Das Literarische: Formalistische Versuche zu seiner Bestimmung [Reprint 2019 ed.] 9783110862188, 9783110076004


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German Pages 252 [256] Year 1978

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
0. Einleitung: Form und Formalismus
1. Das LKW als Nachricht
2. Das LKW als Zeichen
3. Das LKW als Struktur
4. Das LKW als Sprachliches
5. Rückblick
Literaturverzeichnis
Namensregister

Das Literarische: Formalistische Versuche zu seiner Bestimmung [Reprint 2019 ed.]
 9783110862188, 9783110076004

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Andres Horn Das Literarische

Andräs Horn

Das Literarische Formalistische Versuche zu seiner Bestimmung

w DE

G Walter de Gruyter • Berlin • New York 1978

Diese Arbeit hat der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel im Winter 1976/77 als Habilitationsschrift vorgelegen.

CIP-Kurztitelaufnähme

der Deutschen

Bibliothek

Horn, Andräs Das Literarische : formalist. Versuche zu seiner Bestimmung. - 1. Aufl. - Berlin, New York : de Gruyter, 1978. ISBN 3-11-007600-4

© 1978 by Walter de Gruyter Sc Co., vormals G. J. Gösdien'sdie Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Budi oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Druckerei Gebr. Rasch 8c Co., Bramsche Einband: Lüderitz Sc Bauer, Berlin

Inhaltsverzeichnis 0. Einleitung: Form und Formalismus 0.1. Form als sinnlicher Ausdruck, Werk und Beziehung . . . 0.2. Formalismus als Relationismus 0.2.1. Der Ursprung des literaturtheoretischen Formalismus als Relationismus 0.2.2. Formalismus und das Nicht-Formale 0.2.2.1. Formalismus und das Bezogene 0.2.2.2. Formalismus und das Ausgedrückte 0.2.3. Formalismus und das Außerliterarische 0.3. Vorblick 1. Das LKW als Nachricht 1.1. Analogien zwischen LKW und Nachricht 1.1.1. .Ordnung'und ,Unordnung' 1.2. Das Literarische als hochkonzentrierte Information . 1.2.1. Das Literarische als hochkonzentrierte Bedeutung . 1.2.2. Das Literarische als hochkonzentrierte Innovation 1.2.2.1. Die relative (literatur)ästhetische Bedeutung von Innovation und Redundanz 1.3. Kritisches zum informationstheoretischen Ansatz . 1.3.1. Das Problem des Zufälligen an der Innovation . . 1.3.2. Innovation - wozu? 1.3.3. Innovation und Wert

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. . . .

2. Das LKW als Zeichen 2.1. Information, Kommunikation, Zeichen 2.2. Uber Zeichen im allgemeinen 2.3. Die Besonderheiten des Kunstwerks als Zeichen (konglomerat) 2.3.1. Das Kunstwerk als Nur-Zeichen

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VI

Inhaltsverzeichnis

2.3.2. Das Kunstzeichen als Relationales 2.3.3. Das Kunstzeichen als Nicht-Willkürliches 2.4. Die semiotischen Besonderheiten des LKW 2.4.1. Das Literarische als Konnotation 2.4.2. Das Literarische als Mehrdeutigkeit

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3. Das LKW als Struktur 3.1. Der Begriff .Struktur' 3.1.1. Struktur als interdependentes Ganzes 3.1.2. Struktur als Ordnungsprinzip 3.2. Die literaturtheoretische Relevanz des Struktur-Begriffs 3.2.1. Die Relevanz der,Struktur' als interdependentes Ganzes 3.2.1.1. Die schwächere Fassung 3.2.1.1.1. Funktionalität und das „Zufällige" am LKW . . . 3.2.1.1.2. Funktionalität und das Scheitern der Regelästhetik 3.2.1.1.3. Funktionalität und „Minus-Bedeutung" 3.2.1.2. Die stärkere Fassung 3.2.2. Die Relevanz der ,Struktur'als Ordnungsprinzip . . . 3.2.2.1. Erscheinungsbegründung 3.2.2.2. Dynamik 3.2.2.3. Regelmäßigkeit 3.2.2.4. Allgemeinheit

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4. Das LKW als Sprachliches 4.1. Die Literatur als Sprachanaloges 4.1.1. Kompetenz, Performanz, Generierbarkeit 4.1.2. Sprachartiger Aufbau der Literatur als „langue" . . . 4.2. Die Literatur als Nur-Sprachliches 4.3. Die Literatur als besondere Art aktualisierter Sprache . . 4.3.1. Das Literarische als Äquivalenz 4.3.1.1. Jakobsons Äquivalenz-Theorem 4.3.1.2. Die Frage der Allgemeingültigkeit des ÄquivalenzPrinzips 4.3.1.2.1. Prosa und sprachliche Irregularitäten 4.3.1.2.2. Vertikale Äquivalenz

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Inhaltsverzeichnis

4.3.1.2.3. Inhaltlich bereichertes Äquivalenz-Prinzip und Formalismus 4.3.1.3. Vom Sinn der Äquivalenz 4.3.1.3.1. Vom Sinn der horizontalen Äquivalenz 4.3.1.3.2. Vom Sinn der vertikalen Äquivalenz 4.3.2. Das Literarische als Abweichung und Verfremdung . . 4.3.2.1. Abweichung vom geläufigen Sprachgebraudi . . . . 4.3.2.2. Abweichung von der vorherrschenden künstlerischen Norm 4.3.2.3. Das Literarische als Formung 4.3.2.4. Abweichung von der alltäglichen Wahrnehmung der Dinge 4.3.2.5. Kritisches zum Thema der sprachlichen Abweichung und der Verfremdung 4.3.3. Das Literarische als Reflexivität und Aktualisieren . . 4.3.4. Das Literarische als Erkenntnisquelle 4.3.4.1. „New Criticism": Erkenntnis des Konkreten . . . . 4.3.4.2. Lotman: Modellierung des Allgemeinen

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5. Rückblick 5.1. Formalismus und Dialektizität 5.2. Formalismus und Wissenschaftlichkeit 5.2.1. Formalismus als literaturwissenschaftlicher Szientismus 5.2.2. Kritik am Formalismus als Anti-Mentalismus und Anti-Metaphysik 5.2.2.1. Formalistische Treue zum szientistisdien Ideal . . . 5.2.2.2. Formalistischer „Verrat" am szientistischen Ideal . . 5.2.2.2.1. Das Gute am „Verrat" 5.2.2.2.2. Das Schlechte am „Verrat" 5.2.3. Die methodologische Antwort auf die Herausforderung des Formalismus

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Literaturverzeichnis

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Namenregister

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0. Einleitung: Form und Formalismus 0.1. Form als sinnlicher Ausdruck, Werk und Beziehung In seiner Analyse der verschiedenen Bedeutungen, die im Laufe der Philosophiegeschichte mit dem Wort „Form" verbunden worden sind, erwähnt Roman Ingarden deren drei, die für eine Theorie des Kunstwerks besonders relevant sind. Einmal wird als Form verstanden, „was sinnlich wahrgenommen wird und als Ausdruck von etwas Nichtsinnlichem fungiert", insbesondere „das sinnlich gegebene Darstellende" (1965: 23, 28)*. In diesem Sinne ist etwa die Mimik (aber auch die sinnhaft vorgestellte Mimik) ebensosehr Form wie die Farbpigmente eines Gemäldes; die Gestik eines realen (oder bloß fiktiven) Menschen nicht weniger als die Lautschicht eines Gedichts. Sergej Bernstejn, einer der russischen Formalisten, verwendet das Wort in dieser Bedeutung, wenn er vom Kunstwerk „als sinnlicher Gegebenheit, . . . als Form im weiten Sinne" spricht (345). In der unter den neueren Formalisten weitverbreiteten Terminologie des Linguisten Louis Hjelmslev wird Form in diesem Sinne „Ausdruck" genannt (Hjelmslev 1968: 71-73; 1971: 44 et passim).

In einer zweiten, mit der vorigen verwandten Bedeutung meint „Form" „das aus einem Rohstoff bestehende, verfertigte Gebilde", insbesondere „das durch den Künstler mittels der Bearbeitung des Rohstoffes gebildete Kunstwerk" (Ingarden 1965: 29, 26). Die Verwandtschaft zwischen den beiden Bedeutungen besteht offenkundig darin, daß in beiden Fällen etwas sinnlich Gegebenes Form genannt wird; nur ist im zweiten Fall vom Ganzen des Kunstwerks die Rede, nicht von einem beliebigen Teil desselben, und das Gegenstück von * Zur Zitierweise: Die bibliographischen Angaben über die zitierten Werke befinden sich im Literaturverzeichnis. Im Text selber wird mit Namen, Erscheinungsjahr und Seitenzahl zitiert; wenn im Verlaufe der Arbeit vom gleichen Verfasser nur ein Werk beigezogen wurde, stehen im Text nur der N a m e und die Seitenzahl.

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Einleitung: Form und Formalismus

Form 2 , der Rohstoff oder das Material, ist zumeist selber etwas Sinnliches. Ith sage „zumeist", denn was ist etwa der „Rohstoff", aus dem sprachliche Kunstwerke gefertigt sind? Ist es die (jeweilige) Sprache oder ist es Psychisches? Oder gar beides? Wie die Antwort auch ausfallen mag, der sinnliche Charakter dieses „Materials" ist zumindest problematisch. Bernstejn z. B., der das Material der Poesie im Wort sieht, meint im Anschluß an Ferdinand de Saussure, dieses sei „seiner Natur nach immateriell" (351).

Demgegenüber ist das Gegenstück von Formi, das Ausgedrückte oder Dargestellte, prinzipiell nicht-sinnlicher Art (wobei das Dargestellte - darauf weist auch Ingarden [1965: 25] hin - nicht mit dem etwaigen realen Modell verwechselt werden darf). Ein Kunstwerk ist aber nicht nur Form, sondern hat auch Form, insofern es ein Ganzes ist, d. h. aus Teilen besteht, die in bestimmten Beziehungen zueinander stehen. Wenn die Teile eines Ganzen innerlich zusammenhängen wie die eines Kristalls oder eines Organismus und nicht nur durch „subjektive Erfassungsoperationen" zusammengehalten werden (wie etwa sämtliche lyrischen Gedichte, die bloß von uns zum Ganzen „Lyrik" zusammengefaßt werden), so bildet der Gesamtbestand ihrer Beziehungen in Ingardens Terminologie eine „organische" Form. Die Form, welche Kunstwerke haben, ist nun offenkundig eine solche „organische" (ebd. 13-17,28). Die beiden Bedeutungen ,Form als Werk' und ,Form als Beziehung' fließen bei Umberto Eco in eins zusammen, wenn er das Werk eine Form, d. h. ein organisches Ganzes nennt und - von der anderen Seite her - ,Form' als gelungenes Werk definiert, als Ziel einer Produktion und Ausgangspunkt einer Konsumtion (1973: Für .Beziehung' steht übrigens audi in der Hjelmslevschen Terminologie die Bezeichnung „Form" (siehe z. B. 1971: 40 f.).

0.2. Formalismus als Relationismus Jegliche Welterklärung, sei sie philosophischer oder wissenschaftlicher Art, versucht, Erscheinungen auf zugrundeliegende Prinzipien zurückzuführen. Ist sie formalistisch, so ist sie bestrebt, die untersuchten Erscheinungen von formalen Prinzipien oder - kurz Formen her zu begründen.

Formalismus als Relationismus

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Wenn man andere (von Ingarden ebenfalls analysierte) Bedeutungen von „Form" hinzunimmt, so etwa diejenige der reinen Wesenheit (d. h. der platonischen ,Idee'), des Bestimmenden als solchen (d. h. der aristotelischen ,Form'), sodann des Konstanten und der Gestalt (Ingarden 1965: 27 f.), so muß man Jean Piaget wohl recht geben, wenn er behauptet, daß alle nicht streng genommen empiristisdien philosophischen Theorien - von Plato über Kant bis Husserl - als formalistisch anzusehen seien, führten sie dodi allesamt auf Formen oder Wesenheiten zurück (1974b: 7).

Im Falle des literaturtheoretischen Formalismus sind nun die untersuchten Erscheinungen nichts anderes als die literarischen Kunstwerke (LKW), insofern sie sich der sinnlichen Wahrnehmung und der sinnhaft repräsentierenden Vorstellung darbieten (also dem „äußeren" und „inneren" Auge bzw. Ohr, vornehmlich dem „äußeren Ohr" und dem „inneren Auge"). Demnach fällt dieser Aspekt, das Erscheinende am LKW, mit dem zusammen, was wir obenFormi und Form 2 genannt haben und was wir wegen des ihnen gemeinsamen sinnlich-sinnhaften Momentes nunmehr mit dem einen Terminus Forms bezeichnen können. Jene historischen Formen des literaturtheoretischen Formalismus, die das Korpus der vorliegenden Untersuchung bilden (russischer Formalismus [1915 bis ca. 1930], Prager Strukturalismus [1926 bis ca. 1945], amerikanischer „New Criticism" [ca. 1920 bis ca. 1955], sodann die jüngeren Tendenzen: die informationstheoretisch, semiotisch, linguistisch orientierten Literaturtheorien, der französische und sowjetische Strukturalismus), sind nun alle dadurch gekennzeichnet, daß sie das erscheinende LKW aus den Beziehungen erklären wollen, die zwischen seinen Teilen obwalten; mit anderen Worten: sie wollen Form! und Form 2 auf Form 3 oder (wenn wir Form 3 , Form als Beziehung, mit Form B markieren) Forms auf Forma zurückführen. Für historische Auskünfte über die erwähnten Richtungen wende man sich an die Monographien von Erlich, Ingold, Wellek (1972: 125-143), Halfmann, Schiwy, Piaget (1974b), Eimermacher, Holenstein.

Daß die obige Formel in bezug auf das wissenschaftliche Ziel der modernen formalistischen Literaturtheorie (Forms FormB) zu Recht besteht, kann auf dreierlei Art gezeigt werden. Zunächst rein formell, indem man ihre Vertreter selbst zu Worte kommen läßt. So

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Einleitung: Form und Formalismus

äußert sich etwa Viktor Sklovskij über die Grundvoraussetzung der russischen Formalisten folgendermaßen: „Ein literarisches Werk ist reine Form, . . . kein Material, sondern ein Verhältnis von Materialien. Und wie jedes Verhältnis ist es unabhängig von jeglicher Dimension. Deshalb ist die Dimension eines Werks, die Größe seines Zählers und seines Nenners, unwichtig; wichtig ist nur ihr Verhältnis zueinander" (1966:163). Auch für den Prager Strukturalismus war das Unbekannte, das aus dem Ganzen, seinen Teilen und seiner Funktion erschlossen werden sollte und somit das Ziel der Forschung war, nichts anderes als die Beziehungen zwischen den Teilen (Garvin: vii).

Zweitens kann die Praxis der Formalisten untersucht werden, wobei sich zeigt, daß sie sich in ihren Analysen konkreter Werke tatsächlich von dem erwähnten Ziel leiten lassen. So ist etwa für Vladimir Propps Arbeit über das russische Zaubermärchen kennzeichnend, daß er sich nicht damit begnügt, die untersuchten Märchen in immer wiederkehrende Grundelemente zu zerlegen (er findet dieses Konstante und Unveränderliche in den für den Gang der Handlung bedeutungsvollen Aktionen der handelnden Personen, in den sog. Funktionen, wie z. B. „zeitweilige Entfernung", „Verbot", „Verletzung des Verbots" usw.): er will darüber hinaus für die Reihenfolge dieser Handlungseinheiten, d. h. für ihre Beziehungen, eine feste Formel finden. (27, 31-33, 104. Zu Propps Arbeit im allgemeinen siehe Lévi-Strauss und Bremond, zum hier hervorgehobenen Aspekt Eimermacher: 137, 152.) Diese Unterscheidung zwischen der „Gesamtsumme der in einem Erzählwerk zur Darstellung kommenden Ereignisse" (der „Fabel") einerseits und der „Art und Weise, in der die Ereignisse miteinander verbunden werden" (d. h. der „Handlung") andererseits, sowie das letztliche Abzielen auf die Untersuchung der „Handlung", also des Relationalen, war nicht nur für Propp, sondern für die russischen Formalisten überhaupt charakteristisch (Erlich: 268). Ein zweiter Beleg aus der Praxis des Formalismus dürfte die Behandlung von Baudelaires Gedicht Les chats sein, wie sie von Roman Jakobson und Claude Lévi-Strauss durchgeführt wurde. Auch sie

Formalismus als Relationismus

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zerlegen das Gedicht zunächst, und zwar in Elemente, die verschiedene (phonologische, syntaktische, semantische, prosodische usw.) Ebenen bilden; sie tun aber dies nur, um innerhalb der Ebenen und nachher zwischen ihnen Parallelismen, sog. Äquivalenzsysteme, nachzuweisen (Jakobson & Lévi-Strauss: bes. 17 f.). Und wenn ihre Behandlung des Gedichts von Michael Riffaterre (1966) kritisiert wird, so ändert sich bloß die anfängliche Blickrichtung: statt vom „Ansich" des Gedichts, von seinem „objektiven" Bestand, von möglicherweise irrelevanten, unbemerkten Textelementen auszugehen, wie dies Jakobson und Lévi-Strauss tun, beschränkt sich Riffaterre auf das „Füruns", auf das Gedicht als Gegebenes, Erlebtes: statt Textdeskription treibt er Rezeptionsanalyse. Wenn somit Forms bei den beiden Behandlungen nicht ko-extensiv ist, so ist das Ziel dennoch das gleiche: auch Riffaterre geht Beziehungen nach, nur sind dies nicht nur Äquivalenzrelationen, sondern auch Kontraste, und sie bestehen nicht nur „objektiv", zwischen einzelnen Stellen im Gedicht, sondern auch zwischen bestimmten Stellen im Rezeptionsablauf (Posner: bes. 616, 629-632). Außer Zitaten und Praxis-Analyse gibt es noch eine dritte Möglichkeit, den Relationismus der modernen formalistischen Literaturtheorie (MFL) aufzuzeigen: indem man ihre Theorie des L K W analysiert. Dabei zeigt es sich nämlich, daß was auch immer als Wesensmerkmal des L K W herausgestellt wird, es ausnahmslos eine Relation ist. Dies im einzelnen zu zeigen, wird mit ein Ziel dieses Buches sein, geht es in ihm ja in erster Linie darum, formalistische Bestimmungsversuche des L K W (und näher des „Literarischen") zu untersuchen. Ich höre daher an diesem Punkt mit dem formellen „Beweisverfahren" auf und lasse im weiteren das Buch als Ganzes für meine Behauptung sprechen. Bevor ich indessen dieses einleitende Kapitel über Form und Formalismus zum Abschluß bringe, gilt es, noch dreier Probleme Erwähnung zu tun, die mit der Konzeption des L K W als Beziehungsgefüge zusammenhängen.

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Einleitung: Form und Formalismus

0.2.1. Der Ursprung des literaturtheoretischen Formalismus als Relationismus Das erste dieser Probleme betrifft den mutmaßlichen historischen Ursprung des Relationismus der MFL. Einer der historischen Gründe des modernen Formalismus selber (nicht nur in der Literatur-, sondern allgemein in der Kunsttheorie, in der Ästhetik, ja sogar in der Philosophie überhaupt - man denke an das von manchen Richtungen verfolgte Ideal der Formalisierbarkeit philosophischer Aussagen), einer dieser Gründe besteht in der Methodenkrise der Geisteswissenschaften, ja der Philosophie, oder anders: im Unbehagen eines naturwissenschaftlich orientierten Zeitalters am Fehlen strenger Wissenschaftlichkeit in diesen beiden Grundzweigen der Forschung. Der Formalismus scheint nun eine Methode zu sein, die aus dieser Krise herausführt, dieses Unbehagen verschwinden läßt, indem sie sich gerade bei der Behandlung geisteswissenschaftlicher und philosophischer Probleme strenger Wissenschaftlichkeit befleißigt. Daher der bei den Formalisten oft zu vernehmende polemische Ton gegen den Subjektivismus herkömmlichen Theoretisierens, daher das deutlich spürbare Selbstbewußtsein: Wir haben Neuland betreten. Für viele soll etwa Herbert W. Franke stehen, der hofft, nachgewiesen zu haben, daß „auch der Prozeß des Künstlerischen mit den Mitteln der Naturwissenschaft erklärbar ist" (1974: 200), oder Max Bense: „Wir haben . . . nicht nur eine moderne Kunst, sondern auch eine moderne Ästhetik und der Ausdruck ,modern' soll bedeuten, daß es sich um eine fachwissenschaftliche, nicht nur philosophisch fundierte Ästhetik handelt, daß sie ein methodisch zugängliches offenes Forschungsgebiet bezeichnet, darin rationale und empirische Verfahren der Untersuchung gegenüber spekulativen und metaphysischen Interpretationen vorgezogen werden." (1965a: 317. Zur obigen Problematik siehe auch Eimermacher: 127 f., zur programmatischen Wissenschaftlichkeit der russischen Formalisten Striedter: xii-xviii.) Was es mit diesem Anspruch der Formalisten auf Wissensdiaftlichkeit auf sich hat, wird in 5.2. noch ausführlich zu besprechen sein. Vorderhand genügt es, auf das Bestehen dieses Anspruchs aufmerk-

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sam zu machen. Denn vom Anspruch auf strenge Wissenschaftlichkeit zum Relationismus ist es in der geistigen Landschaft der Moderne nur noch ein Schritt, ist doch spätestens seit Auguste Comte die Wissenschaftstheorie der Ansicht, daß die Wissenschaft nicht nach Wesenheiten zu suchen habe, die den Erscheinungen angeblich innewohnen, also nicht nach der metaphysischen, prinzipiell nicht erfahrbaren „Natur" der Dinge, sondern nach den Beziehungen, die in und zwischen den Dingen obwalten. Diese sind nämlich nicht nur erfahrbar, sondern auch meßbar. Nach Ernst Mach etwa hat der Physiker nur die Aufgabe, „das ,Gegebene' zu beschreiben', d. h. die Beziehungen, die zwischen den ,positiven' Tatsachen bestehen, auf die einfachste Weise mathematisch auszudrücken" (Krampf: 42 f.). Laut Rudolf Carnap, einem der führenden Wissenschaftstheoretiker unserer Zeit, „ist das Ziel jeder wissenschaftlichen Theorie, ihrem Inhalt nach zu einer reinen Beziehungsbeschreibung zu werden . . . Denn die Wissenschaft will vom Objektiven sprechen; alles jedoch, was . . . zum Materialen gehört, alles, was konkret aufgewiesen wird, ist letzten Endes subjektiv." Zwar ist also der Einzelteil oder das Einzelding - im Gegensatz zur „Natur" der Dinge erfahrbar im Sinne der konkreten Aufweisbarkeit, auch sie bilden aber noch nicht den eigentlichen Gegenstand echter Wissenschaft, denn bloß Empfundenes kann nicht objektiviert, gemessen, formalisiert werden. Carnap zitiert anerkennend die Auffassung Poincares, wonach „allein die Beziehungen zwischen den Empfindungen einen objektiven Wert haben können" (Carnap: 12, 20 f.). Nicht nur die Naturwissenschaften, auch die moderne Mathematik denkt relationistisch: „Wenn . . . der Geometrie des Euklid . . . letzte, anschauliche Begriffe, wie Punkt, Gerade, Ebene und so fort, vorausgehen, und die A x i o m e anschauliche Beziehungen dieser letzten Elemente sind, so gehen in der neuen Axiomatik umgekehrt die Axiome den Grundbegriffen logisch voraus. Diese werden durch jene definiert. Danach ist zum Beispiel eine Gerade ein bestimmtes Etwas, von dem bestimmte Axiome ausgesagt werden. Die mathematischen Grundbegriffe sind somit allein durch ihre Beziehung, in der sie zu anderen Begriffen stehen, definiert" ( K r a m p f : 91).

Ich glaube, diese kurze Skizze beweist zur Genüge, daß der Relationismus der MFL nicht nur Folge einer intuitiven Entscheidung

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Einleitung: Form und Formalismus

gewesen sein kann, etwa über das, was am LKW wirksam und daher wichtig ist. Eine solche Entscheidung spielte zwar bei den russischen Formalisten anscheinend eine Rolle, als sie z. B. die „Handlung" gegenüber der „Fabel", also die Beziehung gegenüber dem Bezogenen, zumindest auch deswegen vorzogen, weil die Fabel, das Materiale, „niemals die ästhetische Wirksamkeit eines Romans oder einer Erzählung" erkläre (Erlich: 268). Sie dürfte aber etwa Jakobson und Lévi-Strauss in der Behandlung von Baudelaires Les chats kaum geleitet haben, befaßten sich doch diese — wenigstens nadi der uns bereits bekannten Meinung Riffaterres - auch mit Beziehungen, die nur zum „Ansich", nicht aber zum Füruns des Gedichts gehören, die also eben nicht wirksam sind. Scheidet aber eine solche intuitive Einsicht in das ästhetisch Wirksame als notwendiger Grund des formalistischen Relationismus aus, so scheint als Erklärung nur die soeben wiedergegebene wissenschaftstheoretische Ambiance übrigzubleiben: die MFL bekennt sich zum Relationismus und praktiziert ihn, weil dieser zum modernen Begriff der Wissenschaft gehört. 0.2.2. Formalismus und das Nicht-Formale Ein zweites Problem, das anläßlich dieser ersten, selber formalen, inhaltlich noch nicht erfüllten Charakterisierung der formalistischen Literaturauffassung (wonach das LKW wesentlich Beziehung ist) diskutiert werden muß, betrifft die Bedeutung, die von formalistischer Seite all dem beigemessen wird, was am LKW nicht Beziehung ist. Um das Wesentliche sogleich kurz vorwegzunehmen: ihrem N a men, gewissen tatsächlichen Tendenzen zur Verabsolutierung der Form sowie dem bisher Gesagten zum Trotz, wäre es irrig anzunehmen, daß die MFL als Ganzes alles Nicht-Formale als irrelevant abtue. Dodi muß diese Behauptung selber weiter verfeinert werden, und zwar je nach der Bedeutung dessen, was mit „nicht-formal" bezeichnet wird.

Formalismus als Relationismus

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0.2.2.1. Formalismus und das Bezogene Wenn „Form" Beziehung meint und das Nicht-Formale folglich das Bezogene, so besteht die obige Annahme nodi am ehesten zu Recht. Ob dieses Bezogene als Material bezeichnet wird (wie außer den russischen Formalisten etwa von Jan Mukarovsky, dem Hauptvertreter des Prager Strukturalismus, der unter diesem ,Material' im Falle der Literatur einerseits Bilder, Ideen und Gefühle, andererseits die Sprache versteht [Wellek 1972: 129]) oder als Gesamtbestand der Teile (seien diese „horizontale", wie die Einzelereignisse der „Fabel", oder „vertikale", wie die Schichten, von denen im Zusammenhang mit Les chats die Rede war) oder schließlich mit einem zusammenfassenden Wort als Inhalt: es wird von den Formalisten gewöhnlich aus der Forschung ausgeklammert, wenn nicht gar für „ästhetisch indifferent" erklärt (Wellek 1972: 128). Ich sage „gewöhnlich", denn aus dem Lager der Formalisten selber (wenn man diesen Begriff nur weit genug faßt und alle Relationisten zu den Formalisten zählt) ist an dieser Praxis der Ausklammerung bereits Kritik geübt worden, allerdings nicht zur Ehrenrettung eines nichtformalisierbaren Inhalts, sondern umgekehrt: im Namen eines „Hyperformalismus". Idi denke dabei vor allem an Lévi-Strauss' Besprechung von Propps Morphologie des Märchens. Propps Methode ist nämlich nicht nur in dem Sinne formal, daß er auf eine Feststellung und formalisierte Festhaltung der Relationen zwischen den einzelnen Handlungseinheiten abzielt, sondern auch in jenem, oben nicht deutlich genug herausgestellten Sinne, daß er aus den konkreten, in den Einzelmärchen vorkommenden Aktionen ihr Allgemeines, Konstantes herauszieht und erst diese abstrakten Handlungen Funktionen nennt. Damit entfernt er sich aber nicht nur vom Konkreten, welches Lévi-Strauss in bezug auf das Allgemeinere, die Form, „Inhalt" nennt, sondern ineins damit auch vom Bezogenen, denn streng genommen steht nicht etwa die abstrakte Funktion „Schädigung" in dieser oder jener Beziehung zu den anderen Funktionen, sondern ihre Konkretisierungen („Der Schädling entführt eine Person", „Er entführt oder raubt ein Zaubermittel" usw.) stehen in Beziehung zu den Konkretisierungen anderer Funktionen. Diese

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Einleitung: Form und Formalismus

konkreten Handlungen bilden das, was die russischen Formalisten „Fabel" nannten, und Propp behandelt sie - im Einklang mit dem, was oben über die respektive Bewertung von „Handlung" und „Fabel" gesagt wurde - ebensosehr bloß am Rande wie jene übrigen Teile des Inhalts (also der konkreten Oberfläche, des „Vokabulars" der untersuchten Märchen), die er nicht einmal zu Funktionen verallgemeinern kann (wie die Personen, ihre Attribute, ihre Motivierungen und die Formen ihrer Einbeziehung in den Gang der Handlung). Er vernachlässigt sie, weil er sie als „übriggebliebenes Material", als Willkürliches betrachtet, d. h. als etwas, was sich der Formalisierung (hier im Sinne der Abstrahierung und Relationierung) prinzipiell widersetzt. Dies wäre ein dritter Grund, neben der zufälligen Ausrichtung des Interesses auf das Formale und der subjektiven Entscheidung über das ästhetisch Wesentliche, weswegen der Inhalt vernachlässigt werden kann: wohl der achtenswerteste.

Lévi-Strauss ist nun aber gerade der Meinung, daß auch ein solches Stehenbleiben im Prozeß der Formalisierung willkürlich sei, d. h. nicht in der Sache, sondern in den Fähigkeiten und Entscheidungen des Forschers begründet, daß also eine genügend tief gehende Analyse auch hinter der scheinbar frei hervorgebrachten, gesetzlosen Vielfalt des Inhalts Konstantes zu entdecken vermöge (3, 11, 21-23, 2 5 , 2 7 , 29,35). In die gleiche Richtung stößt Piaget vor, wenn er von der „Beweglichkeit" der Grenzen spricht, die der Formalisierung gesetzt sind (1974b: 31), und wohl auch Susanne K . Langer, welche die Qualitäten in die Form „eingehen" läßt (52). 0.2.2.2. Formalismus und das Ausgedrückte Wir haben vorhin gesehen, daß Mukarovsky Ideen und Gefühle zum Material des L K W zählte - wohl zu Unrecht, denn beide sind geistiger Natur, und aus Geistigem läßt sich niemals Sinnliches zusammensetzen (was das L K W sicherlich auch ist). Vielmehr werden Ideen und Gefühle durch das Kunstwerk ausgedrückt, bilden also den Inhalt als Gegenstück zu unserer Formi (Form als Sinnlich-Sinnhaftes).

Formalismus als Relationismus

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Vgl. Bernstejn (343): „Wir betrachten das Kunstwerk als Ausdruckssystem sui generis - als äußeres Zeichen eines emotional-dynamischen Systems außersinnlicher Elemente, die auf ungegenständliche Emotionen zurückgehen." Hjelmslev gibt nur dem Ausgedrückten den N a m e n „Inhalt" (1968: 71-73; 1971: 44 et passim).

Wenn wir nun zur Betrachtung der Bedeutung übergehen, die von der MFL dieser Art von Inhalt beigemessen wird, so ist zunächst das unbestreitbare Faktum festzuhalten, daß sich die Formalisten mit psychologischen und weltanschaulichen Analysen gewöhnlich nicht abgeben. Dies einerseits wohl aus dem Grunde, weil Geistiges schwer oder möglicherweise überhaupt nicht zu einem Relationsgefüge verflüchtigt werden kann (es ist gerade die Frage, ob Susanne Langer recht hat, wenn sie meint, Qualitatives könne in Beziehungen aufgelöst werden), andererseits weil Gedankliches und Psychisches in einem sogleich zu erörternden Sinn außerliterarisch sein können. Gleichwohl wird die Bedeutung des also verstandenen Inhalts durchaus nicht generell negiert. Allerdings müssen wir auch hier weiternuancieren: das Gewicht des Inhalts ist verschieden, je nachdem, ob vom einmaligen Inhalt dieser einmaligen Form die Rede ist oder von dem, was der Literatur an Ideellem, Psychisch-Existentiellem oder Sozialem unabhängig von ihr vorausliegt und was durch die konkrete Form allenfalls partiell hindurchscheint, von ihr angedeutet, aber — wegen seiner größeren Allgemeinheit — nicht voll eingefangen wird. Eine vorgefaßte Idee, eine allgemeine Erscheinung des psychischen und möglicherweise des sozialen Lebens (welches letztere aber in echter Literatur vornehmlich durch Psychisches zur Darstellung gelangt): all dies ist außerliterarischer Inhalt, der samt seinem Ausdruck mit der „üblichen Metapher des vorwissenschaftlichen Denkens" gekennzeichnet werden kann: „Die Form ist ein Gefäß, in das eine Flüssigkeit — der Inhalt mit seinen schon vorhandenen, unveränderlichen Merkmalen - hineingegossen wird" (Zirmunskij: 143), wobei die Form durchaus variabel ist, sie bezieht sich ja bloß auf einen allgemeinen Inhalt, und etwas Bestimmungsarmes kann durch vielerlei verschiedenartig Bestimmtes ausgedrückt werden. Von dieser Auffassung des Inhalts sprachen die russischen Formalisten mit

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Einleitung: Form und Formalismus

großer Geringschätzung (siehe auch Ejchenbaum 1965: 19). Daraus folgt nicht unbedingt, daß sie die Existenz eines solcherart konzipierten Inhalts bestritten, sie sahen ihn aber nicht als den eigentlichen Inhalt des LKW an. Dieser war für sie immer konkret, hatte „innerhalb der Kunst schon keine von den allgemeinen Gesetzen der künstlerischen Struktur unabhängige, selbständige Existenz mehr" (2irmunskij: 143). Wenn diese Formulierung auch einseitig ist - denn offenkundig ist der konkrete (etwa psychische) Inhalt nicht nur „nach eigenen künstlerischen Gesetzen", sondern wohl auch „entsprechend den Gesetzen der empirischen Welt" (ebd.) gestaltet - , so ist sie immerhin ein Hinweis darauf, daß der konkrete Inhalt (obwohl selber nicht formaler Art, wenigstens in seiner Unmittelbarkeit nicht) von der erlebten Form, überhaupt vom rezipierten LKW untrennbar, daher - im Gegensatz zum allgemeinen Inhalt - der Literatur als Literatur keineswegs äußerlich ist. Manche Formalisten gehen in ihrer Einschätzung des Inhalts sogar über diese Position hinaus: für sie erhält die Formanalyse erst dadurch ihren Sinn, daß sie Zugang zum Inhalt verschafft, wobei hier das Außerliterarische zumindest nicht ausdrücklich vom ,Inhalt' ausgeschlossen wird. Die „New Critics", schreibt Cleanth Brooks, selber einer von ihnen, „interessieren sich für die Worte als Knotenpunkte der Bedeutung, und die literarische Form ist für sie nichts anderes als die Organisierung von Bedeutung" (zit. Halfmann: 9). Jurij M. Lotman, der Hauptvertreter des sowjetischen Strukturalismus, sieht einen der Hauptunterschiede zwischen seiner Forschungsrichtung und derjenigen der russischen Formalisten gerade darin, daß für diese die Untersuchung der formalen Ebene „die erschöpfende Analyse eines literarischen Werkes" bedeutete, für ihn und seine Schule dagegen „immer mit dem Interesse am Inhalt verbunden war" (1972a: 14). Er beruft sich dabei auf Lévi-Strauss, nach dem „die Formanalyse sofort die Frage nach dem Sinn" stelle (ebd. 13). Trotz oder gerade wegen ihrer Mittelhaftigkeit ist die Formanalyse für diese Forscher von hoher Bedeutung: nur durch die Erkenntnis der konkreten Form in ihrer Totalität ist die Erkenntnis des konkreten Inhalts in seiner Totalität möglich (worin dann auch der allgemeine Inhalt zur freien

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Verfügung steht). Wer die Notwendigkeit der Formanalyse als selbständiger Forschungsetappe leugnet, ähnele jenem Menschen, der den Inhalt eines Buches erfahren, aber die Sprache, in der es geschrieben ist, nicht verstehen will. „Wenn sich aber jemand schon entschlossen hat, eine Sprache zu erlernen, so wird er zwangsläufig zunächst vom Inhalt dieser oder jener Sätze absehen und erst einmal ihre Form untersuchen" (Lotman 1972b: 57 f.). Die Tatsache, daß die russischen Formalisten die Formanalyse als erschöpfend erachteten, zeigt deutlich, daß für sie diese Arbeit keiner Legitimation von einer abschließend-ergänzenden Inhaltserkenntnis her bedurfte: nach ihrer Auffassung lag die Bedeutung der Form nicht primär im Bedeuteten, sondern in ihr selbst. Eben weil sie „die Form zum Kern der Dichtkunst" erklärten (Trotzkij: 137), zu dem, wovon Literatur im wesentlichen handelt, wird auch ein zunächst überraschender Zug ihrer Terminologie verständlich: daß sie die Form gelegentlich „Inhalt" nannten (z. B. Ejchenbaum 1965: 20f., 43). „Inhalt" wird nämlich - durchaus traditionell - auch für das „Was", „die konstitutive Natur eines Gegenstandes" verwendet (Ingarden 1965: 28). Diese Betonung der „selbständigenBedeutung" der Form (Ejchenbaum 1965:17) - „Bedeutung" hier nicht im Sinne des Etwas-anderes-Bedeutens, sondern des Bedeutend-Seins - zeigt sich konkret darin, daß sie z. B. die Versform, vorab den Rhythmus, als die „Fülle der Verssprache" bezeichneten (ebd. 34, 38. Herv. A.H.), oder etwa darin, daß sie Sujet und Konstruktion ineins setzten, d. h. annahmen, daß die Konstruktion das eigentliche Sujet des Prosakunstwerks sei (ebd. 32, 34). 0.2.3. Formalismus und das Außerliterarische Es soll abschließend noch gesondert auf einen dritten Problemkreis hingewiesen werden, obwohl im Vorausgegangenen bereits mehrfach Inkursionen in ihn stattfanden: auf die Einstellung des Formalismus zum Verhältnis zwischen Literatur und literaturunabhängiger „Welt". Im Grunde muß hier Ähnliches geleistet werden wie vorhin in bezug auf die formalistische Haltung gegenüber dem Nicht-For-

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malen: es gilt, ein verabsolutierendes Vorurteil zu zerstören, indem man Tendenzen aufweist, die ihm widersprechen und es dadurch relativieren, ohne damit die grosso-modo Gültigkeit des ursprünglich Behaupteten in Frage zu stellen. Das Vorurteil lautet: die formalistische Literaturwissenschaft verharrt in der Immanenz, sie geht in ihren Untersuchungen nicht über das (einzelne) LKW hinaus. Dieses „Innerhalb-Bleiben" ist übrigens - wenigstens als vorübergehendes Stadium der Forschung - wissenschaftstheoretisch vollauf legitim: es folgt aus dem sog. Prinzip der Pertinenz, wonach der Wissenschaftler die angesammelten Tatsachen nur aus einem einzigen, vom betreffenden Wissenschaftszweig gewählten Gesichtspunkt zu beschreiben und folglich nur diejenigen Züge zu beachten habe, die von diesem Gesichtspunkt aus wichtig, die also „pertinent", zur betreffenden Wissenschaft gehörend sind. Die Existenz anderer Züge und/oder die Legitimität anderer Gesichtspunkte wird damit überhaupt nicht geleugnet, nur sind diese in einem anderen Wissenschaftszweig pertinent. Wenn also etwa das LKW als LKW erforscht werden soll, so ist es für einen Theoretiker der Literatur rechtens, seinen Forschungsgegenstand „von innen her" zu betrachten (Barthes 1964a: 132 f.).

Es steht nun ohne Zweifel fest, daß gerade darin das Novum der formalistischen Literaturbetrachtung bestanden hat und immer noch besteht, daß sie nach und neben den verschiedenen „extrinsic approaches" (Wellek & Warren: 63—138) erfrisdienderweise das Eigentliche am LKW erforschen will: das, was die Literatur zur Literatur macht, worin der eigentliche Grund ihrer Entstehung und ihres hartnäckigen Fortbestehens liegt und was sowohl dem Lesen als auch dem wissenschaftlichen Umgang mit Literatur letztlich einen Sinn verleiht. Dieses Spezifische, von nichts anderem Dargebotene ist nun - da Literatur wesentlich Kunst ist - offenkundig das Künstlerische, näher „Wortkünstlerische" am LKW: das, was an ihm - auf eine ihm eigene Art - ästhetisch wirksam ist. Ob dies in der Tat mit der Form zusammenfällt, ist eine weitere Frage; Tatsache ist, daß die Formalisten nicht müde werden, diesem Spezifischen nachzugehen. Dies bedeutet zugleich eine Abwendung von zwei Fragenkomplexen: von derjenigen der Genese (psychologisch-biographischer, kultureller oder soziologischer Art) und der moralischen, politischen oder sonstigen außerliterarischen Wirkung. Es sollen hier nur einige charakteristische Äußerungen als Belege genügen. Aus dem Kreis der russi-

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sehen Formalisten: „Uns zeichnet . . . einzig das Bestreben aus, auf der Grundlage von spezifischen Eigenschaften des literarischen Materials eine selbständige Wissenschaft von der Literatur zu entwikkeln" (Ejchenbaum 1965: 9). Aus dem Kreis des Prager Strukturalismus: „Die immanente Charakterisierung der Entwicklung der poetischen Sprache wird in der Literaturgeschichte oft durch ein Surrogat ersetzt, das sich auf die soziologische oder psychologische Ideengeschichte bezieht, das heißt, durch einen Rückgriff auf Tatbestände, die gegenüber dem untersuchten Faktum heterogen sind. Anstelle der Mystik kausaler Beziehungen zwischen heterogenen Systemen muß die poetische Sprache an sich erforscht werden" (Jakobson & Mukarovsky: 35). Aus den Reihen der „New Critics": „Die Tendenz des ,New Criticism' geht danach, die Aufmerksamkeit wieder auf den Text des Werkes selbst zu lenken: das heißt, das sprachliche Kunstwerk (poem) als sprachliches Kunstwerk zu betrachten, nicht als Anhängsel zur Biographie des Dichters oder als Spiegel seiner Belesenheit oder als Illustration zur Geistesgeschichte" (Brooks, zit. Halfmann: 8). Schließlich eine jüngere Stimme, die eines französischen (oder vielmehr: französisch schreibenden) Strukturalisten: „Die strukturale Poetik . . . befaßt sich . . . mit der abstrakten Eigenschaft, welche die Eigentümlichkeit des literarischen Faktums ausmacht." (Todorov 1973: 108. Näheres zu diesem Punkt siehe bei Erlich: 119, 190, 192, 234; Neumann: 100; Halfmann: 24, 27, 40; Schramm: 367.) Daß indessen Formalismus nicht notwendig bedeutet, daß der Forscher dem Ausspruch Sklovskijs zustimmen muß, wonach „Die K u n s t . . . immer vom Leben frei gewesen" ist (zit. Neumann: 100), dies wird gebührend klar werden, wenn in 4.3.4.2. Lotmans Theorie der Modellhaftigkeit der Literatur behandelt wird. Aber bereits bei den russischen Formalisten konnte man von „Wechselwirkungen, Abhängigkeiten oder Bedingtheiten" lesen, die „zwischen den Fakten der literarischen Reihe und den Fakten, die außerhalb ihrer liegen", bestehen (Ejchenbaum 1929: 475). Auch Mukarovsky verließ im Laufe der Zeit seinen ursprünglichen Immanenz-Standpunkt, als er nämlidi zur Auffassung gelangte, daß Literatur und Welt

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durdi das formale Prinzip der Struktur verbunden seien: „In der Geschichte und Theorie von Literatur und Kunst muß nicht nur der künstlerische Aufbau und seine Entwicklung, sondern auch die Beziehung dieser Struktur zu anderen Erscheinungen, besonders zu psychologischen und gesellschaftlichen, als Struktur begriffen werden" (1967: 12). Unter den Jüngeren bestreitet auch Eco, einer der führenden semiotisch orientierten Literaturtheoretiker unserer Zeit, daß „eine .formale' Betrachtung des Kunstwerks bedeute, einen ,Formalismus' ästhetisierenden Typs zu akzeptieren; im Gegenteil: sie stellt die richtige Art und Weise dar, die Beziehungen aufzuhellen, die zwischen dem Werk und der geschichtlichen Welt bestehen" (1972c: 292 f.). Doch es bleibt trotz diesen gegenläufigen Tendenzen ein allgemeines Merkmal des Formalismus, daß für ihn „Gegenstand der Literaturwissenschaft nicht die Literatur [ist], sondern die Literarizität" (Jakobson 1921: 31), oder - um es mit einem weniger abenteuerlichen Wort auszudrücken - das Literarische. Diese echt wissenschaftliche Konzentrierung seitens des Formalismus auf das Spezifische seines Forschungsgegenstandes macht ihn literaturtheoretisch besonders interessant, kann man doch hoffen, durch eine Auseinandersetzung mit seiner Theorie des Literarischen der Beantwortung der (allgemeineren) Grundfrage jeglicher echten Literaturtheorie näher zu kommen, der Frage nämlich, was Literatur sei, oder genauer: worin das Wesen des LKW bestehe. Zu diesem Wesen gehört nicht nur das Spezifische des LKW, sondern auch das Allgemeinere des Kunstwerk-Seins und das noch Allgemeinere des ÄsthetischSeins (in diesem Sinne müssen in einer richtig verstandenen Literaturtheorie allgemeine Kunsttheorie und Ästhetik aufgehoben sein), daher wurde auch die soeben erwähnte Grundfrage der Literaturtheorie „allgemeiner" genannt. Gleichwohl: das Spezifische ist ein notwendiges Moment des Wesens, folglich führt jede Literaturtheorie ihren Namen zu Unrecht, wenn sie keine Theorie des Literarischen enthält.

Vorblick

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0.3. Vorblick Die im vorliegenden Buch in Angriff genommene metatheoretische Arbeit an der MFL wird wesentlich erleichtert durch die Reflektiertheit der Formalisten: es gibt bei ihnen nicht nur eine in die literaturanalytische Praxis eingesenkte Literaturtheorie, sondern auch eine explizite. Die einzelnen Theorien können daher anhand theoretischer Äußerungen diskutiert werden. Doch: Theorien worüber? — Nun, entgegen dem vorhin Gesagten und dem, was der Titel dieser Arbeit verspricht, nicht nur über das Literarische. Die werkimmanenten Beziehungen nämlich, auf welche die Formalisten das sinnlich-sinnhaft erlebte sprachliche Kunstwerk zu reduzieren trachten, sind nicht nur spezifischer, sondern auch allgemeiner Art: im letzteren Fall charakterisieren sie nicht nur das LKW, sondern stellen es vielmehr in umgreifende Begriffszusammenhänge. Daß im Laufe der Untersuchung auch die Theorien bezüglich dieser allgemeineren Beziehungen zur Sprache kommen, ja den eigentlichen Rahmen für die Behandlung des Literarischen bilden, hat mehr als einen Grund. Zunächst einen rein formell-didaktischen: ohne diese Ausführungen bliebe in den Abschnitten, welche dem Literarischen gewidmet sind, manches unverständlich. Zweitens sind auch diese Theorien formalistisch: sie untersuchen Beziehungen, wenn auch allgemeiner Natur. Drittens begnügen sich die Formalisten eben nicht damit, das LKW als Durchgangspunkt allgemeiner Beziehungslinien aufzuweisen, sondern sind bestrebt, die spezifischen Modifikationen nachzuzeichnen, denen diese Linien beim Durchgang durch das LKW unterworfen sind. Gerade diese Spezifikationen geben für sie die wesentlichen Aspekte des Literarischen her, daher die Einbettung der (übrigens zur Hervorhebung kursiv betitelten) Abschnitte über das Literarische in die allgemeiner gehaltenen Hauptkapitel des Buches. Im 4. Kapitel wird sich allerdings zeigen, daß diese Einordnung mitunter nur relative Gültigkeit besitzt: Abweichung z. B. wird zwar von den Formalisten primär linguistisch gefaßt (daher ist ihre Be-

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handlung im Kapitel über „ D a s L K W als Sprachliches" untergebracht), sie wird von ihnen aber auch verallgemeinert: sie soll in einem weiteren, Literaturhistorisches und Psychologisches beinhaltenden Sinne für die Literatur spezifisch sein. Schließlich wird das L K W durch diese allgemeinen Beziehungslinien (zwar nicht nur, aber doch auch) mit der Kunst überhaupt verbunden, wodurch klar wird, daß die M F L (wenigstens zum Teil) auch jener obigen Forderung genügt, nach der eine echte Literaturtheorie auch das Wesentliche einer allgemeinen Kunsttheorie in sich fassen müsse.

1. Das LKW als Nachricht 1.1. Analogien zwischen L K W und Nachricht Nach Franke ist der „eigentliche Schlüssel für die neueren kunstwissenschaftlichen Untersuchungen . . . die Analogie des Kunstwerks mit einer Nachricht. Alles, was über die wahrnehmbaren Kennzeichen eines Kunstwerks gesagt [werden kann], gilt auch für die Nachricht. Auch sie bedarf eines Trägers, einer physikalischen Struktur, und auch bei ihr kommt es weniger auf deren spezielle Art an als auf darin festgelegte formale Beziehungen" (1974: 26). Auf das L K W bezogen bedeutet dies erstens, daß - genauso wie die Übermittlung der Nachricht „Ich stehe vor der Tür" unmöglich ist ohne eine Klingelvorrichtung (oder ein Pochen an die Tür oder einen nicht weniger materiellen — Ruf) — auch das L K W eines materialen Trägers bedarf, genauer: einer „ausgedehnten Mannigfaltigkeit diskreter Elemente materialer Beschaffenheit" (Bense 1965: 319). Da diese „Materialitätsthese" wortwörtlich zu nehmen ist (die künstlerischen Träger seien „keineswegs nur gedacht bzw. vorgestellt" [Bense 1969: 9]), können mit diesem Träger im Falle des L K W nur die Schriftzeichen und/oder die Sprechlaute des Rezitators oder Lesers gemeint sein, im ersteren Fall ergänzt durch den sog. „Besetzungsbereich", also etwa das Blatt Papier, über dessen besetzbare Stellen die Schriftzeichen als „physikalische Größen" verteilt sind (Franke 1974: 42). Wellek und Warren weisen auf das Problematische an dieser Materialitätsthese hin, sofern sie auf die Literatur angewandt wird: Das L K W scheint unabhängig von seiner materiellen Realisation zu existieren: wenn jede gedruckte oder geschriebene Kopie eines L K W vernichtet würde, wäre es nicht im gleichen Sinne und Maße inexistent wie ein vernichtetes Gemälde, eine zerschlagene Statue, ein abgerissenes Gebäude: es könnte im Gedächtnis einzelner Menschen weiter existieren und sich jederzeit wieder „materialisieren"; die mündliche

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Wiedergabe, die akustische Realisation wiederum ist zugleich mehr und weniger als das LKW selber: sie stellt immer eine individuelle Modifikation und Selektion dar (141-145).

Der zweite Punkt der Analogie besteht darin, daß es bei der Übermittlung weniger auf die Art des materiellen Trägers als auf die Beziehungen zwischen seinen Elementen ankommt. Genauso wie beim Klingeln nicht die Tonqualität der Vorrichtung den Ausschlag gibt, sondern die Tatsache, daß Nicht-Klingeln überhaupt durch Klingeln „abgelöst" wurde (gewissermaßen also das „negative Element" durch das positive), näher (bei „persönlichem" Klingeln) die Länge, Stärke, Kadenz des übermittelten Tons, genauso spielt die Buchstabentype und die typographische Anordnung eine untergeordnete Rolle, verglichen mit den eminent wichtigen Beziehungen zwischen den Schriftzeichen und den daraus gebildeten Worten. Diese von Materiellem getragene Nachricht (Botschaft, Mitteilung, Meldung, message) ist naturgemäß eingespannt zwischen einen Sender und einen Empfänger. (Untersucht man das Phänomen „Nachricht", ohne zwischen maschinellen und menschlichen Sendern bzw. Empfängern zu unterscheiden, so treibt man Informationstheorie; konzentriert man sich auf Probleme der Nachrichtenübertragung zwischen Menschen, so verengt sich die Informationstheorie zur Kommunikationstheorie [Eco 1972a: 117].) Das Kommunikationsschema (Cube: 32) enthält aber außer Sender, Nachricht und Empfänger auch je ein Repertoire, einen Zeichenvorrat, d. h. je eine Menge von Elementen, die dem Sender bzw. dem Empfänger zur Verfügung stehen und die zumindest eine gemeinsame Untermenge, einen „Durchschnitt" enthalten müssen, damit überhaupt kommuniziert werden kann. Anders herum: „Die Botschaft besteht aus einer Reihe von Elementen, die schon im Repertoire des Senders und im Repertoire des Empfängers gespeichert waren. Der Sender wählt die Elemente nach bestimmten Regeln, die man ,Code' nennt. Der Empfänger erkennt die Elemente der Botschaft als zu seinem Repertoire gehörig. Er organisiert ihre Folge zu einer Gestalt. Das ist Wahrnehmung" (Moles 1968:19f.). Die Analogie zwischen Nachricht und Kunstwerk ist in dieser

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Beziehung offenkundig: Autor und Rezipient sind Sender bzw. Empfänger einer Botschaft, die LKW heißt, und beide müssen über ein gemeinsames Repertoire und einen gemeinsamen Code verfügen, nicht nur in bezug auf die jeweilige Natursprache, in der das LKW verfaßt ist, sondern auch in bezug auf die „Sprache" der Kunst: der Leser muß etwa die literarischen Konventionen kennen, vor allem den Als-ob-Charakter der Literatur (geschichtliche Wahrheit wird bloß vorgetäuscht, Bilder sind nicht wörtlich zu nehmen usw.). Die Analogie zwischen Kunstwerk und Nachricht geht aber noch weiter: sie erstreckt sich auch auf die Formulierung. Beide können nämlich „inhaltsreich sein oder banal, konzentriert oder weitschweifig, ungestört oder gestört" (Franke 1974: 26). Mit „inhaltsreich" und „banal" werden zwei Grundbegriffe der Informationstheorie angesprochen: die der Information und der Redundanz. „Information" in diesem technischen Sinne ist also nicht der Inhalt, die „sachhaltige Bedeutung" oder die „Zufuhr an Wissen" (Cube: 29), sondern das Maß für den IvihsXtsreichtum (Franke 1974: 75), „die Quantität an Neuem, Unvorhersehbarem" (Moles 1968: 20). Auch das Erwartete, jeder Überraschung Bare hat eine Bedeutung, übermittelt Information im umgangssprachlichen Sinn, es ist jedoch technisch gesprochen - nicht informativ. Demgegenüber bedeutet Redundanz „Weitschweifigkeit" (Cube: 154), Banalität: sie ist das relative (und notwendige!) „Übermaß an Zeichen" (Moles 1968: 21; Cube: 154 f.). Es ist nun einleuchtend, daß Kunstwerke sowohl als ihre Elemente - nach der Art gewöhnlicher Nachrichten — in verschiedenem Maße „informativ" sind, in verschiedenem Grade Neues, Unerwartetes bieten, selbstverständlich nicht nur im Sinne etwa einer überraschenden Wendung in der Handlung, sondern auch im Sinne überraschender Worte und künstlerischer Verfahren. Eben weil Informativität in diesem Verstand um so größer ist, je mehr an Neuem dargeboten wird, verwendet man statt „informativ" oft auch das Wort „innovativ". „Neu", „unerwartet", „überraschend" - all diese Begriffe scheinen relativ zu sein, und zwar relativ auf das jeweilige wahrneh-

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Das LKW als Nachricht

mende Subjekt: was für midi neu, informativ ist, kann für jemand anderen banal sein. Wenn ich des Deutschen unkundig bin, ist es für mich z. B. innovativ, daß in dieser Sprache nach der Buchstabenkombination SC der Buchstabe H folgt, oder genauer: nach SC ist das H selbst überraschend, innovativ. Sobald ich aber merke, daß auf SC immer H folgt, das heißt: folgen muß, wird es mich nicht mehr überraschen, es trägt zur Gesamtinformation von SCH nichts mehr bei, es ist für mich redundant geworden. Es gibt also ohne Zweifel einen subjektiven Begriff der Information (siehe z. B. Franke 1974: 91-94; Cube: 51-61): das Gleiche kann je nach Empfänger in verschiedenem Grade informativ sein. Doch das, was man hier im Zusammenhang mit dem SCH entdeckt hat, ist in der deutschen Sprache selber begründet: in bezug auf sie ist es sicher, daß auf SC der Buchstabe H folgen wird, die Redundanz des H ist also in diesem konkreten Fall objektiv, durch eine Gesetzmäßigkeit des Deutschen bedingt. Freilich ist Informativität bzw. ihr Fehlen auch hier subjektiv in dem Sinne, daß es nur in bezug auf den Menschen (als solchen) einen Sinn hat, davon zu reden, daß etwas neu, informativ usw. ist. (Genauso wie etwa die Farbqualität Grün nur für das wahrnehmende Bewußtsein, nicht aber an sich existiert.) Trotzdem kann man hier insofern von objektiver Information reden, als diese einerseits - wie wir gesehen haben — in einer objektiven Gesetzmäßigkeit ihre Grundlage hat und andererseits für jeden, der diese Gesetzmäßigkeit kennt, gleich groß ist (wie auch das Grün eines bestimmten Gegenstandes - gesunde Augen vorausgesetzt - mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für jeden die gleiche Qualität besitzt). Wenn nun im folgenden von Information die Rede ist, wird sie immer in diesem objektiven Sinne gemeint sein. Doch was heißt in diesem Zusammenhang „Gesetzmäßigkeit?" Was wird eigentlich vom orthographischen System des Deutschen dem Buchstaben H in bezug auf SC vorgeschrieben? — Vorgeschrieben wird - wie wir sahen - , daß es auf SC folgen muß, im Grunde also dies, daß die Wahrscheinlichkeit des H in dieser Position maximal (gleich 1) ist: sein Vorkommen ist absolut vorhersehbar. Das bedeutet aber zugleich, daß in dieser Position auch seine Häufigkeit

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maximal ist. Aus all dem ergibt sich, daß Redundanz eine Funktion der Vorkommenswahrscheinlichkeit, der Häufigkeit, der Vorhersehbarkeit ist, Information dagegen eine solche der Unwahrscheinlichkeit, der Seltenheit, der Unvorhersehbarkeit. Dieses Ergebnis stimmt mit der engeren umgangssprachlichen Bedeutung von Information überein: „Häufige Ereignisse bieten uns ,nichts Neues', überraschende und damit seltene Ereignisse hingegen sind besonders informativ" (Cube: 142). Je geringer nun die Häufigkeit ist, mit der die verschiedenartigen Elemente innerhalb der Nachricht auftreten, aus um so mehr Element-Arten muß diese offenkundig bestehen, um so zusammengesetzter, komplexer wird sie also sein. (Moles 1971: 52 f. Komplexität ist letztlich nichts anderes als der vorhin schon eingeführte ,Inhaltsreichtum'. Vgl. Franke 1974: 75). Von den zwei „Botschaften" ABAB und ABCD ist die Häufigkeit der Elemente bei der ersten größer, dadurch aber auch der Grad der Zusammengesetztheit, der Komplexität auch geringer als bei der zweiten. Die geringere Häufigkeit der Elemente bei ABCD bedeutet aber auch, daß das Auftreten der Einzelelemente überraschender, informativer ist als bei ABAB: die Wahrscheinlichkeit und damit Vorhersehbarkeit dessen, daß z. B. nach dem A an zweiter Stelle B steht, ist — bei vorheriger Kenntnis der jeweiligen Häufigkeit — in ABCD geringer (V3) als in ABAB, wo sie V2 beträgt. Uber das Mittelglied „Häufigkeit" wird also verständlich, daß Information nicht nur als Maß der Unvorhersehbarkeit, sondern auch als Maß der Komplexität definiert wird. (Moles 1971: 259; Franke 1974: 61. Auf welche Weise man Unvorhersehbarkeit, Komplexität und damit Information messen kann, bleibe hier ausgespart. Interessierte seien etwa auf Cube verwiesen.) Diese Überlegungen lassen sich nun wiederum unschwer auf das LKW übertragen: je heterogener die Elemente, z. B. die verwendeten Worte, eines LKW sind, um so riskanter wäre es, eine Wette über das jeweils folgende Wort einzugehen. Shakespeare ist „informativer" als Hemingway.

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Das L K W als Nachricht

1.1.1. »Ordnung' und,Unordnung' Überraschenderweise wird nun Unvorhersehbarkeit in technischer Sprache oft mit Ordnung gleichgesetzt. Die Beziehung stammt aus der Physik und bezieht sich auf folgenden Tatbestand. Zwei kommunizierende Röhren seien durch einen Schieber getrennt und auf jeder Seite mit einem anderen Gas gefüllt. Wird der Schieber geöffnet, vermischen sich die beiden Gase von selbst, bis das Gleichgewicht völliger Durchmischung hergestellt ist (Pfeiffer: 180). Durchmischung bedeutet, daß die Moleküle beider Gase gleich verteilt, gleich „häufig" sind, daß es also gleich wahrscheinlich ist, ob an einer bestimmten Stelle sich ein Molekül des einen oder des anderen Gases befindet. Sich gleich zu verteilen scheint nun eine allgemeine Tendenz natürlicher Elemente zu sein (Eco 1972a: 92f.; Schulte: 230): Gleichverteilung ist also — von der Eigentendenz der natürlichen Elemente her gesehen - gerade das Wahrscheinliche und daher Voraussehbare. Diese Gleichverteilung, Gleichwahrscheinlichkeit, die ihrerseits wahrscheinlich, vorhersehbar ist, heißt nun in der Sprache der Physik „Unordnung", und zwar — wie es scheint — deswegen, weil in diesem Fall — gerade wegen der Gleichwahrscheinlichkeit nicht vorauszusagen ist, ob in einer bestimmten Position das eine oder das andere Element anzutreffen sein wird. Obwohl also Unordnung als solche - in Kenntnis der natürlichen Tendenz der Elemente - vorhersehbar ist, bedeutet sie — in bezug auf die Position derselben Elemente - Unvorhersehbarkeit. Doch das Ausschlaggebende für die physikalische Terminologie besteht darin, daß dieser ungeordnete Zustand vorhersehbar ist; daher die Ineinssetzung von Unordnung und Vorhersehbarem (wenn auch nicht von Unordnung und Vorhersehbar&e/i). Das Maß für diese wahrsdieinlidie Gleichverteilung, d. h. für die Unordnung, heißt „Entropie". Physikalische Prozesse weisen eine Tendenz zur maximalen Entropie auf, d. h. eigentlich: zur maximalen Vermischung. (Siehe dazu Bense 1965: 152 f.; H a a r d t : 26; Pfeiffer: 1 8 0 f . ; Sdiulte: 230 f.)

