Das Relativismusproblem in der neueren Wissenssoziologie: Wissenschaftsphilosophische Ausgangspunkte und wissenssoziologische Lösungsansätze [1 ed.] 9783428494927, 9783428094929

Bernd Schofers Arbeit liefert einen Beitrag zur aktuellen antifundamentalistischen und relativistischen soziologischen W

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Das Relativismusproblem in der neueren Wissenssoziologie: Wissenschaftsphilosophische Ausgangspunkte und wissenssoziologische Lösungsansätze [1 ed.]
 9783428494927, 9783428094929

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BERND SCHOFER

Das Relativismusproblem in der neueren Wissenssoziologie

Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 36

Das Relativismusproblem in der neueren Wissens soziologie Wissenschaftsphilosophische Ausgangspunkte und wissenssoziologische Lösungsansätze

Von

Bemd Schofer

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Schofer, Bernd: Das Relativismusproblem in der neueren Wissenssoziologie : wissenschaftsphilosophische Ausgangspunkte und wissenssoziologische Lösungsansätze / von Bemd Schofer. Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Soziaiwissenschaftliche Schriften; H. 36) Zug!.: Heidelberg, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-428-09492-1

Alle Rechte vorbehalten

© 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4808 ISBN 3-428-09492-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069

Vorwort Die Debatte um die neuere Wissens soziologie entzündet sich, wie bereits der Streit um die Wissens soziologie Mannheims, vor allem an der Frage des Relativismus. In der jüngeren Diskussion hat sich die Spannung im Verhältnis zwischen relativistischen Soziologen und ihren antirelativistischen Kontrahenten freilich nochmals markant vergrößert. Während Mannheim die Naturwissenschaften noch vom Bereich des 'seinsverbundenen' Wissens ausklammerte, argumentieren die Vertreter der neueren Theorien der Disziplin, bestärkt vom Postempirismus in der Wissenschaftsphilosophie, für einen allgemeinen Relativismus, der auch und gerade dem naturwissenschaftlichen Wissen nur relative, kontextgebundene Gültigkeit zuerkennt. Die gewichtigste Kritik an dieser Position stammt aus den absolutistischen Schulen der Wissenschaftsphilosophie und richtet sich auf die kognitiven Voraussetzungen und Konsequenzen des Relativismus der neueren Wissenssoziologie. Danach ist der allgemeine Relativismus unhaltbar, weil er zum einen auf der irrigen wissenschaftsphilosophischen Vorannahme beruht, daß soziale Kontextfaktoren einen epistemologisch relevanten Einfluß auf die Bewertung wissenschaftlichen Wissens überhaupt nehmen können; und er ist unhaltbar, weil er zum anderen den Relativisten in unüberwindliche Schwierigkeiten bringt, wenn er den epistemologischen Status seiner eigenen Wissensansprüche offeniegen muß. Die folgende Studie unternimmt den Versuch, die Debatte zwischen der neueren Wissenssoziologie und der absolutistischen Wissenschaftsphilosophie durch die systematische Unterscheidung zweier Formen des Relativismus - des extremen und des gemäßigten Relativismus - voranzubringen. Das zentrale, auf eine eingehende Untersuchung der dominanten wissenschaftsphilosophischen Theorietraditionen gestützte Resultat der Arbeit lautet, daß die Einwände des Absolutismus lediglich den extremen Relativismus treffen, während der gemäßigte Relativismus hingegen über plausible philosophische Vorannahmen verfügt und der Wissenssoziologie die Chance einer befriedigenden Bestimmung des epistemologischen Status ihrer eigenen Wissensansprüche eröffnet. Die vorliegende Arbeit ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation. die von der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Universität Heidelberg 1998 angenommen wurde. Mein Dank gilt Prof. Dr. Wolfgang Schluchter, der die Arbeit betreut und durch Anregung und Kritik

Vorwort

6

entscheidend gefördert hat. Ich danke auch den Teilnehmern seines Doktorandenkolloquiums, insbesondere Dr. Agathe Bienfait, Urs-Peter Krämer M.A. und Dr. Thomas Schwinn, für ihre kritischen Kommentare zu meinen Überlegungen. Prof. Dr. Georg Schwägler danke ich für seine aufmerksame Lektüre einer ersten Fassung der Arbeit, Hannelore Chaluppa für ihre Unterstützung bei der technischen Gestaltung des Manuskripts. Mein besonderer Dank geht an Dr. Silvia Eckert, mit der ich auch in den Schweizer Alpen das Relativismusproblem durchdenken - und zeitweilig vergessen - konnte.

Heidelberg, im Januar 1999

Bernd Schofer

Inhaltsverzeichnis

1.

A. Einleitung

11

B. Das Relativismusproblem in der älteren Wissenssoziologie

33

Die Wissenssoziologie Durkheims .......................................................... 33

11. Die Wissenssoziologie Mannheims .......................................................... 40 1. Mannheims Relativismus ............................................................... 40 2. Mannheims Rückgriff auf den Fundamentalismus ................................ 43 III. Die Wissenschafts soziologie Mertons ...................................................... 49 1. Die Entwicklung der Wissenschafts soziologie Mertons ......................... 50 2. Das Relativismusproblem als Scheinproblem ...................................... 52

C. Die wissenschaftsphilosophischen Ausgangspunkte der neueren Wissenssoziologie in der modernen Wissenschaftsphilosophie 1.

62

Der Logische Empirismus ..................................................................... 62 1. Der strikte Fundamentalismus des frühen Logischen Empirismus ............ 64 2. Die Abschwächungen des Fundamentalismus im fortgeschrittenen Logischen Empirismus .................................................................. 69 a) Revisionen der Basis: Die Wendung zum Physikalismus und die Diskussion um die Revidierbarkeit von Protokol1sätzen ...................... 69 b)Die Abschwächung der fundamentalistischen These der Zurückführbarkeit der Begriffe und Sätze ................................................. 73 aa) Die Liberalisierung der These der Zurückführbarkeit der Begriffe ... 73 bb) Die Liberalisierung der These der Zurückführbarkeit der Sätze ....... 75 3. Der reife Logische Empirismus - auf dem Weg zum Antifundamentalismus ....................................................................................... 79 a) Die Zweistufenkonzeption der Wissenschaftssprache ......................... 80 b) Die Anerkennung des Antifundamentalismus ................................... 85 aa) Die Anerkennung der These der Theoriegeladenheit der Beobachtung und das Basisproblem ..................................................... 85

8

Inhaltsverzeichnis bb) Die Anerkennung der Duhem-Quine-These und das Duhem-QuineProblem ............................................................................. 88

11. Der Falsifikationismus ....................................................................... 1. Der Falsifikationismus Poppers ..................................................... a) Poppers Methodologie als antifundamentalistische Alternative zum Logischen Empirismus ............................................................. b)Das Basisproblem bei Popper ..................................................... aa) Die Theoriegeladenheit der Beobachtung und die Fallibilität der Basissätze ................................................................... bb) Das Kriterium der Reproduzierbarkeit.. ................................... ce) Das Kriterium der Ableitung weiterer Folgesätze ....................... c) Das Duhem-Quine-Problem bei Popper ........................................ aa) Die beiden Lösungsvorschläge der Logik der Forschung ............. bb) Die beiden Lösungsvorschläge in den späteren Schriften Poppers .. d) Poppers Theorie des Erkenntnisfortschritts .................................... e) Die Unvereinbarkeit von Antifundamentalismus und Wahrheitsabsolutismus in Poppers Philosophie ............................................ 2. Lakatos' raffinierter Falsifikationismus und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme ................................................ a) Die beiden methodologischen Kernprobleme im raffinierten Falsifikationismus ........................................................................... b)Zur Kritik an Lakatos' Lösungsvorschlägen .................................. c) Die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme .............

100 102

III. Kuhns neues Bild der Wissenschaft ....................................................... 1. Die wissenschaftshistoriographische Fundierung der Kuhnschen Wissenschaftsphilosophie ...................................................................... 2. Normale Wissenschaft und Kuhns Antinmdamentalismus ..................... a) Theorie und Paradigma ............................................................ b)Die Thesen der Theoriegeladenheit ............................................. aa) Die allgemeine These der Theoriegeladenheit der Wahrnehmung und der Begriffe ................................................................ bb) Die spezielle These der Theoriegeladenheit der Beobachtung ....... c) Kuhns Sicht der Duhem-Quine-These .......................................... 3. Wissenschaftliche Revolution und Theoriewahl ................................. a)Die Ubiquität von Anomalien ..................................................... b)Die Inkommensurabilität von Theorien ......................................... c)Die Wertunterbestimmtheit der Theoriewahl .................................. 4. Kuhn und der Relativismus ........................................................... a) Der gemäßigte Relativismus der Wissenschaftsphilosophie Kuhns ....... b) Kuhn und das Relativismusproblem .............................................

150

102 104 104 106 108 111 111 115 122 129 135 136 142 146

151 153 153 154 155 162 163 166 166 167 170 173 173 176

Inhaltsverzeichnis

I.

9

D. Zwischenbilanz: Die Relevanz des Relativismusproblems und die Kriterien der Reflexivität und des gemäßigten Relativismus

181

E. Das Strong Programme der neueren Wissenssoziologie

196

Programmatische Postulate - Szientismus, Naturalismus, Relativismus ........... 196

11. Die wissens soziologische Theorie ......................................................... 203 1. Die Erklärungsfaktoren des allgemeinen theoretischen Modells ............. 203 2. Das Zusammenwirken der Erklärungsfaktoren des allgemeinen theoretischen Modells ........................................................................... 210 a) Die Bildung neuen Wissens ....................................................... 210 aa) Das Zusammenwirken der Erklärungsfaktoren bei der Bildung neuen Wissens - Finitismus ................................................... 210 bb) Diskussion und Kritik - Argumente für den gemäßigten Finitismus ................................................................................ 219 b)Die Bewertung des Wissens ....................................................... 227 aa) Das Zusammenwirken der Erklärungsfaktoren bei der Bewertung des Wissens - Relativismus ................................................... 227 bb) Diskussion und Kritik - Argumente für den gemäßigten Relativismus ............................................................................. 235 III. Das Strong Programme und das Relativismusproblem ................................ 246 1. Das Strong Programme und das Kriterium der Reflexivität ................... 247 2. Das Strong Programme und das Kriterium des gemäßigten Relativismus ..................................................................................... 257

F. Zusammenfassung und Schlußbemerkung

264

Literaturverzeichnis

270

Sachwortverzeichnis

291

A. Einleitung Die Theorien der Wissens soziologie teilen den Grundgedanken der 'Seinsverbundenheit des Wissens' (Karl Mannheim), sie interpretieren ihn aber auf unterschiedliche Weise, indem sie jeweils genauer spezifIzieren, welche Wissensarten als seinsverbunden betrachtet werden können und welche Faktoren des sozialen Seins wie einen Einfluß auf das Wissen ausüben. Wissenssoziologische Theorien implizieren einen erkenntnistheoretischen Relativismus, wenn der Grundgedanke der Seinsverbundenheit generalisiert und auch auf gültiges Wissen, also vor allem auch auf wissenschaftliches Wissen bezogen wird. Wenn Faktoren des soziokulturellen Kontextes die Bildung und Bewertung wissenschaftlichen Wissens beeinflussen, dann ist dieses Wissen nicht an sich oder absolut gültig, sondern es ist relativ gültig für den soziokulturellen Kontext, der einen Einfluß auf die Generierung und Beurteilung jenes Wissens ausübt. Die Vertreter eines solchen allgemeinen Relativismus sind nun direkt mit dem Relativismusproblem konfrontiert, d.h. mit dem Problem des epistemologischen Status ihrer eigenen Wissensansprüche. Sind wissenssoziologische Theorien, die anderen Theorien nur relative Gültigkeit zusprechen, von der Seinsverbundenheit ausgenommen und können absolute Gültigkeit für sich beanspruchen, oder ist die Annahme der Relativität des Wissens auch reflexiv auf die eigenen Wissensansprüche zu beziehen? Und wenn die reflexive Relativierung der eigenen Theorie erforderlich ist, läßt sich dann noch der unhaltbare Relativismus der Beliebigkeit gerade auch der eigenen Wissensansprüche vermeiden? Vor einer Beantwortung dieser Fragen sollte allerdings geklärt werden, ob das Relativismusproblem möglicherweise nur ein Scheinproblem darstellt. Wenn aufgrund wissenschaftsphilosophischer Annahmen und Argumente ausgeschlossen werden könnte, daß soziale Faktoren das wissenschaftliche Wissen in einem epistemologisch relevanten Sinne und Ausmaß beeinflussen können, wäre eine relativistische Interpretation jenes Wissens ja gar nicht ernsthaft in Erwägung zu ziehen und das Relativismusproblem würde auf falschen Voraussetzungen beruhen. Das Thema der vorliegenden Arbeit ist das Relativismusproblem vor allem in der neueren und dezidiert relativistischen Wissenssoziologie, deren Forschungsprogramm auf die soziologische Analyse des wissenschaftlichen, insbesondere des naturwissenschaftlichen Wissens abzielt. Der Leitgedanke der Arbeit lautet, daß eine eingehende Untersuchung der wissenschaftsphilosophischen Ausgangspunkte der neueren Wissenssoziologie - d.h. der Annahme des Antifundamentalismus und der Annahme der Möglichkeit der relativistischen

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A. Einleitung

Interpretation des wissenschaftlichen, insbesondere des naturwissenschaftlichen Wissens - einen Beitrag zur Beantwortung der Fragen liefern kann, ob das Relativismusproblem ernst genommen werden muß und wie befriedigende Lösungsansätze dieses Problems von seiten der Wissenssoziologie beschaffen sein müssen. Die soziologisch sensibilisierte Untersuchung zentraler Strömungen der modemen Wissenschaftsphilosophie im Hinblick auf die wissenschaftsphilosophischen Ausgangspunkte der neueren Wissenssoziologie kann, so die erste Hauptthese, die Plausibilität jener Ausgangspunkte und ihre breite Verankerung in der modemen Wissenschaftsphilosophie aufweisen, damit die Möglichkeit und Relevanz des Forschungsprogramms der neueren Wissenssoziologie plausibilisieren und damit vor allem auch Argumente dafür liefern, daß das Relativismusproblem ein ernstzunehmendes Problem und nicht etwa ein Scheinproblem darstellt. Auf der Grundlage dieser Untersuchung lassen sich zudem, so die zweite Hauptthese, Kriterien für befriedigende Lösungsansätze des Relativismusproblems in der neueren Wissenssoziologie gewinnen. Das Relativismusproblem nimmt in der Wissenssoziologie seit ihrer Gründungsphase eine besonders wichtige Stellung ein. Wie Stehr und Meja konstatieren, basiert die Annahme oder Ablehnung einer bestimmten Konzeption der Wissenssoziologie nach wie vor besonders auf der Einschätzung ihres Lösungsversuchs der möglichen erkenntnistheoretischen Implikationen der Disziplin. l Die vorliegende Arbeit soll einen Beitrag zur Lösung des Relativismusproblems in der neueren Wissenssoziologie leisten, indem zum einen Argumente für die Relevanz dieses Problems bereitgestellt werden und zum anderen Kriterien formuliert und exemplarisch angewandt werden, anband derer taugliche und untaugliche Lösungsansätze identifIziert werden können und an denen sich die Ausarbeitung zukünftiger Lösungsversuche orientieren kann.

* Die Theorien der neueren Wissenssoziologie werden seit etwa Mitte der siebziger Jahre überwiegend in Großbritannien entwickelt. Zu den bekannteren theoretischen Ansätzen dieser Richtung gehören das Strong Programme2, das Empirical Relativist Programme'3, der ethnographische Ansatz4, die Discourse Analysis5 und die New Literary Fonns6 • Diese Ansätze weisen zwar zum Teil 1 Vgl. StehrlMeja 1982, 893. 2 Das Strong Programme

wird in Kap. E ausführlich dargestellt und diskutiert.

3 Vgl. Collins 1981b und Collins 1983. 4 Vgl. Knorr-Cetina 1984; Latour/Woolgar 1986. 5 Vgl. MulkaylGilbert 1991b; MulkaylPotterlYearley 1983. 6 Vgl. Ashmore 1989; WoolgarlAshmore 1988.

A. Einleitung

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erhebliche intertheoretische Divergenzen auf, sie teilen aber zwei charakteristische Merkmale, die sie von früheren wissenssoziologischen Theorien markant unterscheiden: Sie analysieren die Bildung und Bewertung wissenschaftlichen, insbesondere naturwissenschaftlichen Wissens und sie sprechen den untersuchten Wissensbeständen ausdrücklich eine soziokulturell begrenzte Gültigkeit zu, d.h. es sind dezidiert relativistische Ansätze.? Der gemeinsame Grundansatz der neueren Wissenssoziologie kann wie folgt zusammengefaßt werden. Die analysierten Wissensbestände werden nicht als Abbilder, sondern als Konstruktionen der Realität verstanden, die die Wissenschaftler produzieren, indem sie auf kognitive und technische Ressourcen - das bereits vorhandene Wissen, Nonnen der wissenschaftlichen Methode, Praktiken, Apparate, usw. - zugreifen, über die Angemessenheit der verwandten Prozeduren, die Interpretation der empirischen Daten und ähnliche Fragen verhandeln und dabei häufig zu einem Konsens gelangen. Die Bildung und Bewertung des wissenschaftlichen Wissens wird als ein Prozeß verstanden, der in der Regel von Faktoren des sozialen Kontextes beeinflußt ist, also etwa von sozialen Interessen der Wissenschaftler, ihrer Bindung an bestimmte theoretische und apparative Alternativen oder den Zugangsmäglichkeiten zu Forschungsressourcen. 8 Das Wissen erscheint in dieser Sicht als das Resultat sozial beeinflußter Interpretations- und Verhandlungsprozesse, als das kontingente Produkt eines sozialen Prozesses der Konstruktion der Welt. 9 Der Grundansatz der neueren Wissenssoziologie setzt voraus, daß soziale Faktoren einen epistemologisch relevanten Einfluß auf das wissenschaftliche Wissen überhaupt ausüben können. Er setzt die Annahme des Antifundamen7 Der Begriff der Bildung des Wissens denotiert den Prozeß der Formulierung und Reformulierung von Wissensansprüchen, insbesondere des kognitiven Gehalts von Theorien. Dieser Prozeß findet nicht nur vor, sondern auch häufig während der Bewertung von Theorien statt: So führen negative Resultate der empirischen Prüfungen in der Regel zu Umbildungen der theoretischen Systeme; und neue Entdeckungen werden auch im Rahmen der Prüfung von Theorien gemacht. Die auf Reichenbach zurückgehende strikte Trennung von 'Entdeckungs- und Rechtfertigungszusammenbang' wird nicht zuletzt aus diesen Gründen in der neueren Wissenschaftsphilosophie und -soziologie zurückgewiesen; vgl. E/kßna 1980, 36ff.; Knorr-Cetina 1984, 28ff.; Suppe 1974a, 125ff.; Tibbetts 1986, 51ff. Für den Relativismus der neueren Wissenssoziologie ist die Annahme entscheidend, daß auch im nicht strikt abzutrennenden 'context of justification' soziale Faktoren eine relevante Einflußquelle darstellen. 8 Die einzelnen Theorien unterscheiden sich z.T. deutlich in der genauen Spezifikation der Faktoren des sozialen Seins, denen ein Einfluß auf das Wissen zugeschrieben wird. Da diese Unterschiede für die Relativismusproblematik nebensächlich sind, wird hier zunächst allgemein von sozialen oder soziokulturellen Faktoren gesprochen. 9 Vgl. Felt/Nowotny!Taschwer 1995, 128-146; Heintz 1993, 536ff.; Knorr-Cetina/Mulkay 1983a, 6ff.; Mulkay 1979, 93ff.; ebd., 118f.; Mulkay 1980, 55f.

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A. Einleitung

talismus und die Annahme der Möglichkeit der relativistischen Interpretation des wissenschaftlichen, insbesondere des naturwissenschaftlichen Wissens als wissenschaftsphilosophische Ausgangspunkte voraus. Diese Vorannahmen der neueren Wissenssoziologie betreffen Fragestellungen, die primär in der Wissenschaftsphilosophie behandelt werden, deren Bild der Wissenschaft daher eine maßgebliche Rolle für die Wissens soziologie spielt. Eine positive oder negative Beurteilung jener Vorannahmen durch die modeme Wissenschaftsphilosophie besitzt also ein erhebliches Gewicht für die neuere Wissenssoziologie. Wenn die Ausgangspunkte der neueren Wissenssoziologie aus wissenschaftsphilosophischer Sicht als plausibel eingeschätzt werden können, spricht dies für die Möglichkeit und Relevanz des Forschungsprogramms der neueren Wissenssoziologie und für die Relevanz des Relativismusproblems. Wenn dagegen wissenschaftsphilosophische Argumente eine fundamentalistische und absolutistische Sicht des wissenschaftlichen Wissens nahelegen würden, so wäre das Programm der neueren Wissenssoziologie ernstlich diskreditiert, und der Verdacht, das Relativismusproblem sei ein auf fragwürdigen Voraussetzungen konstruiertes Scheinproblem, wäre stark bekräftigt. Es ist für die Einschätzung des Programms der neueren Wissens soziologie und der Relevanz des Relativismusproblems also ganz entscheidend, wie die modeme Wissenschaftsphilosophie zu den philosophischen Vorannabmen der neueren Wissenssoziologie steht. Bevor die Beziehung von Wissenschaftsphilosophie und Wissenssoziologie unter diesem Gesichtspunkt etwas näher betrachtet wird, ist es nun zunächst erforderlich, einige Begriffe zu klären, die für die Problemstellungen beider Disziplinen von zentraler Bedeutung sind, und die auch im Folgenden immer wieder benutzt werden. Was ist eigentlich mit den Begriffspaaren 'Fundamentalismus vs. Antifundamentalismus' und 'Absolutismus vs. Relativismus' gemeint? Welche Annahmen stehen sich dabei jeweils gegenüber? Das Begriffspaar Fundamentalismus vs. Antiftuulamentalismus bezeichnet hier primär entgegengesetzte wissenschaftstheoretische Annahmen über die Art der empirischen Grundlage von Wissensansprüchen, insbesondere von Theorien, und über die Art ihrer empirischen Stützung durch jene Grundlage. Die jeweiligen Annahmen gehen auch mit bestimmten Einschätzungen des epistemologischen Status von Wissensansprüchen einher. Der Fundamentalismus betrachtet gültiges wissenschaftliches Wissen als sicheres, bewiesenes Wissen, während in der Sicht des Antifundamentalismus alle Wissensansprüche unsichere, fallible Vermutungen sind. Das Begriffspaar Absolutismus \IS. Relativismus bezeichnet hier divergente Annahmen darüber, ob Faktoren des soziokulturellen Kontextes die Bewertung von Wissensansprüchen, insbesondere von Theorien, in einem epistemologisch relevanten Sinne und Ausmaß beeinflussen, und es bezeichnet entsprechend divergente Positionen hinsichtlich des epistemologischen Status von Wissensansprüchen und Theorien, deren Gültig-

A. Einleitung

15

keit - d.h. deren Wahrheit oder deren Akzeptabilität - im einen Fall als unabhängig vom soziokulturellen Kontext der Bewertung des Wissens, im anderen Fall als kontextgebunden begriffen wird. Die Frage der Akzeptabilität von Theorien rückt mit der Einsicht in die Unbeweisbarkeit der absoluten Wahrheit von Theorien in den Vordergrund der wissenschaftsphilosophischen Diskussion. Eine Theorie ist rational akzeptabel, wenn sie mit guten Gründen anerkannt und konkurrierenden Theorien vorgezogen werden kann. 10 Sie ist dann entweder absolut oder relativ akzeptabel, je nachdem, ob sie unabhängig vom soziokulturellen Kontext ihrer Bewertung oder lediglich in einem bestimmten, die Evaluation beeinflussenden Kontext mit guten Gründen anerkannt und konkurrierenden Theorien vorgezogen werden kann. Gute Gründe für die Anerkennung einer Theorie liegen vor, wenn in der jeweiligen Fachgemeinschaft ein Konsens darüber besteht, daß sie die wissenschaftlichen Standards zur Bewertung von Theorien erfüllt. Kommt darüber kein Konsens zustande, wird lediglich der Anspruch auf gute Gründe und Akzeptabilität erhoben. Absolutismus und Relativismus unterscheiden sich in ihren Annahmen darüber, wie der Konsens über das Vorliegen guter Gründe erzielt wird - ob hierbei Faktoren des soziokulturellen Kontextes eine relevante Rolle spielen oder nicht und wie entsprechend der unterschiedlichen Konzeptionen des Bewertungsprozesses die Akzeptabilität von Theorien zu begreifen ist - als unabhängig vom soziokulturellen Kontext der Bewertung oder als kontextgebunden. 11 Die beiden bislang nur grob skizzierten Begriffspaare werden nun genauer spezifiziert. Dabei wird auch der Notwendigkeit Rechnung getragen, innerhalb der Dimension von 'Absolutismus vs. Relativismus' genauer zu differenzieren, also zwischen verschiedenen Formen des Absolutismus und des Relativismus zu unterscheiden. Der Begriff Fundamentalismus bezeichnet eine wissenschafts theoretische Position, die einen privilegierten Zugang zur Welt - d.h. zur 'Welt an sich' im Sinne der Gesamtheit der von den Erkenntnissubjekten unabhängigen Tatsachen - annimmt. Der angenommene privilegierte Zugang zu den Tatsachen der Welt ist der archimedische Punkt, von dem aus sicheres und wahres Wissen über die Welt generiert werden kann oder der die sichere Annäherung an ein solches Wissen verbürgt. Die fundamentalistische Position kann also durch zwei Teilthesen genauer spezifIziert werden: (1) Wir verfügen über einen pri10 Zum. Konzept der Akzeptabilität vgl. Hempel 1965a, 83f.; Hempel 1974, 5Off.; Radnitzky 1976, 515f., und ebd., 520. Vgl. auch Goodman 1984, 134f. und ebd., 167f. Wenn der Aspekt des Vergleichs von Theorien im Vordergrund steht, kann statt von der Akzeptabilität auch von der Von:üglichkeit einer Theorie gesprochen werden. 11 In der vorliegenden Arbeit wird also ein enger Relativismusbegriff verwandt: Der Begriff steht hier lediglich für den epistemologischen (oder kognitiven) Relativismus, und dies auch nur insoweit, als auf soziokulturelle Kontexte hin relativiert wird.

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A. Einleitung

vilegierten Zugang zur Welt, eine Reihe von sicheren Sätzen, die das unerschütterliche Fundament des Wissens bilden. (2) Unser nicht derart direkt fundiertes theoretisches Wissen kann von diesem archimedischen Punkt aus abgeleitet werden bzw. seine Gültigkeit oder seine Ungültigkeit kann eindeutig auf die sicheren Sätze der Basis zurückgeführt werden. 12 Der Fundamentalismus tritt in verschiedenen Formen auf, je nachdem, worin der privilegierte Zugang zur Welt gesehen wird. Für die Wissenssozi0logie ist der spezifische Fundamentalismus der positivistischen Wissenschaftsphilosophie des Logischen Empirismus besonders wichtig, der im Erfahrungsgegebenen oder im Beobachtbaren bzw. in den sprachlichen Protokollierungen von Beobachtungen das Fundament der Erkenntnis sieht. 13 Es können zwei Weisen der Übertragung der Gültigkeit der Basis auf die nicht direkt fundierten Wissensansprüche unterschieden werden: Der verifizierende oder sicher bestätigende induktive Schluß von singulären Aussagen, die harte Tatsachen ausdrücken, auf die Gültigkeit von allgemeinen Sätzen bzw. Theorien; und der falsifizierende deduktive Schluß von Tatsachenaussagen auf die Ungültigkeit bestimmter theoretischer Wissensansprüche. Die Gültigkeit oder Ungültigkeit von Theorien ist demnach durch Logik und Erfahrung eindeutig und sicher feststellbar . Der Fundamentalismus kann in seiner Stärke variieren, je nachdem, wie stark seine beiden Teilthesen gefaßt werden. Der Fundamentalismus kann also durch Abstriche an der angenommenen Sicherheit der empirischen Basis und/oder durch Abstriche hinsichtlich der Übertragbarkeit der Gewißheit der Basis auf die nicht direkt fundierten Wissensansprüche abgemildert werden. Der Antifundamentalismus bestreitet sowohl das Gegebensein eines irgendwie beschaffenen privilegierten Zugangs zur Welt als auch die Möglichkeit, von einer als gültig akzeptierten Basis aus eindeutig und mit Sicherheit 12 Der Fundamentalismus wird auch als begründungsphilosophischer Denkstil bezeichnet; vgl. Radnitzky 1976, 515 und Radnitzky 1980, 322ff. Zur Spezifikation von Fundamentalismus und Antifundamentalismus vgl. zudem Albert 1991, 9ff.; Krausz 1984; Lakatos 1982a, 9ff.; Nickles 1974, 572; Rockmore 1992, 4ff. Der erkenntnistheoretische Realismus im Sinne der Annahme der Erkennbarkeit der denk- und subjektunabhängigen Welt kann als eine Form des Fundamentalismus bezeichnet werden. Er ist vom ontologischen Realismus zu unterscheiden, der lediglich die Existenz der Welt an sich behauptet. Zur Unterscheidung dieser beiden Arten des Realismus vgl. Hesse 1992, 93; Raven 1992, 109ff.; Vollmer 1991, 131. 13 Das 'MÜDchhausen-Trllemma' beim Versuch der Begründung von Wissensansprüchen wird hier also durch den dogmatischen Abbruch der Begründung gelöst - bestimmte Erfahrungen bzw. Sätze sind einfach sicher und bedürfen keiner weiteren Begründung; vgl. Albert 1991, 13ff. und Radnitzky 1976, 520. Zur historischen Verwurzelung des Fundamentalismus im religiösen Gewißheitsbedürfnis vgl. Albert 1993, 11ff.

A. Einleitung

17

auf die Gültigkeit oder Ungültigkeit von Wissensansprüchen zu schließen. 14 Die folgenden Thesen spezifIzieren diese beiden antifundamentalistischen Teilthesen. Die These der Theoriegeladenheit der Beobachtung und der Beobachtungssprache richtet sich gegen die Annahme eines privilegierten Zugriffs auf die Tatsachen der Welt. Die Vertreter dieser These führen zum Teil unterschiedliche Argumente für die Theoriegeladenheit der empirischen Basis an. Eine heute weithin anerkannte Variante dieser These besagt, daß zur Gewinnung epistemisch bedeutsamer Beobachtungen und Beobachtungsaussagen in der modemen Wissenschaft in der Regel komplizierte Meßinstrumente und -verfahren verwandt werden, denen theoretische und fallible Annahmen zugrunde liegen. Die These der Unmöglichkeit der eindeutigen und sicheren Rückführbarkeit der Gültigkeit oder Ungültigkeit von Theorien auf eine akzeptierte empirische Basis bezieht sich auf positive wie negative Prüfungsresultate. Die Argumentation gegen eine induktive Logik behauptet die Unbegründbarkeit der Gültigkeit verifIZierender oder probabilifIZierender induktiver Schlüsse von singulären Tatsachenaussagen auf die Gültigkeit allgemeiner Sätze bzw. theoretischer Wissensansprüche. Die Duhem-Quine-These besagt, daß im Falle einer empirischen Prüfung von Wissensansprüchen, die zu einer Falsiflkation führt, durch Logik und experimentelle Erfahrung allein nicht eindeutig auf die Ungültigkeit bestimmter Wissensansprüche geschlossen werden kann. Der Ausgangspunkt dieser These ist die holistische Annahme, daß in aller Regel keine isolierten Hypothesen oder Theorien, sondern ganze theoretische Systeme mit den Beobachtungsdaten konfrontiert werden. 15 Im Falle einer Anomalie, d.h. einer Unvereinbarkeit der aus dem theoretischen System abgeleiteten Prognose mit dem tatsächlichen Resultat der Beobachtung, kann daher nicht eine einzelne der bei 14 Der Antifundamentalismus wendet sich gegen die Vorstellung, es gebe eine sichere, unerschütterliche empirische Grundlage des Wissens. Er bestreitet nicht die Existenz einer empirischen Grundlage, sondern er begreift diese Grundlage als eine fallible Basis - "die Basis schwankt" (Papper 1989, 76); vgl. dazu auch Krausz 1984, 398. 15 Ein theoretisches System besteht im wesentlichen aus der eigentlich auf dem Prüfstand stehenden, sogenannten erklärenden Theorie bzw. einem Teil ihrer Hypothesen sowie aus einer gewissen Anzahl von Hilfshypothesen. Hilfshypothesen sind theoretische Annahmen, die zur Prognosededuktion gebraucht werden, die aber nicht zur erklärenden Theorie gehören. Zu den Hilfshypothesen zählen auch die theoretischen Annahmen, die durch die Verwendung von Beobachtungs- und Meßinstrumenten in das geprüfte theoretische System eingehen. Daher spielt die These der Theoriegeladenheit der Beobachtung auch im Rahmen der Duhem-Quine-These eine wichtige Rolle. 2 Schofer

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A. Einleitung

der Prognosededuktion beteiligten Theorien oder Hypothesen - insbesondere nicht die erklärende Theorie oder eine ihrer Hypothesen -, sondern lediglich das ganze theoretische System als falsifIziert betrachtet werden, ohne daß die FalsifIkation einen Hinweis auf die konkrete Fehlerquelle liefert. Da aus dem Auftreten einer Anomalie nur geschlossen werden kann, daß mindestens ein Element des theoretischen Systems falsch ist, kann die erklärende Theorie trotz der Falsifikation logisch korrekt aufrecht erhalten werden, wenn durch die Modifikation der Hilfshypothesen des Systems die Anomalie beseitigt werden kann. 16 Der Antifundamentalismus begreift im Gegensatz zum Fundamentalismus die Bewertung des Wissens als einen Prozeß, in dem die Wissenschaftler immer wieder vor bestimmten Problemen stehen, die Entscheidungen erforderlich machen, die sich im Nachhinein als falsch erweisen können. Die beiden Probleme, welche Basissätze berechtigterweise anerkannt werden können, wenn sie bzw. die Beobachtungen theoriegeladen und fallibel sind (Basisproblem), und genau welches Element eines falsifIzierten theoretischen Systems als Fehlerquelle angesehen und verworfen oder modifIziert werden soll (Duhem-Quine-Problem), können in antifundamentalistischer Sicht nicht allein durch den Rekurs auf Logik und Erfahrung gelöst werden. Die mit diesen Problemen permanent konfrontierten Wissenschaftler müssen vielmehr Entscheidungen treffen, die für die Beurteilung der Akzeptabilität von Theorien unmittelbar relevant sind. Der Antifundamentalismus ist nicht zwingend mit bestimmten Annahmen darüber verknüpft, ob diese Entscheidungen von sozialen Faktoren beeinflußt sind oder nicht. 17 Während sich der Antifundamentalismus also sowohl mit

16 Die klassischen Formulierungen der Duhem-Quine-These finden sich in Duhem 1978, 238ff. und Quine 1961. 42ff. Zur Diskussion um diese These vgl. die Beiträge in Harding 1976; vgl. auch Brenner 1990; Goosens 1975; Quinn 1969. Die DuhemQuine-These impliziert, daß im Prinzip stets zwei oder mehr miteinander unverträgliche Theorien mit den gegebenen oder auch mit jeder Menge von möglichen Beobachtungsdaten vereinbar sind. Wenn die konkurrierenden und unverträglichen Theorien T und T' durch wiederholte Modifikationen ihrer Hilfshypothesen mit den empirischen Daten in Übereinstimmung gebracht werden können, so ist die rationale Akzeptierbarkeit aufgrund der Erfahrung für beide Theorien gewährleistet, und die Vorzüglichkeit von T gegenüber T' ist durch Logik und Erfahrung allein unterbestimmt (These der empirischen Unterbestimmtheit von Theorien). 17 Der Antifundamentalismus ist also nicht mit dem Relativismus gleichzusetzen. So kann die Duhem-Quine-These mit der zusätzlichen Annahme verbunden werden, daß soziale Faktoren die Fehlerzurechnung nach FalsifIkationen und somit die Bewertung von Theorien beeinflussen. Die Duhem-Quine-These läßt aber auch durchaus die Annahme zu, daß jene Entscheidungen nicht von sozialen, sondern von anderen Fakto-

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der absolutistischen als auch mit der relativistischen Position vereinbaren läßt, ist der Fundamentalismus eng mit dem Absolutismus verknüpft und kann nicht konsistent mit dem Relativismus verbunden werden. 18 Fundamentalismus und absolutistischer Antifundamentalismus sollten aber in Anbetracht ihrer markant unterschiedlichen Konzeptionen des epistemologischen Status von Theorien unterschiedlichen Formen des Absolutismus zugerechnet werden. Theorien erscheinen ja einmal als sicheres Wissen, da mittels privilegierten Zugriffs auf die Welt begründet, einmal als unsicheres Wissen, da eine derartige Begründung verworfen wird. Für eine angemessene Systematisierung der diversen absolutistischen, aber auch relativistischen Positionen in der Wissenschaftsphilosophie und der Wissenssoziologie ist es also erforderlich, genauer zwischen spezifischen Formen des Absolutismus und des Relativismus zu differenzieren. Im Folgenden wird eine Typologie vorgeschlagen, die zwei spezifische Formen des Absolutismus und des Relativismus unterscheidet. Die unspezifISchen Formen von Absolutismus und Relativismus unterscheiden sich, wie bereits bekannt, in ihren Antworten auf die Fragen, ob soziale Faktoren die konsensuelle Bewertung von Theorien - also das Urteil der Fachgemeinschaften über die Erfüllung der Bewertungsstandards für Theorien - beeinflussen, und ob akzeptable Theorien entsprechend unabhängig vom soziokulturellen Kontext ihrer Bewertung oder lediglich kontextgebunden akzeptabel sind. Die je spezifISchen Formen dieser allgemeinen Positionen lassen sich anhand ihrer jeweiligen Annahmen darüber bestimmen, ob und wie stark bestimmte andere Arten von Faktoren anstatt oder neben den sozialen Faktoren die Theorienbewertung beeinflussen, und welcher epistemologische Status akzeptablen Theorien entsprechend zugesprochen wird. Dabei sind drei Arten von Faktoren zu berücksichtigen, denen jeweils ein relevanter Einfluß zu- oder abgesprochen wird, und denen im positiven Fall ein gewisses Einflußgewicht ein mitbestimmender, ein maßgeblicher oder ein allein bestimmender Einfluß zuerkannt wird. 1) Die wissenschaftlichen Bewertungsstandards. Die Werte und Kriterien der Wissenschaft werden in der Wissenschaftsphilosophie sehr häufig als relevante Einflußfaktoren der Evaluation eingeschätzt. Es wird dann angenommen, daß das konsensuelle Urteil darüber, ob eine Theorie diesen Standards genügt, durch die Bedeutung oder den Sinn jener Standards maßgeblich fest-

ren, insbesondere von bestimmten wissenschaftlichen Kriterien, abhängen. Vgl. dazu auch Knorr-Cetina/Mulkay 1983a, 3f.; Laudan 1981, 1%. 18 Für eine einschränkende Qualifizierung bzgl. der Vereinbarkeit von Antifundamentalismus und Wahrheitsabsolutismus vgl. Kap. C.II.1.e). 2*

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gelegt oder zumindest mitbestimmt wird.l 9 Der Grad der empirischen Stützung von Theorien - er ergibt sich aus den Resultaten ihrer empirischen Prüfungen, und ersetzt das frühere, allzu optimistische Kriterium der VerifIkation - gilt dabei als besonders wichtiges Kriterium. Dieses Kriterium wird unterschiedlich konzipiert: So hängt der 'Bestätigungsgrad' im Sinne Camaps allein von Logik und experimenteller Erfahrung ab; dagegen ist die korrekte Ermittlung des 'Bewährungsgrades' im Sinne Poppers zusätzlich an die Einhaltung bestimmter Regeln und Kriterien gebunden. Während in älteren Ansätzen zum Teil die Auffassung vertreten wird, daß die Theorienbewertung lediglich am Kriterium der empirischen Stützung ausgerichtet ist, wird in jüngerer Zeit üblicherweise eine ganze Reihe von Kriterien als relevant angesehen. Neben der empirischen Stützung wird nun auch die Bedeutsamkeit der Einfachheit von Theorien, der Vermeidung von Ad-hoc-Hypothesen und anderer Kriterien betont.

2) Die Tatsachen der Welt. Auch die Beschaffenheit der subjektunabhängig gegebenen Tatsachen der Welt an sich wird häufIg als ein relevanter Einflußfaktor der Bewertung eingeschätzt. Die von der Welt ausgehenden Einflüsse gelten dann als zumindest mitbestimmende Ursachen der Höhe des Grades der empirischen Stützung, den eine Theorie vorweisen kann. 3) Soziale Faktoren. Ein relevanter Einfluß dieser Art von Faktoren wird von relativistischen Ansätzen behauptet. Es wird dann häufIg angenommen, daß der Einfluß dieser Faktoren auf zwei Ebenen zu lokalisieren ist: Zum einen wird die Beschaffenheit, zum anderen die Anwendung der Werte und Kriterien der Wissenschaft auf Faktoren des soziokulturellen Kontextes bezogen. 20 Im ersten Fall werden soziale Faktoren für die Bildung und Anerkennung jener Standards zumindest mitverantwortlich gemacht. Unsere Standards sind in dieser Sicht kontextabhängige Standards, während der Absolutismus an der Vorstellung kontextunabhängig geltender Standards festhält. Die These der 19 Die Standards gewinnen ihren Einfluß auf die Bewertung, genau genommen, dadurch, daß die Wissenschaftler sie als veroindlich betrachten und gemäß ihrer Vorstellungen über die Bedeutung oder den Sinn jener Standards das Wissen beurteilen. 20 Diese Annahme ist in relativistischen Ansätzen oft Teil der allgemeineren Annahme, daß soziale Faktoren die Beschaffenheit und Anwendung von Begriffen und Klassifikationssystemen bestimmen oder mitbestimmen. Die freilich großteils widerrufenen relativistischen Implikationen der Theorien von Durkheim und Mannheim ergeben sich in erster Linie aus der These der Seinsveroundenheit unserer begrifflichen Mittel zur Erfassung der Welt; vgl. Kap. B.I und Kap. B.II. Dagegen steht die Frage der Seinsveroundenheit speziell der wissenschaftlichen Bewertungsstandards - und hier wiederum v.a. die Frage des Einflusses sozialer Faktoren auf die Anwendung jener Standards - im Mittelpunkt der Diskussion um den Relativismus, die in der jüngeren Wissens soziologie und der modernen Wissenschaftsphilosophie geführt wird.

