderlich, um die Rechte der Kirche zu 231 Nachweise zusammengestellt in COMM 16 (1984), S. 268; hierzu auch J. Komonchak, S. 423 f. 232 G. Higgins, S. 528-531; CCL I Golden, S. 224. Zur Rechtslage unter der Geltung des Common Law mit weiteren Nachweisen W. Bassett, S. 18. 233 L 'Osservatore Romano vom 26. 8. 1984, abgedruckt in COMM 16 ( 1984), S. 267270. 234 COMM 1984, S. 269: " ... avesse anche il carattere di una !egge disciplinare e, anzi, di una !egge universale."; S. 267: "Il carattere universale di questa norma, con cui illegislatore stabilisce una proibizione generale, senza cioe alcun riferimento o condizionamento a situazioni concrete ... ". Der konkrete situative Bezug dieser Erklärung war, wie ausdrücklich auch gesagt wird, die Problematik in Nicaragua, wo in der Sandinistischen revolutionären Regierung gleich mehrere Priester Ministerposten innehatten. Einen zeugnishaften Bericht über seine eigene, wie er meint, genuin priesterliche Tätigkeit für die nicaraguanische Revolution und Politik gibt F. Cardenal in Concilium 18 (1982), S. 516-522. Aufeine ähnlich gelagerte Problematik in Afrika weist T. Bertone, S. 67, hin. 235 CCL I Golden, S. 225. Golden beruft sich dabei, formaliter zutreffend, auf den Wortlaut des c. 87 § 1, zumal sich der Heilige Stuhl in "Litterae Apostolicae Motuproptio Datae ,De Episcoporum Muneribus' " Papst Pauls VI. vom 15. 6. 1966 [AAS 58 (1966), S. 467 - 472); lt.-dt. in Nachkonziliare Dokumentation, Band 16, Trier 1970, S. 92 -107], IX, 3. b) die Dispensbefugnis ausdrücklich vorbehalten hatte, die Materie selbst aber in der Tat, wie in c. 6 § 4 CIC I 1983 gefordert, "ex integro" durch eben diesen CIC neu geregelt wurde. Und eben genau diesen Vorbehalt haben dann auch die Schemata zum CIC übernommen, und wieder gestrichen, gewiß aber, um den absolut zwingenden Charakter zu betonen und nicht dem Ortsbischof nunmehr statt wie im alten Kodex die Erlaubnisbefugnis dafür eine Dispensbefugnis zu belassen. Grundsätzliche Kritik an der schon vom 2. Vatikanum (Art. 8 b CD) eingeführten allgemeinen Dispensbefugnis der Ortsbischöfe übt May (Reform), S. 42: die Bischöfe würden mit dieser rechtlichen Möglichkeit überfordert, und dies böte Anlaß, sie von vielfältigen Pressionen - des sog. Kirchenvolkes, der Medien, des Staates - abhängig zu machen.
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schützen oder das allgemeine Wohl zu fördern. Die tiefere Begründung dieser spezifischen Pflicht aller Kleriker zur Enthaltsamkeit auch im politischen Meinungskampf liefert der CIC ebenso, nämlich in c. 287 § 1, in dem er die besondere Pflicht des Klerikers hervorhebt, um gesellschaftlichen Ausgleich bemüht zu sein. Damit verbietet der CIC zwar nicht die einfache Mitgliedschaft in einer politischen Partei (sofern sie keine inhumanen und antikirchlichen Ziele verfolgt236), wohl aber Leitungsfunktionen und (exponierte?) Mitarbeit bei Wahlkämpfen237. Im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland muß nach wie vor darüberhinaus die "Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zur parteipolitischen Tätigkeit der Priester" vom 27. 9. 1973 238 Beachtung finden, die ein solches Engagement nur für menschenrechtswidrige Notstandssituationen oder bei massiver Behinderung der kirchlichen Verkündigungsfreiheit für geboten erachtet. Die Deutsche Bischofskonferenz sieht eine solche Ausnahmesituationen für die Bundesrepublik nicht als gegeben an und resümiert daher: "Abzulehnen ist jedoch, daß sich ein Priester öffentlich innerhalb einer Partei, für eine Partei sowie für die Wahl einer Partei einsetzt." 239. Eine formelle kirchenrechtliche Kompetenz der Bischofskonferenz ist, entsprechend c. 447, zwar nicht ersichtlich 240, doch wird man die Erklärung zumindest als eine Selbstbindung der dann zuständigen Ortsordinarien ansehen dürfen, von der nicht ohne nähere Begründung, also bei grundlegendem Wandel der tatsächlichen Verhältnisse, abgewichen werden darf24I. Die explizite Nennung der gewerkschaftlichen Betätigung dürfte ein Reflex der Problematik der Mitte dieses Jahrhunderts im frankophonen Raum aufgekommenen sog. "Arbeiterpriester" sein, die zwar vom 2. Vaticanum als außergewöhnliche und strikt ausnahmsweise statthabende Form der Seelsorge anerkannt wurde (PO 8) 242 , aber kirchlicherseits stets an die Bedingung geknüpft wurde, daß sich 236 So die Bischofssynode 1971 , AAS 67 (1971), S. 912 f. 237 Eine entsprechende Norm findet sich im Vereinsrecht, c. 317 § 4: "In öffentlichen Vereinen von Gläubigen, deren direktes Ziel die Ausübung des Apostolats ist, dürfen jene nicht Vorsitzende sein, die in politischen Parteien eine leitende Stellung bekleiden." Hier ist kein Erlaubnisvorbehalt normiert; vgl. auch Spinelli I Dalla Torre, S. 58. 238 Abdruck in AfkKR 143 (1974), S. 486-489. 239 Gegen die These H. Herrmanns, Publik-Forum Nr. 21 vom 19.10.1973, S. 19, wonach diese Erklärung wegen Verstoßes gegen Art. 32 des Reichskonkordats unverbindlich wäre, argumentiert Listl (Erklärung), passim; ebenso Hollerbach (Neuere Entwicklungen), S. 39 und Bach, S. 269-280. 240 Dieses Kompetenzproblem wird in dem Aufsatz von Listl (Erklärung) erstaunlicherweise überhaupt nicht behandelt. 241 Im übrigen deutet die Bischofssynode 1971, AAS 63 (1971), S. 897-942 (913) eine Befassungskompetenz der Bischofskonferenz an: "Assumptio muneris ad moderationem pertinentis (leadership) vel actuose militandi modus pro aliqua factione politica excludi debent a quolibet presbytero, nisi id in concretis extraordinariisque circumstantiis bono communitatis reapse postuletur, de consensu quidem Episcopi, consultis Consilia Presbyterali et- si casus ferat - Conferentia Episcopali." 242 Diese Einfügung war bis zuletzt heftig umstritten: J. Lecuyer, Komm. in LThK, Suppl. III., S. 183. 12 Gäbe!