Das Gegenteil läßt sich am besten mit dem Anfangsstadium im oben erwähnten Experiment illustrieren. Solange die beiden Gase

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voneinander getrennt sind, sind sie entmischt, ungleich verteilt, und somit ist auch die Wahrscheinlichkeit, die eine oder die andere Art von Molekül in einer bestimmten Position anzutreffen, ungleich. Dies bedeutet nun zugleich auch Unvorhersehbarkeit, und zwar nicht bloß in einer Beziehung, wie bei der Unordnung, sondern in zwei Beziehungen. Einerseits ist rein von der natürlichen Tendenz der Elemente her gesehen die konkrete Ungleichverteilung, d. h. eigentlich: die Position der einen und der anderen Art von Gasmolekül, nicht vorauszusagen. Wenn ich nämlich um die Ungleichwahrscheinlichkeit nur in abstracto weiß, d. h. nur weiß, daß es sie gibt, nicht aber, wie sie genau beschaffen ist (wo etwa der beide Gase trennende Schieber placiert ist), so werde ich nicht voraussehen können, welche Art von Molekül diese oder jene Stelle einnimmt (weil ich laut Voraussetzung nicht weiß, ob sich eine bestimmte Stelle links oder rechts vom Schieber befindet). Das Unterscheidende der ,Unordnung' gegenüber besteht hier indessen darin, daß bei diesem Zustand nicht nur die Position der Elemente, sondern auch der Zustand selber unvorhersehbar (also die Unvorhersehbarkeit selber unvorhersehbar) ist: da die Natur zur Unordnung, Gleichverteilung tendiert, ist die Ungleichverteilung „unnatürlich", unwahrscheinlich und daher unvorhersehbar: vom natürlichen Zustand ausgehend kann ich nicht wissen, ob dieses Unwahrscheinliche (etwa wegen eines ordnenden menschlichen Eingriffs) eintreten wird. Daher immer die Überraschung, wenn Natürliches (sekundär) geformt erscheint (wenn man z. B. in einem Rokoko-Schloß eine Allee mit „flachem Dach" antrifft), bzw. die Gewißheit, daß dies nicht „zufällig" entstanden, sondern nur durch menschlichen Eingriff ermöglicht worden ist. Man beachte übrigens, daß Unvorhersehbarkeit durch dreierlei hervorgerufen werden kann: durch Gleichwahrscheinlichkeit; durch Ungleichwahrsdieinlichkeit, die man in concreto nicht kennt, die also subjektiv Gleichwahrscheinlichkeit ist, und durch Unwahrscheinlichkeit.

Diese Ungleichverteilung, die also sowohl als solche wie auch in ihrer Konkretion unvorhersehbar und somit informativ ist, heißt nun „Ordnung". Ordnung ist demnach (als solche) Unvorhersehbares und bedeutet (hinsichtlich der Position ihrer Elemente) Unvorhersehbarkeit.

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Das L K W als Nachricht

Das Maß für diese physikalisch unwahrscheinliche Ungleichverteilung, d. h. für die Ordnung, nennt Bense „negative Entropie" oder „Neg-Entropie". Nach ihm kann man von einem „ästhetischen Weltprozeß" reden (wohl als Ensemble der ordnenden menschlichen Setzungen oder Eingriffe), der - im Gegensatz zum physikalischen - zur maximalen Neg-Entropie oder Entmischung tendiert. (Siehe dazu Bense: ebd.; H a a r d t : ebd.; Pfeiffer: 180 ff.; Schulte: 228 f. Zum physikalischen Begriffspaar Ordnung/Unordnung im allgemeinen siehe auch E c o 1972a: 9 2 - 1 0 3 , 1 1 7 - 1 2 2 ; Cube: 1 4 6 - 1 5 1 . )

All dies würde nun bedeuten, daß Information, da sie eine Funktion der Unvorhersehbarkeit ist, zugleidi auch vom Grad der jeweils realisierten Ordnung abhängt: je größer die Ordnung, die etwa unter den Elementen einer Nachricht herrscht, um so größer die Informativität. Dieser Schluß scheint aber unserer landläufigen Auffassung und Terminologie direkt zuwiderzulaufen. Wir sprechen ja von Ordnung, gerade wenn wir voraussehen können, was geschehen wird: wir sagen etwa, der Straßenverkehr verlaufe geordnet, wenn alle Fahrzeuge bei Rot anhalten usw., d. h. wenn wir eben nicht überrascht sind durch das, was geschieht, und zwar gerade weil das Geschehende (das Besondere oder Konkrete) von einer Regel, von einem Gesetz (vom Allgemeinen) durchdrungen ist. Es scheint also zwei Ordnung-Begriffe zu geben: einerseits Ordnung als Unvorhersehbares und Unvorhersehbarkeit (technischer Begriff), andererseits Ordnung als Vorhersehbarkeit (traditioneller Begriff), wobei beides Ungleichverteilung meint. Am entgegengesetzten Pol sodann der technische Begriff der Unordnung (als Gleichverteilung und daher Vorhersehbares) und der traditionelle: Unvorhersehbarkeit als solche, ohne Rücksicht auf Gleich- oder Ungleichverteilung. (Letzterer wird wohl die technische Bezeichnung „Unordnung" bedingt haben.)

Das Verwirrende dabei ist, daß auch in der einschlägigen Literatur ein Schwanken zwischen diesen beiden Ordnung-Begriffen zu beobachten ist (z. B. bei Eco 1972a: 103, 106, 119; auch bei Bense, wozu siehe Pfeiffer: 182). Ist das nun bloß ein Problem der Terminologie, das durch einen willkürlich-unverbindlichen Entscheid einfach zu lösen wäre (indem man etwa den traditionellen OrdnungBegriff akzeptiert und die Unvorhersehbarkeit - dem technischen Wortgebrauch zum Trotz - konsequent Unordnung nennt, oder auch umgekehrt) oder haben etwa beide, sowohl der traditionelle als auch der technische Ordnung-Begriff, ihre relative Berechtigung?

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Daß in der Tat letzteres der Fall ist, möge anhand von Sprache und Dichtung dargetan werden, wodurch auch das bisher in großer Allgemeinheit Auseinandergelegte seine (wohl fällige) literaturtheoretische Konkretisierung erfahren wird. Die Gesamtheit der Laute einer Natursprache, z. B. des Deutschen, die Buchstaben des deutschen Alphabets, die Wörter, die in einem Lexikon der deutschen Sprache enthalten sind, sind gleichsam im natürlichen Zustand: in sich sind sie gleichwahrscheinlich, gleichmäßig verteilt: wenn wir sie nicht alphabetisch ordnen, was wir außer aus praktischen Überlegungen heraus - durchaus nicht tun müssen, ist das Vorkommen des H an einer bestimmten Stelle des Budistabenrepertoires genausowenig vorauszusehen wie das des K oder irgendeines anderen Buchstabens. Mit anderen Worten: in diesen Repertoires, in diesem fiktiven Urzustand der Sprache, in dem es einstweilen nur Elemente gibt, die Sprache selber aber (im eigentlichen Sinne des Wortes) noch nicht existiert, herrsdit Unordnung. Sobald die deutsche Sprache entsteht (um in der Fiktion fortzufahren), ist mit ihr auch Ordnung entstanden: jetzt ist es plötzlich alles andere als gleichwahrscheinlich, ob z. B. auf SC ein H folgt oder ein K. Das heißt: Ungleichverteilung, Ungleichwahrscheinlichkeit ist da. Diese Ordnung, diese bestimmte, konkrete Ungleichwahrscheinlichkeit (etwa die Wahrscheinlichkeit 1 für H nach SC und die Wahrscheinlichkeit 0 für alle anderen Buchstaben) ist von den Elementen (von H und den anderen Buchstaben) her betrachtet unvorhersehbar, daher innovativ. (Vgl. Eco: „Die Sprache stellt ein unwahrscheinliches Ereignis dar." 1972a: 96). Sobald aber die konkrete Ungleichwahrscheinlichkeit, die Prinzipien dieser bestimmten Ordnung erkannt sind, sobald ich weiß, daß in der deutschen Orthographie die Gesetzmäßigkeit herrscht, wonach auf SC der Buchstabe H folgen muß, ist das Auftaudien dieses H im konkreten Fall das zu Erwartende, Wahrscheinliche, Vorhersehbare, Redundante. Kurz: die Ungleichverteilung der Elemente etwa eines konkreten Wortes, eines Satzes oder überhaupt einer Nachricht ist in Kenntnis der (ungeordneten) Elemente unvorhersehbar, in Kenntnis der Ordnung vorhersehbar. Ordnung ist weder als solche noch in

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Das LKW als Nadiridu

ihrer Konkretion vorhersehbar, sie ermöglicht aber Vorhersagbarkeit. Eco drückt dies folgendermaßen aus: „Es existiert eine Gleichwahrscheinlidikeit der Unordnung, in bezug auf welche eine Ordnung ein unwahrscheinliches Ereignis i s t . . . Sobald aber eine Ordnung verwirklicht ist, bildet sie ein Wahrscheinlichkeitssystem" (1972a: 97Fn.). Daraus folgt, daß sowohl der technische als auch der traditionelle Ordnung-Begriff ihre relative Berechtigung haben: Ordnung ist in der Tat unvorhersehbar, insofern besteht die technische Definition zu Recht; sie ist aber zugleich die Bedingung der Vorhersehbarkeit, insofern ist der traditionelle Begriff (Ordnung bedeutet Durchdrungensein des Besonderen durch Allgemeines) nicht minder verbindlich. (Er ist es selbstverständlich auch in der technischen Sprache, nur herrscht dort - wie bereits angedeutet — der andere Aspekt vor: die Unvorhersehbarkeit der Ordnung von der Naturtendenz her.) Um nun zur Sprache und Dichtung zurückzukehren: Gewisse Aspekte der aktualisierten Sprache (der parole) werden von der Sprache als Ordnung, als System von Ungleichwahrscheinlichkeiten (d. h. als langue) unbestimmt gelassen. Es ist z. B. von der lateinischen Sprache als langue her gesehen (grob gesprochen) gleicliwahrscheinlich, ob an einer bestimmten Stelle eines Satzes eine kurze oder lange Silbe steht. In diese Lücke der Unbestimmtheit springt nun die Dichtung: sie erträgt es nicht, so heißt es bei Hegel, daß an der Sprache überhaupt etwas nicht durch irgendein allgemeines Prinzip bestimmt sei, da die Kunst überhaupt „keine Außenseite sich schlechthin zufällig nach eigenem Belieben ergehen lassen darf" (1951: 871). Die diesbezügliche Unbestimmtheit der parole füllt die Dichtung durch die Bestimmtheit des Metrums auf, was offenkundig die Stiftung von Ordnung bedeutet mit den beiden, von uns bereits kennengelernten Konsequenzen: ein geordnetes Alternieren von kurzen und langen Silben ist einerseits überraschend (sowohl als solches vor dem Hintergrund der Prosa als auch in seiner Besonderung vor dem Hintergrund anderer Arten des Alternierens), insofern informativ; andererseits ermöglicht es, in Kenntnis seines Prinzips die Länge einer bestimmten Silbe vorauszusagen, was Redundanz erzeugt,

Analogien zwischen LKW und Nachricht

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denn das Eintreffen dessen, was vorauszusehen war, hat nichts Uberraschendes mehr an sich. Gerade weil das Auftaudien von Metrum vor dem Hintergrund der Prosa unwahrscheinlich ist, wird im Gespräch eine plötzliche, heiter-spielerische Distanz zum Gesagten, zum praktisch Verhandelten geschaffen und ein momentanes Verweilen bei der Sprache verursacht, wenn ein Satz einem zufällig metrisch gerät.

In diesem „Wahrscheinlichkeitssystem, in bezug auf welches jede Abweichung als unwahrscheinlich erscheint" (Eco 1972a: 97 Fn.), kann nun trotz allem gerade dieses Unwahrscheinliche eintreten: der konkrete Rhythmus eines bestimmten Verses weicht vom Metrum ab. Dies ist nun Unordnung im traditionellen Sinn: etwas Unerwartetes; nicht aber Unordnung im technischen Sinn einer vorhersehbaren Gleichverteilung, wiewohl zuzugeben ist, daß jegliche Durchbrechung des Erwartungssystems Unsicherheit hervorruft „Gilt noch die erkannte Ungleichverteilung?" - und auch objektiv wenigstens einen Schritt zurück in Richtung Gleichverteilung darstellen kann. Denn diese Abweichung kann durchaus etwas einmalig Eingestreutes sein, sei es aus Unvermögen, sei es im Gegenteil aus einem wohlbedachten Willen zur Abwechslung, zur Informativität heraus, wobei die glückliche Hand, Bacons felicity, die hier im Spiel ist („a painter may make a better face than ever was; but he must do it by a kind of felicity..., and not by rule" [Essay On Beauty]), nicht willkürlich zu sein braucht, sondern genausogut vom Zug des Sinnes geführt sein oder auf sonstigen zusätzlichen Gewinn abzielen mag. Es kommt aber auch oft vor, daß die Unordnung nicht bloß eine momentane Störung der konkreten Ungleichverteilung ist, sondern das erste Zeichen einer neuen Ungleich Verteilung: es zeigt sich etwa, daß das ursprünglich angenommene metrische Schema bloß ein Grenzfall eines differenzierteren Schemas ist, welches das erstere aufgehoben in sich enthält; oder es wird allmählich klar, daß das bisher erschlossene System nicht das allein herrschende ist, sondern vielmehr zuweilen von einem anderen durchkreuzt wird, das Träger anderer Inhalte ist, usw. Auf jeden Fall geht es hierbei darum, daß das alte System der Ungleichwahrscheinlichkeit unerwarteterweise

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Das LKW als Nachricht

durch ein neues kompliziert wird, welches aber - gerade als System der Unwahrscheinlichkeit - neue, differenziertere Vorhersagen ermöglicht, sich also als echte Ordnung erweist. Dieses Ablösen der Ordnung durch eine Unordnung, die sich schließlich als Ordnung höherer Stufe entpuppt, hat auch Eco im Sinn, wenn er folgendes schreibt: „Jeder Bruch in der banalen Organisation . . . setzt einen neuen Organisationstyp voraus, der Unordnung in bezug auf die vorhergehende Organisation ist, aber Ordnung in bezug auf innerhalb der neuen Organisation angenommene Parameter" (1973: 123 f.). Am Metrum läßt sich übrigens die Analogie zwischen LKW und Nachricht überhaupt schön aufweisen. Einerseits hat das Metrum (wie jede Nachricht) eine Bedeutung, einen Inhalt, der sich in diesem Fall in einen allgemeinen und einen besonderen teilt. Der allgemeine Inhalt lautet: „Dies ist Poesie"; der besondere (oder gar konkrete) besteht in den jeweiligen Anmutungsqualitäten, die einen jambisdien Vers, einen Hexameter (oder diesen jambischen Vers, diesen Hexameter) usw. auszeichnen. Andererseits hat das Metrum — wie wir gesehen haben — einen Informationsgehalt, einen mehr oder weniger großen Überraschungseffekt, der sich indessen alsbald in Redundanz verwandelt, es sei denn, daß (scheinbare) Unordnung für neue Informativität sorgt. Bedeutungsgehalt und Informationsgehalt sind nun nicht unabhängig voneinander, wiewohl sie — wie sich gezeigt hat - scharf voneinander zu trennen sind: Bedeutungsgehalt ist das, was an Inhaltlichem, Sachhaltigem mitgeteilt wird, also Information in traditionellem Sinne; Informationsgehalt oder Information in technischem Sinn mißt sich demgegenüber am Grad der Neuigkeit, er ist also gleichsam das, was an Formellem mitgeteilt wird. In diesem Sinne - und weil er Informativität als von der Komplexität abhängig betrachtet - ist Moles zu verstehen, wenn er folgendes schreibt: „Kommunizieren heißt etwas transportieren. Die Sache, die transportiert wird, ist die Komplexität" (1971: 259).

Die Verbindung zwischen Information im traditionellen und im technischen Sinn besteht nun darin, daß sie - wie die Meßgenauigkeit

Analogien zwischen LKW und Nachricht

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in bezug auf den Ort und den Impuls der Elementarteilchen - umgekehrt porportional sind: je größer die Informativität, um so weniger Bedeutung (im Sinne eindeutiger Bedeutung) ist der Nachricht zu entnehmen, und umgekehrt: je verständlicher die Botschaft, um so banaler ist sie (Eco 1973: 128, 168 f.; 1972: 99; Moles 1971: 259). Dieser Zusammenhang gründet wohl darin, daß Verstehen ein Zuordnen von Begriff und Anschauung bedeutet: einen Begriff oder überhaupt einen begrifflichen Zusammenhang verstehe ich, wenn ich ihn mit Anschauung erfüllen, d. h. exemplifizieren kann; eine Anschauung, überhaupt Erscheinungen verstehe ich, wenn ich weiß, was sie sind oder was sie bedeuten, d. h. wenn ich sie Begrifflichem zuordnen kann. Dies läßt sich auch so ausdrücken, daß Verständlichkeit nur vorliegt, wenn das Besondere (oder Konkrete) als von Allgemeinem durchdrungen erscheint. Dieses Durchdrungensein ist indessen - wie erinnerlich — nichts anderes als Ordnung im traditionellen Sinn, welche wir nunmehr - da sie im Grunde Gesetzlichkeit und daher Vorhersehbarkeit impliziert - mit einer neuen Nuance des Wortes auch „Form" nennen können (Ingarden 1965: 28). So (und nur so) erhellt das zunächst dogmatisch scheinende Diktum von Moles, wonach „einzig Formen . . . verständlich" sind. (1971: 259. Zur Gleichsetzung von Ordnung und Form siehe auch Eco 1972a: 94.) Erkannte Ordnung ist demnach verständlich, bedeutungsvoll, aber - eben als bereits Erkanntes — redundant; (scheinbare) Unordnung ist informativ, aber sofern und solange sie als verkappte Ordnung nicht „durchschaut" ist, bleibt sie unverständlich. Verstehen als Übergang vom Unverständnis zum Verständnis (auch das Verstehen eines Kunstwerks) bedeutet somit, Information in Redundanz zu verwandeln, hinter scheinbarer Unordnung, Zufälligkeit echte Ordnung, Gesetzlichkeit zu entdecken. Das Kunstwerk als Nachricht ist nun unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß es beides enthält: Ordnung und Unordnung, Redundanz und Information, Altbekanntes und Neues (Franke 1974: 147). Dabei entsteht das Redundante nicht nur im Laufe der Rezeption, durch die soeben angedeutete Umwandlung von „Unordnung" in Ordnung, sondern sie ist zum Teil je schon da, insofern

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Das LKW als Nachricht

jedes Kunstwerk gewisse „ Formkonventionen " befolgt, die, „informationstheoretischausgedrückt,Wahrsdieinlichkeitsgesetzeinnerhalb eines gegebenen Systems" sind (Eco 1973:174). Indem diese Konventionen im Laufe ihrer Konkretisierung bereichert oder gar durchbrochen werden, wachsen dem Kunstwerk zugleich Komplexität und Informativität zu. Während nun das je schon vorhandene Redundante solcherart der Tradition entstammt, bringt der Künstler das Neue, Innovative, das sich als solches aus dem Bekannten nicht ableiten läßt, durch Einfall, Intuition, schöpferische Phantasie, Originalität selber hervor (Franke 1974: 151; Moles 1971: 259). Ob darum mit Franke Kreativität dem Zufall zugeordnet werden kann (mit dem gleichen Recht, wie Redundanz, Konventionalität dem Gesetz zugeordnet werden), darüber soll in 1.3.1. die Rede sein. Mit der Feststellung, daß das Kunstwerk sowohl informativ als auch redundant ist, sind wir indessen an einer Grenze angelangt. Bisher war von gewissen allgemeinen Charakteristika die Rede, die sowohl Nachrichten als auch Kunstwerken zukommen und die uns berechtigen, das Kunstwerk als eine Art von Nachricht zu betrachten. Es waren dies (um bloß stichwortartig zu rekapitulieren): materialer Träger, Dominanz der Beziehungen zwischen dessen Elementen, Sender und Empfänger, Repertoire, Code, Information, Redundanz, Ordnung, Unordnung. Mit der obigen Feststellung ist insofern etwas Neues aufgetreten, als sie ein Spezifikum des Kunstwerks betrifft, etwas, was dieses von den anderen Arten der Nachricht abhebt. Es gibt nämlich Nachrichten, die absolut banal sind (man denke etwa an Gemeinplätze, die höchstens in bezug auf ihren Verwender informativ sind, aber selbst diese ihre Informativität einbüßen, sobald der Betreffende als Klischee-Mensch erkannt ist); andererseits gibt es auch völlig unverständliche, somit absolut innovative Nachrichten (z. B. Buchstaben- oder Lautfolgen, die nach keinem bisherigen Code etwas bedeuten). Wenn wir demgegenüber vom echten Kunstwerk aussagen, es sei weder absolut banal noch absolut innovativ, es zeige vielmehr seine Innovativität gerade vor dem Hintergrund der Tradition (Jakobson 1973: 150 f.), so ist damit eine spezifische Differenz, somit ein Aspekt des Künstlerischen

Das Literarödie als hochkonzentrierte Information

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und a fortiori des Literarischen erfaßt. Damit sind wir bereits im Themenkreis der spezifischen Merkmale, die das Kunstwerk, vornehmlich des LKW, als Nachricht auszeichnen.

1.2. Das Literarische als hochkonzentrierte

Information

Wenn Lotman dem künstlerischen Text die Fähigkeit bescheinigt, „Information in ungewöhnlich hoher Konzentration zu enthalten" (1972b: 420), so gebraucht er das Wort „Information" im Grunde doppeldeutig: zugleich im traditionellen und im technischen Sinne. 1.2.1. Das Literarische als hochkonzentrierte Bedeutung Lotman ist - im Einklang mit der Tradition - der Ansicht, daß das LKW als Ge-dichtetes bei gleicher Länge mehr Bedeutung, mehr („traditionelle") Information vermitteln kann als sonstwie (also nicht mit literarischem Anspruch) Gesagtes oder Geschriebenes. Der literarische Text erweist sich - im Unterschied zu nicht-literarischen Mitteilungen — „in unvergleichlich größerem Maße als semantisch gesättigt und ist für die Übermittlung von derart komplizierten Bedeutungsstrukturen geeignet, die mit Hilfe der gewöhnlichen Sprache überhaupt nicht vermittelt werden können" (1972a: 98). Diese alte, intuitiv wohl für richtig befundene Erkenntnis leitet er folgendermaßen her. Am LKW lassen sich (hierüber ist in 0.2. und 0.2.2.1. bereits die Rede gewesen) verschiedene Ebenen unterscheiden: „die phonologische, die grammatische, die lexikalisch-semantische, die mikrosyntaktische (auf Satzebene) und die makrosyntaktische (satzübergreifende)" (1972b: 393). Jede dieser Ebenen ist ein Relationsgefüge mit für das jeweilige LKW typischen Gesetzmäßigkeiten. Es ist nun nicht so, daß diese Ebenen voneinander unabhängig verliefen; sie durchschneiden sich vielmehr, und zwar (tendenziell) alle in (tendenziell) jedem Element. Schon in der gewöhnlichen Rede gehört selbst das kleinste Element, der Sprechlaut, nicht nur der phonologisdien Ebene an (sofern er nämlich eine wortunter-

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Das LKW als Nachricht

scheidende Funktion hat), sondern zugleich auch der semantischen (sofern die Art, wie er gesprochen wird, manches über den Sprechenden mitteilt, also eine eigene Bedeutung besitzt) (Fonagy: 243 f.). Die Worte eines Satzes sind - ebenfalls bereits im nicht-literarischen Gebrauch der Sprache - gar die Schnittpunkte aller soeben erwähnten Ebenen: sie bestehen aus verschiedenen Phonemen, gehören einer bestimmten Wortart an und stehen in einer grammatisch fixierten Form, sie haben eine bestimmte Bedeutung, durch ihre Stellung und/ oder Endungen üben sie eine bestimmte Funktion im Satz aus und sie werden - in zusammenhängendem Diskurs — durch Vorangegangenes und noch zu Sagendes mitbedingt. Das Unterscheidende des L K W besteht nun in dieser Beziehung darin, daß in ihm auch die nicht-semantischen Ebenen semantisiert werden, d. h. daß tendenziell „alle in ihm vorkommenden Geordnetheiten einen Sinn haben" (Lotman 1972b: 161, auch 34). Dies bedeutet nicht nur, daß etwa die einzelnen Laute (vor allem in poetischen Texten) außer ihrer phonologischen Funktion auch die bereits berührte Ausdrucksfunktion haben, sondern daß zwischen ihnen im konkreten Kunstwerk neue Ordnungen geschaffen werden, indem gewisse Laute durch einfache Wiederholungen oder durch wiederholte Gegenüberstellungen mit anderen Lauten hervorgehoben und mit einer (jeweils zu eruierenden) Bedeutung erfüllt werden. (Dazu und zur gleichgearteten Semantisierung grammatischer Geordnetheiten siehe Lotman 1972b: 167 und 233.) Wenn L o t m a n d a v o n spricht, d a ß im Gedicht jedes S t r u k t u r p h ä n o m e n sidi letzten Endes als Sinnphänomen erweist, d a ß überhaupt gegenüber der K u n s t die P r ä s u m p t i o n in K r a f t ist, d a ß f o r m a l e Textelemente grundsätzlich semantisiert sind ( 1 9 7 2 b : 179 bzw. 34), so wird nicht gebührend klar, ob unter „ S i n n " nur Inhalt, also Vermitteltes geistiger A r t , verstanden wird (was etwa 1972b: 189 und 211 nahelegen) oder doch auch eigenständige, ästhetische Bedeutung. Sporadische Äußerungen ( z . B . 1972b: 232) weisen allerdings auch in diese Richtung. Der G r u n d s a t z v o n der Semantisierung der S y n t a x ( „ S y n t a x " hier als stellvertretend genommen f ü r die jeweilige T o t a l i t ä t der Beziehungen, der Z u s a m m e n f ü g u n g e n ) oder v o n der Bedeutungshaltigkeit der „ T e x t g e s t a l t " (Schmidt 1972: 57) gilt übrigens o f f e n k u n d i g (und im E i n k l a n g mit L o t m a n s Versicherung, er charakterisiere die K u n s t schlechthin) auch f ü r nicht-lyrische literarische T e x t e . Z w a r spielt hier die Semantisierung der Lautschicht eine verschwindende R o l l e ;

Das Literarische als hochkonzentrierte Information

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um so wichtiger ist dafür die Sinnhaftigkeit der makrosyntaktischen, kompositioneilen Ordnungen. Daß der Aufbau eines erzählerischen oder dramatischen Werkes, die konkrete Anordnung seiner kleineren und größeren Einheiten, all die Kontraste, leitmotivartigen Wiederholungen, Parallelitäten, Unterbrechungen usw., die das Nacheinander der Teile kennzeichnen, sehr wohl „Sinnphänomene" sind, und zwar in beiden Bedeutungen des Wortes, - dies braucht nicht eigens dargetan zu werden.

Aus diesen beiden Ergebnissen (Textelemente als Schnittpunkte mehrerer Ebenen oder „Geordnetheiten" zum einen, Semantisierung gerade dieser Geordnetheiten zum anderen) folgt zwingend der Schluß auf die erhöhte Informationshaltigkeit des literarischen Textes: „Je mehr Gesetzmäßigkeiten sich in einem bestimmten Punkt der Struktur überschneiden, desto mehr Sinne (sie) wird dieses Element erhalten" (Lotman 1972b: 115). Es ist also die Uberdeterminiertheit des einzelnen Elementes, die im L K W zum „semantischen Mehrwert" führt (Fonagy: 257). Diese Uberdeterminiertheit kann nun offenkundig zwei verschiedene Formen annehmen, woraus sich zwei Quellen der literarischen Mehrinformation ergeben. Einerseits können die verschiedenen Ebenen an einem bestimmten Punkt bei aller Verschiedenheit semantisch zusammenfallen, das heißt: die gleiche Bedeutung vermitteln. Der Eindruck der Bewegtheit kann z. B. nicht nur durch die Bedeutung der Worte, also durch echt semantische Determination erweckt werden, sondern innerhalb des gleichen Elementes (z. B. eines Satzes) zugleich durch die Lautwahl, Wortstellung und Wortlänge; bei größeren Erzähleinheiten etwa nicht nur durch die beschriebenen Aktionen selber, sondern durch kurze Sätze, kompositionelle Kniffe usf. In diesem Sinne nennt Lotman die literarischen Zeichen „Bündel einander wechselseitig äquivalenter Elemente verschiedener Systeme" (1972b: 63). Es kann zwar durchaus vorkommen, daß eine solcherart parallel verlaufende Uberdetermination mit mehreren Stimmen das Gleiche sagt, uns also kein Mehr an Bedeutung beschert (daß dies gleichwohl hohe ästhetische Bedeutung besitzt, darüber wird später, im Abschnitt über die Äquivalenz, noch manches zu sagen sein), es kann aber auch anders kommen: daß nämlich die verschiedenen Stimmen den Gesamteindruck nicht nur intensiver machen, sondern dieser erst

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Das L K W als Nachricht

durch ihre Polyphonie, durch das Verschmelzen ihrer verschiedenen Timbres zu dem wird, was er ist. Besonders in der hochkonzentrierten Lyrik, die wahrhaftig keine Tautologie zuläßt, dürfte jede Ebene - auch im Falle gleicher Bedeutungsrichtung - eine eigene Nuance aufweisen, ohne welche die Gesamtbedeutung ärmer, weniger differenziert, das Gedicht also - im traditionellen Sinn - weniger informationshaltig wäre. Ihre eigentliche sinnvermehrende Rolle spielt indessen die Uberdeterminiertheit im anderen Fall: wenn die vermittelten Bedeutungen nicht in die gleidie Richtung weisen. Es ist nämlich durchaus möglich, daß die Informationen, die den einzelnen Ebenen zu entnehmen sind, einander fremd, ja widersprechend sind, wodurch eine Mehrdeutigkeit entsteht, die je nach Blickrichtung mehrere Interpretationen zuläßt, wobei der offene Blick auch und gerade für diese Offenheit, diese So-und-anders-Interpretierbarkeit des Kunstwerks offen ist. Im künstlerischen Text sind nach Lotman alle Bedeutungen „gleichzeitig anwesend" im Sinne eines „Flimmerns": man hat das ständige Bewußtsein „der Möglichkeit anderer Bedeutungen als der, die gerade wahrgenommen wird" (1972b: 107). Ein Beispiel für die relative Fremdheit der vermittelten Bedeutungen läßt sich etwa aus der inhaltlichen Tiefe gewisser (z. B. Kafkascher) Werke heranbringen: wenn beispielsweise die Ebene der dargestellten Gegenständlichkeiten, etwa gewisse menschliche Manifestationen, einen bestimmten psychischen Inhalt ausdrücken, der aber seinerseits eine tiefere, ideell-metaphysische Bedeutung suggeriert. Die beiden Bedeutungen, die psychische und die metaphysische, sind hier wohl ineinandergeschachtelt, sie determinieren gemeinsam die menschliche Manifestation, die ihrerseits bestimmte formale Ebenen des Textes determiniert; gleichwohl und bei aller Vorherrschaft des psychischen Inhalts ist ein Schillern zwischen den beiden Bedeutungen zu beobachten, wobei der Eindruck ihres Andersseins, ihrer relativen Fremdheit durch die Unbestimmtheit des metaphysischen Inhalts nur gesteigert wird. Ein banales Beispiel für entgegengesetzte Bedeutungen liefert das Phänomen der Ironie: das vordergründig Bedeutete wird durch

Das Literarische als hochkonzentrierte Information

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formal oder sonstwie vermittelte künstlerische Stellungnahmen relativiert, wobei die Mehrdeutigkeit um so ausgeprägter ist, je mehr sich die ironische Bedeutung versteckt, je weniger eindeutig es sich um Mehrdeutigkeit handelt. All dies wäre Mehrdeutigkeit als Schillern der verschiedenen Bedeutungen im „gleichen" Hier und Jetzt: objektiv verursacht durch die Interferenz der verschiedenen Ebenen, subjektiv ermöglicht durch den verhältnismäßig offenen Blick. Dieser ist nur verhältnismäßig offen, denn - so finden wir - kein Blick, keine Sensibilität, kein Intellekt ist so umfassend, daß er die Mehrdeutigkeit eines LKW in ihrer Totalität zu erfassen vermöchte. Das gleiche Werk wird von verschiedenen Epochen, innerhalb der gleichen Epoche von verschiedenen Individuen, ja vom gleichen Individuum in verschiedenen Lebensphasen verschieden interpretiert, d. h. den gleichen Elementen wird mal diese, mal jene Bedeutung entnommen. Diese in Raum und Zeit auseinandergezogene Mehrdeutigkeit (eine Folge der Paradoxie, daß auf dem Gebiet der Kunst der Mensch beschränkter ist als sein eigenes Werk) wird von Eco „Offenheit" genannt: während der Blick nicht offen sein muß, ist es das Kunstwerk notwendig (1973: 8, 11, 16 et passim). Diese Offenheit ist freilich „kontrolliert": es gibt „eine Dialektik zwischen der Freiheit der Interpretation und der Treue zum strukturierten Kontext der Botschaft" (1972b: 163, 166), zum „semantischen Kern" (Lotman 1972b: 66), zu dem, was in der Objektivität des Kunstwerks dessen Offenheit, damit aber auch die Eigeninitiative des Interpreten eingrenzt. Diese Kontrolliertheit ändert natürlich nichts an der grundsätzlichen Mehrdeutigkeit des LKW: dieses ist ja auch in dem Sinne mehrdeutig, daß seine Aktualisierungen (bei gleich echtem Objektbezug) je nach Perspektive anders ausfallen. Zwar bedeutet dies keine Konzentration der Bedeutung im persönlich-aktuellen Hier und Jetzt, aber immerhin eine Konzentration möglicher Bedeutungen an der zu aktualisierenden „Oberfläche" des Werkes. Mehrdeutigkeit und damit Informativität im Sinne der Bedeutungsträchtigkeit kann indessen noch eine weitere Ursache haben. Es ist - wie wir in 1.1.1. im Zusammenhang mit dem Metrum bereits

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Das L K W als Nachricht

gesehen haben - möglich, daß innerhalb der gleichen Ebene eine bereits bestehende und als solche apperzipierte Ordnung verletzt wird. Ein Wort wird z. B. in einem ungewohnten Kontext, in einer offenbar neuen, einstweilen aber völlig unklaren Bedeutung verwendet. Schon dadurch entsteht eine Undefinierte Mehrdeutigkeit: die vertraute Bedeutung des Wortes ist präsent, daneben befindet sich aber auch noch eine irritierende Leerstelle: eine inhaltlich nicht erfüllte Bedeutung. Nach einer Weile (wenn etwa das gleiche Wort mehrmals, in verschiedenen Kontexten vorkommt oder wenn der Gesamtkontext gründlich untersucht wird) füllt sich die bis anhin leere Form auf: wir wissen nun mehr oder weniger deutlich, was das betreffende Wort in der persönlichen Sprache, im Idiolekt des Dichters wohl bedeuten mag. Wie wir bereits wissen, läßt sich dieser Vorgang informationstheoretisch als Ordnungswechsel beschreiben: gegen die semantische Ordnung der (natürlichen) Sprache, in der das Gedicht geschrieben ist, wird durch die neuartige Verwendung des Wortes verstoßen; es liegt Unerwartetes, Unordnung vor; alsbald erweist sich aber diese als Ordnung vom Idiolekt her: in dieser persönlichen Sprache ist diesem bestimmten Lautbild diese (und nicht die übliche) Bedeutung zugeordnet. Das Merkwürdige ist nun dies, daß dieser Sieg der parole-Ordrmn% über die langue-Ordnung keine absolute ist: es ist nicht möglich, die alte Bedeutung auszulöschen; um so weniger, als ja der Dichter dies auch überhaupt nicht beabsichtigt: abgesehen von extremen Fällen führt er das alte Wort bloß mit relativ neuer Bedeutung ein: neue und alte Bedeutung sind — wie vermittelt auch immer - miteinander verbunden: auch hier gibt es einen semantischen Kern. Daraus folgt, daß der Ordnungswechsel hier keine totale Ablösung der einen Ordnung durch die andere bedeutet (wie etwa bei Shakespeare die Ablösung der Verssprache durch Prosa, wenn Charaktere niederen Standes zu Worte kommen), sondern eine Ordnungsmodifizierung. Dabei ist diese nicht eine zugelassene Differenzierung innerhalb der alten Ordnung (wie wenn z. B. Plautus in den jambischen Trimeter statt einer öfter zwei kurze Silben einflicht, die aber zusammen nur die Dauer von einer Mora haben, so daß der Jambus nicht zum Anapäst wird); sie ist vielmehr

Das Literarische als hochkonzentrierte Information

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nicht vorhergesehenes Hinausgehen über die alte Ordnung und Verwurzeltsein in ihr. Dementsprechend - und durchaus gewollt schwingt neben der neuen Bedeutung die alte mit, was nun einerseits eine Mehrinformation bedeutet im Sinne eines Zugleich zweier (oder mehrerer) Bedeutungen, andererseits aber auch Mehrinformation als Auftauchen von Neuem. Diese innovative Wirkung verblaßt dabei beileibe nicht, sobald die neue Ordnung etabliert ist: nicht nur die Unordnung ist ungewohnt, sondern auch die sich aus ihr herauskristallisierende Ordnung, deren Neuartigkeit besonders dann (relativen) Bestand hat, wenn in ihrem Schoß durch Weiterdifferenzierung neue „Unordnungen" entstehen können. Wir sehen nach all dem, daß es vor allem der Konflikt der Ordnungen ist, der im LKW für die hohe Konzentration an Bedeutung sorgt: zum einen der Konflikt, die spannungsgeladene Ko-Präsenz verschiedenartiger Ordnungen im gleichen Element, zum anderen der Konflikt gleichartiger Ordnungen, der zwar ausgetragen wird und sich (wenn auch vorübergehend) zugunsten der neuen Ordnung entscheidet, die Ko-Präsenz beider aber gleichwohl nicht verunmöglicht. Diese zweite Art von Konflikt führt uns - wie sich soeben gezeigt hat - zu unserem nächsten Thema über: zum Verhältnis LKW/Innovation. 1.2.2. Das Literarische als hochkonzentrierte Innovation Der Konflikt verschiedenartiger Ebenen oder Ordnungen kann nicht nur zu ihrer bereits besprochenen spannungsgeladenen Synthese führen, sondern auch zum Hervortreten der einen Ebene auf Kosten der anderen. Es ist nie vorauszusagen, an welchem Punkt eines Gedichts etwa die Lautmalerei oder die Inversion oder die Rhythmik oder das Inhaltliche (vorübergehend) zum Hauptträger der Bedeutung wird: „im Augenblick des Ubergangs von einem Segment zum nächsten [sind] für den Autor (und für die Erwartungsstruktur des Publikums) mindestens zwei Möglichkeiten vorhanden . . . : einmal die Fortsetzung der bereits bekannten strukturellen Organisationen

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Das LKW als Nachricht

und zweitens, als Alternative dazu, das Auftreten einer neuen. Gerade auf der Wahl... b e r u h t . . . die dabei entstehende künstlerische Information" (Lotman 1972b: 398), denn wenn der Künstler nicht frei wäre zu wählen, könnte er uns nie überraschen. In diesem Sinne vollzieht sich „die Komposition eines künstlerischen Textes . . . als Abfolge von Struktur dominanten verschiedener Ebenen" (ebd. 393). In diesem Fall, also bei dem Konflikt heterogener Ebenen, muß die abgelöste Ordnung nicht unbedingt weiter wirksam sein, wie bei dem Konflikt zweier Ordnungen derselben Ebene, wo die alte Ordnung den Hintergrund der neuen bildete; hier muß es also nicht ein Mehr an Bedeutungen geben, wohl aber - und notwendig - ein Mehr an Innovation: „Der hohe Informationsgehalt des künstlerischen Textes hängt unter anderem mit . . . dem Wechsel der Strukturdominanten" zusammen (ebd. 424). Auch dieser informative Wechsel gehorcht dem Schema Ordnung-,, Unordnung "-Ordnung: etwas erscheint von der einen Ebene her als zufällig, ungeordnet (z. B. irgendeine neu auftretende äußerlich-formale Geordnetheit, irgendetwas Formalästhetisches, insofern es aus dem darzustellenden Inhalt nicht abgeleitet werden kann), von der anderen Ebene (vom entdeckten, konkreten Prinzip des Formalästhetischen) her jedoch als notwendig (ebd. 96 sowie Lotman 1972a: 207). Die altfranzösisdie „cantefable" Aucassin und Nicolette beginnt z. B. mit einem kürzeren Versstück, das man zunächst nur als eine Art Prolog betrachtet, zumal es bloß das Thema angibt und die „heilsame" Schönheit des Werkes preist. „Nun wird gesprochen, erzählt und berichtet": die Geschichte setzt in Prosa ein. Nach einer Weile heißt es aber unvermittelt: „Nun wird gesungen", und die Erzählung wird 18 Zeilen lang in Versen fortgesetzt, um nachher wieder zur Prosa zurückzukehren. Das Auftreten der Versform an dieser Stelle ist rein vom Erzählten her betrachtet zufällig, Zeichen von „Unordnung"; ihr Prinzip wird freilich alsbald deutlich: nicht nur die spezifische Form der Verse selbst, sondern auch die Regelmäßigkeit, mit der auf die geradzahligen Abschnitte in Prosa jeweils solche in Versen folgen. (Darüber hinaus zeigt sich im weiteren allerdings, daß die Versstücke zum Teil nicht nur eine von der Ebene der streng genommenen Erzählung unabhängige Ordnung aufweisen, sondern insofern doch auch von jener her - negativ - bestimmt sind, „als die eigentliche Handlung vor allem in den Prosastücken fortschreitet, während die Versabschnitte mehr lyrisch gehalten sind" [Suchier: xvi].)

Damit findet eigentlich jene Forderung des Aristoteles ihre informationstheoretische Neuformulierung, wonach das in der Literatur

Das Literarische als hochkonzentrierte Information

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Dargestellte sowohl überraschend als auch überzeugend sein müsse. (In Poetik 9 sagt Aristoteles, es sei am besten, wenn in der Dichtung die Dinge „gegen die Erwartung und in Wechselwirkung" geschehen [übers. O. Gigon], oder anders übersetzt: wenn „sie sich überraschend auseinander entwickeln" [übers. P. Gohlke], oder - in einer englischen Fassung - : „when things happen unexpectedly as well as logically" [Ubers. T. S. Dorsch]: alles Formulierungen, die zugleich Neuartigkeit und Gesetzmäßigkeit fordern.) Da bereits das Umstoßen der alten Ordnung in sidi innovativ ist, muß sich nicht jede Unordnung als „organisierte, beherrschte Unordnung" (Eco 1973: 124, 130) erweisen, als Unordnung zwecks anderweitiger Ordnung. Es scheint vielmehr ein Residuum von absolut Zufälligem vonnöten zu sein: „jegliche Geordnetheit ist künstlerisch nur dann wirksam, wenn sie nicht restlos durchgeführt ist, sondern eine gewisse Reserve an Ungeordnetheit beläßt" (Lotman 1972b: 167). Dabei ist nicht nur an die felicity zu denken, die den Dichter etwa von der Regel des Metrums abweichen läßt, sondern audi an all die konkreten Details (ob dinglicher oder menschlicher Art), die nur unerwartet sind, aber von keinerlei Ordnung her als gesetzmäßig erkannt werden können, die jedoch aus der Epik gleichwohl nicht wegzudenken sind. Ob aber dies genügt, um hierbei von absoluter Zufälligkeit zu sprechen, erscheint bei näherem Zusehen als fraglich. Denn es sind im Künstler zumindest abstrakte Prinzipien am Werke, die solche Zufälligkeiten begründen: etwa gerade das Prinzip der Wünsdibarkeit der Innovation und/ oder das Prinzip des Schritthaltenwollens mit der Singularität, Konkretheit, „Phantasie" der Realität. Was es allerdings bedingt, daß sich der künstlerische Takt und die künstlerische Phantasie, die von solchen Prinzipien nur allgemein angeregt werden können, gerade da und gerade in dieser Art von felicity oder gerade in diesem konkreten Detail bekunden, diese Frage rührt an das Rätsel des Schöpferischen: solche Konkretisierungen lassen sich sehr wahrscheinlich auch bei einer (utopischen) absoluten Kenntnis der Gehirnstruktur nicht voraussagen: sie bleiben für den Biologen in höchstem Grade innovativ. (Vgl. Popper 1974: 247 f.)

Wenn auch durch den Hinweis auf die Ubiquität des Ordnungswechsels (sei es innerhalb der gleichen Ebene oder zwischen verschiedenen Ebenen) die These plausibel gemacht werden kann, wonach das Literarische (unter anderem) als hochkonzentrierte Innovation beschreibbar ist, so gibt es dennoch divergierende Auffassungen über

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Das LKW als Nachricht

1.2.2.1. Die relative (literatur)ästhetische Bedeutung von Innovation und Redundanz Es gibt ein Theorem des amerikanischen Mathematikers George D. Birkhoff, das in der informationstheoretisch ausgerichteten Kunsttheorie, besonders von Bense und seinen Schülern, vielfach zitiert, ja recht eigentlich zu einem Grundstein ihrer Theorie gemacht wird. Dieses besagt kurz, daß das „ästhetische Maß", d. h. der zahlenmäßig ausdrückbare ästhetische Wert eines Objektes um so größer ist, je mehr Ordnung und je weniger Komplexität das Objekt aufweist. Formelhaft ausgedrückt: Qrd ung " . (Birkhoff: 320-333,382-535.) Komplexität Diese Formel wurde von Rul Gunzenhäuser - wie uns nunmehr einleuchtet - folgerichtig folgendermaßen umgeformt:

Ästhetisches Maß =

T,

Maß ästhetischer Information =

R dundanz e Information

(1962

1971 1968.)

Gegen dieses Theorem können unschwer mehrere Einwendungen gemacht werden. Zunächst: dadurch, daß es den ästhetischen Wert eines Kunstwerks zu einer Funktion seiner Geordnetheit, Vorhersehbarkeit, Redundanz macht, mißt es ihn eigentlich an der Auffassungsleichtigkeit, Banalität, Monotonie des Kunstwerks: an der Langeweile, die es erzeugt (Pfeiffer: 184,188). Zweitens läßt sich die Formel leicht ad absurdum führen. Das Maß erreicht nämlich dann sein Optimum, wenn der Zähler möglichst groß, der Nenner möglichst klein ist. Möglichst kleine Komplexität bedeutet aber Elementenzahl 1, was jedoch jegliche Ordnung vereitelt, da Ordnung Beziehungen voraussetzt, welche ihrerseits nur zwischen mehreren Elementen möglich sind. Das Optimum des Nenners bedeutet also, daß die Ordnung und damit das Maß selber gleich Null ist: das Optimum des Maßes impliziert folglich sein Pessimum. (Eine andere, kompliziertere Ad-absurdum-Führung ist bei Pfeiffer: 185 zu finden.) Drittens ist die empirische Grundlage, auf der das Birkhoffsche Theorem steht, alles andere als sicher zu nennen. Einerseits gibt selbst Gunzenhäuser zu, daß Birkhoff weder genaue Versuchsbeschreibun-

Das Literarische als hochkonzentrierte Information

gen gibt (er legte Studenten Polygone zur ästhetischen Beurteilung vor, um die Gültigkeit seiner Formel zu prüfen), noch quantitative Versuchsergebnisse mitteilt (Gunzenhäuser 1968: 197). Andererseits räumt Siegfried Maser, ein anderer Informationsästhetiker, ein, daß es umstritten ist, ob ein hohes ästhetisches Maß (das anhand bestimmter Anweisungen präzise berechnet werden kann) „beim Betrachter einen hohen ästhetischen Wert zur Folge hat oder ob vielleicht gerade das Umgekehrte der Fall ist", und er fügt hinzu: Die Maßästhetik „will nur beschreiben und nicht bewerten" (445). Dazu ist zu bemerken, daß bei ästhetischen Objekten ontologische und axiologisdie, Seins- und Sollensbestimmungen sich gegenseitig implizieren: Das Wesen des Kunstwerks ist das Wesen des wertvollen Kunstwerks und umgekehrt. Wenn also Birkhoff die Ästhetizität direkt von der Ordnung, indirekt von der Komplexität abhängig sein läßt, so bestimmt er (vermeintlich) nicht nur den ästhetischen Wert, sondern auch die strukturelle Tendenz jeden Kunstwerks. Und auch umgekehrt: wenn Maser bloß zu beschreiben meint, so gibt er mit der verwendeten Formel, die dodi Wesentliches intendiert, implizite audi einen Hinweis darauf, wie die Tendenz eines Kunstwerks sein solle. Seinsbesdireibungen können nur dann schlechte und gute Kunstwerke umfassen, sich also einer axiologischen Bestimmung entledigen, wenn sie - wie es Ingarden in seinem sonst vorzüglichen Buch Das literarische Kunstwerk praktiziert - zwar notwendige, ja audi spezifische Begriffsmerkmale erfassen, aber vor einer Definition des LKW Halt machen, d. h. die Merkmale nicht in spezifische Beziehungen zueinander stellen. Tun sie das, wie die Birkhoffsche Seinsbeschreibung mit der Setzung einer direkt/ indirekten Proportionalität es tut, so geben sie sogleich an, was ein LKW in der betreffenden Sidit wertvoll machen soll. Und wenn sie axiologisch versagen, wenn Werturteile ihnen nicht entsprechen, so versagen sie damit auch ontologisdi: sie haben die wesentlichen Relationen des LKW nicht getroffen. Zur Birkhoffsdien Formel siehe noch 5.2.2.2.1. und 5.2.2.2.2. sowie H a a r d t : 26-35 und Schulte: 232 f.

Ist das Birkhoffsche Theorem „im Hinblick auf ihre empirische Bestätigung . . . zu wenig in den exakten Wissenschaften, wie Psychologie und Physiologie verankert" (Gunzenhäuser 1971: 305), so läßt sich das gleiche von den Untersuchungen des Psychologen H. J. Eysenck schwerlich behaupten. Er kommt im Unterschied zu Birkhoff, nadi dem die Komplexität möglichst klein sein müsse, damit ästhetisch Wertvolles entstehe, zum Ergebnis, daß sowohl Ordnung als auch Komplexität möglichst groß sein müssen, d. h. daß den experimentellen Ergebnissen die Formel M = O X K weitgehend

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Das LKW als Nachricht

entspricht, die Birkhoffsche dagegen (M = Q ) überhaupt nicht. (Eysenck 1942: 3 4 6 - 3 4 8 , sowie 1940, 1941a, 1941b. Zu Eysenck im Verhältnis zu Birkhoff siehe auch Hahn: 236.) Eine im Grunde gleiche Formel wurde bereits von Francis Hutcheson (1694 bis 1746) verwendet: er sprach davon, daß die Sdiönheit sowohl mit der Einheitlichkeit (uniformity) als auch mit der Mannigfaltigkeit (variety) direkt proportional sei (20ff.). Siehe dazu Horn 1976a: 63-77. Gegen eine Uberbewertung der Ordnung und Unterbewertung der Komplexität nach der Art Birkhoffs spricht sich unter den Modernen auch Kenneth Burke aus: „Ein minderwertiges Werk [so lesen wir bei ihm] k a n n . . . einheitlicher sein als ein erstrangiges, einfach weil in ihm keine so schwierigen Ordnungsprobleme zu meistern waren" (Olson et al.: 78).

Nach diesen beiden extremen Positionen gilt es nun, die heute vorherrschende ins Auge zu fassen, welche sich vom Birkhoffschen Ansatz darin unterscheidet, daß sie mit Hutcheson und Eysenck der Ansicht ist, die Innovation müsse möglichst groß sein, und von beiden bisher behandelten Positionen darin, daß nach ihr die Redundanz nicht möglichst groß sein, sondern mit der Innovation ein von den verschiedenen Autoren unterschiedlich bestimmtes optimales Verhältnis eingehen müsse. Für Eco tendiert die (Lebens-)Praxis auf möglichst viel Bedeutung, Ordnung, Redundanz, denn „Kommunikation zu praktischen Zwecken, vom Brief bis zum Verkehrszeichen, [will] eindeutig verstanden werden und keine Möglichkeit für Mißverständnisse und persönliche Deutungen zulassen". Demgegenüber tendiert die Kunst auf möglichst viel Information, Unordnung, Innovation, auf eine „nicht eingeschränkte Vielfalt der möglichen Bedeutungen" (1973: 169). Daß diese Eco'sche In-eins-Setzung von Innovativität und Mehrdeutigkeit (1972a: 114; 1972b: 151) nur relative Geltung für sich beanspruchen kann, erhellt daraus, daß etwa die Interferenz mehrerer Strukturen oder Ebenen im gleichen Element Mehrdeutigkeit ergibt ohne notwendige Innovation und der Dominantenwechsel der Ebenen (umgekehrt) Innovation ohne notwendige Mehrdeutigkeit.

In der Innovation wird also von Eco ein wesentlicher Aspekt der Kunst erblickt; die Frage ist nur, „inwieweit dieses Streben nach informativer Neuheit mit den Kommunikationsmöglichkeiten zwi-

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sehen Erzeugendem und Rezipierendem zu vereinbaren ist" (1973: 170), denn - wie wir wissen - absolute Innovation ist unverständlich. Das optimale Verhältnis wird nun im „delikaten Gleichgewicht" gefunden „zwischen einem Minimum an Ordnung, das mit einem Maximum an Unordnung zu vereinbaren ist" (ebd. 175). Während Eco somit der Meinung ist, es dürfe im Kunstwerk nicht mehr Ordnung geben, als für die Vermittlung möglichst großer Unordnung nötig ist, also gerade so viel Redundanz, daß eine maximierte Innovation gerade noch verständlich ist, - geht Abraham A. Moles einen Schritt weiter: nach ihm soll gerade so viel (und nicht mehr) Redundanz vorhanden sein, daß die maximierte Innovation gerade noch unverständlich sei. Die Redundanz soll zwar also groß genug sein, um relative Verständlichkeit zu ermöglichen, aber klein genug, um absolute Verständlichkeit zu verhindern. Das Kunstwerk soll „dem Empfänger immer ,ein bißchen zuviel' Information, ein bißchen zuviel Originalität" anbieten, denn das Eigentümliche des Kunstwerks besteht darin, daß „sein Reichtum das Wahrnehmungsvermögen des Empfängers übersteigt" (1971: 211, 217). Dieses Vermögen wird von ihm auch „Informationskapazität" oder „Komplexitätskapazität" genannt (ebd. 288); es zeigt sich offenkundig in der Fähigkeit, Information abzubauen, d. h. in der dargebotenen Unordnung möglichst viel Ordnung zu entdecken (vgl. Cube: 53 f.), so daß man immer weniger Überraschungen erlebt, immer mehr für einen redundant ist. Diese Fähigkeit ist nun zweifelsohne individuell verschieden stark ausgeprägt, folglich auch die Redundanz eines bestimmten Werkes für verschiedene Empfänger unterschiedlich groß. Gleichwohl gibt es eine gattungstypische, auf die Menschheit als solche relative Kapazitätsgrenze, jenseits welcher kein Kunstwerk verständlich ist. Dieser Grenze nähern sich nun die Künstler in ihrem an den Empfänger ihrer Werke gestellten Anspruch in geringerem oder größerem Maße, und zwar je nach ihrer eigenen Differenziertheit. Sie haben dabei - mehr oder weniger bewußt - einen idealen, d. h. unter anderem gerade über diese für sie maximale Kapazität verfügenden Empfänger vor Augen, den sie nach Auffassung von Moles - immer „ein bißchen" überfordern wol-

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len. (Dabei bestimmt Moles dieses „Bißchen" nicht näher; die Richtigkeit des Maßes soll sich wohl nur subjektiv zeigen: wenn sich schon Vergnügen, aber noch kein Verdruß einstellt.) Umgekehrt wählt z. B. der Leser seine Lieblingsschriftsteller nicht nur nach „Wahlverwandtschaften" aus, sondern auch nach deren auf ihn bezogener „Verständlichkeit", d. h. nach dem Verhältnis zwischen der jeweiligen, von den Schriftstellern vorausgesetzten und geforderten maximalen Komplexitätskapazität und seiner eigenen. Diese Voraussetzung zeigt sich aber in nichts anderem als im Grad der vom Werk objektiv dargebotenen maximalen Möglichkeit, in ihm Ordnung, Redundanz, also das Verständnis Erleichterndes zu entdecken. Ist dieser Grad hoch, so ist das Werk objektiv (in bezug auf „seinen" idealen Leser) „leichtverständlich", und umgekehrt. Mit all dem soll nur folgendes deutlich gemacht werden. Moles spricht von einem „Optimum an Informationszufluß für jedes einzelne Individuum", welches Optimum an das Verhältnis der Komplexitätskapazität, der „redundanzbildenden" Fähigkeit des Individuums und der „Komplexitätsrate (d. h. der Informativität, A. H.) der gegebenen Nachricht" gebunden sei (ebd. 228). Dadurch erweckt er den Eindruck, als wäre Redundanz nicht nur eine individuell variable, sondern darüber hinaus eine bloß subjektiv begründete Größe. In Wirklichkeit - dies dürfte nach dem Obigen klar geworden sein - ist jedoch das Maximum an Ordnung, an Redundanz, an Verständlichkeit, das einem Werk abgewonnen werden kann, objektiv im und durch das Werk selber begründet. Nicht einmal der sensibelste und intelligenteste Mensch kann - von Vergewaltigungen, also von unwissenschaftlichem Vorgehen abgesehen - in einem Werk mehr Ordnung entdecken, als das Werk selber hergibt. Freilich kann es im konkreten Fall auch ein subjektives Maximum geben, das weit unter dem ermöglichten und geforderten objektiven Maximum liegt, in welchem Fall Verständnis und Genuß unmöglich sind: man ist an das falsche Werk, an den falschen Schriftsteller geraten. Ebenso ist die untere Grenze, das Minimum an Ordnung, die auf Anhieb entdeckt wird und nicht mehr-oder-weniger mühsam gefunden werden muß, je nach Vorbildung und persönlichen Gaben unterschiedlich

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angesetzt, also subjektiv bestimmt. All dies ändert aber nichts an der Erkenntnis, daß Redundanz (ebenso wie Innovation) auch eine objektive Grundlage hat: in einem bestimmten Werk ist nur so und so viel (und nicht mehr) Ordnung zu entdecken. Moles stellt nun folgende paradox anmutende These auf: „Ein poetisches Werk auf einer bestimmten Sensibilitätsebene würdigen heißt, auf eine immer vergebliche Art versuchen, es auszuschöpfen, und eben in der Vergeblichkeit dieses permanenten Bemühens ist die ästhetische Ergriffenheit begründet" (ebd. 228). Dem ist nach dem Vorangegangenen auf jeden Fall beizufügen, daß diese Ergriffenheit - selbst wenn Moles' These zu Recht besteht - nicht nur von der jeweiligen Sensibilitätsebene abhängt, sondern auch von der objektiv ermöglichten Redundanz. Das Problematische an dieser These ist ihre implizierte Widersprüchlichkeit: die Vergeblichkeit eines echten Bemühens, die per definitionem unlustvoll ist, kann in sich nicht die ästhetische Ergriffenheit, also etwas eminent Lustvolles, begründen. Da und solange nun Moles keine Anstalten macht, diesen Widerspruch aufzulösen, haben wir es bei seiner These nicht mit einem bloß scheinbaren, sondern einem echten, disqualifizierenden Widerspruch zu tun. Auch Franke findet, die „Effizienz" eines Kunstwerks lasse sich durch seine „Ergiebigkeit und Praktikabilität als Quelle von Innovation" beschreiben (1974: 131); auch er weiß andererseits um die Gefahr „übersteigerter Komplexität" (ebd. 142), der mit Redundanz zu steuern sei, wobei allerdings auch „extreme Vereinfachung" vermieden werden müsse (ebd. 143). Was anzustreben sei, ist „nicht ein Maximum an Verständlichkeit, sondern ein günstiges Verhältnis von Originalität und Redundanz" (ebd. 137 f.). Wie dieses günstige Verhältnis, diese optimale Angepaßtheit an die Wahrnehmungsprozesse (ebd. 121) genau beschaffen zu sein hätte, wird dabei nicht bekanntgegeben; man fühlt sich nur vage an den von Moles geforderten Überhang der Komplexität erinnert. Ergiebiger scheint Frankes Theorie der „ästhetischen Strategien" zu sein, unter denen er die Mittel versteht, trotz der notwendig beschränkten Aufnahmekapazität des Bewußtseins eine anhaltend hohe Innovationsquote zu gewährleisten. Siehe dazu im einzelnen ebd. 127-131.

Wenn die MFL in der Innovation - mit welchen Einschränkungen auch immer - ein grundlegendes Charakteristikum des Literarischen (ja des Künstlerischen) überhaupt erblickt, um so mehr muß sie dies im Hinblick auf die gedrängteste literarische Gattung, die Lyrik, tun: bei längeren Werken kann das Voraussehbare durch periodisch intensivierte Innovationen wettgemacht werden; ein Gedicht, das

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banal anfängt, hat gleichsam keine Zeit mehr, uns zu überraschen: wir gähnen noch, als es bereits zu Ende ist. Aus diesem Grunde überrascht nicht, wenn etwa Klaus Baumgärtner Innovation als „die umfassendste Charakteristik des Poetischen" apostrophiert (770), oder wenn Bense seiner „Kleinen Texttheorie" das Bonmot voranstellt: „Poesie ist da, wo verschiedene Wörter zum erstenmal zusammentreffen" (1969: 73). Dies ist der Punkt, an dem eine prinzipielle Kritik an der ganzen Innovationstheorie mit Vorteil ansetzen kann.