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Kontextgebundenheit der Beschaffenheit unserer Bewertungsstandards spielt in der relativistischen Argumentation der neueren Wissenssoziologie allerdings eine sehr deutlich nachgeordnete Rolle. 21 Im Mittelpunkt dieser Argumentation steht vielmehr die These des Einflusses sozialer Faktoren auf die Anwendung jener Standards. So wird häufig argumentiert, daß die Interpretation und Gewichtung der Werte und Kriterien bei ihrer Anwendung auf die zu bewertenden Theorien, und insbesondere die Einschätzung des Grades der empirischen Stützung von Theorien, auch oder allein von sozialen Faktoren abhängt. Die spezifischen Formen von Absolutismus und Relativismus sind nun durch ihre Annahmen darüber gekennzeichnet, ob - und wenn ja, in welchem Ausmaß - die einzelnen Arten von Faktoren einen epistemologisch relevanten Einfluß auf die Theorienbewertung nehmen, und genau welcher epistemologische Status gültigen Theorien entsprechend der spezifischen Konzeption des Bewertungsprozesses zukommt. Der extreme Absolutismus begreift die Tatsachen der Welt als die maßgebliche Instanz der Bewertung von Theorien. Es handelt sich hier um die fundamentalistische Variante des Absolutismus, nach der wir einen privilegierten Zugriff auf die Tatsachen der Welt annehmen dürfen und somit über eine sichere empirische Basis des Wissens verfügen. Der unmittelbare Kontakt mit den Tatsachen im Rahmen der empirischen Prüfung von Theorien fmdet seinen Niederschlag in der sicheren Verifikation oder Falsifikation von Theorien, oder in der Höhe ihres Grades der empirischen Stützung, der über ihre Annäherung an die absolute Wahrheit mit Gewißheit Aufschluß gibt. Die Bewertung erfolgt also anhand lediglich eines Kriteriums - entweder anhand der Verifikation oder des Grades der empirischen Stützung von Theorien -, dessen Ausprägung in dieser Sicht durch die sicheren Sätze der theoriefreien empirischen Basis und deren logische Beziehungen zu den Sätzen von Theorien bestimmt wird. Andere Kriterien oder soziale Faktoren spielen gemäß dieser Form des Absolutismus bei der Theorienbewertung keine Rolle. Der Konsens über die Gültigkeit einer Theorie hängt in der Sicht des extremen Absolutismus also ganz entscheidend davon ab, ob die Tatsachen selbst die Theorien verifizieren oder hochgradig empirisch stützen. Die Gültigkeit von Theorien wird entsprechend als absolute Wahrheit oder als sichere Annäherung an die absolute Wahrheit begriffen. Im letzteren Fall wird die Abfolge der Theorien

21 Sie wird in der vorliegenden Arbeit daher nur am Rande berührt. Die Diskussion um diese These wird v.a. im Rahmen der 'Rationalitäts-Debatte' ausgetragen. Einen guten Überblick über diese Debatte geben die Beiträge in HollislLukes 1982; KippenberglLuchesi 1978; Wilson 1970.

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in der Wissenschafts geschichte als ein stetiger und sicher aufweisbarer Fortschritt in Richtung der absoluten Wahrheit verstanden. 22 Der gemäßigte Absolutismus schreibt den Tatsachen der Welt und den wissenschaftlichen Bewertungsstandards einen jeweils mitbestimmenden Einfluß auf die Theorienbewertung zu. Es handelt sich um die antifundamentalistische Variante des Absolutismus, und entsprechend wird die Vorstellung verworfen, Theorien seien durch Logik und 'reine' Erfahrung sicher begründbar. Jene Vorstellung scheitert in der Sicht des gemäßigten Absolutismus bereits daran, daß die empirischen Basisdaten zwar auch, aber nicht nur von den Tatsachen selbst abhängen, da in die empirische Basis auch Theorien eingehen, die falsch sein können. Zudem wird hier die These der eindeutigen und sicheren logischen Rückführbarkeit der Gültigkeit oder Ungültigkeit von Theorien auf die anerkannten Basissätze abgelehnt. Die Wissenschaftler können sich bei der Ermittlung des Grades der empirischen Stützung einer Theorie also nicht auf ein unbezweifelbares Fundament und den Zwang logischer Schlüsse berufen, sondern sie sind dabei mit dem Basisproblem und dem Duhem-Quine-Problem konfrontiert. Sie müssen daher entscheiden, welche Basissätze anerkannt werden können, obwohl sie möglicherweise falsch sind; und sie müssen entscheiden, welches Element eines falsifizierten theoretischen Systems als falsch betrachtet werden kann, obwohl die Falsifikation des Systems nicht den logischen Schluß auf die Falschheit eines bestimmten Elements des Systems erlaubt. In der Sicht des gemäßigten Absolutismus richten sich die Wissenschaftler in diesen Entscheidungssituationen oder bei der bilanzierenden Bewertung von Theorien oder in beiden Fällen nach anderen Kriterien. So werden etwa Versuche, die Absenkung des Grades der empirischen Stützung einer Theorie nach Falsifikationen durch die Einführung von Ad-hoc-Hypothesen zu umgehen, durch das Kriterium der Vermeidung dieser Hypothesen entweder vereitelt oder bei der rückblickenden Bewertung der Theorie durch Punktabzug in dieser Bewertungsdimension bestraft. 23 Da hier angenommen wird, daß sol22 Wenn die Vorstellung vertreten wird, daß Theorien verifiziert werden können, wird verifizierten Theorien eine von Zeit und Ort ihrer Bewertung ganz unabhängige Wahrheit zugeschrieben. Wird lediglich die Möglichkeit ihrer sicheren empirischen Stützung postuliert, so wird gültigen Theorien kontextunabhängige Gültigkeit zuerkannt, so lange keine besser gestützte konkurrierende Theorie vorliegt. Diese Einschränkung des Gültigkeitsbereiches mag eine weitere Differenzierung innerhalb des extremen Absolutismus rechtfertigen, für die Zwecke dieser Arbeit erscheint sie jedoch nicht notwendig. 23 Die Wissenschaftsphilosophie in der Tradition Poppers unterscheidet sich von anderen wissenschaftstheoretischen Richtungen dadurch, daß hier normative Regeln und Kriterien für das methodologisch korrekte Verfahren der Entscheidungsfindung angesichts des Basisproblems und des Duhem-Quine-Problems angegeben werden, deren völlige Durchsetzung in der Wissenschaft sicherstellen soll, daß diese Entscheidungen

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che Kriterien die Evaluation eindeutig anleiten, wird ein Einfluß sozialer Faktoren auf die Bewertung ausgeschlossen bzw. nur für die Ausnahmefälle konzediert, in denen die Kriterien nicht beachtet werden und die Bewertungen somit nichtig sind. Der epistemologische Status gültiger Theorien wird entsprechend dieser Konzeption des Bewertungsprozesses anders eingeschätzt als im extremen Absolutismus. Es wird zwar an der Vorstellung der absoluten Wahrheit festgehalten, aber die Vorstellung der sicheren Feststellung sowohl der absoluten Wahrheit als auch der Annäherung an jene Wahrheit wird verworfen. Die Annahme der Akzeptabilität einer Theorie wird hier als eine fallible, nicht sichere Vermutung über ihre Annäherung an die absolute Wahrheit begriffen. Eine akzeptable Theorie ist also kontextunabhängig akzeptabel, solange keine vorzügliche Theorie vorliegt; aber sie ist akzeptabel unter dem Vorbehalt, daß im Rahmen ihrer Bewertung falsche Entscheidungen getroffen worden sein können. Daher wird auch die historische Abfolge von Theorien als ein Fortschritt in Richtung der absoluten Wahrheit verstanden, der nicht mit Gewißheit als Fortschritt erkannt werden kann. Der gemäßigte Relativismus versteht das konsensuelle Urteil über die Akzeptabilität von Theorien als Produkt der Einflüsse der Tatsachen der Welt, der Bewertungsstandards und der sozialen Faktoren, wobei allen drei Arten von Faktoren ein mitbestimmender Einfluß auf die Bewertung zugesprochen wird. Diese Position ist ebenfalls antifundamentalistisch und betont somit die Entscheidungen der Fachgemeinschaften im Rahmen der Ermittlung des Grades der empirischen Stützung von Theorien. Entgegen dem gemäßigten Absolutismus wird hier allerdings angenommen, daß diese Entscheidungen bzw. die bilanzierenden Bewertungen durch die dabei verwandten Kriterien nicht eindeutig bestimmt sein können. Diese These der Unterbestimmtheit der Bewertung von Wissensansprüchen durch die dabei in Anspruch genommenen Kriterien wird häufig mit dem Argument begründet, daß in begrenztem Umfang unterschiedliche rationale Interpretationen und Gewichtungen der Kriterien möglich sind. Die Anwendung der Kriterien erfordert demnach ein, möglicherweise implizit getroffenes, konsensuelles Urteil über ihre korrekte Interpretation und Gewichtung, das durch die Bedeutung oder den Sinn der Kriterien nicht eindeutig festgelegt ist. Die These der Unterbestimmtheit läßt zunächst einmal die Annahme zu, daß soziale Faktoren die Theorienbewertung - insbesondere das Urteil über die korrekte Interpretation und Gewichtung der kraft jener Regeln und Kriterien eindeutig bestimmt sind. Popper und seine Nachfolger betonen dabei zum Teil den normativen Anspruch, sie nehmen aber auch an, daß das tatsächliche Vorgehen der Wissenschaftler bereits weitgehend jenen Regeln und Kriterien entspricht. Es läßt sich daher mit Ströker (1976, 16) feststellen, daß der Kritische Rationalismus "analytisch-deskriptive Kompetenz ebenso beansprucht wie methodologische Normierung der Wissenschaft. "

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Bewertungskriterien - beeinflussen können, genauer gesagt, mitbestimmen können. 24 Der gemäßigte Relativist nimmt an, daß soziale Faktoren die konsensuelle Bewertung von Theorien mitbestimmen können und in der Wissenschaftspraxis auch tatsächlich mitbestimmen. Der Einfluß sozialer Faktoren wird dabei durch die beiden anderen relevanten Einflußgrößen begrenzt; die Wissenschaftler können also nicht jede beliebige Anwendung der Kriterien durchsetzen. Der epistemologische Status gültigen Wissens wird entsprechend dieser Konzeption des Bewertungsprozesses als kontextgebundene Akzeptabilität begriffen: Wissenschaftliche Theorien sind kein absolut wahres oder zumindest sicheres Wissen; sie sind auch nicht, obschon fallibel, kontextunabhängig akzeptabel; sondern sie sind fallibel und rational akzeptabel für die Mitglieder unserer Kultur. 25 Der extreme Relativismus ist dadurch gekennzeichnet, daß er den wissenschaftlichen Bewertungsstandards einen relevanten Einfluß auf die Theorienbewertung abspricht und ihr - in dieser Sicht nur vermeintliches - Einflußgewicht den sozialen Faktoren zurechnet. Manche Vertreter dieser antifundamentalistischen Position sprechen zudem den Tatsachen der Welt jeglichen Einfluß ab, so daß dann ein vollständiger Relativismus der Beliebigkeit vorliegt. Im Unterschied zur moderaten Form des Relativismus wird hier davon ausgegangen, daß die wissenschaftlichen Kriterien die Entscheidungen der Fachgemeinschaften im Rahmen der Ermittlung des Grades der empirischen Stützung von Theorien bzw. die bilanzierenden Bewertungen von Theorien nicht unter-, sondern unbestimmt lassen. Die These der Unbestimmtheit der Bewertung durch die Kriterien wird häufig mit dem Argument begründet, daß die Kriterien jede beliebige Interpretation und Gewichtung erlauben. Die These der Unbestimmtheit läßt zunächst einmal die Annahme zu, daß soziale Faktoren die Theorienbewertung - insbesondere das Urteil über die korrekte Interpretation und Gewichtung der Kriterien - bestimmen können. Der extreme Relativist bejaht diese Vorannahme und nimmt zusätzlich an, die konsensuelle Bewertung von Theorien sei auch tatsächlich durch soziale Faktoren, nicht 24 Es handelt sich hier, mit anderen Worten, um die Annahme der Möglichkeit des gemäßigten Relativismus. Diese Annahme bildet eine spezifische Form des zweiten wissenschaftsphilosophischen Ausgangspunktes der neueren Wissenssoziologie. Die unspezifische Form und die beiden spezifischen Formen dieses Ausgangspunktes werden im Anschluß an die Vorstellung der Relativismustypen genauer erläutert. 25 Die Vorstellung der absoluten Wahrheit von Theorien insbesondere im traditionellen korrespondenztheoretischen Sinne wird hier verworfen. Der wissenschaftliche Fortschritt läßt sich demnach auch nicht als eine Entwicklung begreifen, die die Theorien immer näher an die absolute Wahrheit heranführt. Ein Vertreter des gemäßigten Relativismus muß, wenn er Wissensanspruchen Wahrheit zusprechen möchte, einen relativistischen Begriff der Wahrheit gebrauchen. Gelegentlich wird ein solcher Begriff benutzt, zumeist aber ohne klare Abgrenzung vom Begriff der relativen Akzeptabilität.

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aber durch die Bewertungskriterien bestimmt. 26 Der Konsens darüber, ob eine Theorie den wissenschaftlichen Werten genügt und somit gute Gründe für ihre Anerkennung vorliegen, hängt in dieser Sicht also nicht von kriteriengeleiteten und insofern rationalen Erwägungen ab, sondern vielmehr von sozialen Faktoren wie etwa den Machtverhältnissen in der Fachgemeinschaft. Die Werte und Kriterien werden hier lediglich als Mittel betrachtet, mit denen die Wissenschaftler den Einfluß sozialer Faktoren verschleiern möchten, nicht als epistemologisch relevante Faktoren. Im Lichte der so verstandenen Bewertungsstandards erscheinen alle Theorien als gleichwertig; denn einer jeden Theorie kann ja nach Belieben - etwa durch die geeignete Interpretation eines Wertes - ein Wert zuerkannt werden. Diese Position hat zur Konsequenz, daß Theorien letztlich nicht mit guten Gründen anerkannt werden können oder mit dem Anspruch auf gute Gründe um eine breitere Anerkennung werben können. Wenn die Werte für die Bewertung unerheblich sind, dann ist auch die Bezugnahme auf die Werte bei der Behauptung des Vorliegens guter Gründe unerheblich und 'wertlos', und muß als bloßer Ausdruck dahinter stehender sozialer Faktoren verstanden werden. Der epistemologische Status gültigen Wissens wird entsprechend als kontextgebundene Akzeptabilität begriffen, wobei hier - im Unterschied zum gemäßigten Relativismus - nicht von rationaler, sondern von irrationaler, nicht kriteriengeleiteter Akzeptabilität bzw. vom Relativismus der Beliebigkeit des Wissens gesprochen werden muß. Kritiker des Relativismus betrachten diese Position nicht selten als die einzig relevante Form des Relativismus, und legen so den Eindruck nahe, der Relativismus könne mit der Haltung des anything goes gleichgesetzt werden.27 Die begrifflichen Klärungen lassen sich mit einem Blick auf die wissenschaftsphilosophischen Ausgangspunkte der neueren Wissenssoziologie abschließen, wobei größtenteils auf frühere Bemerkungen verwiesen bzw. zurückgegriffen werden kann. Der erste der beiden Ausgangspunkte, der Antifundamentalismus, wurde bereits genauer vorgestellt. Er bildet die Voraus26 Wenn im Rahmen dieses Relativismus den Tatsachen der Welt ein gewisser Einfluß auf den Grad der empirischen Stützung von Theorien zugesprochen wird, so begrenzt dies den sonst allein bestimmenden Einfluß der sozialen Faktoren. Der begrenzende Einfluß der Tatsachen der Welt fällt hier aber letztlich wohl kaum ins Gewicht, da in der Sicht des extremen Relativismus die anderen Kriterien ganz im Dienste sozialer Faktoren angewandt werden, und soziale Faktoren somit gerade auch die Entscheidungen im Rahmen der Ermittlung des Grades der empirischen Stützung von Theorien ganz maßgeblich beeinflussen. 27 Die einzelnen Formen von Absolutismus und Relativismus sollen hier zunächst vorgestellt, nicht kommentiert werden. Es ist freilich offenkundig, daß die extreme Form des Relativismus als eine sehr problematische Position einzuschätzen ist. Eine Erörterung der Probleme, die die Einnahme dieser Position für die neuere Wissenssoziologie mit sich bringt, erfolgt in Kap. D.

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setzung des zweiten Ausgangspunktes, d.h. der Annahme der Möglichkeit der relativistischen Interpretation des wissenschaftlichen, insbesondere des naturwissenschaftlichen Wissens, kurz: der Annahme der Möglichkeit des Relativismus. Diese zweite philosophische Vorannahme wird im Folgenden etwas näher erläutert. Der zweite wissenschaftsphilosophische Ausgangspunkt der neueren Wissenssoziologie tritt in einer unspezifischen und zwei spezifischen Formen auf, wobei die letzteren als Vorannahmen in die jeweils zugehörigen spezifischen Formen des Relativismus eingehen. In unspezifischer Form wird angenommen, daß soziale Faktoren die Theorienbewertung beeinflussen können und daß entsprechend eine relativistische Interpretation des wissenschaftlichen Wissens möglich ist. Die beiden spezifischen Formen unterscheiden sich primär darin, welches mögliche Einflußgewicht den sozialen Faktoren bei der Theorienbewertung jeweils zugesprochen wird. 28 Die erste spezifische Form ist die Annahme der Möglichkeit des gemäßigten Relativismus. Hier wird den sozialen Faktoren - auf der Grundlage der These der Unterbestimmtheit der Bewertung von Wissensanspriichen durch die Bewertungskriterien - ein möglicher mitbestimmender Einfluß zuerkannt. Die zweite spezifische Form ist die Annahme der Möglichkeit des extremen Relativismus. Hier wird damit gerechnet, daß soziale Faktoren die Bewertung allein bestimmen können; die Grundlage ist hier die These der Unbestimmtheit der Bewertung von Wissensanspriichen durch die Bewertungskriterien. Nach diesen begrifflichen Klärungen kann nun die Erörterung der Beziehung von Wissenschaftsphilosophie und neuerer Wissenssoziologie fortgeführt werden. Jene Beziehung ist, wie bereits festgestellt, für die neuere Wissenssoziologie von besonderer Bedeutung. 29 Die Einschätzung sowohl des Forschungsprogramms der neueren Wissenssoziologie als auch des Relativismusproblems hängt entscheidend davon ab, wie die Plausibilität der wissenschaftsphilosophischen Ausgangspunkte der neueren Wissenssoziologie aus wissenschaftsphilosophischer Sicht zu beurteilen ist. Dieses Urteil fällt in zwei zentralen Theorietraditionen der modemen Wissenschaftsphilosophie negativ aus. 30 Der Logische Empirismus unter der Führung Camaps vertritt in der Zeit seiner nahezu unangefochtenen Vorherrschaft im wissenschaftstheoretischen Diskurs den Fundamentalismus und richtet sich 28 Das Folgende greift, leicht verkürzt, auf die entsprechenden Passagen bei der Erläuterung der beiden Formen des Relativismus zurück. 29 Vgl. oben, S. 13f. 30 So jedenfalls das Urteil der Vertreter der beiden Richtungen. Es läßt sich aber die Frage stellen, wie stichhaltig die Annahmen und Argumente sind, die für diese negative Einschätzung angeführt werden; auf diese Frage wird im folgenden näher eingegangen.

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damit gegen den ersten Ausgangspunkt der neueren Wissenssoziologie und gegen jegliche Soziologie des wissenschaftlichen Wissens. Der Falsiftkationismus Poppers und Lakatos' ist zwar konsequent antifundamentalistisch, als gemäßigter Absolutismus richtet er sich aber gegen die Annahme der Möglichkeit des Relativismus, d.h. gegen den zweiten Ausgangspunkt der neueren Wissenssoziologie. Für beide Theorietraditionen ist das Unterfangen einer soziologischen Analyse des wissenschaftlichen Wissens also vom Grundansatz her verfehlt: Wenn die Tatsachen selbst bzw. die Tatsachen und die wissenschaftlichen Bewertungsstandards die Theorienbewertung allein bestimmen, dann können soziale Faktoren darauf keinen relevanten Einfluß ausüben, und eine relativistische Interpretation des wissenschaftlichen Wissens ist ausgeschlossen. Das Programm der neueren Wissenssoziologie und das Relativismusproblem beruhen demnach auf falschen philosophischen Vorannahmen. Diese Diagnose gewichtiger wissenschaftstheoretischer Richtungen blockierte die Ausbildung einer relativistischen Soziologie des wissenschaftlichen Wissens für längere Zeit. So akzeptiert die Wissenschaftssoziologie Mertonscher Prägung die absolutistischen Vorgaben der Wissenschaftsphilosophie und klammert das gültige wissenschaftliche Wissen entsprechend von der soziologischen Analyse aus. 31 Eine positive Beurteilung der wissenschaftsphilosophischen Ausgangspunkte der neueren Wissenssoziologie gibt dagegen die postempiristische Wissenschaftsphilosophie, insbesondere die Theorie Kuhns. Der in den sechziger Jahren erstarkende Postempirismus stimuliert damit nachdrücklich die Ausbildung der neueren Wissenssoziologie. Er regt die neuere Wissens soziologie in erster Linie dadurch an, daß er die absolutistischen Annahmen der beiden bis dahin allein dominierenden wissenschaftsphilosophischen Strömungen einer massiven Kritik unterzieht und Argumente für die Möglichkeit eines epistemologisch relevanten Einflusses sozialer Faktoren auf das wissenschaftliche Wissen liefert. So legt die Theorie Kuhns nahe, daß wissenssoziologisch analysierbare Faktoren an verschiedenen Punkten die Bildung und Bewertung von Theorien beeinflussen können. Die Bedeutung Kuhns für die neuere Wissens soziologie beruht also weniger auf seinen eher kursorischen Bemerkungen über den tatsächlichen Einfluß sozialer Faktoren in der Wissenschaft - er thematisiert in seinen Studien die Rolle sozialer Faktoren eher am Rande und hält sich hier entsprechend zurück -, sondern vielmehr darauf, daß sein in antifundamentalistischer Perspektive gehaltenes 'neues Bild der Wissenschaft' (Kuhn) soziale Faktoren als mögliche Einflußgrößen berücksichtigt, deren tatsächlicher Einfluß dann wissenssoziologisch zu untersuchen ist. 32 Er stellt, mit anderen 31 Vgl. Kap. B.III.

32 Die postempiristische Wissenschaftsphilosophie kann also gewichtige Argumente für den Antifundamentalismus und die Annahme liefern, daß soziale Faktoren die Be-

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Worten, die wissenschaftsphilosophischen Ausgangspunkte der neueren Wissenssoziologie bereit. Die bisher skizzierte Auffassung der Beziehung der dominanten wissenschaftsphilosophischen Strömungen zur neueren Wissenssoziologie orientiert sich weitgehend am Selbstverständnis der einzelnen Parteien und geht kaum über die übliche Einschätzung dieser Beziehung hinaus. Diese Auffassung bedarf m.E. aber einer gewissen QualifIkation hinsichtlich der negativen Beurteilung der philosophischen Vorannahmen der neueren Wissenssoziologie durch den Logischen Empirismus und den Falsiftkationismus. Es ist zwar richtig, daß die Vertreter dieser Richtungen den Nachweis beabsichtigen, daß die Tatsachen der Welt oder die Tatsachen und die Bewertungsstandards die Theorienbewertung allein bestimmen, und soziale Faktoren daher keine epistemologisch relevante Rolle spielen können. Es läßt sich allerdings die Frage stellen, ob ihnen dieser Nachweis gelingt. Meine erste Hauptthese lautet, daß eine eingehende Untersuchung der zentralen Strömungen der modemen Wissenschaftsphilosophie zeigen kann, daß eine positive Beurteilung der wissenschaftsphilosophischen Ausgangspunkte der neueren Wissenssoziologie nicht nur explizit vom Postempirismus Kuhns, sondern auch implizit vom Logischen Empirismus und vom Falsiftkationismus nahegelegt wird, da in beiden Ansätzen - entgegen den Intentionen ihrer Vertreter - ein relevanter Einfluß sozialer Faktoren auf die Theorienbewertung nicht ausgeschlossen werden kann. Diese Untersuchung versucht zu zeigen, wie sich der Logische Empirismus von seiner anfangs strikt fundamentalistischen Position fortentwickelt und in seinem späteren antifundamentalistischen Stadium die Möglichkeit des Einflusses sozialer Faktoren auf die Bewertung des Wissens konzedieren muß; und sie versucht zu zeigen. daß es auch dem Falsiftkationismus nicht gelingt, Argumente für eine vollständige Inhibierung der Einflußchancen sozialer Faktoren vorzulegen. 33 Die neuere Wissens soziologie kann sich also zur Plausibilisierung ihrer wissenschaftsphilosophiwertung des wissenschaftlichen Wissens beeinflussen können, jenes Wissen also relativistisch interpretierbar ist. Die Frage, ob soziale Kontextfaktoren das Wissen tatsächlich beeinflussen und wie überzeugend somit die relativistische Interpretation des Wissens ist, muß im Lichte der Ergebnisse wissenssoziologischer Studien beantwortet werden, die sich auf die empirische Untersuchung dieser Faktoren konzentrieren. 33 Vgl. Kap. C.I und Kap. C.II. Die Untersuchung diskutiert und kritisiert dabei die genannten Ansätze im Rahmen ihrer eigenen Annahmen und Vorgaben; die Kritik stützt sich also nicht auf Argumente, die mit den jeweiligen Ansätzen nicht vereinbar sind. Wenn plausibel gemacht werden kann, daß der im Rahmen absolutistischer Ansätze intendierte Nachweis der Irrelevanz sozialer Faktoren für die Bildung und Bewertung des Wissens scheitert, sind jene Ansätze natürlich nicht einfach hinfällig, sie gestatten dann aber die Annahme der Möglichkeit des Relativismus.

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schen Ausgangspunkte nicht nur auf den Postempirismus vor allem Kuhns beziehen, sondern auch auf kritisch rezipierte wissenschaftstheoretische Traditionen, die nach der Intention ihrer Vertreter gegen die relativistische Wissenssoziologie gerichtet sind, und sie ist auch mit diesen Theorietraditionen letztlich vereinbar. Diese Annahme wird in einigen wenigen Studien angedeutet, sie wurde bislang aber nicht genauer argumentativ verteidigt. 34 Die Untersuchung soll zudem zeigen, daß die hier behandelten Ansätze die Plausibilität einer spezifIschen Form des zweiten wissenschaftsphilosophischen Ausgangspunktes der neueren Wissenssoziologie nahelegen: Sie legen die Möglichkeit des gemäßigten, nicht aber des extremen Relativismus nahe. Die Untersuchung liefert mit den Argumenten für die Plausibilität der philosophischen Vorannahmen der neueren Wissenssoziologie auch Argumente für die Relevanz des Relativismusproblems. Da die Wissenschaftsphilosophie die Möglichkeit des Relativismus gestattet, läßt sich das Relativismusproblem - also das Problem des epistemologischen Status der Wissensansprüche der relativistischen Wissens soziologie - nicht einfach mit absolutistischen Argumenten als Scheinproblem zurückweisen. Die neuere Wissens soziologie muß sich will sie dem Verdacht entgehen, vor den Konsequenzen ihrer eigenen Annahmen zurückzuscheuen - offensiv mit diesem Problem auseinandersetzen und versuchen, befriedigende Lösungsvorschläge zu entwickeln. Meine zweite Hauptthese lautet, daß sich mit Hilfe der Untersuchung der wissenschaftsphilosophischen Ausgangspunkte der neueren Wissenssoziologie zwei Kriterien gewinnen lassen, die befriedigende Lösungsansätze des Relativismusproblems erfüllen müssen. Danach müssen die Vertreter der neueren Wissenssoziologie zunächst ihre antifundamentalistische und relativistische Grundhaltung auch reflexiv auf ihre eigenen Wissensansprüche beziehen (Kriterium der Reflexivität). Die konsequente reflexive Relativierung der wis34 Meist wird der philosophische Hintergrund der neueren Wissenssoziologie lediglich im. Postempirismus verortet; vgl. v.a. die einflußreiche Studie von Mulkay 1979; vgl. auch Ashmore 1989, 5f.; Heintz 1993,533 mit Fn. 11; Knorr-CetituJ 1984, 17ff.; Stehr/Meja 1982, 911f. Die Stellungnahme der neueren Wissenssoziologie zu Popper ist oft unbefriedigend verkürzt; vgl. etwa Barnes 1977,92 (Fn. 25) und B/oor 1991a, 159. Mulkay und Gilbert verzichten auf eine eingehende Auseinandersetzung mit den methodologischen Regeln Poppers und thematisieren nur den allgemeinen Gedanken der Interpretationsbedürftigkeit und unterschiedlichen Interpretierbarkeit von Regeln bei ihrer konkreten Anwendung am Fall der Regeln Poppers; vgl. Mu/kay/Gilbert 1991a. Die zentrale Bedeutung der These der Theoriegeladenheit und der DuhemQuine-These, also des Antifundamentalismus, für die neuere Wissens soziologie wird vielfach unterstrichen; vgl. z.B. Felt/NowotnyfIaschwer 1995, 123; Heintz 1993, 534f.; Knorr-CetituJ/Mulkay 1983a, 3ff.; Richards 1987, 205f. Anhaltspunkte für die Kompatibilität von traditioneller Wissenschafts philosophie und neuerer Wissenssoziologie geben Freudentha/1980; Lenk 1986, 70ff.; Woolgar 1988a, 16ff.

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sens soziologischen Wissensansprüche ist erforderlich, da nur solche Lösungsansätze als befriedigend eingeschätzt werden können, die sich mit dem Grundansatz der eigenen Forschung und den dabei in Anspruch genommenen philosophischen Vorannahmen vereinbaren lassen. Die Vertreter der neueren Wissenssoziologie gehen von der Annahme der Möglichkeit der relativistischen Interpretation des gesamten wissenschaftlichen Wissens aus. Sie verwerfen also den Fundamentalismus und den Absolutismus und begreifen den von ihnen beabsichtigten Nachweis der tatsächlichen Seinsverbundenheit insbesondere des Wissens der 'harten' Naturwissenschaften als Nachweis der Seinsverbundenheit des gesamten wissenschaftlichen Wissens und letztlich allen Wissens, d.h. als entscheidendes Argument für den allgemeinen Relativismus. 35 Wenn sie nun im Rahmen des allgemeinen Relativismus für ihre eigenen Theorien eine privilegierte absolute Sondergültigkeit - eventuell mit fundamentalistischen Argumenten - reklamieren, so verstricken sie sich in den relativistischen Selbstwiderspruch: Sie widersprechen dann ihren eigenen Annahmen über den möglichen und faktischen epistemologischen Status wissenschaftlichen Wissens, also auch ihrer eigenen Wissensansprüche. Um der Gefahr des relativistischen Selbstwiderspruchs zu entgehen, muß die neuere Wissenssoziologie auch ihre eigenen Wissensansprüche konsequent antifundamentalistisch und relativistisch interpretieren. 36 Dies allein reicht für eine befriedigende Lösung des Relativismusproblems allerdings noch nicht aus. Nach dem zweiten Kriterium müssen sich die Vertreter der neueren Wissenssoziologie gerade auch hinsichtlich ihrer eigenen Wissensansprüche klar vom extremen Relativismus abgrenzen und zum gemäßigten Relativismus bekennen (Kriterium des gemäßigten Relativismus). Die Distanzierung vom extremen Relativismus ist zum einen darum erforderlich, weil die Untersuchung der Wissenschaftsphilosophie die Annahme nahelegt, daß soziale Faktoren lediglich einen mitbestimmenden Einfluß auf die Theorienbewertung ausüben können. Die Annahme der Möglichkeit des gemäßigten, nicht aber des extremen Relativismus ist also eine plausible, in breiten Strömungen der Wissenschaftstheorie verankerte philosophische Vorannahme der neueren Wissenssoziologie. Eine extrem relativistische Wissenssoziologie beruht entsprechend auf einem unplausiblen wissenschaftsphilosophischen Ausgangspunkt, dessen Unplausibilität extrem relativistische Ansätze der Disziplin nachhaltig diskreditiert. Die Abgrenzung vom extremen Relativismus ist zum anderen erforderlich, weil diese Form des Relativismus bei ihrer reflexiven Anwendung auf die Wissensansprüche der Wissenssoziologie zu autodestruktiven Konsequenzen führt. Jene Wissensansprüche erscheinen dann, wie alle Wissensansprüche, als 35 Vgl. unten. S. 191. 36 Die Begriindung dieses sowie des zweiten Kriteriums ist hier verkürzt dargelegt. Eine ausführliche Begrundung der Kriterien findet sich in Kap. D.

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beliebig, und es können keine guten Gründe für ihre Anerkennung reklamiert werden. Die Untersuchung der modemen Wissenschaftsphilosophie kann zeigen, daß die neuere Wissenssoziologie nicht auf diese problematische Form des Relativismus festgelegt ist, da sie sich hinsichtlich ihrer philosophischen Vorannahmen nicht auf Ansätze der Wissenschaftsphilosophie stützen muß, die die Möglichkeit des extremen Relativismus verteidigen und die Beliebigkeit des Wissens propagieren. Die neuere Wissens soziologie kann und sollte vielmehr im Einklang mit den dominierenden Richtungen der modernen Wissenschaftsphilosophie gerade auch ihre eigenen Wissensansprüche im Sinne des gemäßigten Relativismus interpretieren. Eine Untersuchung des Relativismusproblems in der neueren Wissenssoziologie kann nicht ganz davon absehen, die Behandlung dieses Problems in früheren Phasen der Disziplin zu thematisieren. Auch die älteren wissenssoziologischen Theorien sind wegen der möglichen erkenntnistheoretischen Implikationen der Disziplin zu einer Stellungnahme in der Relativismusdebatte gezwungen, und möglicherweise werden hier ja bereits Lösungsansätze formuliert, die von den neueren Theorien übernommen oder weitergeführt werden könnten. Im folgenden Kapitel werden die Theorien von Durkheim (Kap. B.I) und Mannheim (Kap. B.ll) aus der Gründungsphase der Disziplin sowie die in der zweiten Entwicklungsphase der Disziplin dominierende Wissenschaftssoziologie Mertons (Kap. B.llI) unter dem Gesichtspunkt ihrer Haltung zum Relativismusproblem betrachtet. 37 Dabei wird deutlich, daß die neueren Theorien bei der Lösung des Relativismusproblems nicht an ihre Vorgänger anknüpfen können, da die älteren Theorien in ihrer Stellungnahme zum Relativismus noch deutlich vom Fundamentalismus geprägt sind. Sie verwenden fundamentalistische Argumentationsmuster sowohl zur Ausklammerung des naturwissenschaftlichen Wissens vom Bereich des seinsverbundenen Wissens als auch bei der Auseinandersetzung mit dem Relativismusproblem, das entweder als Scheinproblem disqualifiziert wird oder zwar als Problem anerkannt, aber fundamentalistisch zu lösen versucht wird. Die Erosion der Überzeugungskraft des fundamentalistischen und zum Teil auch des absolutistischen Denkens in der Wissenschaftsphilosophie führt hinsichtlich der Fragen des Gegenstandsbereichs und der Haltung zum Relativismusproblem zu einer neuen WeichensteIlung für die Wissenssoziologie. In Kapitel C werden der Logische Empirismus (Kap. C.I), der Falsiftkationismus Poppers und Lakatos' (Kap. C.II) und die Theorie Kuhns (Kap. C.llI) untersucht. Diese Untersuchung soll aufweisen, daß und inwiefern die dominierenden Strömungen in 37 Diese Theorien haben die Entwicklung der Wissenssoziologie maßgeblich geprägt; bei ihrer Auswahl wurde auch berücksichtigt, daß sich an ihnen Umgehensweisen mit dem Relativismusproblem exemplifizieren lassen, die für die Geschichte der Disziplin charakteristisch sind.

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A. Einleitung

der Wissenschaftsphilosophie das Programm einer relativistischen Soziologie des wissenschaftlichen Wissens zunächst blockieren, später aber stimulieren können, indem sie - intendiert oder nicht intendiert - die antifundamentalistische und relativistische Interpretation des wissenschaftlichen Wissens erlauben, d.h. die wissenschaftsphilosophischen Ausgangspunkte der neueren Wissenssoziologie bereitstellen. Auf der Grundlage dieser Untersuchung wird dafür argumentiert. daß befriedigende Lösungsansätze des Relativismusproblems in der neueren Wissenssoziologie die Kriterien der Reflexivität und des gemäßigten Relativismus erfüllen müssen (Kap. D). Diese Kriterien werden anschließend am Fall einer der meistdiskutierten Theorien der neueren Wissenssoziologie. dem Strong Programme, exemplarisch angewandt. Die eingehende Vorstellung und Diskussion des Strong Programme verfolgt zudem zwei weitere Ziele. Zum einen soll deutlich werden, wie die philosophischen Vorannahmen der neueren Wissenssoziologie hier aufgegriffen und in die wissenssoziologische Theorie integriert werden; zum anderen sollen in Auseinandersetzung mit dem Relativismus des Strong Programme weitere Argumente gegen den extremen Relativismus gewonnen werden (Kap. E).