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2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
diese Priester nicht gewerkschaftlich betätigen 243 • Weder vom Wortlaut noch von der Entstehungsgeschichte her läßt sich auch eine Bestätigung der These A. Bachs finden, die in c. 287 § 2 genannten Verbote würden sich auf den "dienstlichen Bereich" der Tätigkeit eines "Presbyters" beschränken 244 • Einmal abgesehen davon, daß diese Differenzierung bereits praktisch undurchführbar ist - kein Kleriker hat für seinen seelsorgerliehen Dienst (vgl. c. 276 § 2, 1°) feste, auch nach außen erkennbare Dienst- I Nichtdienstzeiten oder -orte - , ist sie auch theoretisch nicht schlüssig 245 • Denn nach katholischem Verständnis liegt dem geweihten Amt eine sakramental bewirkte Neuprägung der gesamten Person zugrunde (c. 1008). Einen davon unberührten Restgibt es nach dieser Auffassung nicht. Einen dritten Problembereich im Verhältnis kirchlicher und staatlicher Individualrechte bzw. -pflichten spricht c. 289 § 1 CIC an, nämlich den Militärdienst. Von ihm wird gesagt, es sei "dem klerikalen Stand weniger angemessen", weswegen sich die Kleriker und auch die Kandidaten für die heiligen Weihen nur mit Erlaubnis ihres Ordinarius freiwillig zum Militärdienst melden dürften 246 • Gegenüber der inhaltlich übereinstimmenden Norm des c. 141 § 1, Halbsatz 1 CIC I 1917 ist c. 289 § 1, vielfach geübter vorgängiger staatskirchenvertraglicher Praxis entsprechend 247 , auf die Priesteramtskandidaten ausgedehnt worden. Das läßt sich gut mit dem Schutz der priesterlichen Berufung ("vocatio") begründen 248 , die sakramentstheologisch eine wichtige Voraussetzung der Heiligen Weihe ist und auf die vom geltenden Kirchenrecht auch das Hauptaugenmerk bei der Klerikerausbildung gerichtet wird (cc. 233 § 1, 234 § 1, 246 § 3, 256 § 2, 259 § 2, aber auch c. 385) 249. Im Personenrecht hat der CIC darüberhinaus die Tendenz, die erwähnten Beschränkungen für Kleriker auszudehnen. Das zeigen die Verweisnormen des c. 672 für Ordensangehörige und des c. 739 für Angehörige von Säkularinstituten. Dem scheint die Exemtion der Ständigen Diakone, c. 288, zu widersprechen, 243 Nachweise und weiterführende Hinweise bei CCL I Golden, S. 222 I 223. Die nicht weiter belegte Behauptung von Bach, S. 230, die Hervorhebung der gewerkschaftlichen Betätigung sei "wohl" eine Reaktion auf das Auftreten der polnischen Gewerkschaft "Solidarität" muß schon dadurch als widerlegt angesehen werden, daß bereits das Schema "De Populo Dei" des Jahres 1977, als von dieser Gewerkschaft noch nichts zu ahnen war, in c. 148 § 2 den entsprechenden Hinweis enthielt. Immerhin ist das Stichwort "Solidarität" geeignet, einen konkreten Anwendungsfall der kirchenrechtlichen Norm vor Augen zu führen. 244 Bach, S. 228 f. 245 Die Dauerposition etwa eines parteilichen Leitungsamtes erlaubt keine Differenzierung in teils I teils, sondern stellt vor die Entscheidung, es entweder ganz wahrnehmen zu dürfen oder eben überhaupt nicht. 246 Grundlegend zur Quellengeschichte dieser Bestimmung Assenmacher, S. 151-317 (zurückschreitend von der Moderne zur Frühen Kirche). 247 Assenmacher, S. 35-74. 248 Assenmacher, S. 319 I 320; MDC /J. Ferrer Ortiz u. T. Rincon, S. -179, unter Hinweis auf OT 3. 249 Schwendenwein, S. 138 I 139; Valdrini (Droit canonique), S. 70.