1.3. Kritisches zum informationstheoretischen Ansatz 1.3.1. Das Problem des Zufälligen an der Innovation Benses Ausspruch besagt im Grunde, daß das einzige Prinzip, das die Innovation bedingt, eben das Streben nach Innovation ist: Ungewöhnlichkeit sorgt bereits für Poetizität. Wenn er auch im weiteren die Spitze seiner Behauptung insofern abbricht, als er einräumt, daß „unkonventionelle, unwahrscheinliche Redeweisen... poetische Verteilung mindestens simulieren" (ebd. 110; herv. A. H.), so offenbart das obige Motto zumindest die Selbstbeschränkung oder die Ratlosigkeit gewisser Tendenzen der MFL, wenn es darauf ankommt, über die Konstatierung der hohen Innovativität des LKW hinauszugehen und diese zu begründen. Zumindest, denn Franke ordnet wie wir es in 1.1.1. kurz gestreift haben — Information, Unordnung eindeutig dem Zufall zu: sie entstammen (ebenso übrigens wie die informationsvermehrenden „ästhetischen Strategien") der schöpferischen Phantasie, dem Einfall, der Intuition, die ihrerseits im Grunde Zufallsprozesse darstellen, deren Ausfälle ebenso unvorhersehbar sind wie diejenigen alltäglicher Zufallsgeneratoren, beispielsweise des Spielwürfels oder des Rouletterads (1974:130,149,151 ff.). Daß die konkrete Oberfläche des LKW dem Schöpferischen im Künstler überantwortet werden muß (was sich subjektiv in der Tat in ihrer Unvorhersehbarkeit bekundet), diese Ansicht wurde auch

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auf diesen Seiten (in 1.2.2.) vertreten. Damals war vom „absolut" Zufälligen am Schöpferischen die Rede: Wenn nur um des Innovierens willen innoviert wird oder wenn Unvorhersehbares im Detail nur eingeführt wird, weil es - wie Aristoteles in Poetik 18 und 25 ausdrückt - in der Wirklichkeit wahrscheinlich ist, „daß vieles gerade auch gegen die Wahrscheinlichkeit geschieht" (übers. O. Gigon), will also der Schriftsteller „nachahmen", so muß er in seinem Werk auch diesem Zug der Wirklichkeit Rechnung tragen: wenn allein diese beiden abstrakten Prinzipien am Werke sind, so lassen sich die einzelnen Konkretisierungen auch im nachhinein offenbar von keiner Gesetzmäßigkeit her erklären, aus keinem allmählich erkannten Ordnungsprinzip ableiten. Es scheint indessen, daß die Domäne des Zufällig-Schöpferischen noch weiter reicht. Das oben ausführlich dargestellte Phänomen des Ordnungswechsels (innerhalb der gleichen Ebene sowie zwischen verschiedenen Ebenen) ist zwar bedingt sowohl durch seinen Zweck (möglichst hohe Konzentration von Bedeutung und Innovation) als auch durch seine konstitutiven Prinzipien (wenn Ordnungswechsel sein soll, so muß er so-und-so beschaffen sein): gleichwohl kann es unbestimmt bleiben, warum gerade hier und warum gerade diese Ordnung auftritt. Das heißt: auch hier kann „absolute" Zufälligkeit herrschen - aber sie muß nicht. Es ist bereits an den trivialen Fall erinnert worden, da ein metrisches Schema nicht nur um der Innovation, sondern zugleich auch der wirksameren Inhaltsvermittlung willen durchbrochen wird. Diese Erscheinung findet eine weit mehr verbreitete Parallele in jeglichem als poetisch anzusprechenden Text (gleich welcher Gattung): hier haben wir in der Tat den Eindruck, als träfen verschiedene Wörter zum erstenmal zusammen - aber beileibe nicht immer ohne tieferen Grund. Audi in diesen Fällen geht es eigentlich um Ordnungsverletzungen (meistens sogar um regelrechte Ordnungs-Wechsel): Wörter, die in der Alltagssprache bezüglich ihrer semantischen Eigenschaften unverträglich sind (etwa „blau" und „Mut"), erscheinen im Gedicht völlig ordnungswidrig nebeneinander: eine Metapher („blauer Mut") ist entstanden (Landon: 352 f.). Diese semantischen oder auch kombinatorischen Ano-

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malien (Todorov 1966: 3 60 ff.) können dabei sehr wohl ausschließlich vom „Zufall" (d.h. vom unerforschten Schöpferischen im Künstler) diktiert sein, so etwa in dadaistischen Gedichten. Weitaus häufiger sind sie indessen durch den Inhalt bedingt. Diesen Gedanken hat Ivdn Fönagy im Sinn, wenn er im Hinblick auf solche Innovationen folgendes schreibt: „Die Täuschung der Erwartung ist kein unmittelbares Ziel, sondern bloß eine Folge des Strebens nach dem allein passenden konkreten Ausdruck" (256). Audi Tzvetan Todorov beantwortet die Frage, warum die Dichter gegen die Regeln der Sprache verstießen, indem er auf das (auch philosophische) Verlangen hinweist, „durch die Sprache das Objekt des Denkens getreu zu übersetzen" (1966: 382). Das „Objekt des Denkens" ist nun im Falle der Literatur konkret-einmalig, und zwar um so mehr, je tiefer es erfaßtkonzipiert wurde (mit diesem Bindestrich zwischen „erfaßt" und „konzipiert" ist die ganze dialektische Problematik des Bezugs zwischen Literatur und Realität angedeutet). Will nun die ausdrückende Form dem Inhalt adäquat sein, so kann sie nicht umhin, mit dieser seiner Einmaligkeit zu wetteifern, mit anderen Worten: ebenso innovativ zu sein wie er selbst. Dies kann sie allerdings nur dank einem Vermögen des Künstlers, das sich in ihm der Tiefe und das heißt Originalität der Wirklichkeitssicht und des Inhaltsentwurfs zugesellen muß: der schöpferischen Phantasie, die Originellem zum originellen Ausdruck verhilft. Eben weil dem Alltagsmenschen die künstlerische Intelligenz, das Schöpferische spezifischer Einsichten und Entwürfe weitgehend fehlt (übrigens auch einem anderen Künstler gerade diese, so-und-so beschaffene künstlerische Intelligenz), ist er - je dichter Dichtung ist von ihr um so eher auf Schritt und Tritt überrascht. Dies schließt seinerseits keineswegs aus, daß er bei weiterem (unter anderem gerade durch dieses innovative Formelement ermöglichtem) Eindringen in den Inhalt das zunächst Überraschende als überzeugend, also (scheinbar) notwendig empfindet, ohne allerdings dadurch auf ein definierbares Ordnungsprinzip gestoßen zu sein, das ihm (ähnlich wie etwa beim Metrum) ähnliche Überraschungen künftighin verwehren würde.

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Wir sind also hier mit einer recht komplizierten Sachlage konfrontiert: Der schöpferische Akt, der etwa eine innovierende Metapher in die Welt setzt, ist zugleich bedingt und nicht-bedingt, an den Inhalt gebunden und doch frei, „gesetzmäßig" und „zufällig", im nachhinein „ableitbar", vorher die Unbestimmtheit selber. Dies zeigt, daß das Innovative im LKW nicht nur „absolut" zufällig sein kann, sondern auch relativ zufällig, und zwar im doppelten Sinne. Einerseits kann das Auftreten dieser bestimmten Ordnung an dieser bestimmten Stelle durch keine immanente Notwendigkeit motiviert, sondern bloß zufällig, auf einen schöpferisch-intuitiven Entscheid zurückführbar sein, das einzelne, zunächst überraschende Element dagegen sich hinterher als vollauf notwendig, aus der neuen Ordnung ableitbar erweisen. Andererseits kann das innovative Formelement zugleich vom zufälligen Einfall und vom Inhalt her bedingt sein (welch letzterer - wie wir soeben sahen - des schöpferischen Momentes ebenfalls nicht ermangelt). Abschließend sei hier noch festgehalten, daß sowohl das Schöpferische als auch der Inhalt mentale Kategorien sind; wenn also die MFL das Phänomen der Innovation nicht nur beschreiben, sondern es von seinem Ursprung her begründen will (und das wollen einzelne Forscher - wie sich gezeigt hat - auf je eigene Weise), so kommt sie um eine mentalistische Begründung nidit herum. 1.3.2. Innovation - wozu? Wenn umgekehrt danach gefragt wird, wie Innovation von ihrem Zweck her begründet werden kann, welche Funktion sie im Kunstwerk erfüllt, so erhält man eine Antwort, die wohl auf der Hand liegt: Das Kunstwerk müsse eben „ein langanhaltendes und immer wieder neu entstehendes Interesse" herausfordern; „nur dann ist es für den Konsumenten von dauerndem Wert" (Franke 1974:128). Daß Dichtkunst innovierend sein müsse, damit sie Interesse erweckt und es nicht erlahmen läßt, dies als Gedanke ist alles andere als innovierend. Aristoteles etwa (Poetik 25) findet die Darstellung von Unmöglichem unter anderem dann gerechtfertigt, „wenn auf

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diese Weise dieser oder ein anderer Teil der Dichtung erstaunlicher wird" (übers. O. Gigon). Nach Quintilian erzielt etwa die Einsparung normalerweise nötiger Satzbestandteile gerade durch die Neuartigkeit der Kürze eine Wirkung intellektueller Überraschung (Lausberg: 1/346). Uberhaupt war die antike Poetik der Auffassung, daß das taedium die gegebene Durchschnitts-Gemütshaltung des Publikums sei und das poetische opus das Publikum gerade mittels einer „Verfremdung", also durch Abweichendes, Innovierendes aus dem taedium befreie (ebd. 1/589). Die Verfremdung dient auch nach Boileau der Wachhaltung der Aufmerksamkeit: „Que de traits surprenants, sans cesse il nous réveille" (zit. ebd. 2/949). Daß Innovation diese Funktion in der Tat ausübt und daß diese Funktion eine notwendige ist, darüber besteht wohl nicht nur in der Tradition Übereinstimmung: Keinen seiner sonstigen Vorzüge kann ein LKW hervorkehren, wenn es die Aufmerksamkeit des ihm adäquaten Lesers nicht zu erregen und zu fesseln vermag. Doch von einer notwendigen Bedingung zum Wesen einer Sache ist noch ein langer Schritt: Wenn hochkonzentrierte Innovation wenigstens einen Wesens*i5pe&£ des Literarischen ausmachen soll (was sowohl durch ihre Ubiquität als auch durch ihre Spezifizität nahegelegt wird), so muß ihr Sinn tiefer liegen als in der Erzeugung von (noch so esoterisch gefaßter) „Spannung". Ein solcher Sinn läßt sich in der Tat eruieren: Hochkonzentrierte Innovation kann Mittel zum ästhetischen Zweck sein. Ich sage „kann", denn diese ihre Funktion erfüllt sie mit Notwendigkeit nur in bezug auf die dargestellte Gegenständlichkeit, d. h. auf das, was uns Literatur an Anschaulich-Konkretem (wiewohl nicht unbedingt Dinglichem) vor-stellt. Hinsichtlich der verwendeten und bewußt gewordenen Kunstmittel dagegen ist Innovation nicht notwendig; was ästhetisch eine Funktion hat, ist - wie sich in 4.3.3. noch zeigen wird - nur die Bewußtwerdung selber.

Diese ästhetische Mittelhaftigkeit in bezug auf das Dargestellte ist nun zweifacher Art: einerseits dient die Innovation dem ästhetischen Zweck auf dem Umweg über die Bilder, andererseits auf dem Umweg über die integrale Schau. Beide Möglichkeiten bedürfen der

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Erläuterung. Diese kann hier allerdings nicht in aller Gründlichkeit durchgeführt werden; manches muß aus darstellerischen Gründen für spätere Abschnitte (4.3.2.4. und 4.3.3.) aufgespart bleiben. Ist das Bild einmalig-innovierend, so hat es die Eigentümlichkeit, gerade dank seiner Ungewohntheit evokativ zu sein, d. h. sich überhaupt mit geistigem Inhalt und näher: ihm an Einmaligkeit ebenbürtigem Inhalt zu erfüllen: es wird zum Vehikel konkreter Innerlichkeit. Dieses Transparent-Werden von Sinnlich-Sinnhaftem auf Geistiges hin (mit der näheren Bestimmung, daß Geistiges hier eben konkrete menschliche Subjektivität oder zumindest einzelne Innerlichkeitsinhalte meint, mithin Psychisches und nicht primär Gedankliches) - dies fällt nun mit der objektiven Komponente des Ästhetischen zusammen, und diese ästhetische Transparenz ist auf der Ebene der Bilder ohne Innovation nicht möglich. Es sei angemerkt, daß hier und im weiteren unter „Innerlichkeit" ganz allgemein innerlich Seiendes, Seelisches verstanden wird, und zwar entweder eine konkrete menschliche Seele als Ganzes, als zeitliches Kontinuum von Erlebtheiten, oder dann eher ein momentaner „Querschnitt" seelischer Inhalte, etwas aktuell Gegebenes oder Erlebtes. Wenn die Bezeichnung „Seele" nach Möglichkeit vermieden wird, so deswegen, weil 1. der Begriff metaphysisch-anthropologisch umstritten ist, weil er 2. auch das Unbewußte einbegreifen kann, was in bezug auf die Kunst, erst recht in bezug auf das Ästhetische ungerechtfertigte Verallgemeinerung wäre, und weil 3. „Seele" nicht mit der gleichen Unmittelbarkeit mit dem sinnlich-sinnhaften Äußeren korreliert wie „Innerlichkeit „Bewußtsein" soll ebenfalls vermieden werden, da dieser Begriff - zu Recht oder zu Unrecht - Bewußtheit zu implizieren scheint, die indessen dargestellten Innerlichkeiten wiederum nicht notwendig zukommt. Manches wird ja von diesen (etwa in der Epik) nur schlicht erlebt, dumpf gefühlt; nur uns, den Rezipienten, ist dann solcherlei - dank der verbalisierenden Tätigkeit des Autors - in begrifflicher und begriffener Klarheit präsent. Auch geht es in der vorliegenden Arbeit, wenn im Zusammenhang mit der Kunst von „Innerlichkeit" die Rede ist, nicht um das Ich oder das Selbstbewußtsein in seiner Abstraktheit und Eigenschaftsarmut, sondern allenfalls um eine ich-zentrierte, offenkundig von einem Selbstbewußtsein erlebte Mannigfaltigkeit von Gegebenheiten, häufig aber (man denke etwa an metaphorische Ding-Beseelungen in der Dichtung) bloß um eine Subjektivität, die in einem konkreten Inhalt oder A k t aufzugehen scheint, wobei die Ichhaftigkeit im Erlebnis des Rezipienten merkwürdigerweise an die Peripherie des Bewußtseins gedrängt oder gar vollends ausgeklammert wird.

Das einmalig-innovierende Bild trägt indessen auch noch auf eine andere Weise zur Entstehung von Ästhetischem bei. Je individueller,

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unvorhersehbarer ein Bild ist (ohne dabei gekünstelt zu wirken, d. h. ohne die Fühlung mit der darzustellenden Sache zu verlieren), um so „natürlicher" wird es sein: es wird den Anschein erwecken, als ergäbe es sich ganz von selbst, ohne fremdes Zutun, gleich wie die Gegenstände der lebenden Natur, die ihre Einmaligkeit im großen und ganzen aus sich selbst, aus ihrer eigenen Natur entwickeln. In diesem seinem (scheinbaren) Von-innen-bestimmt-Sein ist also das innovierende Bild naturähnlich, ineins damit aber auch (scheinbar) frei, denn „frei sein und durch sich selbst bestimmt sein, von innen heraus bestimmt sein, ist eins" (Schiller: 175). Dies ist nun deswegen von ästhetischer Wichtigkeit, weil es für das Entstehen von Ästhetischem nicht genügt, daß der Inhalt durch die Form hindurchscheine, daß er dank ihrer Transparenz in ihr als seinem Äußeren bei sich, mithin frei sei (denn „die Freiheit ist eben dies, in seinem Andern bei sich selbst zu sein, von sich abzuhängen, das Bestimmende seiner selbst zu sein" [Hegel 1940: 87]), - sondern auch die Form muß den Schein eigener Freiheit bewahren: „Beides muß im schönen Objekte vorhanden sein: die durch den Begriff [den Inhalt, A. H.] gesetzte Notwendigkeit im Zusammengehören der besonderen Seiten und der Schein ihrer Freiheit als für sich und nicht nur für die Einheit hervorgegangener Teile" (Hegel 1955: 149). Das gleiche hat unter den „New Critics" John Crowe Ransom im Sinn, wenn er das LKW mit einem demokratischen Staat vergleicht, der nicht nur wirksam, zielgerichtet sein will, sondern sich bei dieser intendierten Wirksamkeit die Einschränkung auferlegt, seine Bürger an der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit nicht zu hindern (1963:108). Wenn also das Bild originell ist (ohne offenkundig originell sein zu wollen), so sichert es sich als einem Element der Form den Schein der Freiheit und trägt somit zur Ästhetizität des Ganzen bei. Daß ich für den ästhetischen Ansatz Schillers und Hegels (das objektiv Ästhetische sei scheinbare Freiheit oder Beisichsein in der Sinnlichkeit) implizite Allgemeingültigkeit beanspruche (ohne allerdings ihre idealistischen Voraussetzungen mitzusetzen), mag historistisch eingestellte Leser befremden. Einige Klarstellungen sind daher unumgänglich. Es gilt, in diesem Zusammenhang dreierlei getrennt ins Auge zu fassen: die Historizität 1. der Kunst, 2. der künstlerischen Absicht, 3. der Kunsttheorie. Daß

Kritisches zum informationstheoretisdien Ansatz Kunst - trotz ihrem geschiditlidi-kulturellen Wandel - eine ihr eigene Identität bewahrt, davon zeugen m. E. (a) unsere Ergriffenheit angesichts ihrer (nach eventuell notwendiger „Angewöhnung") - unabhängig von Ort und Zeit; (b) die Intention der meisten Kunsttheoretiker und Ästhetiker, die Kunst als solche zu erfassen (auch die in dieser Arbeit untersuchten, bereits in einem historistisdien Zeitalter unternommenen Versuche, das Literarische zu bestimmen, zielen auf das bleibende, ahistorische Wesen der Literatur, wobei „ahistorisch" nicht ,zeitlos' bedeutet); (c) der zuweilen nachprüfbare Erfolg kunsttheoretisdier Analysen, an konkreten Kunstwerken verschiedenster „Raumzeitpunkte" manches Allgemeine aufzuweisen. Aus diesen Gründen kann, so scheint es mir, die Allgemeingültigkeit kunsttheoretischer Aussagen zumindest mit dem Argument nicht in Zweifel gezogen werden, der intendierte Gegenstand verfüge überhaupt nicht um ein bleibendes Wesen. Was nun den zweiten Punkt, die Historizität der jeweiligen künstlerischen Absichten oder vielleicht besser: des jeweiligen künstlerischen Selbstverständnisses betrifft, so ist diese meiner Meinung nach unbestreitbar, aber irrelevant. Da große Künstler selten zugleich große Denker sind, haben ihre Meinungen über das, was sie eigentlich hervorbringen, meistens nur geschichtliche, nicht aber philosophische Bedeutung. Der Literaturtheoretiker hat es auf das objektive, vom jeweiligen Dafürhalten des Künstlers unabhängige Wesen der Literatur abzusehen (was freilich die Bereitschaft nicht ausschließt, aus der Ars poetica großer Dichter zu lernen). In ähnlicher Weise kann etwa religiöse Kunst - völlig legitim - objektiv als Kunst betrachtet werden: die allgemein angenommene bloß religiöse Intention ihrer Hervorbringer berührt ihre ansichseiende Ästhetizität nicht im geringsten. (Es läßt sich im übrigen mit empirischen Mitteln unmöglich ausschließen, daß in sie wie auch etwa in mimetisdi-magische Kunsterscheinungen von der Art steinzeitlicher Felsenbilder oder ritueller Tänze nicht auch ästhetische Momente eingingen, sowohl was die Gestaltung als auch was die Aufnahme betraf.) Zuletzt zur Historizität kunsttheoretisdier Ansichten, zum Kernpunkt möglicher historistischer Kritik. Diese Art von Historizität zu leugnen wäre Verblendung; die Frage ist bloß: Schließt historische Bedingtheit übergeschichtliche Geltung aus? Kann es nicht prinzipiell einen historischen Ort geben, von dem aus (aus welchen Gründen auch immer) ein direkterer Zugang zum Wesen einer Sache gewonnen werden kann als von anderen, wobei sich selbstverständlich im nachhinein doch manches als standpunktbedingt herausstellen mag? Doch die Stellung, die in der vorliegenden Arbeit bezogen wird, muß nicht einmal mit der Entscheidung dieser Frage stehen oder fallen. Denn es gibt - wie ich in 4.3.1.3.2. zu zeigen versuchen werde - einen Konsens großer Kunsttheoretiker in bezug auf das Wesentliche dessen, was von Schiller und Hegel ausgestaltet wurde. Ein Beharren gewisser gedanklicher Motive durch die Jahrtausende macht diese wahrheitsverdächtig - gerade wegen der unbestreitbaren diversifizierenden Tendenz der verschiedenen geschichtlichen Orte, welche jedoch - wie es scheint - in diesem Fall im wesentlichen machtlos blieb. Womit könnte dieses hartnäckige Bestehen erklärt werden, wenn nicht mit dem „Einfluß" von Ansichseiendem, mit Wirklichkeitsbezug?

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Doch eigentliche (wiewohl stets nur relative) Gewißheit über die Gültigkeit dieses Ansatzes kann nur zweierlei verschaffen: zunächst konkrete Analysen, die möglichst viel von dem, was Kunstwerke als ästhetische Objekte konstituiert, im Lichte dieser Theorie zu begründen suchen; sodann die wissenschaftliche Diskussion, die sich an diese Begründungsversuche anschließt. Das logische Schema der hier gemeinten Begründungsweise findet der Leser in 5.2.3. Es soll solche Diskussionen zugleich provozieren und erleichtern.

Innovation kann — wie oben bereits angedeutet - nicht nur über künstlerische Bilder, sondern auch über die Ermöglichung integraler Schau Mittel zum ästhetischen Zweck werden. Laut Heinrich Barth steckt bereits in der Kantschen Doktrin vom freien Spiel der Erkenntnisvermögen, von der Übereinstimmung von Verstand und Einbildungskraft, welche für das Entstehen des Ästhetischen unerläßlich sein soll, der Gedanke, „daß in der ästhetischen Erfahrung . . . der Begriff vor der Anschauung nicht im Vorsprung ist, in dem Sinne, daß die Anschauung von dem ihr vorgegebenen Begriffe ihr Gepräge empfangen würde" (Barth 1959: 478). Gegenüber der praktischen und theoretischen Haltung, in der die „reine" Erscheinung „durch Vorgreifen des Begriffes gestört oder gebrochen wird" (indem wir etwa im Vorbeigehen auf der Straße nur einen Baum und nicht diesen Baum wahrnehmen; uns in der Naturkunde beispielsweise für den Baum oder diese Art von Baum, aber wiederum nicht für diesen Baum in der Einmaligkeit seiner Erscheinung interessieren), läßt sich ästhetische Erfahrung „Erscheinung in ihrer Integrität erscheinen" (Barth 1956: 74, 73). Dieses „Gewährenlassen der Gegenstände" (Hegel 1955: 149) ermöglicht also eine integrale Schau, die wenn auch nicht das Wesen des Ästhetischen ausmachen kann, wie von einigen Forschern behauptet, so doch als eine notwendige Voraussetzung seiner Entstehung anzusprechen ist. (Siehe dazu Horn 1969a: 80-83). Daß nun eine solche integrale, ungekürzte Erscheinung überhaupt möglich wird, liegt, erstens, zweifelsohne am Vorher der Kunstbegegnung: Wenn ich mich anschicke, midi auf eine echte Art mit Kunst abzugeben, so schließe ich mich von vornherein auf für das Anschauliche, das mir da dargeboten werden soll: ich will eben nicht einen Baum sehen, einen Menschen oder eine bestimmte Art von Menschen erleben, das Anschauliche also unentwegt durch

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die Brille des Begriffes betrachten, verarmt, abstrakt, ohne Fülle des Sinnlichen, sondern etwas in seiner unverwechselbaren Einmaligkeit, in einer Vollständigkeit, der nur von der ästhetischen Zielsetzung (der Inhaltsvermittlung und der inhaltsunabhängigen formalen Gestaltung) her Grenzen gesetzt sind. Ob ich also ästhetisch adäquat (d. h. nicht unanschaulich, aber auch nicht begrifflos) erleben werde, hängt mit von der Weise ab, wie ich an das Kunstwerk herantrete. Zweitens — und damit kommen wir erst zu dem, was in unserem Zusammenhang interessiert — wird die ästhetische Haltung auch vom Kunstwerk selbst induziert. Wie oft zwingt uns doch förmlich eine flüchtig gehörte musikalische Phrase, ein müßig angelesenes Gedicht dazu, aus unserer praktischen oder theoretischen Einstellung herauszutreten und uns für das Ganze des uns Begegnenden zugänglich zu madien. Was ist dabei geschehen? Wohl nichts anderes, als daß Neuartiges, Innovierendes uns aufhorchen, innehalten ließ: eine Unordnung bot sich uns dar, die das Merkwürdige an sich hatte, zugleich ihr Gegenteil, Ordnung (und zwar beglückende Ordnung) zu verheißen, wenn wir nur bei ihr verweilen, wenn wir bereit sind, sie in ihrer Totalität in uns aufzunehmen. Auf diese Art ist Innovation mitverantwortlich dafür, daß ästhetische Haltung entsteht (und sich alsbald nicht wieder verliert!), wodurch sie indirekt mit dazu beiträgt, daß Ästhetisches überhaupt zustande kommt. All diese Erörterungen haben dazu gedient, gleichsam e contrario die Oberflächlichkeit des informationstheoretischen Ansatzes augenfällig zu machen, insofern er nämlich den Sinn von Innovation allenfalls in der Aufrechterhaltung des Interesses erblickt. Unsere Hinweise (die sich allerdings oft auf Versicherungen beschränken mußten) wollten demgegenüber zeigen, daß wenn Innovation von ihrem Sinn her begründet werden soll, dies ohne ästhetisch-metaphysische Begrifflichkeit nicht zuwege gebracht werden kann. 1.3.3. Innovation und Wert Weiter oben (1.2.2.1.) war bereits davon die Rede, daß Birkhoff seine Formel zum Gradmesser des jeweiligen ästhetischen Wertes

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Das LKW als Nadiridit

erkor; eine Willkürlidikeit, die im Folgenden von gewissen Informationstheoretikern abgeschwächt werden sollte: Gunzenhäuser spricht vorsichtigerweise nur vom „Maß ästhetischer Information" und Maser gibt - wie wir gesehen haben - das axiologische Versagen der Birkhoffschen Formel offen zu. Trotz der somit eingestandenen Unmöglichkeit, den ästhetischen Wert (wenigstens mit Hilfe der Birkhoffschen Formel) mathematisierend abzuleiten, unternimmt Franke den Versuch, Wert und Innovation in eine (der Birkhoffschen Einschätzung der Innovation allerdings entgegengesetzte) mathematische Relation zu bringen, womit zugleich das Problem der objektiven ästhetischen Bewertung angeblich gelöst sei: „Durch die Messung der vermittelten Information . . . ist es möglich, subjektive Urteile zu vermeiden" (1974: 146). Um solchen exaktheitsgläubigen und die Komplexität des Ästhetischen verkennenden Optimismus zu entkräften, sollen im weiteren einige Argumente angeführt werden, die dafür spredien, daß - bei aller Anerkennung der ästhetischen Bedeutung der Innovation — davon keine Rede sein kann, daß der Wert eines Kunstwerks allein Funktion seiner Innovativität wäre. Wenn zunächst unter „Wert" bloß subjektiver, auf mich bezogener Wert verstanden wird, so kann man folgendem Gedankengang Ecos wohl zustimmen: „Es i s t . . . klar, daß die Informationstheorie eine Quantität und nicht eine Qualität mißt. Die Quantität der Information bezieht sich nur auf die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen: davon verschieden ist der Wert der Information, der von unserem persönlichen Interesse für sie abhängt." Es ist „die interpretative Entscheidung des Empfängers", die „den effektiven Wert der möglichen Information konstituiert" (1973:132). An anderer Stelle vergleicht Eco moderne serielle Kompositionen etwa mit Mozartscher Musik und kommt dabei zum Schluß, daß die hohe Innovativität der ersteren in bezug auf das tonale System nichts über das ästhetische Resultat aussagt: „tausend schiefe Konstellationen vom Zwang des tonalen Systems befreiter Töne sagen mir weniger (informieren mich weniger, bereichern mich weniger) als Eine kleine Nachtmusik (ebd. 126 f.). Auf den ersten Blick könnte man

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meinen, dies sei eine Konkretisierung der obigen Behauptung: mein persönliches Interesse ist nun einmal an Mozarts Werk größer als an gewissen seriellen Kompositionen, daher - trotz erhöhter Innovativität - der für mich höhere Wert. Doch (und trotz der Verwendung der ersten Person Einzahl) kann man im letzten Zitat einen mehr objektivistischen Ton vernehmen: wie wenn Eco der Meinung wäre, der Kleinen Nachtmusik könne - unabhängig von seinem persönlichen Geschmack - objektiv mehr Wert zukommen als anderen Werken, die innovativer sind. Die philologische Richtigkeit dieser Annahme Eco betreffend ist von unserem Gegenstand her natürlich irrelevant; was Wichtigkeit hat, ist die (vielleicht auch von ihm, auf jeden Fall aber von mir) anvisierte Möglichkeit, daß gleich hohes Innovationsniveau mit unterschiedlich hohem (objektiven) ästhetischen Wert einhergeht und umgekehrt, d. h. die Annahme, daß hochkonzentrierte Innovation zwar eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung eines wertvollen Kunstwerkes sei, daß also nur im (unmöglichen) Idealfall des ceteris paribus, der absoluten sonstigen Gleichheit, der ästhetische Wert dem Konzentrationsgrad der Innovation proportional sei. Eben weil hochkonzentrierte Innovation als ein Wesensmerkma.1 des LKW anzusehen ist, hat sie im soeben eingeschränkten Sinn ohne Zweifel axiologische Bedeutung; weil sie aber nur ein Wesensmerkmal ist, kann der Wert eines LKW unmöglich von ihr allein abhängig gemacht werden. Diese Unmöglichkeit läßt sich durch folgende Überlegungen plausibel machen: Erstens werden wir in 4.1.1. dartun, daß Innovation in sich, ohne Prinzip, ohne Gesetzmäßigkeit höchstens zufällig zur Kunst führt. Der Vorsprung Mozarts ließe sich folglich zum Teil dadurch erklären, daß bei ihm eine Geordnetheit herrscht, deren die fraglichen seriellen Werke entbehren und die deren erhöhte Innovativität mehr als aufwiegt. Diese Komplizierung läßt sich allerdings noch mit Frankes These vereinbaren, denn auch für ihn ist die Innovation des Kunstwerks nicht „rein", sondern durch Redundanz modifiziert: das optimale „Wahrnehmungsangebot", das Kunstwerke sein sollen

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Das LKW als Nachricht

(1974:184), ist durch ein von ihm näher nicht bestimmtes Verhältnis beider gekennzeichnet, wobei Innovation offenbar das Ausschlaggebende ist. Doch auch ihm gegenüber ließe sich geltend machen, daß gewisse (inhaltliche) Ordnungen wohl nicht mathematisierbar sind, so z. B. die Ordnung, die von der Persönlichkeitsstruktur einer literarischen Gestalt gestiftet wird. Auch wenn zahlenmäßig angegeben werden könnte, wie innovativ-überraschend es ist, wenn etwa ein sensibler Intellektueller, als den wir Hamlet kennengelernt haben, den horchenden Polonius ohne Zaudern und Skrupeln ersticht - wie könnte doch eine allenfalls zu findende tiefere, differenziertere Ordnung, die diesen Widerspruch als bloß scheinbar entlarvt, mathematisiert werden, so daß am Schluß ein Wert für den eventuellen Informationsüberhang herausspränge? (Zu den scheinbaren Widersprüchen literarischer Gestalten und deren synthetisierender Auflösung siehe übrigens Lotman 1972b: 361 f.)

Gesetzt aber, daß die Innovation samt der sie komplizierenden Redundanz in jedem Fall genau zu berechnen wäre: das Ergebnis wäre in sich kein Maß des ästhetischen Wertes. Es gilt nämlich, zweitens, folgendes zu bedenken. Es trifft zwar zu, daß Innovation zur Entstehung von ästhetischem Wert führen kann (indem sie die Form auf den Inhalt hin transparent und scheinbar frei macht), doch es gibt auch ästhetischen Wert ohne Innovation. Gewisse Rhythmen bleiben genußvoll, lange nachdem ihr Prinzip erkannt ist, überhaupt scheint sich der Genuß am Formalästhetischen, etwa an rhythmisierter Rede, an gereimten Versen, nicht zu verlieren, wenn nur für Mannigfaltigkeit, also in der Tat: ständige Innovation innerhalb der Einheitlichkeit gesorgt wird. Dieses Einheitliche ist aber gerade die bereits (möglicherweise: längstens) bekannte Form: das Phänomen des Metrums und des Reims überhaupt, sodann das besondere Versmaß oder Reimschema, das verwendet wird; dies sooft und solange es die (zugegeben: immer wechselnde) Materie organisiert - hört nicht auf, ästhetischen Genuß zu bereiten, ohne notwendig in sich innovierend zu sein. Das Geformtsein selber erscheint also als eine nie versiegende Quelle ästhetischen Vergnügens: mit unendlich variierenden Worten sagt es immer dasselbe, und dieses Eine beglückt. Aber auch Sprache als solche muß nicht innovierend sein, um evokativ zu wirken. Unter den Wendungen, den verschiedenen

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Typen des Satzbaus, ja unter den einzelnen Wörtern einer Sprache gibt es anscheinend ausdrucksstärkere und ausdrucksschwächere, wobei das Alter, das Abgenütztsein etwa eines Worts keine Rolle zu spielen scheint. Es gibt möglicherweise Stellen besonders großer Affinität zwischen sprachlichem Ausdruck und menschlicher Innerlichkeit, die aufzufinden und zu verdichten mit ein Privileg und Zeichen des großen Dichters ist (wie ja auch in der Musik gewisse Phrasen, Sätze oder ganze Werke oberflächlich, nichtssagend, andere wiederum wie direkte - wenn auch geformte - Umsetzungen innerer Dynamismen sind). Gerade weil sie in die gemeinsamen und wohl bleibenden Tiefen des menschlichen Seins hinabreichen, bewahren solche Formen einen lebenden Nerv in sich, selbst wenn einzelne ihrer sprachlichen Elemente im Laufe der Jahrhunderte bereits abgestorben sind. In diesem Sinne heißt es von Shakespeare, er habe „einen Instinkt für das Herz oder Zentrum der Sprache" besessen: „Seine Worte trafen den rechten Fleck" (Willcock: 135).

Daß der ästhetische Wert nicht nur im Bereich des Formalen, sondern auch in dem des Form/Inhalt-Verhältnisses, also in bezug auf das Kunstwerk ganz allgemein, nicht nur eine Funktion der Neuartigkeit ist, zeigt sich vielleicht am eindrücklichsten daran, daß uns Werke, die wir durch und durch kennen, immer wieder gefallen können. Natürlich geht es bei erneuten Begegnungen mit dem gleichen Werk oft um Vertiefungen, um Reifung unsererseits, um das Spiel der bereits berührten Mehrdeutigkeit (hierzu siehe die besonders treffenden Ausführungen Ecos in 1973: 80-85), also streng genommen nicht um eine Begegnung mit Gleichem, so daß der immer neue Genuß - wenigstens indirekt — doch Innovationen zu verdanken ist. Doch es gibt - zumindest bei demselben Menschen in bezug auf dasselbe Werk - ein Nicht-weiter-eindringen-Können, ein Nichts-mehr-bewußt-machen-Können: subjektiv vollständige Kenntnis, keine Überraschung mehr. Wenn die informationstheoretisch orientierte Kunsttheorie recht hätte, wenn Kunst in der Tat „wie Butter und Käse" konsumiert, „verbraucht" würde (Pfeiffer: 187), so könnte es in diesem Fall keinen Genuß mehr geben. Freilich

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Das LKW als Nachricht

kann jedes Kunstwerk zu Tode genossen werden, so daß ihm für eine Weile kein Vergnügen mehr abzugewinnen ist; dies aber nicht unbedingt deswegen, weil es für den Menschen, der wir in dieser Lebensphase sind, nichts mehr zu bieten vermag, sondern häufig genug nur, weil wir nervenphysiologisch übersättigt sind. Wenn wir uns wieder „erholt" haben und durchaus in der gleichen Verfassung uns dem Werk erneut zuwenden, so finden wir es freilich relativ neu den Erlebnissen unserer „Enthaltsamkeitsphase" gegenüber, aber seine Form und sein Inhalt müssen sich nicht schärfer abheben von der Totalität der uns bekannten Werke, sie müssen uns nicht mehr überraschen als vor der eingelegten „Pause", und trotzdem kann der Genuß gleich groß sein wie vor unserer „Ermüdung". „A thing of beauty is a joy for ever."

2. Das LKW als Zeichen 2.1. Information, Kommunikation, Zeichen Es ist bereits in 1.1. darauf hingewiesen worden, daß der Begriff der Kommunikation dem der Information untergeordnet ist: wo auch immer Innovation und Bedeutung dem Menschen vermittelt werden, sprechen wir von Information; wo die Quelle der Information selber ein Mensch ist, wo es also einen Sender gibt und die Information nicht der physikalischen Welt entnommen wird, haben wir es mit Kommunikation zu tun (Jakobson 1970:103; 1963: 95). Moles spricht von der poetischen Kommunikationstheorie als besonderem Anwendungsgebiet der Informationstheorie (1971: 233).

Das, was Information vermittelt und damit auch Kommunikation ermöglicht, ist allemal Zeichen, wobei Zeichen „alles ist, was zum Zeichen erklärt wird" (Bense 1969: 10), d. h. zum Vermittler von Information. Benses Auffassung, wonach Zeichen von Mensdien gesetzt werden, schließt die Existenz natürlicher Zeidien nicht aus: auch bei Krankheitssymptomen etwa braucht es einen Menschen, der sie (mit mehr oder weniger Berechtigung) zu einer bestimmten Krankheit in Beziehung setzt, sie also zum Zeichen erklärt; Zeichen an sich, ohne interpretierenden, beziehenden Menschen gibt es nicht. Was es objektiv gibt, sind allenfalls Ursachen und Wirkungen. Diese Fähigkeit, Zeichen zu setzen und sie - vornehmlich als Mittel der Kommunikation - auch einzusetzen, wird übrigens unter dem Namen „symbolische Funktion" von den Anthropologen immer mehr als das eigentliche Kennzeichnen des Menschen, als Hauptanthropinon erkannt (Ruwet: 7).

Da Information und Zeichen einander eindeutig zugeordnet sind (ohne Zeichen keine Information, ohne Information kein Zeichen), war im Grunde bereits im vorhergehenden Kapitel vom LKW als Zeichen oder Zeichenkonglomerat die Rede; nur stand dort die innovationvermittelnde Funktion der Kunstzeichen im Mittelpunkt des Interesses und nicht ihre bedeutungvermittelnde Funktion; auch

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Das L K W als Zeichen

war dort eher vom L K W als Ganzem denn von den Charakteristika der einzelnen literarischen Zeichen die Rede. Um auf diese einzugehen, ist es indessen unumgänglich, gewisse Begriffe und Erkenntnisse der Semiotik (oder Semiologie, wie die Zeichentheorie auch genannt wird) kurz zu umreißen.

2.2. Uber Zeichen im allgemeinen Unter den Zeichensystemen, die der menschlichen Kommunikation dienen, hat die Sprache eine primäre Stellung inne. Oberflächlich besehen scheint dies eine triviale Behauptung zu sein, doch belehrt einen das „Panorama der semiotischen Kultur" (Eco), daß etwa durch Körperstellungen, Gehweise, zwischenmenschliche Distanz, Berührung (von Gestik und Mimik ganz zu schweigen) viel mehr „mitgeteilt" wird, als uns gemeinhin bewußt ist (Eco 1972: 19-27). Doch auch diese semiotische Vielfalt entkräftet die These von der Dominanz der Sprache nicht. Denn einerseits sind viele (laut Jakobson alle) nicht-sprachlichen Kommunikationssysteme (in unterschiedlichem Maße, aber gleichwohl) sprachabhängig, und zwar in zweifachem Sinne. Teils setzen sie die Erwerbung von Sprache voraus (Mörse-Zeichen), teils wird ihre Verwendung von aktuellem oder virtuellem Sprechen begleitet, wie etwa bei der Gestensprache über größere Entfernungen hin (Jakobson 1970: 95). Andererseits zeigt sich der Primat der Sprache darin, daß (nach Lotman) alle Zeichensysteme „nach dem Typ der Sprache gebaut" sind (1972b: 23), d. h. sie besitzen „eine bestimmte Menge von Elementen und ihren Verknüpfungsregeln..., die die Übermittlung gewisser Mitteilungen ermöglichen" (ebd. 38) oder - was auf dasselbe hinausläuft - sie sind Kommunikationssysteme, die sich „geordneter Zeidien" bedienen (ebd. 21). Mit den Stichworten „Verknüpfungsregeln" (oder „Ordnung"), „Übermittlung" (oder „Kommunikation") und „Mitteilung" wird im Grunde auf die drei Dimensionen des Zeichenprozesses oder der Semiose angespielt. Unter Zeichenprozeß versteht Charles W. Morris

Über Zeidien im allgemeinen

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„ein mittelbar-Notiz-Nehmen-von" (21). Wovon Notiz genommen wird, ist das Bezeichnete oder die Bedeutung (wobei unterschieden werden muß zwischen der jedem Zeichen notwendig zugeordneten begrifflichen Bedeutung und der ihm möglicherweise zugeordneten realen Bedeutung, also zwischen dem Begriff ,Apfel' und diesem realen Apfel - eine Unterscheidung, die etwa im Hinblick auf das Wort „Kentaur" unmittelbar einleuchtet); was vermittelt, ist das Bezeichnende (häufig — vereinfachend - das „Zeidien"), und schließlich: derjenige, der Notiz nimmt, ist der „Interpret". Morris verwendet andere, z. T. sich mit anderen Terminologien kreuzende, z. T. untereinander schwer auseinanderzuhaltende Bezeichnungen, so z. B. „Designat" für die begriffliche Bedeutung und „Denotat" für die reale (ebd. 21 f.).

Die drei Dimensionen der Semiose, von denen soeben die Rede war, lassen sich nun mit Hilfe der drei „Akteure" des Zeichenprozesses folgendermaßen bestimmen: Die Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnendem, d. h. diejenige der einzelnen Zeichen untereinander bildet die syntaktische Dimension (hierauf spielten bei Lotman die „Verknüpfungsregeln" an); die Beziehung zwischen Interpret einerseits und Bezeichnendem/Bezeichnetem andererseits (die Einheit dieser letzteren sollte recht eigentlich „Zeichen" genannt werden) bildet die pragmatische Dimension (man denke ans Stichwort „Kommunikation", die den Zeichenprozeß in der Praxis, im Bereich menschlicher Handlungen verankert), und endlich die Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem (jenen zwei Aspekten des einen Zeichens, die sich nach Saussure zueinander verhalten wie die beiden Seiten des gleichen Blattes Papier [157]), diese auf der syntaktischen gleichsam senkrechte Beziehung bildet die semantische Dimension (Morris: 23-25). Außer „Zeichen" werden noch andere Wörter gebraucht, die - jedes auf seine und des Verwenders Weise - eine Beziehung meinen zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem, so z. B. „Signal", „Index", „Ikon", „Symbol", „Allegorie". Eine ausgezeichnete Zusammenstellung dieser Termini mit den ihnen von verschiedenen Autoren zugeschriebenen Bedeutungen findet der Leser in Barthes 1964a:103-105.

Die semantische oder Bedeutungs-Dimension eines Zeichens umfaßt indessen nicht nur das vom Bezeichnenden direkt und innerhalb

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Das LKW als Zeichen

einer bestimmten Kultur allgemeingültig Bezeichnete, d. h. das, was von der syntaktischen Situation (dem „Kontext") und der pragmatischen Situation (den kommunizierenden Personen) unabhängig sich selber gleich bleibt: also die bisher eingeführte begrifflichideelle und reale Bedeutung. Neben diesem sog. Denotat oder Denotation haben die meisten (möglicherweise alle) Zeichen auch eine „konnotative" Bedeutung. Auf die Sprache bezogen wäre Konnotation „die Bedeutung, die neben der Denotation beim Hören oder Sprechen des Wortes mit anklingt. Die konnotative Bedeutung von ,Mond' wäre also etwa: Nacht, kühl, Stille, romantisch, Liebe ..." (Abraham: 226). Offenkundig kann die Konnotation eines Zeichens (vorübergehend) für eine ganze Kultur Gültigkeit haben (wohl aber nicht für jeden Kontext); es gibt aber Konnotationen, die nur für bestimmte Gruppen oder einzelne Menschen „da" sind. Die Assoziationen nämlich, die mit einem Zeichen verbunden sind und die wenn man nur das Wort „Assoziation" allgemein genug nimmt und nicht auf evozierte „Ideen" oder „Bilder" beschränkt - psychologisch gesprochen mit den Konnotationen zusammenfallen: diese Assoziationen sind je nach geschichtlich-biographischer Erfahrung von Gruppe zu Gruppe und von Mensch zu Mensch verschieden.

2.3. Die Besonderheiten des Kunstwerks als Zeichen(konglomerat) Daß das Kunstwerk eine Art von Zeichen ist oder aus bestimmt gearteten Zeichen besteht, daß also die Kunst „semiotisch" ist (Lotman 1972a: 21), ergibt sich unmittelbar, sobald zugestanden wird, daß das Kunstwerk eine Art von Nachricht darstellt, die nicht nur Innovation, sondern auch Bedeutung transportiert, denn Bedeutung kann — abgesehen von mystischen und parapsychologischen Möglichkeiten - nur durch Zeichen vermittelt werden. Daß es sinnvoll ist, das Kunstwerk als Träger von Bedeutung, als Ausdruck von bestimmten Inhalten anzusehen, darüber legt - außer der subjektivintuitiven Erfahrung - die Gesamtheit der Kunstwissenschaften ein beredtes Zeugnis ab. Es leuchtet aber nicht mit der gleichen Un-

Die Besonderheiten des Kunstwerks als Zeichen(konglomerat)

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mittelbarkeit ein, was das Kunstwerk und näher das literarische Kunstwerk von den anderen Zeichenarten abhebt. Was die erstere Frage, die semiotische Besonderheit des Kunstwerks als solchen betrifft, hat die formalistische Theorie drei Antworten bereit. 2.3.1. Das Kunstwerk als Nur-Zeidien Erstens wird behauptet, daß das Kunstwerk nur aus Zeichen bestehe. „Alles in einem Kunstwerk", schreibt Mukarovsky, „erscheint . . . als Zeichen und Bedeutung" (1967: 23 f.). „Alles" impliziert natürlich nicht nur alle Teile, sondern auch das Kunstwerk als Einheit, als Ganzes; folgerichtig steht also bei Lotman, daß in der Kunst „die ganze modellierende Struktur des Werkes", der „Text" selber zum Zeichen werde. (1972a: 48. Zu Lotmans „Text"-Begriff siehe ebd. 170f., 173 sowie detailliert 1972b: 81-91,157.) Daß nicht nur Einzelteile eines Kunstwerks „für etwas anderes stehen", sondern jedes Kunstwerk als Ganzes, dies ist wohl kunstwissenschaftliches Gemeingut; anders steht es jedoch mit der Absolutheit, mit welcher dem Kunstwerk die Kategorie der Zeichenhaftigkeit zugeordnet wird. Es fragt sich nämlich, ob das Formale, insofern es keine Bedeutung trägt, aber gleichwohl wirksam ist, als Zeichen zu betrachten sei. Ist jegliche Art von Wirkung als Zeichen von Zeichenhaftigkeit zu werten? Natürlich wirkt jedes Zeichen, indem es außer sich selbst auch von etwas anderem „Notiz nehmen" läßt, etwas anderes als sich selbst in uns evoziert - aber umgekehrt? Wirken nur Zeichen? Intuitiv neigt man zum Nein; die Abgrenzung zwischen wirkenden Zeichen und wirkenden Nicht-Zeichen ist indessen schwer auf den Begriff zu bringen. Gerade die Begrifflichkeit, die Verbalisierbarkeit taugt als Kriterium offenbar nicht: gewisse Zeichen sind begrifflich nicht auszuschöpfen („Symbole"!), trotzdem wirken sie nicht nur, sondern sind wirkende Zeichen. Läge es am Angemutet wer den? Die (hypothetisch angenommenen) wirkenden Nicht-Zeichen (z. B. ein bestimmtes Metrum, insofern es als nicht be-deutend erlebt wird) muten uns auf jeden Fall so-oder-anders an, aber tun das nicht auch die meisten (vielleicht alle) Zeichen? Doch

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Das LKW als Zeichen

das Unterscheidende ist vermutlich in dieser Gegend zu suchen. Denn: was mutet uns doch an einem Zeichen an? Letztlich das Hinzugemeinte, das Hinzuassoziierte, das Bezeichnete — die Bedeutung. Diese Anmutungsqualität wird auf das Bezeichnende bloß übertragen: das Unlustvolle etwa am Verkehrszeichen „Achtung, Steinschlag!" wird nicht von der Tafel und deren Ideogramm verursacht, sondern vom psychisch meistens nicht repräsentierten, wohl aber zum Bezeichnenden hinzugemeinten Phänomen „Steinschlag" und dessen Konsequenzen - von der Bedeutung also. Gerade diese Zweiteilung und Übertragung kann indessen beim Formalen fehlen: es ist nicht ein Bezeichnendes und ein Bezeichnetes da, von denen mich das letztere so-und-so anmutet, weswegen auch das Bezeichnende eine bestimmte Anmutungsqualität bekommt, sondern es ist nur Einfaches da, ein bestimmter Duktus, eine bestimmte Linienführung oder Verteilung, und dies in sich mutet mich auf je eigene Art an. Das heißt also, daß man wohl unterscheiden muß im und am Gegebenen zwischen a) dem sinnlich-sinnhaften Element, b) dem geistig-seelischen Element, das als Objektives erlebt wird, und c) dem eigenen Angemutetsein, der emotional-stimmungsmäßigen Wirkung, die von a) und/oder b) auf einen ausgeübt wird. Wird sie von a) und b) ausgeübt, so haben wir es mit Zeichen zu tun; wird es nur von a) ausgeübt, so handelt es sich um wirkende Nicht-Zeichen, zu denen auf jeden Fall auch das Formale gehört; nur kann dieses auch und zugleich wirkendes Zeichen sein. Diese Überlegungen lassen sich ins Grundsätzliche erweitern. Ist alles, was »benannt« und insofern in die Kultur aufgenommen ist, dadurch bereits Zeichen, und zwar Zeichen seiner Funktion, seines möglichen Gebrauchs, seines „Wozu" (Eco 1972: 32-35)? Es ist unbestreitbar, daß das Wozu, wie übrigens auch das Was, zum jeweiligen Gegenstand, zum reell Gegebenen, sobald dieses als „Soetwas" (Barth) erkannt ist, immer hinzugemeint wird: Das, was Husserl „Sinn" nennt und was man mit „gesamthaft Gemeintem" umschreiben kann, enthält außer dem reell-aktuell Gegebenen immer auch ideelle Momente, die bloß implizite oder mit-gemeint, hinzugemeint sind (Husserl: 19 f., 24, 84, 118, 126 et passim). Hinzugemeintes ist indessen nicht notwendig Konnotiertes, denn dieses setzt Denotation voraus und diese wiederum ein „Stehen-für", ein „mittelbarNotiz-Nehmen-von". Es ist nun ohne Zweifel wahr, daß beim Prozeß des Erkennens diese oder jene sinnliche Eigentümlichkeit für uns Zeichen sein kann dafür, daß der betreffende Gegenstand zu dieser oder jener Begriffsklasse gehört,

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„so etwas" ist, also Zeichen seiner theoretisch relevanten Washeit und seiner praktisdi relevanten Mittelhaftigkeit, „Wozu-heit". Aber ein erkannter Gegenstand als Ganzes bezeichnet nicht seine Washeit oder Funktion, denn Bezeichnetes und Bezeichnendes sind versdiieden, wogegen Gegenstand und Washeit oder Funktion Eines (oder genauer: als Eines vermeint) sind. Etwas ist ein See oder „etwas-zum-Baden", dagegen ist das Symptom die Krankheit nicht: das Bezeichnende ist nicht sein Bezeichnetes.

Folglich geht es nicht an, von Wirkenwollen und effektiver Wirkung, die ja keinem Kunstwerk abgesprochen werden können, kurzerhand auf Kommunikativität, d. h. Zeichenhaftigkeit zu schließen, wie dies etwa von Siegfried J. Schmidt getan wird, der aus der Tatsache, daß dichterische Texte „eine Wirkung auf den Rezipienten erzielen" möchten, die Folgerung zieht, daß sie „für die gesamtgesellschaftliche Kommunikation geschrieben" werden (1972: 49). Natürlich ist das Kunstwerk auch Träger von Bedeutung, daher für die Kommunikation gesdiaffen, daher Zeichen; aber es will auch noch anders, auch direkt, nicht nur-assoziativ wirken. Es ist nicht Nur-Zeichen. Diese Behauptung gehört zu den nur phänomenal-„innerlich" verifizierbaren Aussagen. Denn abgesehen davon, daß es empirisch-„äußerlich" nicht auszumachen ist, ob ein wirkendes Kunstelement Zeichen ist oder nicht („man sieht es ihm nicht an"), verbürgt auch das Gelingen der begrifflichen Abspaltung von so etwas wie wirkendem Nicht-Zeichen noch lange nicht, daß diesem ontisdi-objektive Existenz zukommt: aus Denken folgt nicht Sein. Einerseits ist aber begriffliche Unterscheidbarkeit ein notwendiger, wenn auch nicht hinreichender Grund zur Annahme eines realen Unterschiedes: alles real Unterschiedene ist auch begrifflich unterscheidbar. Andererseits kommt nunmehr jener innerlichen Entscheidung mehr Gewicht zu, welche über die Rechtmäßigkeit unserer Zweiteilung des künstlerisch Wirksamen in Zeichen und Nicht-Zeichen befinden soll: über An- und Abwesenheit „begriffener" Momente ist phänomenal verbindlicher zu urteilen als über einen diffus-gefühlsmäßigen Gesamteindruck. „Man weiß, was man in sich zu suchen hat".

2.3.2. Das Kunstzeichen als Relationales Die semiotisch-formalistisdie Identifizierung von Wirkendem mit Zeichen schließt natürlich nicht aus, daß es für die Formalisten auch Nicht-Zeidien gibt; nur sind dann solche Nicht-Zeichen zugleich auch Nicht-Wirkendes: sie bilden den „Hintergrund", vor welchem

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Zeichen wahrgenommen werden, welcher aber selbst nicht apperzipiert wird. Eine wichtige formalistische These besagt nun, daß es von dem jeweiligen Zusammenhang abhängt, ob ein Kunstelement Zeichen oder Nicht-Zeichen ist. „In einem beliebigen Zeichensystem ist die Relation des Zeichens zum Nicht-Zeichen (Hintergrund) eindeutig und festgelegt. Die Genauigkeit der Grenze, die das Zeichen vom Hintergrund trennt, ist der Beweis für Genauigkeit der Information, die Unbestimmtheit dieser Grenze aber (die Annäherung der Lärmstärke an die Stimmstärke, des farbigen Hintergrundes an die Farbe des Zeichens) ist eine Fehlerquelle" (Lotman 1972 a: 49). In der Kunst kann demgegenüber das gleiche Element, z. B. das Fehlen des Reimes, je nach „ästhetischer Erwartung", also Kunstwerk/ Rezipienten-Relation, Zeichen oder Nicht-Zeichen sein: für den Leser, der nichts von der Existenz des Reimes wüßte (der z. B. nur an der antiken Dichtung geschult wäre), würde ein solches Fehlen mit dem Hintergrund verschmelzen, also kein Zeichen sein; wird der Reim aber erwartet, so ist sein Fehlen „semantisch gesättigt": es konnotiert Einfachheit, „Nicht-Literaturhaftigkeit" usw. (ebd. 49 f.). Nicht nur Zeichenhaftigkeit und Nicht-Zeichenhaftigkeit sind von den gegebenen (im obigen Fall: pragmatischen) Relationen abhängig, sondern auch die jeweilige Bedeutung des als Zeichen wahrgenommenen Zeichens. „Objektiv miteinander identische Elemente können in den verschiedenen Strukturen absolut unterschiedliche Funktionen bekleiden" (Jakobson Sc Mukarovsky 1929: 31); so etwa das gleiche Wort je nach Kontext (d. h. syntaktischer Relation) verschiedene Bedeutungen annehmen und dadurch natürlich verschiedene Funktionen ausüben. Daß aber bei gegebener syntaktischer Relation gerade diese und keine andere Bedeutung mit dem Zeichen verbunden wird, wird nur dadurch ermöglicht, daß der Kontext den Rezipienten auf eine bestimmte Bedeutungssphäre einstellt, ihn eine bestimmte Art von Bedeutung erwarten läßt: syntaktische Abhängigkeit der Zeichenbedeutung impliziert also immer auch pragmatische Abhängigkeit. (Was sich allerdings nicht umkehren läßt, denn

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vom gegebenen Werk, von seiner Syntax her kann es völlig zufällig sein, was ein bestimmter Rezipient von ihr erwartet.) Daß die von der Syntax induzierte Erwartung des Rezipienten oft genug enttäuscht wird, wodurch auf jeden Fall innovative, häufig komische Effekte entstehen, kompliziert nur den Sachverhalt, ändert aber an der grundlegenden These nichts, wonach die Deutung des künstlerischen Zeichens immer eine Funktion von „Text", also syntaktischem Zusammenhang, und ästhetischer Erwartung ist (vgl. Lotman 1972a: 56).

Gerade weil pragmatische Relationen, d. h. hier: ästhetische Erwartungen, in die Interpretation eines jeden Kunstwerks notwendig eingehen und weil diese nicht durdi die jeweilige Syntax, auch nicht bloß durch Persönlich-Zufälliges, sondern durch allerlei (vom Künstler mit bedachte) geschichtliche, soziologische, kulturelle Einflüsse (und das heißt wiederum: Relationen) bedingt sind, wird es verständlich, wenn Lotman der Ansicht ist, das rezipierte, aktualisierte, für uns seiende Kunstwerk bestehe aus inner- und außertextlichen Beziehungen: „Die Wahrnehmung des Textes ist, losgelöst von dessen außertextlidiem Hintergrund, nicht möglidi" (1972a: 180 f.). Da dieser Hintergrund (im hier relevanten Sinn) nirgendwo anders als im Rezipienten ist und dessen Rezipieren (ihm zumeist unbewußt) mit beeinflußt, läßt sich das Obige auch dahingehend umformulieren, daß das Kunstwerk erst in der Rezeption „vollständig", ontisch abgerundet wird (was freilich gleichwohl nicht verbietet, vom ansichseienden Aspekt eines Kunstwerks zu reden). 2.3.3. Das Kunstzeichen als Nicht-Willkürliches Nach Lotman findet „die in der Sprache gängige Korrelation von Bezeichnetem und Bezeichnendem als willkürlich festgelegte Entsprechung keine Parallele in der Kunst" (1972 a: 50). Auf die Frage der Willkürlichkeit des sprachlichen Zeichens soll hier nicht eingegangen werden; wesentlich ist lediglich das Negative an Lotmans These: Das Kunstzeichen ist nicht willkürlich, der Mensch ist bei gegebenem Bezeichnetem (oder zu Bezeichnendem) in der Wahl des Bezeichnenden nicht frei, sondern durch ersteres gebunden. Dies versteht er in zweifachem Sinn.

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Das L K W als Zeichen

Einerseits meint er, daß das Kunstwerk als Zeichen (ja möglicherweise selbst das einzelne Kunstzeichen) durch Ähnlichkeit zwischen ihm selber und seinem Bezeichneten charakterisiert ist, d. h. durch Modellhaftigkeit: „Die Tatsache, daß das Zeichen in der Kunst gleichzeitig als Modell auftritt, als Analogon zum Objekt (zur objektiven Wirklichkeit, zum Gegenstand der Darstellung), . . . hebt die Frage nach der Willkürlichkeit der Relation von Bezeichnetem und Bezeichnendem auf" (ebd.). Was es genau mit dieser Modellhaftigkeit oder „Iconizität" des Kunstwerks auf sich hat, werden wir erst später (in 4.3.4.2.) zu erörtern haben; einstweilen genüge der Hinweis, daß es Lotman nicht um getreue Wiedergabe des von Zufälligkeiten durchwirkten Realen zu tun ist, sondern um eine Modellierung der „Konstruktion der Welt" (1972 b: 310). Andererseits ist das Kunstzeichen nach Lotman auch insofern nicht willkürlich (wiederum im Gegensatz zum sprachlichen Zeichen), als das Kunstwerk keinerlei relativ abstrakten Inhalt hat, der - je nach subjektiver Willkür - durch verschiedene Formen konkretisiert, ausgedrückt werden könnte. „Der Text ist Zeichen eines bestimmten Inhaltes, der in seiner Individualität mit der Individualität eines gegebenen Textes verbunden i s t . . . Der T e x t . . . wird für einen bestimmten Inhalt geschaffen, u n d . . . k a n n . . . durch nicht Adäquates aus der Ausdrucksebene ersetzt werden, ohne daß sich eine Veränderung der Inhaltsebene ergibt" (1972a: 173 f.). Daß es bei dem künstlerischen Zeichen gerade auf die Nuance ankommt (denn selbst abstrakte, schematisierte Kunstzeichen sind in ihrem Kontext unverwechselbar, individuell), daß also - „Sprachkenntnis" und Sensibilität vorausgesetzt - die kleinste, noch wahrnehmbare Änderung des Bezeichnenden das Bezeichnete, die Interpretation nicht mehr die gleiche bleiben läßt, dies scheint einzuleuchten; ob aber Lotman auch „in umgekehrter Richtung", also in der Inhalt-Form-Relation recht hat, ist bei weitem nicht so evident. Er behauptet nämlich nicht nur, daß andere Form im Rezipienten anderen Inhalt evozieren würde, sondern auch, daß dieser bestimmte Inhalt vom Künstler nur durch diese bestimmte Form hat vermittelt werden können: Ist einmal ein konkreter Inhalt gegeben (oder

Die Besonderheiten des Kunstwerks als Zeidien(konglomerat)

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vielmehr: konzipiert), so ist der Künstler nicht mehr frei, er muß diese konkrete Form wählen. Zweifel an dieser These der absoluten Gebundenheit des Künstlers durch den Inhalt erregt u. a. die Kunst der Interpretation: bei Musikern, Schauspielern usw. scheint in bezug auf das gleiche Werk in verschiedenen Formen verwirklichte und dennoch gleich hohe Inhaltsadäquatheit möglich zu sein. Dabei tut sich ein doppelter Widerspruch auf: erstens zwischen Verschiedenheit der Form und Gleichheit des Inhalts (der Inhalt scheint gleich und nichtgleich zu sein); zweitens zwisdien Inhalt/Form-Entsprechung im Rezeptions- und im Schaffensprozeß (im ersteren scheint zu dieser Form nur dieser Inhalt, im letzteren zu diesem Inhalt nicht nur diese Form zu gehören). Wie diese Widersprüche allenfalls gelöst werden können mit Hinweis auf die Unendlichkeit des Inhalts sowie auf den Unterschied zwisdien Füruns und Ansidi des Kunstwerks, kann nachgelesen werden in Horn 1969a: 64-78. Hier sollte die Problematik bloß angedeutet werden. Die Bedeutung des zuletzt genannten Unterschiedes sdieint übrigens Lotman selber erkannt zu haben (in einem gewissen Widerspruch zu seiner eigenen These über die eindeutige Zuordnung von Inhalt und Form); er schreibt nämlidi: „Der Dichter weiß, daß er auch anders hätte schreiben können, - für den Leser gibt es . . . nichts Zufälliges" (1972b: 50).