B. Das Relativismusproblem in der älteren Wissenssoziologie I. Die Wissenssoziologie Durkheims In Emile Durkheims Soziologie gewinnt der wissenssoziologische Grundgedanke der 'Seinsverbundenheit des Wissens' die Gestalt einer Theorie der sozialen Konstitution der Begriffssysteme und insbesondere der grundlegenden Kategorien der Erkenntnis. Durkheim entwickelt in dem mit Mauss verfaßten Aufsatz Über einige Fonnen primitiver Klassifikation (1903) und vor allem im späten, religions- und wissens soziologischen Hauptwerk Die elementaren Fonnen des religiösen Lebens (1912) auf der Grundlage ethnologischer Studien seine Theorie, nach der nicht nur die Inhalte, sondern auch die Formen des Erkennens sozial konstituiert sind.} Kognitive Klassifikationssysteme einschließlich epistemischer Grundkategorien wie Raum, Zeit und Kausalität werden als funktionale 'kollektive Vorstellungen' sozialen Ursprungs angesehen, deren jeweilige Beschaffenheit auf die soziale Struktur und Organisation zurückgeführt werden kann. "Wenn aber die Kategorien ( ... ), so wie wir glauben, wesentlich Kollektivvorstellungen sind, dann drücken sie vor allem Kollektivzustände aus: Sie hängen von der Art ab, wie diese Kollektivität zusammengesetzt und organisiert ist, von ihrer Morphologie, von ihren religiösen, moralischen, wirtschaftlichen usw. Einrichtungen."2 Zwischen sozialer und logischer Organisation wird dabei nicht nur eine strukturelle Ähnlichkeit bzw. Isomorphie, sondern auch eine Kausalbeziehung angenommen. Dieser theoretische Leitgedanke - die kausale Erklärbarkeit der Entstehung von Kategorien durch die Reproduktion der sozialen Morphologie, die sich in den schon immer in bestimmter Weise ausgeprägten Kategorien ausdrückt -läßt sich Durkheim zufolge beispielhaft an bestimmten einfachen Gesellschaften belegen, "in denen man sich den Raum unter der Form eines ungeheuren Kreises vorstellt, } Vgl. Durkheim 1981; Durkheim/Mauss 1987. Zur Kritik an den zeitgenössischen ethnologischen Studien und Durkheims Verwendung dieses Belegmaterials vgl. Lukes 1985, 445ff.; ebd., 477ff.; Worsley 1956, 52ff. 2 Durkheim 1981, 36. Durkheim gebraucht den Begriff der Kategorie nicht genau im Sinne Kants; vgl. Durkheim 1981, 27 (Fn. 4); Gieryn 1982, 127 (Fn. 41); vgl. auch dieses Kapitel, Fn. 5. Zur Kritik der zirkelhaften Erklärung der Kategorien bei Durkheim vgl. Lukes 1985, 447f. und Needham 1963, xxvif.; eine Replik darauf gibt loas 1987,269f. 3 Schofer

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B. Das Relativismusproblem in der älteren Wissenssoziologie

weil das Lager selbst eine kreisrunde Form hat. Der Raumkreis ist nach dem Bild des Stammeskreises unterteilt. Es werden so viele Regionen unterschieden, als es Klans im Stamm gibt, und die Ausrichtung der Regionen geschieht nach dem Platz, den die Klans im Inneren des Lagers einnehmen. "3 Durkheims soziologische Erkenntnistheorie liegt somit bewußt zwischen traditionellem Empirismus und orthodoxem Apriorismus. Er akzeptiert die Wende zu den apriorischen Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, sträubt sich aber dagegen, diese Bedingungen transzendentalphilosophisch als "nichtanalysierbare Urfakten"4 zu postulieren; die Kategorien werden stattdessen als soziohistorisch variierende Erfahrungs- und Denkrahmen begriffen, deren Genese und genaue Beschaffenheit selbst wieder mit den Mitteln der empirischen Wissenschaft erklärbar ist. 5 Dieses Programm einer Soziohistorisierung des kantischen Apriorismus, das jeder Zivilisation ein charakteristisches und von den Gegebenheiten ihrer sozialen Organisation abhängiges Begriffssystem zuspricht6 , impliziert zunächst eine antifundamentalistische und relativistische Position. Wenn jeder Gesellschaft ein spezifischer und von je spezifischen sozialen Organisationsformen bestimmter Begriffs- und Erkenntnisapparat eignet, so folgt daraus zum einen, daß kein privilegierter Zugriff auf die Tatsachen der Welt gegeben ist, da jedes Wissen auf die im Rhythmus des sozialen Wandels wechselnden Erscheinungen beschränkt bleibt; und es folgt zum anderen, daß keine eindeutige Zurückführbarkeit der Gültigkeit von Wissensansprüchen auf grundlegende Sätze über die Tatsachen angenommen werden kann, da unterschiedliche Begriffssysteme zumindest teilweise zu divergenten Sätzen über die Existenz und Beschaffenheit grundlegender Tatsachen führen. Eine auf den Tatsachen der nichtsozialen oder sozialen Welt gegründete Wissenschaft, die zu absolut gültigen Erkenntnissen befahigt wäre, ist in dieser Sicht zunächst ausgeschlossen.7 Durkheims 3 Durkheim 1981, 31. Vgl. auch Durkheim/Mauss 1987, 226ff. 4 Durkheim 1981, 41. 5 Durkheim grenzt sich von der Erkenntnistheorie Kants also vor allem durch die Annahmen der soziohistorischen Varianz und der soziologischen Erklärbarkeit der Entstehung und Beschaffenheit der Anschauungsformen bzw. Kategorien ab. Die menschlichen Denkformen sind "niemals in einer bestimmten Form festgelegt. Sie entstehen, vergehen und entstehen ständig neu; sie wechseln nach Ort und Zeit." (Durkheim 1981,35.) Die soziologische Analyse der Kategorien wird Durkheim zufolge notwendig, weil der Kantianismus die charakteristischen Eigenschaften der Kategorien - ihre strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit - nur postulieren, nicht aber erklären kann; vgl. Durkheim 1981, 34f. 6 Vgl. Durkheim 1981, 582. 7 Insbesondere die Erkenntnis der nichtsozialen Bereiche der Wirklichkeit muß hier zunächst äußerst problematisch werden; vgl. Wors[ey 1956, 49. Während das Wissen

I. Die Wissenssoziologie Durkheims

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Wissenssoziologie scheint auf eine relativistische Position verpflichtet, die nicht zuletzt seine eigene Theorie mit dem Relativismusproblem konfrontiert. Eine derartige erkenntnistheoretische Position, die auch die Wissensansprüche der eigenen Theorie relativistisch zu unterminieren droht, ist für Durkheim, der sich in die rationalistische Tradition Frankreichs seit Descartes stellt8 , nicht akzeptabel. Er fügt seiner bislang vorgestellten Theorie zwei Argumente hinzu, mit denen er sich nachdrücklich von einer relativistischen Interpretation seiner Theorie distanziert. Während er in einem ersten Argumentationsschritt die Annahme der bloß metaphorischen Erfaßbarkeit der nichtsozialen Welt im vormodernen und modemen Wissen zurückweist, zielt sein zweites Argument darauf ab, mit fundamentalistischen Annahmen die - teilweise bereits verwirklichte - Chance des Erreichens absolut gültigen Wissens in der gesamten modemen Wissenschaft zu begründen und so auch das Relativismusproblem seiner Wissenssoziologie als nichtig auszuweisen. Durkheims erstes Argument gegen eine relativistische Interpretation seiner Wissenssoziologie weist die Annahme zurück, die Kategorien seien wegen ihres sozialen Ursprungs für die wirklichkeitsgetreue Darstellung der nichtsozialen Welt von vornherein unbrauchbar, so daß hinsichtlich dieses Gegenstandsbereiches notwendigerweise nur falsches Wissen gebildet werden könnte. Diese Annahme wird ja von seiner Theorie nahegelegt, denn wenn wir nur über Kategorien verfügen, die nach dem Modell der sozialen Welt gebildet sind, ist zunächst nicht einzusehen, wie diese Grundbegriffe die Tatsachen und Relationen eines anderen und eigenständigen Bereichs der Welt überhaupt treffen könnten. "Wenn die Kategorien ursprünglich nur soziale Zustände ausdrücken, folgt daraus nicht, daß sie sich für den Rest der Natur nur metaphorisch anwenden lassen? Wenn sie einzig und allein nur dazu da sind, um soziale Dinge auszudrücken, dürften sie doch nur durch Vereinbarung, so möchte es scheinen, auf die anderen Bereiche ausgedehnt werden können. "9 Die Folgerung, daß die Anwendung der sozial konstituierten Kategorien auf die nichtsoziale Welt metaphorisch, "ohne Beziehung mit der Wirklichkeit"lO bleiben müsse und die "Gesellschaft die Realität nach ihren Wünschen ummo-

über die soziale Welt insofern eine gewisse Chance des richtigen Einblicks besitzt, als es ursächlich von dem Bereich der Welt bestimmt wird, auf den es sich bezieht und den es ausdrückt, scheint Durkheim auf die Position festgelegt, daß jede Anwendung der sozial bestimmten Begriffssysteme auf die nichtsoziale Welt bloß metaphorisch bleiben kann. S Vgl. Durkheim 1987a, 11. 9 Durkheim 1981, 39. 10 Durkheim 1981, 39/40. 3*

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B. Das Relativismusproblem in der älteren Wissenssoziologie

deln"lI könne, ist jedoch in Durkheims Sicht keineswegs gerechtfertigt. Die soziale Welt müsse vielmehr als ein Bereich der gesamten Natur angesehen werden, und weise daher im wesentlichen dieselben Beziehungen auf wie etwa die Welt der physischen Dinge.l 2 Wir dürfen Durkheim zufolge eine Einheit der Natur - von physischer, biologischer und sozialer Welt - annehmen, die eine wesentliche Gleichheit oder Ähnlichkeit der Grundbeziehungen zwischen natürlichen Dingen verbürgt und so unsere auf die physische Welt angewandten Grundbegriffe zu "gut fundierten Symbolen" 13 werden läßt. So hänge etwa die Zeitkonzeption einer Ethnie von ihrem sozialen Rhythmus ab, dieser Rhythmus sei aber selbst wieder ein Teil einer universalen Regularität. 14 Die These der Einheit der Natur erlaubt Durkheim eine optimistische Einschätzung der Erkennbarkeit auch der nichtsozialen Welt, da die Kategorien nun zwar als sozial konstituiert, aufgrund der Isomorphie der Formen der Natur zugleich aber auch als in den Gegebenheiten ihres spezifISchen Wirklichkeitsbereiches verankert gedacht werden können. "Weil die Ideen der Zeit, des Raumes, der Gattung, der Ursache, der Persönlichkeit aus sozialen Elementen aufgebaut sind, darf man nicht gleich schließen, daß sie keinen objektiven Wert hätten. Im Gegenteil: ihr sozialer Ursprung läßt eher darauf schließen, daß sie in der Natur der Dinge begründet sind. "15 Die relativistischen Implikationen der Wissenssoziologie Durk:heims sind somit in einem ersten Schritt entschärft. Schien die These der sozialen Konstituiertheit der Denkformen zunächst zu der skeptischen Annahme der Ungültigkeit aller denkbaren und faktisch aufweisbaren Darstellungen der nichtsozialen Welt zu zwingen, so wird nun durch die These der Einheit der Natur eine gewisse Objektivität derjenigen Grundbegriffe und zugehörigen Wissensformationen garantiert, die in der Sozial- und Geistesgeschichte tatsächlich aufgetreten sind. Die relativistischen Implikationen sind damit aber noch keineswegs vollständig abgewehrt. Denn selbst wenn man bereit ist, die Annahme der ontologisch verbürgten Isomorphie der Formen und des so gesicherten Kontakts unserer Begriffe mit Tatsachen der nichtsozialen Welt zu akzeptie11 Durkheim 1987a, 141. 12 Vgl. Durkheim 1981, 40f. 13 Durkheim 1981, 40.

14 Vgl. für dieses Beispiel Durkheim 1981, 41 (Fn. 23).

15 Durkheim 1981, 40/41. Die hier von Durkheim vertretene Auffassung, die Kategorien seien in der Natur der Dinge 'begründet', darf nicht mit der fundamentalistischen These verwechselt werden, es gebe einen privilegierten Zugriff auf die Tatsachen, der nur eine Theorie eines Gegenstandsbereiches fundiert. Durkheims These lautet dagegen, daß unterschiedliche Klassifikationen von den Tatsachen der Welt abhängen und mit ihnen vereinbar sind. Er argumentiert erst im zweiten Schritt seiner Abgrenzung vom Relativismus fundamentalistisch.

I. Die Wissens soziologie Durkheims

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ren l6 , schreibt dieses Argument den unterschiedlichen, in der Geistesgeschichte aufweisbaren Begriffssystemen und Wissens formationen lediglich einen unspeziftzierten Objektivitätsgrad zu, und bietet damit kein Kriterium an, mit dem die differentielle Gültigkeit divergenter Erklärungsweisen der nichtsozialen Welt bemessen werden kann. 17 Gerade weil nach diesem Argument ganz unterschiedliche Klassifikationen der Welt 'in der Natur der Dinge begründet' sind, kann es allein noch nicht die Möglichkeit der objektiven differentiellen Beurteilung von Wissensansprüchen plausibel machen, die in verschiedenen Gesellschaften für wahr gehalten werden. Den Standpunkt, daß die verschiedenen faktisch aufweisbaren Wissen über die nichtsoziale Welt allesamt von den objektiven Eigenschaften der Dinge abhängen und mit ihnen vereinbar sind, nimmt Durkheim nun auch hinsichtlich der Vorstellungen über die soziale Welt ein. So sieht er etwa in den symbolischen Darstellungen der Gesellschaft in den primitiven Religionen eine Bestätigung des Grundpostulats seiner Soziologie, "daß eine menschliche Einrichtung nicht auf Irrtum und Lüge beruhen kann: denn sonst könnte sie nicht dauern. Wenn sie nicht in der Natur der Dinge begründet wäre, hätte sie in den Dingen Widerstände gefunden, die sie nicht hätte besiegen können. "18 Entsprechend steht Durkheim auch hinsichtlich dieser Wissenstypen vor dem Problem, konkurrierende Wissensansprüche zunächst nur als gleichermaßen begründet, nicht aber als objektiv richtig oder falsch betrachten zu können; auch die Wissensansprüche seiner eigenen Theorie können bislang nicht den Anspruch erheben, besser als andere Wissen über die soziale Welt begründet und objektiv gültig zu sein. Durkheims zweites und letztlich entscheidendes Argument gegen eine relativistische Interpretation seiner Theorie schließt mit fundamentalistischen Annahmen das modeme wissenschaftliche Wissen von der These der 'Seinsverbundenheit' weitgehend aus; damit befreit er sich zugleich vom Relativismusproblem seiner Soziologie, denn auch die eigenen Wissensansprüche werden nun als absolut gültig charakterisiert. Die religiösen Erklärungssysteme werden in den modemen, ausdifferenzierten Gesellschaften mehr und mehr von den privilegierten, objektiven Erkenntnissen der Wissenschaft ersetzt. Die historische Entwicklung, in deren 16 Viele Kritiker sind dazu freilich nicht bereit. So bezeichnet Lukes die These der Einheit der Natur als metaphysisch; vgl. Lukes 1985, 437. Joas schreibt Durkheims Einheitsthese nur rhetorischen Wert zu; sie sei "angesichts der in Durkheims Theorie ja so sehr betonten emergenten Eigenschaften der Gesellschaft wie der Unterschiede zwischen den kulturellen Weltbildern völlig unbefriedigend." (Joas 1987,271.) 17 Vgl. Mulkay 1979, 3f. 18 Durkheim 1981, 18. Vgl. auch Durkheim 1987a, 142.

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B. Das Relativismusproblem in der älteren Wissenssoziologie

Verlauf die kollektiven Vorstellungen fortschreitend von den subjektiven, zivilisationsspezifischen Elementen gereinigt werden und den Dingen selbst immer näher kommen 19 , ist wiederum soziologisch erklärbar. "Wenn das logische Denken dazu neigt, sich immer stärker von subjektiven und persönlichen Elementen zu befreien, die es ursprünglich mitgeführt hatte, dann nicht darum, weil außersoziale Faktoren dazugekommen sind; viel eher, weil sich ein soziales Leben einer neuen Art immer stärker entwickelt hat. Es handelt sich um jenes internationale Leben, das schon die Wirkung hatte, die religiösen Glaubensvorstellungen zu universalisieren. In dem Maß, in dem es sich ausdehnt, erweitert sich auch der kollektive Horizont. "20 Der fortschreitende interkulturelle Kontakt führt zu einer zunehmenden Angleichung der sozialen Rahmen, die auch eine neue und universale kognitive Ordnung der Dinge erforderlich macht und bedingt. "Folglich können die Dinge nicht mehr in dem sozialen Rahmen bleiben, in den sie ursprünglich eingeordnet waren. Sie müssen dann nach Prinzipien geordnet werden, die ihnen angemessen sind, und damit differenziert sich die logische Organisation und wird autonom. Anscheinend löst sich somit das Band, das zunächst das Denken an bestimmte kollektive Individualitäten gebunden hatte, immer mehr; das logische Denken wird folglich immer unpersönlicher, während es sich universalisiert. "21 Die modeme Wissenschaft ist das Resultat dieser fortschreitenden Entbindung des Denkens von lokalen Rahmen, und es gelingt ihr durch methodische Verbesserungen ihrer Begriffe und Verfahren, die Natur der Dinge - in der ihr Wissen ebenso wie etwa die religiöse Vorstellung begründet ist - auch in immer größerer Annäherung zu erkennen. 22 Durkheim sieht in der methodischen Kontrolle und Sorgfalt beim Gebrauch wissenschaftlicher Begriffe den entscheidenden Unterschied und Vorzug des wissenschaftlichen 19 Vgl. Durkheim 1981, 594.

20 Durkheim 1981. 594. 21 Durkheim 1981. 594. 22 Dagegen sind die symbolischen Darstellungen der Gesellschaft in den religiösen Vorstellungen zwar begründet, erfassen aber diese Basis nicht in objektiv gültiger Weise. So schreibt Durkheim (1981, 559): "Aber weil es eine »religiöse Erfahrung« gibt und weil sie in einer bestimmten Weise begründet ist - gibt es überhaupt eine Erfahrung, die es nicht ist? - folgt noch nicht, daß die Realität, die sie begründet, objektiv mit der Idee übereinstimmt, die sich die Gläubigen davon machen." Man kann die religiösen Vorstellungen mit Gemälden vergleichen, die zwar auch von dem dargestellten Gegenstand abhängen und ihn ausdrücken, während dagegen erst das soziologische Wissen ihn sozusagen mit photographischer Präzision erfaßt; vgl. zu dieser Analogie Durkheim 1981,40 (Fn. 22). Zu seiner Sicht des Erkenntnisfortschritts vgl. auch Durkheim 1987a, 114.

I. Die Wissenssoziologie Durkheims

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gegenüber dem religiös-mythologischen Denken. 23 Zwar übernimmt die Wissenschaft ihre Begriftlichkeit zunächst von der Religion, aber "sie reinigt ihre Begriffe von allen zufälligen Elementen; ganz allgemein: sie bringt in alle ihre Verfahren einen kritischen Geist, den die Religion nicht kennt. Sie umgibt sich mit Vorsichtsmaßnahmen, ,.um Überstürzung und die Voreingenommenheit zu vermeiden«, um Leidenschaften, Vorurteile und alle subjektiven Einflüsse auszuschalten. "24 Wenn der Soziologe seine Begriffe wissenschaftlich korrekt bildet, "so faßt er vom ersten Schritte an festen Tritt in der Wirklichkeit. Tatsächlich hängt das Verfahren bei einer solchen Klassifikation der Tatsachen nicht von ihm, von der besonderen Richtung seines Denkens ab, sondern von der Natur der Dinge. "25 Die fundamentalistische Annahme, die Wissenschaft könne in immer größerer Annäherung einen von allen subjektiven und sozialen Faktoren bereinigten Zugriff auf die Tatsachen der Welt - "die unmittelbare Berührung mit den Dingen"26 - erreichen und auf dieser Basis die absolute Gültigkeit ihrer Theorien fundieren, ist ein durchgehender Zug in Durkheims Denken. In seiner methodologischen Grundlegung der Soziologie stellt er die Forderung auf, die Wissenschaft solle, "um objektiv zu sein, nicht von Begriffen ausgehen, die ohne ihr Zutun gebildet wurden, sondern die Elemente ihrer grundlegenden Definitionen unmittelbar dem sinnlich Gegebenen entlehnen. ( ... ) Sie benötigt Begriffe, die die Dinge adäquat zum Ausdruck bringen, so wie sie sind, und nicht so, wie sie für die Praxis nützlich wären. "27 In der späten Religionssoziologie schreibt Durkheim seiner Theorie entsprechend die Fähigkeit zu, unter dem religiösen Symbol die Wirklichkeit, die wahren Gründe der religiösen Glaubensvorstellungen zu entdecken, und nimmt an, die Gültigkeit seiner Theorie sei durch seine, in den Tatsachen begründete und diese adäquat erfassende Untersuchung der primitiven Religionen eindeutig bewiesen. 28 Zwar können auch die früheren, nicht-wissenschaftlichen Erklärungsweisen der Welt einen gewissen Wahrheitsanspruch für sich reklamieren, aber objektive und absolute Gültigkeit kommt lediglich den fundamentalistisch begründeten wissenschaftlichen Wahrheiten zu, denn "während in den mythologischen Vor23 Vgl. Durkheim 1981, 574 und Durkheim 1987a, 168. 24 Durkheim 1981, 574. Vgl. auch ebd., 585 und Durkheim 1961, 128ff. Er gesteht

allerdings zu, daß die Soziologie im Gegensatz zur Physik noch über relativ wenig methodisch gebildete Begriffe verfügt; vgl. Durkheim 1981, 585 undDurkheim 1987a, 148.

25 Durkheim 1961, 132. 26 Durkheim 1961, 220.

27 Durkheim 1961, 138. 28 Vgl. Durkheim 1981, 19 und ebd., 556f.

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B. Das Relativismusproblem in der älteren Wissenssoziologie

stellungen das Bild zum Ausdruck kommt, das die Gesellschaft sich von sich selbst macht, drücken die wissenschaftlichen Vorstellungen die Welt als solche aus. Vor allem die Sozialwissenschaft bringt zum Ausdruck, was die Gesellschaft an sich ist, und nicht, was sie in den Augen des Subjekts, das sie denkt, ist. "29 Durkheims weitgehender Ausschluß des wissenschaftlichen Wissens von der These der Seinsverbundenheit und die so erzielte Einschätzung der Irrelevanz des Relativismusproblems in der Wissenssoziologie stützt sich im wesentlichen auf fundamentalistische Annahmen über die Art und Weise, wie wissenschaftliches Wissen durch die Realität bestätigt werden kann. Diese Annahmen sollen hier nicht weiter besprochen werden; die Diskussion des Fundamentalismus in der modemen Wissenschaftstheorie läßt eine derartige Begründung des privilegierten epistemologischen Status wissenschaftlichen Wissens jedoch äußerst problematisch erscheinen. 30

11. Die Wissenssoziologie Mannheims Karl Mannheims Interpretation des wissens soziologischen Grundgedankens der ' Seinsverbundenheit des Wissens' unterscheidet sich deutlich von der Durkheims und führt ihn zur Anerkennung des Relativismusproblems (Kap. 11.1); aber auch Mannheim greift bei seinem Versuch, den Relativismus seiner Theorie zu beschränken und das Relativismusproblem zu lösen, auf fundamentalistische Argumentationsmuster zurück (Kap. 11.2). 1. Mannheims Relativismus Die existentiale Basis des Wissens ist für Mannheim das historisch-soziologisch lokalisierbare Sein von Individuen als Angehörige bestimmter Gruppen. 31 Die Konkurrenz zwischen diesen Gruppen, der Kampf um Macht - der 29 Durkheim 1987a, 144. Die Wahrheit mythologischer Vorstellungen beruht dagegen auf dem angemessenen Ausdruck der Gesellschaft. "Die mythologischen Vorstellungen sind falsch hinsichtlich der Dinge, aber sie sind wahr in bezug auf das Subjekt, das sie denkt." (ebd., 143.) So erklärt sich für Durkheim auch die historische Variabilität und Relativität der 'Wahrheit' durch die Mannigfaltigkeit der zugrundeliegenden Formen der sozialen Organisation; vgl. ebd., 143. Es handelt sich hier also um eine Variabilität und Relativität der 'Wahrheit' jenseits der objektiven Wahrheit, die allein die modeme Wissenschaft zu geben vermag. 30 Vgl. Kap. C. 31 Vgl. Mannheim 1985a, 170. Die Klassenzugehörigkeit spielt dabei zwar eine besonders wichtige Rolle, im Unterschied zum 'starren Marxismus' berücksichtigt

11. Die Wissens soziologie Mannheims

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nicht zuletzt mittels der gruppenspezifischen Weisen der Weltauslegung ausgefochten wird32 -, gilt Mannheim als das zentrale Merkmal der den sozialen Raum durchziehenden und ihn transformierenden sozialen Prozesse. 33 Die Seinslagen und die kollektiv-unbewußten Interessen und Ziele der Gruppen formen deren Denken auf vielfältige, empirisch jeweils genauer zu bestimmende Weise. Die Seinsverbundenheit des Wissens kann nach Mannheim in allen Wissens feldern als bestätigt gelten, "in denen es gelingt zu zeigen, a) daß sich der Erkenntnisprozeß de facto keineswegs nach 'immanenten Entfaltungsgesetzen' historisch entwickelt, keineswegs nur 'von der Sache her' und von 'rein logischen Möglichkeiten' geleitet, keineswegs von einer inneren 'geistigen Dialektik' getrieben, zustandekommt, sondern daß an ganz entscheidenden Punkten außertheoretische Faktoren ganz verschiedener Art, die man als 'Seinsfaktoren' zu bezeichnen pflegt, das Entstehen und die Gestaltung des jeweiligen Denkens bestimmen; b) daß diese das Entstehen der konkreten Wissens gehalte bestimmenden Seinsfaktoren keineswegs von bloß peripherer Bedeutung, von 'bloß genetischer Relevanz' sind, sondern in Inhalt und Form, in Gehalt und Formulierungsweise hineinragen, Kapazität, Greif"mtensität eines Erfahrungs- und Beobachtungszusammenhanges, mit einem Wort alles, was wir als Aspektstruktur einer Erkenntnis bezeichnen werden, entscheidend bestimmen. "34 Die Aufgabe der Wissenssoziologie besteht nun zunächst darin, die Seinsverbundenheit konkreter Wissensformen aufzuweisen und strukturell zu analysieren, ohne dabei die Richtigkeit des untersuchten Wissens zu beurteilen. Das wissens soziologische Verfahren des Relationierens rechnet einzelne Aussagen oder Aussagenkomplexe einer bestimmten Art der Weltauslegung, einer spezifischen Aspektstruktur und der ihr entsprechenden historisch-sozialen Seinslage zu, ohne die Gültigkeit dieser Wissensansprüche zu berücksichtigen. 35 Die so relationierten Wissensfonnen bezeichnet Mannheim als Ideologien; der Ideologiebegriff erfährt bei Mannheim also eine entscheidende Ausweitung, Mannheim aber auch andere soziale Einheiten wie etwa Generationen; vgl. Mannheim 1985b,237. 32 Vgl. Mannheim 1964d, 571ff. Die Weltauslegung ist nach Mannheim (ebd., 575) "zumeist Korrelat der Machtkämpfe einzelner Gruppen. " 33 Mannheim hebt die Konkurrenz als besonders wichtigen und repräsentativen sozialen Prozeß hervor und widmet ihrer Bedeutung und ihren Auftretensformen im Gebiet des Geistigen eine eigene Untersuchung; vgl. Mannheim 1964d und Mannheim 1985b, 231. Die Sozialstruktur begreift er als je momentanes Resultat eines beweglichen Kräftespiels, in dem "willens-, macht- und interessegebundene Kollektivkräfte" (Mannheim 1985a, 108) einander gegenüberstehen und aufeinander einwirken. 34 Mannheim 1985b, 230. 35 Vgl. Mannheim 1985a, 71ff.; Mannheim 1985b, 229ff.; ebd., 242.

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B. Das Relativismusproblem in der älteren Wissenssoziologie

vor allem auch gegenüber seiner marxistischen Verwendung. Der 'allgemeine und totale Ideologiebegriff' bezieht sich nicht mehr nur auf einzelne Aussagen anderer, denen eine mehr oder weniger bewußte Verhüllungsabsicht unterstellt wird, sondern auf die gesamte Bewußtseins- und Aspektstruktur eines jeden Kollektivsubjekts .36 Mannheims Wissenssoziologie präsentiert sich auf dieser ersten theoretischen Stufe - die zwar noch nicht die Gültigkeit der einzelnen Wissensformen thematisiert, aber Implikationen für die Erkenntnischancen des seinsverbundenen Wissens mit sich bringt - als eine konsequente Variante des Antifundamentalismus und des Relativismus. Mannheim verwirft die Vorstellung, es gebe in diesem Wissensbereich ein zeitloses und Absolutheit des Wissens garantierendes Fundament. 37 Seins verbundenes Wissen ist vielmehr 'seinsrelativ' , d.h. es muß auf seine spezifische Seinslage hin bezogen werden sowie auf die zugehörige seins verbundene Aspektstruktur, die einen nicht-privilegierten Zugang neben anderen zu den Tatsachen der Welt ermöglicht, der entsprechend auch nicht befähigt ist, die Gültigkeit einer der konkurrierenden Wissensformen eindeutig zu fundieren. Eine Aspektstruktur eröffnet einen nicht-privilegierten Zugriff auf die Tatsachen, da sie bestimmt, "wie einer eine Sache sieht, was er an ihr erfaßt und wie er sich einen Sachverhalt im Denken konstruiert"38; sie trägt zur Konstitution des Erkenntnisgegenstandes bei, "da doch jede Sicht, um Erkenntnis zu werden, kategorial formiert und formuliert werden muß, die Formierbarkeit und Formulierbarkeit aber vom jeweiligen Stand des theoretisch-begrifflichen Bezugssystems abhängt. "39 Da nun jede Aspektstruktur eine zumindest teilweise nur in ihrem Rahmen erfahrbare und überzeugungskräftige Basis evidenter 'Tatsachen' etabliert, können die Evidenzen, die zur Bestätigung der in einer bestimmten Aspektstruktur verankerten Wissensansprüche führen, in der Sicht einer anderen Aspektstruktur als irrelevant oder als Produkte eines falschen Zugriffs auf die Welt betrachtet werden. Mannheim verwirft mit dem Fundamentalismus auch die Möglichkeit absolut wahrer Erkenntnis und spricht sich für einen Perspektivismus seins verbundenen Wissens aus, der besagt, daß ganz verschiedene Wissen richtig sein können, insofern sie mit anderen Aspektstrukturen auch andere Aspekte eines Gegenstandes hervorheben und daher perspektivische Wahrheit besitzen können. Für Mannheim resultiert hieraus nicht "ein Relativismus im Sinne der Beliebigkeit jeder Behauptung; der Relationismus in unserem Sinne besagt 36 Vgl. Mannheim 1985a, 70. 37 Vgl. Mannheim 1985a, 38f.; ebd., 77f.; Mannheim 1985b, 258. Vgl. zu Mann-

heims Antifundamentalismus auch Hekman 1986, 50ff. 38 Mannheim 1985b, 234. 39 Mannheim 1985a, 77.

11. Die Wissenssoziologie Mannheims

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vielmehr, daß jede Aussage wesensmäßig nur relational formulierbar sei, und er schlägt nur dann in Relativismus um, wenn man ihn mit dem älteren statischen Ideal ewiger, desubjektiver unperspektivischer Wahrheiten verbindet und an diesem ihm disparaten Ideal (von absoluter Wahrheit) mißt. "40 Relationismus heißt ein Relativismus unter der Voraussetzung der Unmöglichkeit standortungebundenen und absolut wahren Wissens. Mannheim ist daher mit dem Relativismusproblem konfrontiert.

2. Mannheims Rückgriff auf den Fundamentalismus Viele Kritiker sehen in Mannheims Begriff des Relationismus nicht viel mehr als einen Euphemismus für einen selbstwidersprüchlichen Relativismus, mit dem sich seine Theorie selbst widerlege. 41 Mannheim selbst ist mit diesem Stand der Behandlung der Gültigkeitsproblematik nicht zufrieden und versucht in der zweiten theoretischen Stufe seiner Wissenssoziologie die relativistischen Implikationen seiner Theorie durch zwei Argumentationsstrategien zu entschärfen. Zum einen mildert er durch die Annahme eines epistemologischen Sonderstatus der Naturwissenschaften den Konflikt mit der seinerzeit dominanten fundamentalistischen Erkenntnistheorie. Er bemüht sich aber vor allem um ein neues Konzept der Objektivität für die Kultur- und Sozialwissenschaften, das nicht zuletzt das Relativismusproblem seiner Wissenssoziologie durch den Nachweis lösen soll, daß die von seiner Theorie erhobenen Wissensansprüche nicht bloß potentiell gültig sind, und daß ihre Gültigkeit nicht allein von Seinsfaktoren abhängt und daher auch nicht im Sinne beliebiger Gültigkeit zu begreifen ist. Mit beiden Argumentationsstrategien greift Mannheim auf fundamentalistische Denkfiguren zurück.

40 Mannheim 1985b, 258. 41 Vgl. zum Streit um die Wissenssoziologie Mannheims die Beiträge in Meja/Srehr 1982. Exemplarisch ist die Kritik von Grünwald 1934, 229f. Den Standardvorwurf der Selbstwiderspriichlichkeit, der sich wie ein roter Faden durch die meisten kritischen Kommentare zu Mannheims Theorie hindurchzieht. faßt Mullins (1979. 143) zusammen: "In short. a11 systems of historical-social-political thought are ideologies. And this leads to Mannheim's famous paradox: if a11 such perspectives are ideologies. an objective and valid social science is impossible, and Mannheim's own reflections on the historical process are 'self-refuting' - for his perspective can claim no more objective validity than can other perspectives." Die üblichen Vorwürfe der Beliebigk:eit und der Selbstwiderspruchlichkeit greifen allerdings zu kurz, da, wie gleich deutlich wird, Mannheim keineswegs einer Beliebigkeit des Wissens das Wort redet und mit seinem neuen Konzept der Objektivität eine konsequente Variante des gemäßigten Relativismus anstrebt.

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B. Das Relativismusproblem in der älteren Wissenssoziologie

Mannheim begrenzt die relativistischen Konsequenzen seiner Theorie zunächst, indem er die Naturwissenschaften und die Mathematik aus dem Bereich des seinsverbundenen Wissens ausschließt. 42 Mannheims neukantianisch inspirierte Unterscheidung der Natur- von der Kultur- und Sozialwissenschaft betont die schon vor der wissenschaftlichen Analyse gegebene Sinn- und Werthaftigkeit kultureller Phänomene. Um diese bereits sinnhaften Gegenstände verstehend erfassen zu können, ist der Sozialwissenschaftler auf Kategorien angewiesen, die von seinen eigenen Werten und Sinngebungen bzw. denen seiner Zeit abhängen, "denn Verstehbares ist nur mit Beziehung auf Problemstellungen und Begriffssysteme, die dem historischen Strom erwachsen, formulierbar. "43 Der soziohistorische Standort des erkennenden Subjekts ragt hier in den Gehalt des Wissens hinein, da der Sozialwissenschaftier auf das Auswahlprinzip und die konstitutiven Kategorien der Gegenstandserfassung angewiesen ist, die ihm seine Aspektstruktur zur Verfügung stellt. 44 Während nun die Sozialwissenschaft zu verschiedenen Zeitpunkten mit jeweils eigener Aspektstruktur 'dieselbe' Gegenständlichkeit grundlegend neu erfaßt, liegt in der exakten Naturwissenschaft ein wesentlich invariantes und hochgradig formalisierbares begriffliches Bezugssystem vor, das einen privilegierten Zugriff auf die Tatsachen der natürlichen Welt ermöglicht, und gestattet, die zeitlos gegebenen quantiflzierbaren Beziehungen jener Wirklichkeitsschicht objektiv zu erkennen. 45 Der auf die Erkenntnis äußerlich beobachtbarer Gleichförmigkeiten und Regelmäßigkeiten abzielenden Naturwissenschaft eignet Mannheim zufolge also ein - darin ihrem Erkenntnisgegenstand adäquates - hochgradig formalisierbares und von der historisch-sozialen Aspektstruktur des erkennenden Subjekts 'abhebbares ' theoretisch-begriffliches Bezugssystem, so daß der Entstehungszusammenhang eines Denkens nicht in das Denkergebnis eingeht und die hier erreichbaren absolut gültigen Erkenntnisse vom Einfluß der Seinsfaktoren abgeschirmt sind. 46 Der Sozialwissenschaft ist eine absolute Gültigkeit ihres Wissens versagt, da hier Seinsfaktoren die Erkenntnis substantiell beeinflussen. "Die historische und soziale Genesis wäre nämlich nur dann noologisch irrelevant, wenn der sozialen und zeitlichen Entfaltung des Erkennens nicht mehr als bloßes 42 Mannheims Position ist in dieser Frage allerdings nicht immer ganz eindeutig, da er in manchen Passagen auch nahelegt, daß alles Wissen seinsverbunden ist, oder auch, daß nur einige formale Sätze z.B. der Mathematik ausgenommen werden müssen; vgl. Mannheim 1985b, 262f. bzw. Mannheim 1985a, 39. 43 Mannheim 1985a, 72. Vgl. auch Mannheim 1964a, 103ff.; ebd., 126f.; Mannheim 1985a, 18ff. und ebd., 39.

44 Vgl. Mannheim 1964b, 267. 45 Vgl. Mannheim 1980, 110f.; Mannheim 1985a, 39 und Mannheim 1985b, 233. 46 Vgl. Mannheim 1985a, 144f. und Mannheim 1985b, 249.

11. Die Wissenssoziologie Mannheims

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Zustandekommen und Sichrealisieren einer Erkenntnis zu verdanken wäre. In diesem Fall würden zwei Epochen in der Wissenschaftsgeschichte sich nur dadurch unterscheiden, daß in der älteren bestimmte Erkenntnisse noch nicht gemacht worden waren oder aber bestimmte Irrtümer noch bestanden, die durch spätere Einsichten ohne weiteres widerlegt wurden. -47 Einen derartigen kumulativen Erkenntnisfortschritt sieht Mannheim lediglich in der exakten Naturwissenschaft weitgehend gegeben, während die Sozialwissenschaft zu verschiedenen Zeiten über je spezifische und nicht-privilegierte Zugänge zu den Tatsachen verfügt, indem sie 'dieselbe' Gegenständlichkeit mit einer neuen Aspektstruktur erfaßt. 48 Mannheim argumentiert bei der Entschärfung der relativistischen Implikationen seiner Theorie also zunächst für eine fundamentalistische Interpretation naturwissenschaftlichen Wissens, die jenem Wissen einen epistemologisch privilegierten Status gemäß dem 'alten Konzept der Objektivität' zuspricht. Mit dieser Argumentationsstrategie für eine Einschränkung des Bereichs des seinsverbundenen Wissens vermeidet Mannheim zwar den völligen Bruch mit der fundamentalistischen Erkenntnistheorie, da er aber das sozial wissenschaftliche Wissen ausdrücklich als seinsverbunden begreift49, ist Mannheim mit dem Relativismusproblem, der Frage nach dem epistemologischen Status der eigenen Wissensansprüche konfrontiert. Es muß ihm, will er dem Relativismus der Beliebigkeit einerseits und der Verabsolutierung seiner schon relativistisch begriffenen Wissensansprüche andererseits entgehen, daran gelegen sein, die Akzeptabilität und besondere Dignität des von ihm selbst vorgetragenen Wissens durch ein neues Konzept der Objektivität plausibel zu machen, ohne dabei die antifundamentalistischen und relativistischen Grundannahmen seiner Theorie zu verletzen. 50 Die Schöpfung objektiven Wissens im Bereich des seinsverbundenen Wissens soll sich durch die von der 'sozial freischwebenden Intelligenz' angewandten wissenssoziologischen Verfahren der Partikularisierung und der Synthetisierung vollziehen. 51 Das Verfahren der Partikularisierung bewertet Aus47 Mannheim 1985b, 233; H.LO. 48 Vgl. Mannheim 1985b, 233. 49 Vgl. etwa Mannheim 1964d, 569. 50 Mannheims frühere, oft geschichtsphilosophisch inspirierten Lösungsversuche des

Relativismusproblems, die er z.T. auch in Ideologie WId Utopie übernimmt, werden hier nicht diskutiert. Für eine nach wie vor herausragende Diskussion Mannheims früherer und späterer Lösungsversuche des Relativismusproblems vgl. Sehelting 1934, 117ff. 51 Die 'sozial freischwebende Intelligenz' begreift Mannheim als eine relativ klassenlose Schicht, deren soziale Position insofern ein nur bedingt seinsverbundenes Wissen gestattet, als sie Mitglieder unterschiedlicher sozialer Kreise in sich vereinigt und so

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B. Das Relativismusproblem in der älteren Wissenssoziologie

sagen und Aspektstrukturen, d.h. die mit Absolutheitscharakter auftretenden Wissensansprüche der untersuchten Wissen werden auf das Ausmaß zum Beispiel des tatsächlichen Wahrheitsgehalts theoretischer Aussagen hin geprüft. Da es Mannheim zufolge durchaus möglich und wahrscheinlich ist, daß aus verschiedenen Aspektstrukturen heraus richtige Aussagen über einen Gegenstand gemacht werden, die jeweils Teilwahrheiten ausdrücken, liegt die Aufgabe der Wissenssoziologie darin, das in einer bestimmten Zeit in einem gegebenen Spektrum von Aspektstrukturen erlangbare wahre Wissen zu identifizieren und die sich ergänzenden Teileinsichten zu synthetisieren, mit dem Ziel, die in dieser Zeit "überhaupt erreichbare umfassendste Sicht vom Ganzen zu bieten. "52 Das objektive Wissen der Wissenssoziologen bzw. aller 'Träger der Synthesen' ergibt sich dann aus einer (idealerweise) alle partikularen und partikularisierten Aspektstrukturen einer Zeit umfassenden und synthetisierenden Aspektstruktur . So ist beim Vorliegen zweier verschiedener Wissensformen Objektivität zu erreichen, indem man "das in beiden Aspektstrukturen richtig, aber verschieden Gesehene aus der Strukturdifferenz der beiden Sichtmodi zu verstehen bestrebt ist und sich um eine Formel der Umrechenbarkeit und Übersetzbarkeit dieser verschiedenen perspektivischen Sichten ineinander bemüht. "53 Während die 'Formel der Umrechenbarkeit' die Synthese unterschiedlicher Wissen ermöglichen soll, dient das Ausmaß an Fassungskraft und Fruchtbarkeit, das eine Sichtweise dem empirischen Material gegenüber aufweisen kann, als das Kriterium der Auswahl objektiv gültiger Teileinsichten in den Fundus der "seinskongruent adäquaten Vorstellungen"54. Die so gewonmit einer umfassenderen existentialen Basis auch zu einer umfassenderen, partikulare Standpunkte in sich vereinigenden Betrachtung fähig ist, die zudem ihrem "Bedürfnis der Gesamtorientierung und Zusammenschau" (Mannheim 1985a, 140) entspricht. Zum 'Träger der Synthese' vgl. Mannheim 1985a, 134ff. 52 Mannheim 1985a, 132. 53 Mannheim 1985b, 258. Jene für die Synthetisierung zentrale Umrechnungsformel spezifiziert Mannheim nicht weiter. 54 Mannheim 1985a, 171. Vgl. zum Kriterium der Gültigkeit auch Mannheim 1985b, 244 und ebd., 259. Mannheim stützt sich beim Partikularisieren auf eine Adäquationstheorie der Wahrheit. Mannheim (1985a, 86) fordert, "daß der Gedanke sich auf seine reale Deckung hin auszuweisen" hat. Er insistiert in seinem Hauptwerk Ideologie und Utopie immer wieder auf der Adäquatheit gegenüber dem Gegenstand als dem Kriterium der Bewertung der Wissensformen; vgl. z.B. Mannheim 1985a, 6; ebd., 77 und ebd., 89. Dieses Kriterium verwendet Mannheim schon früh gegen die Gefahren des extremen Relativismus. In seinem Aufsatz Das Problem einer Soziologie des Wissens bezeichnet er das faktische Sein "als eine kontrollJahige Instanz gegenüber willkürlichen Aussagen." (Mannheim 1964c, 357.) Im Aufsatz über den Historismus erläutert er dieses Kriterium durch die materiale Evidenz, die den Erkenntnisprozeß leiten soll: "Die den Relativismus überwindende Wahrheitsgarantie kann nur aus materialen Evidenzen fließen." (Mannheim 1964b, 301.)