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woraus K. W alf gefolgert hat, dies könne darauf hindeuten, daß der Gesetzgeber des allgemeinen Kirchenrechts eine politische Betätigung der Ständigen Diakone und anderer kirchlicher Dienstnehmer tolerieren wollte 250. Dem hält J. Weier entgegen, c. 288 hätte differenzieren müssen zwischen den Ständigen Diakonen im Hauptberuf, für die nichts anderes als für die übrigen Kleriker gelten könne und zwischen den Ständigen Diakonen im Zivilberuf, denen in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht ein breiterer Freiheitsraum zuzubilligen sei 251 . Das sei im übrigen auch von der Deutschen Bischofskonferenz in der oben erwähnten Erklärung und von der Österreichischen Bischofskonferenz nach lokrafttreten des neuen CIC festgestellt worden 252. Eine letzte Überlegung in diesem Abschnitt soll der priesterlichen Pflicht zur Verschwiegenheit im Zusammenhang mit dem Bußsakrament, dem sog. "Beichtgeheimnis", gelten. Sie ist als absolut geltende Pflicht für alle Priester normiert durch die cc. 983, 984 CIC/ 1983 253 . Ein Bruch dieser Pflicht ist strengstens sanktioniert: c. 1388 CIC I 1983 verfügt über den so vorsätzlich sich verfehlenden Priester die "excommunicatio latae sententiae Sedi Apostolicae reservata". Nun kann der Priester durch diese Kirchenpflicht aber in einen typischen Konflikt mit der staatlichen Zeugnispflicht geraten, wie sie die modernen Rechtsordnungen vielfach normiert haben. Die Kirche erwartet hier uneingeschränkt Treue. Diese Erwartung wird staatlicherseits auch wohl zumindest in Europa durchgehend respektiert 254 . Insofern hat sich an dieser Problematik nie ein gravierender StaatKirche-Konflikt entzündet, was aber nicht ausschließt, daß dies nicht in Zukunft einmal der Fall sein könnte. Im Rückblick auf diesen Abschnitt ist festzuhalten, daß die aufgeführten Kirchenpflichten für die Kleriker evidentermaßen ihren Status als Staatsbürger tangieren255. C. 285 § 3 nimmt ihnen zwar nicht das aktive, wohl aber das passive Wahlrecht. C . 287 § 2 betrifft die Bürgerrechte der Vereinigungsfreiheit und 250 Walf, (Kirchenrecht), S. 156. 251 Weier, S. 97 f.; ebenso N. Ruf, S. 91. 252 Nachweis bei Weier, ebda., Anm. 27. 253 In diesem Zusammenhang kann auch noch die Norm des c. 240 § 2 CIC I 1983 angeführt werden. Die Rechtslage im neuen CIC unterscheidet sich in dieser Problematik nicht von der unter der Geltung des alten CIC: cc. 889, 890, 2369 CIC/ 1917. 254 Für das Recht der Bundesrepublik gilt: für jeden, der deutscher Gerichtsbarkeit unterliegt, besteht die öffentlich-rechtliche Zeugnispflicht (Pflicht zum Erscheinen, zur Aussage und zur Beeidigung). Bei Verstoß gegen diese Pflichten können den Zeugen Ordnungsmittel (Zwangsgeld, Beugehaft) und Kosten auferlegt werden. Die Pflicht zur Aussage kann durch Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrechte, auch durch Verschwiegenheitspflichten entfallen oder eingeschränkt sein (Berufsgeheimnis). Entsprechende Regelungen für Geistliche aller Religionsgemeinschaften finden sich in den §§ 139 II und u. U. auch 203 I I Nr. 4 StOB, 53 I Nr. 1, II StPO, 383 I Nr. 4, 385 ZPO und 65 II VwVfG sowie absichernd auch (mit Paritätsreflex): Art. 9 Reichskonkordat. Zu diesem Problernkomplex Hollerbach im HbStR, Bd. IV., § 139, S. 569, Anm. 24. 255 Rossi, S. 296. 12*
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2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
individuellen Koalitionsfreiheit und c. 289 § 1 ist potentieller Konfliktstoff bei Staaten mit allgemeiner Wehrpflicht. In den meisten Staaten mit einer solchen Pflicht hat sich aber eine Exemtionsmöglichkeit eingebürgert, die wahrzunehmen c. 289 § 2 nahelegt, der sich allerdings nicht bloß auf die Norm des c. 289 § 1 bezieht, sondern generell auf das gesamte Feld der angedeuteten Spannungslage. Diese Exemtionsmöglichkeit ist andererseits aber auch Prüfstein für die Freiheitlichkeil der modernen, rechtsstaatliehen Demokratien, in denen nach ihrem eigenen Selbstverständnis Raum sein muß für die Lebensgestaltung anband frei gewählter Lebensformen, soweit sie nicht das friedliche und geordnete Zusammenleben aller gefahrden. Will man die in diesem Abschnitt auseinandergefalteten zueinander komplementären256 Normierungen des Kirchenrechts resümierend bewerten, ergibt sich folgender Befund: während der CIC den Laien bewußt politische Verantwortung gerade aus dem Glauben heraus zumutet, wird den Klerikern strenge politische Enthaltsamkeit auferlegt 257 . Da die Kleriker aber in besonderer Weise die Kirche als Institution repräsentieren, darf aus dem Gesagten wohl der Schluß gezogen werden, daß hier gerade auch vom erneuerten universalen Kirchenrecht der bereits durch das 2. Vatikanische Konzil eingeläutete Prozeß der "Entinstitutionalisierung" 258 für den spezifischen Problernkomplex der Artikulation religiöser Interessen im politischen Raum aufgenommen und konkretisiert wurde 259. Die Formen dieses neu begriffenen und erweiterten Laienapostolats "in politicis" sind variabel und vielfältig, so daß der CIC zu Recht keine Einzelheiten normiert hat - das Apostolat kann sich auf die staatliche so gut wie auf die internationale Ebene von Politik beziehen 260 . Darüberhinaus dürfte, insbesondere aus den Restriktionen für die Kleriker und den Normen des Schulrechts, deutlich geworden sein, daß der CIC, wo er auf die politisch-staatliche Ordnung Bezug nimmt, das demokratisch-rechtsstaatliche Staatsmodell vor Augen hat, das wesentlich durch die Gewährleistung von Bürgerfreiheit und durch einen politischen Willensbildungsprozeß "von unten nach 256 Hierzu paßt auch c. 275 § 2, wonach den Klerikern geboten wird, die Sendung anzuerkennen und zu fördern, welche die Laien in Kirche und(!) Welt ausüben. 257 Ebenso Komonchak, S. 444-447, aufgrundeiner Analyse der Dokumente des 2. Vatikanischen Konzils. Die Gruppe der hauptamtlich im pastoralen Dienst stehenden Laien, insbesondere die Pastoralreferenten, mußte bei diesen grundsätzlichen Überlegungen zum universalen Kirchenrecht außer Betracht bleiben, weil sie im Sinne des CIC nicht als systembildend anzusehen sein dürfte. Die besondere Problematik ihres politisch-staatsbürgerlichen Engagements ist noch nicht bewältigt und durchaus einer vertieften Untersuchung wert, die an dieser Stelle aber nicht geleistet werden konnte. 258 Siehe oben Erstes Kapitel, III., I b). 259 Ebenso W. Basset, S. 6-9; E.-W. Böckenförde (Staat I Gesellschaft I Kirche), S. 94 ff.; Valdrini (Droit canonique), S. 77. 260 Zum letztgenannten, geschichtlich sehr jungen Phänomen nunmehr Spinelli I Dalla Torre, S. 170-178 und ~ttroncelli Hübler, S. 228-238.