Die Annahme, daß die Individualität des Inhalts ihre genaue Entsprechung in der Individualität der Form findet (wodurch — wie wir sahen - das Kunstzeichen als nicht-willkürlich erscheint), hat eine zweifache theoretische Konsequenz. Zum einen wächst dadurch dem Studium der formalen Beziehungen, welche nach Lotman den „Text", d. h. das Bezeichnende am Kunstwerk ausmachen („Text" wird [in 1972 a: 180] als „System der innertextlichen Beziehungen" definiert), eine eminente Erkenntnisfunktion zu: „Das systemimmanente Studium einer Sprache ist. . . ein Weg (und zwar ein notwendiger) zum Inhalt dessen, was in dieser Sprache geschrieben ist" (1972 b: 58). Wollen wir das Bezeichnete in seiner vollen Konkretion erkennen, müssen wir zuerst das Bezeichnende erkannt haben. (Weiter oben, in 0.2.2.2., war bereits die Rede von dieser „Rechtfertigung" der Formanalyse seitens Lotmans; über das Literarische als Erkenntnisquelle wird 4.3.4. zu sprechen sein.) Zum anderen werden wir durch den Hinweis auf die Einmaligkeit und ein-eindeutige Zuordnung von Bezeichnetem und Bezeich-

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D a s LKW als Zeichen

nendem an das ästhetisch hochbedeutsame Problem der („vertikalen") Äquivalenz herangeführt, dem im weiteren ein gesonderter Abschnitt (4.3.1.2.2.) gewidmet werden soll. Aus den Ausführungen dieses Abschnitts dürfte explizit geworden sein, was in der Auffassung des Kunstwerks als Zeichen impliziert ist: daß die semiotische Betrachtungsweise - trotz ihrem Formalismus — nicht umhin kann, die Bedeutung der Bedeutung, die Signifikanz der significatio anzuerkennen, ist doch die raison d'etre jedes Zeichens, daß es etwas bedeutet. Somit überrascht nicht, wenn Jens Ihwe (379 Fn) bereits bei den russischen Formalisten Anzeichen dieser Folgerichtigkeit zu erkennen wähnt, und wenn bei Schmidt der folgende Satz zu lesen ist: „Das leitende Interesse einer allgemeinen Literaturwissenschaft richtet sich auf die Totalität der semantischen Dimensionen eines Textes" (1970: 53). Die semantische Dimension, man erinnert sidi, ist die der Bedeutung.

2.4. Die semiotischen Besonderheiten des LKW 2.4.1. Das Literarische als Konnotation Das oben (in 2.2.) umrissene Wesen der Konnotation läßt sich in Anlehnung an die Ausführungen Barthes' (1964 a: 130) folgendermaßen vertiefen. Hjelmslev unterschied — wie wir auch in 0.1. und 0.2.2.2. angedeutet haben — in jedem Bedeutungssystem eine Ausdrucksebene (a) und eine Inhaltsebene (i), wobei Semiose, Bedeutungsprozeß oder „Bedeuten" (signification) nur möglich ist, wenn die beiden in eine bestimmte Relation (R) treten. Dieses Zusammentreten erzeugt nicht nur ganze Bedeutungssysteme (wobei sich die einzelnen Systeme gerade je nach der Art der Ebenen und ihrer Relation unterscheiden), sondern „davor" die Einzelzeichen, die ebenfalls als aRi geschrieben werden können. Wenn nun ein solches System als Ganzes seinerseits die Inhaltsebene eines anderen Systems bildet, so haben wir es mit „Metasprachen" zu tun. In der Metasprache rede ich über eine Sprache, d. h., der Inhalt, das Bezeichnete

Die semiotischen Besonderheiten des LKW

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meines Systems, ist seinerseits ein System, eben die Sprache, worüber ich rede. Die vorliegende Arbeit ist - insofern sie nicht direkt von Literatur, sondern von Theorien der Literatur spricht - eine Meta-Metasprache: ihr Inhalt ist seinerseits etwas, was aus Ausdruck und Inhalt besteht (die jeweilige Theorie), dabei ist aber der zuletzt genannte Inhalt (zum Teil wenigstens) selber ein Bedeutungssystem, nämlich die Literatur, die als soldies ebenfalls aus Ausdruck und Inhalt besteht.

Bildet dagegen ein Zeichen als Ganzes die Ausdrucksebene eines anderen Zeichens, so handelt es sich um Konnotation: das denotative Zeichen „Mond" (mit der Bedeutung ,Erdtrabant') bildet die Ausdrucksseite des konnotativen Zeichens „Mond" (mit der Bedeutung ,Liebe', ,Romantik', neuerdings auch: ,Raumfahrt' usf.). Wenn das denotative Zeichen als a1Rii zu schreiben ist, so läßt sich das zweite, das konnotative Zeichen als (aiRii)Ri 2 wiedergeben oder schematisch (wenn für Bezeichnendes „Bd" und für Bezeichnetes „Bt" steht) folgendermaßen: Bd 2 Bdi

Bt 2 Bt! .Erdtrabant'

Es gibt eine kompliziertere Version dieses Schemas bzw. der obigen Formel, welche die schwierigen Begriffe der Hjelmslevschen ,Form' und ,Substanz' einbezieht (diese letzteren werden am besten m. E. von Eco [1971: 8 f.] erhellt); sie ist aber literaturtheoretisdi irrelevant. Zur fraglichen Formel siehe Ihwe: 163 f. und Busse: 815 f.

Als die geläufigsten Beispiele der Konnotation nennt Barthes Systeme, deren „erstes", also denotatives System die Natursprache ist, wobei er an erster Stelle die Literatur erwähnt (1964 a: 130). Todorov vermerkt, daß die Literatur von der Konnotation häufigeren Gebrauch macht als die gesprochene Sprache und daß man daher oft versucht ist, dieses Phänomen als ihre spezifische Differenz, also gerade als das Literarische anzusehen (1964: 35). Den anderen Künsten gegenüber ist die Konnotation als solche kein unterscheidendes Merkmal der Literatur, wohl aber die Tatsache, daß sie einzig die Literatur notwendig kennzeichnet, andere Künste hingegen nicht. Denn Konno-

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Das LKW als Zeichen

tation setzt Denotation, d. h. Zeichenhaftigkeit voraus und nur die Literatur ist notwendig zeidienhaft, indem sie definitionsgemäß aus Wörtern, das heißt aus Zeichen besteht. Demgegenüber kann die bildende Kunst durdiaus nicht-zeidienhaft sein (wiewohl wirkend): man denke an die abstrakte Kunst. Die Musik ist - von der Programm-Musik abgesehen - überhaupt nicht zeidienhaft.

Darüber, was das Konnotierende des literarischen Zeichens ist, besteht wohl Ubereinstimmung: es ist eben die Normalsprache bzw. ihre jeweiligen Elemente. Was ein Problem darstellt, ist, was das literarische Zeichen oder die Literatur überhaupt konnotiert, was ihr Konnotiertes ist. Denn es gibt noch außer der Literatur andere „ Konnotationssprachen", die alle die Normalsprache zum Konnotierenden haben, gegen die also die Literatur abzuheben wäre. Sie sind nach Hjelmslev allesamt dadurch gekennzeichnet, daß - während eine Denotationssprache Sprachliches zum Inhalt hat (die Bedeutung ,Erdtrabant' gehört als Begriffliches zur Sprache; nur der reale Gegenstand, der sog. Referent, nicht) - die Inhaltsseite einer Konnotationssprache „nicht eine Sprache, sondern etwas anderes", also Außersprachliches ist (Stender-Petersen: 831). Hjelmslev selber sprach nicht von der Literatur als Konnotationssprache; er zählte bloß auf, was Sprache konnotieren kann: Vers oder Prosa, kreative oder reproduzierende Stilart, höheren oder niedereren „Wertstil", Gesprochenes oder Geschriebenes, Argot, N a tional- oder Lokalsprache usw. (Stender-Petersen: 831; Ihwe: 165). Von diesen allgemein auf Sprachliches bezogenen Konnotationen unterscheidet sich das Konnotierte der Literatur nach Ad. StenderPetersen dadurch, daß es Emotionales ist: „Unter Emotion . . . müssen alle Arten von Gefühl und Empfindung verstanden werden: Lust und Unlust, Freude und Sorge, Heiterkeit und Niedergedrücktheit, Sympathie und Antipathie, etc. Es ist dabei eine Eigentümlichkeit des Wortkunstwerkes oder der Kunstsprache, daß es belanglos ist, ob sie primär im Dichter oder in seinem Bewußtsein vorhanden sind oder sekundär im Leser erzeugt oder erregt werden, relevant dagegen ist es, daß sie im Wortkunstwerk semiologisch solidarisch mit ihrem Ausdruck, nämlich der Sprache, sind", d. h. konnotierende Sprache und konnotierte Emotion setzen sich gegenseitig voraus (837, auch 833). Da das Konnotierende zugleich ein deno-

Die semiotisdien Besonderheiten des LKW

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tatives Zeichen ist, „kommuniziert" Literatur nicht nur Emotionen, sondern immer auch Begriffliches: den Inhalt der jeweiligen denotativen Zeichen (ebd. 837f.). Doch damit ist offenkundig das Problem der Delimitation noch nicht gelöst: Emotion wird nicht nur vom LKW konnotiert, sondern auch von der Normalsprache. Lust und Unlust, Sympathie und Antipathie erweckt offenbar manches, was außerliterarisch gesagt oder geschrieben wird - es fehlt also immer noch die spezifische Differenz. Stender-Petersen sieht das Problem, er resigniert indessen: er findet, daß „keine genaue . . . Grenze gezogen werden kann", man könne allenfalls auf den Unterschied zurückgreifen zwischen der vorwiegend kommunikativen Funktion der Normalsprache und einer spezifischen, von ihm nidit näher bestimmten Funktion der Kunstsprache (832). Ihwe (173) unterstellt, daß ihm dabei die von uns später nodi zu behandelnde sog. poetische Spradifunktion vorgeschwebt haben mag. Wie dem auch sei: dieser eventuell zu Redit angenommene Unterschied fällt sicherlich nicht zusammen (und läßt sich audi nicht in eine eindeutige Ableitungsrelation bringen) mit dem Unterschied zwischen Normal- und Kunstsprache bezüglich der konnotierten Emotionen.

Mir scheint, daß der spezifische Unterschied der Literatur als Konnotationssprache und damit das Literarische als Konnotation in den folgenden zwei Eigentümlichkeiten zu suchen ist. Erstens konnotiert die Literatur konsequent, immer, notwendig; je weniger sie das tut, um so mehr nähert sie sich der wissenschaftlichen Prosa, welche - wenigstens ihrer Absicht nach - konsequent nicht konnotiert. Dieser konsequenten Konnotation der Kunstsprache steht eine bloß sporadische, gelegentliche Konnotation der Normalsprache gegenüber. Zweitens: Wie Ihwe (174 f.) mit Redit bemerkt, ist der Begriff der Emotion bei Stender-Petersen vage; ich würde eher „undifferenziert" sagen. Tatsächlich lassen sich bei der Kunstemotion zumindest drei Arten oder besser: Momente unterschieden. Zunächst wird ein bestimmter Innerlichkeitsinhalt vermittelt, eine „objektive" Emotion, wobei es diesbezüglich keine Rolle spielt, ob diese Innerlichkeit mit der des lyrischen Ichs oder einer episch oder dramatisch dargestellten Gestalt zusammenfällt: auf jeden Fall „merkt" man, was für Gefühle, Stimmungen, Wollungen, Leidenschaften „hinter" diesen oder jenen Worten stecken, was sie also uns (vereinfachend ge-

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D a s L K W als Zeichen

sagt) über den Sprechenden verraten, außer dem, was dieser über seine Welt (denotierend) aussagt. Diese „Emotionen" merkt man allerdings nicht nur, sie werden nicht bloß „betrachtet", sondern man empfindet sie mehr oder weniger intensiv nach. Sodann gibt es in der Kunstemotion subjektive Momente der Reaktion auf das Dargebotene. Man kann nicht nur etwa Heiterkeit empfinden mit einer Gestalt, sondern auch über eine Gestalt, die selber möglicherweise alles andere als heiter ist. Wenn StenderPetersen von Sympathie und Antipathie spricht, so gehören diese Gefühle gewöhnlich zu dieser Art. Schließlich gibt es eine andere subjektive Reaktion, die aber 1. von besonderer Qualität ist, 2. nicht nur Einzelteile, sondern immer auch das Ganze betrifft, und 3. nicht Inhaltliches zu ihrem Gegenstand hat, sondern die Formwerdung des Inhalts und/oder inhaltlose (nicht bezeichnende, sondern „nur" wirkende) Form. Gemeint ist offenkundig die ästhetische „Emotion", näher: der Kunstgenuß. Kunstsprache und Normalsprache unterscheiden sich nun hinsichtlich ihres Konnotatums gerade darin, daß die Normalsprache einleuchtend genug - nicht (oder allenfalls bloß zufällig) „Trägerin" von Kunstgenuß ist oder - um es weniger einseitig-subjektivistisch auszudrücken - nicht Ästhetizität konnotiert. Sie ist gefärbt durch das, was sie ausdrückt und was sie in uns an Gefühlen erweckt (hierin die Übereinstimmung mit der Kunstsprache), aber sie wirkt nur selten - und auch dann zumeist ungewollt — ästhetisch. Ihr gegenüber ist es ein konstitutives Merkmal der Kunstsprache, daß sie darauf hin angelegt ist, Kunstgenuß zu verursachen, d. h. mit der konnotativen Aura der Ästhetizität zu erscheinen. Dabei ist dieser Genuß nicht unabhängig von der vorhin herausgestellten spezifischen Differenz, von der Konsequenz in der Konnotation. Denn gerade weil das (literarische) Kunstwerk die Tendenz hat (außer dem bloß-Formalen), nur transparente, d. h. Innerlichkeit konnotierende Formen zu enthalten, mithin keine blinden Fenster zu haben, verursacht es ästhetischen Genuß. Den Gründen dieses Genusses versuchte ich in meiner Arbeit über Hegels Ästhetik (1969a: bes. 7 9 - 1 0 2 ) nachzugehen; hier somit nur folgender gedrängte Hinweis.

Die semiotischen Besonderheiten des LKW

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Konsequente Transparenz der Form auf den Inhalt hin bedeutet Beisichsein, somit „Freiheit" des Inhalts. Da „Inhalt" hier Geistiges, näher konkrete Innerlichkeit meint, die - trotz des allfälligen Fehlens akzentuierter Ichhaftigkeit - als menschliche Innerlichkeit erlebt wird, macht Kunst letztlich (scheinbare) menschliche Freiheit sinnfällig. Die Begegnung mit dem in seiner Sinnlichkeit freien Menschen, die uns nur die Halbidealität der Kunst ermöglicht (sind doch menschliche Äußerungen in der Realität durch Zufälliges, nicht von innen Gesetztes stets mitbedingt), - diese Begegnung macht ihrerseits frei: der Mensch als rezipierender begegnet hier der „Verwirklichung" seiner eigensten Tendenz, die gerade darin besteht, im Anderen bei sich, d. h. frei zu sein; er begegnet somit im emphatischen Sinne (nicht nur im Inhalt, sondern auch im Freiwerden des Inhalts) sich selber. Selbstbegegnung ist aber nur ein anderes Wort für Beisichsein oder Freiheit, und diese besondere Art von Freiheit (deren Besonderheit darin besteht, daß sie durch scheinbare, sinnliche Freiheit ermöglicht wird, also auch ihrerseits nicht vollends real, zudem an die Sphäre der Sinnlichkeit gebunden ist), diese Freiheit scheint der prinzipiell unbewußte Grund des bewußt erlebten ästhetischen Genusses zu sein.

Abschließend sei festgehalten, daß Stender-Petersens Aufsatz ein Beleg dafür ist, daß der Formalismus Emotionen, d. h. Mentales in seine Theoriebildung durchaus einbeziehen kann, daß also Formalismus und Anti-Mentalismus keineswegs gleichgesetzt werden dürfen. Die Relevanz dieser Bemerkung wird an geeigneter Stelle (5.2.1.) erhellen.

2.4.2. Das Literarische als

Mehrdeutigkeit

Die Tatsache, daß das literarische Zeichen nicht nur denotiert, sondern auch konnotiert, ist mit ein Grund seiner Mehrdeutigkeit. Denn Konnotation muß nicht das Mitschwingen bloß einer assoziativen Bedeutung meinen: gerade wegen ihres nicht-begrifflichen, stimmungsmäßigen, emotionalen Charakters kommt ihr häufig eine Unbestimmtheit zu, in der mehrere divergente, ja widersprechende Bedeutungen koexistieren können, wobei Unsicherheit besteht, welche die eigentliche sei. Gerade diese Unsicherheit, das Schillern der Bedeutungen ist das subjektive Zeichen der Mehrdeutigkeit: nach Empson (1) ist eine „sprachliche Nuance" dann mehrdeutig, wenn sie „Raum läßt für wahlweise Reaktionen auf das gleiche Stück Sprache" (herv. A. H . ) .

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Das LKW als Zeichen

Solche Mehrdeutigkeit ist indessen nicht nur mit Hilfe von Konnotationen zu erreichen, sondern - wie in 1.2.1. ausführlich dargelegt wurde - auch durch die Interferenz mehrerer Ebenen im gleichen Element sowie durch den Wechsel zweier Ordnungen in derselben Ebene. Eine Überdeterminiertheit besonderer Art, die nur in der erzählenden Literatur möglich ist und weder als Interferenz von Ebenen nodi als Ordnungswechsel zu beschreiben ist, stellt die sog. erlebte Rede oder der „erzählte Monolog" dar. Hier geht es um die gleichzeitige Vermittlung zweier Bewußtseine, desjenigen der Gestalt und des Autors: das Bewußtsein der Gestalt ist in der dritten Person und im gewohnten epischen Tempus des Präteritums präsentiert (wodurdi das erzählende Bewußtsein vermittelt wird - wie individualitätslos auch immer), zugleich ist aber die syntaktische Struktur diejenige der direkten Rede, mit den charakteristischen Rhythmen der gesprochenen Sprache (was wiederum das Bewußtsein der Gestalt vermittelt) (Cohn: 97). Dies in sich bringt bereits eine schwer faßbare Ambiguität hervor; diese wird aber noch gesteigert, wenn der Gestalt Reflektiertheit, Artikuliertheit oder gar bildhafte Sehweise eignen. (Georg Lukdcs meint, ein hoher Grad der Bewußtheit über das eigene Schicksal sei für die Gestalten großer Dichtung allgemein charakteristisch [1948: 33].) In diesem Fall weiß man gelegentlich in der Tat kaum, ob es die Gestalt oder der Autor selber ist, der die dargestellte Welt artikuliert. (Ein bemerkenswertes Beispiel dieser Art von Mehrdeutigkeit liefert Ldszlö Nemeths Roman Die Kraft des Erbarmens [1965].)

Angesichts der Präponderanz all dieser zu Mehrdeutigkeit führenden Faktoren im LKW ist es nicht verwunderlich, daß verschiedene Autoren in der Mehrdeutigkeit zumindest einen wesentlichen Aspekt des Literarischen erblicken. Nach Empson gehören die „Ränke der Mehrdeutigkeit" zu den „eigentlichen Wurzeln der Dichtung" (3); für den „New Criticism" ist „die spezifisch literarische Qualität, aus der ein Text seine Wirkung bezieht, . . . seine ambiguity" (Schramm: 368); laut Jakobson (1960: 169) ist „Mehrdeutigkeit... ein immanenter, unabtrennbarer und notwendiger Bestandteil jeder Nachridit mit Einstellung' auf sich selbst", worunter er - wie wir später noch sehen werden - gerade poetisch-ästhetische „Nachrichten" versteht. Barthes hat ebenfalls das Phänomen der Mehrdeutigkeit im Sinn, wenn er von der „trügerischen Technik der Sinnvermittlung" spricht, die für die Literatur als solche charakteristisch sei: „der Schriftsteller . . . vermehrt die Bedeutungsakte, ohne sie zu erfüllen oder abzuschließen; . . . er bedient sich der Sprache, um eine Welt zu konstituieren, die eminent be-deutend, aber letztlich nie be-deutet ist" (1963b: 265).

Die semiotischen Besonderheiten des LKW

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Die notwendige Verbindung zwischen Mehrdeutigkeit und LKW, welche von Jakobson nur behauptet, nicht begründet wird (obendrein nur durch die Dazwischen-Schaltung der „Einstellung auf sich selbst", deren direkte und angeblich notwendige Beziehung zur Mehrdeutigkeit in 4.3.2.2. noch ebenfalls kurz erörtert werden muß), diese notwendige Verbindung liegt m. E. in folgendem mit begründet. Jedes LKW ist als LKW anschaulich, nicht-begrifflich, nicht-gedanklich: es stellt ein „Bild" vor die „Augen". Dieses „Bild" ist nicht notwendig (mit dem inneren Sinn) Visualisiertes oder Gehörtes, wie etwa bei poetischen Bildern im engeren Sinn, bei Euphonie und Lautmalerei oder bei Beschreibung von Äußerem (daher die Anführungsstriche); es kann auch Gefühltes, Erfühltes sein, so bei der Vermittlung einer Stimmung, der Atmosphäre eines Schauplatzes, einer Situation usf., überhaupt bei der Vermittlung konkreter, menschlicher Innerlichkeiten („Seelen") oder (partieller) Innerlichkeits-Inhalte: wir „kennen" diese oder jene Gestalt, wir empfinden das ausgedrückte (möglicherweise eine ganze Welt-Sicht in sich fassende) Gefühl nach, das heißt: es ist uns auch hier etwas Anschauliches, durch einen inneren Sinn oder Intuition direkt Erfaßbares und Erfaßtes, kurz ein seelisches „Bild" gegeben. Ob es sich also um sinnlich-sinnhafte (wahrgenommene oder bloß vorgestellte) Form oder intuitiv erfaßten Inhalt handelt, auf jeden Fall präsentiert uns das LKW Anschauliches. Anschauung ist aber nie vollständig in etwas anderes zu verwandeln: weder Sinnliches in Seelisches oder Begriffliches noch Seelisches in Begriffliches. Ein Bild läßt sich nicht in Stimmungen oder Gefühlen auflösen; es läßt sich aber auch nicht auf den Begriff bringen; genausowenig können die Stimmungen oder Gefühle selber mit Worten erschöpft werden. Anschauung, in welcher Form auch immer, ist unreduzierbar. Das heißt aber: wenn es dem Dichter gelungen ist (paradoxerweise gerade durch Worte), in uns Anschauliches zu evozieren, so ist dessen „Inhalt" (jetzt im Sinne seiner gefühlsmäßigen und/oder begrifflichen Bestimmungen) nie vollständig und für alle Zeiten zu fixieren: es lassen sich von anderen Sensorien, welche mehr zu umfassen vermögen und über eine größere Sensibilität verfügen, immer wieder neue Be-

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Das LKW als Zeichen

Stimmungen entdecken, prinzipiell ad infinitum. Dies ist mit ein Grund, warum es keine endgültige Interpretation etwa der Persönlichkeit Hamlets oder der Weltsicht Kafkas geben kann. Unerschöpfbarkeit, Unreduzierbarkeit machen das Anschauliche (und durch dessen Vermittlung das LKW) mehrdeutig: wenn es darum geht, Äußeres und Inneres zu deuten, d. h. Sinnlich-Sinnhaftes in Seelisches, dieses wiederum in Begriffliches zu transformieren, so gibt es nicht nur faktisch verschiedene Deutungen, also Mehrdeutigkeit im Sinne der Eco'schen Offenheit, sondern letztlich immer auch die erwähnte Unschlüssigkeit, das Gefühl, es wäre möglich, dem sinnlichen oder seelischen Zeichen eine andere, vollständigere, vielleicht auch der „gewählten" widersprechende Bedeutung zu unterlegen: es gibt immer eine, wenn auch noch so verschwindende Mehrdeutigkeit im Sinne des Schillerns im „gleichen" Hier-und-Jetzt. Freilich gehört das Anschauliche am L K W nicht zu seinem „Ansich", zu dem, was als eindeutig Bestimmtes das Kunstwerk „objektiv" konstituiert und was man erleben würde, wenn es möglich wäre, sich beim Lesen jeglicher Ergänzung zu enthalten. Das Anschauliche gehört nicht zu diesem „schematischen Gebilde" (Ingarden 1972: 261-268; 1968: 12 et passim), sondern zu dessen Füruns: zu den „Konkretisierungen" oder konkreten Lesungen, die all das, was am L K W unbestimmt ist, je nach der individuellen Persönlichkeit und E r f a h r u n g des Lesers ergänzen und das heißt: näher bestimmen. Die Unbestimmtheit, der schematisdie Charakter des „ansichseienden" literarischen Kunstwerks (der letztlich davon herrührt, d a ß das L K W Sprachliches ist, d a ß es aus diskontinuierlichen sprachlichen Einheiten, Wörtern und Sätzen besteht) f ü h r t demnach bereits in sich zu einer Mehrdeutigkeit im Sinne faktisch verschiedener Anschauungen je nach individueller Lesung. (Daß diese A r t von Mehrdeutigkeit eine objektive Literaturwissenschaft gleichwohl nicht vereiteln muß, darüber wird - unter anderem in Anlehnung an Ingarden - in 5.1. noch kurz die Rede sein.) Diese „voranschauliche" Mehrdeutigkeit (die uns übrigens nur bei Unverständlichem bewußt wird, d. h. wenn wir das diskontinuierlich-begrifflich Gegebene eben nicht zu Kontinuierlich-Anschaulichem zu ergänzen vermögen) - diese Mehrdeutigkeit ist zu unterscheiden von der hier gemeinten, die auf der inhärenten Unausschöpflichkeit alles Anschaulichen beruht. Diese letztere ist eine Mehrdeutigkeit des auf jeden Fall Gegebenen, sie bleibt zudem auch in jenem theoretisch nicht auszuschließenden Fall bestehen, wenn es dank genauer und umfassender Lesung sowie wissenschaftsinterner Kommunikation mehreren Lesern gelungen sein sollte, das Schematische des fraglichen Kunstwerks (oder seiner einzelnen Teile) zu Anschauungen zu konkretisieren, die in ihren relevanten Zügen interpersonell gleich sind. Denn die Weise, wie ich diese interpersonell gleiche Anschauung verbalisiere, kann in Abhängigkeit von meinem individuellen Sensorium von der Verbalisierung der anderen verschieden sein.

D i e semiotischen Besonderheiten des L K W

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Diese Mehrdeutigkeit ist nun um so ausgeprägter, je „dichter" ein Kunstwerk ist, das heißt aber: je mehr Konnotationen mitschwingen und je mehr jedes Element überdeterminiert ist (dank der Interferenz der Ebenen und dem Wechsel der Ordnungen, welcher in Wahrheit — wie wir sahen - nicht nur ein Nacheinander, sondern auch ein Zugleich bedeutet). Konnotation und Uberdeterminierung füllen nämlich den Erlebnisraum nicht nur mit Eindeutigem (dies leistet auch jeder knapp gehaltene, deutlich artikulierte und bedeutungsschwere wissenschaftliche oder philosophische Text), sondern auch mit Alternativbedeutungen, mit Mehrdeutigkeit. Konnotation und Überdeterminiertheit sind aber teilweise auf Anschauung angewiesen, durch sie begünstigt und daher auch mit begründet: Anschauliches konnotiert mehr als Begriffliches, ein Bild etwa mehr als ein Wort, und unter den Determinanten einer LKW-Einheit sind Lautschicht auf der Ausdrucksseite und „visualisierbares" Äußeres sowie intuitiv erfaßtes Inneres auf der Inhaltsseite - alles anschauliche Momente - schlechterdings nicht wegzudenken. In der Zusammenschau zeigt sich also, daß die Mehrdeutigkeit eines L K W nicht nur von seiner „Dichte" abhängig ist, sondern „davor" auch von seiner Anschaulichkeit; die durchschnittlich größere Ambiguität der Lyrik gründet mithin nicht nur in ihrer größeren Komprimiertheit und Komplexität, sondern auch in der typischen Bildhaftigkeit ihrer Sprache: ein Gedicht weist im allgemeinen nicht nur die für jedes LKW konstitutive Mehrdeutigkeit im Großen auf, in bezug auf den tiefsten Inhalt oder „Aussage" des Ganzen, sondern auch eine Mehrdeutigkeit im Kleinen.

3. Das LKW als Struktur Nachrichten können nur mit Hilfe von Zeichen übermittelt werden, folglich setzt der Nachrichtencharakter des LKW seinen Zeichencharakter voraus. Zeichen können nun absolut gesetzt sein, wenn nämlich ihre Bedeutung „ein für allemal", losgelöst vom jeweiligen Kontext festgelegt ist; so ist etwa Fieber auf jeden Fall Zeichen eines abnormen Zustandes im Organismus. Worin genau aber diese Abnormität besteht, dies läßt sich am Fiebrig-Sein allein nicht ablesen: der Arzt muß den Grad des Fiebers, die begleitenden Symptome sowie die Vorgeschichte des Kranken gleichermaßen beachten: die nähere Bedeutung des Zeichens „Fieber" ist relativ auf seinen Kontext. Dies läßt sich in moderner Terminologie auch so ausdrücken, daß Zeichen, überhaupt Elemente eines Ganzen, strukturabhängig sein können. Die Frage ist nun, wie man am einfachsten ,Struktur' bestimmen kann und ob das Zeidienkonglomerat, welches LKW genannt wird, als Struktur anzusehen sei.

3.1. Der Begriff,Struktur' 3.1.1. Struktur als interdependentes Ganzes Wenn Strukturabhängigkeit eigentlich Kontextabhängigkeit meint, so besagt dies, daß Bedeutung, Funktion oder Wert eines Elementes von seinen „Nachbarn" abhängt, genauer: davon, wer die Nachbarn sind, womit also das Element in Beziehung steht, und davon, welcher Art diese Beziehungen sind. Wenn nun die Elemente und ihre Beziehungen zusammen das ausmachen, was Ganzes heißt, so läßt sich ,Struktur' in erster Näherung als ein Ganzes definieren,

Der Begriff,Struktur'

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d e s s e n T e i l e o d e r E l e m e n t e e r s t d u r c h dieses G a n z e selber, d . h . d u r c h die a n d e r e n E l e m e n t e u n d die i m G a n z e n o b w a l t e n d e n Beziehungen n ä h e r b e s t i m m t sind. Saussure verwendet das Wort „System", meint aber das, was heutzutage im allgemeinen Struktur genannt wird, wenn er die Sprache ein System nennt, „dessen Glieder sich gegenseitig bedingen und in dem der Wert des einen nur aus dem gleichzeitigen Vorhandensein des anderen resultiert" (159). In diesem Sinne ist etwa auch Trubetzkoy zu verstehen, wenn er sagt, die strukturalistisdie Methode „geht . . . von einem Ganzen aus und betrachtet . . . die einzelnen Elemente als Glieder dieses Ganzen" (1933: 65 Fn.); oder das Programm der Prager Strukturalisten (Hravanek, Jakobson, Mathesius, Mukaïovsky und Trnka) aus dem Jahre 1935, in dem .Struktur' ausdrücklich als eine „Ganzheit" definiert wird, „deren einzelne Elemente erst in Abhängigkeit von den übrigen eindeutig zu bestimmen Ganzheit sind" (Motschmann: 363). Hjelmslev nennt die Struktur „eine autonome innerer Abhängigkeiten", „ein G a n z e s . . . , das sich aus gleichartigen Phänomenen zusammensetzt, wobei jedes von den anderen abhängt und nur in der Beziehung zu ihnen das sein kann, was es ist" (1957: 254). Diese Bestimmung

wird

meistens dahingehend

eingeengt,

daß

u n t e r „ S t r u k t u r " n u r die B e z i e h u n g e n i n n e r h a l b eines G a n z e n v e r standen

werden,

nicht

aber

die beziehungsunabhängigen

Eigen-

schaften der Elemente. Struktur als Syntax, als Ensemble von Zusammensetzungsregeln - dieser Auffassung begegnen wir etwa bei Moles: „Der Strukturalismus nimmt an, daß die Welt der Phänomene immer spaltbar in kleine Elemente i s t . . . Damit man wieder ein Bild der Phänomene bauen kann, muß man die gefundenen Elemente mit Hilfe einer Menge von Regeln zusammensetzen. Diese Menge von Regeln werden wir Struktur nennen" (1968: 15). Piaget spricht im Zusammenhang mit dem Strukturalismus von einer „relationalen Einstellung"; nach dieser „ist es weder das Element, das zählt, noch ein Ganzes, das sich als solches aufprägt, ohne daß man genauer angeben könnte, wie; sondern die Relationen zwischen den Elementen . . . , wobei das Ganze nichts anderes ist als die Summe dieser Relationen" (1974b: 9 f.). Gérard Genette findet, die strukturale Methode sei dort und nur dort legitim, wo die Beziehungen, nicht die Dinge wichtiger sind, d. h. wo die Beziehungen das Wesentliche am Phänomen ausmachen: „Es ist . . . nicht so sehr die Frage, ob es ein Bezugssystem innerhalb dieses oder jenes Studienobjektes gibt, was anscheinend überall der Fall ist, sondern es gilt, die relative Bedeutung dieses Systems in bezug auf die anderen Elemente des Verständnisses zu bestimmen: diese Bedeutung ist der Gradmesser für die Gültigkeit der strukturalen Methode" (364). D i e s e B e s c h r e i b u n g d e r S t r u k t u r als R e l a t i o n s g e f ü g e k a n n n o c h v e r s c h ä r f t w e r d e n , i n d e m m a n a n n i m m t , d a ß auch die

Elemente

o d e r die Dinge, welche nach landläufiger Auffassung neben den B e -

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Das L K W als Struktur

Ziehungen ein zweites, selbständiges Moment im Ganzen bilden, selber in Beziehungen aufgelöst werden könnten. In 0.2.1. haben wir bereits gesehen, daß für die moderne Wissenschaftstheorie nicht Wesenheiten, Substanzen, die „Natur" der Dinge den eigentlichen Gegenstand der Wissenschaft abgeben, sondern allein die (meßbaren, objektivierbaren) Beziehungen zwischen ihnen. In jenem Abschnitt kam Carnap noch mit dem Zugeständnis zu Wort, es gebe außer den Relationen wohl auch aufweisbare Dinge, doch sei das, was bloß aufgewiesen werden, phänomenal gegeben sein könne, nicht objektivierbar, daher auch nicht zur Wissenschaft gehörig. Diese (relativ schwache) Position entspricht - auf Ganzheiten bezogen — der Auffassung, Strukturen bestünden aus Beziehungen und Bezogenem, aus Relationen und Elementen, Teilen oder Dingen. Im gleichen Logischen Aufbau der Welt verschärft indessen Carnap diese Position insofern, als er behauptet, daß „jeder Gegenstandsname, der in einer wissenschaftlichen Aussage vorkommt, grundsätzlich (d. h. wenn die erforderlichen Kenntnisse vorliegen) ersetzt werden kann durch eine strukturelle Kennzeichnung des Gegenstandes", daß also „jede wissenschaftliche Aussage grundsätzlich so umgeformt werden kann, daß sie nur noch eine Strukturaussage ist" (20). Es braucht uns hier nicht zu kümmern, daß für Carnap Struktur nicht aus Beziehungen überhaupt besteht, sondern aus den Beziehungen zwischen den Beziehungen, aus den „formalen Eigenschaften" der Beziehungen: sie ist gleichsam die Form der Form (13). Wesentlich ist, daß nach ihm das Bezogene selber in Beziehungen zerfällt, d. h. daß - wieder auf Ganzheiten übertragen - Struktur nur Beziehung ist, wobei hierunter sowohl „landläufige", „primäre" Beziehung als auch durch Auflösung gewonnene, „sekundäre" Beziehung zu verstehen ist. Diese Tendenz zur Auflösung des Bezogenen läßt sich auch in der Definition Hans Günthers beobachten: „Das Spezifische des Strukturalismus ist seine relationale . . . Betrachtungsweise, die die Elemente eines Systems nicht isoliert und ihrer Substanz nach bestimmt, sondern sie aus ihren gegenseitigen Beziehungen definiert" (3).

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Eine weitere Verschärfung erfährt der Struktur-Begriff bei Saussure. Für ihn läßt sich nicht nur jedes Element eines „Systems" auf Beziehungen reduzieren, sondern diese Beziehungen sind obendrein bloß negativer Art: die Elemente eines Systems „sind rein differentiell, d. h. nicht positiv durch ihren Inhalt bestimmt, sondern negativ durch ihre Beziehungen zu den anderen Gliedern des Systems. Ihr genauestes Kennzeichen liegt darin, das zu sein, was die anderen nicht sind" (162). Noch stärker, diesmal ausdrücklich auf die Sprache als System bezogen: „in der Sprache gibt es nichts außer Unterschieden ohne positive Glieder" (166). Oder (verallgemeinernd): „in jedem semiologischen System ist das, was ein Zeichen von anderen unterscheidet, das einzige, wodurch es konstituiert ist" (168). Unterstützt wird diese Auffassung hauptsächlich durch Erkenntnisse der Phonologie und der Synonymik. Die Phoneme, jene kleinsten bedeutungunterscheidenden Lauteinheiten, scheinen in der Tat bloß negativ, „oppositiv" bestimmt zu sein: Da z. B. in kühlen statt des / nur ein r stehen kann (wenn ein Verb erwartet wird), achten wir beim Vernehmen nur darauf, daß nicht ein r (also nicht küren) gesprochen wird, wie auch umgekehrt: beim Vernehmen von küren kommt es nur darauf an, daß wir kein / hören. Vgl. Jakobsons Definition: „Die Opposition ist eine binäre Beziehung, bei der ein Begriff den anderen ,eindeutig, wechselseitig und notwendig' evoziert" (Holenstein: 128). Insofern läßt sich mit Saussure behaupten, daß „die Phoneme lediglich als Glieder eines Systems existieren" (Trubetzkoy 1933: 75). Gerade weil hier die Auflösbarkeit des Bezogenen in (negative) Beziehung mit beachtlicher Uberzeugungskraft vor Augen geführt werden kann, wird das Diktum Hans Naumanns verständlich: „die Phonologie stellt den wissenschaftlich gesichertsten Ort des neuen Strukturdenkens dar" (3). Das gleiche gilt auch für die Synonyme: „alle Wörter, die benachbarte Ideen ausdrücken, grenzen sich wechselseitig ein: Synonyme wie redouter, craindre, avoir peur haben nur durch ihre Opposition Eigenwert; wenn es redouter nicht gäbe, würde sein ganzer Inhalt auf seine Konkurrenten übergehen" (Saussure: 160). Auch hier

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scheint sich demnach zu bewahrheiten, daß die Sprache (die langue; also nicht das Sprechen, die parole) als ein System aufgefaßt werden kann, „in dem sich alles gegenseitig stützt" (Trubetzkoy 1933: 75). Die Frage ist nun, ob durch diese Überlegungen die Existenz von so etwas wie Struktur als reinem Geflecht negativer Beziehungen tatsächlich gesichert sei. Dem soll mit zwei Hinweisen Trubetzkoys über die Natur der Phoneme widersprochen werden, die zwar von ihm nicht polemisch gemeint sind, an diesem Punkt jedoch mit Nutzen ins Feld geführt werden können. Erstens „ist jedes Wort eine lautliche Ganzheit, eine Gestalt, und wird auch von den Hörern als eine Gestalt erkannt, ebenso wie man etwa einen bekannten Menschen auf der Straße an seiner ganzen Gestalt erkennt. Das Erkennen der Gestalten setzt aber ihre Auseinanderhaltung voraus, und diese ist nur dann möglich, wenn die einzelnen Gestalten sich voneinander durch gewisse Merkmale unterscheiden. Die Phoneme sind eben die Unterscheidungsmale der Wortgestalten" (1939: 34). Da sie aber in die Wortgestalten eingehen — so könnte man Trubetzkoys Gedankengang fortsetzen und damit positive Qualitäten konstituieren, müssen sie selber (zumindest auch) als positive (Sub-)Qualitäten wahrgenommen werden. Denn aus der Summierung von Negativem entsteht nichts Positives, und daß die Wortgestalten selber negative Qualitäten wären, läßt sich nicht einmal mit Saussure behaupten: sie sind nicht „solidarisch" (Saussure: 159 et passim), d. h. sie setzen sich nicht gegenseitig voraus, wie etwa in unserem obigen Beispiel die Glieder der Opposition l-r. Denn welche Gegenglieder hätte etwa die Wortgestalt küren? Wenn wir bei ihrem Vernehmen all die möglichen Kombinationen durchgehen müßten (schüren, scheren, führen, kehren, scharen, fahren, wehren, wahren usw.), nur um jedesmal festzustellen, daß sie all das nicht ist, kämen wir ebensowenig vom Fleck wie Achilleus, der im Trugschluß Zenons nicht einmal eine Schildkröte einholen kann. Zweitens: „Ein Gegensatz (eine Opposition) setzt nicht nur solche Eigenschaften voraus, durch welche sich die Oppositionsglieder

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voneinander unterscheiden, sondern auch solche Eigenschaften, die beiden Oppositionsgliedern gemeinsam sind. Solche Eigenschaften können als ,Vergleichsgrundlage' bezeichnet werden" (Trubetzkoy 1939: 60). Die beiden obigen deutschen Phoneme r und l weisen demnach nicht nur phonologisdi relevante, bedeutungunterscheidende, „distinktive" Eigenschaften auf (das / ist kontinuierlich, das r nicht-kontinuierlich, oder: das r ist abrupt, das / nicht-abrupt), sondern auch gemeinsame: beide sind vokalische Konsonanten, sog. Liquide (Holenstein: 133). Diese ihre Liquidität wird nun nicht bloß vor dem Hintergrund der „Illiquidität" aller übrigen deutschen konsonantischen Phoneme wahrgenommen, schon deshalb nicht, weil z. B. das h weder zur einen noch zur anderen Gruppe gehört, sondern in dieser Beziehung gleichsam neutral ist, so daß eine hypothetisch angenommene Feststellung der Nicht-Illiquidität eines Konsonanten noch keinen Schluß darauf erlauben würde, daß es sich um ein / oder ein r handelt: es könnte auch ein h sein. Dies in sich zeigt, daß die phonologisch irrelevanten Eigenschaften des Phonems positiv sind, das Erkennen des Phonems also nicht nur per negativum oder e contrario geschieht. Dies ist mit ein Punkt der Kritik, der Jakobson die klassische Phonologie unterzogen hat: „Ein oppositionales Verhältnis im strengen Sinn des Wortes liegt nicht zwischen den Phonemen vor, sondern allein zwischen den distinktiven Eigenschaften der Phoneme" (Holenstein: 131). Ein Hintertürchen für diese differenziertere, die Negativität nicht verabsolutierende Auffassung des Phonems läßt allerdings selbst Saussure offen, wenn er etwa schreibt: „Die Phoneme sind vor allem oppositive, relative und negative Entitäten" (164. Herv. A. H.). Ein ähnlicher Gedankengang läßt sidi übrigens auch in bezug auf die Synonyme entwickeln: redouter, craindre, avoir peur haben nicht nur unterscheidende, sondern audi verbindende, gemeinsame Bedeutungsmerkmale (etwa: Unlust, MeidenWollen, Gefühl der Gefährdung usw.). Dies sind positive Bestimmungen, die in eine phänomenologisch unverwechselbare, positive Gesamtqualität zusammenfließen.

Wenn aber nicht einmal in der Phonologie, an diesem — wie wir gehört haben - „wissenschaftlich gesichertsten Ort des Strukturdenkens", der Nachweis gelungen ist, daß Bezogenes in rein negative Beziehungen aufgelöst werden kann, sondern sich vielmehr ge-

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Das LKW als Struktur

zeigt hat, daß negative Bestimmungen immer von positiven begleitet sind, so hat man alle Veranlassung, sich von dieser extremen Position vorübergehend auf die nädistsdiwächere Carnaps zurückzuziehen, wonach alles Bezogene allgemein auf Beziehungen (also nicht notwendig auf Beziehungen negativer Art) reduzierbar sei. Vorübergehend bloß, denn auch hiergegen sind grundsätzliche Bedenken anzumelden. Bedenkenswert ist zunächst Krampfs Überlegung: „der Positivismus Carnaps übersieht, daß seine Behauptung, die Relationen müßten an die Stelle metaphysischer Wesenheiten treten, eine Hypostasierung dieser Relationen zu Wesenheiten bedeutet, über deren metaphysische Natur weder Carnap noch seine Nachfolger sich klar geworden sind" (43). (Es handelt sich bei diesen Relationen um „formale Eigenschaften" wie Symmetrie, Reflexivität, Transitivität usw. Siehe dazu Carnap: 13 f.). Zweitens scheint bei Carnap ein unendlicher Regreß vorzuliegen: Relation waltet immer zwischen relata, folglich gibt es bei jeder Auflösung in Relationen neue relata, die wieder in Beziehungen zerlegt werden müssen, und so weiter ad infinitum. Somit sieht man sich auf die ursprüngliche, schwächste Fassung des Struktur-Begriffs zurückgeworfen: Eine Struktur ist ein Ganzes, dessen Elemente durdi die anderen Elemente und das gesamte Beziehungsgeflecht wzibedingt sind. Konkreter: das gleiche Element E kann in einer Struktur die Funktion F erfüllen, z. B. die Bedeutung B haben, in einer anderen indessen die Funktion nicht-F (wie auch umgekehrt: die gleiche Funktion F kann je nach Struktur vom Element nicht-E ausgeübt werden). Dabei ist die Funktion F oder nicht-F eine strukturabhängige (relative) Eigenschaft des Elementes E, welche sowohl positiv als auch negativ ( = oppositiv bestimmt) sein kann. Daß z. B. / und r im Deutschen überhaupt eine bedeutungunterscheidende Funktion haben, also Phoneme sind, ist abhängig von der Struktur des Deutschen, in dem es Wörter gibt, die sich nur darin voneinander unterscheiden, daß das eine ein r, das andere ein l enthält (Rand-Land); im Japanischen besitzen sie dagegen diese Funktion nicht (Trubetzkoy 1939: 31 f.). Dabei ist dies

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eine positive strukturabhängige Eigenschaft von r und /, denn ihre phonologische Relevanz für das Deutsche kann auch unabhängig vom Japanischen festgestellt werden. Gegenüber dieser ihrer Relevanz als allgemeiner Eigenschaft sind ihre konkreten distinktiven Merkmale als negative strukturabhängige Eigenschaften zu betrachten: sie setzen sich gegenseitig voraus, in dem Sinne, daß diejenigen des r nur als Kehrseite des l bestimmt und beachtet werden und umgekehrt. Nach Ruwet ist selbst hier, bei den distinktiven Merkmalen, eine positive und absolute Charakterisierung möglich, nur nicht praktikabel (12 f.).

Doch außer diesen strukturabhängigen, relativen Eigenschaften besitzen r und / auch strukturunabhängige, „absolute" Merkmale: gerade jene Liquidität, die ihre „Vergleichsgrundlage", ihre Gemeinsamkeit ausmacht (vgl. Barthes 1964 a: 122 f.). Wenn oben gesagt wurde, das gleiche Element könne je nach Struktur verschiedene Funktionen haben, so wird mit dem Wort „gleich" auf nichts anderes angespielt als auf dieses Strukturunabhängige, vom Element gleichsam „Mitgebrachte". Das Gemeinsame am r und / merken auch die Japaner, obwohl sie die unterscheidenden Merkmale nicht beachten. D a das Strukturunabhängige innerhalb der gegebenen Struktur per definitionem nichts hat, wovon es sich abstoßen, wogegen es sich abheben, profilieren könnte, und gleichwohl beachtet wird, ist es (im Gegensatz zum Strukturabhängigen) notwendig positiv bestimmt. „Strukturunabhängigkeit" darf dabei nicht absolut verstanden werden: Die gleiche Eigenschaft von E, die von dieser Struktur unabhängig ist, kann sehr wohl bedingt sein durch eine andere Struktur, der E ebenfalls angehört; nur wird dies außer acht gelassen, solange man sich innerhalb der gegebenen Struktur bewegt. Daß diese anderweitige Abhängigkeit außer acht gelassen werden kann und die Eigenschaft in der gegebenen Struktur gleidiwohl wahrgenommen wird, zeigt, daß es sich in solchen Fällen nur positive, nicht-oppositive Bedingtheit handeln kann. Die Strukturunabhängigkeit kann also relativ sein, die Positivität der fraglichen Eigenschaft ist dagegen absolut.

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Zusammenfassend: Strukturelemente weisen einerseits strukturabbängige, positiv oder negativ bestimmbare und wahrnehmbare Eigenschaften auf, andererseits auch struktur unabhängige, welche auf jeden Fall positiv bestimmt sind. Dabei sichern letztere, daß die Struktur nicht zu bloßer Negativität, Eigenschaftslosigkeit verblaßt und daß man sich nicht in Zirkelschlüssen verfängt, indem man Ei als nicht-Eg bestimmt und E2 als nicht-Ei; die ersteren sichern gerade die Strukturhaftigkeit im bisher behandelten Sinne der Systemhaftigkeit oder des „Totalitätscharakters". Vgl. Piaget (1974b: 8): „Der Totalitätscharakter, der den Strukturen eigen ist, versteht sidi von selbst, denn die einzige Opposition, über die sidi alle Strukturalisten einig s i n d , . . . ist die zwischen Strukturen und Aggregaten . . . Eine Struktur besteht freilich aus Elementen, aber diese sind Gesetzen unterworfen, die das System als solches kennzeichnen; und diese Gesetze . . . prägen dem Ganzen als Ganzen Kollektiveigenschaften (propriétés d'ensemble) auf, die von denen der Elemente verschieden sind."

3.1.2. Struktur als Ordnungsprinzip Wenn Struktur als Beziehungsgeflecht gefaßt wird, unter Ausklammerung der Elemente selber, aber mit der wesentlichen Einschränkung, daß die Einzelelemente durch diese Beziehungen und über sie durch die anderen Elemente mit-bestimmt, das heißt aber: in gegenseitige Abhängigkeit, in Interdependenz gebracht sind, so scheint es richtiger zu sagen, daß ein Einzelding oder ein Einzelphänomen eine Struktur hat, als daß es eine ist. Es hat eine Struktur, wobei diese Struktur begründet, warum die phänomenal zugänglichen Einzelteile in manchen Aspekten ihres Erscheinungsbildes gerade so sind, wie sie sind, nach dem Muster: „Dieser Teil ist so, wie er ist, unter anderem weil er zu diesen bestimmten anderen Teilen in dieser bestimmten Beziehung steht." Das heißt, daß die Struktur erscheinungsbegründende Funktion besitzt, den „Anfang" darstellt, wovon dies oder jenes „ausgeht", woraus diese oder jene Eigenschaft hergeleitet werden kann: sie ist ein Prinzip. Als das, was Erscheinung begründet, ist sie selber „latent" (Bastide: 16), „als solche nicht beobachtbar" (Piaget 1974 b: 117).

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Dieses latente Prinzip wird zumeist als statisch, „synchron" (Bastide 1962: 17), „räumlich" determinierend (Genette: 365) aufgefaßt, doch es fehlt nicht an Stimmen, die den dynamischen Charakter der Struktur betonen.So ist nach Piaget ihr zweites Charakteristikum (neben ihrer Systemhaftigkeit oder Totalität) das, was er Transformieren nennt: die Struktur strukturiert; ob zeitlich oder unzeitlich, aber sie verwandelt. Dabei produziert und bewahrt sie sich selber und bleibt relativ geschlossen, d. h.: sie reguliert sich selbst (1974b: 10-16). Damit hat auch das dritte Moment der Struktur als „selbstregulierendes Transformationssystem" (ebd. 32) einen dynamischen Charakter. In die nämliche Richtung weist nach Eco auch der Feld-Begriff der Physik: er „impliziert eine neue Auffassung von den klassischen Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung, die man bisher eindeutig und einsinnig verstand, während man sich jetzt ein komplexes Interagieren von Kräften, eine Konstellation von Ereignissen, einen Dynamismus der Struktur vorstellt" (1973: 48).

Die Struktur ist näher ein Prinzip der Ordnung, d. h. sie bewirkt eine ausgeprägtere Ungleichverteilung, eine größere Regelmäßigkeit in der Frequenz und Distribution der Elemente bzw. ihrer Beziehungen, als es dem Zufall entspricht. Das heißt von der Subjektseite her, daß sobald in einem Komplex von Elementen etwas (vereinfachend und räumlich vorgestellt) immer wieder und immer in der gleichen relativen Stellung vorkommt, der Komplex als eine Struktur wahrgenommen wird (Levy: 211). Es ist nun wesentlich, daß nicht nur Einzeldinge oder Einzelphänomene eine Struktur haben können, sondern auch ganze Klassen. Dies ist vornehmlich der Sinn, in dem „Struktur" von den Strukturalisten verstanden wird: ein Ordnungsprinzip, das in verschiedenen Einzelphänomenen die gleiche Regelmäßigkeit bewirkt, d. h. eigentlich: für die regelmäßige Wiederkehr einer Regelmäßigkeit oder kurz für Ähnlichkeit sorgt. Die strukturalistische Aktivität kann sehr wohl damit beginnen, daß die Struktur eines Einzelgegenstandes herausgestellt wird, aber dies tut man nur deshalb, „weil man im einzelnen Gegenstand das Vorhandensein einer Struktur' zeigen will, die er mit anderen Gegenständen gemeinsam hat.

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Vom Gegenstand wird gleichsam das Fleisch abgeschält, einmal um sein strukturelles Skelett zu erhalten, zum andern um in diesem Skelett jene Relationen auszusondern, die es mit anderen Skeletten gemein hat" (Eco 1973: 15). Dieser Charakter der Gemeinsamkeit ergibt mit der notwendig dazu gehörenden Abstraktheit die Allgemeinheit der Struktur. Die Struktur als Allgemeines gibt demnach die „Regeln" an die Hand, nach denen gewisse Klassen „funktionieren" (Barthes 1963 a: 214), die also bewirken, daß jedes „Exemplar" der Klasse gerade diese Regelmäßigkeit, Ordnung aufweist, daß seine Elemente gerade auf diese Weise interdependent sind. 3.2. Die literaturtheoretische Relevanz des Struktur-Begriffs 3.2.1. Die Relevanz der,Struktur' als interdependentes Ganzes 3.2.1.1. Die schwächere Fassung Die schwächere funktionalistische Fassung der Struktur, welche zumindest implizite - auch Strukturunabhängiges, „Absolutes" an den einzelnen Elementen bestehen läßt, dessen literarische Bedeutung nicht ausdrücklich negiert und nur auf der „Abfärbung" des Kontextes als Minimalforderung besteht, wird von den Formalisten expressis verbis zur Bestimmung des LKW herangezogen: „Das dichterische Werk ist eine funktionelle Struktur, und die verschiedenen Elemente können nicht außerhalb ihrer Verbindung mit dem Ganzen verstanden werden. Objektiv miteinander identische Elemente können in den verschiedenen Strukturen absolut unterschiedliche Funktionen bekleiden" (Jakobson & Mukarovsky: 31; vgl. auch Lotman 1972a: 56). Differenzen bestehen allenfalls in bezug auf das, was als Element oder - allgemeiner - als Bezogenes anzusprechen sei. Sklovskij definierte das LKW - wie erinnerlich - als „Verhältnis von Materialien" (1966: 163, herv. A. H.); dabei ist Material das, was an Außerkünstlerischem, an sich Nicht-Ästhetischem bei der Komposition herangezogen wird (siehe Wellek 1965: 55). Für Eco ist eine Struktur eine Form „als System von Relationen . . . zwischen . . . verschiedenen Ebenen (der semantischen, syntaktischen, physischen, emotiven;

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der Ebene der Themen und der Ebene der ideologischen Inhalte; der Ebene der strukturellen Beziehungen und der strukturierten Antwort des Rezipierenden; usw.)" (1973: 14 f., herv. A. H.). Lotman sieht das LKW als eine Struktur von Substrukturen an, welche je nach Kontext auch als „Geordnetheiten" und „Ebenen" bezeichnet werden (siehe z. B. 1972b: 278).

Diese Funktionalität im LKW sei mit drei Theoremen illustriert. 3.2.1.1.1. Funktionalität und das „Zufällige" am LKW Wie erinnerlich, hat Hegel vom Kunstwerk überhaupt und vom LKW insbesondere behauptet, es lasse Zufälliges an ihm prinzipiell nicht zu (1.1.1.), was in 1.2.1. dahingehend präzisiert wurde, daß es im LKW scheinbar Zufälliges sehr wohl geben könne, aber dieses sich im nachhinein in der Regel als Notwendiges, Gesetzmäßiges erweise. Daher besteht auf Seiten des Lesers die Tendenz zu Recht, „jegliche Ungeordnetheit des Textes als eine Geordnetheit besonderer Art zu betrachten" (Lotman 1972 b: 141). Konkreter: es geht dabei um drei Arten scheinbarer Zufälligkeit: etwas scheint vor dem Hintergrund des Außerliterarischen (etwa der Alltagssprache) zufällig, erweist sich aber vom Literarischen und vom konkreten LKW her als notwendig; etwas in einer bestimmten Ebene wirkt aufgrund der dort bereits instituierten Ordnung als ungeordnet, kehrt aber alsbald seine eigene Ordnung hervor; und schließlich: das, was sich von einer Ebene her als etwas Zufälliges zeigt, kann sehr wohl durch eine andere bestimmt sein. Im Grunde geht es bei all diesen Möglichkeiten um Funktionalität. „ Vor-dem-Hintergrund-von" setzt eigentlich (möglicherweise bloß subjektiv-vermeintliche) Einbettung in eine Struktur voraus (was nämlich bisher als „Ebene", „Ordnung", „Geordnetheit" bezeichnet wurde, läßt sich nunmehr - allgemeiner — als interdependentes Ganzes, mithin Struktur definieren). Das heißt: etwas, was in eine bestimmte Struktur (scheinbar) eingebettet den Wert „ungeordnet", (eventuell und vorübergehend) den Wert „unästhetisch" aufweist und die Funktion innehat, innovativ zu wirken, erhält in einer anderen Struktur gerade entgegengesetzte Prädikate: es ist geordnet, wirkt redundant und ästhetisch.

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Im Begriff der Funktionalität schwingen beide Bedeutungen des Wortes „Funktion" mit: nicht nur die „soziologische" der .Aufgabe' (Holenstein: 126), sondern auch die mathematische der .Abhängigkeit': In Abhängigkeit von dieser Struktur erfüllt ein bestimmtes Element diese Aufgabe.

3.2.1.1.2. Funktionalität und das Scheitern der Regelästhetik Mit dem Begriff der Funktionalität läßt sich auch erklären, warum jegliche Regelästhetik angesichts der Vielfalt literarischer Kunstwerke versagt. (Literatur)ästhetische Regeln besagen im wesentlichen: „Wenn du Ästhetisches hervorbringen willst, mußt du auf die Element-Art A die Element-Art B folgen lassen" usf. Das Versagen besteht nun (bei „guten" Regeln) nicht darin, daß das Nebeneinander von A und B nichts Ästhetisches hervorbringt, sondern darin, daß, auch wenn auf A nicht-B folgt, Ästhetisches Zustandekommen kann. Es ist z. B. eine durchaus „gute", ja ästhetisch eminent wichtige Regel, daß in der Aufeinanderfolge der Handlungseinheiten Notwendigkeit oder doch zumindest Wahrscheinlichkeit herrschen müsse. Vgl. Aristoteles Poetik 7: „Ganz ist, was Anfang, Mitte und Ende besitzt. Anfang ist, was selbst nicht notwendig auf ein anderes folgt, aus dem aber ein anderes natürlicherweise wird oder entsteht. Ende umgekehrt ist, was selbst natürlicherweise aus anderem wird oder entsteht, aus Notwendigkeit oder in der Regel, ohne daß aus ihm etwas weiteres mehr entsteht. Mitte endlich, was nadi anderem und vor anderem ist" (übers. O. Gigon). „Natürliches" Aneinandergereihtsein bewirkt nun Einheitlichkeit: Als Homer „die Odyssee dichtete, da brachte er nicht alles herein, was jenem zugestoßen war, wie daß er auf dem Parnaß geschlagen wurde und daß er sich in der Versammlung wahnsinnig stellte, wobei es in keiner Weise angemessen oder notwendig war, daß wenn das eine geschah, auch das andere geschehen mußte; sondern er gruppierte die Odyssee um eine einzige Handlung (Poetik 8, übers. O. Gigon).

Diese Regel von der Einheit der Handlung ist darum eine ästhetisch bedeutsame, weil ihre Befolgung es ermöglicht, daß die Handlungen der einzelnen Gestalten nur von „innen", von ihrer jeweiligen Persönlichkeit her bestimmt seien, daß nichts Zufälliges, ihnen Äußerliches an ihren Handlungen haften bleibe, kurz: daß sie in ihren Äußerungen bei sich, d. h. frei seien. Vgl. meine Ausführungen in 1969a: 18: Das Eingreifen des Zufalls verwerfen wir nicht nur deswegen, weil dadurch diesem individuellen Schicksal das Exem-

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plarische, Typische, Über-sich-hinaus-Weisende genommen wird, weil das „Bild" seine Geltung verliert und wir dadurch um eine Erfahrung über den Aufbau der existentiell-relevanten Wirklichkeit und die in ihr waltenden Gesetzmäßigkeiten gebracht werden (dies wäre „bloß" theoretisch-existentieller Verlust), sondern auch deswegen, weil damit das Individuum plötzlich unfrei würde und daher unästhetisch. Dies ist der Grund für die Notwendigkeit der Notwendigkeit in der Literatur.

Es läßt sich nun als eine Art des Nicht-von-innen-bestimmt-Seins, mithin der Unfreiheit auffassen, wenn die Handlungskette unvermittelt etwa durch Abschweifungen des Autors unterbrochen wird, die sich überhaupt nicht „natürlicherweise" aus der Haupthandlung ergeben (letztlich also aus der Innerlichkeit der zu Hauptgestalten erkorenen Personen) und die auch im weiteren Verlauf in keinerlei Beziehung zu ihr treten. Und trotzdem kann gerade durch dieses äußerliche Zusammenfügen von Erzählung und Abschweifung Ästhetisches entstehen. Dies wird uns etwa durch Lawrence Sternes Tristram Shandy vordemonstriert: „Die Lektüre des Tristram Shandy hinterläßt zunächst den Eindruck der Unordnung, ja des Chaotischen; der Leser kann vor lauter Abschweifungen kaum einen Handlungsfaden ergreifen und ihn noch viel weniger festhalten." Doch „Sterne s i c h e r t . . . die Geschlossenheit des Romans durch . . . die Allgegenwart des Erzählers" (Standop 8c Mertner: 356 f.). Die Ästhetizität ist hier gerade deswegen möglich, weil das, was in einem bestimmten (schlecht geratenen) Werk, in einer bestimmten Struktur, als unästhetisch wirken würde (die Abschweifung), hier, in der Sterneschen Struktur, ästhetisch wirkt, freilich aus anderen Gründen als der genauen Befolgung des aristotelischen Kohärenz-Prinzips. Solche Gründe könnten etwa sein, erstens, gerade die Verwirklichung der Einheitlichkeit in der Mannigfaltigkeit durch die Allgegenwart des Autors, die beileibe nicht bloß den Abschweifungen als solchen, der Rede-in-eigener-Person tout court zu verdanken ist, sondern der Gabe Sternes, durch die Art seiner causerie seine Innerlichkeit fast greifbar präsent zu machen; zweitens wirkt diese Präsenz nicht nur als vereinheitlichendes Prinzip ästhetisch, sondern - da sie den Eindruck erweckt, nichts anderes als die Innerlichkeit Sternes zu offenbaren, diese aber in ihrer Totalität - auch als deren „Befreiung"; drittens werden auch Sternes Witz, seine Verspieltheit, sein geistiger Übermut genossen, wohl als Zeichen innerer Ungebundenheit: der schöpferischen Freiheit, Dinge auch von ihrer Kehrseite her zu sehen bzw. zu konzipieren. (Letztlich sind das freilich nicht „andere" Gründe, denn Kohärenz und der Sternesche Verstoß gegen sie sind gleichermaßen „Ver-

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wirklichungen" von Freiheit in der Sinnlichkeit und daher beide ästhetisch. Z u dieser Bestimmung des Ästhetischen siehe weiter unten in 3.2.1.2. und 5.2.3. sowie im einzelnen in H o r n 1 9 6 9 a : 1 - 1 2 , 85-92.)