11. Die Wissenssoziologie Mannheims

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nene Wahrheit wissenssoziologischen Wissens ist aber nicht absolut gedacht, sondern bezeichnet das in einer bestimmten Gesellschaft und einem bestimmten Zeitraum mögliche und fiir diese soziohistorische Einheit objektiv gültige Wissen. 55 Während Mannheims fundamentalistische Überlegungen zur Ausklammerung naturwissenschaftlichen Wissens aus dem Bereich des seinsverbundenen Wissens angesichts des massiven Plausibilitätsverlustes des Fundamentalismus in der wissenschaftsphilosophischen Debatte mittlerweile kaum noch überzeugend wirken können56 , steht seine zweite Argumentationsstrategie zur Lösung des Relativismusproblems in einer theorie-immanenten Spannung zu den Grundgedanken seiner Wissenssoziologie. Mannheims Vorschlag, durch die Partikularisierung objektiv gültiges Wissen zu gewinnen, stützt sich auf die Annahme, daß mit der Gegenstandsadäquatheit ein Kriterium zur Beurteilung des Wahrheits wertes von Wissensansprüchen verfiigbar ist, die unterschiedlichen Aspektstrukturen zugehören. Diese Annahme kann er aber nur unter der Voraussetzung der Identität der fiir die Wahrheitsprüfung ausschlaggebenden Gegenstände und Tatsachen, auf die sich Wissensansprüche unterschiedlicher Aspektstrukturen beziehen, plausibel machen. 57 Diese Voraussetzung - die Verfiigbarkeit über die in ihrem Ansichsein identischen Gegenstände und Tatsachen58 als eines überpartikularen Maßstabs zur Beurteilung von Wissensansprüchen - ist jedoch durch Mannheims Theorie der Seiosverbundenheit des Wissens äußerst problematisch geworden. Die Schwierigkeiten, denen sich Mannheim an diesem Punkt konfrontiert sieht, klingen in der folgenden Passage deutlich an: "Auch unsere Nachweise appellieren an die Beweiskraft der Tatsachen, nur ist es ein eigen Ding um diese Tatsachen. Die 'Tatsachen' konstituieren sich fiir die Erkenntnis jeweils in einem Denk- und Lebenszusammenhang. Ihre jeweilige Erfaßbarkeit impliziert bereits eine Begriffsapparatur . ( ... ) Hieraus entsteht eine eigentümliche Perspektivität der Begriffe, die bestimmte Seiten desselben Urstoffs jeweils anders fIxiert. Dadurch wird die 'Wirklichkeit' immer reichhaltiger sichtbar. -59 Mannheim scheint hier unschlüssig darüber, ob er sich auf die Beweiskraft der Tatsachen und des Urstoffs berufen kann, oder nur auf die der 'Tatsachen' und der 'Wirklichkeit', d.h. der schon immer nur in einer Be55 Vgl. Mannheim 1985a, 77; ebd., 83 und ebd., 132. 56 Vgl. Kap. C. 57 Auch die Synthetisierung von Wissensansprüchen, die im Medium unterschiedlicher Aspektstrukturen formuliert werden, kann nur unter dieser Voraussetzung gelingen. 58 Vgl. Mannheim 1964b, 272. 59 Mannheim 1985a, 89/90.

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B. Das Relativismusproblem in der älteren Wissenssoziologie

griffsapparatur und Aspektstruktur zugänglichen Tatsachen der Wirklichkeit. Dies ist aber der Kern des Problems, denn wenn - wie Mannheim ja unzweideutig betont - die Tatsachen sich nur in Auslegungen der Welt zeigen können, gehören unterschiedlichen Auslegungen unterschiedliche 'Tatsachen' zu, und es kann keine Tatsachen-Erkenntnis jenseits von Auslegungen geben, wodurch die Beweiskraft der 'Tatsachen' empfmdlich eingeschränkt wird, nämlich auf die zugehörige Weltauslegungsweise. 60 Mannheim, der in der Geistesgeschichte seit Kant die Tendenz zur Soziohistorisierung des Erkenntnissubjekts beobachtet, glaubt diese Entwicklung mit seiner Wissenssoziologie zu vollenden. Gegen eine entsprechende Soziohistorisierung des Erkenntnisobjekts sträubt er sich jedoch, obwohl sie dann aus der des Erkenntnissubjekts notwendig folgt, wenn die Objekte der Erkenntnis nur in soziohistorisch verwurzelten Aspektstrukturen sichtbar werden. Nur wenn die Aspektstrukturen, innerhalb derer die Objekte der Erkenntnis Gestalt gewinnen, in ihrer Struktur und in ihren Transformationen als wesentlich von den immanenten Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten der Gegenstände an sich oder geistesimmanenten logischen Gesetzmäßigkeiten bestimmt gedacht werden, läßt sich ein Modell der Erkenntnis vertreten, in dem die sich wandelnden Begriffe und Wissen das eine Objekt der Erkenntnis immer näher umkreisen, reichhaltiger sichtbar machen und wahrer beschreiben. Diese Voraussetzung lehnt Mannheim jedoch klar ab und hebt stattdessen die zentrale Rolle der Seinsfaktoren beim Bildungsprozeß von Aspektstrukturen hervor. Mit der Soziohistorisierung des Erkenntnissubjekts hat Mannheim implizit auch das Erkenntnisobjekt soziohistorisiert - es kann in seins verbundenen Wissens formationen nur in jeweils anderer Gestalt erscheinen -, so daß der privilegierte Zugriff auf den Urstoff bzw. die vortheoretisch gegebenen Tatsachen selbst ausgeschlossen ist, durch den Mannheim die Möglichkeit objektiven Wissens und damit auch die Dignität der Wissensansprüche seiner Wissenssoziologie begründen möchte. 61 Mannheims Rückgriff auf den in seinem An60 Wenn Mannheim andererseits an die Möglichkeit des Zugangs zu den Tatsachen selbst glaubt, ist ohne weitere Argumente nicht einzusehen, warum die in einer Kultur erlangten Teilwahrheiten über den Urstoff nur für diese Kultur gültig sein sollten. Mannheims Rückgriff auf die fundamentalistische Vorstellung des privilegierten Zugangs zu den Tatsachen erfordert also Zugeständnisse an den Absolutismus. Dies ist die andere Seite der theorie-immanenten Spannung, in die sich Mannheim beim Versuch der Lösung des Relativismusproblems hinein manövriert. 61 Mannheim ist sich bewußt, daß seine These der Seinsverbundenheit des Wissens auch die These der Konstruktion des Gegenstandes des Wissens durch das erkennende Subjekt impliziert, und somit das Problem besteht, lediglich eine Vielfalt unterschiedlicher Gegenstände des Wissens finden zu können, wo der eine Gegenstand gesucht wird, nach dem sich die Gültigkeit von Wissensanspruchen bemessen soll. Er versucht diesem Problem durch den Glauben an den "wesensmäßigen Kontakt" (Mannheim

III. Die Wissenschafts soziologie Mertons

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sichsein identischen Gegenstand selbst als überpartikularem Maßstab zur Beurteilung von Wissensansprüchen fügt seiner antifundamentalistisch angelegten Wissenssoziologie einen fundamentalistischen 'Fremdkörper' hinzu und indiziert ein Haften Mannheims an der traditionellen und fundamentalistischen Erkenntnistheorie, die er überwinden will. 62

III. Die Wissenschaftssoziologie Mertons Die nordamerikanische Wissenssoziologie der dreißiger bis sechziger Jahre dominiert die zweite Entwicklungsphase der Disziplin; in ihr läßt sich eine im Ganzen sehr homogene Umgehensweise mit dem Relativismusproblem feststellen. Die einmütige Einschätzung der Irrelevanz des Relativismusproblems für die Wissenssoziologie ergibt sich aus der Delegation der erkenntnistheoretischen Problematik an die zeitgenössische fundamentalistische Wissenschaftsphilosophie, deren absolutistische Charakterisierung der Gültigkeit wissenschaftlichen Wissens von der Wissens soziologie übernommen wird. Die Wissenssoziologie akzeptiert die vom Logischen Empirismus bereitgestellte Interpretation wissenschaftlichen Wissens, nach der die Gültigkeit von Wissensansprüchen allein durch Logik und Erfahrung gesichert ist. Das gültige Wissen kann folglich kein Gegenstand wissenssoziologischer Analyse sein, denn wenn es die Tatsachen selbst sind, die die Ideen formen und über deren Anerkennung oder Verwerfung entscheiden, dann kann die Bildung und Bewertung wissenschaftlichen Wissens nicht von sozialen Faktoren beeinflußt sein. Die Wissenssoziologie ist daher, soweit sie sich der Wissenschaft widmet, auf die Untersuchung der sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen der Wissensproduktion verwiesen und kann allenfalls die Einflüsse des sozialen Kontextes auf die Interessenschwerpunkte der Wissenschaft, nicht aber auf den kognitiven Gehalt gültigen wissenschaftlichen Wissens erhellen. Das Relativis1964c, 361) von Gegenstand an sich und Gegenstand des Wissens zu entgehen, wodurch die letzthinnige Identität der Gegenstände des Wissens als gewiß gelten soll. Mannheim (1964c, 362) schreibt: "Wir glauben aber, daß diese Differenz (zwischen Tatsachenerkenntnis und Wesenserkenntnis; B.S.) nicht eine absolut sprunghafte ist, sondern daß die letztere Art sozusagen eine Verlängerung und Vertiefung der in der Tatsachenerkenntnis eingeschlagenen Richtung ist. Ein kontinuierliches Übergehen aus der Tatsachenempirie in die Wesensschauungen scheint uns stets vorzuliegen." 62 Hier liegt m.E. die Selbstwidersprüchlichkeit der Theorie Mannheims, nicht in einem sich selbst widerlegenden Wahrheitsrelativismus. Mannheim selbst räumt in einem Brief von 1946 sein Scheitern bei der Überwindung der fundamentalistischen Erkenntnistheorie ein und leitet daraus die Widersprüche in seiner Wissenssoziologie ab: "If there are contradictions they are not due to my short-sightedness but to the fact that I want to break through the old epistemology radically but have not succeeded yet fully." (zit. nach Wo(ff 1988, 728.) 4 Schofer

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B. Das Relativismusproblem in der älteren Wissenssoziologie

musproblem ist in dieser Sicht für die Wissenssoziologie irrelevant, weil gültiges Wissen nicht relativ, sondern absolut gültig ist. Robert K. Merton nimmt in der fundamentalistisch orientierten amerikanischen Wissenschaftssoziologie eine herausragende Position ein; er ist der mit Abstand bedeutendste Vertreter dieser Phase der Disziplin und begründet das Forschungsprogramm, das die Beiträge etwa von Barber, Ben-David und Storer insbesondere auch hinsichtlich der Stellungnahme zum Relativismusproblem anleitet. 63 Im Folgenden wird zunächst die Entwicklung der Wissenschaftssoziologie Mertons skizziert (Kap. m.l). Anschließend wird seine Umgehensweise mit dem Relativismusproblem behandelt und der entscheidende Einfluß fundamentalistischer Argumentationsmuster auf Mertons Einschätzung der Irrelevanz des Relativismusproblems und seinen wissenschaftssoziologischen Ansatz identifiziert (Kap. 111.2). 1. Die Entwicklung der Wissenschaftssoziologie Mertons

In der Entwicklung der Wissenschaftssoziologie Mertons lassen sich zwei Stadien mit unterschiedlichen Schwerpunkten der soziologischen Betrachtung der Wissenschaft unterscheiden. 64 In seinen Arbeiten der dreißiger Jahre konzentriert sich Merton auf die Analyse der soziokulturellen Bedingungen der Entstehung und Institutionalisierung von Wissenschaft im England des 17. Jahrhunderts sowie auf den Einfluß ökonomischer und militärischer Interessen auf die Forschungsschwerpunkte der jungen Wissenschaft. Den stärksten Nachhall fmdet seine, in Anknüpfung an Max Webers Protestantismus-Studie entwickelte These der engen Verknüpfung von Puritanismus und Wissenschaft: "(T)he religious movement partly 'adapted' itself to the growing prestige of science but it initially involved deep-seated sentiments which inspired its fol-

63 Die überragende Bedeutung Mertons für die amerikanische Wissenssoziologie wird von seinen Anhängern wie von seinen Kritikern konstatiert; vgl. etwa Storer 1973, xi mit Fn. 2; Barnes/Dolby 1973, 263; Mulkay 1975, 48.

64 Vgl. Merton 1977, 2Off. und Stehr 1985, 10 mit Fn. 9. Merton versteht die Wissenschaftssoziologie als Teil der Wissenssoziologie; vgl. Merton 1977, 22. Da Merton dem wissenschaftlichen Wissen jedoch einen epistemologischen Sonderstatus einräumt und daher nicht von einer einfachen Ausweitung der wissenssoziologischen Fragestellung auf wissenschaftliches Wissen gesprochen werden kann, wird hier die Wissens- von der Wissenschaftssoziologie auch begrifflich unterschieden. Die Beiträge Mertons zur Wissenssoziologie im engeren Sinne, die sich nicht mit der Wissenschaft und wissenschaftlichem Wissen befassen, berühren Mertons Umgehensweise mit dem Relativismusproblem nur wenig und werden hier nur am Rande berücksichtigt.

III. Die Wissenschafts soziologie Mertons

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lowers to a profound and consistent interest in the pursuit of science. "65 Die Lehre und der Wertkomplex des Puritanismus dienten Merton zufolge als Motivation, aber auch als Legitimation der neuen wissenschaftlichen Stellungnahme zur Welt, die systematisch-rationales Denken in den Dienst einer empiristischen Grundhaltung stellt und deren Naturerkenntnis den Ruhm Gottes mehren sowie durch technologische Naturbeherrschung die soziale Wohlfahrt steigern sol1. 66 Wissenschaftsexterne Faktoren spielen auch für die Verschiebung der Interessenschwerpunkte, die sich in der Wissenschaft des 17. Jahrhunderts beobachten läßt, eine wichtige Rolle. Welchen Problemen die wissenschaftliche und technologische Forschung besondere Aufmerksamkeit widmet, hängt nicht allein von der internen Forschungslogik ab, sondern ist zum Teil auch von ökonomischen und militärischen Problemen und Interessenlagen bedingt, die also die Richtung wissenschaftlichen Erkennens mitbestimmen. 67 Nach einer längeren Unterbrechung wendet sich Merton ab den fünfziger Jahren wieder spezifisch wissenschaftssoziologischen Problemstellungen zu. 68 Es geht ihm nun in erster Linie um die modeme Wissenschaft unserer Tage, die sich Merton zufolge zu einem relativ autonomen sozialen System entwickelt hat, das durch die Ausbildung spezifischer sozialer und kultureller Strukturen gegen externe Einflüsse relativ abgeschottet ist. Das zuvor dominante Problem der Wechselbeziehungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft tritt zugunsten der Frage nach der sozialen Struktur und den institutionalisierten Prozessen in der Wissenschaft zurück. Merton begründet im Rückblick diesen Wandel seiner wissenschaftssoziologischen Analyserichtung mit der Einsicht in den Mangel an einem begrifflichen Rahmen zur notwendigen Analyse der sozialen und kulturellen Struktur der Wissenschaft. "No matter how the environing culture or society affect the development of scientific knowledge and, to take the more familiar problem, no matter how scientific knowledge ultimately affects culture and society, these influences are mediated 65 Merlan 1973c, 229. Weber regt im Protestantismus-Aufsatz bekanntlich die Analyse der Beziehung des asketischen Protestantismus zum wissenschaftlichen Empirismus und der technischen Entwicklung an; vgl. Weber 1920, 204f.; vgl. auch Weber 1992, 9lf. Eine über Mertons Ansatz hinausreichende wissenschafts soziologische Problemstellung sieht Tenbruck bei Weber angelegt; vgl. Tenbruck 1974. Zu Webers Diagnose des okzidentalen Rationalismus vgl. Schluchter 1979 und Schluchter 1988. 66 Vgl. Merlan 1973c und Merlan 1968h, 628ff. Zur Diskussion um die sog. 'Merton-These' vgl. Breithecker-Amerull992, 173ff. und Rattansi 1990. 67 Vgl. Merlan 1973a; Merlan 1973b und Merlon 1968i, 661ff. 68 Ein für die zweite Phase der Wissenschafts soziologie Mertons zentraler Aufsatz über den wissenschaftlichen Ethos erscheint bereits 1942 (Merlan 1968g). Den hier entwickelten Ansatz greift Merton dann nach einer längeren Abwendung von der Wissenschafts soziologie in den fünfziger Jahren wieder auf und erweitert ihn. 4*

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B. Das Relativismusproblem in der älteren Wissenssoziologie

by the changing institutional and organizational structure of science itself. In order to investigate the character of those reciprocal influences between science and society and how they came about, it was therefore essential to en1arge my earlier effort to fmd a methodical way of thinking about science as institutionalized ethos (its normative aspect) and science as social organization (its patterns of interactions among scientists). "69 Die spätere funktionalistische Wissenschafts soziologie Mertons baut im wesentlichen auf zwei Säulen auf: Der Analyse der normativen Struktur der Wissenschaft und des spezifISchen Belohnungssystems der Wissenschaft. Das institutionelle Ziel der Wissenschaft - die Ausweitung gesicherten Wissens - wird durch die Anwendung der technischen Methoden erreicht; diese Anwendung wird wiederum durch den Ethos der Wissenschaft gesichert, d.h. durch jenen "affectively toned complex of values and norms which is held to be binding on the man of science. n70 Das spezifische Belohnungssystem der Wissenschaft, das dem Wissenschaftler die Reputation der Fachgemeinschaft als Belohnung vor allem für originelle, wissenserweiternde Beiträge zuweist, kann als eine wichtige Motivationsquelle für die Wissenschaftler verstanden werden, ihr Verhalten am Ethos der Wissenschaft zu orientieren. Dieses Modell - die soziologische Analyse der moralischen Normen und des Belohnungssystems - liefert den Bezugsrahmen für eine große Anzahl empirischer Einzelstudien in der Wissenschaftssoziologie und trägt entscheidend zum Aufschwung der Disziplin in den späten fünfziger und sechziger Jahren bei. 71

2. Das Relaüvismusproblem als Scheinproblem Mertons Wissenschafts soziologie ist nicht relativistisch. Die Analyse des Einflusses sozialer Faktoren auf den kognitiven Gehalt gültigen wissenschaftlichen Wissens und auf die Prozesse der Bewertung dieses Wissens wird von Merton nicht angestrebt und sie ist mit seinem Wissenschaftsverständnis im Grunde auch nicht vereinbar. In seinen frühen wissenschaftssoziologischen Arbeiten wendet sich Merton zwar gegen die Annahme einer von externen 69 Merton Im7, 22. 70 Merton 1968g, 605. Merton identifiziert vier moralische Normen, die den Ethos der Wissenschaft ausmachen - Universalismus, 'Kommunismus', Uneigennützigkeit und organisierten Skeptizismus; vgl. Merton 1968g, 606ff. In der Merton-Schule wurde dieses Normen-Bündel von Barber und Storer kommentiert und erweitert; vgl. Barber 1952, 84ff. und Storer 1966, 76ff. Zur Kritik am Konzept des Ethos der Wissenschaft vgl. Bames/Dolby 1973; Breithecker-Amend 1992, 155ff.; Mulkay Im4 und Stehr Im8. 71 Vgl. Storer 1m3, xxiv. Die Wissenschafts soziologie führt noch in den frühen fünfziger Jahren ein Schattendasein; vgl. Merton 1952.

III. Die Wissenschafts soziologie Mertons

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Einflüssen freien, rein immanenten Logik der wissenschaftlichen Entwicklung, aber die von Merton identifIzierten Einflüsse des sozialen Kontextes richten sich nicht auf den kognitiven Gehalt und die Beurteilung der Akzeptabilität von Wissensansprüchen, sondern lediglich auf die Auswahl wissenschaftlicher Probleme und Fragen. Obwohl Merton hier also die Einflüsse soziologisch analysierbarer Faktoren auf die Entwicklungsrichtung wissenschaftlichen Wissens thematisiert, macht er nicht den, für das Auftreten epistemologischer Konsequenzen der Wissens schafts soziologie entscheidenden Schritt hin zur soziologischen Analyse der akzeptierten Antworten wissenschaftlicher Theorien auf diese Fragen. In einzelnen Passagen insbesondere seiner frühen Schriften wird freilich auch eine gewisse Ambivalenz Mertons hinsichtlich des Problems der Zugänglichkeit wissenschaftlichen Wissens für die soziologische Analyse sichtbar. So schreibt er: "Very few physical scientists and not many more social scientists have paid attention to the diverse influences of social structure upon the rate of development, the foci of interest and, perhaps, upon the very content of science."72 Diese vereinzelt aufscheinende Ambivalenz Mertons zeigt jedoch weder in seiner frühen noch in seiner späteren Wissenschafts soziologie Folgewirkungen auf die soziologische Problemstellung, die den Erkenntnis gehalt des Wissens nicht berücksichtigt. So macht Merton im Rahmen der programmatischen Bestimmung des Forschungsgegenstandes bei der Rejustierung seines Ansatzes unmißverständlich klar, daß die Disziplin sich nicht der Analyse des kognitiven Gehalts des Wissens widmet, da dies in den Bereich der Wissenschaftsphilosophie falle. "Science is a deceptively inclusive word which refers to a variety of distinct though interrelated items. It is commonly used to denote (1) a set of characteristic methods by means of which knowledge is certified; (2) a stock of accumulated knowledge stemming from the application of these methods; (3) a set of cultural values and mores governing the activities termed scientific or (4) any combination of the foregoing. We are here concerned in a preliminary fashion with the cultural structure of science, that is, with one limited aspect of science as an institution. Thus, we shall consider, not the methods of science, but the mores with which they are hedged about. To be sure, methodological canons are often both technical ex72 Merton 1968e, 585. Stark kommentiert Mertons Unsicherheit bei der Antwort auf die Frage eines eventuellen Einflusses der Sozialstruktur auf den Gehalt gültigen Wissens mit folgender Bemerkung: "Wenn er, wie es den Anschein hat, zögert, hierauf eine bestimmte Antwort zu geben, so wollen wir es für ihn tun, und zwar im verneinenden Sinne. Und dies scheint in der Tat die Art von Antwort zu sein, die seine eigenen Einzelforschungen nahelegen. " (Stark 1960, 141.) Die ganz überwiegende Mehrheit der Vertreter der zweiten Phase der Wissenssoziologie weist ähnlich entschieden wie Stark das Projekt einer Soziologie des wissenschaftlichen Wissens strikt zurück; vgl. Stehr 1975, 16 (Fn. 6). Für einige Indizien der Ambivalenz Mertons vgl. Stehr 1985, 12ff.

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B. Das Relativismusproblem in der älteren Wissenssoziologie

pedients and moral compulsives, but it is soleley the latter which is our concern. This is an essay in the sociology of science, not an excursion in methodology. Similarly, we shall not deal with the substantive fmdings of sciences (hypotheses, uniformities, laws), except as these are pertinent to standardized social sentiments toward science. -73 Diese Ausklammerung des wissenschaftlichen Wissens und seiner Bewertungsprozesse von der soziologischen Analyse wird zunächst vor dem Hintergrund der verbreiteten und auch von Merton geteilten Einschätzung des Scheiterns Mannheims bei der Lösung des Relativismusproblems verständlich. 74 Die junge und in einem fundamentalistisch geprägten geistigen Klima um Anerkennung ringende amerikanische Wissenschaftssoziologie kann insofern kaum daran interessiert sein, ihr Forschungsprogramm so zu konzipieren, daß der epistemologische Status gerade auch der eigenen Wissensanspruche problematisch erscheinen muß.15 Merton begründet im Rückblick die Ausklammerung der erkenntnistheoretischen Implikationen aus der Disziplin ganz ähnlich mit forschungspraktischen Vorteilen und Endastungen. Die Wissenschaftssoziologie habe aufgrund der Notwendigkeit der Bestimmung einer öffentlichen Identität und des Bedürfnisses nach kognitiver und institutioneller Legitimität eine starke geistige Arbeitsteilung selbst gefördert: -(T)he early days of an empirically oriented sociology of science involved a de Jacto (rather than doctrinal) differentiation and separation from the philosophy and history of science. As the sociology of science began to be accorded legitimacy, the pressure for separatism declined. -76 Derartige forschungsstrategische Erwägungen allein können die Einschätzung der Irrelevanz des Relativismusproblems aber nicht befriedigend erklären. So weist bereits die persistierende Ausklammerung der Frage nach sozialen Faktoren bei der Bildung und Bewertung wissenschaftlichen Wissens nach der kognitiven und institutionellen Etablierung der Disziplin in den sechziger Jahren darauf hin, daß die Distanzierung von der erkenntnistheoretischen Problematik nicht nur als eine forschungsstrategische Maßnahme angesehen werden kann. Die Umgehensweise mit dem Relativismusproblem in der amerikanischen Wissenschaftssoziologie ist vielmehr, so die im Folgenden entwickelte These, durch die Akzeptanz des wissenschaftsphilosophischen Fundamentalismus entscheidend geprägt. Merton delegiert die erkenntnistheoretische Problematik an die zeitgenössische Wissenschaftsphilosophie und akzeptiert die fundamentalistische Auffassung des wissenschaftlichen Wissens, die der Logi73 Merton 1968g, 605. Vgl. auch Storer 1966, 3. 74 Vgl. Merton 1968d, 556ff. und Storer 1973, xiii. 75 Vgl. Phi/lips 1974, 76f. 76 Merton 1977, 68; H.i.O. Vgl. auch ebd., 67f. und Storer 1973, xviif.

III. Die Wissenschafts soziologie Mertons

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sche Empirismus vertritt. Zwar bezieht sich Merton kaum auf Vertreter dieser philosophischen Richtung und vermeidet meist eine explizite Affirmation positivistischer Sichtweisen, in Mertons Schriften fmden sich aber dennoch deutliche Belege für die Annahme, daß Merton in wesentlichen Punkten eine dem Logischen Empirismus zumindest nahestehende fundamentalistische Sicht der Wissenschaft vertritt, die seine Umgehensweise mit dem Relativismusproblem und sein wissenschaftssoziologisches Forschungsprogramm entscheidend prägt. 77 Merton skizziert die grundlegenden Züge seiner Sicht der Wissenschaft in komprimierter Form wie folgt: "The institutional goal of science is the extension of certified knowledge. The technical methods employed toward this end provide the relevant defmition of knowledge: empirically conf1I1l1ed and logically consistent predictions. The institutional imperatives (mores) derive from the goal and the methods. The entire structure of technical and moral norms implements the fmal objective. The technical norm of empirical evidence, adequate, valid and reliable, is aprerequisite for sustained true prediction; the technical norm of consistency, aprerequisite for systematic and valid prediction ... 78 Merton nimmt an, daß die Anwendung der technischen Methoden bzw. der technischen Normen der logischen Konsistenz und der Übereinstimmung mit der Beobachtung bzw. den Tatsachen79 die Generierung sicher gültigen Wissens verbürgt. Da die Wissenschaftler, motiviert von moralischen Normen, ihre Forschung in der Regel an diesen fixen und universal gültigen technischen Normen ausrichten, vermehren sie den Bestand des gesicherten Wissens, der von den Tatsachen - über die Anwendung der technischen Normen, die absolut

77 Zu der zwar impliziten, nicht aber folgenlosen Adoption der positivistischen Wissenschaftsphilosophie durch die funktionalistische Wissenschaftssoziologie vgl. besonders King 1974, 39ff. Vgl. weiterhin Richards 1987, 204f.; Spinner 1987, 76f.; Stehr 1975, 9; Weingart 1973a, 30; Whitley 1972, 62. 78 Merton 1968g, 606. 79 Merton spezifiziert die beiden technischen Normen nicht immer ganz genau gleich. Die Norm der empirischen Bestätigung bezieht sich auf Übereinstimmung von Theorien und Gesetzen mit der Beobachtung oder auch mit den Tatsachen; vgl. Merton 1968g, 607 gegenüber Merton 1968f, 595. Hier finden sich auch Belege für die Interpretation, daß sich die zweite Norm sowohl auf die innere Konsistenz von Theorien als auch auf ihre Konsistenz mit anderen, schon bestätigten Theorien bezieht. Die Methoden und Normen zur Generierung abgesicherten Wissens gelten nach Merton in der ganzen Wissenschaft - die Soziologie sei zwar noch nicht so weit entwickelt wie etwa die Physik, müsse aber letztlich auch den Regeln der wissenschaftlichen Methode genügen; vgl. Merton 1968a, 140.

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B. Das Relativismusproblem in der älteren Wissenssoziologie

gültiges Wissen vermitteln - bestimmt wird. 80 In dieser Sicht erscheinen die Wissenschaftler lediglich als - bei strikter Orientierung an den wissenschaftlichen Normen optimale - Vermittler der Antworten, die in letzter Instanz die Natur selbst gibt. Die Applikation der technischen Normen führt nicht immer sofort zum Konsens der Wissenschaftler. Dieser Konsens ist in Mertons Sicht aber eine zentrale Bedingung des kumulativen Erkenntnisfortschritts; gerade weil der Konsens über die richtige theoretische Interpretation gesucht und in der Regel gefunden wird, kann vom kumulativen Charakter der Wissenschaft gesprochen werden. 81 "Differences in theoretic interpretation may indeed occur in science and often do; this is not the point in issue. But the differences are conceived as evidence of inadequacies in the conceptual scheme or possibly in the original observations, and research is instituted to eliminate these differences. "82 Mertons fundamentalistische Auffassung wissenschaftlichen Wissens drückt sich nun erneut und prononciert in seiner Annahme aus, die optimierte Anwendung der technischen Normen könne diesen Konsens garantieren. Welche der divergierenden Theorien schließlich als die akzeptable Theorie ermittelt wird, bestimmen Merton zufolge letztlich die Tatsachen der Welt, vermittelt durch eine sorgfältige, wiederholte Überprüfung nach Maßgabe der technischen Normen der logischen Konsistenz und der empirischen Bestätigung. Die konsensuelle Wahl einer von mehreren konkurrierenden Theorien wird als eine Wahl begriffen, die durch die - mittels Logik und Erfahrung nachweisbare größere Übereinstimmung mit den Tatsachen entschieden wird. Merton schreibt: "(T)he criteria of validity of claims to scientific knowledge are not matters of national taste and culture. Sooner or later, competing claims to validity are settled by the universalistic facts of nature which are consonant with one and not with another theory. "83 In dieser Passage wird Mertons Akzeptanz des Fundamentalismus logischempiristischer Provenienz besonders deutlich. Er vertritt zum einen die erste fundamentalistische Teilthese, nach der die Wissenschaft über einen privile80 Die absolute Gültigkeit, die in Mertons Sicht wissenschaftlichen Theorien zugesprochen werden kann, ist im Sinne des extremen Absolutismus zu begreifen. Merton macht dabei in Übereinstimmung mit dem zeitgenössischen Logischen Empirismus klar, daß Theorien zwar nicht als wahr erwiesen werden können, aber in hohem Ausmaß bestätigt werden können; vgl. Menon 1968a, 152.

81 Vgl. Menon 1968b, 502.

82 Menon 1968b, 502. 83 Menon 1968g, 608 (Fn. 4a). Storer schließt sich dieser Sicht an und spricht von der Verifikation von Wissensansprüchen durch empirische Evidenz; vgl. Storer 1966, 82.

III. Die Wissenschafts soziologie Mertons

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gierten Zugang zu den Tatsachen der Welt verfügt. Die Beobachtung und Kenntnis dieser Tatsachen wird insofern als unproblematisch eingeschätzt, als nicht mit einer Theoriegeladenheit der Beobachtung gerechnet wird, die den privilegierten Zugang zu den Tatsachen systematisch verstellen könnte und die vermeintlich sicheren Basissätze über die Tatsachen als fallible Festsetzungen begreiflich werden ließe. 84 Merton akzeptiert zum anderen die zweite fundamentalistische Teilthese der eindeutigen Zurückführbarkeit der Gültigkeit oder Ungültigkeit theoretischer Annahmen auf die Gültigkeit der Sätze der empirischen Basis. In seiner Sicht können Logik und Erfahrung allein eine von zwei konkurrierenden Theorie als vorzüglich erweisen, indem die Tatsachen die eine Theorie bestätigen und die andere widerlegen. Merton macht nicht nur hier seine, der Duhem-Quine-These entgegengesetzte Auffassung unmißverständlich deutlich, daß negative Prüfungsresultate bestimmte theoretische Annahmen eindeutig und schlüssig widerlegen können; so sind nach Merton etwa Aussagen, die den Begriff der 'relativen Deprivation' verwenden, "readily subject to empirical nullification, if they are in fact untrue ... 85 Wenn aber in der Wissenschaft ein theoriefreier und hinreichend sicherer Zugang zu den Tatsachen gegeben ist und eine Theorie durch die Konfrontation mit diesen Tatsachen früher oder später eindeutig bestätigt oder widerlegt werden kann und wird, dann ist die Bewertung von Wissensansprüchen durch Logik und Erfahrung allein bestimmt und daher von sozialen Faktoren nicht beeinflußbar . Mertons Akzeptanz fundamentalistischer Denkmuster des Logischen Empirismus unterbindet also die Entwicklung eines wissenschaftssoziologischen Forschungsprogramms zur Untersuchung sozialer Einflüsse auf die Bildung und Bewertung von Wissen und führt ihn zu einem extremen Absolu-

84 Mertons Stellungnahme zur ersten fundamentalistischen Teilthese ist zwar häufig, nicht aber durchgängig affirmativ; vgl. auch Merton 1968a, 141 (Fn. 2). 85 Merton/Rossi 1968, 284. Er spricht auch von der "decisive nullification" (Merton/Rossi 1968, 312. Fn. 34) von Hypothesen und affirmiert den Gedanken 'entscheidender Experimente'. in denen ein negatives Prüfungs resultat als ausschlaggebender Nachweis der Falsifikation und Unterlegenheit einer der konkurrierenden Theorien gedeutet wird; vgl. Merton 1968a, 153. Einen weiteren Beleg für die in Mertons Sicht unproblematische. durch Logik und Erfahrung verbürgte eindeutige Falsifizierbarkeit von Theorien liefert die folgende Passage: "( ... ) a decisive question must be raised in order to determine whether we have a genuine theory: how can the theory be invalidated? In any given historical situation, which data will contradict and invalidate the theory? Unless this can be answered directly. unless the theory involves statements which can be controverted by definite types of evidence, it remains merely a pseudo-theory which will be compatible with any array of data." (Merton 1968c, 533.)

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B. Das Relativismusproblem in der älteren Wissenssoziologie

tismus, in dessen Licht sich das Relativismusproblem als Scheinproblem darstellt.86 Mertons Akzeptanz des wissenschaftsphilosophischen Fundamentalismus prägt neben seiner Einschätzung des Relativismusproblems auch seine Konzeption des Ethos der Wisssenschaft. Die institutionalisierten moralischen Normen der Wissenschaft bilden Merton zufolge eine Barriere gegen wissenschaftsexteme Einflüsse, indem sie als moralischer Zwang zur Anwendung der technischen Methoden bzw. Normen wirken. Die moralischen Normen tragen also ebenso wie die technischen Normen zur Autonomie der Wissenschaft sowie zum Ziel der Erweiterung des abgesicherten Wissens bei, und sie leiten sich aus diesem Ziel und den technischen Normen ab.87 Da Merton das Verhältnis der technischen zu den moralischen Normen als eine Ableitungsbeziehung begreift, macht er seine Konzeption der moralischen Normen in einem gewissen Ausmaß von der fundamentalistischen Sicht der technischen Methoden und Normen abhängig, die er vom Logischen Empirismus übernimmt. Die Plausibilität der den moralischen Normen zugeschriebenen Wirkkraft setzt in seiner Theorie die Plausibilität der fundamentalistischen Interpretation der Bildung und Bewertung wissenschaftlichen Wissens voraus. So greift insbesondere Mertons These der Blockierung externer Einflüsse des sozialen Kontextes auf die Bewertung von Wissensansprüchen durch die Norm des Universalismus, nach der Wissensansprüche nicht nach den individuellen oder sozialen Merkmalen ihrer Vertreter bewertet werden dürfen, auf fundamentalistische Vorannahmen zurück. "Universalism fmds immediate expression in the canon that truth claims, whatever their source, are to be subjected to preestablished impersonal criteria: consonant with observation and with previously confrrmed knowledge. ( ... ) Objectivity precludes particularism. The circumstance 86 Eine ganz ähnliche Stellungnahme in der Relativismusdebatte zeigt sich auch bei anderen Vertretern der zeitgenössischen Wissenssoziologie. So macht Storer deutlich, daß seine Analyse des wissenschaftlichen Ethos die Annahme voraussetzt, die Wahrheit empirischen Wissens sei von ihrem Entdecker und Raum und Zeit unabhängig; vgl. Storer 1966, 80. DeGre schließt sich der allgemeinen Annahme der Unzuständigkeit der Wissens soziologie für epistemologische Fragen an; vgl. DeGre 1985, 29. DeGres Negation relativistischer Konsequenzen der Wissenssoziologie wird zudem vor dem Hintergrund der dezidiert realistisch orientierten fundamentalistischen Wissenschaftsphilosophie verständlich, der er sich verpflichtet sieht und die er durch folgende Annahmen charakterisiert: "(1) that a real world exists indepedently of our knowing it; (2) that this real world is to an extent knowable through a process of approximation; (3) that knowledge is true to the degree to which it approximates or is isomorphic to the structure of reality." (DeGre 1985, 190.) 87 Vgl. Merton 1968g, 606. Die Verbindlichkeit der moralischen Normen ergtbt sich Merton zufolge aus ihrer 'prozeduralen Effizienz' und weil sie für gut und richtig erachtet werden; vgl. ebd., 606f.

III. Die Wissenschafts soziologie Mertons

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that scientifica11y verified formulations refer to objective sequences and correlations militates against a11 efforts to impose particularistic criteria of validity."88 Die Anwendbarkeit der so spezifizierten moralischen Norm des Universalismus setzt die Verfügbarkeit fundamentalistisch interpretierter technischer Methoden und Normen voraus, die eine eindeutige Zuruckführung der Gültigkeit oder Ungültigkeit von Theorien auf die Gültigkeit harter Tatsachenaussagen - ohne eine Einflußnahme sozialer Faktoren - erlauben. 89 Mertons Forschungsprogramm für die zweite Phase der Wissenssoziologie erscheint heute angesichts des Plausibilitätsverlusts fundamentalistischen Denkens in der Wissenschaftsphilosophie zum Teil sehr problematisch. Merton reagiert insbesondere in einem Aufsatz von 1984 auf diesen Problemdruck und schließt sich im Rahmen einer markanten Revision der wissenschaftsphilosophischen Ausgangspunkte seiner Soziologie der antifundamentalistischen Position an. 90 Während er zuvor von der durch Logik und Erfahrung verbürgten eindeutigen FalsifIzierbarkeit theoretischer Annahmen ausging, akzeptiert er nun die Duhem-Quine-These sowie einen "Entscheidungsspielraum der Wissen88 Merton 1968g, 607; H.i.O. Die Abhängigkeit der Norm des Universalismus von den technischen Normen wird auch deutlich, wenn Merton die technischen Normen direkt als Bestandteil des wissenschaftlichen Ethos bezeichnet; vgl. Merton 1968e. 588. 89 So schreibt Storer (1966. 82): "When the consensus required for 'certifying' a proposition as 'true' cannot be arrived at through empirical operations, such as experimental verification in science, other means of achieving consensus must be employed. And when these means beginn to involve rhetoric or personal influence. the norms of universalism and organized scepticism may be difficult to implement in practice." Einen Mangel an technischen Methoden zur eindeutigen und schlüssigen Bewertungen von Wissensanspriichen diagnostiziert Storer freilich nicht in der Wissenschaft, sondern nur in Disziplinen wie der Moralphilosophie; vgl. ebd., 82.

90 Der Beginn dieser Neuorientierung kann mit Mertons Rückblick auf die Wissenschaftssoziologie aus dem Jahre 1977 datiert werden. Er befürwortet hier noch nicht die Duhem-Quine-These, bekennt sich aber bereits unzweideutig zur These der Theoriegeladenheit der Beobachtung; vgl. Merton 1977, 124 (Fn. 49). Merton konstatiert hier einen merklichen Einfluß Poppers auf die Wissenschafts soziologie der letzten Dekade. spezifiziert diesen Einfluß aber nicht weiter und gibt auch nicht zu erkennen, daß er seine Theorie nun mit Poppers Methodologie verknüpfen möchte; vgl. ebd., 68. Schließlich betont er die Nähe des von ihm begründeten wissenschaftssoziologischen Forschungsprogramms zur Philosophie Kuhns. wobei er allerdings die Kernaussagen Kuhns sehr restriktiv in dessen Thesen zur Problemwahl sieht und als den gemeinsamen Problembereich der Kuhnschen und der wissenschaftssoziologischen Arbeiten lediglich die Analyse des Einflusses sozialer Faktoren auf die Wahl von Forschungsproblemen bezeichnet; vgl. ebd., 106. Kuhns Anregungen zur Rolle sozialer Faktoren in der Wissenschaft gehen aber deutlich über diesen Punkt hinaus und richten sich besonders auf den möglichen Einfluß dieser Faktoren auf den kognitiven Gehalt und die Bewertung des Wissens; vgl. dazu Kap. C.I1I. Zur Rezeption und Interpretation Kuhns in der Merton-Tradition und der neueren Wissenssoziologie vgl. Pinch 1997.

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B. Das Relativismusproblem in der älteren Wissenssoziologie

schaftler hinsichtlich der genauen Bestimmung der zu modifizierenden oder zu verwerfenden theoretischen Annahmen im Fall negativer Prüfungsresultate. Er schreibt: "Decades after the beginnings of Karl Popper's ( ... ) powerful and evolving doctrine of falsification, the fundamental question still endures: When are we to retain a hypothesis or theoretical conception in the face of facts that seem to refute it?"91 Er arbeitet jedoch nicht die Folgewirkungen dieser epistemologischen Neuorientierung für seine Wissenschaftssoziologie heraus, und insbesondere scheint er daraus nicht die Konsequenz eines möglichen Einflusses sozialer Faktoren auf die Bildung und Bewertung wissenschaftlichen Wissens zu ziehen. Mertons affIrmative Bezugnahme auf die Methodologie von Lakatos legt vielmehr die Interpretation nahe, daß er auch weiterhin Distanz zu den relativistischen Ansätzen der neueren Wissenssoziologie bew$ren möchte, indem er mit Lakatos den absolutistischen Grundimpuls seiner Wissenschaftssoziologie im Rahmen einer antifundamentalistischen Position zu verteidigen versucht.