IV. Verhältnis von "Ius Canonicum" zum "Ius Civile" im neuen CIC
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oben" charakterisiert ist 261 • Dies vielleicht weniger im Sinne einer verspäteten kirchenamtlichen Legitimierung als vielmehr im Sinne einer Einsicht des Gesetzgebers in die Tatsache, daß im gegenwärtigen geschichtlichen Kontext das demokratische Ordnungsmodell als das empirisch lebenskräftigste anzusehen sein dürfte 262 •
IV. Das Verhältnis von "lus Canonicum" zum "Ius Civile" im neuen CIC Dieser letzte Abschnitt des zweiten Kapitels beschäftigt sich mit der objektivrechtlichen Seite des Verhältnisses von Kirche und Staat. Er untersucht dabei die verschiedenen Weisen, wie der Kodex staatliches Recht zu seiner eigenen Rechtsordnung in Beziehung setzt. Zu Beginn des Unterabschnitts IV., 1. wird die rechtssprachliche bzw. terminologische Betrachtung noch einmal aufgenommen. In ihr und den darauffolgenden dogmatischen Analysen (Unterabschnitt IV., 2.), die die Eigenständigkeil der beiden Rechtskreise und die Typisierung der verschiedenartigen Bezugnahmen des CIC auf das weltlich-staatliche Recht zum Gegenstand haben, wird den Rechtsänderungen, die der CIC I 1983 gegenüber seinem Vorgänger aus dem Jahre 1917 einführt, wiederum besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
1. Das "Ius Canonicum" als eigenständiges Recht Schon der Titel des kirchlichen Gesetzbuches lautet "Kodex des Kanonischen Rechts". Er bezeichnet also das darin enthaltene Regelwerk als "ius canonicum". Im Gesetzbuch selbst taucht der Begriff "ius canonicum" bei vielen Gelegenheiten, über die Bücher 1-V verstreut, auf!: cc. 6 § 1, 1°; 22; 24 § 2; 26; 98 § 2; 113 § 2; 252 § 3; 253 § 2; 1059; 1284 § 3, 3°; 1290; 1299 § 1 2 • In sämtlichen Vorschriften ist "ius" im objektiven Sinn verstanden als eine Vielzahl, ein KornIm Ergebnis ebenso List! (Aussagen), S. 31. Zu diesem "Vormarsch der Demokratie" eindringlich M. Kriele, Die demokratische Weltrevolution, 1987 und ders., Die demokratische Weltrevolution. Warum die Freiheit sich durchsetzt, in: ARSP Beiheft 44, Rechts- und Sozialphilosophie in Deutschland heute, Stuttgart 1991, S. 201-211 , wie auch Hollerbach (Globale Perspektiven), S. 3637. Aus (populär)geschichtsphilosophischer Sicht vgl. jüngst das vieldiskutierte Werk von F. Fukuyama, The End of History, New York 1992 (dt. München 1992). 1 In den Büchern VI und VII hingegen fehlt eine Bezugnahme auf das "lus canonicum". C. 1399 spricht allerdings von der "Lex canonica". 2 Vgl. auch Ochoa, S. 251; Zapp (Lemmata), S. 344 I 345. Den Bezug "doctor seu licentiatus iuris canonici" habe ich als metasprachlichen Bezug nicht in die Aufzählung aufgenommen. Er taucht auf in den cc. 378 § 1, 5°; 443 § 3, 3°; 478 § 1; 1420 § 4; 1421 § 5; 1435; 1483 und zeigt auf seine Weise, daß das "Ius canonicum" als eine eigenständige Rechtsmasse vorausgesetzt wird. Im übrigen dürfte in diesen Fällen die 261
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2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
plex von Rechtsvorschriften. Damit unterscheidet sich dieser Sprachgebrauch etwa von dem Gebrauch des "ius" im Zusammenhang mit dem Adjektiv "nativum". Wie wir bereits oben gesehen haben, bedeutet "ius" in diesem Zusammenhang eine spezifische Berechtigung eines bestimmten Rechtssubjektes 3 • Aber auch der Terminus "Iex canonica" in den cc. 26, 900 § 2, 1399 ist davon zu unterscheiden, da hier lediglich eine einzelne Rechtsvorschrift des Komplexes "ius canonicum" gemeint ist. Welcher Normkomplexjedoch mit "ius canonicum" gemeint ist oder genauer, welche exakte Ausdehnung dieser als "ius canonicum" bezogene Normkomplex hat, differiert, wie schon im CIC I 1917 4, von Mal zu Mal 5 • Es kann "ius codicis" meinen (wie in c. 6 § 1, 1°), "ius mere ecclesiasticum" (z. B. in den cc. 24 § 2; 26; 98 § 2 (1. Verwendung); 113 § 2; 1059), d. h. einfachgesetzliches, rein menschliches Kirchenrecht im Gegensatz