Die weitgehende Funktionalität alles Literarischen (so auch die des Wertes einer Regelverletzung) bewirkt demnach - zusammen mit der Tatsache, daß die Zahl der Möglichkeiten, Ästhetisches zu verwirklichen, prinzipiell unendlich groß ist (wenigstens begegnet man immer neuen Realisierungsarten, und es würde wohl schwerfallen, schlüssig nachzuweisen, daß diese Zahl endlich sein müsse) beides zusammen bewirkt also, daß eine Regel verletzt werden kann, gerade indem eine andere instituiert wird und diese wiederum in einer dritten Struktur einer weiteren Regel weichen kann usw., usf. (wobei wohlgemerkt nicht nur die Innovation, sondern auch und zuvorderst originäre Ästhetizität genossen wird). „Regel" heißt hier nicht: „Du mußt sie befolgen, s o n s t . . s o n d e r n : „Wenn du sie befolgst, d a n n . . . " , was seinerseits nicht bedeutet: „Wenn du sie nicht befolgst, d a n n . . . nicht". Ästhetische Regeln ermöglichen bloß, sie schreiben nichts vor und verbieten nichts. Sie geben nur mögliche Handlungsprinzipien an die Hand, keine notwendigen. Nehmen wir hinzu, daß es der hohen Begabung etwa eines Sterne bedarf, damit überhaupt eine Struktur geschaffen wird, die eine gültige Regel durch eine andere ersetzt, so kommen wir der Kantschen Bestimmung nahe, wonach „Genie... das Talent (Naturgabe)" ist, „welches der Kunst die Regel gibt" (Kritik der Urteilskraft, § 46). D i e Regelästhetik versagt indessen nicht nur, indem ihr die literarische R e a l i t ä t auf Schritt und Tritt widerspricht (wegen der bloß relativen Geltung ihrer R e geln), sondern auch insofern, als sie im strengen Sinne nicht befolgt werden kann, gibt sie doch nur allgemeine H a n d l u n g s - P m j z i p i e » , nicht aber konkrete H a n d l u n g s - A n l e i t u n g e n an die H a n d . Wie sich konkret etwa das aristotelische K o h ä renz-Prinzip verwirklicht oder was genau zu „machen" ist, d a m i t Abschweifungen ästhetisch wirken, obwohl sie diesem P r i n z i p widersprechen, dies läßt sich gerade wegen der involvierten Einmaligkeit aller idealen künstlerischen K o n k r e tion - nicht „ m i t l i e f e r n " : es ist Sache des schöpferischen E i n f a l l s .

3.2.1.1.3. Funktionalität und „Minus-Bedeutung" Das Fehlen eines Zeichens hat oft überhaupt keine Bedeutung, wird überhaupt nicht beachtet, einfach weil seine Anwesenheit im ge-

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gebenen Zeichensystem nicht vorgesehen ist. Daß an einer Verkehrsampel kein Blau aufleuchtet, wird völlig außer acht gelassen, da es auch nicht erwartet wird. Fehlt aber in irgendeinem Land das Gelb, so fällt das sofort auf und hat auch eine eigene, paradoxerweise positive Bedeutung. Diese läßt sich - gerade in Anbetracht des Fehlens, der Abwesenheit - mit Lotman als „Minus-Bedeutung" bezeichnen; der anderen Art der Abwesenheit kann man allenfalls eine „Null-Bedeutung" zuordnen (Lotman 1972b: 214). Fehlendes als Zeichen hat in der Sprache eine hervorragende Bedeutung (Saussure sprach von „Null-Zeichen", wodurdi die Lotmansche Unterscheidung verwischt wird; Trubetzkoy und Jakobson verwenden das Wort „merkmallos" siehe Holenstein: 135): „die Insel" etwa signalisiert gerade durch das Fehlen des Plural-«, daß es sidi nur um eine, nicht um mehrere Inseln handelt. Es gibt sogar nach Jakobson ein allgemeines Gesetz, „daß die Priorität des merkmallosen Zeichens im Aufbau der Sprache und die gegenläufige Priorität des merkmalhaltigen Zeichens im aphasisthen Abbau der Sprache besagt " (Holenstein: 137).

Zur näheren Erläuterung des Minus-Wertes bezieht sich Lotman auf den Begriff des „Loches" in der Molekularphysik, „der durchaus nicht das gleiche meint wie eine einfache Abwesenheit von Materie. Es ist vielmehr die Abwesenheit von Materie an einer Stelle der Struktur, die eigentlich ihre Anwesenheit voraussetzt. Unter diesen Umständen benimmt sich das ,Lochc derart materiell, daß man sogar sein Gewicht messen kann - versteht sich, in negativen Werten" (1972b: 157). Diesen Gedanken über die Bedeutung der Abwesenheit als Funktion des jeweiligen Kontextes zieht Lotman mit großem Geschick zur Erklärung verschiedenster literarischer Phänomene heran. Wenn aufgrund des vorhergehenden Textes oder der herrschenden literarischen Tradition - Reim erwartet wird und trotzdem keiner kommt, so ist „diese Abwesenheit gleich Anwesenheit eines NichtReims" - mit jeweils herauszustellender eigener Bedeutung (ebd. 145). Auch das Umgekehrte läßt sich freilich beobachten: Wenn etwa in den Blankverse-Dramen Shakespeares die einzelnen Auftritte mit einem Paar-Reim zu Ende gehen, so werden diese gereimten Verse vor dem Hintergrund der Blankverse-Erwartung paradoxerweise auch als merkmallos, als „nicht-reimlos" empfunden, mit der speziellen Bedeutung eines Punktes am Satzende oder vielmehr: eines kunstvoll bestickten Saumes.

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Diese „bedeutungsrelevante Abwesenheit" (ebd. 157) zeigt sich u. a. auch in der heute üblichen Vortragsweise an sich durchgehend rhythmisierter Gedichte: sie werden nicht skandiert, die Pausen sind im allgemeinen die vom Sinn her gesetzten. Dabei werden „die rhythmischen Pausen . . . negativ realisiert, indem man sie nicht artikuliert. Trotzdem ist das Fehlen einer Pause dort, wo wir sie erwarten (d. h. einer rhythmischen Pause im Vers) etwas völlig anderes als die Abwesenheit einer Pause dort, wo keine erwartet wird." Im Vers ist sie nicht realisiert, aber „spürbar" (ebd. 206 f., auch 267). 3.2.1.2. Die stärkere Fassung Trotz seinem allgemein maßvollen Funktionalismus spitzen sich Lotmans Formulierungen über die Reichweite der Interdependenz im LKW zuweilen ungebührlich zu; so etwa, wenn er „Text" als „die Gesamtheit der strukturellen Relationen" definiert, „die linguistischen Ausdruck finden" (ebd. 157), oder wenn er es - noch deutlicher und schärfer — als Kennzeichen seiner strukturellen Poetik bezeichnet, daß sie „die künstlerischen Elemente als Relationen auffaßt" (ebd. 207). Solchen Übertreibungen gegenüber gilt es, energisch darauf hinzuweisen, daß es, erstens, im Kunstwerk auch strukturunabhängige, vom jeweiligen Zusammenhang unberührte und — a fortiori — in die jeweils herrschenden Relationen nicht auflösbare „Elemente" oder— allgemeiner - Momente gibt, und daß, zweitens, diese Momente ästhetisch durchaus relevant sind, man also nicht einmal dazu Zuflucht nehmen kann, ihre Existenz zwar unwillig anzuerkennen, sie aber als Unwesentliches sogleich beiseite zu schieben. Es sollen im folgenden drei solche Momente hervorgehoben werden. Zunächst besteht jedes Kunstwerk (als rezipiertes) aus zwei qualitativ grundverschiedenen „Schichten": aus einem sinnlichen „Vordergrund" und einem geistigen „Hintergrund" (vgl. Hartmann 1966: 90-130). Jedes LKW wird zunächst sinnlich aufgenommen: in der Begegnung mit der sinnlichen Seite der (gesprochenen oder geschriebenen) Sprache. Alles außer diesem realen Vordergrund ist geistiger, nicht-räumlicher, irrealer Natur (Hartmann 1966: 85): es

Die literaturtheoretisdie Relevanz des Struktur-Begriffs

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kann nur innerlich erlebt werden, sei es als Sinnhaft-Vorstellbares oder als Seelisch-Nachfühlbares. Freilich ist dieses Geistige, der Inhalt, an sich nicht im Kunstwerk, sondern bloß in der Vorstellung des Künstlers und des Rezipienten, aber im Füruns, in der Rezeption, erscheint er als Hintergrund dessen, was sinnlich gegeben ist, und zwar mit der Bestimmung, notwendig durch dieses jeweilige Sinnliche evoziert worden zu sein. An der Grundbeschaffenheit dieser beiden Schichten, an ihrer Sinnlichkeit bzw. Geistigkeit, ändert die jeweilige Struktur des Kunstwerks nichts, im Gegenteil: sie bestimmen - zwar nicht die jeweilige, aber die allgemeine Struktur des Kunstwerks, und zwar insofern, als diese notwendig eine Substruktur der sinnlichen Schicht und eine oder mehrere Substrukturen der geistigen Schicht enthalten muß. Fürs erste gilt es also festzuhalten, daß Sinnlichkeit und Geistigkeit jedes Kunstwerks prinzipiell strukturunabhängig sind. Zweitens ist an den bereits zur Sprache gebrachten Begriff des Materials zu erinnern, als das, was an Außerkünstlerischem bei der Komposition herangezogen wird, woraus das Kunstwerk gefertigt ist. Dies als dem K W notwendig Vorausgehende muß vom erst zu verfertigenden (obendrein aus ihm zu verfertigenden) Kunstwerk und von dessen Struktur unabhängige Qualitäten aufweisen, ja es wiederholt sich hier (allerdings nur bedingt) das, was das Verhältnis der Schichten zur Struktur kennzeichnet: weit entfernt davon, prinzipiell von der Struktur des Kunstwerks abhängig zu sein, bestimmt umgekehrt die jeweilige Materie der einzelnen Künste wesentlich, wenn auch beileibe nicht ausschließlich - die für die betreffende Kunst typische Werkstruktur. Daß Literatur als aus Sprache „Gefertigtes" die Struktur der jeweiligen Sprache und der Naturspradie überhaupt in sich aufhebt, leuchtet unmittelbar ein, wird aber im nächsten Kapitel noch ausführlicher dargestellt. Dies besagt selbstverständlich nicht (hier der Unterschied gegenüber dem Schicht/Struktur-Verhältnis), daß die Materie, das Herangezogene, von dem Ganzen, das sie mitkonstituiert, gänzlich unberührt bliebe. Worten etwa wachsen im Kontext eines L K W spezielle, ungewohnte Bedeutungen zu, aber sie büßen darum ihre

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kunstunabhängigen, „Lexikon"-Bedeutungen keineswegs ein. Tun sie das, so wird das Kunstwerk insofern unverständlich; es kommt keine Kommunikation zustande; die sinnliche Schicht schließt sich mit keinerlei geistiger Schicht zum ästhetischen Gegenstand zusammen. Doch die ästhetische Relevanz der Materie erschöpft sich nicht im „Mitbringen" allfälliger Bedeutung: die Materie kann auch Ästhetizität mitbringen. Marmor oder Granit sind offenkundig (und aus guten Gründen) ästhetischer als etwa Breccie — bereits in sich, vor dem Prozeß der Formung. Der verständige Künstler nützt diese Ästhetizität aus, wählt unter anderem gerade aus diesem Grunde eher Marmor als Breccie; denkt nicht daran, das Marmorhafte des Marmors irgendwie unter den Scheffel zu stellen, sondern stellt es im Gegenteil ins bestmögliche Licht: er redinet mit ihm und kalkuliert seine Wirkung in den Gesamteffekt ein. In ähnlicher Weise ist z. B. das ungarische Wort pillango euphonischer als das bedeutungsgleiche lepke — dies auch dann, wenn man nicht weiß, was es bedeutet. Damit sind w i r aber bereits bei dem dritten Moment angelangt, welches das Herrschaftsgebiet der Funktionalität im Kunstwerk eingrenzt: bei dem, was für sich genommen ästhetisch oder - näher poetisch ist. Daß es solche „absolut" ästhetische Elemente tatsächlich gibt, läßt sich nicht nur anhand der allfälligen Ästhetizität des verwendeten Materials aufzeigen: der Bereich des Für-sich-Ästhetisdien umfaßt — um nur bei der Literatur zu bleiben — außer „schönen" (d. h. euphonischen) oder poetischen Wörtern (bei diesen letzteren fällt auch die Bedeutung mit ins Gewicht) zumindest bestimmte Motive, Themen und Beziehungen. Einen diesbezüglichen Katalog aufstellen zu wollen w ä r e angesichts der Unendlichkeit und Offenheit des ästhetischen Kosmos ein ebenso groteskes Unterfangen wie der Versuch, über die Beschaffenheit noch nicht entstandener Kunstwerke Mutmaßungen anzustellen. Es sollen nur einzelne Beispiele herbeigebracht werden. Doch zunächst einige Klarstellungen, um Mißverständnissen vorzubeugen. Daß von etwas behauptet wird, es sei für sich ästhetisch, heißt erstens nicht, daß seine bloße „Verwendung" bereits die Ästheti-

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zität des Ganzen garantiere. Es kann sehr wohl vorkommen, daß in der gegebenen Struktur andere, falsch gestaltete Momente so stark dominieren, daß sich neben ihnen das ästhetische, mit Geschmack gewählte Moment als unbedeutend ausnimmt. Was behauptet wird, ist bloß, daß ein Kunstwerk, insofern es ein solches Moment enthält, ästhetisch ist. Die Gesamtwirkung oder der globale Wert eines Kunstwerks ist sicherlich vom jeweiligen Ganzen, von der einmaligen Konstellation dieser Elemente und dieser Beziehungen abhängig - nicht aber die Wirkung und der Wert des Für-sich-Ästhetischen. Zweitens gilt die Behauptung, etwas sei für sich genommen ästhetisch, nur, wenn das fragliche Moment vollkommen verwirklicht ist. Granit hat zwar seinen eigenen Reiz, aber wenn etwa eine Granitstatue restauriert werden muß und das eingesetzte Stück die charakteristische, gesprenkelte Textur des ursprünglichen Gesteins nur abgeschwächt zeigt, wenn es also seinem Begriff nicht voll entspricht, so kann mit der vollkommenen Ausprägung auch die Ästhetizität verloren gehen; wir sagen auch, es sei kein „schönes Stück" Granit. Der Begriff des Für-sich-Ästhetischen impliziert - drittens - nicht, daß es jedem gefallen müsse. Das Ästhetische ist überhaupt nur für den Menschen da; in der Ästhetik ist Objekt ohne (rezipierendes) Subjekt undenkbar (in der Ontologie demgegenüber durchaus nicht, vgl. dazu Lukacs 1963: 1/558). Aus diesem Grunde ist es auch sinnlos, vom Ästhetischen an sich zu reden: an sich, d. h. losgelöst vom Menschen gibt es nur Physisches, nicht Ästhetisches. Das Ästhetische ist aber - näher - nur für kundige Subjekte da, d. h. er setzt ein entsprechendes Sensorium voraus, wie auch gewisse Töne nur von bestimmten Organismen aufgenommen werden können. Nur ist eine solche rein sinnliche Fähigkeit innerhalb der betreffenden Art allgemein; dagegen ist „Kundigkeit" in bezug auf das Ästhetische (vulgo: guter Geschmack) in individuell verschiedenem Maße vorhanden. Den Gründen dieser großen Variationsbreite sei hier nicht nachgegangen; wesentlich ist in unserem Zusammenhang bloß, daß der gute Geschmack zumindest vier Faktoren voraussetzt

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(gerade diese sind — etwa im Gegensatz zu den Sinnesvermögen — unter den Menschen ungleich verteilt). Erstens setzt er „Verständigkeit" voraus: Intelligenz im ursprünglichen Sinne des inter-ligere, des Verbinden-Könnens. Jede Kunst erfordert die Fähigkeit, mit Sinnlichem Seelisches zu verbinden, die sinnlichen Zeichen der Seele zu verstehen. Darüber hinaus verlangt die Literatur als sprachliches Kunstwerk auch theoretische Verständigkeit, die sich allgemein in der Fähigkeit bekundet, Begriffliches mit Anschaulichem zu verbinden: zu wissen, was mit bestimmten Worten, hauptsächlich aber Wort-Kombinationen gemeint ist. Diese doppelte Verständigkeit, die Deutung von Sinnlichem und Begrifflichem, Sinnfindung im allgemeinen, setzt ihrerseits Differenziertheit voraus, damit man die Nuance merkt; spontane Produktivität, damit man den Sinn als Ganzes entwerfen kann; Kunstverstand im besonderen verlangt Sensibilität, damit der Nuance gefühlter Sinn unterlegt werden kann. Zweitens: sowohl die Verständigkeit als auch die Sicherheit des Werturteils wachsen zusammen mit der Bildung. Die Begegnung mit Neuem, Tiefem und Differenziertem macht differenzierter, schöpferischer, empfindlicher - im kompliziert-dialektischen Prozeß des aktiven Eingehens-auf und des passiven Sich-inspirieren-Lassensvon; außerdem erkennt man den relativen Rang eines Werkes um so besser, je mehr Qualitätsstufen man bereits begegnet ist. Drittens impliziert der gute Geschmack Reinheit des ästhetischen Urteils, die Fähigkeit also, beim Urteilen von sozialen, politischen, moralischen, religiösen oder persönlich-psychischen Motivationen abzusehen bzw. sie als solche zu durchschauen. Viertens setzt er außer Verständigkeit, Bildung und Reinheit auch Tiefe und Allgemeinheit der urteilenden Instanz voraus: der gute Geschmack ist in seiner idealen Form die ästhetische Empfänglichkeit der gesamten Menschheit, wie sie sich im Individuum bekundet. Offensichtlich sind selbst die größten Kritiker von diesem Ideal weit entfernt: wie verständig, gebildet und rein auf das Ästhetische ausgerichtet sie auch sein mögen, sie sind befangen und ge-fangen in der relativen Einseitigkeit ihres Sensoriums (in der sich auch die Einseitigkeit, der besondere Geschmack ihres historischen Ortes spiegeln), was freilich niemanden

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der Verpflichtung enthebt, sich mit seiner historischen Bedingtheit nicht abzufinden, sich erst recht nicht in ihr zu gefallen, sondern dieses Ideal (nicht weniger als die übrigen) unermüdlich anzustreben. (Zur Problematik des objektiven Geschmacks siehe das ausgezeichnete Essay David Humes Of the Standard of Taste.) Es dürfte klar sein, daß in bezug auf diese Faktoren, also für die ästhetische Wert-Sichtigkeit im allgemeinen, die allergrößten individuellen Unterschiede bestehen, so daß es keine Rede davon sein kann, daß das Für-sich-Ästhetische für alle ästhetisch wäre. Doch dies berührt die wert-volle objektive Beschaffenheit des Ästhetischen nicht: diese bedeutet nur, daß es - adäquates Sensorium vorausgesetzt - zu einem ästhetischen Werterlebnis kommen muß, d. h. daß es - immer unter der gleichen Voraussetzung - nicht im Belieben des Subjekts liegt, etwas für ästhetisch wertvoll zu erklären, sondern daß das Subjekt in seinem Urteil im wesentlichen durch Objektives, Ansichseiendes bestimmt ist. Eben weil das Für-sich-Ästhetische weder als gänzlich Ansichseiendes, von allen Menschen Losgelöstes, noch als Für-alle-Seiendes, d. h. von den individuellen Bedingtheiten und Beschränktheiten Losgelöstes gedacht werden kann, ist es richtiger, es nicht absolut Ästhetisches, sondern eben — iw-sic^-Ästhetisches zu nennen. Im Zusammenhang mit der „Kundigkeit" nur noch ein kurzer Hinweis darauf, daß sie - allem Anschein zum Trotz - ein objektivierbarer Begriff ist, d. h. daß es Kriterien gibt, die prinzipiell ihr Da-Sein oder Nicht-Da-Sein festzustellen erlauben. Ich denke dabei, erstens, an den Konsens der unterschiedlichsten Arten von Menschen, auch solcher anderer Zeiten und Kulturen, mit dem betreffenden Urteil - ein untrügliches Zeichen der Tiefe und Allgemeinheit, der „Gattungsmäßigkeit" (Lukacs) der urteilenden Instanz. Offenkundig ist dies ein Kriterium, das um so weniger anwendbar ist, je näher der betreffende Kritiker zu unserem eigenen Hic-et-nunc steht. Als zweites kommt die Fähigkeit in Frage, andere, die „blind" waren, „sehend" zu machen: Werterlebnisse herbeizuführen, wo bestenfalls Indifferenz herrschte; objektiv unbegründete Werterlebnisse als solche einsichtig zu machen, indem Besseres vor Augen geführt wird. Wenn jemand dies vermag, so erweist er sich jedenfalls als derjenige mit dem besseren Geschmack: er verfügt augenscheinlich nicht nur insofern über ein umfassenderes Sensorium, als er mehr sieht, mehr und reiner empfindet, mit mehr vergleichen kann als der andere, sondern auch insofern, als sein Sensorium im Grunde dasjenige des „Bekehrten" in sich schließt. Damit wird wiederum - wenn auch „im Kleinen", in der zwischenmenschlichen Kommunikation innerhalb der gleichen

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Das L K W als Struktur

Kultur - (relative) „Kundigkeit" objektiv: es ist intersubjektiv nachprüfbar, daß das fragliche Urteilsvermögen das größere Maß an Allgemeinheit, an menschheitlicher Repräsentativität aufweist.

Schließlich bedeutet die Behauptung, etwas sei für sich genommen ästhetisch, nicht, daß sein kontradiktorisches, ja konträres Gegenteil nicht auch seinerseits ästhetisch sein könne - freilich aus anderen Gründen. Gerade die moderne Dichtung zeigt z. B., daß auch das Gegenteil des Euphonischen (nicht bloß das Nicht-Euphonische, sondern sogar das dem Euphonischen polar Entgegengesetzte, das Kakophonische) unter Umständen ästhetisch sein kann, wie ja auch inhaltlich gesehen die moderne Literatur durch die Abkehr vom „Schönen" im engeren Sinn gekennzeichnet ist: durch „die fortschreitende Erkundung der tabuierten Zonen des Pathologischen, Obszönen, Wahnhaften, Ekelhaften, Unbewußten, Traumhaften, Absurden, Schäbigen und Banalen" (Wellershoff: 743) - Themen, die allesamt unter Umständen ästhetisch sein können. Aber nur unter Umständen. Das heißt: das für sich Ästhetische (etwa das Euphonische) unterscheidet sich vom funktional-relativ Ästhetischen (in diesem Fall: vom Kakophonischen) gerade darin, daß dieses letztere auf besondere Umstände angewiesen ist, um ästhetisch wirken zu können: es muß z. B. in einem Milieu auftreten, das ihm besondere Expressivität, inhaltliche Relevanz verleiht: reine Transparenz auf Seelisches ist auf jeden Fall ästhetisch. Die bloße Verletzung von Euphonie-Regeln, die Kakophonie in sich, verbürgt noch keine Ästhetizität, wenn anders „Euphonie" und „Kakophonie" noch einen Sinn behalten sollen. Demgegenüber ist für die Euphonie als Für-sich-Ästhetisches kennzeichnend, daß sie den Grund ihrer Ästhetizität in sich, in ihrem Begriff (und in dessen Beziehung zum Begriff des Ästhetischen und des Menschen) trägt. Das gleiche läßt sich etwa über Sternes Abschweifungen sagen: sie sind bloß funktional-relativ ästhetisch, denn auch sie sind auf günstige Begleitumstände angewiesen: sie mußten so gestaltet werden, daß Sternes Innerlichkeit in Tristram Shandy allgegenwärtig wurde; daneben verdanken sie ihre Anziehungskraft dem (von der Abschweifung als solcher aus gesehen) zufälligen Moment seines Wit-

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zes. Wenn Abschweifungen in sieb, in ihrem puren Gegensatz zur Kohärenz, ästhetisdi wären, so wäre das nach wie vor kein Funktionalismus, sondern bloß Rollentausch: das Abschweifend-Zerfallende, ja Chaotische wäre nun - entgegen jeglicher ästhetischen Erfahrung - für sich ästhetisch. Daß es indessen nicht nur einzelne (euphonische) Wörter und gewisse Beziehungen (z. B. Kohärenz) für sich ästhetisch sind, sondern auch bestimmte Motive und Themen, möge anhand der Poetizität des Ätherischen dargetan werden. Ich schlage vor, unseren Ausgang vom bereits erwähnten ungarischen Wort pillangö zu nehmen, das - es sei hier verraten - soviel wie ,Schmetterling' bedeutet. Es ist dies ein echt poetisches Wort für einen Ungarn, und zwar nicht nur seines Wohlklanges wegen, sondern auch aus zwei weiteren Gründen. Es ist zunächst ein Wort, das durch Klangsymbolik oder (wie es in der ungarischen linguistischen Terminologie vorzugsweise heißt) durch Stimmungsmalerei gekennzeichnet ist: es will mit seinem Klang die gleiche Stimmung, das gleiche Gefühl, den gleichen (nicht-klanglichen) Eindruck erwecken wie der Schmetterling selber. (Zum Phänomen der Stimmungsmalerei im Ungarischen siehe Derne et al.: 1 4 9 f f . ; Barczi et al.: 312 f.). Dabei spielt zunächst das helle i eine Rolle, das im allgemeinen Kleines, Feines konnotiert. Diesen Unterschied in der Klangsymbolik heller und dunkler Vokale (schon die deutschen Bezeichnungen „hell" und „dunkel" weisen auf die synästhetischsymbolische Wirkung der Vokale hin) bemerkte bereits Plato, „als er den Unterschied im Klang von ,mikros' und ,makros' mit dem Unterschied der Bedeutungen in Beziehung setzte" (Kayser: 102). Es ist übrigens kennzeichnend, daß auch andere, miteinander nicht verwandte Sprachen das ganz Kleine oft mit Wörtern bezeichnen, die ein i enthalten; vgl. z. B. ung. pici, piciny, it. piccino, dt. winzig usw. (Barczi et al.: 313).

Es ist indessen nicht nur der Anfangsvokal, der Stimmung vermittelt, sondern auch die ersten Konsonanten: der stimmlose Explosivlaut p bringt den lautlos-plötzlichen Neubeginn der Bewegung nahe, den Umschwung der Flügel; das lange, fließende / sodann ihr Ausschwingen in sanfter, streichelnder Berührung. Das Stimmungmalende ist in diesen ersten drei Lauten beschlossen, in pill-, das früher wahrscheinlich ein eigenständiges Verb war. Dieses ist heute nur aus ver-

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schiedenen, ähnlidi klingenden Wörtern z u erschließen, die charakteristischerweise alle Ähnliches bedeuten, so pille ,Falter', pilla .Augenwimper', pillanat ,Augenblick', pillant ,blicken', pislant ,mit den Augen winken', pislog, pillog, pillang ,blinzeln' (Barczi: 242). D i e Endung -ng in pillang ist ein Zeichen wiederholter Tätigkeit; das - o ist die typische Endung des Partizip Präsens; pillango bedeutet mithin etymologisch das „Blinzelnde", Flatternde. Es ist übrigens bemerkenswert, daß auch im Lateinischen und nachher im Französischen .Schmetterling' mit Wörtern bezeichnet wird, weldie eine ähnliche Lautfolge enthalten: lat. papilio, fr. papillon. Einflußnahme auf das Ungarische ist dabei mit Sicherheit auszuschließen.

Klangsymbolik bedeutet nun selbstverständlich nicht, daß eine Lautfolge in sich, in Unkenntnis ihrer Bedeutung, jedem die gleiche Stimmung suggerieren müsse, daß also ihre Bedeutung von jemandem, dem die Spradie fremd ist, erraten werden könnte. (Vgl. Kayser: 103: „Noch stärker als bei den Klangmalereien geben erst die Bedeutungen die Richtung auf das Symbolisierte an.") Es geht vielmehr um eine spielerische, zur Verständigung streng genommen unnötige Unterstützung der Bedeutung von der Klangseite her, eine sinnliche Verdoppelung des Geistigen, die vom Sprecher und Hörer - bei genügend seelischer Muße, d. h. kontemplativer Distanz - als solche auch genossen werden kann, und zwar gerade weil mit der Transparenz des Sinnlichen auf das Geistige Ästhetisches entsteht. Das Wort pillango ist demnach nicht nur als Euphonisches, sondern auch als Stimmungmalendes für sich ästhetisch, und der Grund, warum das sinngleiche lepke allgemein nicht als poetisch empfunden wird, liegt gerade darin, daß es weder durch Euphonie noch durch Stimmungsmalerei gekennzeichnet ist. Doch wenn es dem Wort lepke gelingt, dank günstiger Umgebung das von ihm Bedeutete anschaulich zu evozieren, so wird es im gleichen Maße poetisch-ästhetisch, als dieses Bedeutete, der Schmetterling selber, poetisch-ästhetisch ist. Denn - und das ist der eigentliche Zielpunkt unseres Umwegs über die ungleichen Geschwister pillango und lepke - es kann gezeigt werden, daß nicht nur der Schmetterling als Wirkliches oder als künstlerisches Motiv, sondern überhaupt das Ätherisch-Leichte, das scheinbar Wesenlose für sich ästhetisch ist (so d a ß - u m noch ein letztes Wort über pillango zu verlieren - dessen Ästhetizität seiner Euphonie, seiner Klangsymbolik und seiner Bedeutung zuzuschreiben ist).

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Zum Zwecke dieses Nachweises sollen zunächst Phänomene aufgezählt werden, denen wohl Poetizität bescheinigt werden kann und deren Begriffe das gemeinsame Merkmal des Ätherischen enthalten; sodann soll dieses Merkmal mit dem Begriff des Ästhetischen und dem des Menschen in Beziehung gesetzt werden, in der Hoffnung, daraus die fürsichseiende Poetizität dieses Motivs und Wirklichkeitsmerkmals erschließen zu können. (Das Poetische wird hier durchweg als eine Art des Ästhetischen aufgefaßt, so daß der Nachweis von Poetizität a fortiori ein Nachweis von Ästhetizität ist. Das Poetische in diesem engeren, keineswegs auf die Lyrik, ja nicht einmal auf die Literatur oder überhaupt auf die Kunst beschränkten Sinne liegt dabei gerade in jenem Feinen, Verfeinerten, gleichsam Körperlosen, das im Folgenden exemplifiziert werden soll. Daß dieses auch außerhalb der Poesie mit dem Namen „poetisch" belegt wurde, zeigt, wie typisch es für die Poesie sein muß, was wiederum nur dann verständlich wird, wenn seine fürsichseiende Ästhetizität nachgewiesen werden kann.) Wirkungsverwandt mit unserem Ausgangsbeispiel, dem Schmetterling, ist die Feenwelt etwa eines Shakespeare: von der Königin Mab zu reden (die „kommt, nicht größer als der Edelstein / Am Zeigefinger eines Aldermanns, / Und fährt mit 'nem Gespann von Sonnenstäubchen / Den Schlafenden quer auf der Nase hin. / Die Speichen sind gemacht aus Spinnenbeinen, / Des Wagens Deck' aus eines Heupferds Flügeln, / Aus feinem Spinngewebe das Geschirr, / Die Zügel aus des Mondes feuchtem Strahl"), von ihr zu reden ist (so dünkt es wenigstens Romeo), wie wenn man von nichts spräche, was von Mercutio auch bereitwillig zugegeben wird: „Wohl wahr, ich rede Von Träumen, Kindern eines müßgen Hirns, Von nichts als eitler Phantasie erzeugt, Die aus so dünnem Stoff als Luft b e s t e h t . . {Romeo und Julia, I. iv. Ubers. Schlegel-Tieck.)

Kein Wunder daher, daß diese Gestalten sich in Luft auflösen und dabei nicht weniger poetisch sind als Visionen und Träume, sofern gerade deren Fragilität, Unbeständigkeit, ihr ungreifbares und unbegreifliches Kommen und Gehen herausgestellt werden:

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„Das Fest ist jetzt zu Ende; unsre Spieler, Wie ich Euch sagte, waren Geister und Sind aufgelöst in L u f t , in dünne L u f t . Wie dieses Scheines lockrer Bau, so werden Die wolkenhohen Türme, die Paläste, Die hehren Tempel, selbst der große Ball, Ja, was daran nur teil hat, untergehn; Und wie dies leere Schaugepräng erblaßt, Spurlos verschwinden. Wir sind solcher Zeug Wie der z u Träumen, und dies kleine Leben U m f a ß t ein Schlaf." {Der Sturm, I V . i. Ubers. Schlegel-Tieck.)

Bedenken wir des weiteren die Schönheit des blühenden Baumes. Der kahle Baum wird als Totes, Anorganisches, Dingliches erlebt. Das Hervorsprießen der Knospen bedeutet nicht nur einen Zuwachs an Mannigfaltigkeit (in der Form von Farbe und Gestalt), sondern auch Belebung: Lebendigwerden des (scheinbar) Toten. Ineins damit entsteht der Kontrast zwischen Hartem und Weichem, von Grobund Feinstrukturiertem. Dieser wird potenziert, wenn aus den Knospen Blätter, vor allem aber wenn aus ihnen Blüten werden. Die Blüten sind - besonders vor dem Hintergrund des dinglichen Baumes — die Feinheit, die Zartheit selber: sie scheinen immateriell zu sein. Zusätzlich also zum Zuwachs an Mannigfaltigkeit, zum Erleben (scheinbar) beginnenden Lebens scheint hier auch das Erleben der Immaterialität Genuß zu bereiten. So auch beim Nebel, sofern aus ihm die Dinge bloß hervordämmern, um uns allmählich wieder zu entschwinden. Möglicherweise spielt dabei auch die Unbestimmtheit der Konturen in das Anziehende hinein (etwas, was man eher malerisch als poetisch nennt); vielleicht auch das alles erfüllende Medium als Einheit Stiftendes; die Gemütlichkeit einer begrenzten Welt oder - gerade umgekehrt der Gedanke an das gemütliche Zuhause, das bei Nebel als noch wertvoller, weil schützender erscheint. Doch das ästhetisch Entscheidende scheint am allmählichen Verschwinden zu liegen: die Dinge entmaterialisieren sich gleichsam, sie gehen über in - die Frage ist gerade: worein? In nichts etwa? Hat man nicht vielmehr den Eindruck, als ragten sie in die Transzendenz hinein? Als würden

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sie uns entrücken, als würden sie gleichsam verdeckt; als würden sie sich mithin eben nicht in nichts auflösen, sondern weiterexistieren jenseits unserer Sinnenwelt? Dieser Eindruck herrscht auch wohl vor, wenn am Ende gewisser Filme die Kamera zurückfährt (travelling en dehors) und die Hauptfigur immer kleiner wird, bis sie sich im Unendlichen zu verlieren scheint; und der gleiche Eindruck könnte auch erklären, warum jeglicher dichterisch-künstlerische Anklang an die Vergänglichkeit poetisch wirkt: auch hier die Vorstellung eines (allerdings rein zeitlichen) Hinüberschwindens in eine entsinnlichte, entmaterialisierte, transzendente Welt. Es gibt ein indirektes Indiz dafür, daß hinter der Anziehungskraft der Vergänglichkeit als dichterischen Motivs (und wegen der Verwandtschaft möglicherweise auch hinter dem Anziehenden des Nebels und der immer kleiner werdenden Filmgestalt) eher der Eindruck dieses Hineinragens in die Transzendenz Stedten dürfte als der Eindruck der Auflösung in nichts: Dieser (irrationale) Eindruck, am Eingang zur Transzendenz (nidit aber zum Nichts) zu stehen, reimt sich gut mit unserer (möglicherweise ebenfalls irrationalen) Unfähigkeit, uns den eigenen Tod - gerade als Vernichtung unseres Selbst - vorzustellen. Wenn wir im Motiv der Vergänglichkeit die Auflösung in nichts genießen würden, so wäre uns das Motiv in seinem Wesen zutiefst fremd und als Ganzes wohl weniger anziehend. Die Verwandtschaft zwischen dem Verschwinden im Nebel und der Vergänglichkeit zeigt sich schön in einem Gedicht von Kurt Marti, der ersteres als Bild des letzteren verwendet: „verschwinde"/ - hett er gseit - / »wien e schatten im sand"// „verschwinde"/ - han i dänkt - / „wien e schatten im näbel"// und niemer wos merkt/ und niemer wo suedit// si däwäg/ nid ganzi wälte versdiwunde?/ und däwäg/ wärden ou mir (Aus undereinisch. gedieht ir bärner umgangssprach, 1973.) Dieser Vergleich ist zudem ebenfalls ein Beleg dafür, daß Vergänglichkeit nidit als Ver-nichtung, sondern als Verschwinden in etwas immerhin Bestehendem (im Nebel) empfunden wird.

Wenn Übereinstimmung herrscht darüber, daß diese Phänomene ob im Leben oder in der Kunst — als poetisch empfunden werden und daß sie im Füruns allesamt eine (zumindest tendenzielle) Immaterialität als diesbezügliches Wesensmerkmal aufweisen, so dürfen wir als Nächstes daran erinnern, daß das Ästhetische - in einer Objekt und Subjekt umfassenden Bestimmung — als Bei-sich-Sein des Menschen in der Sinnlichkeit ausgelegt werden kann (siehe 4.2.1. und 5.2.3. sowie im einzelnen Horn 1969 a: 1-12, 85-92). Wofür steht nun das Wort „sich" in „Bei-«'d?-Sein"? Wie läßt sich das Selbst

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des Menschen bestimmen, dasjenige also, dem er im (sinnlichen) Anderen begegnen muß, wenn Ästhetisches entstehen soll? In erster Näherung (und diese genügt hier) läßt es sich als Seele, also als prinzipiell Immaterielles umschreiben („We are such stuff / As dreams are made on . . . " ! ) , wobei wohlgemerkt nicht vom objektiven Begriff des Menschen die Rede ist, von dem, was und wie er an sich ist, sondern nur vom subjektiven: davon, wie er sich selber gegeben ist. Wie materialistisch man auch intellektuell eingestellt sein mag, im unmittelbaren Selbstbewußtsein erlebt man sich sicherlich nicht als Materielles - und in der Begegnung mit der Kunst spielt nur dies, das Füruns, eine Rolle, nur die Weise, wie die Gegenstände und wir selber uns gegeben, nicht aber, wie sie an sich beschaffen sind. Daher war auch die obige Rede vom Hineinragen in die Transzendenz nur phänomenologisch, das Füruns betreffend zu verstehen, beileibe nicht ontologisdi.

Wenn es nun zutrifft, daß Ästhetisches Bei-sich-Sein in der Sinnlichkeit ist und der Mensch sich wesentlich als Immaterielles erlebt, so muß ihm alles als ästhetisch erscheinen, was zwar sinnlich (genauer: als Freies in der Sinnlichkeit) gegeben ist, aber gleichwohl den Eindruck des (tendenziell) Immateriellen erweckt, was - paradox formuliert - Sinnliches ist in der Entsinnlichung. Man beachte, daß zu unterscheiden ist zwischen dem Beisichsein, dem integralen und alles Äußerliche ausschließenden Erscheinen des Dargebotenen und dem Beisichsein, der Selbstbegegnung des Rezipienten. Nur beides zusammen, die objektive und die subjektive „Freiheit", ergibt Ästhetisches (man könnte dieses auch so umschreiben: ästhetisch ist, was durch eigene „Freiheit" „frei" macht). (Tendenziell) Immaterielles wäre in sich nicht ästhetisch (nicht einmal wenn es erschiene), wenn diese Erscheinung nicht den Eindruck erweckte, da erscheine nur dieses Immaterielle in seiner „Ganzheit". Doch der Akzent im obigen Gedankengang lag nicht hierauf, auf der (gleichsam als selbstverständlich vorauszusetzenden) „Freiheit" des Dargebotenen, sondern auf der „Freiheit" des Menschen in der ästhetischen Situation.

Wenn diese Gedankenführung einigermaßen zu überzeugen vermag, so wäre (im gleichen Maße) nachgewiesen, daß es Wirklichkeitselemente, künstlerische Motive, ja Themen gibt, deren Ästhetizität nicht von der sie jeweils umspannenden Struktur abhängt, sondern in ihnen selbst begründet ist.

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Vielleicht ist es nidit ganz nutzlos, abschließend darauf hinzuweisen, daß mit diesen Auslassungen keine Lanze für „schöne" Dichtung gebrochen wurde, für Klangschönes und Hingehauchtes (wie es ja literarisch auch verkehrt wäre, etwa Henry Fieldings Tom Jones, in dem das aristotelische Kohärenz-Prinzip genau befolgt ist, prinzipiell gegen Tristam Shandy auszuspielen). Mit der Unterscheidung zwischen Für-sich-Ästhetischem und Funktional-Ästhetischem sollten durchaus nicht Werturteile gefällt werden über gewisse Momente am LKW (oder gar über ganze Werke). Es ging vielmehr um den (literatur)ästhetisch, also bloß theoretisch relevanten Aufweis von Möglichkeiten, welche die Grenzen des Funktionalismus markieren.

3.2.2. Die Relevanz der,Struktur' als Ordnungsprinzip 3.2.2.1. Erscheinungsbegründung Daß Strukturen in der Literaturwissenschaft primär deswegen erforscht werden, weil sie gleichsam aus der Tiefe auf die Oberfläche einwirken, weil sie als Formen das uns am konkreten L K W Erscheinende begründen, wird etwa von Manfred Bierwisch unmißverständlich und programmatisch festgehalten: er versteht unter „Poetik" „die Theorie der Struktur literarischer Texte oder sprachlicher Kunstwerke" und sieht sie als eine „empirische Wissenschaft" an, „die gegebene Fakten erklären soll" (1971 b: 49, auch 59). 3.2.2.2. Dynamik Audi die literaturtheoretisch relevanten Strukturen (wie die Strukturen im allgemeinen) werden trotz ihres scheinbar statisch-„ räumlichen" Charakters verschiedentlich dynamisch aufgefaßt. Und zwar geht es hier einerseits um Dynamik innerhalb des L K W , andererseits um dynamische Beziehungen zwischen L K W und ihm Transzendentem. Nach all dem, was wir in 1.2.1. und 1.2.2. über den spannungsgeladenen Wechsel der Ordnungen innerhalb der Ebenen sowie über das Verhältnis der Ebenen selber hören konnten, überrascht Lotmans zusammenfassende Feststellung nicht, wonach „die Struktur literarischer Texte immer auf den Konflikt einzelner Substrukturen aufbaut" (1972b: 278). Mit diesem Hinweis sollte die Erörterung der textimmanenten Dynamik ihr Bewenden haben.

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Was die andere Art struktureller Dynamik betrifft, so sei zunächst an das in 0.2.3. Gesagte erinnert: der Formalismus kümmert sich in erster Linie um innertextliche Relationen, was indessen nicht verhindert, daß es in ihm auch gegenläufige Tendenzen gibt. Es kann nun vorkommen, daß dasjenige, was über das Einzelwerk hinausgeht, mit ihm aber gleichwohl verbunden ist, selber eine Struktur aufweist, so daß man mit Lotman sinnvollerweise von textimmanenten und extratextuellen Strukturen reden kann (1972 b: 282 et passim). Das Verhältnis zwischen diesen inner- und außertextlichen Strukturen ist häufig dasjenige der (partiellen) Einbettung: das Einzelwerk als Struktur ist selber ein Element in einer es umgreifenden „Superstruktur". Dies ist nun nicht bloß funktionalistisch zu verstehen, in dem Sinne z. B., daß das, „was in der einen Epoche als literarisches Faktum erscheint, . . . für die andere als alltagssprachliche, außerliterarische Erscheinung [gilt] (und umgekehrt), je nachdem, in welchem literarischen System sich das betreffende Faktum befindet" (Tynjanov 1927: 441). Die Einbettung kann echte Dynamik implizieren, indem die Superstruktur als historische (nicht nur logische) Antezedenz gewisse Wirkungen auf das Einzelwerk ausübt. Dabei kann diese Superstruktur zunächst noch selber literarisch sein: Jedes L K W wird nach Sklovskij von der literarischen Tradition, von seinen Vorgängern bestimmt, und zwar gerade in dem, worin es sich von ihnen unterscheidet: „Eine neue Form entsteht nicht, um einen neuen Inhalt auszudrücken, sondern weil die alte Form ihre Möglichkeiten erschöpft hat" (zit. Erlich: 284), d. h. nicht mehr „wahrnehmbar" ist. (Hierüber wird noch in 4.3.2.2. Weiteres zu sagen sein.) Die überlange Herrschaft einer bestimmten Form bewirkt demnach die Entstehung einer neuen, die dann mit der Zeit ebenfalls ihren kontradiktorischen Gegensatz aus sich hervortreiben wird: Werk A hängt somit (im negativen Sinne) ebensosehr von einem vorhergehenden Werk B ab, wie dieses die Entstehung eines künftigen Werkes C mit bedingt. Dabei gibt es selbstverständlich auch positive Abhängigkeit, und zwar wird Werk B in seiner Auflehnung gegen seinen „Vater" (Werk A) von seinem „Onkel" be-

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einflußt: „in der Geschichte der Kunst [wird] das Vermächtnis nicht vom Vater auf den Sohn, sondern vom Onkel auf den Neffen übertragen" (zit. Erlich: 290 f.). „Wenn die ,kanonisierten' Kunstformen einen Engpaß erreichen, ist der Weg für das Eindringen von Elementen nicht-kanonisierter Kunst geebnet": „Motive und Kunstmittel von subliterarischen Gattungen . . . , die eine fragwürdige Existenz am Rande der Literatur führten" (quasi als armer Onkel neben dem reichen Vater), „werden so auf die höhere Ebene zugelassen . . . oder, wie Schklowskij sagt,,kanonisiert'" (ebd.). Bereits in 0.2.3. haben wir Mukarovsky zitiert, nach dem „nicht nur der künstlerische Aufbau und seine Entwicklung, sondern auch die Beziehung dieser Struktur zu anderen Erscheinungen, besonders zu psychologischen und gesellschaftlichen, als Struktur begriffen werden" (1967: 12). Das heißt, das, was am LKW erscheint, wird nicht nur durch die „literarische Reihe" bestimmt, durch das, was an Literarischem da war oder da ist, sondern auch durch die „außerliterarischen Reihen" (Tynjanov). Mit der Wechselwirkung zwischen literarischer und sozialer Struktur (im weitesten Sinne) haben sich neben dem Russen 2irmunskij hauptsächlich die Prager Strukturalisten theoretisch auseinandergesetzt (siehe dazu Erlich: 284-287); mit dem, was die Struktur des rezipierenden Bewußtseins (mit seinen persönlich-psychischen wie auch historisch-sozialen Bedingtheiten) in Interaktion mit der Struktur des Kunstwerks zu dessen erscheinenderlebter Gestalt beiträgt, unter den Formalisten vor allem Lotman (siehe 1972a: 65,171; 1972b: 157 f. et passim). Zwar charakterisieren diese verschiedenen dynamischen Bezüge ohne Zweifel das LKW als Struktur (dies auch der Grund, warum sie hier zur Sprache kamen), doch führen sie von dem, was Literatur ist, weg zu dem, wodurch sie an Äußerlich-Historischem mitbedingt ist: ihre Erörterung gehört daher weniger in die Poetik als Theorie des Literarischen denn vielmehr in die Theorie der Literaturgeschichte, der Literatursoziologie und der literarischen Rezeption. Statt weiterer Verfolgung dieses Themas soll daher nochmals auf die Darstellung Erlichs sowie auf die Werke Mukarovskys und Lotmans verwiesen werden.

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Das LKW als Struktur

3.2.2.3. Regelmäßigkeit Die Struktur als Ordnungsprinzip begründet nicht nur die Erscheinung des L K W , sondern ordnet sie auch: sie sorgt für Regelmäßigkeit in ihm. Es sei festgehalten, daß die spezifische Struktur des L K W , ein nur für die Literatur und für sie als Ganzes charakteristisches Ordnungsprinzip, von formalistischer Seite bisher nicht herausgestellt worden ist (daher enthält auch das vorliegende Werk keinen Abschnitt über das Literarische als Struktur). Statt dessen sind eher Gattungsstrukturen beschrieben worden, welche hier nur deswegen exemplifiziert werden sollen, weil sie die grundsätzliche Strukturiertheit (hier im Sinne einer „Geordnetheit aus der Tiefe") voraussetzen. Es möge kurz auf zwei Theorien der Erzählstruktur hingewiesen werden. Nach Claude Bremond besteht die Elementarsequenz der „Erzählnachricht" aus drei Hauptmomenten, welche Regel in die Aufeinanderfolge der Einzelteile bringen: aus einer Situation, die eine Möglichkeit öffnet; aus der Alternative Aktualisierung der Möglichkeit/Nicht aktualisierte Möglichkeit; und schließlich aus der Alternative Erfolg/Mißerfolg (1173 f.). Todorov sieht die Struktur der „Intrige" als „Weg von einem Gleichgewicht zu einem anderen . . . Dieser Begriff ,Gleichgewicht' . . . drückt das Vorhandensein einer dauerhaften, aber dynamischen Beziehung zwischen den Gliedern einer Gesellschaft aus; es ist ein soziales Gesetz, eine Spielregel, ein bestimmtes System des Austausches. Die zwei ähnlichen und verschiedenen Momente des Gleichgewichtes sind durch eine Periode der Gleichgewichtsstörung getrennt, die durch einen Prozeß der Degradation und der Verbesserung bestimmt ist." Dementsprechend unterscheidet Todorov zwei Typen von Erzählung. Der erste („Vermiedene Bestrafung") „beginnt in einem Zustand des Gleichgewichts, der durch den Verstoß gegen das Gesetz gebrochen wird. Die Bestrafung hätte den anfänglichen Gleichgewichtszustand wiederhergestellt, die Tatsache, daß sie vermieden wird, stellt ein neues Gleichgewicht her". Der zweite T y p („Bekehrung") beginnt „mit einem Zustand der Gleichgewichtsstörung. Er wird durch das Vorhandensein eines Fehlers im Cha-

Die literaturtheoretische R e l e v a n z des Struktur-Begriffs

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rakter einer Person verursacht". Die Erzählung „beschränkt sich auf die Beschreibung des Verbesserungsprozesses, so lange bis der Fehler nicht mehr da ist". Bereits in dieser Zweiteilung zeigt sich der für das strukturalistische Denken charakteristische (oft wohl in der Natur der Sache gründende) „Binarismus". Er ist auch manifest in der Hervorhebung und Gegenüberstellung der beiden Gleichgewichtspole im konkreten Fall: „Bei Boccaccio symbolisieren die beiden Gleichgewichtszustände . . . die Kultur und die Natur, das Soziale und das Individuelle; die Novelle beruht im allgemeinen darauf, die Überlegenheit des zweiten Begriffs über den ersten zu zeigen" (1972:1245 f.). J a k o b s o n sieht gerade in der letztlichen Reduktion der Erscheinungswelt a u f binäre Strukturen, a u f Oppositionen, „verstanden als wechselseitige Implikation v o n zwei k o n t r ä r e n oder kontradiktorischen T e r m e n " , das H a u p t m e r k m a l des Strukturalismus (Holenstein: 1 2 6 f.).

3.2.2.4. Allgemeinheit Die Struktur der Erzählung bringt selbstverständlich nicht nur in die Einzelerzählung Ordnung, sondern in jede Erzählung: die Ordnung wiederholt sich ordnungsgemäß, sie ist allgemein oder „abstrakt". In diesem Sinne schreibt Todorov: „Die strukturelle Analyse hat dem Wesen nach immer theoretischen und nicht deskriptiven Charakter; . . . das Ziel einer solchen Studie ist nie die Beschreibung eines konkreten Werkes. Das Werk wird immer als Manifestation einer abstrakten Struktur gesehen, von der es nur eine der möglichen Realisationen ist" (1972:1237). Die Frage ist nun, ob dieses Hinausgehen über das Einzelwerk der eingangs erörterten immanenten Betrachtungsweise des Formalismus nicht widerspricht. Wenn ich von der Struktur der Erzählung rede oder das L K W als Nachricht, als Zeichen oder gerade als Struktur beschreibe, bleibe ich da noch innerhalb des Einzelwerkes? - J a und nein. Nein, indem ich in der Tat nicht die einmalige Struktur eines Einzelwerkes beschreibe bzw. nicht (notwendig) das spezifisch Literarische am gegebenen L K W hervorhebe. Ja, weil ich bei der Herausstellung abstrakter Strukturen oder der Hineinstellung des

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Das LKW als Struktur

LKW in umgreifende Begriffszusammenhänge zwar über das Werk hinausgehe, aber nicht zu Sozialem oder Psychischem, also prinzipiell Literaturexternem, sondern zur Gattung. Die Gattung geht zwar über die Art und das Individuelle hinaus, inhäriert aber auch ihnen: ihre Beziehungen sind sowohl dem Besonderen als auch dem Einzelnen immanent. Eine soziale oder psychische Struktur kann eine literarische Struktur wegen des Phänomens der Einbettung wohl beeinflussen, sie inhäriert ihr aber nicht, denn die Literatur ist nicht eine Art des Sozialen oder Psychischen: sie hat nicht die Seinsweise gesellschaftlicher oder seelischer Verhältnisse. Eine konkrete Erzählung ist aber wohl eine Vereinzelung der Gattung „Erzählung", das LKW ist wohl eine Art der Nachricht, des Zeichens, der Struktur (auch wenn seine diesbezügliche spezifische Differenz - wenigstens mit der formalen Methode - bis jetzt nicht beschrieben werden konnte), folglich sind die betreffenden Gattungseigenschaften der konkreten Erzählung bzw. dem LKW immanent. Dies läßt sich auch so ausdrücken, daß ich zwar bei der Einordnung in die Gattung über das Einzelne oder Besondere hinausgehe, zugleich aber auch bei ihm bleibe, denn die Einordnung geschieht gerade kraft der Eigenschaften, die dem Einzelnen und Besonderen eigen oder immanent sind. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß es nicht das Monopol struktureller Betrachtung ist, allgemeine Ordnungsprinzipien anzubieten. Jede Poetik und Literaturästhetik, so sie diesen Namen zu Recht führt, versucht es, auf dem Gebiet der Literatur oder der wertvollen Literatur Ähnlichkeiten, Rekurrenzen zu erklären. Diese Prinzipien sind allerdings manchmal inhaltlicher Natur. So bezieht sich etwa nach Plato jegliche Dichtung auf das Wesen des Menschen, sie stellt es jedoch in der Regel als verfälscht dar: nur zufällig gelangen in ihr gute, d. h. vernünftige, beherrschte Menschen zur Darstellung. Geschieht dies doch, so haben wir es mit „guter" Dichtung zu tun, die damit offenkundig Inhaltliches als allgemeines Ordnungsprinzip zugewiesen bekommt. (Siehe dazu Staat 600 e; 399 c, e; 400 d et passim.) Manchmal ist dieses Prinzip inhaltlicher und formaler Natur, wie z. B. bei Nicolai Hartmann, dem zufolge für die Dichtung nicht nur

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Innerliches, Seelisches (also Inhaltliches) konstitutiv ist (1966: 102 bis 108, 178 et passim), sondern auch bestimmte Beziehungen — allein: diese sind von anderer Art als diejenigen, welche die strukturale Methode bei ihren Untersuchungen bevorzugt, also durchaus nicht von der Art der Interdependenz oder gar der Opposition. Das LKW - wie jedes real Seiende - ist nach Hartmann geschichtet; diese Schichten bzw. ihre konstitutiven inhaltlichen Merkmale, die Kategorien, stehen wohl in Beziehung zueinander, nur ist diese einseitig: „Kategorien der niederen Schichten sind weitgehend in den höheren enthalten, aber nicht umgekehrt diese in jenen"; „nur die höheren Kategorien setzen niedere voraus, nicht die niederen höhere"; „es gibt eine kategoriale Abhängigkeit der Schichten voneinander, aber nur einseitig als Abhängigkeit der höheren von der niederen Schicht" (1940: 475, 519).

4. Das LKW als Sprachliches Nichts liegt näher, als das sprachliche Kunstwerk von der Sprache her anzugehen, das heißt - bei formalistischer Zielsetzung — Relationen der Sprache am L K W aufzuzeigen. Dabei lassen sich drei Annäherungsweisen unterscheiden, von denen jede von einer anderen Vorentscheidung ausgeht. Die erste betrachtet das L K W oder besser: die Literatur als etwas, was der Sprache analog ist: sie greift gewisse Züge heraus, die angeblich der Sprache und der Literatur gemeinsam sind und die es folglich erlauben, die Literatur metaphorisch als eine Art „Sprache" zu bezeichnen. Die zweite Betrachtungsweise geht weiter: sie versucht, die Literatur auf Sprache zu reduzieren, sie nimmt also an, Literatur enthalte nichts, was nicht Sprachliches wäre. Die dritte Richtung steht zwischen den beiden anderen: sie legt sich zwar nicht fest in bezug darauf, ob Literatur nur Sprachliches sei oder nicht, begnügt sich aber andererseits auch nicht damit, eine bloße Analogie zwischen Sprache und Literatur zu postulieren. Nach ihr ist Literatur wirklich (also nicht nur metaphorisch) eine besondere Art aktualisierter Sprache. Es gilt nun, diese drei Betrachtungsweisen nacheinander gründlich ins Auge zu fassen.

4.1. Die Literatur als Sprachanaloges 4.1.1. Kompetenz, Performanz, Generierbarkeit Saussure unterschied bekanntlich die Sprache als „System von Elementen und Beziehungen", als langue, von den „einzelnen konkreten Sprechakten", von der parole, wobei die langue der parole zugrunde liegt wie die Partitur einer Symphonie ihren vielen möglichen Auf-

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führungen (Bierwisch 1971 a: 21). Mit langue wird „die vom Sprecher und Hörer einer Sprache erworbene Fähigkeit zum Bilden und Verstehen von Sätzen unterschieden . . . vom Gebrauch, den er von dieser Fähigkeit macht. Statt von Langue und Parole spricht man deshalb in letzter Zeit von Sprachkompetenz und Sprachverwendung oder Performanz" (ebd. 22). P. Kiparsky definiert Kompetenz als die „grammatikalische Struktur der Sprache" (wobei diese wohlgemerkt als internalisiert, im Gehirn des Sprechers/ Hörers „gespeichert" aufgefaßt werden muß), Performanz dagegen als die „Produktion und Perzeption der Rede (speech)" (Abraham: 217).

Die Sprachbeherrschung oder -Kompetenz ist nun eine „aktive produktive Fähigkeit", sie hat „Erzeugungscharakter": sie erzeugt ständig die konkrete Rede. Die Theorie Noam Chomskys und seiner Schule, die im wesentlichen diese „Fähigkeit zum Erzeugen von Sätzen" zu erklären sucht, ist daher folgerichtig „generative oder Erzeugungsgrammatik" genannt worden (Bierwisch 1971 a: 43 f.). Dabei ist wesentlich, daß „generieren" einerseits eine Tätigkeit des Sprechers ist auf Grund der internalisierten Grammatik, andererseits eine solche des Grammatikers, der seine Hypothesen über die Erzeugungsregeln mit Hilfe von generativen Modellen prüft: er versucht auf Grund der ihm bekannten Grammatik und unter Verwendung seiner hypothetischen Regeln konkrete Sätze nachzuerzeugen. Vgl. zur ersten (objektiven) Bedeutung die Äußerung Chomskys, wonach die generative Grammatik als Internalisiertes mit der Saussureschen langue gleichzusetzen sei, vorausgesetzt, daß man den Saussureschen Begriff durch das Merkmal „geregelter Kreativität" ergänzt; zur zweiten (subjektiven) Bedeutung vgl. G. Helbigs Bestimmung der generativen Grammatik: sie sei eine „Richtung der Linguistik mit dem Ziel, durch das Regelwerk ihrer Grammatik . . . alle nichtabweichenden Sätze der betreffenden Spradie - und nur sie - zu erzeugen" (Abraham: 136).

Es ist nun verschiedentlich angenommen worden, daß man diese linguistischen Begriffe analogisierend auf die Literatur bzw. das LKW übertragen könne. So schreibt Bierwisch: „Der eigentliche Gegenstand der Poetik sind die besonderen Regularitäten, die sich in literarischen Texten niederschlagen und deren spezifische Wirkung bestimmen, und damit letzten Endes die menschliche Fähigkeit,

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Das LKW als Sprachliches

solche Strukturen zu produzieren und ihre Wirkung zu verstehen, also etwas, was man poetische Kompetenz nennen könnte (1971b: 940). Im gleichen Sinne spricht Ihwe von der „Literaturfähigkeit des Menschen" (103) und T. A. van Dijk von „literarischer Kompetenz" (80).

Dieser literarischen Kompetenz würde auf der parole-Seite die Produktion bzw. Perzeption/Interpretation einzelner LKW als literarische Performanz entsprechen. Vgl. Dijks Problem: „wie ist es möglich, daß ein Schreiber/Leser eine unbestimmte Anzahl verschiedener literarischer Texte durch Anwendung nur einer beschränkten (abgeleiteten) Kompetenz produzieren/interpretieren kann . . . ? " (89). Es wird, drittens, analogisch angenommen, daß der „Schreiber" auf Grund der internalisierten literarischen Grammatik (bestehend aus Elementen und Verknüpfungsregeln) unter Befolgung bestimmter Erzeugungsregeln zur Produktion des LKW, also zur Performanz befähigt werde. Insofern also diese Grammatik und diese generativen Regeln bekannt sind, sollte es möglich sein, literarische Kunstwerke zu generieren, entweder also neue hervorzubringen oder bereits vorhandene nachzuerzeugen. In diesem Sinne meinen A. K. Zolkovskij und Jurij Sieglov, daß „die strukturelle Beschreibung eines Kunstwerks nichts anderes ist als die Demonstration seiner Generierung aus bekanntem Material und bekanntem Thema unter Anwendung gewisser konstanter Regeln" (1224). Die Hypothese, es gebe in bezug auf die Literatur (wie in bezug auf die Sprache) eine Kompetenz, die nach bestimmten Regeln Performanz generiert, beruht auf dem Analogieschluß, wonach die Sprachlichkeit als gemeinsames Merkmal der linguistischen und literarischen „Objekte" weitere Gemeinsamkeiten garantieren müsse (Dijk: 87). Daß dieser Schluß falsch ist, daß der Vergleich, die Literatur sei in dieser Beziehung wie die Sprache, hinkt, soll getrennt, zunächst hinsichtlich der literarischen Kompetenz und Performanz, sodann hinsichtlich der Generierbarkeit dargetan werden.