* Insgesamt läßt sich in den ersten beiden Phasen der Wissenssoziologie die Blockierung des Programms einer konsequent relativistischen Analyse gerade auch des naturwissenschaftlichen Wissens durch die Akzeptanz fundamentalistischer Denkfiguren seitens der Wissenssoziologie feststellen. Das Relativismusproblem der Wissenssoziologie erscheint vor dem Hintergrund dieser Akzeptanz als Scheinproblem oder als ein Problem, das durch die partielle Verwendung fundamentalistischer Argumente gelöst werden kann. Die untersuchten Theorien gelangen entweder zu der Einschätzung der Irrelevanz des Relativismusproblems aufgrund der Annahme, gültiges wissenschaftliches Wissen werde durch Logik und Erfahrung allein bestimmt (Durkheim, Merton), oder zur Anerkennung des Relativismusproblems aufgrund der Seinsverbundenheit des soziologischen - nicht aber naturwissenschaftlichen - Wissens und zum Versuch der Lösung dieses Problems durch den Rückgriff auf fundamentalistische Annahmen, die den Aussagen der Wissenssoziologie einen privilegierten Status sichern sollen (Mannheim). Die Einschätzung der Irrelevanz des Relativismusproblems stützt sich in der zweiten Phase der Disziplin entscheidend auf fundamentalistische ~n, die vom Logischen Empirismus als der zu jener Zeit dominanten Wissenschaftsphilosophie übernommen werden. Im Folgenden wird zunächst der Logische Empirismus vorgestellt und seine allmähli91 Merton 1984, 1108. Merton setzt hinzu, daß sowohl die Natur- als auch die Sozialwissenschaften mit dem Duhem-Quine-Problem konfrontiert sind; vgl. ebd., 1109. Er bezeichnet den Erkenntnisfortschritt als einen zwar kumulativen, aber selektiven und nicht-unilinear verlaufenden Prozeß; vgl. ebd., 1107. Er deutet auch einen gewissen Perspektivismus an; vgl. ebd., 1102.

III. Die Wissenschaftssozio1ogie Mertons

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che Entwicklung von einer strikt fundamentalistischen zu einer letztlich antifundamentalistischen Sicht der Wissenschaft nachgezeichnet. Während der reife Logische Empirismus das Projekt einer relativistischen Wissens soziologie im Grunde nicht mehr blockieren kann, stellen die Methodologien von Popper und Lakatos im Rahmen eines konsequenten Antifundamentalismus neue Argumente gegen die relativistische Wissenssoziologie bereit. Nach der Diskussion des Falsiflkationismus wird schließlich mit der antifundamentalistischen und relativistischen Theorie Kuhns der einflußreichste Ansatz der postempiristischen Strömung in der neueren Wissenschaftsphilosophie behandelt, der maßgeblich zur Entfaltung der neueren Wissenssoziologie beiträgt.

c. Die wissenschaftsphilosophischen Ausgangspunkte der neueren Wissenssoziologie in der modemen Wissenschaftsphilosophie I. Der Logische Empirismus Der Logische Empirismus dominiert von den dreißiger Jahren bis weit in die fünfziger Jahre den wissenschaftsphilosophischen Diskurs. Es geht den Vertretern dieser philosophischen Bewegung in erster Linie um die Klärung der Struktur wissenschaftlichen Wissens durch logische Analyse. Die intendierte Klärung richtet sich zum einen auf metawissenschaftliche Begriffe wie z.B. 'Bestätigung', zum anderen auf die Theorien, Sätze und Begriffe der empirischen Wissenschaft, und sie besteht dann "im einzelnen: in der Zerlegung der Sätze in Satzteile (Begriffe), der schrittweisen Zuriickführung der Begriffe auf grundlegendere Begriffe und der schrittweisen Zurückführung der Sätze auf grundlegendere Sätze."1 Auf diese Weise sollen Theorien - die zum Zweck der Analyse als bereits fertig vorliegende Satzsysteme betrachtet werden - in eine möglichst durchsichtige Form gebracht werden, damit ihre logischen Zusammenhänge deutlicher werden als in ihrer ursprünglichen Formulierung und die Fachwissenschaftier so zu einer größeren geistigen Durchdringung und Ordnung ihre Ergebnisse gelangen können. Die Wissenschaftstheorie des Logischen Empirismus kann daher als Wissenschaftslogik bezeichnet werden; im Unterschied zur Methodologie, wie sie etwa von Popper entwickelt wird, liegt ihr Ziel nicht in der Formulierung normativer methodologischer Regeln zur Sicherung und Verbesserung der Objektivität des wissenschaftlichen Wissens und des Erkenntnisfortschritts. 2

1 Carnap 1977a, 73. Zum basalen Anliegen des Logischen Empirismus vgl. auch Carnap 1993, 136f.; Carnap/Hahn/Neurath 1979, 86ff.; Hempel 1970, 148; Kraft 1968, 2lf.; Shapere 1984c, 156f. 2 Für diese, auf Popper zurückgehende Unterscheidung wissenschafts theoretischer Ansätze in wissenschaftslogische und methodologische Programme vgl. Radnitzky 1989, 463ff.; vgl. auch Popper 1989, 22ff.; ferner Giere 1971, 539ff. und Ströker 1977, 109ff. Da es dem Logischen Empirismus v.a. um die Klarheit der Theorien und Verfahren der Wissenschaft geht, aber nicht oder kaum darum, die Objektivität der Theorien und Verfahren durch die Angabe normativer methodologischer Regeln gegen einen eventuellen Einfluß sozialer Faktoren auf die Bildung und Bewertung des Wis-

I. Der Logische Empirismus

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Die fundamentalistische Philosophie des Logischen Empirismus lieferte lange Zeit einen entscheidenden Beitrag zur Blockierung einer relativistischen Wissens soziologie, da in ihrem - von den Vertretern der zweiten Entwicklungsphase der Wissenssoziologie akzeptierten - Bild der Wissenschaft zunächst keine oder allenfalls sehr geringe Einflußmöglichkeiten sozialer Faktoren auf die Bildung und Bewertung des wissenschaftlichen Wissens bestehen. Der Fundamentalismus des Logischen Empirismus besteht in den Annahmen, daß zum einen theoriefreie und sichere Aussagen das Fundament des wissenschaftlichen Wissens bilden und daß zum anderen die Gültigkeit oder Ungültigkeit von theoretischen Sätze auf dieses Fundament zurückgeführt werden kann. Die Gültigkeit der grundlegenden Sätze und des durch sie fundierten theoretischen Wissens wird entsprechend zunächst im Sinne des extremen Absolutismus interpretiert. Die Entwicklung des Logischen Empirismus läßt sich als sukzessive Verfeinerung und Abschwächung der beiden fundamentalistischen Teilthesen rekonstruieren. Der Logische Empirismus der späten fünfziger und sechziger Jahre sieht sich immer mehr zur Anerkennung antifundamentalistischer Argumente und damit auch zur Preisgabe seiner Kernthesen gedrängt. Mit der zunehmenden Abschwächung des Fundamentalismus, vor allem aber mit der Übernahme antifundamentalistischer Argumente und der Hinwendung zum gemäßigten Absolutismus im späten Logischen Empirismus werden im Bild der Wissenschaft, das diese Wissenschaftsphilosophie nun entwirft, erhebliche Einflußchancen sozialer Faktoren auf die Bildung und Bewertung des Wissens sichtbar. Der Logische Empirismus kann nun kaum noch als Kronzeuge gegen die Möglichkeit und Relevanz einer relativistischen Wissenssoziologie auftreten oder herangezogen werden; er stellt vielmehr implizit die wissenschaftsphilosophischen Ausgangspunkte der neueren Wissenssoziologie bereit. Im Folgenden wird die Entwicklung des Logischen Empirismus rekonstruiert, wobei drei Entwicklungsphasen unterschieden werden: Die frühe Phase des strikt fundamentalistischen Programms des Wiener Kreises (Kap. 1.1); der noch stark fundamentalistisch geprägte fortgeschrittene Logische Empirismus von etwa Mitte der dreißiger bis Mitte der fünfziger Jahre (Kap. 1.2); und der späte Logische Empirismus, der explizit antifundamentalistischen Annahmen nachgibt und, so meine These, in dieser Form dem Programm einer relativistischen Wissenssoziologie letztlich nicht mehr entgegensteht (Kap. 1.3).

sens zu sichern und zu optimieren. kann mit Popper auch vom Naturalismus dieser Bewegung gesprochen werden; vgl. Popper 1979, 39lf. und Popper 1989, 22ff.

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C. Wissenschaftsphilosophische Ausgangspunkte

1. Der strikte Fundamentalismus des frühen Logischen Empirismus

Der Logische Empirismus ist in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren in erster Linie die Wissenschaftsphilosophie des 'Wiener Kreises', dem als wichtigste Mitglieder Rudolf Carnap, Moritz Schlick und Otto Neurath angehören. 3 Die Philosophie des Wiener Kreises läßt sich als eine Kombination vor allem zweier Einflüsse und Elemente verstehen - des phänomenalistisch gewendeten Positivismus Machs mit der neuen Aussagenlogik Russells. 4 Mach vertritt im Anschluß an den klassischen Empirismus und Positivismus von Hume, Comte und Mill eine Erkenntnistheorie, in der die einzelnen Sinneseindrücke als das positiv 'Gegebene' fungieren. Ein zentraler Gedanke der Theorie Machs und sein Vermächtnis an den Wiener Kreis ist der Gedanke der Reduzierbarkeit jeder Erkenntnis auf diese letzte Grundlage von Empfmdungen: Wissensansprüche über die Welt lassen sich letztlich nur durch das Zeugnis der eigenen Sinnesdaten als dem unmittelbar Gegebenen rechtfertigen. Wissenschaft ist Mach zufolge die möglichst ökonomische Systematisierung der grundlegenden Sinnesdaten. Theorien sind nichts anderes als Voraussagen ermöglichende und mehr oder weniger vereinfachende Beschreibungen direkter Erfahrungen, also der Sinnesdaten. Diese positivistische Grundannahme der Reduzierbarkeit von Aussagen und Begriffen auf das Gegebene - bei Mach auf die Sinnesdaten - impliziert auch den Gedanken der Konstruierbarkeit aller Begriffe vom Fundament der Erkenntnis her. "Es leuchtet ein, daß eine solche Konstruktion nur möglich sein kann, wenn es gelingt, zwischen den Grundelementen Beziehungen herzustellen, diese Beziehungen dann untereinander zu verknüpfen oder wieder auf andere Grundelemente zu beziehen. Den alten Positivisten fehlte jedoch für die praktische Verwirklichung dessen, was sie als möglich behaupteten, das ge3 Zur Geschichte des Wiener Kreises und zum Einfluß seiner positivistischen Vorläufer vgl. Carnap/Hahn/Neurath 1979, 81ff.; Giddens 1978, 238ff.; Haller 1993, 18ff.; Kraft 1968, Iff.; Schnädelbach 1971, 13ff.; vgl. dazu sowie zur Einbettung des Wiener Kreises in seinen soziokulturellen Kontext auch die detaillierte Untersuchung von Stadler 1997. Der Logische Empirismus ist während seiner ganzen Entwicklung keine völlig homogene Bewegung, und bereits in seinem frühen Stadium lassen sich insbesondere die später immer deutlicher werdenden Divergenzen der Ansichten von Schlick und Neurath erkennen; vgl. Haller 1993, 163 und ebd., 166. Es sind v.a. die überaus einflußreichen Beiträge Camaps, die solche Divergenzen immer wieder in den Hintergrund treten lassen und die Grundrichtung des Logischen Empirismus bestimmen. Da sich an Camaps philosophischem Werdegang die Entwicklung des Logischen Empirismus, die von Camap mehr als von jedem anderen geprägt wird, exemplarisch darstellen läßt, stehen im Folgenden die Beiträge Camaps im Zentrum. Daneben werden, in erster Linie bei der Betrachtung des späten Logischen Empirismus, die wegweisenden Arbeiten Carl G. Hempels besonders berücksichtigt. 4 Vgl. Carnap 1961, 3.

I. Der Logische Empirismus

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eignete Instrument. Nur mittels einer Relationenlogik können derartige komplizierte Begriffs-Konstruktionen durchgeführt werden."5 Die neue Logik, die Russell und Whitehead im Anschluß an Frege entwickeln, liefert den neuen Positivisten das benötigte Werkzeug und stellt so den zweiten wesentlichen Einfluß auf die Philosophie des Wiener Kreises dar. Russells Einfluß wird zum Teil über Wittgenstein vermittelt, dessen Tractatus vom Kreis ganz im Sinne der Russellschen Erkenntnistheorie und als Markstein für das eigene Projekt verstanden wird. 6 Im Tractatus faßt Wittgenstein den Satz als Wahrheitsfunktion seiner 'Elementarsätze' auf und ordnet den Elementarsätzen korrespondierende 'atomare Sachverhalte' zu, ohne die praktische Identiftzierbarkeit dieser Grundeinheiten weiter zu thematisieren. Der Wiener Kreis interpretiert nun die atomaren Sachverhalte als die unmittelbar gegebenen Sinnesdaten Machs und die Elementarsätze als die Sinnesdaten festhaltenden 'Protokollsätze' . Noch die abstraktesten Begriffe und Sätze einer Theorie sollen so durch Wahrnehmungsprotokolle in den unmittelbaren Erfahrungen fundiert und von ihnen her rekonstruiert werden können. Mit seinem ersten größeren Werk, Der logische Aufbau der Welt (1928), beginnt Carnap die Durchführung dieses strikt fundamentalistischen Programms. Carnap formuliert im Rückblick sein früheres Anliegen so: "In meinem Buch handelte es sich um die genannte These, daß es grundsätzlich möglich sei, alle Begriffe auf das unmittelbar Gegebene zurückzuführen. Die Aufgabe, die ich mir stellte, war aber nicht die, zu den zahlreichen allgemeinphilosophischen Argumenten, die man bisher für diese These angegeben hatte, noch weitere hinzuzufügen. Vielmehr war meine Absicht, zum ersten Mal den Versuch zu unternehmen, ein Begriffssystem der behaupteten Art wirklich aufzubauen; also zunächst einige einfache Grundbegriffe zu wählen, etwa Sinnesqualitäten und Beziehungen, die in den unverarbeiteten Erlebnissen

5 Krauth 1970, 8/9. Zur zentralen Bedeutung der neuen Logik vgl. Carnap 1977a. 6 Wittgenstein stand in persönlichem Kontakt mit dem Kreis, v.a. mit Schlick. Camap hebt den Einfluß Wittgensteins auf sein Denken besonders hervor; vgl. Camap 1993,39. Ein entscheidender Beitrag Wittgensteins zum frühen Logischen Empirismus ist seine Analyse logischer Sätze, die deren Wahrheit nur in ihrer logischen Struktur und der Bedeutung der Ausdrücke begründet sieht. Die Geltung logischer Sätze ist demzufolge unabhängig von den Tatsachen, die nur über den Wahrheits wert wissenschaftlicher (nicht-logischer) Sätze entscheiden. So konnte das alte Problem des Empirismus bzgl. des Wahrheitsstatus logischer Sätze im Rahmen der Grundannahme der Erfahrungsabhängigkeit aller Erkenntnis dahingehend gelöst werden, daß die logischen Sätze von dieser Annahme begründet ausgenommen und als absolut gültig bezeichnet werden können. Auch das erste empiristische Sinnkriterium für Sätze geht auf Wittgenstein zurück. Zum Einfluß Russells und Wittgensteins auf den Wiener Kreis vgl. Haller 1993, 92ff.; Janikrroulmin 1987, 28Off.; Kraft 1968, 12ff. 5 Schofer

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C. Wissenschaftsphilosophische Ausgangspunkte

vorzufmden sind, und dann auf dieser Grundlage Defmitionen für weitere Begriffe verschiedener Art aufzustellen. -7 Camap möchte den Nachweis der Möglichkeit eines 'Konstitutionssystems' der Begriffe erbringen, in dem alle Begriffe durch Defmitionen und Defmitionsketten aus bestimmten Grundbegriffen bzw. Grundgegenständen stufenweise konstituiert werden, so daß ein 'Stammbaum der Begriffe' erwächst, der sozusagen im Gegebenen wurzelt. Damit wäre es auch als möglich erwiesen, daß in der Wissenschaft nur solche theoretischen Aussagen benutzt werden können, die sich letztlich durch unmittelbare Erfahrungsdaten als wahr oder falsch erweisen. In der Erfahrung gegeben sind für Camap in weitgehender Anlehnung an Mach die als ganzheitliche Totalerlebnisse konzipierten 'Elementarerlebnisse' im 'Erlebnisstrom' des einzelnen Subjekts.s Diese Grundelemente werden durch die Grundrelation der 'Ähnlichkeitserinnerung , miteinander in Beziehung gebracht. Der Entwurf des Konstitutionssystems soll dann zeigen, daß und genau wie auf der Grundlage der Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Erlebnissen schrittweise Begriffe einer höheren Stufe aus denen einer niedrigeren Stufe durch Defmitionen aufgebaut werden können. Das Erkenntnissystem wurde so als "geschlossenes System gedacht: wir nahmen an, daß es da eine Art letzter Erkenntnis gäbe, nämlich die Erkenntnis des unmittelbar Gegebenen, das unbezweifelbar war. Jede weitere Erkenntnis sollte sicher auf dieser Grundlage ruhen und deshalb gleichfalls mit Gewißheit entscheidbar sein ... 9 Die strikt fundamentalistische Konzeption wissenschaftlicher Theorien und der Wissenschaftssprache, die der flühe Logische Empirismus vertritt, läßt sich mit Suppe wie folgt allgemein charakterisieren. "A scientific theory is to be axiomatized in mathematicallogic (first order predicate calculus with equality). The terms of the logical axiomatization are to be divided into three sorts: 7 Carnap 1961a, x. 8 Carnap wählt für sein Unternehmen hier zwar noch eine phänomenalistische Sprache, in der alle Sätze Aussagen über Sinnesdaten oder auf solche Aussagen zuruckführbar sind, er erwähnt aber bereits die Möglichkeit der Wahl einer physikalistischen Sprache, deren Sätze sich auf materielle Dinge und deren beobachtbare Eigenschaften beziehen; vgl. Carnap 1961, 8Off. Carnaps neutrale Haltung zu den verschiedenen Sprachformen und den logischen Regeln künstlicher Sprachen drückt sich später explizit in seinem 'Toleranzprinzip' aus, demzufolge "jeder die Freiheit hat, die Regeln seiner Sprache und zugleich seiner Logik. so zu wählen, wie er mag." (Carnap 1993, 85.) Vgl. dazu auch Carnap 1934, 44f. und Carnap 1993, 68ff. Eine gewisse Annäherung an den Relativismus erscheint so aber unvermeidlich; vgl. Carnap 1936/37, 430 sowie AxteIl1993, 123ff. und Cohen 1963, 146f.

9 Carnap 1993, 88.

I. Der Logische Empirismus

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(1) logical and mathematical terms; (2) theoretical terms; (3) observation terms which are given a phenomenal or observational interpretation. The axioms of the theory are formulations of scientific laws, and specify relationships holding between the theoretical terms. Theoretical terms are merely abbreviations for phenomenal descriptions (that is, descriptions which involve only observational terms). Thus the axiomatizations must include various explicit defInitions for the theoretical terms of the form Tx sOx where 'T' is a theoretical term and '0' is an observation term. Such explicit defInitions are called correspondence rules since they coordinate theoretical terms with corresponding combinations of observation terms. The observation terms are taken as referring to specified phenomena or phenomenal properties, and the only interpretation given to the theoretical terms is their explicit defInition provided by the correspondence rules. -10 Korrespondenzregeln ordnen theoretischen Begriffen durch die Angabe von zulässigen experimentellen Verfahren Beobachtungsbegriffe zu. ll Theoretische Gesetze können so in Beobachtungssätze über die unmittelbar gegebenen Sinnesempfmdungen übersetzt und hinsichtlich ihres Wahrheitswerts auf sie zurückgeführt werden. Indem die Korrespondenzregeln als Elemente von Theorien derart theoretische Begriffe defInieren, sichern sie auch die Zulässigkeit der theoretischen Begriffe und Sätze in der Wissenschaftssprache, d.h. deren Sinnhaftigkeit; denn nach den empiristischen Sinnkriterien müssen alle Begriffe und Sätze der Wissenschaft einen Erfahrungsbezug aufweisen, der im frühen Logischen Empirismus durch die vollständige Definierbarkeit theoretischer Begriffe durch Beobachtungsbegriffe bzw. die eindeutige Verifizierbarkeit oder Falsifizierbarkeit theoretischer Sätze durch Beobachtungssätze bestimmt wird. 12 Der Fundamentalismus des frühen Logischen Empirismus liegt einerseits in der Annahme theoriefreier und sicherer Beobachtungs- oder Protokollsätze der 10 Suppe 1974a, 12. Vgl. auch ebd., 16. 11 So kann z.B. eine Korrespondenzregel den theoretischen Begriff 'Temperatur' definieren, indem ein zulässiges Verfahren zur Anwendung dieses Begriffs spezifiziert wird. Eine Korrespondenzregel hat dann etwa diese Form: 'Ein Gegenstand A hat eine höhere Temperatur als ein Gegenstand B, wenn A wärmer ist als B'; vgl. zu diesem Beispiel Camap 1956, 48. Die von Carnap als Korrespondenzregeln bezeichneten Sätze werden von anderen Autoren auch Zuordnungsdefinitionen, operationale Definitionen oder interpretative Systeme genannt. 12 Die Relevanz der Spezifikation eines solchen Sinnkriteriums ergibt sich aus dem Anliegen des Logischen Empirismus, 'metaphysische', sinnlose Begriffe und Sätze zu identifizieren und aus der Wissenschaft zu verbannen; vgl. Camap 1961, 317ff. ; Camap/Hahn/Neurath 1979, 86ff. Zur Multifunktionalität der Korrespondenzregeln im fnihen Logischen Empirismus - sie definieren die theoretischen Begriffe, sichern deren Sinnhaftigkeit und geben zulässige experimentelle Verfahren zur empirischen Anwendung von Theorien an - vgl. Suppe 1974a, 17. 5*

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empirischen Basis und andererseits in der Annahme der Zurückführbarkeit theoretischer Sätze auf die Sätze der Erkenntnisbasis . Die fundamentalistische Teilthese der Zurückführbarkeit der Sätze kann in Form zweier spezieller Thesen für theoretische Sätze bzw. ihre Begriffe spezifiziert werden, wobei aber der enge Zusammenhang beider Thesen nicht übersehen werden sollte schließlich bestehen Sätze aus Begriffen und logischen Zeichen, und in aller Regel sind nur solche theoretischen Sätze eindeutig auf Beobachtungssätze zurückführbar, deren Begriffe einen klaren und eindeutigen empirischen Bezug aufweisen. 13 Die These der Zuruckführbarkeit für wissenschaftliche Begriffe lautet, daß alle theoretischen Begriffe in dem Sinne durch das Gegebene fundiert werden können, daß sie durch DefInitionen oder DefInitionsketten auf Begriffe, die sich direkt auf Sinnesdaten beziehen, zurückgeführt werden können. Es wird also angenommen, daß letztlich kein Begriff über den Bereich des unmittelbar Gegebenen hinausgeht, sondern alle Begriffe im direkten Erfahrungsbezug als dem privilegierten Zugang zu den Tatsachen verankert sind. Die fundamentalistische Annahme für wissenschaftliche Sätze lautet, daß alle theoretischen Sätze hinsichtlich ihrer Gültigkeit oder Ungültigkeit - d.h. im frühen Logischen Empirismus ihrer absoluten Wahrheit oder Falschheit - eindeutig auf Sätze, die unmittelbar Gegebenes beschreiben, zurückgeführt werden können. 14 Aufgrund der empirischen Basis und der logischen Ableitungsbeziehungen zwischen Sätzen soll also eindeutig entscheidbar sein, ob theoretische Sätze als verifIziert oder widerlegt gelten. 15 Die Entwicklung des Logischen Empirismus läßt sich als die Geschichte der ModifIkationen und Abschwächungen dieser fundamentalistischen Thesen begreifen.

13 Die These der Zunickführbarkeit der Sätze aufeinander gilt im Logischen Empirismus dabei als vorrangig; vgl. Krauth 1970, 58ff. und Stegmüller 1970, 188. Von der Zurückführbarkeit und damit dem Sinn der Begriffe kann aber nicht abgesehen werden, da der Sinn theoretischer Sätze gewöhnlich von den in ihnen vorkommenden Begriffen abhängt. So schreibt Hempel (1970, 149) über die theoretischen Begriffe: "For if they should have no clearly determined meanings, then, it seems, neither do the theoretical principles in which they are invoked; and in that case, it would make no sense to ask whether those principles are true or false, whether events of the sort called for by the theoretical scenario do actually occur, and so forth." 14 Anstatt der oben gewählten genaueren, aber etwas unpraktischen Formulierung wird im Folgenden meist nur von der Zunickführbarkeit der Gültigkeit der Sätze aufeinander gesprochen; die Annahme der eindeutigen Widerlegbarkeit theoretischer Sätze durch Protokollsätze ist dabei immer mitgemeint. 15 Camap bezeichnet in diesem Sinne auch die Sachhaltigkeit einer Aussage als Sinnkriterium: "Kann eine Aussage nicht nur gegenwärtig nicht, sondern grundsätzlich überhaupt nicht durch ein Erlebnis fundiert werden, so ist sie nicht sachhaltig." (Carnap 1961,319); vgl. auch ebd., 317ff.

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Hempel faßt den strikten Fundamentalismus des Wiener Kreises im Rückblick wie folgt zusammen: ·Observational sentences, which serve to state the empirical evidence by which scientific theories are tested, have sometimes been conceived as referring to the most immediate and entirely incontrovertible deliveries of our experience, and as being capable, in consequence of this character, of being either afftrDled or denied irrevocably, with definite certainty. The system of observational sentences which have been accepted on the basis of immediate experience would then constitute a bed-rock foundation for the edifice of scientific theory. "16 Ein Einfluß wissens soziologisch analysierbarer Faktoren auf die Etablierung der empirischen Basis und die Bewertung theoretischen Wissens ist in diesem Bild der Wissenschaft offensichtlich ausgeschlossen; allein Logik und die Gewißheit sinnlicher Erfahrungen sollen hier über die Wahrheit oder Falschheit der grundlegenden Sätze und der auf sie zurückführbaren theoretischen Sätze entscheiden.

2. Die Abschwächungen des Fundamentalismus im fortgeschrittenen Logischen Empirismus Die strikt fundamentalistische Wissenschaftsphilosophie des ftiihen Logischen Empirismus wird in den dreißiger Jahren an zentralen Punkten revidiert und, von eher peripheren Weiterentwicklungen abgesehen, in ihrer revidierten Form bis etwa Mitte der fünfziger Jahre beibehalten. Diese Revisionen, die sich sowohl auf die Konzeption der empirischen Basis (Kap. 2.a) als auch auf die Konzeptionen der Zurückführbarkeit theoretischer Begriffe und Sätze auf die Begriffe und Sätze der empirischen Basis (Kap. 2.b) richten, markieren zwar eine bedeutsame Abschwächung, aber keineswegs eine Preisgabe des Fundamentalismus. Der noch stark ausgeprägte Fundamentalismus des fortgeschrittenen Logischen Empirismus schließt die Annahme der Möglichkeit eines relevanten Einflusses sozialer Faktoren auf die Bildung und Bewertung wissenschaftlichen Wissens immer noch weitgehend, aber nicht mehr völlig aus, da insbesondere die Revisionen der Konzeption der empirischen Basis erste mögliche Einflußräume für soziale Faktoren öffnen. a) Revisionen der Basis: Die Wendung zum Physikalismus und die Diskussion um die Revidierbarkeit von Protokollsätzen

In den dreißiger Jahren setzt im Logischen Empirismus eine rege Debatte ein, in deren Verlauf die Wende zum Physikalismus vollzogen und das Konzept der Protokollsätze abgeändert wird. Seine ftiihere Entscheidung für die 16 HempeI1963, 701.

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phänomenalistische Sprache bei der Realisierung des positivistischen Programms begründet Carnap rückblickend mit der nur so garantierten größtmöglichen Sicherheit der Protokollsätze, die in der ursprünglichen Fassung das unmittelbar Gegebene beschreiben und zur sicheren VerifIkation oder Widerlegung von theoretischen Aussagen verwendet werden sollen. "Ich glaubte, die Aufgabe der Philosophie bestehe in der Zuruckführung aller Erkenntnis auf eine gesicherte Grundlage. Da nun die sicherste Erkenntnis die des unmittelbar Gegebenen ist, wohingegen die Erkenntnis materieller Dinge abgeleitet und weniger sicher ist, muß der Philosoph allem Anschein nach eine Sprache verwenden, die als Grundlage Sinnesdaten benutzt. Bei unseren Diskussionen in Wien änderte sich meine Ansicht allmählich zugunsten der physikalistischen Sprache. "17 Der entscheidende Vorteil der physikalistischen Sprache und das ausschlaggebende Motiv zu ihrer Verwendung besteht in der von ihr garantierten Intersubjektivität. Die phänomenalistische Sprache mag zwar eine sicherere Fundierung der Aussagen in je meinen Erlebnissen erlauben, führt damit aber zugleich zu einem unannehmbaren Solipsismus, während die physikalistische Sprechweise über direkt beobachtbare materielle Dinge und deren Eigenschaften die Intersubjektivität der Basis garantiert, da die so beschriebenen Tatsachen im Prinzip von jedem beobachtet und geprüft werden können. 18 Es ist insbesondere Neurath, der die Wende zum Physikalismus fordert, und Neurath ist es auch, der die Protokollsatz-Debatte des Wiener Kreises anstößt und mitprägt. Die Mitglieder des Kreises hatten zunächst angenommen, daß Protokollsätze die absolut sichere Basis der Erkenntnis bilden. In der über mehrere Runden geführten Debatte um die Form und den epistemologischen Status der Protokollsätze wird diese Auffassung schließlich aufgegeben. In der Debatte stehen sich in erster Linie Neurath und Schlick gegenüber, wobei letztlich die strikt fundamentalistische und korrespondenztheoretische Position Schlicks allgemein abgelehnt wird, aber auch die kohärenztheoretische Position Neuraths nicht vorbehaltlos übernommen wird. 19 Carnap schließt sich 17 Carnap 1993,78.

18 Vgl. Carnap 1932, 454f.; zur Wende zum Physikalismus vgl. auch Haller 1992. Die Wahl des Physikalismus soll nach Camap lediglich eine Bevorzugung der realistischen Sprache zum Ausdruck bringen, nicht aber eine Anerkennung des erkenntnistheoretischen und ontologischen Realismus, von dem sich Camap auch schon zuvor distanziert hatte; vgl. Carnap 1961, 324ff. und Carnap 1993, 68ff. Bei Camap läßt sich jedoch zum einen eine gewisse Tendenz zu einer naiv-realistischen Haltung und damit zum anderen auch eine Spannung zwischen realistischen und empiristischen Annahmen nicht übersehen; vgl. zum ersten Punkt Krauth 1970, 125; zum zweiten Punkt BelllVossenkuhll992a, 8f. sowie die dort genannte Literatur. 19 Neurath schlägt als Kriterium der Anerkennung aller Sätze deren Eingliederbarkeit in das gesamte akzeptierte Satzsystem der Wissenschaft vor. Wenn durch die Anerkennung eines neuen Protokollsatzes ein Widerspruch im Satzsystem auftritt, wird

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Neurath zwar insofern an, als auch er die Vorstellung absolut gewisser Protokollsätze nun nicht mehr teilt - auch Protokollsätze können unter Umständen in Zukunft revidiert werden. Damit stellt sich das Basisproblem, d.h. das Problem, welche Sätze der Basis berechtigterweise anerkannt werden können, wenn sie nicht mehr als absolut sicher, sondern als revidierbar angesehen werden. Der in Neuraths Konzeption aufretenden Gefahr der Willkür bei der Anerkennung von Protokollsätzen begegnet Carnap nun aber in Anlehnung an Poppers Vorschlag zur Lösung des Basisproblems. 20 Er vertritt nun in partieller Übereinstimmung mit Popper die Auffassung, daß ein problematischer Basissatz durch die Ableitung weiterer Sätze geprüft werden kann, bis ein Satz der Ableitungskette schließlich anerkannt wird. "Dabei ist es Sache des Entschlusses, welche Sätze man jeweils als derartige Endpunkte der Zurückführung, also als Protokollsätze verwenden will. Sobald man will, - etwa wenn Zweifel auftreten oder wenn man die wissenschaftlichen Thesen sicherer zu fundieren wünscht, - kann man die zunächst als Endpunkte genommenen Sätze ihrerseits wieder auf andere zurückführen und jetzt diese durch Beschluß zu Endpunkten erklären. In jedem Fall muß man mit der Zurückführung zum Zweck der Nachprüfung irgendwo haltmachen. In keinem Fall aber ist man gezwungen, an einer bestimmten Stelle haltzumachen. Man kann von jedem Satz noch weiter zurückgehen; es gibt keine absoluten Anjangssätze für den Aufbau der Wissenschaft. "21 Carnap weiter: "Ist ein auftretender Protokollsatz nicht vereinbar mit den übrigen Sätzen des Protokolls oder mit anderen konkreten Sätzen, die schon als anerkannt gelten, so haben wir die Wahl, entweder diesen Protokollsatz oder die betreffende Gruppe anderer Sätze oder die Gruppe der Gesetze, mit deren Hilfe diese Sätze abgeleitet sind, zu modifizieren. "22 Carnaps revidierte Stellungnahme zum Problem der empirischen Basis erscheint prima facie als eine radikale Abkehr von seinem ursprünglichen durch die Streichung irgendeines Satzes - also möglicherweise auch eines Protokollsatzes, der nach Neurath prinzipiell nicht als sicher angesehen werden kann - die Kohärenz des Satzsystems wieder hergestellt; vgl. Neurath 1932/33, 208ff. Schlick dagegen beharrt auf dem Phänomenalismus und der Unverzichtbarkeit der absoluten Gewißheit von Erlebnissen bei der Berührung von Theorie und Wirklichkeit, die sich dann in nicht bezweifelbaren , Konstatierungen' niederschlägt; vgl. Schlick 1970 und Schlick 1986a. Einen Überblick über die Protokollsatzdebatte geben Hempel 1977; Koppelberg 1987, 2Off.; Kraft 1968, 105ff.; Philippi 1986, xxvff. und Stegmüller 1978, 445ff. 20 Vgl. Camap 1932/33, 223ff.; vgl. auch Camap 1977c, 92 und Camap 1993, 50. Zum Verzicht auf die absolute Gewißheit der Basis vgl. auch Hempel 1952 und Hempell977, l00f. Zu Poppers Lösungsvorschlag vgl. Kap. C.II.1.b). 21 Camap 1932/33,224; H.i.O. Vgl. auch Hempe11977, 101. 22 Camap 1932/33, 226.

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strikten Fundamentalismus und extremen Absolutismus. Und da er nun den Wissenschaftlern die Entscheidung überläßt, ob und wie lange Beobachtungssätze nachgeprüft werden und welche Sätze im Konfliktfall modifIZiert werden, scheint er sogar implizit die Möglichkeit des Einflusses sozialer Faktoren auf die Etablierung der Basis zuzugestehen. Carnaps Wende in der Protokollsatzdebatte markiert jedoch lediglich eine deutliche Abschwächung, keine Preisgabe des Fundamentalismus. Zwei markante Differenzen zu Poppers Lösungsvorschlag des Basisproblems zeigen, daß Carnap hier keineswegs eine antifundamentalistische oder gar relativistische Position einnehmen möchte. Zum einen begründet Carnap die Korrigierbarkeit der Basis nicht wie Popper mit der Annahme der Theoriegeladenheit der Beobachtung; in scharfem Kontrast zu Popper hält Carnap stets an der Vorstellung einer theorie freien Beobachtungssprache fest. Der privilegierte Zugang zu den Tatsachen der Welt ist für Carnap daher auch nicht systematisch durch die Theoriegeladenheit der Erfahrung verstellt, sondern lediglich nicht mit völliger Gewißheit garantierbar. 23 Die in Carnaps Sicht doch sehr weitgehende Verläßlichkeit der Sätze der Basis rührt auch aus einer zweiten Differenz zu Popper her. Da nach Carnap die längere Nachprüfung von Beobachtungssätzen die Sicherheit der Fundierung erhöhen kann und ein Protokollsatz mit einem bestimmten, feststellbaren Sicherheitsgrad bestätigt werden kann24 , kann bei Bedarf im Prinzip - durch eine entsprechend längere Nachprüfung dieser Sätze, deren Sicherheitsgrad mit der Anzahl der Prüfungen steigt - eine sehr gute Annäherung an den Grenzwert der absoluten Sicherheit der Basis erzielt werden. 25 23 Das Vorliegen von Gründen für den Zweifel an Beobachtungssätzen sowie das Ausmaß der Revidierbarkeit dieser Sätze hängt stark davon ab, ob und wie stark fallible theoretische Elemente an der Etablierung der Basis beteiligt sind. So schreibt Stegmüller (1970, 190/91) über die Beobachtungssätze: "Der Grad ihrer Revidierbarkeit hängt davon ab, wo die Abgrenzung zwischen dem Beobachtbaren und dem Nichtbeobachtbaren ( ... ) vorgenommen wurde. Je komplizierter und indirekter die Beobachtungen werden, desto problematischer und hypothetischer werden auch die sogenannten Beobachtungssätze ." Da Carnap den Bereich des Beobachtbaren stets sehr eng faßt und die These der Theoriegeladenheit der Beobachtung nie akzeptiert hat, entfallen in seiner Konzeption die aus der Fallibilität theoretischen Wissens gespeisten Zweifel an der Gültigkeit von Beobachtungs sätzen und der Grad ihrer Revidierbarkeit ist eher gering anzusetzen. 24 Vgl. Carnap 1932/33, 224 und ebd., 225. Popper grenzt sich von Carnaps Behauptung ab, Protokollsätze könnten mit einem bestimmten Sicherheitsgrad bestätigt werden; vgl. Popper 1989, 69 (Fn. 1). Der Gedanke der 'sicheren Fundierung' des Wissens ist Poppers konsequentem Antifundamentalismus natürlich ganz fremd. 25 Auch Hempel (1977, 102) schreibt in seiner Darstellung der Position Carnaps, man könne bei den Protokollsätzen "einen relativ hohen Grad an Gewißheit errei-

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Insgesamt wird deutlich, daß sich Carnap zwar einerseits Poppers Behandlung des Basisproblems anschließt, andererseits aber nicht gewillt ist, die konsequent antifundamentalistische und fallibilistische Position Poppers zu übernehmen. Es bleibt daher unklar, mit welchen Argumenten Carnap sich Poppers Lösungsvorschlag anschließen und zugleich die von ihm nicht weiter begründeten Annahmen plausibel machen könnte, daß ein bestimmter Sicherheitsgrad von Protokollsätzen feststellbar ist und daß die Sicherheit der Fundierung mit zunehmender Dauer der Nachprüfungen von Beobachtungssätzen steigt. Da Carnap keine normativen methodologischen Regeln und Normen formuliert, die den durch die Abschwächung des Fundamentalismus in begrenztem Umfang möglich gewordenen Einfluß sozialer Faktoren auf die Etablierung der Basis - nämlich bei den Entscheidungen, ob ein Nachprüfungsverfahren eröffnet wird, wie lange es fortgesetzt wird und ob ein Protokollsatz im Fall des Konflikts mit bereits akzeptierten Sätzen anerkannt oder verworfen wird - inhibieren sollen, bleibt zudem unklar, wie Carnap der Möglichkeit dieses Einflusses und damit der Möglichkeit des Relativismus begegnen möchte. 26 b) Die Abschwächung der fundamentalistischen These der Zurückführbarkeit der Begriffe und Sätze aa) Die Liberalisierung der These der Zurückfiihrbarkeit der Begriffe In der frühen, strikt fundamentalistischen Phase des Logischen Empirismus wird das Erkenntnissystem so konzipiert, daß alle nicht-logischen Begriffe der Wissenschaft letztlich vollständig durch das unmittelbar Gegebene fundiert sind. Ein Begriff gehört entweder zu den undefmierten Grundausdrücken, die sich auf Sinnesdaten beziehen, oder er ist durch Defmitionen oder Defmitionsketten auf jene Beobachtungsbegriffe zurückfiihrbar, wobei die vollständige definitorische Zurückführbarkeit die Sinnhaftigkeit und die sichere Fundierung aller Begriffe gewährleisten soll. In den dreißiger Jahren setzt im Logischen Empirismus eine langanhaltende Diskussion um das empiristische Sinnkriteehen." Die Position Camaps bzgl. der Bestätigungsfähigkeit der Basis korrespondiert seiner Position bzgl. der Bestitigungsfähigkeit von Gesetzen: Auch ein allgemeiner Satz kann, wenn er durch Beobachtungssätze immer wieder bestätigt wird, einen sehr hohen Bestätigungsgrad erhalten; vgl. z.B. Carnap 1936/37, 425 und Carnap 1977c, 91. 26 Die möglichen relativistischen Konsequenzen sind in Camaps Konzeption, entsprechend dem hier nur sehr begrenzt möglichen Einfluß sozialer Faktoren, freilich deutlich begrenzter als in Poppers antifundamentalistischer Sicht des Basisproblems, in der wegen der Theoriegeladenheit der Basis die Motivation zur weiteren Überprüfung und der Grad der Revidierbarkeit der Beobachtungssätze höher anzusetzen ist und kein Grad der Sicherheit bei der 'Fundierung' erreichbar ist; vgl. dazu Kap. C.II.1.b).