zum "ius divinum" 6 , aber auch "Ius Ecclesiae" als die Gesamtheit aller in der Kirche und für sie geltenden Normen gleich welcher Rangstufe bedeuten (cc. 22; 98 § 2 (2. Verwendung); 1284 § 2, 3°; 1290)6•- und zwar genau dann, wenn der CIC das "lus Canonicum" dem "Ius Civile" direkt gegenüberstellt. Schon terminologisch grenzt also der CIC die Rechtskreise des kirchlichen und weltlichen Rechts gegeneinander ab und behauptet bereits damit implizit die gegenseitige Unabhängigkeit der beiden Normkomplexe. Dieser terminologische Befund findet seine rechtsdogmatische Bestätigung, wenn er mit der für die Konstitution des kirchlichen Rechts grundlegenden Figur der "Leitungsgewalt" (Potestas regiminis, cc. 129-144) verknüpft wird. Vom Kodex nicht näher begrifflich bestimmt 7 , meint "Leitungsgewalt" (als Teilaspekt der in der Ausdrucksweise des 2. Vaticanum noch so bezeichneten "potestas sacra" 8) die im Sinne eines besonderen Dienstes zu verstehende Möglichkeit zur autoritativen Führung aller Kirchenglieder 9 durch die geweihten Amtsträger (cc. 129 § 1, 207 § 1, 274 § 1, 1008, 1009 § 1). Da nach der Lehre des 2. Vaticanum das Weihesakrament in seiner Fülle nur den Bischöfen verliehen wird (Art. 21, 2 LG), allen anderen Geweihten dagegen in Hinordnung auf den episkopalen Bezeichnung "ius canonicum" auch die Wissenschaft vom Kanonischen Recht, also die Kanonistik, erfassen; vgl. dazu auch Köstler, S. 204 und Wächter, S. 31, sowie die cc. 252 § 3, 253 § 2 sowie 827 § 2. J Abschnitt 1., 1. 4 Mörsdorf (Rechtssprache), S. 43144; Wächter, S. 11112; Köstler, S. 204 (linke Spalte). 5 Wächter, S. 29-34. 6 Vgl. allg. Aymans I Mörsdorf, S. 36137. Eine Sonderstellung kommt dem Terminus "ius canonicum" in c. 1299 zu: hier wird es abgesetzt gegenüber dem ,,ius naturae". 6 a Der Terminus "lus Ecclesiae" taucht als eigenständiger Begriff von "ius" im objektiven Sinn nur in c. 22 auf. In den cc. 287 § 2 und 1296 ist von "iura Ecclesiae" die Rede, also wieder von subjektiven Berechtigungen. 1 Valdrini (Droit Canonique), S. 234. s Dazu AymansiMörsdorf, S. 391-395. 9 Heimerll Pree, S. 109; MünstKomm I Socha, Ein!. vor 129, Anm. 1-8; Krämer im HbkKR, S. 124-131.
IV. Verhältnis von "Jus Canonicum" zum ,,Ius Civile" im neuen CIC
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Dienst, folgt daraus auch eine Stufung der Leitungsgewalt in die "hoheitliche" des Papstes und der Bischöfe sowie die "einfache" Leitungsgewalt der Vorsteher kleinerer kirchlicher Einheiten, z. B. der Pfarrer 10. Nach der allgemeinen Norm des c. 135 gliedert sich die potestas regiminis in die drei Funktionen gesetzgebender, ausführender und richterlicher Gewalt (potestas legislativa, exsecutiva, iudicialis) 11 . Diese Dreiteilung wird für die Leitungsgewalt des Bischofs nochmals in c. 391 § 1 betont, wobei, wie aus c. 135 § 2 deutlich wird, der "potestas legislativa" insofern ein besonderer Stellenwert zukommt, als sie grundsätzlich nicht gültig delegiert werden kann. Für die Legislativkompetenz des Diözesanbischofs ist diese Einschränkung in c. 391 § 2 besonders konkretisiert worden. Inhaltlich ermächtigt die "potestas legislativa" zum eigenberechtigten, d. h. von externen Faktoren grundsätzlich unabhängigen Erlaß von Rechtsnormen 12 . Hier läßt sich im streng wörtlichen Sinne von Autonomie sprechen, die mitausgesagt ist, wenn mit Bezug auf die Inhaber der potestas regiminis eine Autonomieformel13 benutzt wird, wie das "libere" im c. 331 bezogen auf die Ausübung der potestas (ergänze: regiminis) plena ordinaria des Papstes. Diese Autonomie nach außen dürfte analog auch für die in c. 381 § 1 festgelegte potestas des Diözesanbischofs gelten. Im Ergebnis ist also auch von diesem dogmatischen Ansatzpunkt her die Ausgangsthese der gegenüber nicht-kirchlichen Hoheitsträgern unabhängigen Rechtsetzungsbefugnis kirchlicher Hoheitsträger, deren Produkte summarisch als "ius canonicum" bezeichnet werden, schlüssig zu begründen.