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Für die Analogie zwischen sprachlicher und literarischer Kompetenz/Performanz gilt: sie ist asymmetrisch, die Unterschiede überwiegen die Parallelitäten. Sie ist erstens asymmetrisch bezüglich der respektiven Allgemeinheit der sprachlichen und der literarischen Kompetenz. Bierwisch gibt selber zu, daß „jeder einzelne Sprecher im Besitz einer kompletten Grammatik i s t . . . , während die poetische Kompetenz zweifellos unterschiedlich ausgeprägt ist" (1971b: 950), und auch Ihwe nennt die sprachliche Kompetenz eine notwendige, die literarische eine nicht-notwendige Fähigkeit (106). Das heißt: die literarische Kompetenz (besonders hinsichtlich der Produktion) variiert individuell beträchtlicher, ist viel mehr Sache individueller Begabung als die sprachliche. Diese Asymmetrie wäre auch dann zu beobachten, wenn die Literaturdidaxis ebenso allgemein verbreitet wäre wie die Sprachdidaxis, aus dem einfachen Grunde, weil die literarische Kompetenz (hier allgemein als die Fähigkeit verstanden, Literaturästhetisches zu erkennen und hervorzubringen) im wesentlichen nicht gelehrt, durch (notwendige) Didaxis nur verfeinert, verbreitert und vertieft werden kann. Literarische (überhaupt künstlerische) Sensibilität und Produktivität sind individuell verschieden ausgeprägte Naturanlagen, was sich empirisch u. a. darin zeigt, daß sprechen ohne vorausgehende und internalisierte Sprache (also Didaxis) unmöglich ist, Genuß und Hervorbringung von Dichtung hingegen wahrscheinlich nicht notwendig davon abhängen, ob man Dichtung erlebt hat oder nicht. Daher ist Dijks oben zitiertes Problem („wie ist es möglich, daß ein Schreiber/ Leser eine unbestimmte Anzahl verschiedener literarischer Texte durch Anwendung nur einer beschränkten [abgeleiteten] Kompetenz produzieren/interpretieren k a n n . . . ? " ) in dieser, auf die Literaturtheorie gemünzten Form ein Scheinproblem, wohingegen die analoge Frage in der Linguistik an ein echtes Problem rührt: bei der Sprache konstrastiert nämlich endlicher Input mit theoretisch unendlichem Output (wie dies möglich ist, ist also des Nachdenkens wert); demgegenüber ist die literarische Kompetenz nicht notwendig abgeleitet, sie beruht im wesentlichen nidit auf Input, so daß der Widerstreit zwischen endlicher Eingabe und unendlicher Ausgabe gar nicht erst entsteht. Die Naturanlage übrigens, welche vorhin angesprochen wurde, läßt sich im Falle der „passiven" künstlerischen Kompetenz möglicherweise folgendermaßen bestimmen: Sie ist einesteils die sich im Verlaufe eines Menschenlebens immer mehr

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Das L K W als Sprachliches

differenzierende, verbreiternde und vertiefende Fähigkeit, seelisdie Manifestationen (auch streng genommen unnatürliche, wie z. B. organisierte Tonfolgen) zu interpretieren, d. h. zum Vordergründig-Sinnlichen seelischen Hintergrund hinzutreten zu lassen, andernteils die Fähigkeit, formale Zusammenhänge wahrzunehmen, wobei mit der Erstarkung des Intellekts immer komplexere und kompliziertere Zusammenhänge überblickt werden können.

Es besteht aber auch eine Asymmetrie hinsichtlich der respektiven Allgemeinheit produzierender und rezipierender literarischer Kompetenz: „auch wenn eine große Anzahl idealer Sprecher/Hörer literarische Texte lesen kann, so sind doch nur sehr wenige imstande, solche selbst zu schreiben" (Dijk: 80). Dagegen ist in der Sprache produzierende Kompetenz nicht seltener als rezipierende. Diese beiden Arten literarischer Kompetenz stehen auch insofern in asymmetrischem Verhältnis zueinander, als die Bedeutung bewußter Didaxis in ihrer jeweiligen Aneignung verschieden groß ist: rezipierende Kompetenz ist viel eher lehrbar als produzierende. Demgegenüber ist der analoge Unterschied bei der Sprache zwar möglicherweise vorhanden (bei vielen Menschen ist die aktive Beherrschung selbst ihrer Muttersprache schwächer als die passive), aber weniger kraß. Diese Asymmetrien innerhalb der literarischen Kompetenz tragen als zweiter Faktor offenkundig dazu bei, das Verhältnis zwischen sprachlicher und literarischer Kompetenz noch asymmetrischer zu gestalten. Diese „internen" Asymmetrien gründen in der weitaus größeren Kreativität des literarisch Produzierenden; der Rezipient muß viel weniger kreativ sein, um angemessen rezipieren zu können. In der Sprache dagegen ist diese Asymmetrie in der erforderlichen respektiven Kreativität weniger ausgeprägt, womit ein dritter Grund „externer" Asymmetrie aufgewiesen wäre. Mit diesen Bemerkungen soll selbstverständlich nicht bestritten werden, daß der Mensdi fähig ist, Literaturästhetisches zu erkennen, ja „Grade der Poetizität zu unterscheiden" (Bierwisch 1971b: 949), sowie literarische Kunstwerke zu erschaffen (eine Fähigkeit, die man - wenn es einem behagt - getrost literarische Kompetenz nennen mag, wie ja auch „Performanz" für die Aktualisierung dieser Fähigkeit von der Sache her ein gewiß unbescholtenes Wort ist). Es

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ist mir nur darum gegangen, nachzuweisen, daß die Unterschiede zwischen sprachlicher und literarisdier Kompetenz so groß sind, daß es a priori als fragwürdig erscheint, auf Grund der bestehenden Ähnlichkeiten hypothetisch auf weitere zu schließen, welche das Begriffsbild der literarischen Kompetenz abrunden sollen. Ich denke hier insbesondere an zweierlei. Erstens an die Übertragung des Merkmals der Systemhaftigkeit, wie sie etwa - wie es mir scheint, unbekümmert - von Dijk vollzogen wird, wenn er vom „»Lernen' des literarischen Systems" spricht (81); es müßte beträchtliches empirischphänomenologisches Material herbeigebracht werden, um die Annahme plausibel zu machen, daß die „Literaturfähigkeit" in (internalisierten) Elementen und Verknüpfungsregeln oder (in der schärferen Fassung) in interdependenten Elementen, also in einer Art langue gründet. Zweitens denke ich an die Schlußfolgerung, wonach die literarische Kompetenz Erzeugungscharakter hat, das heißt: daß sie in Performanz übergeht, wenn und indem sie gewisse generative Regeln befolgt. Die Gültigkeit dieser Folgerung läßt sich auch a posteriori in Frage stellen: objektive (sich im Dichter abspielende) Generierung ist nur wahrscheinlich, wenn sie im Modell nachgebildet, (vom Wissenschaftler) subjektiv nachvollzogen werden kann, wenn literarische Texte - ohne Dichter, ohne Inspiration - generiert werden können. Dabei gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: 1. bestehende Texte nadizugenerieren; 2. neue Texte zu generieren, die zumindest laut dem Zeugnis der Intuition Kunstwerke sind. Ad 1. ist an das Zugeständnis Dijks zu erinnern, wonach bis 1972 „keine einzige textuelle Ableitung hervorgebracht" wurde (82). Das Paradebeispiel eines solchen Versuchs, die Bemühungen Zolkovskijs und Sceglovs, eine Episode aus den Zwölf Stühlen von Il'f und Petrov „abzuleiten" (1967), scheiterte, wie Ihwe selber zugibt: „Die .imitierende Generierung' der Episode wird . . . von 2olkovskij und Sieglov ,auf halbem Wege zum tatsächlichen Text' abgebrochen, d. h. vor dem Erreichen der .sprachlichen Faktur'" (413). Ad. 2. sei hier zunächst ein experimentelles Gedicht Gunzenhäusers zitiert, ein Beispiel von „Computerlyrik", dessen Entstehung

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Franke folgendermaßen beschreibt: „Die elektronische Datenverarbeitungsanlage wählte Worte aus dem Assoziationsfeld von Weihnacht aus, die zum Teil nach festen Regeln, zum Teil durch Zufallssteuerung gereiht wurden." Der Text lautet nun wie folgt: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

„Der Schnee ist kalt und jeder Friede ist tief und kein Christbaum ist leise oder jede Kerze ist weiß oder ein Friede ist kalt oder nicht jede Kerze ist rein und ein Engel ist rein und jeder Friede ist still und jeder Friede ist weiß oder das Kind ist still ein Engel ist überall" ( 1 9 7 4 : 1 6 6 f.)

Hierzu zunächst zwei beiläufige Bemerkungen: 1. die „oder" in 4, 5, 6 , 1 0 sind unlogisch-störend; 2. manches (so 1 und 7) ist banal. Wesentlich ist indessen folgendes: Poetisches (etwa 6 und 11) kommt bestenfalls bloß zufällig, sporadisch vor. Eben weil die einzelnen Teile mal inhaltlich erfüllt, mal leer sind, und auch die effektiv vorfindlichen ästhetischen Kerne nicht notwendig den gleichen Inhalt aufweisen, schließt sich die mannigfaltige Form nicht zu einheitlichem Inhalt zusammen: es entsteht kein Kunstwerk im strengen Sinn. Daß Computergedichte im allgemeinen bloß zufällig ästhetisch oder - was auf dasselbe hinausläuft - nur quasi-poetisch sind, wird verschiedentlich zugegeben, wenn auch zu ihrer Ehrenrettung forcierte Analogien zur echten Lyrik postuliert werden. So schreibt etwa Cube: „Gewiß kann man über den Wert solcher kybernetischen ,Gedichte' verschiedener Meinung sein — das trifft indessen auch für viele andere Gedichte zu" (110). Nur ist dort - solcherlei könnte man etwa Cube entgegenhalten - der Unwert zufällig, d. h. nicht dem Dichter als Dichter, sondern als Individuum anzulasten, wohingegen es hier um die Werthaftigkeit der kybernetischen Gedichte als solcher geht, also um notwendigen, durch den Begriff gesetzten Wert oder Unwert.

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Auch von Bense „wird nicht behauptet, daß es sich hier um Poesie . . . handle. Wir bevorzugen daher den Begriff Text und sprechen . . . von synthetischen Texten mit simulierter Poesie. Natürlich handelt es sich um Erzeugungsvorgänge, die sich primär am puren sprachlichen Material abspielen, und die Bedeutung wird nicht in dem Sinne antizipiert, daß sie bereits vor ihrem sprachlichen Ausdruck gegenwärtig ist; sie entsteht vielmehr mit oder in der Sprache . . . Doch das gehört mindestens im Prinzip zum ästhetischen Schema der Poesie, sofern diese der Interpretation bedarf" (1969: 112). Aber - so unser Einwand - bei echter Poesie ist die interpretative Suche nach dem Inhalt prinzipiell sinnvoll, denn ein solcher darf vorausgesetzt werden, auch wenn er nicht antizipiert worden war. Dagegen hat bei „simulierter Poesie" die Suche nach Inhalt nur zufällig und erst bei Fündigkeit einen Sinn. Die Nicht-Antizipiertheit der Bedeutung ist ein formeller, nichtssagender Berührungspunkt zwischen echter und simulierter Poesie. Dieses beidseitige Versagen der Generierung streng literarischer Texte kommt nun nicht von ungefähr. Seine Notwendigkeit läßt sich in zwei Schritten aufzeigen. Zunächst soll an eine weitere Asymmetrie zwischen Sprache und Literatur erinnert werden: Die Bedeutung der allgemeinen Strukturen, der „langue", ist für das konkrete „Produkt", die „parole", in Sprache und Literatur ungleich. Bei der Sprache ist sie vergleichsweise groß: die Konkretisierungen, die konkreten Sprechakte werden vorwiegend von den allgemeinen Strukturen geprägt, daher sind wohlgeformte Sätze, je mehr man sich ihrem Ende nähert, d. h. je mehr die angerufenen /awgwe-Strukturen erkennbar sind, im großen und ganzen um so mehr vorhersagbar und insofern auch generierbar. Bereits hier gilt indessen, daß „es eine Wissenschaft nur von der langm gibt" (Barthes 1964a: 94), d. h.: die parole kann streng genommen nicht systematisiert, in Regeln gefaßt werden, und zwar, worauf Jakobson hingewiesen hat, deswegen, weil der Sprecher in der Kombinierung der Spracheinheiten eine wachsende Freiheit genießt: am kleinsten ist sie bei der Kombinierung der Phoneme, am größten bei der Kombinierung der Sätze (zit. Barthes ebd. 120 f.).

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Das L K W als Sprachliches

Der Sprache gegenüber läßt sich nun von der Literatur behaupten, daß sie wesentlich parole ist. Dies will besagen, daß in ihr die Bedeutung der allgemeinen Strukturen relativ klein, die ihrer Konkretisierung relativ groß ist (wobei immer deren jeweilige Bedeutung bei der Bestimmung des Endprodukts, des fertigen literarischen Werks bzw. seiner phänomenalen Repräsentation, des Füruns, gemeint ist). Diese verhältnismäßige Ungebundenheit des Kunstwerks (und des Künstlers) durch allgemeine Strukturen wird von gewissen Formalisten auch freimütig zugegeben. Bense sieht das Auszeichnende eines ästhetischen Vorgangs bzw. Zustands gerade darin, daß „er keineswegs hinreichend determiniert", d. h. „hinreichend vorhersehbar" ist. Solche Prozesse oder Zustände können „nicht durchgängig kausal beschrieben werden" (1965: 29 f.). Auch Dljk ist der Meinung, daß die Wahl, die den „Übergang von den Textstrukturen zu den Satzstrukturen" bestimmt, „ziemlich frei" ist; hierin steckt nach ihm eines der großen Probleme textueller Ableitung (71).

Daß Literatur (überhaupt Kunst) wesentlich parole ist, zeigt sich empirisch 1. an der faktischen Heterogenität der Kunstwerke (echte Kunstwerke sind individueller als Sätze); 2. am Versagen jeglicher Regelästhetik (ein künstlerisches Problem kann auf mehr Arten gelöst werden, als ein Satzinhalt Ausdrücke zuläßt); 3. am Versagen von Prophezeiungen über die Zukunft der Kunst (wie die Sprache sein wird in der nahen Zukunft, läßt sich im großen und ganzen voraussehen; nicht aber, wie die Kunst). Gerade weil das Ästhetische prinzipiell auf unendlich viele Arten produzierbar ist, sind Kunstwerke inprädiktabel, wobei diese UnVorhersagbarkeit in der Originalität, der „Phantasie" des Künstlers begründet ist: in seiner Kreativität, die sich einerseits in der Tiefe seiner Einsicht in die wirkliche menschliche Welt bekundet, andererseits in der Einmaligkeit seines Entwurfs von Scheinwelten, Bildern und Ordnungen, oder anders: im einsichtigen Entwerfen einmaliger Inhalte und im findigen Entwerfen prägnant-adäquater Formen. Trotz ihrer größeren Prädiktabilität wird die Normalsprache nicht langweilig, und zwar darum nicht, weil sie nur mittelhaft-praktische Funktion besitzt; oder besser: sie ist genauso langweilig, wie die Wirklichkeit, auf die sie hinweist. Käme

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es audi in der Literatur hauptsädilidi auf die allgemeinen Strukturen an, spielte nicht gerade die Oberfläche, das Unvorhersehbar-Individuelle in ihr eine Hauptrolle, so wäre sie wegen der ständigen Rekurrenz der Tiefenstrukturen vor Langweiligkeit nicht mehr zu retten, denn hier kann uns kein praktisches Interesse den relativen Mangel an Information vergessen machen.

Eben weil die informationstheoretische Ästhetik die grundlegende Innovativität aller echten Kunst erkannt hat, taucht für den Formalismus die Frage auf, wie Kunstwerke generiert werden sollen, wenn eine Regel dieser Generierung gerade in der Regellosigkeit, wenn eine Bestimmung des fertigen Kunstwerks (von der „langue" her betrachtet) gerade in der Unbestimmtheit besteht. Die Antwort lautet: indem dem Regelmäßigen Zufälliges hinzugefügt wird. Wenn - mit anderen Worten - eine Maschine instand gesetzt wird, bestimmte (kunstspezifische) Gesetzmäßigkeiten mit Zufall zu kombinieren, so entsteht nach dieser Theorie Kunst. Bei diesen sog. Kunstmaschinen kommen laut Franke in erster Linie Computer in Frage, wobei „die erforderliche Komplexität . . . dem Computer von außen durch einen Zufallsgenerator übermittelt werden" kann (1974: 164).

Diese Theorie und diese Praxis kranken nun an der einseitigen, möglicherweise von technischen Gegebenheiten mitbedingten Auffassung, der an der Hervorbringung eines Kunstwerks beteiligte Zufall sei „absolut", es genüge daher, Unwahrscheinliches als solches zu produzieren: „Poesie ist da, wo verschiedene Wörter zum erstenmal zusammentreffen" (Bense 1969: 73). Demgegenüber gilt festzuhalten (und dies ist der zweite Schritt, mit dem bewiesen werden soll, daß die Generierung von Kunstwerken zum Scheitern verurteilt ist), es gilt festzuhalten, daß Unwahrscheinliches in diesem Zusammenhang nicht absolut Zufälliges bedeutet: der Zufall auf dem Gebiet der Kunst ist nicht nur nicht absolut undeterminiert (alles Zufällige hat einen Grund): er ist sogar von „innen", von seinem „eigenen" System, d. h. hier: durch bereits getroffene künstlerische Entscheidungen in bezug auf Inhalt und Form ko-determiniert. Gerade weil in der Computerlyrik dem „absoluten" Zufall in der Bestimmung der konkreten Oberfläche eine vorherrschende Stellung eingeräumt wird, kommt in ihr bloß zufällig Poetisches zustande,

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Das L K W als Spradilidies

wogegen bei echter Lyrik (überhaupt bei echter Kunst) die Absicht und die Fähigkeit vorliegen, nicht einfach Unvorhersehbares und insofern Zufälliges zu produzieren, sondern auf rätselhaft-dialektische Weise eine Synthese zu erschaffen zwischen Zufälligem und Notwendigem: zwischen dem, was der freien Phantasie entspringt, und dem, was durch bereits entworfene Innerlichkeiten (mittels dieser Inhalte letztlich auch durch die objektive Wirklichkeit) sowie durch einmal festgelegte formale Ordnungen gebunden ist. Das Geheimnis des Schöpferischen liegt (wenn man vom Problem seines Ursprungs absieht und nur das Was, nicht aber das Woher seines Wirkens betrachtet) gerade darin, daß es zugleich frei und gebunden, Zufall und Gesetz, Phantasie und Gehorsam ist: es vermag Allgemeines in Einmaliges und daher eo ipso in Inprädiktables zu kleiden, wodurch dieses Einmalige (im Gegensatz zum Inprädiktablen generierter „Kunst") nicht leer, sondern sichtlich von Allgemeinem getragen ist. Dieses Einmalige ist nicht nur nicht vorhersagbar, sondern (zumindest mit Hilfe von Maschinen, die Zufall nicht in ständigem Hinblick auf Allgemeines produzieren) auch nicht generierbar. 4.1.2.

Sprachartiger Aufbau der Literatur als „langue"

In 2.2. ist bereits die (auf Jakobsonschen Gedanken fußende) Ansicht Lotmans erwähnt worden, wonach alle Zeichensysteme „nach dem Typ der Sprache gebaut" seien (1972: 23). Das heißt: sie bestehen aus Elementen, Verknüpfungsregeln und Bedeutungen (ebd. 38). Kunst im allgemeinen ist nun ein Zeichensystem besonderer Art; sie läßt sich daher als „eine Art sekundärer Sprache" beschreiben (ebd. 23). Literatur als sprachliche Kunst hat darüber hinaus die Eigentümlichkeit, daß ihre „Sprache" natürliche Sprache und sekundäre Sprache ist: „Die Literatur spricht in einer besonderen Sprache, die als sekundäres System auf und über der natürlichen Sprache errichtet wird" (ebd. 39). Das bedeutet, daß die Literatur als „langue" nicht nur natursprachliche Elemente, Syntax und Semantik enthält, sondern auch „ein nur ihr eigenes System von Zeichen und Ver-

Die Literatur als Sprachanaloges

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knüpfungsregeln besitzt, das zur Übermittlung besonderer, auf andere Weise nicht zu übermittelnder Mitteilungen dient" (ebd.). Bierwisch nennt diese „Überlagerung der Sprache durch sekundäre Strukturen" nachgerade ein Grundprinzip der Literatursprache (1971a: 78). Er weist zugleich darauf hin, daß „Uberlagerung" die Befolgung zusätzlicher Regeln bedeutet: Im Falle des Versbaus und des Reims etwa werden „Eigenschaften der Lautstruktur - Silbenfolge und Akzent, gleiche Komplexe phonologischer Merkmale . . . zu Elementen eines gewissermaßen parasitären Musters gemacht, in das sich die primären Satzstrukturen zu fügen haben" (ebd. 78 f.). Die hiermit umrissene Theorie hält einer Prüfung wohl viel eher stand als die in 4.1.1. besprochene. Literatur besteht in der Tat auch aus spezifischen Elementen (fiktiven Gestalten, abgerundeten Szenen, um nur aus Epik und Dramatik zwei Elemente herauszugreifen); in der Tat werden diese auch nach spezifischen Regeln zusammengefügt (wobei allerdings ein Verstoß gegen solche Regeln — im Gegensatz zur Sprache - durchaus nicht zu schlechter Formung führen muß); in der Tat gibt es auch eine spezifische Semantik der Literatur oder vielmehr spezifische Semantiken, denn gerade die wesentliche Parole-haftigkeit der Literatur bringt es mit sich, daß jeder Künstler, manchmal auch einzelne Werke des gleichen Künstlers, einen eigenen, „privaten und individuellen" Code, einen Idiolekt besitzen. (Dazu siehe Eco 1972; 151 f.) Mit diesen Einschränkungen besteht also die in diesem Abschnitt dargelegte Analogie zwischen Sprache und Literatur hinsichtlich ihres Aufbaus wohl zu Recht. D a in 4.1.1. bestritten wurde, daß die literarische „Performanz" in einer Art langue gründe, mag nun als widersprechend erscheinen, daß in diesem Abschnitt von der Literatur als „langue" die Rede ist. Doch die Polemik richtete sich dort gegen die Auffassung, Produktion und Rezeption gründeten in einer Art echter langue, d. h. literarische Kunstwerke würden nicht nur objektiv von gewissen allgemeinen Strukturen mitkonstituiert, sondern diese müßten darüber hinaus auch internalisiert werden, damit es überhaupt zur Performanz komme. Demgegenüber wird in diesem Abschnitt langue in Anführungszeichen verwendet: hier geht es nur darum, daß auch Literatur - wie die Sprache - über ein Reservoir potentieller Konstituenten, vorab allgemeiner Strukturen, verfügt, unter denen sich zudem auch sprachartige befinden. Im Gegensatz zur langue der Sprache bilden jedoch diese Konstituenten kein streng zusammenhängendes System, zum Teil sind sie bei der Realisierung konkreter Werke durchaus nicht bindend und - wohl mit aus

132

Das L K W als Sprachliches

diesem Grund - ist auch ihre Internalisierung für die literarische „Performanz" anscheinend nicht absolut notwendig. Während ein L K W als Aktualisierung von Sprache auf jeden Fall eine echte paro/e-Ersdieinung ist, ohne Anführungszeichen, der Literatur gesprochen kann nur in uneigentlichem Sinne von einer langue-Seite werden.

4.2. Die Literatur als Nur-Sprachliches Das gleiche (daß sie nämlich zu Recht bestehe) läßt sich schwerlich behaupten von der Theorie einer möglichen „Linguistisierung" der Literatur. Diese besteht in der Annahme, daß es wegen der Sprachlichkeit des L K W möglich sein müsse, dieses mit linguistischen Kategorien erschöpfend zu beschreiben. In den Worten Dijks: „Da literarische Texte linguistische Objekte sind, scheint es für diese Regel der ,Reduzierbarkeit' keine Ausnahmen zu geben: jede literarische Struktur/Operation liegt auf der semantischen, syntaktischen oder morpho-phonologischen Ebene und kann durch die in der Linguistik selbst definierten Kategorien beschrieben werden" (90). Außer Strukturen und Operationen spricht Dijk auch von „Eigenschaften" des L K W ; dieser Begriff umfaßt den der involvierten Strukturen, geht aber offenbar über sie hinaus, wenn anders die folgende abgeschwächte Version einen Sinn haben soll: „Eine große Zahl dieser Eigenschaften ist, wie niemand bestreiten wird, linguistischer Art" (92. Herv. A. H.). Dies soll in der Tat nicht bestritten werden, wohl aber sein obiges Diktum über die Linguistisierbarkeit aller literarischen Strukturen und Operationen. Unter den literaturspezifischen Strukturen, die nicht linguistischer Natur sind, genügt es, etwa auf das jeweilige (nur psychologisch beschreibbare) Charaktergefüge der dargestellten Personen hinzuweisen; auf dem Gebiet der nicht weniger spezifischen Operationen auf die Konstruktion im satzüberschreitenden Bereich, welche logischen und/oder ästhetischen, nicht aber linguistischen Prinzipien gehorcht. Vgl. Barthes 1964a: 121: „Die möglichen Zwänge, welche die Rede [über die Satzgrenze hinaus] geistig zusammenhalten, sind nicht mehr linguistischer Art."

Die Literatur als Nur-Spradiliches

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Von den linguistischen Eigenschaften (auch Strukturen) läßt sich allgemein und prinzipiell alles Dargestellte ausschließen, d. h. all das, was die Sprache des LKW an „Objektivem" meint, worauf sie sich bezieht außerhalb der noch-sprachlichen, vom Lexikon erfaßten Sphäre der Bedeutung: sei dieses „Objektive" eine fiktive Welt mit ihren Dinglichkeiten, Innerlichkeiten, charakteristischen Stimmungen, seien es lyrische Subjektivitäten oder frei im Vorstellungsraum stehende Bilder. All dies hat - trotz seines Scheincharakters, also seiner Bewußtseinsimmanenz - eine eigentümliche Objektivität, zudem einen ganzheitlichen Charakter, der aus den vereinzelten Bedeutungen, die das semantische Reich der Normalsprache, das Lexikon ausmachen, nicht aufgebaut werden kann. Alles literarisch Dargestellte oder Vermittelte ist wegen dieser seiner vermeinten Objektivität und seines ganzheitlichen Charakters nicht noch-sprachliche Bedeutung, sondern (wie die wirkliche Rose im Unterschied zum Begriff der Rose oder zur Bedeutung von „Rose") Außersprachliches: das, was gemeinhin Referent genannt wird. Vgl. Helbigs Bestimmung: „Referent" oder „Denotat" ist „das außersprachliche Objekt, das durch das gedanklich-begriffliche Abbild widergespiegelt und durch das sprachliche Zeichen (bzw. Wort) symbolisiert wird" (Abraham: 366, auch 80).

In diesem Lichte erscheint es als ironisch und ungewollt-untertreibend, wenn von der „Ernüchterung der Hoffnungen auf einen raschen und unkomplizierten Prozeß der ,Linguistisierung'" gesprochen wird (Schmidt 1972: 42): Schwerlich kann Schnelligkeit erwartet werden, wo ein Durchbruch durch prinzipielle Hindernisse verunmöglicht ist. Im Grunde gleiches wird von Susanne Langer geltend gemacht, wenn sie Literatur von literarischer Sprache scharf unterscheidet: Literatur als Kunst ist eine „nicht-diskursive symbolische Form", d.h. „reiner Schein" (211), genauer: Schein von Innerlichkeit (illusory „experience", Virtual history) (252), der (was von diesem Schein als ästhetischem Zweck her relativ zufällig ist) mittels diskursiver, sich schrittweise von Begriff zu Begriff, von Vorstellung zu Vorstellung bewegender Sprache hervorgerufen wird. Eben weil dieser Schein - als Wesentliches an jeglicher Kunst - selber nidit-diskursiver Natur ist, nicht aus diskreten, aneinandergereihten Elementen besteht, Sprache demgegenüber (in welcher Form auch immer) notwendig diskursiv ist, kann von einer Rückführung der Literatur auf Sprache keine Rede sein.

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Das L K W als Sprachliches

4.3. Die Literatur als besondere Art aktualisierter Sprache Auch wenn Literatur nicht nur Sprachliches ist, ist sie offenkundig auch Sprachliches: Sprache ist für sie notwendig, konstitutiv. Nicht weniger klar ist indessen, daß die literarischen Kunstwerke eine besondere Art von parole darstellen: die aktualisierte Sprache ist in ihnen — wie wir vorhin von Bierwisch gehört haben - nicht nur Regeln der Normalsprache, sondern gewissen zusätzlichen, eben literarischen oder näher: dichterischen Prinzipien unterworfen. Diese Prinzipien und die von ihnen begründeten Erscheinungen bzw. Eigenschaften sind eo ipso spezifisch literarisch; somit treten wir nunmehr für längere Zeit in das Gebiet des eigentlich Literarischen ein. 4.3.1. Das Literarische als Äquivalenz 4.3.1.1. Jakobsons Äquivalenz-Theorem Um dieses Theorem zu verstehen, müssen wir uns die Bedeutung zweier wichtiger linguistischer Termini vergegenwärtigen: die des Paradigmas und des Syntagmas. Beide Wörter bezeichnen Wortgruppen, deren Glieder auf je verschiedene Weise miteinander verbunden sind. Jedes aktualisierte Wort gehört zu mehreren Paradigmen und zugleich mindestens zu einem Syntagma. Die Unterscheidung ist 1884 von M. Kruszewski eingeführt worden, und zwar auf folgende Weise: „Jedes Wort ist mit zweierlei Banden verknüpft: es ist nämlich 1. mit unzähligen Banden der Ähnlichkeit mit Wörtern verbunden, welche den Lauten, der Struktur und der Bedeutung nach mit ihm verwandt sind, und 2. m i t . . . Banden der Angrenzung mit seinen verschiedenen Begleitern . . . verbunden: ein Wort ist immer ein Glied von bestimmten Familien . . . von Wörtern und zugleich ein Glied von bestimmten . . . Reihen von Wörtern" (zit. Holenstein: 143 f.). Solche „Familien" (Tal, Wal, Mal; Täler, Mäuler, „Geschmäcker", Münder; schmecke, schmeckst, schmeckt; schmecken, kosten, versuchen, probieren usw.) heißen Paradigmen, wogegen man „in der linearen Redekette des Satzes miteinander verbundene

Die Literatur als besondere Art aktualisierter Sprache

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sprachliche Zeichen mit engerer Zusammengehörigkeit" (W. Ulrich: 116) Syntagmen nennt (z.B. „man nennt", „nennt Syntagmen", „mit engerer Zusammengehörigkeit" usw.). Es liegt nahe, Syntagmen entlang einer horizontalen, Paradigmen entlang einer vertikalen Achse sich vorzustellen. Die sich somit abzeichnende Zweiachsentheorie der Sprache stellt Elmar Holenstein folgendermaßen dar: „Wenn wir sprechen, vollziehen wir zwei Handlungen. Wir wählen aus einem vorgegebenen Arsenal von linguistischen Einheiten gewisse aus und verbinden sie zu komplexeren Einheiten. Jeder Bestandteil einer Rede . . . erscheint in einer Kombination mit anderen Einheiten, in denen er seinen Kontext findet... Jede Einheit einer Botschaft stellt andererseits eine Selektion aus einem Vorrat von Einheiten dar, die ihr substituiert werden können . . . Auf der ersten Achse, die von Saussure als syntagmatisch bezeichnet wird, haben wir z. B. den Satz: Mein-Vater-liest-die-Nachrichten. Auf der zweiten Achse, für die sich Hjelmslevs Bezeichnung paradigmatisch durchgesetzt hat, wählen wir jedes W o r t aus einer Reihe gleichartiger Wörter aus...: Mein

I

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Jakobson sieht die wesentliche Beziehung, die zwischen den Gliedern eines Paradigmas herrscht, in der Äquivalenz, worunter er Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Synonymie und Antinomie subsumiert, wohl aus der Überlegung heraus, daß auch Kontrast und Opposition ein tertium comparationis voraussetzen. Sein ÄquivalenzTheorem formuliert er nun wie folgt: „Die poetische Funktion überträgt das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination. Äquivalenz wird zum konstituiven Mittel der dichterischen Sequenz erhoben" (1960: 523). Das Theorem besteht - wie leicht ersichtlich - aus einem empirischen und einem nicht-empirischen Teil. Der empirische Teil ist im zweiten Satz enthalten: er hält fest, daß Dichtung durch Äquiva-

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Das L K W als Sprachliches

lenzen oder genauer: durch die „regelmäßige Wiederholung äquivalenter Einheiten" (ebd.) gekennzeichnet ist - eine Erkenntnis, mit der Jakobson um so weniger auf Originalität Anspruch erheben will, als er sie selber vom englischen Dichter G. M. Hopkins herleitet, der die „Struktur der Dichtung" als „die eines kontinuierlichen Parallelismus" ansah, ja die Vermutung äußerte, daß möglicherweise alles Künstliche (all artifice) auf das „Prinzip des Parallelismus" zurückgeführt werden könne (zit. Jakobson ebd. 536). An empirischem Material zur Stützung der These, daß Dichtung durch Äquivalenz oder Parallelismus gekennzeichnet sei, fehlt es wahrhaftig nicht: es gibt eine Äquivalenz der Laute im Reim, eine Äquivalenz der Silben hinsichtlich Akzent und Länge im Versmaß, eine solche der Bedeutung in der Wiederkehr oder parallelen Anordnung semantisch ähnlicher oder kontrastierender Wörter; sodann eine Äquivalenz grammatischer Kategorien - eine Abart, die von Jakobson besonders hervorgehoben wird. „Als solche für Parallelismen und Kontraste ausgenutzte Kategorien fungieren in der Tat alle flektierenden und unveränderlichen Wortklassen, Numeri, Geschlechter, Kasus, Tempora, Aspekte, Modi, Genera des Verbs, Belebtheit und Unbelebtheit, Abstrakte und Konkreta, Gattungs- und Eigennamen, Negation, Verba finita und infinita, bestimmte und unbestimmte Pronomina sowie Artikel und außerdem verschiedene syntaktische Bestandteile und Konstruktionen" ( 1 9 6 1 : 27).

Aus diesen Beispielen erhellt, daß Jakobsons Theorem in seiner ursprünglichen Form nur auf „Dichtung" ausgeht, so daß es sich im weiteren erst noch erweisen muß, ob das Prinzip der Äquivalenz auch für die Literatur als Ganzes charakteristisch ist, ob also überhaupt sinnvoll ist, Äquivalenz (selbst versuchsweise) mit dem Literarischen ineins zu setzen. Dem W o r t „Dichtung" (wie auch - zwar in geringerem Maße-seiner englischen Entsprechung poetry) eignet eine Verschwommenheit, was seine Beziehung zur Literatur als sprachlicher Kunst überhaupt anbelangt, die jeden Versuch zur terminologischen Klärung und Abgrenzung besonders verdienstvoll macht. Einen solchen Versuch verdanken wir dem ungarischen Ästhetiker Istvin Szerdahelyi, der in seiner Dichtungsästhetik sechs Bedeutungen des Wortes „Dichtung" unterscheidet: (1) Dichtung als identisch mit der („schönen") Literatur, (2) Dichtung als Verskunst, (3) als Lyrik, (4) als gehobener Stil, (5) als Bildersprache und schließlich (6) als Intensität. E r optiert für diese letzte Bedeutung und kommt zu

Die Literatur als besondere A r t aktualisierter Sprache

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folgendem Schluß: „Innerhalb der Literatur besitzt eine Klasse von Werken die auffallende Eigentümlichkeit, im Verhältnis zu anderen Werken über intensivere, prägnantere Ausdrucksmittel zu verfügen." Unter diesen Mitteln hebt Szerdahelyi hervor: die expressive Lautform (wozu auch der Vers gehört), das „komplexe Bild", die „gehobene" stilistische Struktur und die „sichtbare Sprache", das expressiv gestaltete Schriftbild. Solche besonders intensive Werke werden nach einem verbreiteten Wortgebrauch, mit dem sich Szerdahelyi in Obereinstimmung weiß, zusammenfassend Dichtung genannt. Weil früher die meiste Literatur in diesem Sinne dichterisch war, ist die Identifizierung gemäß (1) verständlich; weil die Versform eines der wichtigsten dichterischen Mittel und weil die Lyrik meistens in der Tat dichterisch ist, liegen auch die Identifizierungen unter (2) und (3) nahe, doch gibt es echte Literatur ohne dichterische Intensität wie auch Dichterisches auch außerhalb der Verskunst und außerhalb der Lyrik ( 9 - 1 5 1 , bes. 150 f.). Der deutsche Sprachgebrauch schwankt zwischen (1), (2), (3) und (6) („Dichtung" !); Jakobson hat offenkundig nur (2), allenfalls auch (3) im Auge.

Was nun den ersten, streng genommen nicht-empirischen Teil des Äquivalenz-Theorems betrifft, jenen Teil also, der Jakobsons eigenen Beitrag darstellt, so sind dazu folgende Bemerkungen zu machen: 1. Mit ihm gibt Jakobson im Grunde eine Realdefinition, eine Wesensbestimmung von Dichtung: Dichtung ist ein bestimmter Modus sprachlicher Äußerung: sie ist wesentlich Sprache (dies ist ihr Allgemeines) und zwar Sprache, die auch „linear" Äquivalenz aufweist (dies ist ihr Besonderes). Oder anders: das (syntagmatische) Prinzip der Dichtung läßt sich auf das paradigmatische Prinzip der Sprache zurückführen. Damit findet eine (hypothetische) Linguistisierung von Dichtung statt. 2. Zwar kann die von Jakobson angenommene Übertragung des Äquivalenz-Prinzips auf die syntagmatische Achse ein horizontales „Ausbreiten" von Paradigmen bedeuten, wie z. B. bei der (rhythmischen) Wiederkehr gleicher grammatischer Kategorien; sie muß es aber nicht. Jakobson selber erwähnt unter den Beispielen poetischer Äquivalenz syntaktische Pausen, die Parallelität aufweisen: „das Fehlen einer Pause entspricht wiederum dem Fehlen" (1960: 153). Pausen und ihr Fehlen bilden indessen kein Paradigma, das ausgebreitet werden könnte. Jakobson geht es nicht um eine (mögliche) Ausbreitung, sondern bloß um eine „Projektion" des paradigmatischen Prinzips auf die Achse der Kombination.

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Das LKW als Sprachliches

Audi Roland Barthes (1964a: 129 f.) faßt das Jakobsonsdie Theorem im vorhin erwähnten engeren Sinn; zumindest sind all die Beispiele, die er für die „Grenzüberschreitung" zwischen Paradigma und Syntagma anführt, echte oder vermeintliche Fälle von Ausbreitung. Zu den letzteren gehört der Reim, der entgegen Barthes' Ansicht nicht ein solches Ausbreiten illustriert. Abgesehen davon, daß es zum Reimen keine Kreativität brauchte, wenn die Reime in Form von Paradigmen in jedem kompetenten Sprecher auf Abruf bereit wären: Paradigmen bestehen nicht aus gleidi oder ähnlich lautenden Wörtern irgendwelcher Art, sondern aus kategorial gleichen linguistischen Einheiten (Phonemen, bestimmten Wortarten usw.), die als solche grundsätzlich, d. h. zumindest in bezug auf allgemeinste Kontexte, austauschbar sind, ohne Inkongruität zu verursachen („schmecke" und „schmeckst" sind z. B. in bezug auf den allgemeinen Kontext [Subjekt + Prädikat] kategorial gleich, aber in bezug auf den näher bestimmten Kontext [„du" + Prädikat] ungleich). Solche kategorial gleiche Einheiten können zusätzlich auch semantisch gleich oder ähnlich sein, also austauschbar, ohne den Wahrheitswert des Satzes zu ändern. (Zu dieser Unterscheidung siehe Quine: 26f.) Synonyme z.B. sind kategorial gleich, indem sie jeweils zur gleichen Wortart gehören, zudem sind sie - per definitionem - semantisch ähnlich. Wenn Glieder eines Paradigmas einander auch phonetisch gleichen, so nicht zufällig, sondern entweder weil diese Ähnlichkeit mit ihrer kategorialen (und semantischen) Gleichheit zusammenhängt (Täler, Münder; schmecke, schmeck st usw.) oder weil sie innerhalb der betreffenden, kategorial gleichen Klasse wegen ihrer - möglicherweise zufälligen - phonetischen Ähnlichkeiten eine Unterklasse bilden. „Tal", „Wal", „Mal" würden nicht zum gleichen Paradigma gehören, wenn sie nicht zugleich - und „zuvor"! - Substantive in der Einzahl wären. Formal gute Reime zeichnen sich demgegenüber gerade dadurch aus, daß sie möglichst große phonetische Ähnlichkeit mit möglichst großer kategorialer und semantischer Verschiedenheit verbinden. Wie ähnlich „Tal", „Mal" usw. auch sind, als Reimwörter taugen sie wenig.

3. Trotz der relativen Gleichheit, welche die Glieder eines Paradigmas kennzeichnet, wird im Sprechakt primär eben nicht ihre Gleichheit, sondern ihre jeweilige Unterschiedlichkeit beachtet. Es muß nämlich eine Auswahl getroffen werden, und diese, so sie nicht willkürlich ist, geht auf das im Kontext einzig Zutreffende, ist also gerade durch das determiniert, was am betreffenden Glied - trotz der auch ihm eignenden, für das jeweilige Paradigma typischen Gleichheit - den anderen eben ungleich ist. Demgegenüber sucht der Dichter, insofern er Äquivalenzen hervorbringen will, im jeweiligen Paradigma gerade nach jenem Element, das einem (aus einem anderen Paradigma) bereits gewählten ähnlich oder gleich ist. Wenn er z. B. ein Reimwort „sucht", so richtet sich sein Augenmerk - wie das eines jeden Sprechers - auf das Ungleiche im Paradigma jener Wör-

Die Literatur als besondere A r t aktualisierter Sprache

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ter, die - nehmen wir an - vom Inhalt, von der Bedeutung her in Frage kommen: er sucht nach dem einzigen Wort, das „formal gut" ist. Zugleich ist er aber in dieser Suche und dieser Entscheidung (als Dichter) durch das Prinzip der Gleichheit bestimmt: „formal gut" meint eben maximale phonetische Ähnlichkeit (bei maximaler kategorialer und semantischer Verschiedenheit). Das bedeutet, daß er als Sprecher und als Dichter nicht durch das gleiche Prinzip geleitet wird: als Sprecher interessiert ihn das Ungleiche im Gleichen, als Dichter das Gleiche im Ungleichen (wie ja auch der Hörer/Leser sich primär an der Gleichheit, am Zusammenklang der Reimwörter erfreut und nicht etwa an deren Ungleichheit). Dies wiederum bedeutet, daß das Prinzip der Sprache auf der Achse der Selektion nicht das gleiche ist wie das Prinzip der Dichtung (auf der Achse der Kombination): letztere ist in der Tat durch die Äquivalenz von Nicht-Äquivalentem gekennzeichnet, der Sprechakt indessen durch die Ausrichtung auf das Nicht-Äquivalente im Äquivalenten. (Paradigmen an sich, als Gegenstände linguistischer Forschung, mögen in der Tat Gleichheit-in-der-Ungleichheit repräsentieren, nur ist das für das Sprechen Relevante an ihnen nicht mit ihrem Ansichsein identisch, sondern gleichsam mit ihrem Fürunssein: Paradigmen sind im Vollzug des Sprechens als Begründer der Performanz, der Sprechakte wichtig, als Reservoirs, worüber die Selektion vollzogen wird [nicht von ungefähr gehören sie zur Achse der Selektion, was auf Aktualisierung hinweist], und als solche „zeigen" sie sich uns primär gerade in ihrer Vielfalt, in ihrer Unterschiedlichkeit.) U m dies an einem (außerliterarischen) Beispiel Jakobsons zu verdeutlichen: Ein Mädchen hatte sich angewöhnt, von einer bestimmten Person immer als dem „horrible H a r r y " zu reden, womit es sich - ohne es zu merken - des poetischen Mittels der Paronomasie (horri-¡Harry) bediente (zit. Posner: 236). Dies läßt sich nun a u f g r u n d der Zweiachsentheorie folgendermaßen darstellen (Posner ebd.): dreadful terrible frightful disgusting horrible

Harry

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Das L K W als Sprachliches

Es ist nun augenfällig, daß entlang der paradigmatischen Achse Ungleichheit-inder-Gleichheit herrsdit, entlang der syntagmatischen dagegen Gleichheit-in-derUngleichheit.

Aus all dem folgt, daß es von einer Projektion des paradigmatischen Prinzips auf die syntagmatische Achse im Falle der Dichtung keine Rede sein kann: es geht dabei um zwei verschiedene Prinzipien, wohingegen „Projektion" oder „Übertragung" Gleichheit implizieren. Woraus seinerseits folgt, daß es Jakobson nicht gelungen ist, mit der linguistischen Kategorie des paradigmatischen Prinzips (unter Zuhilfenahme der - nicht notwendig linguistischen - Kategorie der Projektion) Dichtung zu beschreiben, geschweige denn sie erschöpfend zu beschreiben. Damit ist die Linguistisierung von Dichtung mit diesen Mitteln gescheitert. Denn Linguistisierung bedeutet Reduzierung auf Sprache, Erklärung mit und durch Sprache, wobei „Erklärung" nicht im Sinne einer kausalen oder finalen Herleitung zu verstehen ist, sondern im Sinne einer Erklärung vom Wesen her: Etwas in diesem Sinne durch X erklären heißt aufzuweisen, daß die eigentliche causa formalis und/oder materialis des betreffenden Seienden eine Besonderung von X ist. Ein solcher Aufweis ist aber nur möglich, indem das zu Erklärende mit den Kategorien von X erschöpfend beschrieben wird — etwas, was dem behandelten Theorem versagt blieb. 4.3.1.2. Die Frage der Allgemeingültigkeit des Äquivalenz-Prinzips 4.3.1.2.1. Prosa und sprachliche Irregularitäten Diese Überlegungen tangieren nicht im geringsten das Problem, ob Äquivalenz nur für die Dichtung in Jakobsons Sinne konstitutiv ist oder ob sie die Literatur im allgemeinen kennzeichnet, also zumindest mit einem Aspekt des Literarischen ineins zu setzen ist. (Denn Literatur kann Äquivalenz aufweisen, ohne daß diese etwas mit ihrer Sprachlichkeit zu tun hätte.) Die letztere Möglichkeit wird etwa von Michael Riffaterre skeptisch beurteilt: er fragt sich, ob der Parallelismus eine Konstante der Prosa sei und ob selbst in der Dichtung die Irregularitäten (ruptures) der sprachlichen Sequenz immer auf dieses Prinzip zurückgeführt werden könnten (1961: 337).

Die Literatur als besondere Art aktualisierter Sprache

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Was die erste Teilfrage, die Allgemeinheit des Parallelismus in der Prosa betrifft, so ist Todorov der Meinung, daß „ÄquivalenzPaare" Ccouples d'équivalence) zumindest in jeder Erzählung (récit) auffindbar seien, wenn die Analyse nur tief genug geführt wird ( 1 9 6 4 : 3 6 ) . Andernorts führt er den Ausdruck „räumliche Ordnung" ein, worunter er „die Existenz einer gewissen mehr oder weniger regelmäßigen Anordnung der Einheiten des Textes" versteht (also im Grunde Äquivalenz-Relationen), und hier hält er bereits dafür, daß Gegensätze, Parallelismen und sonstige regelmäßige Verteilungen jedem „Text" zukämen (1973: 138 ff.). Was den anderen Punkt, die Allgemeingültigkeit des ÄquivalenzPrinzips innerhalb der Dichtung betrifft, so sei auf zweierlei hingewiesen. Erstens noch einmal auf die in 1.1.1. exponierte Eigentümlichkeit künstlerischer Ordnungen, wonach Irregularitäten sich als neue Regularität entpuppen kann. Bierwisch macht die poetische Wirkung solcher Irregularitäten ausdrücklich davon abhängig, ob „den Abweichungen selbst eine eigene Regelmäßigkeit zugrunde liegt" (1971b: 952).

Insofern jedoch Ordnung vorhanden ist, ist auch Rekurrenz von Gleichem, also Äquivalenz vorhanden. Zweitens sei auf die Möglichkeit verwiesen, Äquivalenz nicht nur formal, sondern auch inhaltlich zu fassen, wodurch nicht nur solchen sprachlichen Irregularitäten beizukommen ist, die formal offenkundig zu keinen Äquivalenz-Systemen gehören, sondern das L K W überhaupt überzeugend als vom Äquivalenz-Prinzip beherrscht hingestellt werden kann. 4.3.1.2.2. Vertikale Äquivalenz Als Ausgangspunkt möge Roland Posners Begriff der vertikalen Äquivalenz dienen: sie stellt eine Verbindung zwischen Elementen verschiedener Textebenen her (618). Am geläufigsten ist die (punktuelle) Entsprechung zwischen Klang und Bedeutung. Manchmal kommt diese bloß einmal vor (in welchem Fall sie auffallend genug sein muß, um ihre Wirkung nicht zu verfehlen) ; ein bekanntes Beispiel ist der klangmalende Effekt in Vergils

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Das L K W als Sprachliches

quadripedante putrem sonitu quatit ungula campum

(»die Rotte / Schüttert und stampft, viertaktigen Hufsdilags, brüchige Schollen") {Aeneis 8/596. Übers. R. A. Schröder.).

Häufig bringt einen indessen erst die Wiederholung (die „horizontale" Äquivalenz!) auf den Gedanken, daß hinter der ansonsten allenfalls schwach motivierten Wiederkehr Absicht verborgen sem könnte: gerade die Absicht, mit dem Klang die Bedeutung eigentlich tautologisch zu wiederholen. Posner führt ein Beispiel aus Baudelaires les Chats an: „Im letzten Terzett reimen die Suffixe dreier Wörter, die semantisch etwas Funkelndes, hell Leuchtendes bezeichnen, auf die Silbe ,(c)elles', die hell klingt: ,etinCELLES- c , ,parC E L L E S d'or', ,prunELLES-'. Auf Grund der Synästhesie helles Licht - heller Klang gilt also die Feststellung: Das Suffix ,(c)elles', das einen bestimmten Klang verkörpert, erscheint im Gedicht nur in Wörtern, die ein ebensolches Licht bezeichnen. An der betreffenden Stelle besteht demnadi eine Äquivalenz zwischen Textelementen, die vertikal übereinander liegen. Die phonologischen und die semantischen Bestandteile desselben Wortes sind in bezug auf die Helligkeit miteinander äquivalent" (617 f.). In solchen punktuellen und mehrfach gestifteten vertikalen Äquivalenzen muß indessen das sinnlidi widergespiegelte Geistige nicht unbedingt Einzelbedeutung sein: es kann sich dabei um ganzheitliche Innerlichkeitsinhalte handeln. Dies ist der Fall bei den sog. Leitmotiven. Diese unterscheiden sich vom vorher erwähnten Typ allerdings nicht nur durch die Ganzheitlichkeit und folglich größere Komplexität des vermittelten Geistigen, sondern auch dadurch, daß sie von Haus aus nidit tautologischer Natur sind: der fragliche Inhalt wird nur durch sie vermittelt, es herrscht die in 2.3.3. bereits berührte ein-eindeutige Zuordnung von Form und Inhalt. Wenn etwa im 4. Kapitel von John Steinbecks Von Mäusen und Menschen innerhalb einer einzigen Szene im Stall fünfmal das unruhige Gerassel und Geklirre der Halfterketten ertönt, so wird das die ersten beiden Male noch als natürlich motiviert empfunden; das dritte Mal indessen, als es den Durchgang der unheilverkündenden

Die Literatur als besondere Art aktualisierter Sprache

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Frau Curleys begleitet, gewinnt es selber eine gewisse Ominosität und daher symbolische Bedeutung, die schließlich, im Gefolge zweier weiterer Wiederholungen, in ihrer vollen Absichtlichkeit und Deutlichkeit vor uns steht: zerstörerische Kräfte versuchen loszubrechen um Lennie und George ebenso wie im Pferdestall. Äquivalenz besteht hier nicht in der bloßen Gleichheit zweier einfacher Empfindungen (wie bei Baudelaire, wo es sich um die Helle des Klanges und die Helle im Bedeuteten handelte), sondern in der Gleichförmigkeit zweier Strukturen - einerseits auf der physisch-tierischen, andererseits auf der seelisch-menschlichen Ebene. Diese Gleich-förmigkeit oder strukturelle Ähnlichkeit wird in der formalistischen Literaturtheorie häufig — mit Ausdrücken mathematischen Ursprungs „Homologie" oder „Isomorphie" genannt. Solche Leitmotive vermitteln nicht nur Innerlichkeitsinhalte, sie rufen auch welche im Rezipienten hervor: Gefühlsreaktionen, die nicht als „im" Werk, „hinter" der vermittelnden Form seiend erlebt werden, sondern nur im Rezipienten entstehen, und zwar als emotionale Aura, die den erlebten Form/Inhalt-Komplex umgibt. Solche Reaktionen wären etwa im Fall von Steinbecks Roman die antizipatorisdien Gefühle der Furcht und des Mitleids, mit denen wir die Gestalt des Lennie und des George betrachten und die unter dem Eindruck des erwähnten Leitmotivs nodi deutlicher und stärker geworden sind. Dies führt uns vorübergehend ins Gebiet der horizontalen Äquivalenz zurück: Textstellen, auf die ähnlich reagiert wird, werden als äquivalent erlebt, obwohl sie untereinander - „an sich" - verschieden sein mögen. „Im Laufe der Rezeption entsteht ein Netz von Äquivalenzrelationen, das den Lektüreablauf überlagert, indem es die herausragenden Lektürestellen zu Äquivalenzklassen zusammenfaßt" (Posner: 632). „Elemente der Klassen sind jene Stellen im Rezeptionsablauf, an denen der Leser sich aufgehalten fühlt, stockt, aus dem Lektürekontinuum ausbricht und übergreifende Beziehungen zu dem bisher Gelesenen herstellt." In seiner Analyse von Baudelaires les Chats hat Riffaterre z. B. mit folgenden Kategorien Äquivalenzklassen gebildet: Spannung, Überraschung, Enttäuschung, Ironie, komischer Effekt (Posner: 631). Um noch kurz auf die Leitmotive zurückzukommen: Oben hat es geheißen, sie seien von Haus aus nicht tautologisch. Dies ist nun der theoretischen Vollständigkeit halber dahingehend zu ergänzen, daß sie wohl tautologisdi werden können, wenn sie nämlich auch nach der Erfüllung ihrer Vermittlungsfunktion so oft wiederholt werden, daß die Emotion oder die prägnante Vorstellung, die sie im Zusammenhang mit einer Gestalt oder einer bestimmten Situation - bezwecken, gleichsam als konditionierter Reflex auch ohne sie, durch das bloße WiederAuftauchen der Gestalt oder der Situation erweckt würde. Von diesem Stadium an vermittelt etwa Homers „kuhäugige Hera" oder das Zufallen der Türen, das in Thomas Manns Zauberberg Madame Chauchat ständig begleitet, das gleiche, was

144

Das LKW als Sprachliches

auch „Hera" und „Madame Chaudiat" in sich vermitteln; eine Tautologie, eine Verdoppelung des Aussageaktes ist also da, die außer dem „Einhämmern" des Eindrucks möglicherweise die Funktion hat, unseren Erwartungen immer wieder zu entsprechen. Hierüber wird in 4.3.1.3.2. noch manches zu sagen sein.

Vertikale Äquivalenz kann sich außer punktueller Homologie auch in globaler Homologie oder globalem Isomorphismus (Eco 1972: 162) verwirklichen, wenn nämlich das ganze Kunstwerk als ein „System homologer strukturaler Beziehungen" beschrieben werden kann, in dem „alle Ebenen auf Grund eines einzigen allgemeinen Codes, der sie alle strukturiert, definierbar" sind (ebd. 148 f.). Darin liegt zweierlei beschlossen: einerseits eben die Globalität: es verweist nicht nur ein einziger oder sporadisch auftretender Form-„Punkt" auf einen bestimmten Inhalt, sondern eine ganze Ebene kann nach einem bestimmten Code in Inhalt „übersetzt" werden; andererseits handelt es sich hier nicht mehr um ein „einstöckiges" Übereinander von Form und Inhalt: es sind eben mehrere Ebenen, mehrere Schichten übereinander gelagert, welche aber grundsätzlich gleich gegliedert sind und daher (auf tautologische Art) alle auf denselben Inhalt Durchblick gewähren. Dies ist ein allzu häufiger (oder zumindest häufig untersuchter) Fall, um nach Exemplifizierung zu verlangen: der Ehrgeiz vieler literaturwissenschaftlicher Arbeiten geht gerade dahin, nachzuweisen, daß man in einem gegebenen LKW auf verschiedenen Wegen, über Lautstruktur, Metrum, Rhythmus, Bildersprache, Proportionsverhältnisse, Gestaltkonfigurationen, Handlungsgefüge usf., zum gleichen Kern gelangen kann. Globale vertikale Äquivalenz muß indessen nicht tautologisch sein, ebensowenig wie die punktuelle es sein mußte: es gibt auch die andere (in ihrer Reinheit wohl nur theoretische) Möglichkeit, daß jedes Formsegment der gleichen Ebene oder jede Ebene als Ganzes den einzigen Weg zu verschiedenen Aspekten des Inhalts bildet, so daß sie zwar letztlich den gleichen Inhalt intendieren (und insofern - aber nur insofern - tautologisch sind), aber jedes für sich eine andere Facette dieses Gleichen beleuchtet, Wesentliches zum Ganzen beiträgt. Diese Wesentlichkeit, Informativität eines jeden Elementes ist mit verantwortlich für die Dichte der Dichtung (nunmehr im

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Sinne der Intensität), die - entgegen der Meinung Posners (607) nicht nur aus horizontaler Äquivalenz, das heißt aber: aus „Verklammerung", formaler Funktionalität resultiert, sondern - sofern „Dichtung" nicht bloß Vers und Lyrik, sondern auch Intensität meint - eben aus dieser inhaltlichen, inhaltvermittelnden Funktionalität. Wenn nun der Dichter die schöpferische Kraft besitzt, einmaligen Inhalt zu konzipieren, so muß er auch - wenn das Werk nicht im Wollen steckenbleiben soll - originell genug sein, ihm einmaligen Ausdrude zu verleihen. Dieses Bestreben, die Sprache der Einmaligkeit des Inhalts anzupassen, kann gerade zu jenen sprachlichen Irregularitäten führen, von denen es oben hieß, sie fielen aus dem Erklärungsschema der formal-horizontalen Äquivalenz heraus. Denn Sprache als Begriffliches und Praktisches geht von ihrer Natur her auf das Allgemeine und Alltäglich-Durchschnittliche aus, so daß der Dichter ständig gegen sein Medium dichten muß, sofern er einmalige seelische Inhalte auszudrücken sucht. Je origineller die Sicht, um so origineller, unregelmäßiger muß also der Sprachgebrauch ausfallen, wenn in nichts anderem, so in der Bildersprache, genauer in der Metaphorisierung. Denn Metapher bedeutet im weitesten Sinne einen Verstoß: die „Aufhebung jeglicher Einschränkungen bei der Kombination ,textueller' Elemente" (Lotman 1972 b: 123). Vor allem geht es dabei um die Kombination von Wörtern, die bezüglich einer oder mehrerer semantischer Eigenschaften miteinander unverträglich sind, in welchem Fall in George M. Landons Terminologie von metaphorischen Kollokationen gesprochen werden kann. Mit Hilfe der semantischen Eigenschaften ,abstrakt', ,konkret', .belebt' und .menschlich' lassen sich die Metaphertypen Reifikation, Animation und Personifikation folgendermaßen bestimmen: Reifikation ergibt sich, „wenn in einer Kollokation die eine lexikalische Einheit als konkret, die andere als abstrakt spezifiziert ist [trouble spills, breathe happiness, bitte Courage]; Animation ergibt sich, wenn die eine lexikalische Einheit als belebt [d. h. belebt-aber-nicht-menschlich, A. H . ] , die andere als konkret [d. h. dinghaft, A. H . ] oder abstrakt gekennzeichnet ist [dawn peered, wake clay, frantic shellj; Personifikation ergibt sidi, wenn die eine Form als menschlich, die andere als belebt, konkret oder abstrakt gekennzeichnet ist [the bough sighs, thrill the word, sad dawn]" (352 f.).

Solchen metaphorischen Kombinationen mag - wie erwähnt - mit keinem Prinzip formal-horizontaler Äquivalenz beizukommen sein,

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gleichwohl können wir sie nunmehr mit unserem erweiterten Begriff der Äquivalenz erfassen. Denn solche Ausdrücke bilden mit dem ihnen ein-eindeutig zugeordneten Inhalt eine Zweiheit vertikaler Äquivalenz; überdies ist es zumeist nicht so, daß sie punktuell etwas ebenfalls Punktuelles vermitteln, sondern sie gehören meistens zu jenen Formbausteinen, mit denen der Werkbau um den Inhalt herum errichtet wird, wobei — wie wir vorhin ausgeführt haben — jedes dieser Elemente Gleiches und doch nicht Gleiches durchscheinen läßt: ungleiche Aspekte des gleichen Inhalts. Insofern sie nun hinsichtlich ihres Inhaltsbezugs gleich sind, haben wir es bei ihnen nicht nur mit vertikaler Äquivalenz, sondern auch mit einer inhaltlichen Art horizontaler Äquivalenz zu tun. Mit diesen Ausführungen scheint erwiesen zu sein, daß wenn nur der Begriff der Äquivalenz unter Berücksichtigung des Inhalts mit dem Begriff der vertikalen und dem der inhaltlich-horizontalen Äquivalenz bereichert wird, ihm literaturtheoretische Allgemeingültigkeit schwerlich abgesprochen werden kann. Gleichzeitig muß betont werden, das sobald Äquivalenz auch den Inhalt involviert, sie aufhört, sprachliche Äquivalenz zu sein (es sei denn, es handele sich um semantische Äquivalenz, d. h. um Tautologie im strengen Sinne des Wortes). Denn in diesem Fall ist sie durch Seelisches, durch die gleidie Innerlichkeit vermittelt, die Aussagen etwa oder die Metaphern hängen psychisch zusammen; Psychisches gehört jedoch (auch in fiktiv-ideeller Seinsweise) zum Pragmatischen: es fällt aus der Sprache heraus. 4.3.1.2.3. Inhaltlich bereichertes Äquivalenz-Prinzip und Formalismus Zu fragen bleibt indessen, inwiefern der Begriff der inhaltlichen Äquivalenz doch noch echter Bestandteil einer (nicht linguistisch orientierten) formalistischen Literaturtheorie ist, d. h. inwiefern im Zusammenhang mit ihm eine Formalisierung des Inhalts ermöglicht wurde. Die Antwort lautet kurz gefaßt folgendermaßen: sofern sinnvollerweise von Isomorphie, von Gleich-förmigkeit des Äquivalenten die Rede sein kann. Ist nämlich die mit „Äquivalenz" ge-

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meinte Gleichheit anders als Gleichheit der formalen Relationen zu fassen, so bedeutet jede adäquate Behandlung offenbar ein Hinausgehen über den Formalismus. Das Zusammenfallen von Äquivalenz und Isomorphie ist nun allerdings - wie uns ein Rückblick auf die vorhin umrissene Typologie der Äquivalenz-Relationen sogleich augenfällig machen wird durchaus nicht bei jedem Typ der Fall. Vergegenwärtigen wir uns zunächst die vier Grundtypen vertikaler Äquivalenz, welche sich unter Verwendung der Begriffsmerkmale punktuell/global, eineindeutig zugeordnet/tautologisch in folgender Matrix darstellen lassen:

punktuell

global

ein-eindeutig zugeordnet

tautologisch

(1) z. B. Leitmotiv

(2) z. B. Klangmalerei und Klangsymbolik

(3) z. B. Ubiquität metaphorischer Verbindungen

(4) globaler Isomorphismus

Von diesen vier Typen ist nur (4) notwendig durch Isomorphismus gekennzeichnet; die drei übrigen können Äquivalenz von Gleichförmigem bedeuten, müssen es aber nicht. Um mit (2) zu beginnen: „miauen" z. B. weist fraglos formale Ähnlichkeit mit seinem Bedeuteten auf; ja sogar bei dem ungarischen Wort pillango wähnten wir Ähnlichkeiten zwischen artikulatorisdier und gemeinter Bewegung (Ähnlichkeiten im Verhältnis der einzelnen Bewegungsstadien) entdecken zu können; aber gerade die Baudelaireschen Beispiele von „étincelles" usw. lassen sich nicht mehr als Gleichwertigkeit von Gleichförmigem beschreiben: die Empfindung der Helle, die sowohl vom Lautbild als auch von der Bedeutung suggeriert wird, ist einfach, ungegliedert, wird nicht als Relationsgefüge erlebt.