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rium und damit auch um den genauen Charakter der verlangten Zurückführbarkeit theoretischer Begriffe auf Beobachtungsbegriffe ein, in deren Verlauf eine erste Modiftkation der Konzeption der Korrespondenzregeln die These der Zurückführbarkeit theoretischer Begriffe zunächst lediglich abschwächt. Die These der vollständigen deftnitorischen Zurückführbarkeit aller theoretischen Begriffe auf Begriffe, die sich auf das Erfahrungsgegebene bzw. direkt Beobachtbare beziehen, gibt Carnap 1936 in Testability and Meaning mit der Einsicht in die Unmöglichkeit einer solchen Zurückführung für Dispositionsbegriffe auf. 27 Dispositionsbegriffe, wie zum Beispiel 'wasserlöslich', schreiben einem Objekt die Eigenschaft zu, unter bestimmten Bedingungen in bestimmter Weise zu reagieren. Eine auf den ersten Blick plausible Möglichkeit der Deftnition des Dispositionsbegriffs 'wasserlöslich' liefert der folgende Satz: 'x ist wasserlöslich =Df Wenn x in Wasser gelegt wird, dann löst es sich auf. Da jedoch nach dem üblichen Verständnis der logischen Implikation ein Implikationssatz nur dann als falsch gilt, wenn die Folge falsch, das erste Satzglied aber wahr ist, ergibt sich daraus für das Beispiel, daß auch alle Objekte deftnitionsgemäß als wasserlöslich gelten, die niemals in Wasser gegeben wurden. Es sind aber natürlich nicht alle Objekte, die niemals in Wasser gegeben wurden, wasserlöslich, und darum ist die genannte Deftnition für 'wasserlöslich' unbrauchbar; dasselbe Problem tritt bei Deftnitionsversuchen für alle anderen Dispositionsbegriffe auf. Da diese Begriffe eine grundlegende wissenschaftliche Begriffsart darstellen, ist der Ausschluß dieser Begriffe aus der Wissenschaftssprache wegen ihrer vermeintlichen Sinnlosigkeit nicht tolerabel, und die Anerkennung und Spezifikation alternativer Weisen der Rückführung theoretischer Begriffe auf die Grundbegriffe wird unvermeidlich. Carnap modiftziert daher das empiristische Sinnkriterium für Begriffe, indem er - neben der vollständigen defInitorischen Zurückführung der Begriffe mit den 'Reduktionssätzen' eine Methode der Zurückführung vorschlägt, die den Dispositionsbegriffen als legitimen wissenschaftlichen Begriffen gerecht werden soll. Korrespondenzregeln in Gestalt von Reduktionssätzen geben eine partielle Definition eines Begriffs durch die Angabe einer empirisch zu verwirklichenden Versuchsbedingung und einer empirisch feststellbaren Reaktion eines Objekts. Der Reduktionssatz für 'wasserlöslich' lautet dann: 'Wenn x in Wasser gelegt wird, dann ist x wasserlöslich, dann und nur dann, wenn x sich auflöst'. Der Dispositionsbegriff wird so auf die Beobachtungsbegriffe 'x wird in Wasser gelegt' und 'x löst sich auf zurückgeführt, reduziert. Diese Methode vermeidet die mißliche Konsequenz des Versuchs der expliziten DefInition, denn über Objekte, die der angegebenen Versuchsbedingung nicht unter27 Vgl. für das Folgende v.a. Carnap 1936/37, 439ff.; vgl. auch Hempel 1965c, 187ff.; Krauth 1970, 62ff.; Stegmüller 1970, 213ff. und Suppe 1974a, 18ff.

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zogen werden, wird hierbei keine Aussage bezüglich des Zutreffens des Dispositionsbegriffs gemacht. Diese Einschränkung des Anwendungsbereichs auf tatsächlich untersuchte Objekte stellt aber zugleich eine problematische Konsequenz der Verwendung von Reduktionssätzen dar, da keine wissenschaftliche Sprache auf allgemeingültige Begriffe verzichten kann. 28 Die Einführung von Reduktionssätzen als Korrespondenzregeln, die nur eine partielle Bestimmung von Dispositionsbegriffen auf der Basis physikalistischer Grundbegriffe leisten, bedeutet zwar eine Abschwächung, jedoch keine Preisgabe des fundamentalistischen Grundsatzes der Rückführbarkeit aller theoretischen Begriffe auf die Beobachtungsbegriffe.29 ·Der entscheidende Schritt der Verabschiedung der Vorstellung der Zurückführbarkeit der Begriffe aufeinander erfolgt erst etwa 20 Jahre nach der ersten wichtigen ModifIkation von 1936. bb) Die Liberalisierung der These der Zurückführbarkeit der Sätze Die fundamentalistische These der Zurückführbarkeit der Gültigkeit theoretischer Sätze auf die von Beobachtungssätzen wird 1936 unter Carnaps Führung abgeschwächt; auch diese Revision vollzieht sich vor allem im Rahmen der Diskussion des empiristischen Sinnkriteriums. In der ursprünglichen Version des Sinnkriteriums für Sätze wurde die Sinnhaftigkeit eines Satzes durch die Methode seiner Verifikation bestimmt: Eine Aussage ist demnach nur sinnvoll, wenn sie veriftzierbar ist, d.h. wenn angegeben werden kann, unter welchen Bedingungen sie wahr und unter welchen Bedingungen sie falsch ist. Die geforderte Zurückführbarkeit der Gültigkeit einer theoretischen Aussage auf die Gültigkeit der Sätze der Basis wird also als Veriftzierbarkeit bestimmt. Mit der Wende zum Physikalismus und der Verabschiedung des Gedankens absolut sicherer singulärer Beobachtungssätze in der Protokollsatzdebatte kann nun aber auch die Vorstellung nicht mehr aufrechterhalten werden, daß allgemeine theoretische Aussagen veriftzierbar sein müssen. Das Verifikationsprinzip wurde - nach einer intensiven Debatte, in der zeitweilig auch Poppers Falsiftkationsprinzip in Erwägung gezogen wurde3° - zudem unter dem Eindruck eines entscheidenden Mankos aufgegeben: Es erklärt theoretische Gesetze bzw.

28 Vgl. Krauth 1970, 65ff. 29 Vgl. Camap 1977b und Stegmüller 1978, 462. 30 Die einzelnen Diskussionsphasen bei der Suche nach dem neuen empiristischen Sinnkriterium werden hier nicht weiter thematisiert; vgl. dazu Hempe/l965b; Krauth 1970, 75ff.; Radnitzky 1968, 112ff.; SchefJler 1963, 127ff.; Stegmüller 1970, 192ff.

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alle unbeschränkten All-Sätze zu sinnlosen, da nicht veriftzierbaren Sätzen. 31 Ein unbeschränkter All-Satz ist deswegen prinzipiell nicht verifizierbar, weil er für eine unbegrenzte Anzahl von Fällen gelten soll, während wir nur eine endliche Anzahl überprüfender Beobachtungen machen können; selbst wenn einfache Beobachtungssätze verifizierbar wären, könnten also unbeschränkte Allsätze dennoch nicht veriftziert werden. 32 Da der Gedanke der Sinnlosigkeit von Naturgesetzen für den Logischen Empirismus nicht hinnehmbar ist, vollzieht Carnap 1936 in Testability and Meaning eine für den Logischen Empirismus sehr bedeutsame Wendung: Er gibt den Begriff der VerifIzierung auf und ersetzt ihn durch den Begriff der 'Bestätigung'. Ein Satz muß nun, um als wissenschaftlich bzw. sinnvoll zu gelten, das empiristische Sinnkriterium der Bestätigungsfähigkeit erfüllen, d.h. seine Bestätigung muß auf die Gültigkeit einer endlichen Klasse von Beobachtungssätzen zurückführbar sein: "Eine Aussage gilt als bestätigungsfähig, wenn Beobachtungssätze entweder positiv oder negativ zu ihrer Bestätigung beitragen können. -33 Der Vorschlag Carnaps, die Bestätigungsfähigkeit einer Aussage als empiristisches Sinnkriterium zu verwenden, markiert eine wichtige Abschwächung, jedoch keine Preisgabe der fundamentalistischen und extrem absolutistischen Haltung im Logischen Empirismus, da an der These der eindeutigen und sicheren Zurückführbarkeit der Gültigkeit theoretischer Aussagen auf die Gültigkeit von Beobachtungssätzen festgehalten wird. Die Abschwächung betrifft die Art und das Ausmaß der empirisch feststellbaren Gültigkeit theoretischer Gesetze, die durch empirische Prüfungen nun nicht mehr als absolut wahr, sondern nur noch als günstigstenfalls sehr gut bestätigt bzw. hochwahrscheinlich - d.h. als sichere Annäherungen an die absolute Wahrheit - ausgewiesen werden können. 34 Diese Abschwächung folgt nicht nur aus der Revision des epistemologi31 Eine weitere, häufig vorgebrachte Kritik am Verifikationsprinzip lautet, daß es sich selbst als sinnlosen, da nicht verifizierbaren Satz ausweist und daher von vornherein als Sinnkriterium untauglich ist; vgl. etwa Putnam 1982, 145. 32 Vgl. Camap 1936/37,425.

33 Camap 1993, 91. Vgl. auch Camap 1936/37, 434ff.; ebd., 456ff.; Krauth 1970, 88ff. und Stegmü//er 1978, 402ff. Wenn die experimentellen Bedingungen zur Prüfung der Aussage nicht nur denkbar, sondern auch tatsächlich realisierbar sind, dann ist die Aussage nicht nur bestätigungsf"ahig, sondern auch prüfbar. 34 Der entscheidende Unterschied zwischen den Begriffen 'wahr' und 'bestätigt' liegt darin, daß 'wahr' einer Aussage vollkommene und zeitunabhängige Gültigkeit zuschreibt, während 'bestätigt' eine zeitabhängige (auf die jeweils bereits vollzogenen Prüfungen bezogene) und gradmäßig abgestufte Gültigkeit zuspricht; vgl. Camap 1977c, 89 und Krauth 1970, 9lf. Mit der beschriebenen Revision des empiristischen Sinnkriteriums wird der Begriff der 'Wahrheit' zur Auszeichnung bestimmter synthetischer Sätze der Erfahrungswissenschaften aufgegeben. Krauth (1970, 92) bemerkt hierzu: "Durch den Begriff der 'Bestätigung' wird der Begriff der 'Wahrheit' nicht

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schen Status der Protokollsätze, sondern vor allem aus der Einsicht in die Notwendigkeit der Abschwächung des Ausmaßes, mit dem von der Gültigkeit von Beobachtungssätzen auf die Gültigkeit von Allsätzen geschlossen werden kann. Um einen unbeschränkten All-Satz, etwa ein bestimmtes theoretisches Gesetz vollständig zu bestätigen, bräuchten wir eine unendliche Klasse bestätigender Beobachtungssätze, denn aus einem Allsatz kann ja eine unendliche Anzahl singulärer und eventuell bestätigender Sätze abgeleitet werden. Da uns jedoch immer nur eine endliche Klasse von akzeptierten Beobachtungssätzen als Basis der Bestätigung zur Verfügung steht, muß für die Zurückführung der Gültigkeit in diesem Fall eine sogenannte Allgeneralisation bzw. ein Induktionsschritt vorgenommen werden, d.h. wir schließen von der endlichen Anzahl bestätigender Basissätze auf die Bestätigung des All-Satzes (direkt unvollständige Bestätigung). "Man kann in diesem Falle nicht behaupten, daß der Allsatz in demselben Maße bestätigt sei, wie die hier vorgegebenen singulären Sätze; denn er geht weit über deren Gehalt hinaus, da er ja unendlich viele Anwendungsfälle besitzt. Trotzdem wird dieser Allsatz durch die erwähnten singulären Sätze in einem bestimmten Grade bestätigt, wenn auch in der Regel nicht in dem Grade, in welchem die singulären Sätze selbst bestätigt sind ... 35 Bei der indirekt unvollständigen Bestätigungsfähigkeit, die Carnap als tolerantestes Sinnkriterium vorschlägt36, lassen sich aus einem Allsatz nicht direkt Beobachtungssätze ableiten, sondern erst über eine oder auch mehrere Zwischenstufen von Einzel- oder Allsätzen; es sind also eventuell mehrere Allgeneralisationen nötig, um von der Bestätigungsgrundlage auf die Gültigkeit des Allsatzes schließen zu können. Durch diese hintereinander geschalteten Schritte der Zurückführung wird die Strenge der Folgebeziehung geschwächt, "und zwar umsomehr, je höher die Zahl der Zwischenglieder ist. "37 Der indirekt etwa relativiert oder ausgehöhlt, sondern bleibt in einem objektiven Sinne bestehen. Allerdings wird er gleichzeitig aus dem Bereich der Wissenschaftssprache ausgeschlossen; es ist nach den Überlegungen Camaps nicht mehr möglich, die Bezeichnung 'wahr' auf einen (synthetischen) wissenschaftlichen Satz sinnvoll anzuwenden." Die Gültigkeit bzw. Akzeptabilität von Theorien hängt nun von der Höhe ihres Bestätigungsgrades ab. 35 Stegmüller 1978, 405. Vgl. auch Stegmüller 1970, 201ff.

36 Vgl. Carnap 1936/37, 33ff. und Krauth 1970, 95ff. 37 Krauth 1970, 95. Es muß für Camap ein zentrales Anliegen sein, eine Methode

zur Bestimmung des Bestätigungsgrades bzw. der Wahrscheinlichkeit theoretischer Aussagen anzugeben, mit der - über die Feststellung hinaus, daß Aussagen sich durch Basissätze bestätigen lassen oder durch bestimmte Basissätze eher niedrig oder hoch bestätigt sind - exakt spezifiziert werden kann, welche Wahrscheinlichkeit einer Aussage unter bestimmten Bedingungen zugesprochen werden kann. Dem Projekt der Entwicklung einer induktiven Logik zur Lösung dieses Problems widmet sich Camap

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unvollständig bestätigte Allsatz ist also in seiner Gültigkeit auf die Gültigkeit der Basissätze zurückgeführt, aber der Grad seiner Bestätigung und damit seiner Wahrscheinlichkeit ist nicht so hoch wie derjenige der Beobachtungssätze, und dies um so weniger, je indirekter die Zurückführung stattfmdet. Die Akzeptabilität eines theoretischen Gesetzes hängt in Carnaps Theorie prinzipiell von einer objektiven und einer konventionellen Komponente ab. Mit der Anerkennung einer freilich äußerst begrenzten Rolle der letzteren Komponente kann Carnap nun auch die Möglichkeit eines Einflusses sozialer Faktoren auf die Bewertung des Wissens nicht mehr völlig ausschließen. Die konventionelle Komponente ergibt sich aus dem Umstand, daß das Ausmaß der Bestätigung oder Widerlegung eines Satzes durch die Beobachtungen - dies bezeichnet Carnap als die objektive Komponente - keine völlig eindeutige Entscheidung über die Akzeptabilität des Satzes gestattet. So schreibt Carnap: ·Suppose a sentence S is given, some test-observations for it have been made, and S is confumed by them in a certain degree. Then it is a matter of practical decision whether we will consider that degree as high enough for our acceptance of S, or as low enough for our rejection of S, or as intermediate between these so that we neither accept nor reject S until further evidence will be available. Although our decision is based upon the observations made so far, nevertheless it is not uniquely determined by them. There is no general rule to determine our decision. Thus the acceptance and the rejection of a (synthetic) sentence always contains a conventional component. ·38 Die Relevanz der konventionellen Komponente und damit auch des möglichen Einflusses sozialer Faktoren auf die Beurteilung der Akzeptabilität theoretischer Gesetze ist nach Carnap allerdings in den meisten Fällen äußerst geringfügig, so daß die Akzeptabilität zumeist praktisch völlig durch den Bestätigungsgrad festgelegt wird; ein hoch bestätigter theoretischer Satz ist in der Regel auch ein im Sinne des extremen Absolutismus akzeptabler Satz. Da in Carnaps Sicht der Bestätigungsgrad eines theoretischen Gesetzes eindeutig auf die Gültigkeit von Beobachtungssätzen zurückgeführt werden kann - hierbei also nach Carnap keine konventionellen Momente und Einflüsse sozialer Faktoren in Frage kommen - und die objektive Komponente in der Regel eindeutig für oder gegen ein Gesetz spricht, ist der Einfluß der konventionellen Komponente zumeist verschwindend gering: "(I)t must certainly be admitted that in very many cases this objective component is present to such an overwhelming

seit 1941 in zahlreichen Arbeiten; einen ÜbeIblick geben Krauth 1970, 149ft. und Stegmüller 1978, 467ft. Die Resultate dieser Bemühungen sind umstritten und wurden v.a. von Popper immer wieder mit größter Skepsis aufgenommen. 38 Camap 1936/37, 426.

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extent that the conventional component practically vanishes. "39 Diese implizite Absage an das Unterfangen wissenssoziologischer Untersuchungen der Theorienbewertung setzt nun aber die Annahme voraus, daß das Ausmaß der Bestätigung oder Widerlegung theoretischer Gesetze eindeutig auf die Sätze der empirischen Basis zurückgeführt werden kann, also nicht von sozialen Faktoren beeinflußt werden kann. Diese Annahme läßt sich im reifen Logischen Empirismus nicht mehr aufrecht erhalten.

3. Der reife Logische Empirismusauf dem Weg zum Antifundamentalismus Die Wissenschaftsphilosophie des Logischen Empirismus wird etwa ab Mitte der fünfziger Jahre unter der Führung von Carnap und Hempel durch die Einführung der Zweistufenkonzeption der Wissenschaftssprache, die einen hiatus zwischen der zunächst noch streng theoriefrei gedachten Beobachtungssprache und der theoretischen Sprache postuliert, entscheidend revidiert. 40 Diese weittragende Revision betrifft zunächst den Status theoretischer Begriffe, denen nunmehr keine Zurückführbarkeit auf Beobachtungsbegriffe zugeschrieben wird. Die Korrespondenzregeln sichern die Überbrückung des hiatus zwischen Theorie und Erfahrung, indem sie die Verknüpfung von theoretischen Begriffen und Beobachtungsbegriffen auf eine neue Weise bestimmen. Die neue Zweistufenkonzeption impliziert aber auch und vor allem die Unhaltbarkeit der fundamentalistischen Annahme der eindeutigen Zurückführbarkeit der Gültigkeit theoretischer Sätze auf die Gültigkeit von Beobachtungssätzen. Diese Annahme wird im reifen Logischen Empirismus ab den späten fünfziger Jahren zunehmend preisgegeben und durch die antifundamentalistische Duhem-Quine-These ersetzt, wenn auch nicht von allen Logischen Empiristen und nicht immer in voller Konsequenz. 41 Im selben Zeitraum erfahrt die Vorstellung einer theoriefreien Beobachtungssprache, die in der Zweistufenkonzeption zunächst noch beibehalten wurde, einen massiven Plausibilitätsverlust und wird schließlich von der Mehrheit der Logischen Empiristen durch die These der Theoriegeladenheit der Beobachtung ersetzt. Der Logische Empirismus wendet sich also im Laufe seiner Spätphase zunehmend von beiden fundamentalistischen Teilthesen ab und ersetzt sie durch die antifundamentali39 Camap 1936/37,426. 40 Vgl. Camap 1956; Camap 1969, 225ff.; Hempel1963 und Hempel 1965c. 41 Die Vorstellung der induktiven Stützung von Theorien durch die Beobachtungsdaten wird hier zwar häufig nicht aufgegeben, da aber die Duhem-Quine-These anerkannt wird, kann die fundamentalistische Teilthese der eindeutigen und sicheren Zurückführbarkeit der Gültigkeit oder Ungültigkeit von Theorien auf die Gültigkeit der Basis nicht aufrechterhalten werden.

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stischen Gegenthesen; damit geht der Übergang zum gemäßigten Absolutismus einher. 42 Im Folgenden werden, nach einer kurzen Erörterung der Motive für die Einführung der Zweistufenkonzeption, die Grundzüge dieser Konzeption vorgestellt (Kap. 3.a). Anschließend wird die zunehmende Annäherung des reifen Logischen Empirismus an den Antifundamentalismus diskutiert, die eine deutliche Steigerung der im Rahmen dieser Wissenschaftsphilosophie bestehenden Einflußmöglichkeiten des sozialen Kontexts auf das Wissen zur Folge hat, so daß schließlich auch der Logische Empirismus die wissenschaftsphilosophischen Ausgangspunkte der neueren Wissenssoziologie bereitstellen kann (Kap. 3.b).

a) Die Zweistujenkonzeption der Wissenschaftssprache Der Ausgangspunkt der Einführung der Zweistufenkonzeption des reifen Logischen Empirismus ist vor allem die Einsicht, daß die früher vertretene Wissenschaftstheorie den modemen Naturwissenschaften in zweifacher Hinsicht nicht gerecht wird. 43 Zum einen ist, wie Carnap nun einräumt, die Methode der Reduktionssätze zur partiellen DefInition von Dispositionsbegriffen nicht mit der tatsächlichen und rationalen wissenschaftlichen Praxis zu vereinbaren. Wenn nämlich diese Methode angewandt würde und das in einem Reduktionssatz angegebene Testverfahren zur Feststellung, ob einem Gegenstand eine bestimmte Disposition zukommt, ein negatives Resultat ergäbe, dann wären die Wissenschaftler gezwungen, das Beobachtungsresultat als schlüssigen Nachweis dafür anzusehen, daß diesem Gegenstand jene Disposition nicht zukommt. Tatsächlich aber akzeptieren die Wissenschaftler durchaus nicht immer ein negatives Ergebnis solcher Prüfungen, schreiben also dem Gegenstand dennoch jene Disposition zu, und rechtfertigen dieses Vorgehen mit dem Hinweis darauf, "daß das fragliche Testverfahren keineswegs absolut zuverlässig 42 Die Abkehr von den früheren fundamentalistischen Grundannahmen läßt sich als eine letzte Verfeinerung des Logischen Empirismus bezeichnen, die zugleich den identitätsstiftenden Kembestand der philosophischen Überzeugungen dieser Schule die sog. 'orthodoxe Sicht' (Feigl 1970) oder 'Standardkonzeption' (Hempel 1970) wissenschaftlicher Theorien - erodiert. Die zunehmende Aufgeschlossenheit für den Antifundamentalismus im Logischen Empirismus korrespondiert der allgemeinen Tendenz in der zeitgenössischen Wissenschaftsphilosophie, in der ab den späten fünfziger Jahren die antifundamentalistischen Annahmen nicht zuletzt durch die gestiegene Aufmerksamkeit für Poppers Falsifikationismus und den aufkeimenden Postempirismus rasch an Überzeugungskraft gewinnen. 43 Für eine ausführliche Diskussion der Motive dieser Revision vgl. Stegmillier 1970, 232ff.

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sei, sondern nur unter der Voraussetzung gelte, daß keine störenden Faktoren vorhanden sind."44 Insbesondere beim Vorliegen gegenläufiger positiver Befunde für das Vorliegen der Disposition ist es nach Carnap legitim und üblich, ein negatives Prüfungs resultat einem bisher noch nicht entdeckten störenden Faktor bei der Prüfung zuzuschreiben, anstatt das negative Resultat als gültig anzuerkennen und dem Gegenstand die Disposition abzusprechen, wie es die Verwendung von Reduktionssätzen erforderte. Carnap bezieht dieses Argument nun auf die empirische Anwendung aller theoretischen Begriffe und nimmt eine entsprechende Korrektur der Konzeption der Korrespondenzregeln vor, die im reifen Logischen Empirismus nicht mehr gestatten, die Beobachtungsdaten als schlüssige Beweise für oder gegen die Anwendbarkeit eines theoretischen Begriffs in einer gegebenen Situation aufzufassen. 45 Ein zweites wichtiges Motiv für die Neuorientierung des Logischen Empirismus bildet die verstärkte Aufmerksamkeit für die Eigenart und Relevanz der theoretischen Elemente in den modemen Naturwissenschaften. 46 Die Einsicht, daß sich zahlreiche unverziehtbare theoretische Begriffe - Begriffe wie 'Kraft', 'Atom', 'Elektron' - nicht auf Begriffe zurückführen lassen, die direkt Beobachtbares bezeichnen, sondern auf unbeobachtbare Entitäten Bezug nehmen und in relativ großer Freiheit gebildet werden können, mündet in die Preisgabe der Vorstellung der einheitlich durchstrukturierten Wissenschafts sprache . An ihre Stelle tritt nun die Zweistufenkonzeption der Wissenschaftssprache, in der die Beobachtungssprache und die theoretische Sprache scharf voneinander geschieden sind und durch die neu konzipierten Korrespondenzregeln wesentlich lockerer als zuvor verknüpft werden. Die Beobachtungssprache enthält außer den logischen Zeichen nur Beobachtungsbegriffe, d.h. Begriffe, die direkt Beobachtbares bezeichnen oder auf solche elementaren Beobachtungsbegriffe definitorisch zurückführbare Begriffe. 47 Empirische Gesetze formulieren Beziehungen zwischen den von diesen Begriffen bezeichneten Dingen und Eigenschaften, d.h. sie formulieren Zusammenhänge über direkt Beobachtbares; daher können nur empirische nicht aber theoretische - Gesetze durch empirische Beobachtungen direkt bestätigt werden. Der Kategorisierung eines Begriffs als Beobachtungsbegriff haftet stets ein Moment der Willkür an, denn es gibt eine kontinuierliche 44 Stegmüller 1970, 233. Vgl. dazu Carnap 1956, 66ff. 45 Vgl. Carnap 1956, 69; vgl. auch Hempell965c, 195f. 46 Vgl. Carnap 1993, 12lf.; ebd., 125; Krauth 1970, 113 und Suppe 1974a, 52. Camap bezeichnet diese Begriffe nun als unabdingbar für den Fortschritt der Physik: vgl. Carnap 1956, 74. 47 Vgl. dazu und zum Folgenden Carnap 1956, 4Off.; Carnap 1969, 225ff.; ebd., 255f.; Hempell965c, 177ff.; Stegmüller 1973, 296ff. und Suppe 1974a, 5Off. 6 Schofer

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Gradabstufung zwischen dem Beobachtbaren und dem Nichtbeobachtbaren, die "bei den direkten sinnlichen Wahrnehmungen beginnt und bis zu ganz außerordentlich komplizierten indirekten Beobachtungsmethoden fortschreitet. "48 Ist ein Objekt schon dann nicht beobachtbar, wenn man ein Vergrößerungsglas oder ein Mikroskop zur Beobachtung benutzen muß? Und welche Stärke des Mikroskops ist noch zulässig? Im Unterschied zum Physiker, der auch durch komplizierte Meßverfahren zugängliche Größen noch als 'beobachtbar' bezeichnet, entschließt sich Carnap zu einer sehr engen Bestimmung dieses Begriffs, derzufolge als beobachtbar nur das gilt, was entweder direkt sinnlich wahrnehmbar ist oder allenfalls durch einfache Verfahren gemessen werden kann. 49 Dieses Kriterium soll - obschon es recht unscharf bleibt - eine prinzipielle und deutliche Unterscheidung von Beobachtungssprache und theoretischer Sprache ermöglichen, und damit auch die fundamentalistische These der Theoriefreiheit der Beobachtungssprache stützen. 50 Die theoretische Sprache enthält neben den logischen Zeichen die theoretischen Grundbegriffe, die durch sogenannte T -Postulate - meist die Grundgesetze (Axiome) einer Theorie - eingeführt werden sowie weitere theoretische Begriffe, die durch Definitionen und Definitionsketten auf diese Grundbegriffe zurückgeführt werden können. 51 Theoretische Begriffe beziehen sich nicht auf direkt Beobachtbares und lassen sich nicht auf Beobachtungsbegriffe zurückführen. Die Sätze einer Theorie formulieren Beziehungen zwischen den von diesen Begriffen bezeichneten theoretischen Entitäten. Theorien und theoretische Gesetze werden als Hypothesen aufgestellt, zu deren indirekter Überprüfung dann empirische Gesetze abgeleitet werden. Theorien und theoretische Gesetze lassen sich nicht im selben Sinne bestätigen wie empirische Gesetze. Sie sind nur indirekt bestätigungsfähig, nämlich durch die Bestätigung der empirischen Gesetze, die sich mittels Korrespondenzregeln aus ihnen ableiten lassen. "Wenn das empirische Gesetz bestätigt wird, liefert es eine indirekte Bestätigung der Theorie. Jede Bestätigung eines Gesetzes, eines empirischen oder theoretischen, ist natürlich nur partiell, niemals vollständig und absolut. Aber im Falle der empirischen Gesetze haben wir eine direktere Bestätigung. Die 48 Camap 1969,226.

49 Vgl. Camap 1969,226. 50 Die Annahmen der strengen Distinktion von Beobachtungssprache und theoretischer Sprache sowie der Theoriefreiheit der Beobachtungssprache werden im Logischen Empirismus aber schon bald nach der Einführung der Zweistufenkonzeption scharf kritisiert und von Hempel und der Mehrheit der Logischen Empiristen zurückgewiesen; vgl. dazu Kap. C.l.3.b)aa). 51 Vgl. hierzu und zum Folgenden Camap 1956, 42f.; Camap 1969, 225ff.; ebd., 255f.; Hempell963, 691ff.; Hempell965c, 177ff.; Stegmüller 1973, 302ff. und Suppe 1974a,50ff.

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Bestätigung eines theoretischen Gesetzes ist indirekt, denn sie fmdet nur durch die Bestätigung der empirischen Gesetze statt, die man aus der Theorie abgeleitet hat. "52 Die Korrespondenzregeln überbrücken den hiatus zwischen den Sätzen und Begriffen der beiden Sprachen. Da theoretische Gesetze keine Beobachtungsbegriffe verwenden, ist eine direkte Ableitung empirischer Gesetze, die Beobachtungsbegriffe enthalten, nicht möglich, und zur Etablierung des Erfahrungsbezugs der Theorie werden Korrespondenzregeln erforderlich. Korrespondenzregeln enthalten theoretische Begriffe und Beobachtungsbegriffe, und verknüpfen diese miteinander, indem mehr oder weniger einfache Meßverfahren festgelegt werden, durch die die Theorie auf beobachtbare Erscheinungen angewandt werden soll; diese Meßverfahren machen Erscheinungen meßbar oder beobachtbar, die von Beobachtungsbegriffen bezeichnet werden, die wiederum eine partielle empirische Deutung der ihnen zugeordneten theoretischen Begriffe erlauben. 53

An die Stelle der früheren Konzeption der Korrespondenzregeln, die Zurückfiihrungsbeziehungen zwischen theoretischen Begriffen und Beobachtungsbegriffen angaben, tritt nun die Konzeption eher lockerer Verknüpfungen mit Hilfe postulierter Zuordnungsbeziehungen, durch die die theoretischen Begriffe nicht defmiert oder partiell definiert, sondern lediglich unvollständig interpretiert werden. Die Interpretation der theoretischen Sprache ist in zweifacher Hinsicht unvollständig. Zum einen sind nur manche der theoretischen Begriffe direkt über Korrespondenzregeln mit Beobachtungsbegriffen verknüpft; in der Regel sind dies nicht die hochabstrakten theoretischen Grundbegriffe, sondern solche Begriffe, die auf dem gedachten Kontinuum der Beobachtbarkeit eher im Bereich des Beobachtbaren liegen. 54 Die übrigen theoretischen Begriffe erhalten durch ihre Verknüpfung mit den direkt interpretierten Begriffen eine indirekte empirische Interpretation bzw. Bedeutung. Eine nicht geringe Anzahl theoretischer Begriffe ist nur schwach bzw. indirekt interpretiert, da "die Verbindung zwischen einem theoretischen Ausdruck t und Beobachtungs ausdrücken, die die Grundlage der Deutung ist, in dem Maße schwächer wird, wie die Kette von Beobachtungsausdrücken über Korrespondenzregeln und Postulate zum Ausdruck t länger wird. "55 Zum anderen sind auch die direkt interpretierten theoretischen Begriffe stets nur partiell interpretiert, da 52 Camap 1969, 231. 53 Vgl. zur neuen Konzeption der Korrespondenzregeln Camap 1956, 47ff.; Camap 1969, 232ff.; ebd., 255f.; Hempel 1963, 691ff.; Hempel 1965c, 206ff.; Stegmüller 1973, 308ff. und Suppe 1974&, 5Off. 54 Vgl. Stegmüller 1978, 464. 55 Camap 1993, 126. 6*

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die neue Konzeption der Korrespondenzregeln diese ausdrücklich nicht als Deflnitionen faßt; die Bedeutung eines theoretischen Begriffs geht also stets über die beobachtbaren Erscheinungen hinaus, mit den er durch Korrespondenzregeln verbunden ist. 56 Die Korrespondenzregeln einer Theorie sind nicht ein für allemal festgelegt, sie verändern sich im Gegenteil permanent und führen so zu einer Präzisierung der Interpretation der bereits durch Korrespondenzregeln mit Beobachtungsbegriffen verbundenen theoretischen Terme und zugleich auch zu einer Bedeutungsveränderung aller theoretischen Begriffe. Die Addition neuer Korrespondenzregeln vollzieht sich "dauernd in der Entwicklung der Physik. Ich denke im Augenblick nicht an eine Revolution in der Physik, bei der eine völlig neue Theorie entwickelt wird, sondern an weniger radikale Veränderungen existierender Theorien. Die Physik des neunzehnten Jahrhunderts ist ein gutes Beispiel. Die klassische Mechanik und die klassische Theorie des Elektromagnetismus waren schon eingeführt und die Grundgesetze änderten sich viele Jahrzehnte lang nicht. Die Grundtheorien der Physik blieben unverändert. Es gab aber einen stetigen Strom neu hinzukommender Zuordnungsregeln, weil man dauernd neue Verfahren für die Messung dieser oder jener Größe entwickelte. Natürlich leben die Physiker immer in der Gefahr, daß sie Zuordnungsregeln entwickeln könnten, die untereinander oder mit den theoretischen Gesetzen unverträglich sind. Aber solange so etwas nicht vorkommt, haben sie das Recht, neue Zuordnungsregeln hinzuzufügen. Das ist ein endloser Vorgang. Es wird stets die Möglichkeit geben, neue Regeln hinzuzufügen und auf diese Weise den Grad der Interpretation der theoretischen Begriffe zu erhöhen. "57 Der Grundgedanke der Zweistufenkonzeption des reifen Logischen Empirismus hinsichtlich der Struktur wissenschaftlicher Theorien und ihrer empirischen Verankerung kann mit dem folgenden Bild veranschaulicht werden. 58 Eine wissenschaftliche Theorie läßt sich als ein Netzwerk denken, dessen Knoten die theoretischen Begriffe und dessen Fäden die Deflnitionen und Ge56 Vgl. Carnap 1969, 233ff. Daher kann von einem "Sinn-Mehr" (Krauth 1970, 127) der Theorie gesprochen werden, das in einer für den Empirismus möglicherweise problematischen Weise die Erfahrungsgrundlage der Erkenntnis überschreitet. 57 Carnap 1969, 237. Carnap möchte die Korrespondenzregeln wie in den früheren Konzeptionen der Theorie zurechnen; vgl. Carnap 1969, 256. Die Plausibilität dieser Zurechnung auch in der Konzeption des reifen Logischen Empirismus ist allerdings fragwürdig und umstritten; vgl. dazu unten, S. 9Of. Auch Carnap selbst scheint in dieser Frage keine ganz eindeutige Position einzunehmen; so spricht er im oben wiedergegebenen Zitat ja von der Unverändertheit der Grundtheorien der Physik trotz ständiger Erneuerungen im Set der Korrespondenzregeln. 58 Zu diesem häufig aufgegriffenen Bild vgl. z.B. Krauth 1970, 119; hier findet sich auch eine ergänzende Illustration.

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setze der Theorie darstellen. Dieses Netzwerk schwebt über dem analog aufgebauten Netzwerk der Beobachtungssprache, dessen elementare Beobachtungsbegriffe direkt beobachtbare Tatsachen bezeichnen, die das Fundament der Erkenntnis bilden. Das Netzwerk der Theorie ist an der empirischen Basis verankert, weil manche der Knotenpunkte beider Netzwerke durch Korrespondenzregeln miteinander verknüpft sind. Da die Korrespondenzregeln den empirischen Bezug der Theorie herstellen, können Theorien und ihre Gesetze durch die Sätze der empirischen Basis als bestätigt oder widerlegt betrachtet werden. Diese Konzeption impliziert insofern bereits den Übergang zum Antifundamentalismus, als in ihrem Rahmen die These der eindeutigen Zurückführbarkeit der Gültigkeit der Theorien und ihrer Sätze auf die Sätze der Basis nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Diese Konsequenz der Zweistufenkonzeption wird im Folgenden eingehend diskutiert; zunächst wird jedoch die Abkehr von der ersten fundamentalistischen Teilthese der Theoriefreiheit der Beobachtungsprache behandelt. b) Die Anerkennung des Antifundamentalismus

aa) Die Anerkennung der These der Theoriegeladenheit der Beobachtung und das Basisproblem Die Annahme einer theoriefreien Beobachtungssprache, die anfänglich noch in der Zweistufenkonzeption aufrechterhalten wird, ist vor allem in den sechziger Jahren massiver Kritik ausgesetzt, die ihre Überzeugungskraft nachhaltig erschüttert. Die weitgehende Erosion der Plausibilität dieser Annahme mag zum Teil durch die Argumente des Falsiflkationismus und Postempirismus für die Theoriegeladenheit der empirischen Basis erklärbar sein, aber gerade auch innerhalb des Logischen Empirismus werden Argumente vorgebracht, die schließlich die Mehrheit der Vertreter dieser Theorietradition zur Abkehr von ihrer früheren Position bewegen. 59 Damit wird das Basisproblem im Logischen Empirismus akut. Einen besonders einflußreichen Angriff auf die These der strengen Unterscheidbarkeit der theoretischen Sprache von der vermeintlich reinen Beobachtungssprache trägt Putnam 1962 vor. 60 Putnam argumentiert, daß sich jeder Beobachtungsbegriff im Sinne Camaps in bestimmten Kontexten auch auf Nicht-Beobachtbares im Camapschen Sinne beziehen kann, daß der Bereich des Nicht-Beobachtbaren keineswegs mit dem des Theoretischen zusammen59 Vgl. Suppe 1974a, 84 und Greenwood 1990, 554. 60 Eine weitere wichtige Kritik legt Achinstein 1963 vor. Für eine Darstellung und kritische Diskussion der Beiträge von Achinstein und Putnam vgl. Suppe 1974a, 80ff.

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fällt und daß Theorien sich auch lediglich auf Beobachtbares beziehen können. 61 Insbesondere weist Putnam aber auf die keineswegs unübliche Theoriegeladenheit von Beobachtungsberichten der Wissenschaft hin: "Observational reports can and frequently do contain theoretical terms. "62 Putnam klagt mit diesem besonders wichtigen Hinweis die angemessene wissenschaftstheoretische Berücksichtigung des Umstandes ein, daß die überwiegende Anzahl epistemisch relevanter Beobachtungen in den modemen Naturwissenschaften komplizierte Beobachtungs- und Meßinstrumente erfordert, bei deren Konstruktion und Verwendung von Theorien Gebrauch gemacht wird, und die Beobachtungsbasis daher in diesem Sinne theoriegeladen ist. 63 Die Argumente zugunsten der antifundamentalistischen Annahme der Theoriegeladenheit der Beobachtung können zwar die meisten Vertreter des Logischen Empirismus von der Notwendigkeit einer Revision der Zweistufenkonzeption an diesem Punkt überzeugen, vor allem Carnap hält jedoch bis zu seinem Tod im Jahr 1970 an der Idee der theoriefreien Basis fest. Hempel dagegen revidiert seine frühere Position in dieser Hinsicht. In Hempels revidierter Version des reifen Logischen Empirismus müssen sich die Begriffe in Beobachtungsberichten nicht mehr auf direkt Beobachtbares beziehen. Hempel akzeptiert die These der Theoriegeladenheit der Beobachtung, indem er zuläßt, daß in Beobachtungsberichten theoretische Begriffe verwendet werden, die allerdings einer anderen als der geprüften Theorie zugehören müssen; insbesondere können sich Theorien mittels Korrespondenzregeln so auch auf Phänomene beziehen, die nur mit Hilfe komplexer Beobachtungsinstrumente, denen eine Vielzahl theoretischer Annahmen zugrunde liegen kann, zugänglich werden. "Die Phänomene, die die Brückenprinzipien mit den Grundentitäten und prozessen verbinden, wie sie durch die Theorie angenommen werden, brauchen also nicht »direkt« beobachtbar oder meßbar zu sein: sie dürfen durchaus mit Begriffen zuvor aufgestellter Theorien charakterisiert werden, und ihre Beobachtung und Messung darf die Prinzipien dieser Theorien voraussetzen. "64 Mit dem Übergang zu einer antifundamentalistischen Interpretation der empirischen Basis im reifen Logischen Empirismus wird die Annahme der Theoriefreiheit durch die der Theorieneutralität der empirischen Basis ersetzt. Dem Postempirismus wird nun entgegengehalten, daß die Anerkennung der Theo61 Vgl. Putnam 1962, 241ff. 62 Putnam 1962, 241. Suppe bekräftigt dieses Argument; vgl. Suppe 1974a, 85.

63 Zu diesem, für die breite Anerkennung der These der Theoriegeladenheit besonders wichtigen Argument vgl. Greenwood 1990, 556ff.; Hunt 1994, 141ff.; McLaughlin 1971; Ströker 1977, 82 und Suppe 1972,6. 64

HempeI1974, 105/6. Vgl. auch ebd., 104ff.

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riegeladenheit der Beobachtung noch keineswegs zu der Annahme berechtigt, die Objektivität der empirischen Prüfung sei gefährdet, weil notwendig ein und diesselbe Theorie auf dem Prüfstand stehe und zugleich in die Beobachtungen eingehe. "That is, though 'observation' may be 'theory-laden', it need not be loaded by the theory it is to test; and its relevance to the latter theory may be detennined on grounds that do not destroy its independence. "65 Mit der, im Einzelfall nachprüfbaren, Annahme der Theorieneutralität der Beobachtungen können nun zwar unter Umständen die relativistischen Implikationen zurückgewiesen werden, die einer möglicherweise überzogenen Fassung der These der Theoriegeladenheit bei manchen Vertretern des Postempirismus eignen. Die notwendige Fruchtlosigkeit wissenssoziologischer Untersuchungen läßt sich damit aber keineswegs begründen, da soziale Faktoren die Etablierung der empirischen Basis auch dann beeinflussen können, wenn die für die Erstellung von Beobachtungen erforderlichen Theorien der Meßinstrumente nicht in einem inneren Zusammenhang mit der Theorie stehen, die geprüft werden soll. Das durch die Anerkennung der Theoriegeladenheit der Beobachtung akut gewordene Basisproblem ist also durch die Annahme der Theorieneutralität nicht im absolutistischen Sinne zu lösen. 66 Soziale Faktoren können auch unter der Annahme der Theorieneutralität der Beobachtung für die Anerkennung von Beobachtungssätzen relevant sein: Sie können die Entscheidungen der Wissenschaftler mitbestimmen, ob und wie lange Beobachtungssätze oder die bei ihrer Aufstellung beteiligten Theorien nachgeprüft werden, und ob Beobachtungssätze im Falle des Konflikts mit bereits akzeptierten Sätzen anerkannt werden oder nicht. Diese Einflußmöglichkeiten sozialer Faktoren sind, mit Ausnahme der möglichen Infragestellung und Revision der Theorien des Meßinstruments, bereits durch die frühere Umgehensweise des Logischen Empirismus mit dem Basisproblem gegeben, sie werden aber im reifen Logischen Empirismus durch die breite Akzeptanz der These der Theoriegeladenheit der Beobachtung deutlich vergrößert, da nun die Motive zum Zweifel an der Richtigkeit von Beobachtungssätzen und der Grad der Revidierbarkeit dieser Sätze durch die Beteiligung fallibler Theorien bei der Etablierung der empirischen Basis größer werden.