2. Fallgruppen der Bezugnahme auf das "Ius Civile" Unabhängigkeit oder Autonomie des kirchlichen Rechts vom weltlichen ist für den Kodex dennoch nicht gleichbedeutend mit Beziehungslosigkeit. Für das uns interessierende "Jus civile", womit das staatliche Recht gemeint ist 14, ergeben sich eine Reihe von Bezugnahmen, die sich über das gesamte Gesetzbuch verstreut 10 MünstKomm I Socha, Ein!. vor 129, Anm. 7. 11 Dem durch diese funktionale Unterscheidung nicht betroffenen Grundsatz der "Gewalteneinheit" stellt Aymans I Mörsdorf, S. 423, knapp und treffend den andersartigen Grundsatz der "Gewaltentrennung" des modernen Staatsrechts gegenüber. 12 In aller Kürze sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß "Rechtsnorm" rechtstheoretisch gefaßt ist, also die potestas legislativa nicht nur im profanen Verständnis zum Erlaß formeller Gesetze ermächtigt (das Problem der Fassung des "Gesetzes" im kanonischen Recht muß hier auf sich beruhen; ich verweise dafür auf die materialreiche Arbeit von L. Wächter aus dem Jahre 1989, besprochen von May in AfkKR 158 (1989), S. 644646). Vor diesem Hintergrund muß also auch das Faktum der Mehrheit kirchlicher "Gesetzgeber" gesehen werden; vgl. M. Pesendorfer, S. 49 ff., sowie die Monographie von H. Eisenhofer, Die kirchlichen Gesetzgeber. Technik und Form ihrer Gesetzgebung, München 1954. 13 Im bereits herausgearbeiteten Sinn: Abschnitt I., 2. 14 Ebenso Aymans I Mörsdorf, S. 5 und Spinelli I Dalla Torre, S. 72, mit erneutem Hinweis, daß mit "ius I Iex civilis" auch das staatliche öffentliche Recht mitgemeint ist. Vgl. auch die Übersicht über die sog. Kollisionsnormen des CIC bei Neuhaus (CIC),
s. 5101511.
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2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
finden. Eine mit Anspruch auf Vollständigkeit erstellte Liste der expliziten Bezugnahmen auf das "ius civile" 15 müßte mindestens folgende Kanones erfassen: cc. 22; 98 § 2; 105 § 1; 110; 194 § 1, 3°; 197; 231 § 2; 289 § 2; 362; 365 § 1; 492 § 1; 668 § 1; 668 § 4; 694 § 1, 2°; 877 § 3; 1041, 3°; 1059; 1062 § 1; 1071 § 1, 2°; 1072; 1105 § 2; 1152 § 2; 1259; 1268; 1274 § 5; 1284 § 2, 2° und 3°; 1286, 1°; 1290; 1293 § 2; 1296; 1299 § 2; 1500; 1540 § 2; 1558 § 2; 1672; 1692 § 2 und§ 3; 1714; 1716 § 1 und§ 2. Im neueren Schrifttum herrscht Einigkeit darüber, daß diesen Bezugnahmen jeweils unterschiedliche rechtliche Qualität zukommt, ohne daß die Klassifizierung selbst bzw. die Zuordnung der einzelnen Kanones zu den definierten Klassen schon hinlänglich sicher wäre. Die folgende Exposition stützt sich auf die Einteilung, die 0. Cassola in seiner 1969 in zweiter Auflage erschienen Monographie "La recezione del Diritto Civile nel Diritto Canonico" erarbeitet hat 16• Grundlegend und mit Blick auf unser Thema, den CIC des Jahres 1983 17 , ist vorab festzustellen, daß die im neuen CIC neu aufgenommene allgemeine Norm des c. 22, wonach weltliche Gesetze, auf die das Recht der Kirche verweist, im kanonischen Recht mit denselben Wirkungen einzuhalten sind, soweit sie nicht dem göttlichen Recht zuwiderlaufen und nichts anderes im kanonischen Recht vorgesehen ist 18 , für sämtliche Typen der expliziten Bezugnahme des kanonischen Rechts auf weltlich-staatliches Recht gilt und nicht bloß für den später noch näher zu erläuternden Bezugstyp der "canonizatio" 19• Diese extensive Auslegung des Begriffes "remittere" kann sich auf die weitere Formulierung "cum iisdem effectibus servare" berufen. Sie kennzeichnet einen Typus der Bezugnahme, der wie zu zeigen sein wird, gerade nicht identisch ist mit dem Typus der "canonizatio". Sie kann sich weiterhin auf die offiziösen Fontes zum CIC I 1983 stützen, wo Kanones des CIC I 1917 angeführt sind, die ebenfalls nach eindeutiger Beurteilung des Schrifttums keine "Canonizatio" darstellten 20 • Hätte c. 22 nur kanoniUnter Einschluß des Rekurses auf die ,,normae iuris intemationalis". Dieser Einteilung folgen auch Neuhaus (Kollisionsrecht) und Schmitz (Vermögensrecht); teilweise abweichend allerdings die Kommentierung von MünstKomm I Socha zu c. 22. In der Monographie Cassolas sind die älteren Arbeiten von Dei Giudice (1924) und Ciprotti (Teoria della Canonizzazione) (1941) eingearbeitet und diskutiert. 11 Insofern wird die Problematik des kanonischen Verweises auf das weltliche Recht auch nur für das universale Kirchenrecht untersucht. Selbstverständlich kennt aber auch das partikulare Kirchenrecht diese Art des Verweises, etwa die Ausführungsbestimmung der Schweizerischen Bischofskonferenz zu c. 1083 § 2 (Ehefähigkeitsalter) (bei Schmitz I Kalde, S. 51) oder die Ausführungsbestimmung der Deutschen Bischofskonferenz zu c. 1262 (Kirchensteuer) (Schmitz I Kalde, S. 82). 18 "Leges civiles ad quas ius Ecclesiae remittit, in iure canonico iisdem cum effectibus serventur, quatenus iuri divino non sint contrariae et nisi aliud in iure canonico caveatur." Eine entsprechende Regelung findet sich in c. 1504 CCEO. 19 Ebenso MünstKomm I Socha, Komm. zu c. 22, Anm. 5 gegen die dort als "herrschende Meinung" apostrophierten Autoren. zo Z. B. cc. 547 §I, 581 § 2, 1063 § 3, 1513, 1519 § 2 oder 2223 § 3, 2°CICI 1917; vgl. dazu nur Cassola, S. 154 I 155. 15