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Ähnliches läßt sich auch bei (1) und (3) aufzeigen. Wir selber haben auf die formale Ähnlichkeit zwischen Sinnlichem und Geistigem bei Steinbecks Leitmotiv hingewiesen; aber schon bei Madame Chauchat wäre die Heranziehung von Isomorphie inadäquat: Wenn jemand ständig die Türen hinter sich zufallen läßt, so ist das ein vielsagendes Motiv, nur ist das Geistige, das wir aus ihm erschließen, nicht durch eine dynamische Kurve gekennzeichnet, die der physikalischen ähnlich wäre. Nicht anders auch bei (3); the bough sighs - da ist offenkundig Isomorphie mit im Spiel; bei blue courage hingegen weist die Empfindung „blau" keine formale Ähnlichkeit mit der Konnotation des Stählernen, Abgehärteten, vielleicht Grausamen auf, mit der „blau" das Wort „Mut" bereichert. Und wenn etwa solche metaphorische Kollokationen auch horizontal Äquivalenz-Relationen bilden, in dem Sinne, daß sie den gleichen Inhalt vermitteln, so kann da ausnahmsweise eine durchgehende formale Ähnlichkeit zwischen den einzelnen Kollokationen einerseits, zwischen ihnen und dem Vermittelten andererseits vorliegen, allein: dies ist um so unwahrscheinlicher, je weitläufiger und diversifizierter das Werk ist. Es liegt somit auf der Hand, daß inhaltliche Äquivalenz-Relationen außer der (möglichen) formalen Ähnlichkeit zumindest eines von zwei weiteren Kennzeichen aufweisen müssen, die ihre Gleichwertigkeit in den formal nicht erfaßbaren Fällen garantieren. Das eine ließe sich vorsichtig als Zusammengehören bezeichnen: die zufallenden Türen stehen für etwas in Madame Chauchat, blue courage steht f ü r eine bestimmte (jeglicher „Feuchtigkeit" entbehrende) Art des Mutes, nicht weil da Ähnlichkeiten vorliegen, sondern weil Bezeichnendes und Bezeichnetes für uns fest miteinander verbunden sind, so daß das eine (scheinbar unmittelbar) das andere evoziert. Dabei spreche ich ganz bewußt nicht von Assoziationen (der Kontiguität), denn es ist überhaupt nicht ausgemacht, daß solche Zeicheninterpretationen nur aufgrund persönlicher Erfahrungen (also Assoziationen im strengen Sinn) möglich sind und nicht zum Teil (besonders hinsichtlich Mimik und Gestik) auf ererbten Fähigkeiten beruhen.

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Der Fall „etmcelles" legt sodann ein weiteres Kennzeichen nahe: das der qualitativ-inhaltlichen Ähnlichkeit. Die Äquivalenz von Farben etwa wird nicht aufgrund formalen Vergleichs, sondern rein anschaulich-intuitiv festgestellt. Die Legitimität der formalen Annäherungsweise bei der Behandlung von Äquivalenz-Beziehungen ist indessen noch in einer weiteren Hinsicht einzuschränken. Selbst in Fällen, in denen ohne Zweifel Isomorphie vorliegt, gehört diese häufig zum Ansich, nicht aber auch zum Füruns des fraglichen Phänomens. Gleichförmigkeit mag sehr wohl das Erscheinende am Phänomen begründen, sie selber erscheint aber in solchen Fällen nicht: was wir erleben, sind nicht Relationen, sondern Qualitäten. Um dies sogleich auch von der anderen Seite her (sogar zweifach) zu relativieren: Formal-horizontale Äquivalenz wird sicher auch als Formales erlebt. Ebenso sicher ist es, daß Wissenschaft prinzipiell nicht den Beruf hat, sich mit dem Füruns zu beschäftigen; im Gegenteil: Georg Lukacs z. B. sieht das Wesen der Wissenschaft gerade im „Desanthropomorphisieren": sie sei bestrebt, die Wirklichkeit eben nicht so zu zeigen, wie sie dem Menschen erscheint, sondern wie sie an sich ist (1963: 1/564 et passim). Folglich mutet es zunächst als abwegig an, wenn der formalen Methode an diesem Punkt der Untersuchung daraus ein Vorwurf gemacht werden soll, daß sie sich „nur" mit dem Ansich der Literatur beschäftigt. Allein: Literatur, überhaupt Kunst, ist insofern ein Spezialfall unter den möglichen Gegenständen der Wissenschaft, als für sie das Füruns konstitutiv ist. Literatur an sich, als (noch) nicht Aktualisiertes, Erlebtes, ist nicht Literatur in vollem Sinne ihres Begriffes: sie hat noch eine ontische Defizienz, ist noch nicht das, was sie sein soll, erfüllt noch nicht ihren Sinn. Daher scheint es berechtigt zu behaupten, daß im Falle der Kunstwissenschaften (und auch der Ästhetik) eine Annäherungsweise, die auch das Füruns in ihre Beschreibungs- und Erklärungstätigkeit einbezieht, ihrem Gegenstand adäquater ist als eine, die sich auf das diesbezügliche Ansich beschränkt. Folglich ist zwar die formale Methode bei Beziehungen formalhorizontaler Äquivalenz vollauf adäquat, nicht aber, sobald auch Inhaltliches involviert ist.

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Daß dem so ist, läßt sich streng genommen nur nachweisen, indem man auf die Introspektion des Lesers appelliert und ihn bittet, sich beliebige Erlebnisse inhaltlicher Äquivalenz zu vergegenwärtigen: er wird finden, daß er nicht Relationen, sondern Qualitäten erlebt. Dies liegt wohl daran, daß sowohl das sinnlich Wahrgenommene bzw. das sinnhaft Vorgestellte (wenn man bei seiner Sinnlichkeit bzw. Sinnhaftigkeit verweilt) als auch das, was darin an Fremdseelischem erscheint, (von der hnmutungsqualität beider ganz zu schweigen) von Haus aus qualitativer N a t u r sind. (Es ist sogar anzunehmen, daß der Mensch überhaupt nichts, nicht einmal die abstraktesten, formalsten Zusammenhänge, ohne qualitative Tönung erleben kann, sei diese auch nur von seiner momentanen persönlichen Befindlichkeit verursacht.) Daraus folgt, daß wenn überhaupt inhaltliche Äquivalenz in der Feststellung von Ähnlichkeit gründet (und nicht etwa im Zusammengehören und der daraus fließenden Feststellung des Stehens-für), diese Ähnlichkeit eine durch bloßes „Hinschauen" apperzipierbare, inhaltlich-qualitative sein muß. Solche Vergleiche finden häufiger statt, als man meint. Ein Beispiel ist die Paradoxie des treffenden Ausdrucks, die nur aufgelöst werden kann, wenn ein solcher vorbewußt, mit nicht-realisierbarer Schnelle verlaufender Vergleich vorausgesetzt wird. Die Paradoxie besteht darin, daß man einen Ausdruck, etwa ein Bild, oft als treffend empfindet, obwohl die einzige Quelle, woraus man erfahren kann, was er trifft, der Ausdruck selber ist. Dies ist besonders in der Literatur häufig, in der ja meistens nicht coram publico um den Ausdruck gerungen wird, im Gegensatz zur lebendigen Rede des Alltags, die einem gewöhnlich Zeit läßt herauszufinden, worauf der Sprechende hinaus will, so daß es überhaupt nicht zur Paradoxie kommt. Und doch, trotz dieser Dichte des literarischen Textes, muß auch der mit einem Wurf gelingende Ausdruck mit etwas anderem verglichen werden können als mit seinem eigenen Inhalt, wenn keine Paradoxie entstehen soll, da ja im entgegengesetzten Fall die Unterschiede in unseren Werturteilen über die jeweilige Adäquatheit solcher Ausdrücke - wegen der mit Recht vorausgesetzten Gleichheit (gleichen Adäquatheit) der jeweiligen Ausdruck/Inhalt-Relationen - ohne hinreichenden Grund wären. Was kann nun dieses andere sein? Hier bloß zwei Möglichkeiten aus dem Œuvre von Henry James, einem Meister der treffenden Wiedergabe differenzierter Bewußtseinsvorgänge.

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„Little Bilham followed his eyes, but then as if with a shade of knowing surprise: ,Gloriani?' Our friend had in fact already hesitated, though not on the hint of his companion's doubt, in which there were depths of critical reserve." (The Ambassadors, 5. Buch, II. Herv. A. H.) Die Analyse dieses Zweifels wird offenkundig mit unserer eigenen, halbbewußt vollzogenen Interpretation verglichen, mit der seelischen Situation, die wir hinter dem einzigen Wort .Gloriani?' erspürten und die sich einfügte in jene während des Lesens kontinuierlich nach-erschaffene, vorstellungsmäßige psychische Welt, die wir Inhalt nennen. Zwar gibt es hier kein Tasten nach dem passenden Ausdruck, wie so oft im Alltag, aber eine Ähnlichkeit besteht insofern doch, als audi hier der Sinn vorgängig erfaßt wurde: das Objekt der Analyse hatten wir selber - unartikuliert zwar - analysiert. Ein anderes Beispiel: „ . . . his sense of the thing in question covered our friend for a minute like a veil through which - as if he had been muffled - he heard his interlocutor ask him if he mightn't take him over about five." (ebd. III.) Da wird die seelische Situation in der Tat erst durch den fraglichen, als treffend empfundenen Textteil vermittelt, und doch gibt es auch hier Vorgängiges, das einen Vergleich ermöglicht. Und zwar ist dieses einerseits wiederum die im ständigen Aufbau begriffene, fiktive seelische Welt, die Situation, welche dieser vorausging; andererseits und als neues Moment unser gesamtes intuitives Wissen über die möglichen Aktionen und Reaktionen der menschlichen Seele. Im Besitze dieses zweifachen Wissens können wir dem effektiv Dargebotenen, vom Dichter „Vorgeschlagenen" eine Kontrollinstanz, gleichsam unsere Version des Darzustellenden gegenüberstellen: wir vergleichen das, was eingetreten ist, mit dem, was angesichts der fiktiven Vor-gänge und der realen Wahrscheinlichkeitsgesetze der Seele zu erwarten stand, und stellen fest, daß diese Beschreibung der Präokkupiertheit auf eine von uns zwar nicht positiv erwartete, aber immerhin vorbewußt offen gehaltene Möglichkeit des Inneseins ausgezeichnet zutrifft. Womit nicht bloß gezeigt werden sollte, daß inhaltliche Äquivalenz - dem Schein der Unmittelbarkeit zum Trotz - einen Ähnlichkeitsvergleich zwischen Form und Inhalt denknotwendig machen kann (und folglich auch eine Scheidung dieser von manchen extrem-dialektischen Theorien für untrennbar gehaltenen Kategorien); es sollte dem Leser nebenbei auch Gelegenheit geboten werden, anhand seines Erlebnisses zu prüfen, wieviel es mit unserer obigen Behauptung auf sich habe: daß nämlich diese Art von Äquivalenz als Gleichwertigkeit von Qualitäten, nicht aber als solche von Relationen erlebt wird.

4.3.1.3. Vom Sinn der Äquivalenz Warum nun Äquivalenz? Wie läßt sie sich von ihrem Sinn, von dem Ziel her, das mit ihr verfolgt wird, begründen? Es ist ratsam, bei der Beantwortung dieser Frage die bereits getroffene Zweiteilung wieder aufzunehmen und gesondert horizontale und vertikale Äquivalenz zu behandeln.

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Das L K W als Sprachliches

4.3.1.3.1. Vom Sinn der horizontalen Äquivalenz Was die erstere betrifft, so ist zunächst daran zu erinnern, daß Äquivalenz in diesem Sinn Wiederkehr, und zwar vom einmal gewählten „Schema" erzwungene Wiederkehr bedeutet: an dieser bestimmten Stelle darf etwa nur eine lange Silbe stehen, auf sie muß eine kurze folgen usw. Das heißt: die Möglichkeiten der Kombination langer und kurzer Silben sind eingeschränkt; ich kann zum voraus mehr oder weniger genau wissen, was in einer bestimmten Beziehung folgen wird; es sind mithin Elemente vorhanden, die keine Information tragen: Äquivalenz bedeutet - von informationstheoretischem Gesichtspunkt - Redundanz. Genauer: sie bedeutet zusätzliche Redundanz, denn zu den „normalen Einschränkungen, die für Prosa und Poesie [als überhaupt Sprachliches, A. H . ] im allgemeinen in gleicher Weise gelten, kommen für die Poesie noch weitere hinzu, die aus dem Zwang zur Einschaltung der angenommenen metrischen Form resultieren" (Lüdtke: 235). Da also Äquivalenz eine Form der Redundanz ist, muß sie auch als Redundanz sinnvoll sein, das heißt: wenn wir Redundanz in ihrer Finalität begründen können, haben wir ineins damit auch Äquivalenz (zumindest teilweise) begründet. Dies wird von Helmut Lüdtke auch versucht, indem er die Frage „nach dem Ursprung von Stabreim, Endreim und Assonanz" (Äquivalenzphänomene allesamt) mit dem Hinweis auf das „Redundanzbedürfnis" beantwortet (241 f.). Woher aber dieses Bedürfnis? Oder besser: wozu ist Redundanz „gut"? Die Antwort Lüdtkes, sie diene dazu, „die Störanfälligkeit sprachlicher Kommunikation zu vermindern" (235), mag für sprachliche Redundanz überhaupt ihre Gültigkeit haben; für die Literatur ist sie als Erklärung sicher zu eng gefaßt, denn die literaturtypische Redundanz (wie sie sich z. B. in der horizontalen Äquivalenz zeigt) hat eine Eigentümlichkeit, die etwa diejenige des H nach SC im Deutschen nicht besitzt: sie ist ästhetisch. Man kann Lüdtkes Antwort wie auch diese meine Entgegnung verallgemeinern, indem man etwa sagt, Redundanz (nicht nur die sprachliche) sei „gut", weil sie die Umweltbeherrschung erleichtert (kosmische, soziale, psychische

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und sonstige Rekurrenzen ermöglichen Voraussicht, rechtzeitige Disponierung, angepaßtes Verhalten), was nicht nur die Erreichung unserer praktischen Ziele bedeutet im allgemeinen, sondern unter Umständen insbesondere auch die Befriedigung unserer Eitelkeit und unseres persönlichen wie gattungsmäßigen Machtstrebens. Gegenüber diesem Hinweis auf die Mittelhaftigkeit, die allgemeine praktische Relevanz der Redundanz kann - nicht minder allgemein - zu bedenken gegeben werden, daß die Befriedigung unserer praktischen Bedürfnisse, zu der uns die Redundanz verhilft und die letztlich das „Redundanzbedürfnis" begründet, allenfalls „angenehm" ist (im Kantschen Sinne), dieses Gefühl aber nicht zu verwechseln ist mit dem der Ästhetizität. Folglich muß der Sinn der horizontalen Äquivalenz in Tieferliegendem gesudit werden. Was dieses sein mag, sei hier nur kurz angedeutet. Äquivalenz bedeutet Ordnung, d. h. (im strengen Sinne) ein ausnahmsloses Durchdrungensein der Besonderheiten durch Allgemeines. Ausnahmslosigkeit bedeutet nun ihrerseits Widerspruchslosigkeit, die Möglichkeit des deduktiven Schließens oder Syllogisierens, praktisch: Voraussehbarkeit. Das heißt: wenn in einem System Ordnung herrscht und ich die Prinzipien dieser Ordnung kenne, so werde ich aufgrund von Allsätzen, die diese Prinzipien sprachlich formulieren, auf jedes Element dieses Systems schließen, folglich seine Beschaffenheit voraussagen können: ich werde keinem Element begegnen, dessen Beschaffenheit zu diesen Prinzipien im Widerspruch stünde. Es wird also kein Widerspruch von folgendem Typ entstehen: Alle x sind p; A ist x; aber A ist nicht p. Widerspruchslosigkeit ist aber nicht nur horizontalen ÄquivalenzRelationen eigen, sondern (tendenziell) auch jener Instanz, die solche objektive Stimmigkeiten feststellt und begrüßt: dem Verstand. Dieser scheint in seinem Funktionieren vom Grundprinzip des zu vermeidenden Widerspruches beherrscht zu sein: er flieht den Widerspruch und sucht ihn aufzulösen, indem er, falls die Zugehörigkeit zum fraglichen System feststeht, entweder das Allgemeine differenziert oder Erklärungsprinzipien von „außen" heranholt (Horn 1976 a: 24).

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Wenn nun akzeptiert wird, daß Ästhetisches in einem bestimmten Modus der Selbstbegegnung gründet (siehe dazu Horn 1969 a: 85 bis 92), so ließe sich die Ästhetizität der Äquivalenz gerade damit erklären, daß der Verstand in ihr seiner eigenen (intendierten und immer wieder verwirklichten) Widerspruchslosigkeit begegnet - oder richtiger: daß ich der Widerspruchslosigkeit meines Verstandes begegne. Der spezifische Genuß scheint dabei an die Sinnlichkeit, Anschaulichkeit der wahrgenommenen Widerspruchslosigkeit gebunden zu sein, denn nur wenn Einzelnes sich in der Anschauung oder Vorstellung als vom Allgemeinen durchdrungen bekundet, wenn uns das Allgemeine immer wieder zeigt, nur dann kommt es zum Erlebnis der Ästhetizität, nicht aber bei Widerspruchslosigkeit im rein-unanschaulichen Bereich der Ratio (Horn 1976 a: 25). In diesem Sinne könnte man Äquivalenz auch als Widerspruchslosigkeit in der Erscheinung definieren. Daraus folgt übrigens das Selbstverständliche, daß Rekurrenz nicht nur in der Kunst, sondern auch in sonstigen Bereichen ästhetisch genossen werden kann, vorausgesetzt, daß man gerade von ihrer praktischen Relevanz abstrahiert und sie „interesselos" betrachtet. Im Falle praktischer Einstellung ist sie „bloß" angenehm, bei ästhetischer Einstellung ist sie „schön".

Wenn es aber hiermit gelungen sein sollte, die Ästhetizität der horizontalen Äquivalenz zu begründen, so ist damit auch ihr Sinn erklärt: sie ist da, sie wird in der Literatur bewußt verwendet, nicht bloß um die Aufnahme von Sprache zu erleichtern, sondern vornehmlich um auf die genannte Weise und aus den genannten Gründen ästhetisch zu wirken. 4.3.1.3.2. Vom Sinn der vertikalen Äquivalenz Um dem Sinn der vertikalen Äquivalenz näher zu kommen, muß ein größerer Bogen beschrieben werden. Zunächst gilt es festzuhalten, daß die Behauptung, sie sei für die Literatur konstitutiv, d. h. die Beschreibung des Phänomens und die Betonung seiner literaturästhetischen Bedeutung alles andere als neu sind. Wenn nun im folgenden einige markante Formulierungen aus der Geschichte dieses Theorems herausgegriffen werden, so nicht nur, um seine Traditionsgebundenheit zu unterstreichen, sondern auch

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um - gleichsam beiläufig - dem Leser bewußt zu machen, daß der Konsens in bezug auf das, was Literatur (überhaupt Kunst) im wesentlichen sei, so geringfügig nicht ist, wie er gemeinhin veranschlagt wird. Zunächst Aristoteles: „Epos, Tragödie, Komödie, Dithyrambendichtung, ferner der größere Teil der Flötenkunst und Kitharakunst sind alle insgesamt Nachahmungen . . . Wie es . . . Leute gibt, die . . . in Farben und Formen vielerlei abbilden und nachahmen, . . . so geschieht es auch in den genannten Künsten. Sie alle bewerkstelligen die Nachahmung durch Rhythmus, Wort und Harmonie, und zwar entweder durch eines allein oder durch deren Verbindung . . . Auch die Tänzer ahmen durch die gestalteten Rhythmen Charaktere, Empfindungen und Handlungen nach" (Poetik 1. Übers. O. Gigon). Mit diesen fast beiläufig erwähnten drei Worten (Charaktere, Empfindungen, Handlungen) werden eindeutig die inneren und äußeren Aspekte des menschlichen Seelenlebens als das bezeichnet, was von der Kunst (und a fortiori von der Literatur) nachgeahmt wird. Dabei geht die aristotelische .Nachahmung' (dies kann hier der Kürze halber nur versichert, nicht aber belegt werden) primär auf den Charakter, auf die Natur des Dargestellten; diese nachahmen heißt zunächst, eine typische Äußerungsweise zu entwerfen, welche insofern typisch genannt werden kann, als ein so-und-so gearteter Mensch in einer so-und-so gearteten Situation nach seinem inneren Gesetz sich wahrscheinlich auf diese Weise bekunden würde. Zu diesen Äußerungsweisen gehören vorab die Empfindungen, sodann das, was diese veräußerlicht: die Handlungen und die Rede. ,Nachahmung' bedeutet indessen nach Aristoteles nicht nur einen solchen Entwurf, eine solche „Annahme", sondern auch eine weitere Veräußerlichung: die Einbildung des in der Seele Entworfenen in sinnlich Wahrnehmbares: in (rhythmisierte) Worte, aktualisierte Handlungen, rhythmische und harmonische Bewegungen, in Farbe und Form. Wenn aber auch der umgekehrte Weg möglich sein soll, nämlich von „außen" zur Natur des Dargestellten, zum Charakter zu gelangen (dies jetzt unsere eigene Folgerung), so muß das sinnlich Wahrgenommene oder sinnhaft Vorgestellte als Äußerung von Seelischem er-

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scheinen, letztlich (nach Aristoteles) als Äußerung dieser Art von Seele: es muß eine Entsprechung vorliegen zwischen Äußerungsweisen und sich Äußerndem, wobei die Kontrolle über diese Entsprechung gerade dadurch möglich ist, daß auch wir, die Rezipienten, den Artbegriff (eidos), aufgrund dessen der Künstler seine Annahme machte, „in der Seele haben". Die beiden „Wege" ließen sich (von Aristoteles ausgehend) sdiematisch etwa folgendermaßen darstellen. (Dabei bedeutet E:Eidos, Artbegriff; ->-: Richtung des logisch-zeitlichen Hervorgehens [beim Künstler] oder des Erkenntnisganges [beim Rezipienten].) „draußen"

innerhalb der Seele 1. Veräußerlichung

3. Veräußerlichung

2. Veräußerlichung

• Sinnliches (z. B. dramatische Rede und Handlungen, Rede des Epikers, Rhythmus)

E > Entwurf s» Entwurf (Charakter) von Innerem von Äußerem (z. B. Empfin- (z. B. Rede und düngen) Handlungen)

innerhalb der Seele

•draußen"

2./3. Entäußerl.

1. Entäußerlichung (falls=Äußeres, z. B. dramatische / Handlung) 1. EntäußerSinnliches N (falls # Äußeres, lichung z. B. Rede des — Epikers, Rhythmus)

Inneres >E (Cha2. EntäußerL l (z. B. Empfindungen) rakter) . Äußeres (z. B. vorgestellte, „epische" Handlungen)

Die Natur einer bestimmten Art von Menschen nachahmen heißt demnach, die jeweils „passende" Veräußerlichung zu finden, d. h. Entsprechungsverhältnisse zu stiften 1. zwischen seiner Natur (repräsentiert durch den Artbegriff) und dem zu entwerfenden Inneren, 2. zwischen diesem und dem zu entwerfenden Äußeren (beides nach

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dem Prinzip des - wahrscheinlichen - Zusammengehörens) und schließlich 3. zwischen dem entworfenen Äußeren und der sinnlichen Realisation (nach dem Prinzip der Ähnlichkeit). Dabei wird - beiläufig bemerkt - klar, daß im weiteren Sinne alles Ausdrückende Form und alles Ausgedrückte Inhalt genannt werden kann und daher das gleiche (z. B. das zu entwerfende Innere oder das zu entwerfende Äußere) mal als Form, mal als Inhalt figuriert, je nachdem, ob es von „innen" oder von »außen" betrachtet wird, daß also Form und Inhalt in diesem weiteren Sinne relative Begriffe sind (vgl. z.B. Piaget 1974b: 32, 95). Im engeren Sinne gilt jedoch nach wie vor, daß ,Form' nur Sinnlich-Sinnhaftes, .Inhalt' nur Seelisches meint.

Was Aristoteles bloß impliziert, liegt bei Horaz offen zutage: „Nicht nach dem tragischen Vers verlangt die Rede des Lustspiels... Wahre mir jedes den Ort, der ihm zukommt und gemäß i s t . . . Widersprächen sidi gar des Redenden Wort und sein Schicksal, Zahlen's die Römer ihm heim, und verladien ihn, Ritter und Fußvolk . . . Merk und bewahre getreu die Sitten jeglicher Lebzeit, Daß du dem wechselnden Stand der Natur und der Jahre gerecht w i r s t . . . . . . du bleib, auf daß nicht des Greisen Rolle dein Jüngling spiel und des Hausherrn Rolle das Knäblein, Immer des Fuges gedenk, der jeglichem Alter gebühre." {Über die Dichtkunst 89, 92,112-113, 156-157, 176-178. Übers. R. A. Schröder.)

Was hier allgemein gefordert wird, ist das Gerecht-Werden: der Dichter muß dem darzustellenden Inhalt gerecht werden, indem er das diesem Zukommende, zu ihm Passende, das decor, ihm in der Tat zukommen läßt, was umgekehrt bedeutet, daß die Form ihren passenden Ort (locum decentem 92) beibehalten, nur im Verbund mit dem ihr adäquaten Inhalt in Erscheinung treten soll. Näher soll nach Horaz - wie wir gesehen haben - Einklang herrschen zwischen Metrum und „Atmosphäre", d. h. Anmutungsqualität, sodann zwischen Rede und Handlungen einerseits und Situation („Schicksal"), Alter bzw. den Eigenheiten, die „den einzelnen Lebensstufen von Natur beigegeben" sind (mobilibusque decor naturis dandus et annis 157), andererseits (Kiessling & Heinze: 319). Letzteres läßt sich audi so ausdrücken: Das Äußere soll dem erwarteten Inneren entsprechen.

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Um nach einem großen Sprung mit Hegel weiterzufahren: Nach ihm ist das Ästhetische „das sinnliche Scheinen der Idee" (1955:146) oder - in weniger esoterischer Form - das wesensmäßige sinnliche Erscheinen einer konkreten menschlichen Innerlichkeit in der Sphäre der „Nicht-Realität" (Horn 1969 a: 8). Das sinnliche Erscheinen (oder Formwerden) wird dabei gerade darum wesenmäßig genannt, weil in ihm nichts anderes als das Wesentliche an der konkreten menschlichen Innerlichkeit (d. h. dem Inhalt) zur Form wird, oder anders herum: die Form läßt nur den Inhalt (und den ganzen Inhalt) erscheinen. Auch nach Nicolai Hartmann liegt das Wesentliche des Kunstwerks in einem ErscheinungsVerhältnis: im sinnlich-realen Vordergrund erscheint ein geistig-ideeller Hintergrund (1966: 74-131). T. S. Eliot nannte den gleichen Vordergrund das „objektive Korrelat", die sinnlich-sinnhafte „Formel" eines bestimmten Gefühls, durch die es ausgedrückt und evoziert wird (100). „Gefühl" ist eine der Hauptkategorien auch Susanne Langers; es steht auch bei ihr in einem Entsprechungsverhältnis zur „Form", nur haben „Gefühl" und „Form" eine besondere Bedeutung bei ihr. Form ist wesentlich Scheinendes (also nicht das Sinnliche als solches, sondern allenfalls als Entwirklichtes: etwa die dramatische Handlung als Handlung des Protagonisten, nicht aber als die des Darstellers); genauer (im Falle der Literatur) „virtuelles Leben" (213), „virtuelle Erfahrung" (256), „die Illusion von Erfahrung" (213), „der Schein von gelebten und erlebten Ereignissen" (212). Langers „Form" fällt also mit dem zusammen, was auf diesen Seiten mehrfach als sinnhaft-vorgestelltes Äußeres bezeichnet wurde. Das seelische Moment kommt nun bei ihr nicht dadurch ins Spiel, daß dieses Äußere notwendig Veräußerlichung eines Inneren, einer Seele wäre, sondern dadurch, daß es immer als Erlebtes, „Gefühltes" dargestellt wird. Langers „Gefühl" (feeling - nicht emotion, wie bei T. S. Eliot) hat den Oberton des Sich-so-oder-anders-Anfühlens, des So-oder-anders-Anmutens: es geht bei ihr nicht um das dargestellte Gefühl, sondern um die Anmutungsqualität dessen, was dargestellt wird. Feeling ist also die „emotionale Bedeutung" (223) dessen, was die

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virtuelle Erfahrung erfährt; es ist eine Erlebtheitsqualität, die mit den virtuellen Ereignissen mit erscheint, ihnen einwohnt (ebd.). Dieses Inhärieren ist nur möglich, indem die Form die „Morphologie" (253), das „dynamische Muster" (230) des wirklichen menschlichen Gefühls abbildet (253): sie hat eine organische Struktur, weil das Gefühl eine hat; sie weist Phasen der Spannung und der Entspannung auf, weil auch das Gefühl zwischen solchen alterniert usw. (372 ff.). In diesem Sinne ist jede künstlerische Form ein Symbol: der Ausdruck einer homologen „emotiven Qualität" (380). Auch bei Langer gibt es also eine Entsprechung zwischen Sinnhaftem und Seelischem: das Mitgegebensein der gefühlsmäßigen „Antwort" (215) wird nur durch diese Homologie ermöglicht. Der Gedanke des Dargestellten als etwas, das die objektive Spur vorgängiger menschlicher Vermittlung auf sich trägt, als eines geronnenen Erlebnisses, das sich erst im Rezipienten wieder zum aktuellen Erlebnis verflüssigt, findet sich auch bei Georg Lukdcs. Kunst stellt nadi ihm ihre Gegenstände nicht nur erlebbar, sondern auch als erlebte dar: das Ansich, die wesentlichen Bezüge des zum Thema gewählten menschlichen Wirklichkeitsausschnitts werden gleichsam nicht „an sidi", in ihrer sachlich-nüditern betrachteten „Objektivität" in das Kunstwerk aufgenommen, sondern so, wie sie vom Menschen, von der künstlerischen Subjektivität erlebt werden. Das Kunstwerk ist für Lukacs „in allen Poren [seiner] Gegenständlichkeit von Subjektivität, und zwar von einer bestimmten, konkreten Subjektivität durchdrungen" (1963: 1/565). Was demnach im Kunstwerk zur Darstellung gelangt, ist nach ihm nicht das Ansich, sondern das Ansich und dessen subjektiv-persönlicher Reflex. (Siehe dazu Horn 1974: 32.)

Umberto Eco ist sich der wesensmäßigen Identität des — wie wir soeben gesehen haben — in der Tat alt-hergebrachten TransparenzBegriffs und des modernen Begriffs der inhaltlichen Äquivalenz durchaus bewußt, schreibt er doch folgendes: „Was heißt es, von der Einheit von Inhalt und Form in einem gelungenen Werk zu sprechen, wenn nicht, daß dasselbe strukturelle Schema die verschiedenen Organisationsebenen beherrscht? Es etabliert sich eine Art Netz von homologen Formen, das den besonderen Code dieses Werks bildet" (1972:151). Festzuhalten gilt nach diesem kurzgefaßten historischen Uberblick: Der Begriff der inhaltlichen Äquivalenz ist nur seinem Namen, nicht aber seinem Inhalt nach neu. Über den Namen selber

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kann man geteilter Meinung sein. Gleich-wertigkeit (Äqui-valenz) bedeutet Austauschbarkeit, und man kann geltend machen, daß Form, die mit „ihrem" Inhalt gleichwertig ist (in bezug auf dessen „Inhalt"), wegen des grundsätzlichen Unterschiedes zwischen Form und Inhalt in praxi mit diesem ebensowenig austauschbar ist wie horizontal Äquivalentes, etwa Silben, die zwar in bezug auf Länge oder Akzent theoretisch austauschbar sind, jedoch wegen des grundsätzlichen Unterschiedes zwischen Phonemfolge und Bedeutung faktisch nicht ausgetauscht werden können. Demgegenüber - so kann man etwa in der ablehnenden Argumentation weiterfahren - sind Ware und gleichwertiges Geld in der Tat austauschbar, ebenso Synonyme, die gerade wegen ihrer Austauschbarkeit gleichwertig genannt werden. Es zeigt sich indessen, daß die Austauschbarkeit auch bei diesen sdieinbar echt-äquivalenten Seienden nur relativ ist: Ware und Geld sind nur im Handel, nicht aber hinsichtlich des Verbrauchs austauschbar (der Sinn des Geldes besteht gerade in seiner Unverbrauchbarkeit oder vielleicht besser: in seiner Neutralität gegenüber jedem konkreten Verbrauch); Synonyme sind nur prinzipiell, salva veritate austauschbar, aber nicht salva congruitate im strengen Sinne des Wortes congruitas. Die Relativität der Äquivalenz im Falle des inhaltlich Äquivalenten läßt sich also nur bedingt gegen den Gebrauch dieses Namens anführen: Wenn man faktische Austauschbarkeit als ausschlaggebend für Äquivalenz erachtet, so wäre in der Tat der schwerfälligere Ausdruck „Gleiches in Ungleichem" oder das einfache, aber stark metaphorisierende Wort „Transparenz" vorzuziehen; wenn man sich indessen mit dem Merkmal bedingter Austauschbarkeit zufrieden gibt (und dieser Bedingtheit stets eingedenk ist), so ist der Name unanfechtbar. Doch, nach diesem Rundweg, nochmals die ursprüngliche Frage: Wozu inhaltliche Äquivalenz? Wenn Alexander Pope schreibt: „the sound must seem an echo to the sense" (An Essay on Criticism 1711, Zeile 365), woher dieses must? Die Antwort erweist, daß der Rundweg nicht sinnlos war. Wenn nämlich inhaltliche Äquivalenz wesentlich dasselbe meint wie Trans-

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parenz oder die Durchsichtigkeit der Form auf einen „dahintergeschalteten" Inhalt (Hartmann), und wenn in diesem Hindurchscheinen des Inhalts - wie immer dies auch formuliert sein mag führende Denker etwas erblicken, was für die Literatur, ja für die Kunst und das Ästhetische überhaupt wesentlich ist (wenn nicht gar das Wesen des Ästhetischen ausmacht), so lautet die Antwort folgendermaßen: Inhaltlich-vertikale (wie auch die horizontale) Äquivalenz findet ihren Sinn und ihre Begründung letztlich im Ästhetischen, also in etwas Metaphysischem. Denn man mag das Ästhetische so oder anders auslegen (etwa als Inhaltsfreiheit; siehe Horn 1969 a), man mag nachweisen, daß sich diese Hypothese in ästhetischen „Problemsituationen" (Popper) ausnehmend gut bewährt (siehe Horn 1976 b): all dies ändert nichts daran, daß das Wesen des Ästhetischen als solches, in seinem So-und-nicht-anders-Bestimmtsein, empirisch prinzipiell nicht erfahrbar ist. Daß es das Ästhetische gibt (als Eigenschaft gewisser Objekte), erfahren wir auf Schritt und Tritt; worin dieses Ästhetisch-Sein letztlich besteht, können wir grundsätzlich nicht erfahren, das heißt: das Ästhetische als solches läßt sich weder äußerlich noch innerlich wahrnehmen, es wird nicht zur unmittelbaren Gegebenheit, es läßt sich nicht „erleben". Es ist als prinzipiell Unerfahrbares - metaphysisch. Daß sich die Hypothese über die Inhaltsfreiheit (wie jede metaphysische Hypothese) trotz ihres Hineinreichens ins Metaphysische rational diskutiert werden kann, gerade indem man sie in Problemsituationen stellt (Popper 1963: 198 f.), läßt sich auch in unserem Zusammenhang kurz vordemonstrieren. Das Problem, an dem sich die genannte Hypothese bewähren müßte, ist das der literarischen Tautologie: Was hat es für einen „Sinn", daß verschiedene Formebenen oder Formsegmente den gleichen Inhalt widerspiegeln? Oder vielmehr: offenkundig hat es einen Sinn, es bereitet nämlich ästhetischen Genuß, aber wie läßt sich diese Sinnhaftigkeit begründen, zumal Tautologie im nicht-literarischen Diskurs als überflüssig und - insofern - als sinnlos betrachtet wird? Die Antwort kann lauten: Im Kunstwerk darf es nichts geben, was nicht diente, was nicht dem Inhalt zum Beisidisein, zur Freiheit verhülfe, was nicht im Dienste der Inhaltsvermittlung stände. Globalität der Transparenz verbürgt nun maximale Inhaltsfreiheit, d. h. maximale Ästhetizität; in literarischer Rede ist aber dies das höchste Gut, nicht etwa die Vermeidung semantischer Wiederkehr.

Doch wir haben vorgegriffen. Äquivalenz wird nämlich nicht unvermittelt für uns: sie wird - wie wir im folgenden sehen werden -

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Das LKW als Sprachliches

durch Abweichung und Reflexivität vermittelt. Erst die Bewußtwerdung dieser beiden Momente läßt auch die Äquivalenz für uns werden; erst nach ihrer beider Behandlung wäre es also - streng genommen - sinnvoll, die Frage aufzuwerfen, wie die Wirkung der Äquivalenz zu erklären sei (worauf die Sinnfrage letztlich hinausläuft), denn wirken kann nur Erlebtes. Doch die darstellerische Ökonomie zwingt einen manchmal dazu, logisch Zusammenhängendes trotz des psychisch-zeitlichen Auseinanders zusammen zu behandeln; zusätzlicher Vorteil erwächst durch die Möglichkeit, auf bereits Ausgeführtes später kurz-erinnernd zurückzugreifen. 4.3.2. Das Literarische als Abweichung und Verfremdung Dem zeitlichen, rezeptionspsychologischen Ablauf nach ist das nächste Moment, das es zu behandeln gilt, das der Abweichung. Denn die Äquivalenz ist uns zunächst als solche nicht gegeben; was uns präsent ist, ist etwas Allgemeineres: der dumpf-unbestimmte Eindruck der Abweichung. Das uns Begegnende erscheint als ungewöhnlich, als etwas, was von der N o r m abweicht, es verursacht „Differenzempfindung" (Sklovskij 1916b: 51). Bereits die russischen Formalisten unterschieden drei verschiedene Arten der Abweichung (Erlich: 281), von denen hier zunächst die sprachliche besprochen werden soll, nicht nur weil dies beim sprachlichen Kunstwerk am naheliegendsten ist, sondern auch deswegen, weil der Gedanke, sprachliche Abweichung sei ein Konstitutivum des Literarischen, den größten geschichtlichen Nachhall gefunden hat. 4.3.2.1. Abweichung vom geläufigen Sprachgebrauch Wenn Sklovskij schreibt, „jedes Kunstwerk wird geschaffen als Parallele und Gegensatz zu einem vorhandenen Muster" (1916b: 51), so ist unter „Muster" auch der gewöhnliche Sprachgebrauch zu verstehen, oder die Sprache als Vor-Ästhetisches, als Material, „Rohstoff der Literatur" (Erlich: 208). Der schöpferische Prozeß wird dementsprechend vorgestellt als „Spannung zwischen der gewöhn-

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liehen Spradie und den sie formenden oder deformierenden Kunstmitteln", als „Sprachmanipulation" (ebd. 210). Das Kunstwerk als vom Material, Rohstoff Unterschiedenes läßt sich mit Ingarden als „Form" bezeichnen, genauer nicht das Kunstwerk als Ganzes, sondern „nur die Gesamtheit der durch den Künstler im Rohstoff hervorgebrachten neuen Eigenschaften, die der Rohstoff früher nicht besaß" (1937: 43). Demnach wäre der „Rohstoff" des Dichters die langue; die Form (in diesem Verstand) wäre dasjenige an seinem Kunstwerk als parole, was von der langue abweichend ist.

Im Einklang mit den russischen Formalisten präzisiert Mukarovsky, daß „für die Dichtung die Standardsprache jener Hintergrund ist, von dem sich die in ästhetischer Absicht durchgeführte Deformation der im Werk befindlichen linguistischen Komponenten abhebt, mit anderen Worten: die absichtliche Verletzung der standardsprachlichen Norm". Die „systematische Verletzung" dieser Norm mache die „dichterische Verwendung der Sprache" überhaupt erst möglich ( 1 9 3 2 : 1 8 ) . René Wellek macht auf die wichtige Einschränkung „systematisch" aufmerksam: Der künstlerische Prozeß besteht für Mukarovsky (wie übrigens auch für die russischen Formalisten) nicht nur in der Deformation, sondern ineins damit in der Organisation: die Mittel der Abweichung „müssen in systematischer Weise angewandt werden, müssen organisiert sein" (Wellek 1972: 129). Mit dem Begriff der Organisation wird im Grunde auf das in 1.1.1. und 1.2. bereits berührte Phänomen der Ordnung-in-der-Unordnung angespielt, was etwa Bierwisch folgendermaßen ausdrückt: „Poetische Abweichungen müssen selbst bestimmten Regularitäten unterliegen" (1971a: 79, auch 1971b: 952). Mit Bierwisch sind wir indessen bereits bei der dritten Etappe dieses kurzen historischen Rückblicks angelangt: bei der modernen Linguistik oder vielmehr bei der linguistisch ausgerichteten modernen Literaturtheorie. Diese hält nämlich (wenigstens in ihrer von Bierwisch vertretenen Variante) ebenfalls dafür, daß sprachliche Abweichung der Literatur wesentlich ist, ja daß sie eines der beiden Hauptmomente des Literarischen bildet: „Zahlreiche Eigenschaften, die in wechselnder Kombination die Literatursprache charakterisie-

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ren, lassen sich auf zwei Grundprinzipien zurückführen: Uberlagerung der Sprache durch sekundäre Strukturen und bewußte Abweichungen von der Normalstruktur." Dieses zweite, uns gegenwärtig interessierende Prinzip besteht also „nicht in der Befolgung zusätzlicher, sondern in der Abweichung von gegebenen Regeln". (Bierwisch 1971a: 78 f. Siehe auch Levin 1965: 713 f.) Abweichendes ist gerade das, was nicht erwartet, weil nicht wahrscheinlich ist; von hier aus wird verständlich, wenn Eco „eines der Elemente, die die Einzigartigkeit der ästhetischen Darstellungsweise (discorso) ausmachen", darin erblickt, „daß die Wahrscheinlichkeitsordnung der Sprache . . . durchbrochen wird" (1973:121). Die hier anvisierten Wahrscheinlichkeiten können von zwei Arten sein: Vorkommens- und Ubergangswahrscheinlichkeiten. (Siehe dazu z. B. Levin 1963: 35 f.) Die ersteren sagen etwas über die Häufigkeit eines bestimmten Elementes aus. In der Alltagssprache ist z. B. die Häufigkeit gleich oder ähnlich lautender Silben viel geringer als in gereimten Versen; Reime werden dementsprechend zunächst als Abweichungen von den Regeln über die Vorkommenswahrscheinlichkeit solcher Silben registriert. Reimende Silben kommen indessen in Gedichten nicht nur häufiger vor als in der Normalsprache, sondern auch regelmäßiger: die Wahrscheinlichkeit, daß man etwa nach sieben oder neun nicht-reimenden Silben zu einer reimenden übergehen kann, ist ungleich größer als außerhalb der Dichtung. Folglich werden die Reime auch als Verstöße empfunden gegen die Regeln über die Übergangswahrscheinlichkeiten. Es ist leicht einzusehen, daß nicht nur Reime, sondern auch das Metrum, überhaupt jede Art rhythmischer Wiederkehr, d. h. horizontaler Äquivalenz, unmittelbar als solche Verstöße gegen die probabilistische Ordnung erlebt werden: die konkret anzutreffende Frequenz und Distribution sind von der Norm her gesehen unwahrscheinlich. Ebenso leicht ersichtlich ist es, daß auch vertikale, inhaltliche Äquivalenz-Relationen mitunter, insbesondere im Fall bildhafter Wendungen, mit Abweichungen von UbergangswahrscheinlichkeitsRegeln in Beziehung gesetzt werden können: nur darum kann etwa

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blue courage einen einmaligen Inhalt vermitteln, d. h. auf ihn transparent, ihm äquivalent sein, weil die Wahrscheinlichkeit, daß in der Alltagssprache auf das Wort blue das Wort courage folgt, verschwindend klein, d. h. die Kombination dieser beiden Wörter nicht weniger einmalig ist. (Warum die Einmaligkeit der Kombination zur inhaltlichen Äquivalenz führt, wird in 4.3.2.4. zu besprechen sein.) 4.3.2.2. Abweichung von der vorherrschenden künstlerischen Norm Das „Muster", von dem sich jedes Kunstwerk abhebt, ist nun nicht bloß die Sprache in ihrer Alltäglichkeit, sondern auch das Kunstmilieu: „Ein Kunstwerk wird wahrgenommen auf dem Hintergrund und auf dem Wege der Assoziierung mit anderen Kunstwerken. Die Form des Kunstwerks bestimmt sich nach ihrem Verhältnis zu anderen, bereits vorhandenen Formen" (Sklovskij 1916b: 51). Wichtig ist hier der Hinweis auf die Wahrnehmung: die ansichseiende Abweichung wirkt (bei sprachlichen wie bei sonstigen werkimmanenten Beziehungen, welche sich von werktranszendenten Strukturen abheben) zunächst als befremdend, auf eine näher nicht definierte Art ungewöhnlich, so daß man gleichsam genauer hinschauen muß, um das Dargebotene richtig zu erfassen. Das heißt: im Gegensatz zur Wahrnehmung von Vertrautem, die auf Gestaltoder Superzeichenbildung beruht (bei Wahrnehmung eines Tisches z. B. werden nicht die „Abbilder" der Einzelteile getrennt als Zeichen für „Bein", „Platte" usw. interpretiert, sondern die ganze Gestalt bildet ein einziges [Super-]Zeichen, und dieses wird „erkannt", will heißen: unter den Begriff des Tisches subsumiert), im Gegensatz zu dieser Art von Wahrnehmung, die eine flüchtige, sinnlich verarmte, fast bloß begriffliche Operation ist, muß bei Fremdem, Unvertrautem die Gestalt, das Superzeichen, die Ganzheit erst aufgebaut werden, was nur durch „genaues Hinschauen" möglich ist: jedes Detail muß eigens ins Auge gefaßt, als dies oder jenes identifiziert werden (wobei dies wahrscheinlich nie ohne schöpferische Akte abgeht: Neues wird nicht restlos aus Bekanntem re-konstruiert: materiell Neues muß unter Bekanntes subsumiert, formal Neues,

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unbekannte Strukturen und kreativ „entworfen" werden).

Funktionen

müssen

hypothetisch-

Eco spricht in diesem Zusammenhang von Ambiguität, was insofern zutrifft, als man hier gerade durch das Fehlen der eindeutigen Bestimmbarkeit verwirrt wird. Nur geht er wohl zu weit, wenn er meint, diese Mehrdeutigkeit führe einen nicht nur zum „näheren Hinsdiauen", sondern sogar zur Erforschung ihres eigenen Ursprungs: „eine Botschaft, die mich in der Schwebe zwischen Information und Redundanz hält, die mich zu der Frage treibt, was das denn heißen soll, während ich im Nebel der Ambiguität etwas erblicke, was auf dem Grunde meine Decodierung leitet, eine solche Botschaft beginne ich zu beobachten, um zu sehen, wie sie gemacht ist" (1972: 147, auch 164). Gedichte z. B. treiben einen in der Tat durch ihre prima-vista „Unverständlichkeit" (will heißen: Mehrdeutigkeit) dazu, sich mit ihnen abzugeben (wobei aber auch der - merkwürdigerweise trotz der „Unverständlichkeit" häufig registrierbare - poetische Wert eine Anziehung ausüben kann); dieses Sich-Abgeben geht aber nicht notwendig auf die Weise der Hervorbringung, sondern bloß auf die Klärung der Frage, wie das Abweichende beschaffen (nicht wie es geschaffen) ist.

Dieses Eingehen auf das Detail nennt hier Sklovskij (im emphatischen Sinne) Wahrnehmung: sie ist nur möglich, wenn Abweichendes verfremdet. Da aber so verstandene Wahrnehmung auch notwendig ist (warum, wird in 4.3.2.5. erhellen), müssen gewohnte, nicht mehr wahrgenommene Formen von neuen abgelöst werden: zumindest ein Grund der Literaturgeschichte. Vgl. Sklovskijs Ausspruch: „Eine neue Form entsteht nicht, um einen neuen Inhalt auszudrücken, sondern um eine alte Form abzulösen, die ihren Charakter als künstlerische Form bereits verloren hat" (1916b: 51). Zur Problematik der verblaßten Form als Motor der Literaturgeschichte siehe Erlich: 283-289).

4.3.2.3. Das Literarische als

Formung

Das Gemeinsame der bisher behandelten Arten der Abweichung besteht offenkundig darin, daß sie Abweichungen in der Form sind und gerade durch die Abweichung gewöhnlich Übersehenes (eben die Form) verfremden und somit sichtbar, „spürbar", „fühlbar" machen (Ejchenbaum 1 9 6 5 : 2 0 ; Sklovskij 1916b: 121). Von der Form als Beziehung ist die Formung als In-BeziehungSetzen nur ein Schritt: „Vergleichen wir das Rohmaterial der Natur und das bearbeitete Material der Kunst [also das geformte Material, A. H . ] , so stellen wir das Verfahren seiner künstlerischen Bearbeitung fest" (Zirmunskij: 145). In die verschiedenen Verfahren, in

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die Verwendung von Kunstmitteln, in die poetische Aktivität der Konstruktion wurde von den russsischen Formalisten verschiedentlich das Wesentliche am Literarischen gelegt; so schreibt etwa Tynjanov: „Die Eigenart eines literarischen Werkes liegt in der Anwendung des konstruktiven Faktors auf das Material, in der ,Formung' (d. h. eigentlich in der Deformation) des Materials" (1924: 409). Obwohl die Formung eigentlich zum Vorher des fertigen Kunstwerks und folglich auch des Kunsterlebnisses gehört, ist es nicht so, daß der von Zirmunskij erwähnte Vergleich zwischen Rohmaterial und geformtem Material und die daraus folgende Bewußtwerdung der Verfahren prinzipiell nur in der Abgeschiedenheit kunstwissenschaftlicher Untersuchung, in der Stunde der Theorie beheimatet wären, nicht aber in der ästhetischen Situation. In Wirklichkeit wird auch während des Kunstgenusses, der immer, wenn auch von einem noch so minimen illusiven Glauben begleitet ist, das Nichtrealitätsbewußtsein von Zeit zu Zeit überschwellig (siehe dazu Horn 1969b)unter anderem gerade in jenen Augenblicken, da unsere Aufmerksamkeit auf die Form gelenkt wird. Werden wir aber auf abweichende Form aufmerksam, so liegt es nahe (und zwar je mehr man mit dem künstlerischen Handwerk vertraut ist, um so näher), aus dieser bestimmten Form ihre Ursache (eben das Verfahren, das zu ihr geführt hat) zu erschließen. Auf diese Bewußtwerdung zielt die Metapher Sklovskijs: „Der verschlungene Weg, der Weg, auf dem der Fuß die Steine spürt, der zum Ausgangspunkt zurückführende Weg, - das ist der Weg der Kunst" (1916b: 37). Eine spezielle Form dieser „Pedalisierung" der Verfahren wurde von ihm besonders eingehend untersucht: die Illusionsstörung. Diese tritt immer ein, wenn die Kette der Kausalität, welche die verschiedenen Äußerungsweisen in der Literatur gewöhnlich hervortreibt, plötzlich abbricht: es wird etwas gesagt oder getan, was nicht „motiviert" ist, was mit der Logik der dargestellten Welt nicht mehr erklärbar ist. Dieses non sequitur, diese formale Überraschung dient immer dazu, uns die Künstlichkeit der Kunst bewußt zu machen, wobei aber dieses Ziel nicht immer aus dem gleichen Grund verfolgt wird. Wenn wir der Ursache der Abweichung nachgehen, so können

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wir auf rein künstlerische Absichten und aus ihnen resultierende Verfahren stoßen, z. B. auf Abschweifungen zwecks Retardation. (Wir müssen indessen nicht, denn die ironisierenden Romantiker, Brecht und das absurde Theater betonen die Künstlichkeit aus anderen, je verschiedenen Gründen.) Die eruierte künstlerische Absicht kann ihrerseits gerade darin bestehen, konkrete künstlerische Absichten, konkrete Verfahren, d. h. die Konstruktion selber bloßzulegen, wobei dies manchmal so weit geht, daß die Konstruktionsarbeit verbalisiert wird: der Romanschriftsteller (etwa Sterne, dem Sklovskij eine eigene Studie gewidmet hat) be-spricht die Art und Weise, wie er den Roman, den der Leser in der Hand hält, weiterzuführen gedenkt. (Siehe Sklovskij 1966: 131-162, sowie zum Begriff der Motivierung und zur Bloßlegung der Konstruktion Ejchenbaum 1965:28-31.) Es gibt eine scheinbare Ausnahme von der Regel, wonach Kunstgriffe das Wesentliche an der (Sprach-)Kunst seien, so daß sie billigerweise „zum Tönen gebracht" werden sollten (Sklovskij 1916b: 51). Es wird nämlich (zu Recht) auch dies gefordert, daß Kunstgriffe zu verstecken seien, daß es eben nicht offenbar werden dürfe, daß etwas nur um dieses oder jenes künstlerischen Zweckes willen in das Kunstwerk eingebaut wurde, denn sonst fühlt man Absicht und man ist verstimmt. Dies ist indessen bloß eine Ausnahme, welche die Regel bestätigt: es geht hier nicht um ein absolutes Verstecken, dem niemand auf die Schliche kommen kann (viele kunstwissenschaftliche Untersuchungen weisen gerade schlau versteckte Kunstmittel nach, aber das zeigt, daß sie immerhin nach- und aufweisbar sind); es geht nur darum, daß das Verstecken schlau sei: das Künst-liche muß zugleich auch als natürlich erscheinen. Eine Figur oder ein Ereignis mag sehr wohl nur mit dem Zweck in das Werk aufgenommen worden sein, später im Handlungsgefüge eine bestimmte Funktion auszuüben; diese ihre Funktionalität mag im nachhinein auch klar erkannt werden; sie stört jedoch nicht, wenn gleichzeitig erkannt wird, daß Figur oder Ereignis so frühzeitig und zwanglos (das heißt: „natürlich") eingeführt wurden, daß man sie

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auch als funktionslos betrachten könnte, daß der naive Rezipient ihnen (oder vielmehr: ihrem Auf- oder Eintreten an einem bestimmten Punkt, folglich ihrer werkunabhängigen Existenz) absoluten Glauben schenken würde, da ihr Vorkommen vom „objektiven" Bestand der dargestellten Welt her sich aufzudrängen scheint. Wir sind also nur um den Schein der Nicht-Künstlichkeit, der Natürlichkeit besorgt, nicht um das grundsätzliche Nicht-Erscheinen jeglicher Künstlichkeit. Ist dieser Schein gewahrt, können wir uns sagen: wir würden das Dargebotene akzeptieren, wenn es uns nur auf Wahrscheinlichkeit ankäme; so geben wir uns mit der Doppelgesichtigkeit des fraglichen Elements (funktionell/,.funktionslos") durchaus zufrieden, ja wir genießen den Kunstgriff, mit dem ein anderer Kunstgriff (der absichtsvolle Einbau) versteckt wurde - versteckt vor dem naiven, auf absolute Naturtreue pochenden Betrachter, den wir auch in uns tragen, ohne freilich unser ästhetisches Urteil allein auf ihn abzustellen: wir reagieren nur so, als ob wir ausschließlich auf ihn abstellten. Es gibt hiernach eine Raffinerie des Pedalisierens, womit gerade das Nicht-Pedalisieren zum Tönen gebracht wird. Daß bewußt gewordene Formung gleichwohl nicht mit dem Literarischen identisch ist; worin — des weiteren - ihr Sinn zu suclien sei, - hierüber wird in 4.3.3. die Rede sein. 4.3.2.4. Abweichung von der alltäglichen Wahrnehmung der Dinge Die gleichen Momente, die wir bei der Abweichung auf dem Gebiet der Form unterscheiden konnten, kehren bei der dritten Art der Abweichung, nämlich bei jener auf dem Gebiet der Gegenstandsvermittlung, wieder. Es sind dies: ansichseiende Abweichung, Verfremdung, Sichtbarkeit. Wovon sich die Literatur in dieser Beziehung abstößt, ist die alltägliche, praktisch-theoretische Wahrnehmung der Dinge. Diese ist wie vorhin kurz erwähnt - weitgehend entsinnlicht, konzeptualisiert oder - wie Sklovskij es ausdrückt - unbewußt-automatisch. „Wenn jemand sich an die Empfindung erinnert, die er hatte, als er zum ersten Mal eine Feder in der Hand h i e l t . . . , und wenn er diese Empfindung mit der vergleicht, die er beim zehntausendsten Mal hat,

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dann wird er uns zustimmen" (1916a: 12f.). Er begnügt sich indessen mit diesem Appell an die Introspektion des Lesers nicht, sondern unternimmt selber eine phänomenologische Umschreibung der alltäglichen Sicht: „Der Gegenstand geht gleichsam verpackt an uns vorbei. Nach dem Platz, den er einnimmt, wissen wir, daß er da ist, aber wir sehen nur seine Oberfläche. Unter dem Einfluß einer solchen Wahrnehmung trocknet der Gegenstand aus" (ebd. 13). Jakobson und Mukarovsky beschreiben die gleichen Erscheinungen - bei den dichterisch besonders wichtigen „Gegenständen", den Wörtern - folgendermaßen: „die geläufigen Wörter [werden] infolge ihres häufigen Gebrauchs im Detail ihrer lautlichen Zusammensetzung nicht mehr durchdrungen, sondern erraten" (33. Herv. A. H.).

Von dieser Art der Wahrnehmung hebt sich nun die der Literatur ab: „Gerade um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ,Verfremdung' der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck" (Sklovskij 1916a: 15). Das heißt: gerade weil die Welt-Sicht des Künstlers (und folglidi auch der Ausdruck, den er dieser Sicht verleiht) von der alltäglichen Art abweicht, wirkt die literarische Repräsentation zunächst fremd; ihre Ungewohntheit läßt aufhorchen, zieht die Aufmerksamkeit auf sich, fordert zur Entkonzeptualisierung, zur Versinnlichung heraus: die Abweichung führt über Verfremdung zur Sichtbarkeit: man verweilt beim Sinnlichen, eilt nicht - wie im Alltag — nur das Begriffliche herausziehend weiter. Ein solches „Empfinden des Gegenstandes" in dessen Einmaligkeit strebte vor Sklovskij auch G. M. Hopkins (1844-1889) an: die Gegenstände der Natur und der Kunst haben ihr je einmaliges Wesen, das sich in ihrem sinnlichen Äußeren bekundet; diese sinnfällige Einmaligkeit nannte er „inscape". (Siehe dazu Peters: 1 f.) Der Dichtung gehe es zwar auch um die „inscape" der Dinge, die da eingefangen werden sollen (Warren: 78), vornehmlich aber darum, einmalige

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Lautgestalten empfinden zu lassen: „Poetry is in fact speech only employed to carry the inscape of speedi for the inscape's sake" (zit. McChesney: 25).

Von den literarischen Mitteln, die solcherart die Wahrnehmung entautomatisieren, seien hier drei näher erörtert. Das erste besteht im wesentlichen in der Hervorhebung sinnlicher Details, wodurch eine (tendenziell) totale Wiedergabe des sinnlichen Eindrucks gewährleistet wird. Bei der Charakterisierung dieses Kunstmittels betont Sklovskij zwei Aspekte. Zum einen dessen psychische Bedingung (im Künstler) bzw. Folge (im Rezipienten): der Gegenstand wird so beschrieben, „als werde er zum ersten Mal gesehen" (ebd. 17): mit frischen, „fremden" Augen, für die es noch keine Schablone, kein Superzeichen gibt. Zum anderen geht er auf die Methode selber ein: bei diesem „Verfahren der Verfremdung" wird der Gegenstand nicht mit seinem Namen genannnt (ebd.). Das bedeutet: der Inhalt des abstrakten, „leermeinenden" Wortes (Husserl) wird konkretisiert; statt seiner werden die „mitgemeinten" (also in keiner Weise gegenwärtigen) oder möglicherweise überhaupt nie wahrgenommenen sinnlichen Aspekte zu Worte gebracht. Um statt der Beispiele, die Sklovskij aus Tolstojs Werk anführt, ein eigenes beizusteuern: man betrachte eine kurze Beschreibung aus James Joyces Erzählung „The Dead": „ . . . rubbing the knuckles of his left fist backwards and forwards into his left eye" (Dubliners). Die sinnlichen Details, welche die Plastizität, die Visualisierbarkeit ermöglichen und von den meisten Menschen möglicherweise nie im einzelnen beobachtet worden sind, werden offenkundig durch die Worte knuckles, backwards and forwards vermittelt. Sie nehmen den Platz alltäglich-summarischer Beschreibungen ein: es heißt nicht, er hätte sich das Auge mit der Hand, ja nicht einmal: er hätte es bloß mit der Faust gerieben; auch heißt es nicht, er hätte es einfach gerieben, sondern... Die Neigung zur konkreten Beschreibung ist charakteristisch für die urtümliche Seele (etwa des Naturmenschen): „die wichtigste Funktion hat die Sprache hier . . . in der Nachmalung der Wirklichkeit, bei uns hingegen in der Beurteilung, in der kausalen Erklärung der Wirklichkeit. Darum ist es dem Primitiven wichtig, die speziellsten Sonderungen als Namen aufzubewahren"; so hat etwa eine Bantusprache für die verschiedensten Arten von Gehen die verschiedensten Be-

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Zeichnungen: ein eigenes Wort für Spazierengehen', ein anderes für .ganz langsam und vorsichtig mit einem Patienten Spazierengehen', wiederum ein anderes für ,durch eine von H i t z e wild zerrissene Ebene hüpfend gehen' usw. (Werner: 202). Die Tatsache, daß diese Eigentümlichkeit in der Literatur auch des sog. K u l t u r menschen wiederkehrt, bekräftigt einerseits die These, wonach „ein und dasselbe Individuum . . . durchaus nicht immer bestimmt ist durch eine und dieselbe Entwicklungshöhe, sondern . . . je nach äußeren und inneren Umständen . . . sozusagen in verschiedenen Schichten seines Seelenlebens erlebt und denkt, bald .primitiver', bald ,kultivierter' und .zivilisierter'" (ebd. 2); andererseits gibt sie uns einen Fingerzeig d a f ü r , daß Literatur (überhaupt Kunst) einen nahen Bezug zu den urtümlichen Schichten unserer Seele haben dürfte.