65 Shapere 1984c, 165. Vgl. auch Greenwood 1990, 56Of.; Hunt 1994, 147 und Ströker 1977, 87. Zur Kuhnschen Sicht der Theoriegeladenheit vgl. Kap. C .m.2.b).

66 Das Basisproblem stellt sich, freilich in sehr in beschränktem Ausmaß, bereits dann, wenn theoriefrei gedachte Basis- bzw. Protokollsätze im Prinzip als revidierbar gelten. Die Anerkennung der Theoriegeladenheit der empirischen Basis verschärft dieses Problem jedoch entscheidend; vgl. Kap. C.1.2.a), insbesondere S. 72 mit Fn. 23.

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bb) Die Anerkennung der Duhem-Quine-These und das Duhem-Quine-Problem Die fundamentalistische Annahme der eindeutigen Zurückführbarkeit der Gültigkeit oder Ungültigkeit theoretischer Sätze auf die Gültigkeit von Beobachtungssätzen ist eine Kernthese des frühen und fortgeschrittenen Logischen Empirismus; nach dieser Annahme können die allgemeinen Sätze einer Theorie durch die Bestätigung oder Widerlegung der aus ihnen mit Hilfe von Korrespondenzregeln ableitbaren Prognosen eindeutig bestätigt oder widerlegt werden. Der Bestätigungsgrad und damit die Akzeptabilität eines theoretischen Satzes ergibt sich danach allein aus den logischen Konsequenzen der empirischen Befunde der bisherigen Prüfungen dieses Satzes. Im Folgenden wird argumentiert, daß der reife Logische Empirismus zum einen diese Annahme nicht beibehalten kann, da die Zweistufenkonzeption die dieser Annahme widersprechende antifundamentalistische Duhem-Quine-These impliziert; und daß er zum anderen wegen seiner Anerkennung dieser These und seiner Umgehensweise mit dem Duhem-Quine-Problem die Möglichkeit des Einflusses sozialer Faktoren auf die Beurteilung der Akzeptabilität theoretischen Wissens nicht mehr ausschließen kann. Die Annahme der eindeutigen Zurückführbarkeit der Gültigkeit oder Ungültigkeit der Sätze aufeinander kann im Rahmen des reifen Logischen Empirismus nicht aufrecht erhalten werden, weil die Zweistufenkonzeption impliziert, daß ein theoretisches Gesetz allein nicht geprüft werden kann, sondern nur zusammen mit den entsprechenden Korrespondenzregeln, die durch die Angabe von Beobachtungsverfahren erst den Erfahrungsbezug des Gesetzes herstellen. Es wird also stets mehr als nur eine Annahme geprüft, und daher läßt ein negatives Resultat der empirischen Prüfung nicht den logischen Schluß zu, daß das Gesetz falsch ist. Ein negatives Resultat gestattet lediglich den Schluß, daß mindestens eine der zur Ableitung der Prognose erforderlichen Annahmen - das theoretische Gesetz oder ein Teil der Korrespondenzregeln oder beides - falsch ist und verworfen oder modifiziert werden muß. Im Falle negativer Prüfungsergebnisse kann daher die Annahme der Ungültigkeit eines theoretischen Satzes nicht eindeutig auf die Ungültigkeit der abgeleiteten Prognosen zurückgeführt werden, denn auch die Korrespondenzregeln stellen ja logisch mögliche Fehlerquellen dar. Dieses Argument, das den Grundgedanken der Duhem-Quine-These auf die Prüfung einzelner theoretischer Gesetze bezieht, kann nun auch auf die Prüfung ganzer Theorien übertragen werden und so der fundamentalistischen These der eindeutigen Zurückführbarkeit der Gültigkeit oder Ungültigkeit von Theorien auf die Gültigkeit von Beobachtungssätzen entgegengehalten werden. Im Folgenden wird die Duhem-Quine-These auf der Ebene der Prüfung ganzer

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Theorien eingehender diskutiert, da sich im reifen Logischen Empirismus zunehmend die Auffassung durchsetzt, daß aufgrund der logischen Abhängigkeitsbeziehungen innerhalb einer Theorie im Grunde nicht einzelne theoretische Sätze, sondern immer ganze Theorien geprüft werden. So betont Hempel, "that stricdy speaking a statement in a scientific theory cannot be tested in isolation, for it will yield consequences capable of confrontation with experimental or observational fmdings only when conjoined with a variety of other accepted statements of the theory. "67 Für den Übergang des Logischen Empirismus zum Antifundamentalismus ist nun entscheidend, daß gemäß der Zweistufenkonzeption eine Theorie allein noch keinerlei Erfahrungsbezug aufweist; sie wird erst durch die Angabe von Korrespondenzregeln empirisch prütbar. Es wird also stets eine 'interpretierte Theorie' bzw. ein theoretisches System, d.h. die 'reine', erklärende Theorie zusammen mit dem Set der Korrespondenzregeln an die Erfahrung herangetragen. Nehmen wir zum Beispiel an, ein neues und akkurateres Meßverfahren für bestimmte Größen einer Theorie wird entwickelt, und die Wissenschaftler entschließen sich dazu, das Set der Korrespondenzregeln für ihre Theorie um Korrespondenzregeln zu erweitern, die die Theorie auf die durch das neue Meßverfahren ermöglichten Beobachtungen bezieht. Wenn eine aus der Theorie und einer neuen Korrespondenzregel abgeleitete Voraussage mit den empirischen Befunden übereinstimmt, so kann die Theorie häufig relativ problemlos als in diesem Fall bestätigt angesehen werden. 68 Wenn hingegen eine Dis67 Hempel 1963, 703. Vgl. auch Camap 1956, 67 und Suppe 1974a, 25. Carnap hatte bereits 1934 mit dem Hinweis auf Duhem diese Auffassung vertreten; vgl. Camap 1934, 246. Nach 1934 spricht er jedoch zunächst wieder von der Bestätigung oder Widerlegung einzelner theoretischer Gesetze, was indizieren mag, daß er diese Auffassung nicht mehr teilte oder zumindest ignorierte. In seinem Spätwerk spricht Carnap von der Bestätigung oder Widerlegung sowohl einzelner Gesetze als auch ganzer Theorien; vgl. z.B. Camap 1969, 231 und ebd., 240. 68 Positive Prüfungsresultate können jedoch nicht immer als relativ problemlose Bestätigungen der Theorie interpretiert werden; und auch im Fall positiver Befunde läßt sich ein relevanter Einfluß sozialer Faktoren nicht ganz ausschließen. Abgesehen von möglichen Zweifeln an der Richtigkeit der bestätigenden Protokollsätze ist hier v.a. an die nachträgliche Verwerfung bestimmter Korrespondenzregeln zu denken, mit deren Hilfe die Bestätigungen erzielt wurden. Eine derartige Modifikation des Sets der Korrespondenzregeln, die auch die entsprechenden Bestätigungen ungültig erscheinen läßt, kann notwendig werden, da sich die Wahl von Korrespondenzregeln nicht nur am Angebot potentieller Meßverfahren für eine Theorie orientiert, sondern auch dem Kriterium der Konsistenz folgen muß: Die Korrespondenzregeln für eine Theorie dürfen weder untereinander noch zusammen mit der Theorie unverträglich sein; vgl. Camap 1969, 237 und Stegmüller 1970, 312. Da es aber, wie Stegmüller feststellt, kein mechanisches Verfahren zur Überprüfung der Konsistenz interpretierter Theorien gibt, kann es vorkommen, daß erst nach längerer Zeit die Inkonsistenz einer interpretierten

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krepanz zwischen der Voraussage und den tatsächlichen neuen Beobachtungen bzw. den akzeptierten neuen Basissätzen vorliegt, so kann die zu prüfende Theorie nicht als schlüssig widerlegt betrachtet werden. "Der Grund dafür liegt darin, daß ja nur das ganze System TA Z als mit der Erfahrung unverträglich erkannt wird und daß daher der Theoretiker in vielen Fällen die Wahl haben wird, entweder T allein oder Z allein oder sowohl T als auch Z zu modifizieren. Wo immer ein Fall von dieser Art vorliegt, kann der Theoretiker stets beschließen, seine reine Theorie T gegen die 'Widerlegung durch die Erfahrung' dadurch zu immunisieren, daß er 'allein den Zuordnungsregeln die Schuld gibt' und sich mit deren Modifikation begnügt. "69 Diese Problemlage ist eine Konsequenz der Zweistufenkonzeption des reifen Logischen Empirismus. Zwar werden auch gemäß den früheren Konzeptionen des Logischen Empirismus Theorien bzw. in erster Linie einzelne theoretische Gesetze mit Hilfe von Korrespondenzregeln geprüft, aber ein negativer empirischer Befund kann hier nicht zu einer Modifikation der Korrespondenzregeln allein führen, da jede Abänderung einer Korrespondenzregel hier zugleich auch eine Modifikation der Theorie bedeutet. Diese Untrennbarkeit der ModifIkationen der Korrespondenzregeln von ModifIkationen der Theorie beruht darauf, daß in den früheren Konzeptionen die Korrespondenzregeln die theoretischen Begriffe (partiell) definieren, jede Abänderung dieser Regeln also unmittelbar und tiefgreifend den Sinn der theoretischen Begriffe und Sätze und damit der Theorie verändert.7 0 Im reifen Logischen Empirismus, mit seiner strikten Trennung der theoretischen Sprache von der Beobachrungssprache und der Annahme der lediglich partiellen empirischen Interpretation der Theorie durch die Korrespondenzregeln, liegt hingegen eine hinreichend deutliche Differenziertheit von reiner Theorie und theoretischem System vor sowie eine entsprechende Unabhängigkeit der Korrespondenzregeln von der reinen Theorie, die es im Grunde nicht gestattet, bei Änderungen der Korrespondenzregeln auch von Änderungen der auf dem Prüfstand stehenden Theorie zu sprechen. Die Modifikation der Korrespondenzregeln, etwa durch die Verknüpfung einer Theorie entdeckt wird, die trotz der Konsistenz der explanatorischen Theorie allein vorliegen mag. Wenn eine solche Entdeckung gemacht wird, müssen die Korrespondenzregeln geändert werden; vgl. Stegmüller 1970, 321. Aber welche Korrespondenzregeln dann aufgegeben werden müssen, liegt im Ermessen der Wissenschaftler. So mag etwa die Wahl zu treffen sein zwischen einem gut etablierten Meßverfahren und einem akkurateren, aber noch wenig bewährten Verfahren; in solchen Situationen gibt es keinen Algorithmus für die optimale Entscheidungsfindung. 69 Stegmüller 1970, 312. (T steht hier für die Konjunktion der Postulate der Theorie, Z für die Konjunktion der Zuordnungs- bzw. Korrespondenzregeln, und TA Z für die Konjunktion von T und Z.) Vgl. auch Hempell974, 37f.; ebd., 44f.; Stegmüller 1987,265ff. 70 Vgl. Suppe 1974a, 103f.

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Theorie mit einem neuen Meßverfahren, betrifft nun nicht zugleich auch die Theorie, sondern das Set der Korrespondenzregeln allein. "For in such a situation the theory has not been changed at all. It is still the same theory; we just know more about how to apply it to phenomena. Thus it is misleading to construe the correspondence rules as being, strictly speaking, part of the theory; rather, the correspondence rules are auxiliary hypotheses of procedures for applying the theory to phenomena. "71 Die Duhem-Quine-These kann nun wie folgt formuliert werden: Da stets ganze theoretische Systeme - bestehend aus der reinen, explanatorischen Theorie und Korrespondenzregeln bzw. Hilfshypothesen, d.h. weiteren Annahmen, die zur Ableitung von Prognosen benötigt werden72 - geprüft werden, stellen im Fall negativer Prüfungsresultate sowohl die Theorie als auch die Hilfshypothesen logisch mögliche Fehlerquellen dar, und die Entscheidung zur Verwerfung oder Modifikation einer der möglichen Fehlerquellen ist durch Logik und Experiment allein nicht bestimmt. Aus der Umgehensweise des Logischen Empirismus mit dem daraus folgenden Duhem-Quine-Problem, d.h. dem Problem der Identifikation von Fehlerquellen und der Beurteilung von Modifikationen widerlegter theoretischer Systeme, die das System wieder in Einklang mit der Erfahrung bringen können, ergeben sich nun entscheidende Konsequenzen für die Einschätzung der Möglichkeit und Relevanz einer relativistischen Soziologie des wissenschaftlichen Wissens. Der Logische Empirismus überläßt nämlich in den durchaus nicht unüblichen Fällen negativer Prüfungsresultate in erheblichem Ausmaß den Wissenschaftlern die Entscheidung, welches Element des theoretischen Systems als Fehlerquelle betrachtet und verworfen oder modifiziert wird, insbe71 Suppe 1974a, 103; H.i.O. Auch Stegmüller betont, daß Änderungen der Korrespondenzregeln die reine Theorie unverändert lassen und bezeichnet die Zurechnung der Hilfshypothesen zu der auf dem Prüfstand stehenden Theorie als irreführend; vgl. Stegmüller 1970, 311 und Stegmüller 1987, 507f. In dieselbe Richtung argumentiert auch Putnam 1974, 225f. und Putnam 1987, 252. Diese Auffassung wird nicht von allen Logischen Empiristen geteilt, setzt sich im späten Logischen Empirismus aber zunehmend durch. Das prinzipielle Problem der Identifikation der Fehlerquelle widerlegter theoretischer Systeme bleibt freilich auch dann bestehen. wenn die Korrespondenzregeln zur geprüften Theorie (im sehr weiten Sinne) hinzugerechnet werden; es lautet dann, welche Annahme einer solchen Theorie im Fall negativer empirischer Befunde als falsch betrachtet werden soll. Da in die Korrespondenzregeln häufig theoretische Annahmen eingehen. die nur um den Preis einer völligen Entdifferenzierung des Theoriebegriffs noch zu der Theorie gezählt werden können, um deretwillen geprüft wird, ist jene Problemformulierung aber zumeist irreführend; vgl. zu diesem Punkt auch unten, S. 95 (Fn. 84). 72 Zu dieser Bestimmung des Begriffs der Hilfshypothese vgl. Hempel 1974, 37. Dieser Begriff wird häufig enger gefaßt und nur zur Bezeichnung theoretischer Annahmen benutzt; vgl. dazu auch unten, S. 103 (Fn. 100).

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C. Wissenschaftsphilosophische Ausgangspunkte

sondere auch, ob die explanatorische Theorie durch die Widerlegung des theoretischen Systems als widerlegt gilt oder nicht. Diese Entscheidungen - die direkt die Frage der Akzeptabilität von Theorien beriihren 73 - können nun von wissenssoziologisch analysierbaren Faktoren beeinflußt sein, und der Logische Empirismus hält keine Kriterien oder Vorkehrungen bereit, die einen solchen Einfluß ausschalten könnten. Im Folgenden werden zunächst die affIrmativen Haltungen der beiden führenden Vertreter des reifen Logischen Empirismus zur Duhem-Quine-These vorgestellt; anschließend werden die durch diese Affmnation und die Umgehensweise mit dem Duhem-Quine-Problem eröffneten Einflußchancen sozialer Faktoren auf die Theorienbewertung im Rahmen dieser Wissenschaftsphilosophie besprochen. Carnap zeigt eine nicht ganz konsequent affmnative Haltung zur DuhemQuine-These. Er äußert zwar ausdrücklich seine volle Zustimmung zu dieser These, hält aber auch bestimmte Auffassungen aufrecht, die sich mit dieser Zustimmung letztlich kaum vereinbaren lassen. Quine kritisiert bereits in seinem äußerst einflußreichen Aufsatz Two Dogmas 01 Empiricism (1951) die isolationistische74 Konzeption des fortgeschrittenen Logischen Empirismus, setzt ihr seine holistische Auffassung entgegen und formuliert nachdrücklich seine einflußreiche These. Quine schreibt: "(T)otal science is like a fIeld of force whose boundary conditions are experience. A conflict with experience at the periphery occasions readjustments in the interior of the fIeld. Truth values have to be redistributed over some of our statements. Reevalution of some statements entails reevaluation of others, because of their logical interconnections - the logical laws beeing in turn simply certain further statements of the system, certain further elements of the fIeld. Having reevaluated one statement we must reevaluate some others, which may be statements logically connected with the fIrst or may be the statements of 10gical connections themselves. But the total fIeld is so underdetermined by its boundary conditions, experience, that there is much latitude of choice as to 73 Wenn eine Hilfshypothese als Fehlerquelle identifiziert und verworfen oder modifiziert wird, sinkt der Bestätigungsgrad der explanatorischen Theorie trotz der Widerlegung des theoretischen Systems nicht; wird dagegen der Fehler bei der Theorie gesehen, wirkt sich das negativ auf ihren Bestätigungsgrad aus. 74 Der Isolationismus behauptet die empirische Priifbarkeit isolierter theoretischer Gesetze und widerspricht damit der holistischen Annahme, nach der stets ganze theoretische Systeme mit der Erfahrung konfrontiert werden. Stegmüller bezeichnet den Isolationismus als eine Grundvoraussetzung des Denkens Carnaps; vgl. Stegmüller 1987, 265. Wie insbesondere Camaps Reaktion auf Quines Angriff zeigt, trifft diese Aussage nur noch bedingt auf den späten Carnap zu. Zur Spannung zwischen Isolationismus (oder auch Atomismus) und Holismus beim späten Camap vgl. Haller 1991. 273 undPutnam 1987, 254.

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what statements to reevaluate in the light of any single contrary experience. No particular experiences are linked with any particular statements in the interior of the field, except indirectly through considerations of equilibrium affecting the field as a whole. ( ... ) Any statement can be held true come what may, if we make drastic enough adjustements elsewhere in the system. ( ... ) Conversely, by the same token, no statement is immune to revision. ,,75 Carnap reagiert erst 1963 direkt auf diese, mittlerweile klassische Formulierung der Duhem-Quine-These und äußert dabei seine vorbehaltlose Zustimmung: "Quine shows (in his book, pp. 42-46) that a scientist, who discovers a conflict between his observations and his theory and who is therefore compelled to make a readjustment somewhere in the total system of science. has much latitude with respect to the place where a change is to be made. In this procedure, no statement is immune to revision, not even the statements of logic and mathematic. There are only practical differences, and these are differences in degree, inasmuch as a scientist is usually less willing to abandon a previously accepted general empiricallaw than a single observation sentence, and stilliess willing to abandon a law of logic or of mathematics. With all this I am entirely in agreement. "76 Diese vorbehaltlose Zustimmung will jedoch nicht recht zu anderen Aussagen und Annahmen Carnaps passen. Es ist zunächst irritierend, daß Camap außer in der gerade zitierten, direkten Entgegnung auf Quine - die DuhemQuine-These kaum thematisiert; wenn er aber den von ihr beschriebenen Problemkreis berührt, so nimmt er keine konsequente Position ein. So bestätigt er in seinem letzten größeren Werk einerseits die Duhem-Quine-These, indem er darauf hinweist, daß bei empirischen Widerlegungen implizit verwandte Hilfshypothesen über den Einfluß von Faktoren, die zuvor als irrelevant für das Experiment eingeschätzt wurden, korrigiert werden können. 77 Einige Seiten zuvor schreibt Camap dagegen, die Widerlegung eines theoretischen Gesetzes 75 Quine 1961, 42/43. Vgl. auch Quine 1962, xli.; Quine/Ullian 1978. 102ff. Vgl. zu Quines These auch Bergström 1990; Bergström 1993; Grimes 1990; Koppe/berg 1987. 162ff. und ebd .• 270ff. Neurath kann hier als ein Vorläufer Quines gelten; vgl. Neurath 1979a. 108; Neurath 1979b. 134f. und ebd.• 139. 76 Carnap 1963. 921. 77 Carnap (1969. 54): "Wir müssen unseren gesunden Menschenverstand benützen und unsere Annahmen nur korrigieren. wenn etwas Unerwartetes geschieht. das uns zwingt, einen Faktor als relevant zu betrachten. den wir vorher vernachlässigt hatten. " Diese Äußerung erinnert auch an eines der Motive Camaps zur Einführung der Zweistufenkonzeption: Die Wissenschaftler nehmen bei der Zuschreibung von theoretischen Begriffen u. U. Korrekturen an den zuvor nicht problematisierten Hintergrundannahmen vor, indem sie auf die ' Ausweichklausel' der Korrespondenzregeln rekurrieren; vgl. oben, S. 8Of.

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könne durch ein einziges Gegenbeispiel sofort gefolgert werden. 78 Carnap hält an der Annahme der Bestätigungsfähigkeit und Widerlegbarkeit einzelner Gesetze fest 79 , und er vertritt weiterhin die Annahmen, daß für einzelne theoretische Begriffe und Sätze Signiftkanzkriterien angegeben werden können80 und zwischen synthetischen und analytischen (nicht widerlegbaren) Sätzen in der Wissenschaftssprache unterschieden werden kann. 81 Diese drei Annahmen sind aber kaum mit einer konsequenten holistischen und antifundamentalistischen Haltung vereinbar. Während Carnap an diesem wichtigen Punkt also einen etwas halbherzigen Antifundamentalismus vertritt, ist Hempel ein unzweideutiger und konsequenter Verfechter der Duhem-Quine-These. Hempel kritisiert Carnaps Beharren auf den drei oben genannten Annahmen wegen deren Unvereinbarkeit mit den Implikationen der Zweistufenkonzeption. 82 Es ist jedoch vor allem Hempels expliziter Hinweis auf die Korrespondenzregeln als mögliche Fehlerquellen bei empirischen Prüfungen theoretischer Systeme sowie seine wiederholte, ausführliche und unmißverständliche Afftrmation der Duhem-Quine-These, die ihn von Carnap an diesem Punkt abhebt. 83 Wegweisend für die weitere Entwicklung der Diskussion der Duhem-Quine-These im reifen Logischen Empirismus und darüber hinaus ist dabei Hempels Kritik an der vereinfachenden Modellvorstellung der empirischen Prüfung von Theorien, die sich im herkömmlichen Konzept der Korrespondenzregeln niederschlägt. In der Regel erfordert die empirische Prüfung von Theorien eine Vielzahl weiterer theoretischer Annahmen, die entweder als Bestandteile der Korrespondenzregeln im traditionellen Sinne stillschweigend mitgedacht werden müssen, besser aber als explizite Hilfshypothesen aufgefaßt werden, wobei sie in beiden Fällen bei Widerlegungen theoretischer Systeme allesamt logisch potentielle Fehlerquellen darstellen. So schreibt Hempel: "A single sentence in a scientiftc theory does not, as a rule, entail any observation sentences; consequences asserting 78 "Obwohl man ein Naturgesetz auf keine Weise (im strengen Sinne) verifizieren kann, ist es interessanterweise ganz einfach, es zu falsifizieren. Man braucht ja nur ein einziges Gegenbeispiel zu finden. ( ... ) Aber wenn man annimmt, daß das Gegenbeispiel eine Tatsache ist, dann folgt die Negation des Gesetzes sofort." (Carnap 1969, 29.) Der resistente Fundamentalismus Carnaps an diesem Punkt wird auch deutlich, wenn er von der Rechtfertigung theoretischer Gesetze spricht und annimmt, die theoretischen Gesetze seien genauso gut begründet wie die empirischen Gesetze, denen sie ihre Bestätigung verdanken; vgl. Carnap 1969,227 und ebd., 229. 79 Vgl. z.B. Carnap 1969, 29f. 80 Vgl. Carnap 1956, 49ff. 81 Vgl. Carnap 1969, 255ff. 82 Vgl. HempeI1963, 703ff. Carnap antwortet darauf in Carnap 1963, 960ff. 83 Vgl. HempeI1963, 703; Hempe11970, 158ff.; Hempe11974, 36ff.

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the occurence of certain observable phenomena can be derived from it only by conjoining it with a set of other, subsidiary, hypotheses. Of the latter, some will usually be observation sentences, others will be previously accepted theoretical statements. Thus, e.g., the relativistic theory of the deflection of light rays in a gravitational field of the sun entails assertions about observable phenomena only if it is conjoined with a considerable body of astronomical and optical theory as weIl as a large number of specific statements about the instruments used in those observations of solar eclipses which serve to test the hypotheses in question. "84 Eine jede dieser Hilfshypothesen, die in das geprüfte theoretische System eingehen, kann bei falschen Voraussagen als Fehlerquelle in Betracht kommen und einen Ansatzpunkt von Modiftkationsversuchen darstellen. Die Entscheidung, wo genau der Fehler lokalisiert wird und Modifikationen vorgenommen werden - insbesondere auch, ob die explanatorische Theorie als fehlerhaft betrachtet wird und verworfen oder abgeändert wird - überläßt der reife Logische Empirismus nun aber, so meine These, in beträchtlichem Ausmaß den Wissenschaftlern, und er kann daher einen mitbestimmenden Einfluß sozialer Faktoren auf diese Entscheidungen nicht mehr ausschließen. 8S Der 84 Hempel 1965b. 112. Vgl. auch HempeI1974. 36ff. Das Zitat macht auch deutlich. wie unplausibel es zumeist wäre. die Hilfshypothesen der explanatorischen Theorie zuzurechnen; vgl. oben. S. 91 (Fn. 71). Die Korrektur des im Logischen Empirismus lange vorherrschenden. allzu simplifizierenden Modells der empirischen Prüfung - das explanatorische Theorien und Gesetze ohne das Mitwirken einer Vielzahl weiterer theoretischer Annahmen der Erfahrung gegenüberstellt - und die Suche nach realistischeren, verfeinerten Konzeptionen der Konfrontation von Theorie und Erfahrung ist seit den sechziger Jahren ein Hauptanliegen nicht nur des reifen Logischen Empirismus. Vgl. dazu z.B. Schaffner 1969 und Suppes 1962 sowie die Diskussion dieser Beiträge in Suppe 1974a. 104ff.; vgl. auch Putnam 1974. Von diesen relativ frühen Hinweisen auf die. insbesondere auch von Camap immer wieder unterschätzte. Vielfalt und Komplexität der bei der Prüfung von Theorien verwandten Hilfshypothesen läßt sich eine Linie bis zu den jüngeren Arbeiten Hackings ziehen. der in der Absicht der Erweiterung der Duhem-Quine-These insgesamt 15 Elemente von der Fragestellung über das Hintergrundwissen. die KorrespondenzregeIn. die Instrumente. die Datenanalyse usw. - identifiziert, die alle als plastische Ressourcen begriffen werden. die im Verlauf ihrer Entwicklung und Veränderung schließlich. im günstigen Fall. in Übereinstimmung gebracht werden und dann eine Theorie bestätigen; vgl. Hacking 1988 und Hacking 1992. 44ff. Seit den sechziger Jahren läßt sich eine auffällige Stimulierung der Diskussion der Duhem-Quine-These im Logischen Empirismus und darüber hinaus beobachten. Dabei gibt es zwar auch Gegenstimmen, die Zustimmung zu dieser These überwiegt jedoch mit der Zeit immer mehr; vgl. Greenwood 1990. 554f. und Putnam 1987. 252ff. 8S Wenn sich die Wissenschaftler dafür entscheiden. die explanatorische Theorie als Fehlerquelle anzusehen und zu modifizieren. so ist damit noch nicht präjudiziert. an welcher Stelle die Theorie abgeändert werden muß und auf welche Weise - z.B.

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reife, antifundamentalistische Logische Empirismus stellt also nicht nur explizit den ersten, sondern implizit auch den zweiten wissenschaftsphilosophischen Ausgangspunkt der neueren Wissenssoziologie - in der spezifischen Form der Annahme der Möglichkeit des gemäßigten Relativismus - bereit. Die Vertreter dieser Theorietradition verweigern zwar ihre Zustimmung zu dieser Annahme und halten vielmehr am Absolutismus fest, wobei sie nun entsprechend der breiten Akzeptanz des Antifundamentalismus zum gemäßigten Absolutismus neigen. Sie können aber keine Kriterien angeben, deren Anwendung die Möglichkeit eines relevanten, mitbestimmenden Einflusses sozialer Faktoren auf die Theorienbewertung und damit die Möglichkeit des gemäßigten Relativismus ausschließt. In der Sicht des Logischen Empirismus richten sich die Wissenschaftler bei der konsensuellen Wahl einer bestimmten Modifikation widerlegter theoretischer Systeme und bei der bilanzierenden Bewertung von Theorien nach gewissen Kriterien und Prinzipien. Da ein möglicher Einfluß des sozialen Kontextes auf diese Wahl bzw. Bewertung von den Vertretern dieser Theorietradition nicht thematisiert wird, muß vermutet werden, daß die angegebenen Kriterien und Prinzipien einen solchen Einfluß vollständig unterbinden sollen. Die vom Logischen Empirismus genannten Kriterien und Prinzipien lassen aber durchaus erhebliche Einflußchancen sozialer Faktoren zu. So bestätigt Carnap das von Quine deskriptiv formulierte Prinzip des Konservatismus, nach dem die Wissenschaftler sich eher zur Abänderung relativ peripherer Annahmen denn zur Modifikation bereits akzeptierter theoretischer Kernannahmen oder der Logik entschließen - er weist aber zugleich auf den breiten Spielraum der Wissenschaftler bei diesen Entscheidungen hin. 86 Hempel betont, daß in der Wissenschaftspraxis das Kriterium der Einfachheit in der Regel logisch mögliche Modifikationen unterbindet, die zu allzu komplizierten Theorien oder theoretischen Systemen führen; er fügt aber als entscheidende Einschränkung hinzu, daß bislang kein präzises Kriterium der Einfachheit formuliert werden konnte.87 Auch das Prinzip der Verwerfung durch eine Verwerfung bestimmter Annahmen oder durch eine Einschränkung des intendierten Bereichs - dies geschehen soll; vgl. Hempel1974, 42. Insofern ist nicht nur die Bewertung, sondern auch die Bildung bzw. Umbildung der Theorie durch Logik und Experiment unterbestimmt und von sozialen Faktoren beeinflußbar. 86 Vgl. Camap 1963,921 (zitiert oben, S. 93); vgl. auch Quine 1961, 43f. 87 Vgl. Hempel 1974, 46f. und ebd., 60ff.; ebenso Stegmüller 1970, 312f. Wie

Hempel nun deutlich macht, ist die Einfachheit einer Theorie auch eines der Kriterien der Akzeptabilität von Theorien, die er also nicht mehr allein an den Bestätigungsgrad rückbinden möchte; vgl. Hempel1974, 50ff. Wenn sich die Akzeptabilität nach mehreren Kriterien bemißt, stellt sich das Problem der Gewichtung der Kriterien. Auch hier muß der Logische Empirismus die Möglichkeit des Einflusses sozialer Faktoren konzedieren, da er keine allgemeine 'Gewichtungsfunktion' angibt.

I. Der Logische Empirismus

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von Ad-hoc-Hypothesen erlaubt häufig keine eindeutige Beurteilung von ModifIkationen, da nach Hempel das Kriterium zur Bestimmung von Ad-hocHypothesen bisher nicht präzise formuliert werden konnte. 88 Diese, vom Logischen Empirismus mit Hinweis auf das faktische Vorgehen der Wissenschaftler angegebenen, Kriterien und Leitprinzipien können zwar wichtige Orientierungspunkte für die Entscheidungen der Wissenschaftler darstellen, ob eine bestimmte Modif'tkation eines theoretischen Systems einer anderen, logisch gleich möglichen Modifikation vorzuziehen ist oder nicht; aber sie können aufgrund ihrer unscharfen Formulierung und ihrer daraus folgenden unterschiedlichen Interpretierbarkeit den Einfluß sozialer Faktoren auf diese Entscheidungen - und damit auf die Höhe des Bestätigungsgrades und die Akzeptabilität von Theorien - keineswegs ausschließen. Ob eine bestimmte Abänderung des theoretischen Systems als ad hoc oder nicht hinreichend einfach beurteilt werden muß, läßt sich unter Bezugnahme auf die entsprechenden Kriterien nicht eindeutig feststellen, und die Interpretation eines dieser Kriterien im Rahmen der Begriindung einer bestimmten Modifikation kann ebenso wie die Entscheidung für jene Modifikation selbst von sozialen Faktoren beeinflußt sein. Ist der Entscheidungsspielraum der Wissenschaftler nun aber nicht dadurch entscheidend eingeschränkt, daß die Hilfshypothesen eines theoretischen Systems entweder durch die Resultate früherer Prüfungen oder durch erneute Prüfungen als gesichert gelten können? Die Auffassung, das Duhem-QuineProblem ließe sich durch den Rekurs auf den hohen Bestätigungsgrad der Hilfshypothesen wesentlich entschärfen, fmdet in Feigl einen prominenten Vertreter. Er schreibt: "In the formal reconstruction of theory testing there are then always assumptions, or auxiliary hypotheses, or parts of general background knowledge that are, in the given context, taken for granted. A c10ser look at the actua1 history and procedures of scientifIc research, however, indicates that the auxiliary hypotheses, etc., have usually been 'secured' by previous confirmation (or corroboration). ·89 Der Bestätigungsgrad einer Hilfshypothese mag nun zwar durchaus eine gewisse Rolle im Prozeß der Wahl einer bestimmten Modiftkation des theoretischen Systems spielen, aber die vorgängige hochgradige Bestätigung einer Hilfshypothese kann nicht als schlüssiger 88 Vgl. Hempell974, 44ff. Stegmüller schreibt auch, daß es keine feste Regel dafür gibt, ob im Fall der Widerlegung eines theoretischen Systems die Theorie oder die Hilfshypothesen zu modifizieren sind; vgl. Stegmüller 1987, 267. 89 Feigll970, 10. Vgl. auch Feigl1956, 12f. Die Behauptung, die Hilfshypothesen seien meist sehr gut bestätigt, erscheint gewagt - nach Putnam sind diese Annahmen im Gegenteil gewöhnlich deutlich riskanter als die explanatorische Theorie; vgl. Putnam 1974, 226ff. Die Frage der Akzeptabilität der Hilfshypothesen sollte im jeweiligen Einzelfall geklärt werden. 7 Schofer

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C. Wissenschaftsphilosophische Ausgangspunkte

Beweis ihrer Wahrheit verstanden werden, der sie aus dem Kreis der potentiellen Fehlerquellen ausschließen würde. 90 Auch eine bisher gut bestätigte Hilfshypothese ist also prinzipiell nicht immun gegen das Risiko des empirischen Scheiterns, und wenn sich die Wissenschaftler in einem bestimmten Fall faktisch dazu entschließen, eine solche theoretische Annahme wegen ihres vorgängigen Bestätigungsgrades nicht als mögliche Fehlerquelle in Betracht zu ziehen, dann kann dieser, von Logik und Erfahrung nicht gedeckte Entschluß von sozialen Faktoren beeinflußt und Gegenstand wissenssoziologischer Untersuchungen sein. Feigls Argument der Berucksichtigung des Bestätigungsgrades der Hilfshypothesen kann aber auch und vor allem darum eine wesentliche Einschränkung des Entscheidungsspielraums der Wissenschaftler und damit der Einflußmöglichkeiten sozialer Faktoren auf diese Entscheidungen nicht plausibel machen, weil dieses Argument das Problem der IdentifIkation der Fehlerquelle eines aktuell widerlegten theoretischen Systems lediglich in andere Prufungszusammenhänge - die Prufungen der Hilfshypothesen - verlagert. Der eventuell hohe Bestätigungsgrad einer Hilfshypothese ist ja selbst ein Resultat der Entscheidungen der Wissenschaftler hinsichtlich der Lokalisierung von Fehlerquellen in empirisch gepruften und falsifizierten theoretischen Systemen, in denen jene Hilfshypothese als explanatorische Theorie fungierte. Das Argument der Berucksichtigung des Bestätigungsgrades der Hilfshypothesen kann daher nicht die Annahme der Einflußmöglichkeiten sozialer Faktoren auf die Entscheidung der Wissenschaftler für bestimmte ModifIkationen eines aktuell widerlegten theoretischen Systems entkräften, es läßt sich vielmehr als Hinweis darauf verstehen, daß diese Einflüsse auch indirekt die Lokalisation der Fehlerquelle jenes Systems mitbestimmen können, indem sie die Entscheidungsfmdung über die ModifIkationen anderer theoretischer Systeme beeinflussen, deren explanatorische Theorie als Hilfshypothese in das aktuell geprufte theoretische System eingeht. Die folgende Überlegung soll dies verdeutlichen. Angenommen, die Wissenschaftler richten nach der Widerlegung eines theoretischen Systems einen Anfangsverdacht gegen die Theorie des Meßinstruments, die eine der Hilfshypothesen des Systems darstellt; einfachheitshalber gehe ich davon aus, daß dem Meßinstrument nur eine Theorie zugrunde liegt. 91 Wenn die Theorie des Meßinstruments in Frage gestellt wird, so wird 90 Dies bestreitet auch Feigl nicht; vgl. FeigI1970. 10. 91 Für die Zielrichtung eines Anfangsverdachts kann der vorgängige Bestätigungsgrad jeder der involvierten theoretischen Annahmen wichtig sein. So mag in diesem Fall die Theorie des Meßinstruments eine der Hilfshypothesen mit einem relativ geringen vorgängigen Bestätigungsgrad sein. Es ist jedoch zum einen durchaus nicht zwingend. daß ein Anfangsverdacht derart motiviert ist. und zum anderen kann sich eine Hilfshypothese trotz ihres hohen vorgängigen Bestätigungsgrades als modifizierungs-

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dies zu einer kritischen Bestandsaufnahme ihrer bisherigen empirischen Prüfungen und eventuell auch zu neuen Tests dieser Theorie führen. In beiden Fällen stellt sich das Problem, daß die Prüfung der Theorie des Meßinstruments als explanatorische Theorie eines theoretischen Systems wiederum neue Hilfshypothesen verlangt, deren Prüfung selbst wieder andere theoretische Annahmen erfordert, usw. Dadurch ist insbesondere bei widerlegenden Prüfungen der theoretischen Systeme, in denen die Theorie des Meßinstruments als explanatorische Theorie fungiert, die Gefahr des Beginns eines infiniten Regresses gegeben, da dann ja sowohl die explanatorische Theorie als auch eine (oder eine Mehrzahl) der verwandten Hilfshypothesen falsch sein kann. 92 Praktisch kommt es aber entweder nicht zum Beginn eines solchen Regresses oder die Kette weiterer Nachprüfungen wird an irgendeinem Punkt abgebrochen, sei es, indem eine theoretische Annahme wegen negativer Prüfungsresultate schließlich verworfen wird, oder daß es bei bestätigenden Resultaten an einem bestimmten Punkt nicht mehr sinnvoll ist oder scheint, an der Gültigkeit der Hilfshypothesen bzw. der jeweils vorausgesetzten Theorien zu zweifeln. Beides ist aber nicht durch die Erfahrung schlüssig vorgegeben, sondern abhängig von Verhandlungen und Entscheidungen der Wissenschaftler, die wiederum von sozialen Faktoren beeinflußt sein können. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß der reife Logische Empirismus aufgrund seiner Anerkennung der Duhem-Quine-These und seiner Umgehensweise mit dem Duhem-Quine-Problem das Programm einer relativistischen Wissenssoziologie letztlich nicht mehr blockieren kann. Die Vertreter des Logischen Empirismus geben keine Kriterien für das korrekte Verfahren angesichts des Duhem-Quine-Problems bzw. keine Kriterien zur bilanzierenden Bewertung von Theorien an, die die Möglichkeit des Einflusses sozialer Faktoren ausschließen. Die Einschätzung der Akzeptabilität der Hilfshypothesen eines falsifizierten theoretischen Systems nach weiteren Nachprüfungen kann ebenso von sozialen Faktoren mitbestimmt sein wie die Auslegung und Anwendung der vom Logischen Empirismus in der faktischen Wissenschaftspraxis identifizierten Kriterien des Konservatismus, der Einfachheit und der Verwerfung von Ad-hoc-Hypothesen. Insgesamt führt die Anerkennung der bedürftig erweisen, wie auch eine weniger gut bestätigte theoretische Annahme weiterhin als akzeptabel gelten kann. 92 Dieses Argument gilt insofern auch für den Fall bestätigender Prüfungen einer Hilfshypothese und für den Fall, daß die ursprünglich ins Auge gefaßte Theorie von vornherein bestätigt wird, als es nicht ausgeschlossen ist, daß eine der verwandten Hilfshypothesen falsch ist und daher weitere Nachprüfungen eingeleitet werden. Gerade die Anhänger einer konkurrierenden Theorie können unter Hinweis auf die Zweifelhaftigkeit verwandter Hilfshypothesen die Akzeptabilität der möglicherweise inkorrekt bestätigten Theorie bestreiten. 7*

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beiden antifundamentalistischen Teilthesen sowie die Umgehensweise mit dem Basisproblem und dem Duhem-Quine-Problem zu der Einschätzung, daß im logisch-empiristischen Bild der Wissenschaft soziale Faktoren einen mitbestimmenden Einfluß auf die Bildung und Bewertung des Wissens nehmen können. Der reife Logische Empirismus der sechziger Jahre kann somit das Programm der neueren Wissenssoziologie nicht als grundsätzlich defIzitär ausweisen, sondern stellt vielmehr die wissenschaftsphilosophischen Ausgangspunkte der neueren Wissenssoziologie bereit. Diese, von seinen Anhängern freilich nicht explizit konzedierte, Öffnung des Logischen Empirismus gegenüber der relativistischen Wissenssoziologie erfolgt allerdings zu einer Zeit, in der sich gerade auch der Falsiftkationismus immer stärker durchsetzt und den Relativismus mit neuen Gegenargumenten konfrontiert.