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IV. Verhältnis von "Ius Canonicum" zum "Ius Civile" im neuen CIC
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sierte weltliche Normen umfassen sollen, so wäre dieser Tatbestand mit einem "quas ius Ecclesiae recepit" [Hervorhebung vom Verf.] eindeutig zu umschreiben gewesen 21 • Und noch eine grundsätzliche Ammerkung, die die eben bereits betonte Autonomiethese verstärkt: das weltlich-staatliche Recht ist im kanonischen Recht keineswegs generell ergänzend zur Auslegung oder gar als generell subsidiär geltend heranzuziehen 22 • Denn zum einen folgt dies zwingend aus den für sich abschließenden cc. 19, 20 CIC I 1983, die die grundsätzliche Geschlossenheit des Systems des kirchlichen Rechts belegen 23, dann aber auch aus der Tatsache der bloßen Existenz von expliziten Bezugnahmen auf das weltliche Recht überhaupt. Diese wären samt und sonders überflüssig, wenn noch der mittelalterliche Subsidiaritätsgrundsatz gelten würde. Folglich spielt weltliches Recht aus der Sicht des kirchlichen Universalgesetzgebers nur dann eine Rolle, wenn es ausdrücklich bezogen wird 24 • Um die aufgeführten Bezugnahmen nun zu systematisieren, bietet sich, wie Socha zutreffend sieht, das Kriterium der Rechtsfolge an. Danach gelangt man zu der grundlegenden Differenzierung zwischen rezipierendem Verweis I Bezug21 Im Schema "Normae Generales" des Jahres 1977 findet sich eine dem jetzigen c. 22 entsprechende Bestimmung noch nicht. C. 117 des Schemas "De Processibus" hierzu Ciprotti (Leggi civili), S. 290, Anm. 19- wurde bei der Revision des Schemas fallengelassen und auf Vorschlag des Coetus "De Processibus", vgl. COMM 11 ( 1979}, S. 76 als allgemeine Norm formuliert, die dann auch schon als c. 22 in das Schema CIC I 1980 Eingang fand. Zur Entstehungsgeschichte des c. 22 auch MünstKomm I Socha, Komm. zu c. 22, Anm. 1. 22 Für den CIC I 1917 hat die gegenseitige Subsidiarität aber noch, unter Berufung auf c. 1 X, 5, 32 (Pp. Lucius III., 1181-1185) Eppler, S. 53, Anm. 160 vertreten. Auch für die Beantwortung der interessanten Frage, ob für die Einrede der ,,res iudicata" (vgl. c. 1904 CIC I 1917 und nunmehr c. 1642 § 1 CIC I 1983) im kanonischen Prozeß ein rechtskräftiges weltliches Urteil herangezogen werden kann, läßt sich m. E. nicht, wie es augenscheinlich die rotalische Rechtsprechung tut und auch Ewers, S. 664 I 665, es für richtig hält, grundsätzlich auf das Dekretalenrecht und die diesem noch zugrundeliegende Rechtsvorstellung des "ius utrumque" zurückgreifen und die gegenseitige Rechtskraftwirkung postulieren. Unter der Geltung des CIC wird man diese Frage als Folgeproblem der materiell-rechtlichen "canonizatio" und damit differenzierend je nach Streitgegenstand zu lösen haben: wegen der allgemeinen Vermögensvertragsrechtskanonisation (C. 1529 CICI 1917, c. 1290 CICI 1983) wird man wohl in dem von Ewers, S. 659, referierten Fall, in dem es um eine Schadensersatzklage wegen vertraglicher Leistungstörung ging, die Anerkennung eines rechtskräftigen weltlichen Urteils in derselben Sache als prozeßhinderndes Präjudiz für zutreffend halten. Dies muß aber in anderen Sachbereichen durchaus nicht so sein. So wird bspw. wohl niemand auf die Idee kommen, ein rechtskräftiges staatliches Ehenichtigkeitsurteil (vgl. für Deutschland die §§ 16-26 EheG und §§ 631-638 ZPO) als präjudiziell für den kirchlichen Annullierungsprozeß anzusehen. 23 C. 19, der für die Ergänzung von Gesetzeslücken die "generalia iuris principia" mit anbietet, erlaubt damit zwar, wie Aymans I Mörsdorf, S. 186, schreibt, einen Rückgriff "selbst auf solche [Rechtsregeln; G.] des heutigen weltlichen Rechts". Dabei ist aber zu beachten, daß es sich eben gerade nicht um eine Subsidiarität hinsichtlich bestimmter Einzelnormierungen handelt. Zudem dürften gerade hier die anschließend erwähnten Vorbehalte wichtig werden. 24 Cassola, S. 58 und S. 104.