11. Der Falsifikationismus Mit der Erosion der Überzeugungskraft der fundamentalistischen Grundannahmen des Logischen Empirismus rücken seit den sechziger Jahren zunehmend falsiftkationistische und postempiristische Programme ins Zentrum der wissenschaftsphilosophischen Diskussion. 93 In diesem Kapitel wird der Falsiftkationismus Poppers und Lakatos' daraufhin untersucht, inwieweit der auch von den Hauptvertretern des Falsiftkationismus intendierte Nachweis der epistemologischen Irrelevanz sozialer Kontextfaktoren im Rahmen ihrer eigenen Konzeptionen plausibel geführt werden kann. 94 Popper und Lakatos 93 Poppers Logik der Forschung bzw. die zuvor verfaßte und dem Hauptwerk zugrundeliegende Studie Die heiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie beeinflußt in den frühen dreißiger Jahren zwar den Wiener Kreis, wird aber in England und Amerika zunächst als Teil der Bewegung des Logischen Positivismus mißverstanden und gerät vorübergehend fast in Vergessenheit. Erst 1959, mit der Veröffentlichung der englischen Übersetzung der Logik der Forschung wird Poppers Wissenschaftsphilosophie weithin als grundsätzliche Alternative zum Logischen Empirismus rezipiert und gewinnt nun ihre markante Stellung in der philosophischen Debatte; vgl. Popper 1974a, 69 und ebd., 118. Auch Poppers Rezeption in der Soziologie setzt im wesentlichen erst mit The Logic 01 Scientijic Discovery ein; vgl. Merton 1977, 70. 94 Poppers antirelativistische Haltung durchzieht sein ganzes Werk; zurecht schreibt Radnitzky (1976, 541 (Fn. 2»: "The basic thrust at the bottom of Popper's entire philosophy is the fight against relativism." Zu Poppers Kritik an der Wissenssoziologie v.a. Mannheims vgl. Popper 1992, 248ff. Zur Kritik an Kuhns Relativismus und seiner Hinwendung zur Wissenssoziologie vgl. Popper 1970, 55ff. Zur allgemeinen Relativismuskritik vgl. Popper 1984b und Popper 1992, 460ft. 1984 bezeichnet er die neuere relativistische Wissenssoziologie als eine Bedrohung der Suche nach objektiver Wahrheit und macht deutlich, daß seine Drei-Welten-Ontologie auch gegen die Soziologie des Wissens gerichtet ist; vgl. Popper 1984a, viii und ebd., 117f. 1994 nennt er den Glauben an die Wissenssoziologie sogar die heute größte Gefahr für den

11. Der Falsifikationismus

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vertreten einen konsequenten Antifundamentalismus, ziehen daraus jedoch keine relativistischen Konsequenzen, sondern nehmen an, durch die Angabe normativer methodologischer Regeln und Kriterien die Irrelevanz sozialer Faktoren für die Bildung und Bewertung wissenschaftlichen Wissen erweisen zu können. Beide möchten für die Umgehensweise mit dem Basis- und dem Duhem-Quine-Problem methodologische Regeln und Kriterien aufstellen, deren vollständige Durchsetzung in der faktischen Wissenschaftspraxis sicherstellen soll, daß konsensuelle Urteile der Wissenschaftler über die Akzeptabilität von Theorien kraft dieser Regeln und Kriterien eindeutig bestimmt und in dem Sinne objektiv sind. Sie nehmen an, daß durch die Anwendung jener Regeln und Kriterien ein Einfluß kontingenter Faktoren des sozialen Kontextes auf diese Urteile bzw. Bewertungen wenn nicht ganz ausgeschlossen, so doch zumindest als soweit eingeschränkt gelten kann, daß keine relativistischen Implikationen vorliegen. Popper und Lakatos argumentieren also für eine antifundamentalistische Position, die durch die Angabe normativer methodologischer Regeln und Kriterien - der "Spielregeln des Spiels 'empirische Wissenschaft' "95 - den gemäßigten Absolutismus gegen relativistische Anfechtungen verteidigen soll.96 Im Folgenden wird die These vertreten, daß Popper aufgrund seiner antifundamentalistischen Position mit zwei methodologischen Kernproblemen konfrontiert ist - dem Basisproblem und dem Duhem-Quine-Problem -, deren Lösungsversuche den von Popper intendierten Nachweis der epistemologischen Irrelevanz sozialer Kontextfaktoren nicht leisten können. Selbst wenn die zur Lösung jener Probleme angegebenen 'Spielregeln' faktisch nicht nur weitgehend, sondern vollständig befolgt würden, ließe sich nicht ausschließen, daß soziale Faktoren die Bildung und Bewertung des Wissens mitbestimmend beeinflussen können. Die neuere Wissenssoziologie kann sich hinsichtlich ihrer wissenschaftsphilosophischen Ausgangspunkte also auch auf eine kritische

Fortschritt der Wissenschaft; vgl. Popper 1994, 314 (Fn. 1a). Zu Lakatos' Ablehnung des Relativismus und der Wissenssoziologie vgl. Lakatos 1982a, 86 und ebd., 89ff. 95 Popper 1989, 25.

96 Popper grenzt seine normative Methodologie scharf vom Naturalismus des Logischen Empirismus ab; zu seiner Kritik an der naturalistischen, analytisch~skriptiven Wissenschaftslehre vgl. Popper 1989, 22ff. Popper möchte freilich auch nicht auf den Anspruch der Analyse der faktisch ausgeübten Wissenschaft verzichten, um eine übergroße Distanz oder Spannung seiner Normierungsansprüche zur tatsächlichen Wissenschaftspraxis und die daraus folgende Gefahr der Irrelevanz seiner Methodologie für die philosophische Erhellung der Erfolge der Wissenschaft zu vermeiden. Daraus ergibt sich eine gewisse Ambivalenz Poppers bzgl. des Status seiner Wissenschaftsphilosophie; vgl. dazu Ströker 1976, 16; vgl. auch Fn. 23 in Kap. A.

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C. Wissenschaftsphilosophische Ausgangspunkte

Interpretation der Methodologie Poppers stützen (Kap. 11.1). Anschließend wird argumentiert, daß auch Lakatos' Weiterentwicklung der Methodologie Poppers, die die Kritik Kuhns an Poppers 'naivem' FalsifIkationismus berücksichtigt und eine 'raffInierte' Lösung der beiden methodologischen Kemprobleme des FalsifIkationismus vorschlägt, den Nachweis der Irrelevanz des sozialen Kontexts für die Bildung und Bewertung des Wissens nicht führen kann (Kap. 11.2). 1. Der Falsifikationismus Poppers

a) Poppers Methodologie als antifundamentalistische Alternative zum Logischen Empirismus

Karl Popper setzt sich in seinem wissenschaftsphilosophischen Hauptwerk Logik der Forschung (1934) mit den fundamentalistischen Auffassungen des Wiener Kreises auseinander und entwickelt eine alternative antifundamentalistische Methodologie. Er weist den Induktivismus des Logischen Empirismus zurück und bekennt sich zu der These der Theoriegeladenheit der Beobachtung und der Duhem-Quine-These; die Anerkennung dieser beiden Thesen führt zu den Kemproblemen seiner Methodologie. Der Leitgedanke der Methodologie Poppers ist der Falsiftkationismus: Wissenschaftliche Theorien können durch die Erfahrung weder verifiziert noch bestätigt bzw. als wahrscheinlich ausgewiesen werden, aber sie können durch die Erfahrung falsifIziert werden. Der vom Logischen Empirismus in Anspruch genommene Induktionsschluß von der Gültigkeit singulärer Beobachtungssätze auf die Gültigkeit allgemeiner Sätze bzw. Theorien ist, wie Popper im Anschluß an Hume argumentiert, mit dem unüberwindlichen Problem behaftet, ein Induktionsprinzip zur Rechtfertigung derartiger Schlüsse als gültig auszuweisen. Denn jeder Versuch, ein Induktionsprinzip als empirisch gültigen Satz zu rechtfertigen, muß bereits ein Induktionsprinzip höherer Ordnung voraussetzen, so daß ein infmiter Regreß die Folge wäre; der einzige Ausweg aus diesem Dilemma ist der in Poppers Sicht genauso unbefriedigende Schritt, das Induktionsprinzip als synthetisches Urteil apriori zu betrachten. 97 Dieses Induktionsproblem ergibt sich Popper zufolge grundsätzlich unabhängig davon,

97 Zur Problematik eines Induktionsprinzips vgl. Popper 1984a, 1ff.; Popper 1989, 3ff. und ebd., 198ff. Das Problem des Begriindungsversuchs eines Induktionsprinzips läßt sich als ein Fall des 'MÜDchhausen-Trilemmas' beschreiben; vgl. Albert 1991, 14ff. und ebd., 31f.

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ob durch induktive Schlüsse die Wahrheit oder lediglich eine gewisse Wahrscheinlichkeit von Theorien erwiesen werden soll.98 Das Dilemma eines Transfers der Gültigkeit besonderer Sätze auf die Gültigkeit von Theorien unter Verwendung induktiver Schlüsse umgeht Popper, indem er eine rein deduktive Methodik der empirischen Prüfung von Theorien vorschlägt. Zur empirischen Prüfung einer Theorie werden aus allgemeinen Sätzen dieser erklärenden Theorie, aus Randbedingungen, d.h. besonderen Sätzen, "die nur für den betreffenden Fall gelten "99, und aus Hilfshypothesen - also aus einem ganzen theoretischen System - singuläre Sätze, Prognosen deduziert. 1OO Stellt sich bei eingehender und strenger Prüfung heraus, daß die Prognose falsch ist, d.h. widerspricht die Prognose einem Beobachtungs- bzw. Basissatz, der bei der experimentellen Prüfung aufgestellt wird, so ist auch das zur Ableitung der Prognose verwendete theoretische System falsifiziert. Fällt die Prüfung der Prognosen positiv aus, so hat sich das theoretische System und die erklärende Theorie, um deretwillen geprüft wird, in diesem Fall 'bewährt'. Eine wissenschaftliche, d.h. für Popper eine falsifIzierbare Theorie ist im 98 Popper hat sich entsprechend stets sehr kritisch zu den Versuchen geäußert, eine probabilistische induktive Logik: zu etablieren; zur diesbzgl. Kritik: an Camap vgl. Popper 1963, 213ff. 99 Popper 1989, 32. 100 Vgl. Andersson 1988, 17ff. Bei der empirischen Prüfung von Theorien müssen zur Prognosededuktion in aller Regel neben der erklärenden Theorie und den Randbedingungen auch weitere theoretische Annahmen, d.h. Hilfshypothesen verwendet werden, z.B. die theoretischen Annahmen, die in die verwendeten Meßinstrumente eingehen. Die Hilfshypothesen müssen klar von den durch Beobachtung direkt kontrollierbaren singulären Randbedingungen unterschieden werden; vgl. Radnitzky 1976, 532. Die Hilfshypothesen werden in den Erläuterungen der Logik der ForschWlg erstens zur formalen Struktur der Prognosededuktion und zweitens zu den Modifikationsmöglichkeiten bei Falsifikationen aber nicht durchgehend berücksichtigt; vgl. zum ersten Punkt Popper 1989, 8 gegenüber ebd., 31ff.; vgl. zum zweiten Punkt ebd., 45f. gegenüber 47ff. In engem Zusammenhang damit steht Poppers uneinheitlicher Gebrauch des Begriffs des theoretischen Systems: Er verwendet diesen Begriff für das System von Theorie, Randbedingungen und Hilfshypothesen; vgl. z.B. Popper 1989, 51. Zum Teil bezeichnet er mit diesem Begriff aber auch die Konjunktion von Theorie und Randbedingungen oder auch nur eine Theorie, ein System allgemeiner Sätze; vgl. z.B. ebd., 45 bzw. ebd., 41f. In Poppers Schriften tritt daher öfter die Unklarheit auf, was genau als falsifiziert gelten soll, insbesondere, ob auch die Hilfshypothesen als logisch mögliche Fehlerquellen methodologisch in Betracht gezogen werden; vgl. Düsberg 1979, 17 (Fn. 16) und Lakatos 1982a, 34 (Fn. 112). In Kap. C.II.l.c) werden entsprechend der Ein- bzw. Ausklammerung der Hilfshypothesen bei Poppers Diskussionen der Falsifikation und Modifikation theoretischer Systeme zwei unterschiedliche Lösungsvorschläge Poppers für das Duhem-Quine-Problem identifiziert und diskutiert.

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Sinne des gemäßigten Absolutismus akzeptabel, wenn sie solchen Prüfungen besser standhält als ihre Konkurrenten, sich also besser bewährt. Das erste Kemproblem seiner Methodologie, das Basisproblem, ergibt sich in seiner vollen Schärfe aus Poppers Akzeptanz der antifundamentalistischen These der Theoriegeladenheit der Beobachtung und der daraus folgenden Fallibilität der Basissätze: Wenn die zur Falsifikation oder Bewährung theoretischer Systeme benötigten Basissätze fallible und revidierbare Vermutungen sind, stellt sich das Problem, welche Basissätze dennoch berechtigt behauptet werden können. Das Duhem-Quine-Problem stellt sich für Popper als zweites methodologisches Kernproblem: Wenn Falsifikationen ganze theoretische Systeme betreffen, dann kommen alle Elemente dieser Systeme als potentielle Fehlerquellen und Ansatzpunkte für ModifIkationen logisch in Betracht. Sowohl für die Frage der Auswahl unter den falliblen Basissätzen als auch für die Frage der Auswahl der Fehlerquellen und ModifIkationsstrategien falsifIzierter theoretischer Systeme versucht Popper methodologische Regeln zu formulieren, die die konsensuellen Antworten der Wissenschaftler auf diese Fragen ausschlaggebend bestimmen sollen, ohne daß Faktoren des sozialen Kontextes hierbei mitbestimmend sein können. Poppers Lösungsversuche der beiden Kemprobleme werden in den Kap. l.b) und l.c) vorgestellt und kritisch diskutiert. Die Konsequenz dieser Diskussion für die Frage der Möglichkeit der relativistischen Interpretation der Akzeptabilität von Theorien wird im Rahmen der Diskussion der Popperschen Theorie des Erkenntnisfortschritts in Kap. I.d) aufgegriffen. b) Das Basisproblem bei Popper aa) Die Theoriegeladenheit der Beobachtung und die Fallibilität der Basissätze Um wissenschaftliche Theorien empirisch überprüfen zu können, sind besondere Sätze über Beobachtungen und Experimente notwendig - Basissätze. Basissätze haben die allgemeine Form: 'An der Raum-Zeit-Stelle k gibt es ein P', wobei 'P' für einen beobachtbaren Vorgang oder physischen Körper steht.I 01 Basissätze als singuläre Es-gibt-Sätze können somit Vorgänge oder Körper beschreiben, deren Vorkommen von einer Theorie verboten wird, oder genauer: Basissätze können nicht mit einer Prognose vereinbar sein, die aus einem theoretischen System abgeleitet wird. 101 Vgl. Popper 1989, 55ff. und ebd., 66ff. Den Begriff 'beobachtbar' verwendet Popper (1989, 69) als undefinierten, "durch den Sprachgebrauch hinreichend präzisierten Grundbegriff. "

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Popper vertritt entgegen dem zeitgenössischen Logischen Empirismus die antifundamentalistische Position, daß es weder 'reine Beobachtung' noch entsprechende Basissätze gibt, sondern alle Sätze der Wissenschaft theoriegeladen sind und daher nicht verifiziert werden oder als sicher gelten können. Wie Popper betont, gehen nicht nur Theorien, sondern auch prima facie theoriefreie und in dem Sinne 'unverdächtige' Beobachtungssätze weit über die Erfahrung hinaus, die sie daher nicht begründen kann. Basissätze gebrauchen zur Bezeichnung von Vorgängen und Objekten Universalbegriffe, die "Dispositionen zu gesetzmäßigem Verhalten voraussetzen und somit allgemeine Gesetze"102, also Theorien. Ein schlichter Basissatz wie 'Hier steht ein Glas Wasser'103 enthält bereits Universalien, die nicht bestimmten Erfahrungen von beobachtungsmäßig 'Gegebenem' zugeordnet werden können, sondern Körper von bestimmtem gesetzmäßigem Verhalten bezeichnen; der Basissatz behauptet also mehr, als die Erfahrung je rechtfertigen könnte. Der Aussage-Überschuß der Basissätze ist eine Folge der Verwendung von Begriffen, die Theorien voraussetzen; dabei kann es sich um nur rudimentäre Theorien der Alltagssprache handeln 104 , aber auch um komplexe wissenschaftliche Theorien, die einen Vorgang erst beobachtbar machen, indem sie die Experimente "bis zu den letzten Handgriffen "105 anleiten, die einen bestimmten Effekt nachweisen und das Aufstellen entsprechender Basissätze ermöglichen. Popper vertritt daher die Auffassung, "daß Beobachtungen und erst recht Sätze über Beobachtungen und über Versuchsergebnisse immer Interpretationen der beobachteten Tatsachen sind und daß sie Interpretationen im Lichte von Theorien sind. "106 Basissätze sind daher nicht sicher, sondern fallible und revidierbare Vermutungen - "die Basis schwankt. "107 Damit stellt sich das Basisproblem in voller Schärfe: Wenn Basissätze theoriegeladen und fallibel sind, müssen Kriterien angegeben werden, die regeln, welche Basissätze trotz ihrer

102 Popper 1989. 379.

103 Das Beispiel stammt von Popper; vgl. Popper 1989, 61. 104 Vgl. Popper 1989, 76. 105 Popper 1989, 72. 106 Popper 1989, 72 (Zusatz); H.i.O. Vgl. auch Popper 1984a, 31. Zur Kritik der logisch-empiristischen Auffassung der Begründbarkeit von Protokollsätzen durch Wahrnehmungserlebnisse, der Zuruckführbarkeit von theoretischen Begriffen auf Begriffe der Beobachtungssprache und des Zwei-Sprachen-Konzepts vgl. Popper 1989, 17f.; ebd., 6Off.; ebd., 378f.; Popper 1994, 172ff. 107 Popper 1989, 76.

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Fallibilität akzeptabel sind, d;h. berechtigterweise anerkannt und zur empirischen Prüfung von Theorien verwendet werden können. 108 In seiner Auseinandersetzung mit der Protokollsatz-Debatte des Wiener Kreises hebt Popper das Verdienst Neuraths hervor, die Fallibilität der Protokollsätze nachhaltig betont zu haben, kritisiert ihn aber scharf dafür, daß er das Problem der Auswahl unter den falliblen Sätzen der Basis nicht gelöst habe und so in eine relativistische Willkür und Beliebigkeit hinsichtlich der Basis verfalle.1 09 Poppers Vorschlag zur Lösung des Basisproblems besteht in der Angabe zweier methodologischer Kriterien, die Basissätze erfüllen müssen, um als zwar fallible, aber objektive Basissätze gelten zu können. Poppers methodologische Kriterien sind insofern als anti-relativistische Vorkehrungen vor einem antifundamentalistischen Hintergrund zu verstehen. bb) Das Kriterium der Reproduzierbarkeit Popper ersetzt die Vorstellung sicherer Beobachtungssätze als Fundament der Wissenschaft durch die Idee objektiver, d.h. intersubjektiv nachprüfbarer Basissätze. 110 Die methodologisch geforderte intersubjektive Nachprüfbarkeit besteht zunächst darin, daß Basissätze Vorgänge beschreiben sollen, die reproduzierbar sind, d.h. keine einmaligen, 'okkulten Effekte'. "Nur dort, wo gewisse Vorgänge (Experimente) auf Grund von Gesetzmäßigkeiten sich wiederholen, bzw. reproduziert werden können, nur dort können Beobachtungen, die wir gemacht haben, grundsätzlich von jedermann nachgeprüft werden. "111 Ein akzeptabler Basissatz gehört daher zu einer Klasse von Basissätzen, die denselben, reproduzierten und weiter reproduzierbaren Vorgang beschreiben. 112 Dieses Kriterium ist insoweit unproblematisch, als es lediglich besagen soll, daß einmalige Ereignisse keine akzeptablen Basissätze liefern und nicht zur Falsifikation von Theorien verwendet werden sollen; denn eine einzelne Beobachtung kann ja das zufällige Ergebnis eines trivialen Irrtums etwa beim Ablesen der Meßinstrumente sein. 108 Den Tenninus 'Basisproblem(e)' verwendet Popper selbst zur Bezeichnung der Fragen nach der Art der Basissätze und der Methode ihrer Überprüfung; vgl. Popper 1989, 17 und ebd., 60.

109 Vgl. Popper 1989, 63f. 110 Vgl. Popper 1989, 18. 111 Popper 1989,19. 112 Widerspricht ein Basissatz einer Theorie bzw. einem theoretischem System, dann gilt die erklärende Theorie erst dann als falsifiziert, wenn eine 'falsifizierende Hypothese', die den reproduzierbaren falsifizierenden Effekt beschreibt, aufgestellt wird und sich bewährt; vgl. Popper 1989, 54; vgl. auch Anderssan 1988, 102f.

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Dennoch ist auch dieses plausible Kriterium nicht völlig frei von Problemen. Wie oft muß ein Vorgang reproduziert werden, um als reproduzierbar zu gelten, so daß die entsprechenden Basissätze mit Recht behauptet und eine Theorie falsifizieren oder bewähren können? Popper zufolge gibt es auf diese Frage keine allgemeine Antwort. Die Entscheidung, ob eine bestimmte Anzahl von Wiederholungen als ausreichend anzusehen ist, bleibt den Wissenschaftlern überlassen. 1l3 Nicht nur bei der Antwort auf die Frage, wieviele Wiederholungen eines Vorgangs ausreichend sind, sondern auch bei dem Problem, ob überhaupt von einer Wiederholung gesprochen werden kann, läßt Poppers Kriterium Einflußchancen für wissenssoziologisch analysierbare Faktoren offen. Basissätze können insofern prekär sein, als die Reproduzierbarkeit des beschriebenen Effekts in Frage steht, da die Zuverlässigkeit des verwendeten Meßinstruments umstritten ist, z.B. wenn es sich um ein neues, wenig bewährtes Instrument handelt. Das Aufstellen weiterer gleichartiger Basissätze kann die Frage der Wiederholbarkeit der beschriebenen Vorgänge - ob es sich um einen belangvollen Effekt oder um einen Scheineffekt handelt - offenbar nicht beantworten, weil dazu die weitere Verwendung der umstrittenen Hilfshypothese der Zuverlässigkeit des Meßinstruments bzw. der Gültigkeit der dem Meßinstrument zugrunde liegenden theoretischen Annahmen nötig ist. 1l4 In solchen Fällen kann die Tauglichkeit des fraglichen Meßinstruments für bestimmte Anwendungen unter Umständen durch erneute unabhängige Prüfungen, in denen die Theorie des Meßinstruments als explanatorische Theorie fungiert, untersucht werden. Diese unabhängigen Prüfungen des Meßinstruments bzw. der darin eingehenden Theorien benötigen aber selbst wiederum neue Hilfshypothesen, die bei Falsifikationen logisch als Fehlerquellen in Betracht kommen; bei der Prüfung der neuen Hilfshypothesen kann dasselbe Problem auftreten, usw. Praktisch wird der drohende infInite Regreß durch den Konsens der Wissenschaftler abgebrochen, bestimmte theoretische Annahmen und Basissätze als unproblematisch (nicht überprüfungsbedürftig) und akzeptabel anzusehen und sie zu akzeptieren. Die Relevanz des - in seinem Zustandekommen methodologisch nicht weiter geregelten - Konsenses der Wissenschaftler über die Akzeptabilität von Basis-

113 Vgl. Popper 1989, 55 (Anm. *1). 114 Ein beispielhafter Fall ist die Entdeckung der Jupitermonde durch Galilei, zu deren Beobachtung Galilei ein Fernrohr verwandte, dessen Zuverlässigkeit als Beobachtungsinstrument zu dieser Zeit umstritten war - mit bloßem Auge war die Beobachtung dieser Monde aber nicht wiederholbar. Das Aufstellen weiterer Basissätze über Beobachtungen dieser Monde mit dem Fernrohr kann das Problem der Reproduzierbarkeit der Basissätze offenbar nicht lösen; vgl. Feyerabend 1983, 128ff.; Andersson 1988, 164ff. undebd., 184.

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sätzen wird auch bei Poppers zweitem Kriterium für die Objektivität der Basissätze deutlich. cc) Das Kriterium der Ableitung weiterer Folgesätze Popper schlägt zur Lösung des Basisproblems ein zweites Kriterium vor, dem objektive Basissätze genügen müssen. Die intersubjektive Nachprüfbarkeit besteht "darin, daß aus den zu prüfenden Sätzen andere nachprüfbare Sätze deduziert werden können; sollen auch die Basissätze intersubjektiv nachprüfbar sein, so kann es in der Wissenschaft keine 'absolut letzten' Sätze geben, d.h. keine Sätze, die ihrerseits nicht mehr nachgeprüft und durch Falsiftkation ihrer Folgesätze falsifIziert werden können. Wir kommen daher zu folgendem Bild: Man überprüft die Theoriensysteme, indem man aus ihnen Sätze von geringerer Allgemeinheit ableitet. Diese Sätze müssen ihrerseits, da sie intersubjektiv nachprüfbar sein sollen, auf die gleiche Art überprüfbar sein - usw. ad inftnitum." 115 Da dieses Überprüfungsverfahren prinzipiell endlos fortgesetzt werden kann, die Nachprüfung der Basissätze aber irgendwann ein Ende fmden muß, zieht Popper in diesem Punkt dem infmiten Regreß eine gewissermaßen dogmatische Lösung vor. 116 "Wenn wir ein Ergebnis erzielen wollen, bleibt uns also nichts anderes übrig, als uns an irgendeiner Stelle für [vorläuftg] befriedigt zu erklären. Es ist verständlich, daß sich auf diese Weise ein Verfahren ausbildet, bei solchen Sätzen stehenzubleiben, deren Nachprüfung 'leicht' ist, d.h. über deren Anerkennung oder Verwerfung unter den verschiedenen Prüfern eine Einigkeit erzielt werden kann." 117 Basissätze werden also (vorläuftg) anerkannt, wenn bei der Aufstellung der Basissätze im Rahmen der Überprüfung von Theorien die beteiligten Wissenschaftler zum Konsens gelangen, daß ein Basissatz akzeptabel ist.

Wie wichtig dieser Konsens ist, wird noch deutlicher, wenn man die Kette der Nachprüfungen von Basissätzen genauer betrachtet. 118 Zur Überprüfung eines Basissatzes durch Ableitung eines singulären Folgesatzes müssen theore115 Popper 1989, 20/21.

116 Popper bezeichnet seine Lösung als harmlosen Dogmatismus, denn der logisch willkürliche Abbruch der Überprüfungskette muß nicht das letzte Wort sein; es kann immer noch weiter nachgeprüft werden. Dabei entsteht erneut die Gefahr eines infiniten Regresses, den Popper aber mit dem Argument als unbedenklich einschätzt, daß es an keiner Stelle der Überprüfungskette - auch nicht an der potentiell immer vorläufig letzten Stelle - um das Auffinden eines Fundaments geht, das die vorangegangenen Sätze als sichere Sätze begründen könnte; vgl. Popper 1989, 20f. und ebd., 70f. 117 Popper 1989, 70. 118 Vgl. zum Folgenden Popper 1979, 125f. und Andersson 1988, l06ff.

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tische Annahmen, Hilfshypothesen, verwendet werden, und dies bei jedem Schritt in der Kette der Ableitungen bzw. Prüfungen. Der umstrittene, problematische Basissatz A wird also überprüft, indem aus ihm und mindestens einer Hilfshypothese eine Prognose abgeleitet wird; ist der - die Beobachtung beim entsprechenden Experiment beschreibende - Basissatz B problematisch, wird er wiederum unter Verwendung einer weiteren Hilfshypothese geprüft, usw . Wenn bei dieser Prozedur eine der abgeleiteten Prognosen zutrifft und ein konsensuell als unproblematisch und akzeptabel eingeschätzter Basissatz erreicht wird, besteht (vorläufig) kein weiterer Bedarf an Nachprüfung und die Überprüfungskette wird abgebrochen. Im Fall nicht einstimmiger Urteile der Wissenschaftler über den Status eines Basissatzes muß weitergeprüft werden oder die Prüfung wird ohne Resultat abgebrochen. Im Falle einer negativen Prognose an irgendeiner Stelle der Überprüfungskette wird aber die Konjunktion von geprüftem Basissatz und Hilfshypothese falsiflziert. Die Entscheidung über die Verwerfung des geprüften Basissatzes ist dann empirisch also nicht eindeutig bestimmt, da auch die Hilfshypothese falsch sein kann; man könnte insofern von der empirischen Unterbestimmtheit der Basissätze sprechen. Will man eine problematische Hilfshypothese unter Verwendung weiterer Hilfshypothesen weiter prüfen, so stellt sich zum einen das Basisproblem erneut und zum anderen kann hierbei nur ein ganzes theoretisches System bestätigt oder falsifiziert werden, und es droht ein infiniter Regreß der Prüfungen, der durch den Konsens der beteiligten Wissenschaftler über unproblematische und akzeptable Basissätze und theoretische Annahmen abgebrochen werden muß. In der Wissenschaftspraxis werden nach Popper die zur Überprüfung einer Theorie aufgestellten Basissätze, falls sie sich als problematisch erweisen, durch weniger problematische Basissätze ersetzt, soweit dies möglich ist; dadurch trete die Entscheidungsfmdung über einzelne problematische Basissätze in der Praxis eher selten auf. 119 Popper stellt aber ausdrücklich fest, daß alle Basissätze durch die Deduktion singulärer Folgesätze prütbar sein müssen, und unter Umständen so geprüft werden müssen, wenn keine Einigung über ihre Anerkennung oder Verwerfung gefunden wird. 120 Wichtig ist, daß in jedem Fall - gleich, wie lange die Kette der Nachprüfungen ist oder auch wenn sie gar nicht begonnen wird - der Konsens der Wissenschaftler über die Anerkennung oder Verwerfung der Basissätze entscheidet. "Logisch betrachtet geht die Prüfung der Theorie auf Basissätze zurück,

119 Vgl. Popper 1979, 125. 120 Vgl. Popper 1989, 69f.

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und diese werden durch Festsetzung anerkannt. Festsetzungen sind es somit, die über das Schicksal der Theorie entscheiden. nI21 Der deutlich konventionalistische Zug dieses Lösungsvorschlags ist nicht zu übersehen und wird von Popper auch ausdrücklich bestätigt. I22 Die Entscheidungen über Anerkennung oder Verwerfung der Basissätze sind - vom logischen Gesichtspunkt - willkürliche Festsetzungen. I23 Poppers methodologische Kriterien beschränken zwar den Bereich möglicher akzeptabler Basissätze, die Festsetzung bestimmter Basissätze innerhalb dieses Bereichs überläßt er jedoch dem Konsens der Wissenschaftler, ohne das Verfahren der Entscheidungsfmdung - die Konsensformation - methodologisch eingehender und derart zu regeln, daß der Einfluß wissenssoziologisch analysierbarer Faktoren auf die Konsensformation ausgeschlossen werden könnte. Da Popper den Konsens der Wissenschaftler über die notwendige Anzahl der Reproduktionen eines Effekts und über die Fortführung oder den Abbruch des Prüfungs verfahrens mittels Deduktion von Folgesätzen zur letzten Instanz für die Beurteilung der Basissätze erklärt, ohne die Modalitäten der Konsensformation in dem Maße methodologisch zu klären, wie es seine Intention erfordert, erlaubt Poppers Konzeption die Annahme der Möglichkeit eines mitbestimmenden Einflusses sozialer Kontextfaktoren auf die Entscheidung für oder gegen Basissätze und damit auch auf die Beurteilung des geprüften theoretischen Systems .124 Poppers Lösungsversuch des Basisproblems gestattet also eine, gegen wissenssoziologische Erklärungsansprüche gerichtete, methodologisch geregelte Festsetzung der Basissätze nur in begrenztem Umfang. Ein Relativismus im Sinne der Willkür und Beliebigkeit der Anerkennung oder Verwerfung von Basissätzen ist zwar ausgeschaltet, nicht aber die Möglichkeit des gemäßigten Relativismus, denn ein mitbestimmender Einfluß soziologisch analysierbarer 121 Popper 1989, 73; H.LO. 122 Vgl. Popper 1989, 73. Dieser Konventionalismus unterscheidet sich vom herkömmlichen Konventionalismus v.a. dadurch, daß nicht allgemeine Sätze, sondern singuläre Basissätze das Ergebnis von Festsetzungen sind; vgl. ebd, 74. 123 Vgl. Popper 1989, 69 und ebd., 74. 124 Lakatos weist etwa auf die Möglichkeit hin, daß der Mangel an Einstimmigkeit hinsichtlich der Beurteilung von Basissätzen auch durch den Ausschluß der dann als 'Querulanten' disqualifizierten Wissenschaftler von der Entscheidungs-Jury behoben werden kann; vgl. Lakatos 1982c, 152. In der Vorstudie zur Logik der Forschung verlangt Popper wissenschaftssoziologische Untersuchungen der Frage, ob in einem bestimmten Fall ein Konsens der Wissenschaftler vorliegt; diese Untersuchungen sind für die Frage der Akzeptabilität von Basissätzen relevant, da ja konsensuelle Beurteilungen gefordert sind. Popper fordert aber keine derartigen Untersuchungen zur Frage, wie ein solcher Konsens zustande gekommen ist (oder auch nicht), er thematisiert also nicht den für die neue Wissens soziologie in diesem Zusammenhang entscheidenden Punkt; vgl. Popper 1979, 437.

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Faktoren auf die Festsetzung der Basissätze kann auch bei vollständiger faktischer Durchsetzung der von Popper formulierten Kriterien nicht ausgeschlossen werden. c) Das Duhem-Quine-Problem bei Popper

aa) Die beiden Lösungsvorschläge der Logik der Forschung Das zweite methodologische Kernproblem resultiert aus Poppers Akzeptanz der Duhem-Quine-These. Das Kernstück seiner Methodologie ist der falsifIzierende Schluß von der Negation der Prognose zur Negation des theoretischen Systems, aus dem die Prognose abgeleitet ist. 125 Nun wird hierbei aber nicht ein bestimmtes Element des an die Erfahrung herangetragenen theoretischen Systems widerlegt, sondern das theoretische System als Ganzes wird falsifIziert, so daß man, wie Popper mit Duhem feststellt, "zunächst von keinem einzelnen der Sätze dieses Systems behaupten kann, daß die FalsifIkation gerade ihn trifft oder nicht trifft" .126 Auch dieses Problem ist Popper zufolge nicht ohne normative methodologische Regeln zu lösen. 127 Das zweite Kernproblem der Methodologie Poppers besteht darin, ob und wie von der 'zunächst' erreichten FalsifIkation des ganzen Systems auch zur FalsifIkation bestimmter Elemente des Systems - in erster Linie zur erklärenden Theorie vorangeschritten werden kann, und ob eindeutige methodologische Kriterien für die Anwendung bzw. Bewertung verschiedener ModifIkationsweisen eines falsifIzierten Systems - die für die Akzeptabilität der Systemelemente direkt ausschlaggebend sind - angegeben werden können, die gewährleisten, daß ein Einfluß sozialer Faktoren auf diese Anwendung und Bewertung ausgeschlossen

125 Er bezieht sich dabei auf den modus tollens der klassischen Logik; vgl. Popper 1989,44ff. 126 Popper 1989, 45. In manchen Fällen ist es nach Popper möglich, Teile einer Theorie zu identifizieren, die nicht in die Deduktion einer bestimmten Prognose eingehen, dann auch keine Sätze des geprüften Systems darstellen und von der entsprechenden Falsifikation somit nicht betroffen sind; vgl. Popper 1989, 42; ebd., 45f.; Popper 1994, 349f. Das Zielgebiet des modus tollens kann weiter eingegrenzt werden, wenn die Gültigkeit der empirisch direkt kontrollierbaren Randbedingungen angenommen wird, und sie daher zu den falsifizierenden Prämissen gezählt werden; vgl. Popper 1979, 260f.; vgl. auch Andersson 1988, 28f. und Radnitzky 1980, 344ff.

127 So schreibt Popper (1979, 392): "Ähnlich [der methodologischen Lösung des Basisproblems; B.S.] können wir auch gegenüber dem oben skizzierten konventionalistischen Einwand Duhems uns vorerst mit der Einsicht wappnen, daß wir ohne allgemeine methodologische Richtlinien, die unser Verfahren und unsere Behandlung der Naturgesetze regeln, überhaupt nicht vom Fleck kommen. "

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oder zumindest als entscheidend eingeschränkt und daher epistemologisch irrelevant angesehen werden kann. Popper diskutiert dieses Problem in der Logik der Forschung in zwei Passagen, in denen er zwei unterschiedliche Lösungen dieses Problems vorschlägt, die ich die enge bzw. die weite Lösungsvariante nenne, da sie sich darin unterscheiden, ob die Hilfshypothesen als logisch mögliche Fehlerquellen methodologisch ernst genommen werden und ihre Revision bei der FalsifIkation des Systems erlaubt ist oder nicht, wodurch sich der Bereich der in Betracht zu ziehenden Fehlerquellen und Revisionsmöglichkeiten verengt bzw. weitet. Beide Lösungsvorschläge fmden sich in modifizierter Form auch in späteren Schriften Poppers. 1974 entscheidet er sich defmitiv für die weite Lösung. Der weite Lösungsvorschlag des Duhem-Quine-Problems in der Logik der Forschung besteht in der Angabe methodologischer Regeln gegen die 'Immunisierungsstrategien' konventionalistischer Provenienz, v.a. gegen die Verwendung von Ad-hoc-Hypothesen zum Schutz des theoretischen Systems vor Widerlegung. 128 Popper kommt bei der Vorstellung seines Lösungsvorschlags dem Konventionalismus zunächst recht weit entgegen: Er bezeichnet den Konventionalismus als unwiderleglich, der Gegensatz zum Empirismus sei nicht durch sachlich-theoretische Debatte überwindbar. Dem Konventionalismus kann man Popper zufolge nur durch einen Entschluß entgehen: "Wir setzen fest, seine Methoden nicht anzuwenden und im Falle einer Bedrohung des Systems dieses nicht durch eine konventionalistische Wendung zu retten, d.h. nicht unter allen Umständen das zu ' ... erzielen, was 'Übereinstimmung mit der Wirklichkeit' genannt wird' ." 129

128 Der Konventionalismus geht wie Popper vom Grundgedanken der empirischen Unterbestimmtheit von Theorien aus; gegen den naiven induktivistischen Empirismus betont er Popper zufolge mit vollem Recht, "daß von einer eindeutigen Bestimmung der theoretischen Grundsätze durch die Beobachtungssätze keine Rede sein kann. Es müssen deshalb auch immer mehrere Theoriensysteme möglich sein, die [es] gestatten, ein gegebenes System von Beobachtungssätzen zu erklären." (Popper 1979, 357; H.i.O.) Vgl. auch ebd., 216 und Popper 1989, 104. Der Konventionalismus zieht daraus aber anders als Popper den Schluß, daß ein theoretisches System dann als akzeptabel gelten kann, wenn es nach einem eher vagen, ästhetischen Kriterium als das einfachste betrachtet wird, und als solches dann durch gewisse 'konventionalistische Wendungen', wie etwa die Einführung von Ad-hoc-Hypothesen, vor Falsifikationen geschützt, immunisiert werden soll. Nach Popper ist ein System dagegen einfach, wenn möglichst wenig Hilfshypothesen, die den Falsifizierbarkeitsgrad senken, also Ad-hoc-Hypothesen, eingeführt werden müssen; vgl. Popper 1989, 97ff. Zu Poppers Auseinandersetzung mit dem Konventionalismus vgl. auch Popper 1989, 47ff. und Popper 1979, 175ff. 129 Popper 1989, 50; H.LO.

11. Der Falsifikationismus

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Popper identifiziert die folgenden vier Immunisierungsstrategien, denen er anschließend entsprechende antikonventionalistische methodologische Regeln entgegenstellt: Einführung von Ad-hoc-Hypothesen; Abänderung grundlegender Deftnitionen der Theorie, insbesondere der expliziten Deftnitionen, die Begriffe verschiedener Allgemeinheitsstufen einander zuordnen; Vorbehalte gegen die Verläßlichkeit des Experimentators bzw. gegen den Scharfsinn des Theoretikers. 130 Die beiden letztgenannten Immunisierungen handelt Popper sehr kurz ab: Der Glaube, daß ein scharfsinniger Theoretiker zukünftig die Ableitungen entdeckt, die einen falsiftzierenden Basissatz als einen Folgesatz des theoretischen Systems ausweisen können, soll ohne Bedeutung sein; und Zweifel an der Verläßlichkeit des Experimentators seien durch die Forderung der intersubjektiven Nachprüfbarkeit der Basissätze in methodologisch geregelte Bahnen gelenkt. Die Änderungen grundlegender Deftnitionen der Theorie sind erlaubt, sollen aber als Abänderungen des Systems, als Neubau angesehen werden. 131 Poppers Regel gegen die Einführung von Ad-hoc-Hypothesen läßt nur die Einführung solcher Hilfshypothesen in ein falsiftziertes theoretisches System zu, durch die der Falsifizierbarkeitsgrad des Systems nicht herabgesetzt, sondern gesteigert wird. Ad-hoc-Hypothesen, d.h. hier: Hilfshypothesen, deren Einführung das theoretische System in geringerem Umfang als zuvor nachprüfbar machen, werden als unbefriedigend abgelehnt. 132 Popper stellt als weitere Forderung an die Einführung von Hilfshypothesen auf, daß diese Einführung in jedem Fall als Versuch eines Neubaus des Systems beurteilt werden soll. 133 Die Einführung von Hilfshypothesen wird also ebenso wie die Modiftkation grundlegender Definitionen der Theorie als ein Neubau des theoretischen Systems eingeschätzt. Die methodologische Regel, diese beiden Weisen der Reaktion auf falsche Prognosen als Neubau des theoretisches Systems

130 Vgl. Popper 1989, 49ff. 131 Vgl. Popper 1989, 51. Popper fordert nicht, daß solche Modifikationen den Falsifizierbarkeitsgrad der Theorie steigern müssen. Ra