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2. Kap.: Unabhängigkeit und Kooperation
nahme und nicht rezipierendem Verweis I Bezugnahme 25 • Rezipierender Verweis bedeutet, daß die Wirkungen des staatlichen Rechts für das kanonische Recht übernommen werden, ihr Inhalt für verbindlich erklärt wird und folglich ihre Nichtbeachtung die betreffende Handlung kirchenrechtlich unwirksam macht. Entgegen Socha möchte ich diesen Bereich des Verweises mit dem Institut der "Canonizatio" identifizieren. Die von Socha weiterhin so bezeichnete "Anerkennung" 26 vermag meiner Ansicht nach zwar eine eigene Kategorie zu bilden, aber eben nicht als rezipierende Verweisung. "Anerkennung" steht damit für die von Cassola so bezeichnete Gruppe der Normen eines "rinvio formale", durch den die Kirche die staatliche Kompetenz zur Regelung eines Sachbereiches zur Kenntnis nimmt und in ihren dort gezeitigten Rechtswirkungen anerkennt, ohne schon eine Aussage über die eigene Rechtssetzungskompetenz zu machen, also eine ausgrenzende Anerkennung 27 • Beispiele einer solchen "ausgrenzenden Anerkennung" sind etwa die cc. 1059, 1071 § 1, 2°, 1672 sowie 1692 § 2 und§ 3. Hierbei handelt es sich stets um die Hinnahme der vom CIC so genannten "bürgerlichen Wirkungen der Ehe" (effectus matrimonii mere civiles). Diese grundsätzliche Rechtsparallelität schließt allerdings nach geltendem Recht nicht aus, daß das Kirchenrecht bei bestehendem (kirchlichem) Eheband eine zivile Wiederheirat als Verstoß gegen die kanonische Ehedisziplin auffaßt und (hart) sanktioniert 28 • Neben dieser "ausgrenzenden Anerkennung" findet sich die Gruppe der "Empfehlungen", sprachlich gekennzeichnet durch die Formel "servatis normis iuris civilis" 29 . Hier macht die Bezugnahme die entsprechenden bezogenen staatlichen oder völkerrechtlichen Rechtsnormen (resp. Gewohnheiten) zu kanonischen Sollvorschriften, deren Nichteinhaltung die kanonisch-rechtliche Wirksamkeit der entsprechenden Rechtshandlung unberührt läßt. Beispiele für solche Empfehlungen bieten die cc. 231 § 2 30, 362, 365 § 1, 668 § 1, 668 § 4, 1062 § 1, 1072, 1274 § 5, 1284 § 2, 2°-3°, 1286, }0 , 1293 § 3, 1299 § 23 1• MünstKomm I Socha, Komm. zu c. 22, Anm. 5. Komm. zu c. 22, Anm. 5 und 7. 27 Ciprotti (Teoria della Canonizzazione), S. 19120; Cassola, S. 81, 89 und 155; Spinelli I Dalla Torre, S. 74 I 75. Die übrigen in MünstKomm I Socha, Anm. 7 aufgeführten Normen der sog. "Anerkennung" stellen demgegenüber echte kanonisierende Normen dar: für c. 1296 als "canonizatio" ebenso Spinelli I Dalla Torre, S. 49, für c. 1558 § 2 als "canonizatio" Ciprotti (Leggi civili), S. 288. Unzutreffend ist es übrigens auch, im Gegenschluß aus c. 1671 zu folgern, die Kirche anerkenne die Alleinzuständigkeit des Staates für die Ehe zweier Ungetaufter - so aber Ciprotti (Leggi civili), S. 286. 28 Das ist das vieldiskutierte Problem der "wiederverheirateten Geschiedenen": vgl. die Normen der cc. 915 und 1184 § 1, 3°CICI 1983 (trotz des Entfallens der cc. 1066, 2356 CIC I 1917). Zum ganzen Zapp (Eherecht), S. 59-62. Diese Problematik wird nicht behandelt in Primetshofer (Zivilehe). Auf S. 401 schreibt er: "Es geht ausschließlich darum, wie die Zivilehe hinsichtlich der für das Zustandekommen einer kanonisch gültigen Ehe bestehenden Formerfordernisse zu bewerten ist." Dieses Problem wiederum muß hier nicht näher ausgefaltet werden. 29 Vgl. Pesendorfer, S. 45. 30 A. A. Ciprotti (leggi civili), S. 289: "canonizatio". 31 Vgl. dazu MünstKomm I Socha, Komm. zu c. 22, Anm. 11. 25
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IV. Verhältnis von "lus Canonicum" zum "lus Civile" im neuen CIC
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Schließlich finden sich noch im CIC eine Reihe schlicht hinweisender Kanones, die keine irgendwie geartete präskriptive Wirkung haben sollen, wie bspw. cc. 194 § 1, 3°,492 § 1, 694 § 1, 2°,799, 1041, 3°, 1152 § 2, 1259, 139432. Rechtstechnisch betrachtet handelt es sich bei sämtlichen, rezipierenden wie nicht rezipierenden Verweisen um sog. dynamische Verweise, bei denen auf die jeweils geltende staatliche Norm verwiesen wird. Rechtsänderungen im staatlichen Recht werden also mitvollzogen 33 . Die rechtlichen Probleme, die das weltliche Recht, insbesondere das Verfassungsrecht, mit der dynamischen Verweisung hat 34, stellen sich im kanonischen Recht nicht, da das Gebot der Normbestimmtheit (hier im Sinn der Vorhersehbarkeit der Normkonkretisierung) eine Fallgruppe des Rechtsstaatsprinzips bildet, dieses ganze Prinzip - auch im allgemeinen Sinn auf ein Prinzip der Rechtsförmigkeit hoheitlichen Handeins hin interpretiert - für das kanonische Recht wohl nicht gilt. Dennnoch stellt sich auch für das kanonische Recht das Problem der Individualisierung ("individuazione") bzw. der Konkretisierung der jeweils bezogenen staatlichen Norm(en)3 5• Diese Konkretisierung hat auch das örtliche, staatliche Kollisionsrecht zu beachten 36• Leider bleibt auch im neuen CIC in manchen Fällen offen, welcher Ort gemeint ist 37 , da sich auch der neue CIC zu einem differenzierten Kollisionsrecht, ähnlich dem weltlichen Internationalen Privatrecht, nicht hat verstehen können 38 • Gesetzgeberische Intentionen der Verweisungen, insbesondere in ihrer rezipierenden Form als "Canonizatio", sind die pragmatische Abstimmung und Harmonisierung der Rechtsordnungen in Bereichen beiderseitigen Interesses, die Sicherung kanonischer Rechtshandlungen auch vor dem forum civile (vgl. die auch für das kanonische Recht ungewöhnliche Angabe der gesetzgebensehen Motivation in c. 1293 § 2: "ut Ecclesiae damnum vitetur") sowie die Arbeitserleichterung hinsichtlich Rechtsmaterien, die vom weltlichen Recht in sachlich angemessener Weise bereits erarbeitet worden sind 39• Die Schranken für die Beachtlichkeil von in Bezug genommenem weltlichen Recht formuliert jetzt, wie bereits erwähnt, 32 Ebda., Anm. 12; Schmitz (Vermögensrecht), S. 15. 33 MünstKomm I Socha, Komm. zu c. 22, Anm. 9.
34 Aus dem deutschen Schrifttum vgl. nur U. Karpen, Die Verweisung als Mittel