Ein zweites, bekanntes Mittel der Entautomatisierung ist die Inversion. Wenn die Wortstellung gewohnt-idiomatisch ist, wenn der erste Teil eines Syntagmas den zweiten vorwegnehmen läßt, so wird offensichtlich möglichst schnelle Kommunikation bezweckt (also eben keine erschwerte Wahrnehmung), so daß sich die geistige Arbeit ruhigen Gewissens in solchen Vorwegnahmen (und — selbstverständlich — in der synthetisierenden Sinngebung) erschöpfen darf: man gibt sich damit zufrieden, daß im Spannungsfeld maximaler Übergangswahrscheinlichkeiten der eine Begriff sich am anderen entzündet: man meint ihn leer und eilt zum nächsten weiter. Genauso nun, wie konventionelle Wortstellung auf diese Weise begriffliche Sicht begünstigt, trägt die Inversion, d. h. das Auftreten von syntaktisch nicht Vorweggenommenem, gerade zum Gegenteil, zur Dekonzeptualisierung bei: das Unerwartete will näher ins Auge gefaßt werden: da wir im voraus auf es nicht schließen konnten, wodurch rasche Erledigung vereitelt wurde, müssen wir es uns in seiner sinnlichen Fülle begegnen lassen, um es zu erkennen: das Vermittelte hat Frische und Anschaulichkeit. Eine dritte Möglichkeit, die Wahrnehmung zu entautomatisieren, bietet die Bildhaftigkeit dar. Sklovskij war der Meinung, „daß es fast überall da Verfremdung gibt, wo es ein Bild gibt" (1916a: 23) und daß diese auch hier zur Sichtbarkeit führe: „Ziel des Bildes ist nicht die Annäherung seiner Bedeutung an unser Verständnis, sondern die Herstellung einer besonderen Wahrnehmung des Gegenstandes, so daß er ,gesehen' wird, und nicht .wiedererkannt"' (ebd. 25).

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Daß dabei unter „Gegenstand" durchaus nicht nur Dingliches zu verstehen ist; wie, genau, dieses Nicht-Dingliche dank der Bildhaftigkeit im emphatischen Sinne „sichtbar" wird, soll im folgenden eingehender erörtert werden, wobei zu hoffen steht, daß diese Gedankengänge auch über die ästhetische Bedeutung der Bildersprache Erkenntnisse abwerfen werden. Als Ausgangspunkt mögen zwei Beispiele von pars pro toto dienen: eines aus Wolfram von Eschenbachs Parzival: „god holde iuch, sprach des knappen munt" („Drum schütz' Euch Gott", 50 sprach sein Mund,"-, III. Buch, 138: 27. Übers. W. Hertz. Herv. A. H.); ein anderes aus Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften: „Er wollte nicht glauben, daß die drei Antlitze, die ihn mit einemmal in der Nacht mit Zorn und Verachtung anblickten, es nur auf sein Geld abgesehen hätten . . . " (I. Buch, 7. Abschnitt. Herv. A. H.) Bei diesen Beispielen geht es nicht darum (was einem die Bezeichnung „pars pro toto" nahelegen könnte), daß durch den Teil das lebendige Ganze zur Vorstellung gebracht werde, sondern darum, daß der Teil selber Leben bekommt und in sich als Belebtes vorgestellt wird: der Mund spricht, die Antlitze blicken an. Diese Bilder entsprechen (und entstammen) dem unreflektierten sinnlichen Eindruck: was sich bewegt und daher zu leben scheint, ist in der Tat der Mund; auch können einen in der Dunkelheit Antlitze in der Tat wie verselbständigt, wie belebte, beseelte Wesen anmuten. Sie können es freilich bloß, unter der Voraussetzung nämlich, daß der sinnliche Eindruck eben unreflektiert ist, daß man sich in imaginativer Verfassung befindet. Diese Zurückhaltung der Reflexion und Vorherrschaft der Ein-bildungskraft ist nun wiederum (wie auch schon die konkret-detaillierte Beschreibung der sinnlichen Oberfläche) nicht literaturspezifisch, also ein Vorrecht des Literatur hervorbringenden und rezipierenden Menschen, sondern eine urtümliche Weise des Erlebens, die für das Kind, den Naturmenschen, für pathologische Seelenzustände und Persönlichkeiten ebenso charakteristisch ist w i e unter Umständen, so auch angesichts der Literatur - für den erwachsenen, „normalen" Kulturmenschen. Dem „Naiven" in uns erscheinen die Dinge „nicht sachlich, sondern einem inneren Ausdruck

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nach, beseelt, ,pbysiognomisch', wobei „die physiognomische Schau die eigentlich ursprüngliche Betrachtungsweise überhaupt ist" (Werner: 45). Sie tritt beim heutigen Kulturmenschen gesetzmäßig nur bei besonderen Gegenständen in Funktion: „die Menschen selbst in ihren Gesichtern und in ihren Körpern" sind uns allgemein physiognomisch gegeben (ebd.). Mit einer gewissen Regelmäßigkeit ist das physiognomische Erleben für den „ Ausdrucksmenschen" kennzeichnend: „der wahre Künstler erweist diesen Typ in besonderer Reinheit und zwingt durch sein Werk den Betrachter, in jene ursprünglichen Schichten seiner selbst hinabzusteigen und sie in sich lebendig werden zu lassen" (ebd. 47). Wenn also Münder und Antlitze als belebt, ja beseelt dargestellt werden, so ist das ein Zeichen dafür, daß hier Welt nicht aus der Sicht der Ratio erfahren, sondern aus dem „endothymen Grund" heraus erlebt wurde, d. h. aus jener Schicht der Person, welcher „die stationären Gestimmtheiten, die Antriebserlebnisse (Triebe und Strebungen) und die Anmutungserlebnisse" angehören (Lersch: 79) und in welcher das bildhafte Sehen überhaupt seine Wurzeln hat. Denn allen Bildern (nicht nur denjenigen, welche die Dinge wie etwas Lebendiges oder gar Beseeltes darstellen) liegen Anmutungserlebnisse voraus (etwas mutet mich wie etwas anderes an), und das heißt zweierlei: erstens sind sie Zeichen davon, daß Welt im emphatischengeren Sinne des Emotionalen erlebt (und nicht bloß rational erfahren) wurde: ein Bild bedeutet vorausgegangenes Erlebnis; zweitens - da der endothyme Grund, im Gegensatz zur menschheitlichuniversellen Ratio, je individuell ist - trägt jedes Bild die Spuren eines persönlich-unverwechselbaren Erlebnisses an sich: ein Bild bedeutet, daß jemand von etwas auf seine je eigene Art angemutet wurde. „Bedeutet" weist dabei nicht auf rationales Schließen hin, sondern auf das Mitgegebensein - nicht so sehr dieses einmaligen Erlebnisses (Erlebnisse werden nicht für sich nach- oder mitvollzogen), sondern vielmehr der ursprünglich erlebenden Seele, die sich in diesem Erlebnis aktualisiert hat.

Somit sind Bilder echte „Formen" im Sinne Susanne Langers, d. h., sie weisen die „Morphologie des Gefühls" auf, oder anders: sie sind

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von den objektiven Spuren der Weltinnewerdung gezeichnet; sie sind eines der Mittel, den erlebenden Menschen in die Darstellung einzubeziehen, menschliche Innerlichkeit über das Sinnliche des Bildes erlebbar zu machen. Wir kommen zu unserer ursprünglichen Problematik der Abweichung und Verfremdung zurück, wenn wir nunmehr auch die Gradunterschiede in der Originalität der Bilder beachten. Um die Sache von der Kehrseite her anzupacken: Die literarästhetische Bedeutung der diesbezüglichen Originalität läßt sich aufzeigen, indem wir uns fragen, was denn Gemeinplätzen, abgegriffenen oder gar in die langue eingegangenen Bildern wohl abgehe. Die erste Antwort lautet: Es geht ihnen das Moment der Anschaulichkeit ab. Die Angewohnheit entsinnlicht sie, genauso wie die Gegenstände der Praxis: gerade das Bildhafte verschwindet. Damit ineins aber auch - auf uns bereits bekannte Weise — das Gefühl von Leben, von einer lebendigen Seele. Zweitens: Selbst wenn das Bild seinen Glanz nicht vollständig eingebüßt hat, wenn es noch schwach als Bild erlebt wird, vermittelt es - als Gemein-platz, als Allgemeines - nicht diese konkrete Seele. Es fehlt ihm das Moment der Individualität. Hieraus erhellt, daß mit steigender Originalität der Kombination erstens die Anschaulichkeit zunimmt: über das Fremde stolpernd, fassen wir es genauer ins Auge: Verfremdung führt zur Sichtbarkeit - zunächst allerdings bloß des Bildhaft-Gegenständlichen. (Wie dieses Gegenständliche „zusammengesetzt" ist: „zu welchem Teil" aus der Vorstellung des - wenigstens in seiner Allgemeinheit bekannten - Gegenstandes und zu welchem aus jener des strikte vom Bild Evozierten; wie sich diese vermischen, übereinander lagern, sich modifizieren - dies ist eine wichtige und schwierige Frage der phänomenologischen Literaturtheorie.) Wir haben auf jeden Fall ein anschauliches, begrifflich ungekürztes Bild vor uns, und dies hat — hier wie im „Leben" - eine eigentümliche Wirkung: es affiziert. Diese Affektion durch das Bild zu begründen fiele schwer; Philipp Lersch hat immerhin eine Beschreibung dieses Angesprochen- und Ergriffen-Seins unternommen. Nach ihm ist das Bild „unmittelbar zu unserer gesamten Innerlichkeit, sein Innewerden ist immer durch-

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tönt von Gefühlen". Der Bildeindruck habe „die K r a f t zu fesseln und zu wecken, er zieht an oder stößt ab . . . Jedes Bild hat ein Gesicht, es besitzt physiognomischen Charakter und erweist sich darin als belebt; denn nur Lebendiges hat Gesicht" (405). O b die Affektion in dieser evokativen Wirkung auf- oder darüber vielmehr hinausgeht, bleibe dahingestellt; wesentlich ist, daß die Anschaulichkeit des Gegenständlichen, welche unter anderem der „Abweichung" (d. h. der Abweichung vom tradierten sprachlich-literarischen Bilderschatz, der Einmaligkeit der Kombination) zu verdanken ist, ihrerseits das anschauliche Erleben von Seelischem ermöglicht. Warum Bilder ein Gesicht haben, warum sie - je nach Anschaulichkeit lebendig werden, sich mit Inhalt erfüllen, ist eine Frage für sich; Tatsache ist, daß gerade in dieser ihrer Expressivität, in der Vermittlung einer wie immer verarmt-vereinfachten Innerlichkeit, die eine Seite der ästhetischen Bedeutung originell-innovierender Bilder liegt. Die andere, welche sich von ihrer Individualität herleitet, hängt mit der ersteren insofern zusammen, als die Individualität des gegenständlich „Gesehenen" sich auf das evozierte Seelische überträgt. Das Ästhetische scheint nun nicht einfach an der freilich näher zu bestimmenden) Inhaltsvermittlung, sondern gerade auch an der Vermittlung eines möglichst konkret-einmaligen Inhalts zu liegen. Das Bild hat aber - wie wir gesehen haben - auch die Eigentümlichkeit, eine erlebende Innerlichkeit zu vermitteln, auch wenn das, was den Dichter bildhaft anmutet, selber nicht Menschliches ist, wenn es also nicht darum geht, eine Innerlichkeit darzustellen. In dieser Beziehung liegt die Bedeutung der Individualität (und - durch sie - der Originalität) offen zutage: je überraschender (bei aller Wahrscheinlichkeit) das Bild ist, um so mehr haben wir die Illusion einer individuellen, daher konkret-einmaligen, somit wahr-scheinlich echt lebendigen Innerlichkeit. Mithin auch hier: ästhetisch bedeutsame „Seelen-Vermittlung". Originelle Bilder bieten demnach notwendig Innerlichkeit dar: auf jeden Fall erlebende, möglicherweise auch dargestellte Innerlichkeit. Ein Bild kann eine erlebende, subjektive Innerlichkeit zum

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Rezipieren darbieten, ohne eine „objektive" darzustellen (man denke etwa an Bilder der Lyrik); darzustellen vermag es indessen nicht, ohne zugleich auch die Innerlichkeit des Darstellenden (die des Autors oder die bildhaft charakterisierender Figuren) zur noch so blassen Gegebenheit zu bringen. 4.3.2.5. Kritisches zum Thema der sprachlichen Abweichung und der Verfremdung Bei dem Versuch, das Vorausgegangene kritisch zu sichten, kehren wir zunächst zum ersten, von der M F L her gesehen wichtigsten T y p der sprachlichen Abweichung zurück. Wie erinnerlich, ist diese von formalistischer Seite als konstitutives Prinzip der Literatursprache schlechthin hingestellt worden — eine Linguistisierung des Literarischen, die der Kritik nicht standhält. Selbst wenn wir die Behauptung entschärfen und sprachliche Abweichung nur für poetische Texte beanspruchen, läßt sich die These nicht aufrechterhalten: Abweichung in der Ubergangswahrscheinlichkeit oder Häufigkeit von Worten ist kein Konstitutivum poetischer Texte, sie ist keine notwendige Bedingung der Poetizität (geschweige denn der „Literarizität"). Klaus Baumgärtner weist anhand von Beispielen nach, daß „die poetische Sprache nicht eine einzige Regel des Standards verletzen müsse, um dennoch poetische Sprache zu sein" (753); er spricht gar von einer „Freiheit zum sprachlichen Standard", die die moderne Lyrik kennzeichne (757), und zitiert Beispiele von Trakl („Im Nebenzimmer spielt die Schwester eine Sonate von Schubert") sowie Brecht: „Auf der Flucht vor meinen Landleuten Bin ich nun nach Finnland gelangt. Freunde Die ich gestern nitht kannte, stellten mir ein paar Betten In saubere Zimmer."

In beiden Fällen haben wir es mit spürbarer und verhältnismäßig leicht zu lokalisierender Poetizität zu tun — ohne die geringste Abweichung von Frequenz- und Distributionsregeln. Satzimmanente sprachliche Abweichung ist indessen nicht nur in dem Sinne nicht notwendig, daß sie kein Konstitutivum literarischer

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Texte ist, sondern auch in jenem, daß sie bei der Verfolgung literarästhetischer Ziele durch andere, gleichwertige Mittel ersetzt werden kann. Wenn wir unterstellen, daß Verfremdung mit ihren (bereits bekannten und noch zu erörternden) Konsequenzen zu diesen Zielen gehört, so genügt es, auf die in 4.3.2.4. schon besprochene Verwendung sinnlicher Details zu verweisen: auch sie kann Verfremdung zur Folge haben, ohne jegliche sprachliche Abweichung. Gesetzt aber, diese wäre für das Literarische doch konstitutiv: selbst in diesem Fall wäre sie allenfalls eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung dafür. Denn linguistische Abweichung in sich kann sowohl Literarisches als auch Nicht-Literarisches hervorbringen. (Vgl. Baumgärtner: 755: „Das Kriterium der Abweichung scheidet [als spezifische Kennzeichnung der Poesie] aus, weil es für alle sprachlichen Gebrauchsweisen gleichartig funktioniert.") Folglich müßten selbst in diesem Fall zusätzliche Bedingungen vorhanden sein: Bedingungen, die nach dem Vorausgegangenen unschwer anzugeben sind: einerseits Ordnung (d. h. Abweichung im Sinne formal-horizontaler Äquivalenz, welche allerdings von gewissen formalistischen Theoretikern - wie wir gesehen haben - ebenfalls gefordert wird), andererseits Transparenz (d. h. Abweichung im Sinne der inhaltlich-vertikalen Äquivalenz oder der Inhaltsvermittlung). Abweichung vom Standard müßte also selbst in diesem hypothetischen Fall die näheren Bestimmungen aufweisen, geordnete und transparente Abweichung zu sein. Es gibt wohl eine Art der Abweichung in der Übergangswahrscheinlichkeit von einem Sprachteil zum anderen, die für das Literarische konstitutiv ist, nur findet diese nicht innerhalb des Satzes, sondern zwischen den Sätzen statt. Wenn wir von einem literarischen Satz zum anderen übergehen, so werden wir immer überrascht - vom Sinngehalt des neuen. Diese Überraschung und die ihr zugrunde liegende Abweichung haben jedoch nichts mehr mit Sprachlichem zu tun: nach Jakobson sind die Zwänge der Kohärenz, die an den Satzgrenzen allenfalls obwalten, nicht mehr linguistischer Natur (zit. Barthes 1964a: 121), ebensowenig läßt sich folglich auch die Auflehnung gegen diese Zwänge als sprachliche Abweichung beschreiben. Diese Auflehnung ist aber auch insofern a-linguistisch, als sie durch Außersprachliches bedingt ist: überraschend-inprädiktabel sind literarische Kunstwerke bei der Überschreitung der Satzgrenze dank der Neuartigkeit sowohl der entworfenen Vorstellungswelt als auch der Einsicht in das je einmalige Wesen des trotz Fiktivität immer intendierten Wirklichen. Fiktion, tiefe und artikulierte

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Einsicht weisen aber auf das Schöpferische im Künstler zurück, mithin auf Psychisches, nicht Sprachliches. Satzüberschreitende Abweichung läßt sich von ihrem Ursprung her nur mentalistisdi begründen.

Das Fazit des bisher Ausgeführten lautet somit folgendermaßen: Satzimmanente (also echt sprachliche) Abweichungen sind bloß mögliche Faktoren des Literarischen. Dabei soll mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß, wenn wir diese Möglichkeit von ihrem Sinn her begründen wollen, dies nur mit ästhetischen (letztlich metaphysischen) Begriffen bewerkstelligt werden kann. Die russischen Formalisten zogen den tautologischen Kurzschluß, daß wir einen „Sinn für die Abweichung von der Norm", für die „Differenzqualität" haben, wobei der ästhetische Genuß anscheinend daraus entspringt, daß die faktischen Abweichungen dem Bedürfnis dieses „Sinnes" entgegenkommen (Erlich: 261). Abgesehen davon, daß dies „eine rein negative Darstellung des Problems" ist (ebd. 319), und zwar sowohl des Literarischen (das sich in Anderssein erschöpfen soll) als auch des literarästhetischen Genusses (der einfach in diesem Anderssein gründen soll), - ist es ein altbewährter methodologischer Grundsatz, daß Erklärungsprinzipien nicht voreilig vervielfacht werden sollen, indem man etwa zur Erklärung einer jeden Art von Genuß ein eigenes, besonderes Bedürfnis postuliert. Sprachliche Abweichung findet ihren hinreichenden finalen Grund darin, daß sie - über die Vermittlung von Verfremdung — horizontale und vertikale Äquivalenz-Relationen bewußt werden läßt, mit anderen Worten: Formalästhetisches und Transparentes (was bloß eine andere Bezeichnung ist für das inhaltlich erfüllte Ästhetische). Der Sinn, die Funktion der sprachlichen, wie im Grunde jeder für die Rezeption relevanten literarischen Abweichung besteht darin, Ästhetisches entstehen zu lassen, wobei freilich auch bei diesem die wichtige Frage aufgeworfen werden muß, warum es genußvoll ist; nur liefert die mögliche Beantwortung dieser Frage ein finales Erklärungsprinzip für das Dasein unzähliger Modifikationen des Ästhetischen und trägt damit der immer wieder beobachtbaren Ökonomie der Natur Rechnung. Die Natur ist es nämlich, die den Menschen dies oder jenes als ästhetisch erleben läßt, denn es liegt an unserer gattungsmäßigen Beschaffenheit (etwa -

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hypothetisch - an unserer Tendenz zum Bei-uns-sein), was wir für ästhetisch halten (wohl auch, daß wir überhaupt etwas für ästhetisch halten). Hätte nun unser Genuß mehrere, wesentlich unterschiedene Gründe (in diesen „Grund" geht selbstverständlich auch die objektive Komponente des Ästhetischen ein), so hätte die Natur einem grundsätzlich gleichgearteten Erlebnis mehr statt weniger Prinzipien zugeordnet, was ihrer Ökonomie widerspräche.

Ähnlichen Vereinfachungen begegnet man bei den Versuchen, Verfremdung von ihrem Sinn her zu begründen. Weil Verfremdung Neuartigkeit impliziert (fremd kann nur wirken, was für uns in dieser oder jener Beziehung neu ist), nimmt man an, daß ihr Wert und Sinn derselbe sei wie jener der Neuartigkeit, welche ihre Ursache ist. Von diesem Sinn und Wert wird (zweitens) angenommen, daß er nur in der Informativität bestehen könne. Diese Auffassung zeigt sich im Grunde, wenn man in Sklovskij einen Vorfahren der informationstheoretischen Ästhetik erblickt (Todorov 1965: 16; Eco 1973: 123 Fn.): Sklovskijs Begriff der Verfremdung bedeute doch nichts anderes, als daß den Erwartungssystemen des Lesers nicht entsprochen wird und er daher mehr Information bekommt, als wenn das Wahrscheinliche eingetreten wäre. Dabei schwingt mit, daß die informationstheoretische Weiterentwicklung des Verfremdung-Begriffes die einzig legitime sei. Es sei nun durchaus nicht bestritten, daß Sklovskij, der - wie die anderen russischen Formalisten - „keine scharf umrissene Ästhetik besaß" (Erlich: 319), subjektiv in der Tat in der Neuartigkeit und deren Informativität den einzigen Sinn der Verfremdung erblickte (wir haben gesehen, daß sie anscheinend platterweise annahmen, die Differenzqualität sei um ihrer selbst und nicht um irgendeines tieferen Prinzips willen künstlerisch sinnvoll); dies verhindert indes nicht, im Phänomen der Verfremdung einen reicheren objektiven Sinn zu suchen und möglicherweise zu finden, als Sklovskij, dem ersten Theoretiker dieses Begriffs, präsent war. Es geht selbstverständlich nicht darum, in Zweifel zu ziehen, daß Neuartigkeit auch und gerade dank ihrer Informativität einen künstlerischen Sinn habe. Was redundant ist, erzeugt Langeweile; was langweilt, wird nicht oder nur unter ruckweiser Anstrengung der Willenskraft aufgenommen: Kunst, die nicht einmal imstande

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ist, Kommunikation einzuleiten, den Tunnel der Information durchzustechen, hat versagt, bevor sie hätte geprüft werden können. Die Bedeutung der Informativität ist also gleichsam eine präliminäre: das Erregen und Wachhalten des Interesses ist eine Vorbedingung der künstlerischen Kommunikation seitens des Kunstwerks (wie die ästhetisch-kontemplative Haltung eine ist seitens des Rezipienten). Die gleiche Bedeutung besitzt sie allerdings auch auf anderen Gebieten zwischenmenschlicher Kommunikation, so in der Rhetorik oder im alltäglichen sozialen Kontakt. Darüber hinaus hat aber die Neuartigkeit auch eine spezifischästhetische Bedeutung: sie führt - wie bereits dargetan — über die Verfremdung dazu, daß gemeinhin Unbeachtetes sichtbar wird: sie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Form - hier in ihrer Doppelbedeutung von ,Äußerem' und Relationalem'. (Was genau am Gegenstand und an der enger verstandenen Form zu „sehen" gibt, wird in 4.3.3. anzugeben sein. Bereits jetzt dürfte allerdings klar sein, daß Striedter [ X X I I I ] unrecht hat, wenn er meint, nur die Verfremdung der Form, nicht aber die der Dinge habe einen ästhetischen Aspekt.) Die zweite Vereinfachung (neben der Reduktion des Neuartigen auf das Informative) besteht darin, den Sinn der Verfremdung mit dem der Neuartigkeit ineins zu setzen. Um zum vorher bereits berührten Beispiel der Illusionsstörung zurückzukehren: seit Brecht ist es kulturelles Gemeingut, daß eine besondere Form der Verfremdung (für ihn die Verfremdung schlechthin) gerade in der Illusionsstörung, im Thematisieren der Künstlichkeit der Kunst besteht; sein Beispiel zeigt aber zugleich, daß die „Motivierung" auch um anderer Zwecke willen zerstört werden kann, als um „die Konstruktion bloßzulegen" (Ejchenbaum 1965: 30), also Form bzw. Formung sichtbar zu machen. Er „pedalisiert" bloß die Künstlichkeit, freilich eben nicht aus (möglichen) ästhetischen Gründen, sondern um eine ernüchtert-rationale Betrachtungsweise hervorzurufen, die letztlich einer besseren, humaneren Praxis dienen soll. Die gleiche Betonung der Künstlichkeit und die daraus resultierende Verfremdung können aber - das wurde bereits in 4.3.2.3. kurz

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berührt — noch weitere Funktionen haben, die sich ebenfalls von jener der Informativität und des Sichtbar-Machens abheben. Sie können einen rein komischen Effekt bezwecken (das absurde Drama ist u. a. gerade wegen der ständigen Illusionsstörung absurd und daher - zumal Illusionsstörung keine Lebensstörung, nichts „Gefährliches" ist - zugleich auch komisch). Diese komische Wirkung dürfte darauf beruhen, daß etwas, was im Spiegel der Illusion Freies, weil selbständig Existentes, von sich aus Seiendes, „Natürliches" zu sein schien, plötzlich als Unfreies, von des Künstlers Gnaden Existierendes, Künstliches entlarvt wird. In der Romantik wird dieser Effekt auch aus dem zusätzlichen Motiv erstrebt, die Freiheit des Künstlers erleben zu lassen, welche sich gerade in dieser ironischen Handhabung der Kunstgestalten bekundet: was sich vorhin zum Sein gespreizt hat, sinkt auf den Machtsprudi des Künstlers hin zu Nichtigkeit zusammen. Mithin auch hier: Verfremdung, die weder sichtbar machen noch nur „interessant" sein will. 4.3.3. Das Literarische als Reflexivität

und

Aktualisieren

Es war in 4.3.2. unvermeidlich, über das eigentliche Thema gelegentlidi hinauszugehen: die Logik der Darstellung machte es unmöglich, nur über Abweichung und Verfremdung, nicht aber über die nächste Etappe des Rezeptionsvorgangs, über die Sichtbarkeit zu reden. Dieses Moment verdient indessen eine gesonderte (wenn auch — dank der Vorbereitung — in mancher Hinsicht geraffte) Behandlung: nicht nur wegen seiner Komplexität, sondern auch aus dem Grunde, weil es von der MFL sogar in zweierlei Beziehung als für das Literarische konstitutiv angesehen wird. In zweierlei Beziehung darum, weil - wie es die Überschrift dieses Abschnittes bereits antönt - das Moment der Sichtbarkeit sich bei näherem Zusehen in zwei Submomente spaltet: die ansichseiende Abweichung zieht unsere Aufmerksamkeit - über die Vermittlung des Verfremdungseffekts - auf sich, was das Submoment der Reflexivität ausmacht, und erst dann kann es zum zweiten Submoment, zur eigentlichen Sichtbarkeit, zum „Aktualisieren" kommen.

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Jenes Abweichende, welches sich solcherart gleichsam reflexiv verhält, ist zunächst (und für die MFL primär) die Sprache: die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken ist nach ihr eine der möglichen Funktionen oder mittelhaften Tätigkeiten, welche die Sprache ausübt. (Man beachte die latente Personifizierung im Begriff der Reil exivität: die Sprache wird so hingestellt, wie wenn sie selber eine Tätigkeit ausüben, eben sich selbst intendieren würde, wobei es doch allemal der Mensch ist, der sie so verwendet, daß sie Aufmerksamkeit erregt. Falls man dieser Unterstellung eingedenk ist, steht freilich dem Gebrauch des Wortes „Reflexivität" nichts im Wege.) Jakobson unterscheidet sechs Funktionen der Sprache, von denen er die reflexive wie folgt bestimmt: „Die Einstellung auf die Nachricht als solche, die Zentrierung auf die Nachricht um ihrer selbst willen, ist die poetische Funktion der Spradie" (1960: 521). Etwa vierzig Jahre zuvor sprach er von einer allgemeineren, ästhetischen Funktion, als er Poesie als „Sprache in ihrer ästhetischen Funktion" definierte; daß aber mit der letzteren in der Tat nichts anderes als eine Verallgemeinerung der poetischen Funktion gemeint war, zeigt sich in der näheren Bestimmung von dazumal, Poesie sei „Äußerung mit Ausrichtung auf den Ausdruck" (1921: 31). Die (auf jede Kunstart anwendbare) ästhetische Funktion explizierte später Mukarovsky als „Konzentration... auf das Zeichen selbst" (1967:48). Selbst innerhalb des modernen Formalismus gibt es verschieden strenge Fassungen dieser Reflexivitäts-These. Für die frühen russischen Formalisten ging es um die „Betonung des Mediums", um die „Wahrnehmbarkeit der Ausdrucksweisen" (Erlich: 202), wobei unter dem Medium das rein Sinnliche am Wort, das Lautmaterial, verstanden wurde (Holenstein: 89): dieses sollte sich in den Vordergrund drängen. Demgegenüber vertrat Jakobson zuweilen eine ausgewogenere Auffassung, indem er unter der „Rüdewendung der sprachlichen Aktivität zu sich selbst" (Mukarovsky 1967:51) nicht bloß einen Selbstbezug des Lautmaterials, sondern des ganzen Zeichens verstand, zu dem ja nicht nur das signans, sondern auch das signatum gehört, also die (ideelle) Bedeutung, die vom außersprachlichen Objekt, dem

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Referenten, scharf zu trennen ist. Reflexivität bedeutet lediglich den Ausschluß des dinglichen Bezuges und der Wahrheitsfunktion der dichterischen Aussagen (Holenstein: 90), „nicht die Loslösung von der Bedeutung, sondern die Autonomie gegenüber dem Bezugsgegenstand" (Erlich: 205). Die literarische Bedeutung der Bedeutung wird demgegenüber durchaus anerkannt: einerseits ist der Inhalt, die semantische Komponente „ein Teil der Struktur des Gedichtes" (Holenstein: ebd.), andererseits ist die Reflexivität gerade eine Eigenschaft des Inhalts, der Bedeutung: diese enthält das ganze Zeichen selbst. (Vgl. Philip Wheelwright: Das ästhetische Zeichen ist „semantisch reflexiv . . . in dem Sinne, daß es ein Teil dessen ist, was es bezeichnet" [zit. Eco 1973: 80Fn.].)Reflexivität ist nun nicht nur in diesem streng-dialektischen Sinn zu nehmen (der Inhalt ist zugleich Bezeichnendes und [mit-] Bezeichnetes), sondern auch weniger paradox: das ästhetische Zeichen weist auch auf andere Zeichen im gleichen Werk hin, sowie auf die Beziehungen, die zwischen ihnen und ihm selber obwalten (Jakobson 1970: 105). Von daher wird Jakobsons Diktum („Der Inhalt ist ein Teil der Form, gerade wie die Form ein Teil des Inhaltes ist" [Holenstein: 90]) verständlich: Der Inhalt ist - wie vorhin gerade erwähnt - Teil der Form im Sinne des Beziehungsgeflechtes oder der Struktur; andererseits bedeuten die Zeichen ihre und der anderen sinnliche Seite (Form als Äußeres) sowie ihrer aller Beziehung (Form als Relation). Eine weitere Verfeinerung der Reflexivitäts-These besteht darin, daß nach Jakobson das LKW nicht auf die poetische Funktion zu reduzieren ist: „Die poetische Funktion ist nicht die einzige Funktion der Wortkunst, sondern nur ihre dominante, determinierende Funktion" (1960: 521); neben ihr spielen auch die emotiv-expressive und die referentielle, gegenstandsbezogene Funktion eine (wiewohl untergeordnete) Rolle (1973: 147 f.). Damit kommt-trotz Reflexivität - auch der dingliche Bezug, die „nach außen gewandte Semiose" zu ihrem (relativen) Recht (Jakobson 1970:106; Holenstein: 93). Uber diese letzte, liberalste Fassung der Reflexivität bzw. die trotz Reflexivität bestehende „Transitivität" des LKW wird im nächsten Abschnitt zu sprechen sein. Vorderhand möchte ich mich

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nur mit den beiden anderen Fassungen beschäftigen: mit der Reflexivität als Ausrichtung auf die Form und als Ausrichtung auf das Zeichen (hier als Einheit von Bezeichnendem und Bezeichnetem gefaßt). Der Auffassung, wonach das LKW Reflexivität aufweise, daß in ihm die Spradie auf ihre eigenen Abweichungen aufmerksam mache, oder allgemeiner: daß in ihm die Form bzw. die Formung (als — möglicherweise abweichende - Relation bzw. Relationierung) uns zu sich zurückbiege, - dieser Auffassung ist entgegenzuhalten, daß die hier gemeinte Art von Reflexivität keine hinreichende Bedingung des Literarischen ist. Sie begleitet - in der Form ihres subjektiven Reflexes, d. h. unserer Hinwendung zur Form bzw. Formung — ohne Zweifel jegliches Kunsterlebnis, aber nur in dialektischer Einheit mit ihrer Gegenspielerin, der Illusion oder dem illusiven Glauben, der eben nicht bei der Form und implizite bei dem Geformt-Sein, bei der Künstlichkeit ist, sondern bei dem Inhalt, bei der dargestellten und/oder dargebotenen Innerlichkeit, in die wir uns selbst- und formvergessen versenken und zu der wir selbst in „abstrakten" Künsten wie der Musik und der Architektur - wenn auch noch so schwach — objektive Existenz „hinzuempfinden". (Siehe dazu Horn 1969 a: 25 f., 73 f.). Die Beteiligung der bewußten Rückwendung zur Form am Kunsterlebnis variiert je nach Kunstform, konkreter Struktur, Alter und Menschentyp: mag sie noch so unbedeutend sein, sie fehlt beim erwachsenen Kulturmenschen doch nie völlig; mag sie indessen noch so groß sein, so bedeutet dies gleichwohl nicht, daß unsere Aufmerksamkeit ständig und mechanisch auf die Form gerichtet wäre. Die Betonung der also verstandenen Reflexivität seitens der MFL mag mit dadurch begründet sein, daß die moderne Kunst vielfach eine Kunst über die Kunst ist (Eco 1972c: 129 f., 132 f., 140, 284): Filme über Filme, Romane über Romane mögen erklären, wenn auch nicht entschuldigen, wenn ins „Pedalisieren" der Form das Wesentliche des Literarisdien gelegt wird.

Todorov schließt sich der zweiten, Jakobsonschen Version der Reflexivitäts-These an: er definiert „Literalität" als „die Fähigkeit des Zeidiens, an sich selbst und nicht als ein Verweis auf etwas ande-

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res erfaßt zu werden" (1973:115). In dieser Fassung ist Reflexivität wohl konstitutiv für das Literarische, allerdings kann sie in sich das Literarische nicht ausmachen, denn sie ist für das Künstlerische überhaupt charakteristisch (auch dafür stellt sie nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung dar): es fehlt ihr also gerade das Spezifische (aber auch weitere künstlerisch notwendige Momente). Doch selbst zur schwächeren Behauptung, Reflexivität in diesem weiteren Sinne sei eines der notwendigen Momente, die das Literarische konstituieren, sind zwei Bemerkungen zu machen. Die erste ist die, daß durch die liberalere Fassung der Reflexivität die formalistische Theorie das Gebiet der Sprache unversehens verläßt, so daß man nicht mehr bloß von der Reflexivität der literarischen Sprache reden kann. Ausrichtung auf Zeichen und Zeichenrelation, wenn dabei Zeichen als Bezeichnendes und Bezeichnetes gefaßt wird, bedeutet nämlich im Grunde Ausrichtung auf das Kunstwerk als Ganzes und nicht nur auf dessen sprachliche Komponente. Denn Bezeichnetes meint nicht nur die Bedeutung der verwendeten Einzelwörter, sondern auch das „bedeutete" Seelische; und woraus sonst sollte das Kunstwerk bestehen, wenn nicht aus Sinnlichem, Geistigem und Beziehung? Genau diese Folgerung zieht implizite auch Posner, wenn er schreibt: „Das Kunstwerk . . . weist — zumindest solange es als Kunstwerk betrachtet wird - auf sich selbst zurück" (601). Es kann also auch anders betrachtet werden, nämlich als „so etwas", als bloß begrifflich Bestimmtes: als Mittel meiner praktischen oder theoretischen Tätigkeit (etwa als Werkzeug der Weltveränderung oder als empirisches Datum literaturwissenschaftlicher Theoriebildung). D a ß es als Kunstwerk eben nicht so betrachtet wird, sondern daß unsere Intention in ihm vielmehr zur Ruhe kommt, nicht durch es hindurch bei etwas anderem ankommen will, - diese Erkenntnis ist allerdings - dies unsere zweite Bemerkung - nicht neu. Kant z. B. sah (nicht einmal als erster) das Spezifische des ästhetischen Wohlgefallens unter anderem in der „Interesselosigkeit", worunter er gerade dies verstand, daß der schöne Gegenstand nicht als etwas gefällt: als „so etwas" und daher Angenehmes, als „so etwas"

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und daher Gutes: „kein Interesse, weder das der Sinne noch das der Vernunft, zwingt den Beifall ab" (Kritik der Urteilskraft, § 5). Und von der anderen Seite her: „Wenn man Objekte bloß nach Begriffen beurteilt, so geht alle Vorstellung der Schönheit verloren" (ebd. § 8). Mit der These von der Interesselosigkeit wird im Grunde die relative Autonomie des Kunstwerks behauptet, sein (relatives) Herausgelöstsein aus den praktischen Bezügen: die Tatsache, daß es primär und seinem Beruf nach nicht Mittel, sondern Selbstzweck ist. Der Reflexivität des Kunstwerks als Ganzem entspricht unsererseits ein Haltmachen bei ihm, die Intransitivität unserer Intention: „Ästhetische Erfahrung ist die Erfahrung einer . . . intransitiven Betrachtung eines Gegenstandes, der durch seine Gestaltung Aufmerksamkeit erregt und an sich fesselt" (Vivas: 103, auch 107,117). Da eine solche abweichende Gestaltung kein Privileg des sinnlichen Äußeren (im Falle des L K W : des Lautlichen an der Sprache) ist, sondern sie ebensosehr der vermittelten Bedeutung (dem sinnhaft vorgestellten „Äußeren", d. h. der dargestellten Sache, oder dem „eingefühlten" Inneren, d. h. der dargestellten Innerlichkeit) zukommen kann, wobei sie - wie wir gesehen haben - durchaus nicht immer von einer ebenfalls abweichenden sprachlichen Form „begleitet" bzw. vermittelt werden muß, - kann die Reflexivität des Kunstwerks als Ganzes an gewissen Punkten seiner konkreten Struktur auf die Reflexivität des Inhalts reduziert sein (unter temporärer „Ausschaltung", d. h. Nicht-Beachtung der Form): „die ästhetische Funktion kann sich nur auf die dargestellten Inhalte beziehen" (Horälek: 21). Doch die Reflexivität, ob als Ausrichtung auf das sinnlich Äußere, das signans, oder als Ausrichtung auf das Zeichen als Ganzes, das heißt auf das Kunstwerk, kann schon darum nicht das Literarische ausmachen, weil sie nicht das letztlich Angestrebte sein kann, ist es doch nicht ersichtlich, welchen ästhetischen Wert die Reflexivität für sich besäße. Diese Argumentation beruht auf dem Axiom: Kunst ist da, um — zumindest - ästhetisch zu wirken. Hieraus folgt nämlich: Wenn etwas für sich genommen nicht ästhetisch wirkt bzw. wenn für seine

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Ästhetizität kein plausibler Grund angeführt werden kann und es dabei doch für eine Kunstart oder die Kunst schlechthin konstitutiv ist, so kann es nur mittelhaft sein, es kann seine Begründung - statt sie in sich zu tragen - nur von einem außer ihm liegenden Zweck empfangen, folglich nur eines der notwendigen Momente im fraglichen Begriff (hier: im Begriff des Literarischen) sein. Dieser transzendente Sinn liegt zunächst - wir wissen es bereits im nächsten Moment des rezeptionspsychologischen Vorganges: in der entautomatisierten Sicht oder - wie Mukarovsky sie nannte im Aktualisieren: „Die Funktion der poetischen Sprache besteht im höchstmöglichen Aktualisieren der Rede. Aktualisierung ist das Gegenteil von Automatisierung, d. h., sie bedeutet die Entautomatisierung eines Aktes; je mehr ein Akt automatisiert ist, um so weniger bewußt wird er vollzogen; je mehr er aktualisiert ist, um so vollständigerwird er bewußt" (1932:19). „Aktuell", in allen seinen an sich wahrnehmbaren Momenten dem Bewußtsein gegenwärtig, auf uns „agierend" können allerdings nicht nur Akte sein (im alltäglichen Sinne von ,Tätigkeit'), sondern auch Dinglichkeiten: Mukarovsky selbst erwähnt das Beispiel der lebendigen, poetischen Metapher (im Gegensatz zur „lexikalisierten", die automatisiert ist) (ebd. 10). Hier wird offenkundig nicht nur der Gebrauch, die sprachlich-dichterische Tätigkeit voll bewußt, sondern auch ihr Produkt, worunter nicht bloß die an diesem Punkt möglicherweise abweichende parole zu verstehen ist, sondern auch und vor allem das dank der neuartigen Metapher in voller Frische vor uns erstehende „Bild" der dargestellten Sache oder Innerlichkeit. Auch hier, im Zusammenhang mit der entautomatisierten Sicht, gilt es, darauf hinzuweisen, daß „Aktualisieren" (oder wie auch diese Erscheinung noch vor Mukarovsky - von Sklovskij vor allem benannt worden sein mag) ebensosehr ein bloß neuer Name für ein lange bekanntes und beschriebenes Phänomen ist wie „Reflexivität" (im weiteren Sinn) für die Tatsache, daß das Kunstwerk Selbstzweck ist. In der Interpretation Heinrich Barths (hierüber war in 1.3.2. die Rede) ist bereits Kants Begriff des „freien Spiels" der Erkenntnisvermögen, der Ubereinstimmung von Verstand und Einbildungs-

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kraft, welche für das Entstehen des Ästhetischen wesensmäßig sein soll, gerade darin begründet, „daß in der ästhetischen Erfahrung . . . der Begriff vor der Anschauung nicht im Vorsprung ist, in dem Sinne, daß die Anschauung von dem ihr vorgegebenen Begriffe ihr Gepräge empfangen würde" (1959: 478). Für Barth selber besteht ästhetische Erfahrung darin, „daß sie sich Erscheinung in ihrer Integrität erscheinen läßt" (1956: 73). Hier geht es natürlich nicht darum, die Gültigkeit dieser Bestimmung zu untersuchen (dazu siehe Horn 1969a: 8 0 - 8 5 ) , sondern lediglich um die Freilegung der Wurzeln, welche die M F L in dieser Beziehung mit der traditionellen Ästhetik verbinden.

Ermöglicht wird diese integrale Schau durch die bereits analysierte interesselose, rein kontemplative Haltung. Denn „Interesse", begriffliche Sicht bewirkt gerade automatisiertes, flüchtiges, verarmtes Erleben: nur das „freie Spiel", die „Gleichberechtigung" von Begriff und Anschauung (nicht aber die Vorherrschaft des Begriffs) gewährleistet die Integrität der Erscheinung. Diese interesselose Haltung mag zwar durch Abweichung und dadurch verursachte Verfremdung induziert sein, kann sich aber auch ohne sie, rein auf Grund eines Willensaktes einstellen. Was die erste Möglichkeit betrifft, so gilt: Ästhetisches hat provokativen Charakter. Durch seine Abweichungen provoziert es die interesselose Haltung. NichtÄsthetisches verdankt demgegenüber nur einem besonderen, in Stimmung und Veranlagung gründenden Willensakt, daß wir ihm unsere volle, begrifflich nicht verkürzte Aufmerksamkeit schenken und es interesselos betrachten. In der Praxis handelt es sich freilich meistens um eine Dialektik von Hinwendung und Provokation: ich gehe ins Konzert, ins Museum, nehme ein Buch in die Hand, denn ich will mich affizieren lassen. Insofern aber integrale Erscheinung nur durch Interesselosigkeit ermöglicht wird, läßt sie sich von ihrem Ursprung her nur mentalistisch begründen. Doch die Suche nach dem Sinn findet bloß vorübergehend Ruhe im Phänomen des Aktualisierens. Denn auch dieses läßt sich final nur begründen, indem man zu etwas übergeht, was außerhalb seiner

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Das LKW als Sprachliches

liegt: zum Ästhetischen. Um dort anzulangen, müssen wir uns die Frage stellen, was denn eigentlich in der integralen Erscheinung erscheint. Die Antwort darauf ist zwiefach: es erscheint Form im Sinne des sinnlich-sinnhaft Gegebenen und Form im Sinne der Beziehung. Bei beiden müssen wir wiederum je zwei Momente unterscheiden. Das sinnlich-sinnhaft Gegebene (ob sinnlich wahrgenommene Lautgestalt oder sinnhaft vorgestelltes „Äußeres") ist in einem vom Alltäglichen abweichenden Maß anschaulich, wodurch die Frische und die Unversehrtheit des originär-naiven Sinneserlebnisses wiederhergestellt werden. Diese Sinnesfreude, die vornehmlich dem modernen Menschen wegen fortschreitender Rationalisierung und Umweltverödung immer mehr abhanden kommt (und für deren Bedeutung Sklovskij anscheinend besonders empfänglich war), scheint nun ein primär-unableitbares Moment der ästhetischen Erfahrung, eine möglicherweise anthropologisch und/oder physio-psychologisch begründbare Funktion des Ästhetischen zu sein. Form als sinnlich-sinnhaft Gegebenes weist, zweitens, im abweichenden Maße Individualität auf, was — wie wir oben sahen der Form zur Transparenz verhilft, zu etwas demnach, was für das Ästhetische konstitutiv ist. Bereits Aristoteles forderte den Gebrauch „fremdartiger Worte" (Poetik 22), denen - in der Form von „Dialektismen, Barbarismen, Neologismen und Archaismen" - nach Stender-Petersen gerade deswegen „eine erweiterte oder vertiefte Ausdrucksfähigkeit" zukommt, weil sie „im Gegensatz zu dem automatisierten oder mechanisierten Wortschatz der nicht-literarischen Sprache" stehen (836).

Diese Transparenz oder vertikale Äquivalenz ist eine Eigenschaft, die der normalen Rede gewöhnlich abgeht, also auch in sich abweichend ist; als ansichseiende Abweichung führt sie zur Verfremdung, Reflexivität und Aktualisierung: hierin wird sie für uns. Form als Beziehung wird wiederum in zwei verschiedenen Modifikationen „sichtbar": als Gestalt und als Verfahren. Als Gestalt „zeigt" sie horizontale Äquivalenz oder kurz: Formalästhetisches. Auch hier gilt mutatis mutandis das bei der Transparenz Gesagte: die ansichseiende horizontale Äquivalenz wirkt als

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Abweichendes verfremdend; dies biegt die Aufmerksamkeit reflexiv zu ihr zurück; integrale Schau wird - wenn nicht bereits vorhanden - induziert; das Ansich wird zum Füruns: die horizontale Äquivalenz wird uns bewußt. Hier mag der Ort sein, den Zusammenhang zwischen dem Äquivalenz-Prinzip und dem Reflexivitäts-Prinzip Jakobsons aufzuzeigen. Zwar kann es Reflexivität auch unabhängig von Äquivalenz geben, aber es besteht auch die Möglichkeit, daß die Äquivalenz die Konzentration auf das sprachliche Medium überhaupt erst bewirkt, „um sich zu zeigen". (Zu diesem Zusammenhang als Problem siehe Baumgärtner: 753.)

Schließlich zeigt sich die Form als Beziehung auch als Beziehen, als Formung, als Verfahren. Dies findet seinen Sinn wiederum in zweierlei. Einerseits wird uns angesichts besonders meisterhafter Formung das Können, die „Kunst" des Künstlers bewußt, was uns zwar keinen streng genommen ästhetischen Genuß verursacht, sondern „bloß" Achtung einflößt, gleichwohl notwendiger Bestandteil jegliches reflektierten Kunsterlebnisses ist. (Siehe dazu Horn 1969a: 75 f. Daß sich dieses Können manchmal gerade im Verstecken des Kunstmittels zeigt, wurde in 4.3.2.3. bereits erwähnt.) Andererseits bringt uns die Reflexion auf die Formung zugleich auch das Geformt-Sein, die Künstlichkeit des Kunstwerks ins Bewußtsein, was als ständiges Korrektiv gegen das absolute Uberhandnehmen der Illusion vonnöten ist: in dem Maße, als uns der „Rahmen" selbst aus dem Vorbewußtsein entschwindet, neigen wir dazu, das Kunstwerk eben nicht als aus dem praktischen Kontext herausgelöst zu betrachten, uns folglich ihm gegenüber „praktisch" zu verhalten und das heißt: den Blick für das Ganze der Erscheinung zu verlieren. Die Bewußtwerdung, die Thematisierung der Künstlichkeit hat also (zumindest) diesen ästhetischen Sinn, daß sie die integrale Schau, aus deren Schoß sie hervorgegangen ist, ihrerseits rückwendend nährt und stärkt. Selbstverständlich ist die Kunst nicht ausschließlich auf besondere Verfahren angewiesen, um uns ihre Künstlichkeit bewußt zu machen. Der „Rahmen", die verschiedenen konventionellen Mittel der Abgrenzung gegenüber der „Natur" (wie Bühne, typographische Aufmachung, Sockel usw.) sind von vornherein, vor jeglichem Aktualisieren da (sie bilden ja gerade eine der Bedingungen seiner Möglichkeit), aber wir haben eben die Neigung, sie „aus den Augen zu verlieren."

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Das LKW als Sprachliches

Im Gegensatz zu den ersten drei Momenten des zum „Sehen" Dargebotenen (zur Anschaulichkeit, Individualität und Gestalt) ist dem Verfahren allerdings dies eigen, daß es sidi bei seiner Bewußtwerdung streng genommen nicht um integrales Schauen, ja überhaupt nicht um ein Schauen handelt (denn phänomenal ist das Verfahren nur als deformiertes Material da), sondern lediglich um Schlüsse, die dann bestimmte Gefühle auslösen. Doch es gilt, dabei ein Zweifaches zu bedenken. Erstens gründen diese Schlüsse - wenn wir Können registrieren - in anschaulich Erlebtem; zweitens läßt uns nur unsere Bereitschaft, integral zu erleben, auf die Bedingungen des Erlebten einzugehen (auf das Können also) bzw. auf das Spiel mit dem ontologischen Status der Kunst, auf jenes Schweben zwischen „vermeintem" Sein und trotzdem gemeintem Schein, das in der klaren Bewußtwerdung der Künstlichkeit gelegentlich zu momentanem Halt kommt. Das Verfahren ist aber den anderen drei Momenten gegenüber nicht nur insofern eine besondere Kategorie, als es nicht anschaulich bewußt wird, sondern auch insofern, als es bei ihm nicht auf Abweichung, sondern auf die Bewußtwerdung überhaupt ankommt. Künstlerische Verfahren können uns mit Respekt vor der Kunst des betreffenden Künstlers erfüllen, auch wenn sie nicht neu sind (vorausgesetzt, daß sie überhaupt bewußt werden, wofür indessen Abweichung keine unerläßliche Bedingung darstellt: hohe Ästhetizität als Gegenstand des platonischen „Staunens" ist Grund genug, ihrer Ursache nachzugehen). Dies mag dadurch bedingt sein, daß die Verfahren der Kunst gewöhnlich keine Tricks sind, die - einmal durchschaut - für uns keine „Kunststücke" mehr sind, sondern Modifikationen des grundlegenden künstlerischen „Verfahrens", das sich immer gleich bleibt (ohne zweimal zu den gleichen Resultaten zu führen): nämlich ein Herausstellen von Seelischem in transparente, geformte Sinnlichkeit, und das doch nicht aufhört, uns in Erstaunen zu versetzen, da sein streng genommenes Wie (einstweilen?) nicht zu enträtseln ist. Wenn es sich aber bereits bei dem Können so verhält, so kommt es bei der Künstlichkeit erst recht nur auf die Tatsache des Bewußt-

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werdens an: wesentlich ist der Rahmeneffekt als solcher, ungeachtet dessen, wie neuartig oder konventionell der Rahmen selber ist. Zusammenfassend können wir festhalten, daß Reflexivität und Aktualisieren von ihrem Sinn her nur ästhetisch begründbar sind. 4.3.4. Das Literarische als

Erkenntnisquelle

Paradoxerweise ist es möglich, die intransitiv gewonnene Integrität transitiv zu „verwerten", indem man das LKW als Mittel der Erkenntnis „gebraucht", wobei es wohlgemerkt um die Erkenntnis des Referenten, des Bezugsgegenstands, der „Welt" geht. Der Widerspruch zwischen Intransitivität und Transitivität, Immanenz und Transzendenz löst sich auf, wenn es gelingt, das Kunstwerk nicht von vornherein als Pforte der Erkenntnis anzusehen, als Durchgang, durch den man - dessen einmalige Beschaffenheit mißachtend - im Bann des eigentlich Intendierten einfach hindurchblickt, — wenn also die integrale Schau trotz der letzthinnigen Erkenntnis-Absicht und vor deren Realisierung Wirklichkeit werden darf. Es soll indessen jetzt schon betont werden, daß dies zwar eine reale Möglichkeit ist, aber nur eine Möglichkeit und keine Notwendigkeit: die Begegnung mit Kunstwerken ist möglich ohne Transitivität, nicht aber ohne (wenn auch bloß vorübergehende) Intransivität. 4.3.4.1. „New Criticism": Erkenntnis des Konkreten Die Gefahr begrifflicher Einengung ist offenkundig gering dort, wo die Erkenntnis eben nicht auf das Begriffliche, Allgemeine geht. Wir haben gesehen, daß bereits für Sklovskij eines der wesentlichen Objekte der Verfremdung und - in deren Folge - der Sichtbarmachung gerade das Dargestellte war, der „Gegenstand", dessen Wahrnehmung in der außerliterarischen Welt wegen der bloß begrifflichen Sicht verarmt ist und dessen Erscheinungsfülle erst in und dank der Literatur wiederhergestellt wird. Freilich geht es für Sklovskij vermutlich nicht darum, konkrete Einzelgegenstände „fühlbar" zu machen, sondern darum, uns wieder erleben zu lassen, wie sich diese Art von Gegenstand (etwa ein „nackter, voller Arm" [1916a: 25]) in der Wirklichkeit „anfühlt". Das Konkrete als Be-

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Das L K W als Spradilidies

deutung, als Innerliterarisches führt uns über zu seinem Besonderen als Referenten: zum Außerliterarischen. Dabei ist das Gewicht unverkennbar, das Sklovskij, dem ansonsten gerade die Autonomie des Kunstwerks am Herzen liegt, in dieser Beziehung der wiedergewonnenen integralen Sicht des Wirklichen beimißt - ob „bloß" wegen der damit verbundenen ästhetisch getönten Sinnesfreude oder auch aus „erotischem" Interesse am Wirklichen als solchen, mithin aus Erkenntnisdrang: dies ist nicht auszumachen. Aber selbst wenn letzteres der Fall ist, so bedeutet dies bei ihm alles andere als eine Verkürzung der ästhetischen Erscheinung. Ähnlich verhält es sich bei den „New Critics", mit dem Unterschied, daß diese das Literarische an der Literatur - trotz ihrer sonstigen Präokkupiertheit mit dem Text — ausdrücklich darin erblickten, daß sie Erkenntnis ermögliche. Im folgenden seien die wesentlichen Punkte ihrer diesbezüglichen Ideen - vornehmlich auf Grund des von Halfmann zusammengetragenen Materials - kurz referiert. 1. Es ist die dichterische Sprache, die den spezifischen Erkenntnisbezug der Dichtung ermöglicht (dabei ist zu beachten, daß in der Terminologie der „New Critics" „poetic" und „poem" für das Literarische bzw. das L K W stehen): dadurch, daß sie nicht nur denotiert, sondern auch Konnotationen mitschwingen läßt, ersteht Konkretes vor uns (Halfmann: 3 9 , 4 6 , 92). 2. Das Konkrete hat das Allgemeine aufgehoben in sich, geht aber darüber hinaus: es enthält Partikuläres, das allerdings nidit nur Partikularisierung des Allgemeinen ist (Ransom 1954: 557), sondern auch anderwertige Bestimmungen aufweist (Ransom 1963: 110f.): formalästhetische - so könnten wir in Ransoms Sinn hinzufügen und lebensnah-zufällige. Dank dieser Partikularisierung hat das Dargestellte eine „charakteristische Körperhaftigkeit", „ontologische Dichte": es gibt uns „das Gefühl wirklicher Objekte", es mutet uns - wie Ransom mit einem deutschen Wort sagt — „dinglich" an (zit. Halfmann: 92, 52). Man fühlt sidi hier wiederum an Hopkins' Begriff der „inscape" erinnert: worauf es der Dichtung ankommt, ist die Individualität oder - in der Terminolo-

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gie des von Hopkins hochgeschätzten Duns Scotus - die haecceitas oder „Diesheit" bzw. deren sinnfällige Erscheinung. (Siehe hierzu Peters: 2 2 - 2 4 . )

Vielleicht soll uns dieses Erlebnis des Konkreten nicht einmal in dem Sinne Erkenntnis bescheren, den wir bei Sklovskij vermuteten: es geht möglicherweise nicht darum, uns eine bestimmte Art von Gegenstand nahezubringen, sondern um die Erkenntnis der Partikularität, der Partikularisiertheit der Welt als solcher: wir sollen erleben und folglich erkennen, wie die Welt wäre oder vielmehr: uns erschiene, wenn wir — indem wir durch sie gehen - an ihr nicht auch vorbeigingen. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte in einem diese kognitive Theorie des Literarischen Erinnerungen an Benedetto Croce wachrufen, war doch dieser der Meinung, die Erkenntnis des Individuellen oder die Intuition (die er vom Ausdruck nicht getrennt wissen wollte) sei das Wesentliche an der Kunst überhaupt (3, 10, 14 et passim). Doch einerseits ging es Croce eindeutig um die Erkenntnis des Individuellen, nicht der Individuiertheit, andererseits ist sein Gebrauch des Wortes „Erkenntnis" fragwürdig: wenn die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Nicht-Wirklichkeit für die Intuition äußerlich ist (5), wenn also irgendein „fiktiv"-ersdiaffener, schöpferisch entworfener Innerlichkeitsinhalt Gegenstand des intuitiven Ausdrucks oder der expressiven Intuition sein kann und dabei diese (als Intuition) gleichwohl Erkenntnis sein soll, so verliert das Wort „Erkenntnis" seinen wirklichkeitsbezogenen, auch vom „New Criticism" gemeinten Sinn.

3. Zur Beschreibung dieser, Begriff und Anschauung synthetisierenden, spezifische Erkenntnis vermittelnden Erscheinung bedienen sich die „New Critics" verschiedener Ausdrücke. Ransom verwendet „Struktur" für das Denotierte, Logisch-Prosaische, und „Textur" für das Konnotierte, Anschauliche, eigentlich Dichterische (Halfmann: 4 6 - 5 3 ) . Hierzu eine Zwisdienfrage: Ist das Denotierte der Literatur nur LogischBegriffliches? Und umgekehrt: Ist das Anschauliche nur Konnotiertes? Es scheint, daß gerade die bereits besprochene Sichtbarmachung mit Hilfe sinnlicher Details auch mit Denotation auskommen kann und gleichwohl Anschaulichkeit bewirkt. Denotation und Konnotation sind zwar den Korrelaten Begriff und Anschauung, Allgemeines und Konkretes weitgehend zugeordnet, aber wohl nicht eindeutig.

Auch für Allen Täte liegt das Spezifische der Dichtung in der Verbindung von Denotation und Konnotation, die zur „konkreten Wahrheit", zur „komplexen, konkreten, objektiven Erkenntnis"

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führt (Halfmann: 61 f.). Diese kunstspezifische Verbindung wird von ihm „tension" genannt, deren Momente „extension" und „intension" heißen: „.Extension* bezeichnet... die explizite, denotativlogische, ,intension' die implizite, konnotativ-suggestive, insbesondere die metaphorisch-analogische Bedeutungsschicht der Sprache" (ebd. 55). Schließlich zielt auch die „Ironie" im Sinne von Cleanth Brooks darauf ab, durch den jeweiligen Kontext die (denotierte) Wortbedeutung so lange zu nuancieren, bis eine einmalig-erfüllte Wahrnehmung, eine „totale Sicht" bewirkt ist (ebd. 72 ff.). 4. Ermöglicht wird diese „Totalität" nach übereinstimmendem Urteil aller drei Kritiker gerade durch die hier schon mehrfach zur Sprache gebrachte Zweckfreiheit (oder „Interesselosigkeit") der dichterischen Schau: nur weil den Dichter nicht nur das interessiert, was etwas wesentlich ist, sondern auch das Partikuläre an ihm; nicht nur das, was es ist, sondern auch, woran es erinnert; weil folglich seine „Textur" von der prosaischen Logik her gesehen „Uberflüssiges", „Irrelevantes" enthält und das Werk — dank der darin waltenden „tension" - „seinen wahrhaften Nutzen in seiner vollständigen Nutzlosigkeit findet" (ebd. 47, 62), - nur deswegen kann der Dichter die Armut der wissenschaftlichen und alltäglich-pragmatischen Sicht künstlerisch überwinden. Damit ist aber zugleich auch die Art der Erkenntnis charakterisiert, die durch das Literarische ermöglicht wird: sie ist keine „instrumentale ,power-knowledge'" (Brooks), sondern „zweckfrei-diagnostisches", „ontologisches" Wissen (ebd. 73, 92): wir bescheiden uns damit, daß uns dank der Literatur Seiendes in seiner ganzen, uns überhaupt zugänglichen Mannigfaltigkeit, also unter einem sonst zu kurz kommenden ontologischen Aspekt erscheint. 4.3.4.2. Lotman: Modellierung des Allgemeinen Es ist merkwürdig, daß Ransom und Lotman die gleiche semiotische Bezeichnung für die Sprache der Literatur verwenden: beide gebrauchen das Wort „Icon". Merkwürdig ist dies darum, weil sie trotz des gleichen Terminus Verschiedenes im Sinn haben. Ransom

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interpretiert die Ähnlichkeit mit dem Bezeichneten, das Wesensmerkmal des iconischen Zeichens, extensiv, so daß „Icon" bei ihm Ähnlichkeit mit beiden für ihn wichtigen ontologischen Momenten meint: „Das Icon ist bereit, das Objekt unter Begriffliches subsumiert darzustellen, aber es bewahrt auch dessen Qualität. Das heißt: es bewahrt den Körper; der strukturelle Rahmen, dessen Substanzlosigkeit es herausstellt, ist das Skelett" (zit. Halfmann: 93). Demgegenüber hält sich Lotman an eine engere Fassung von .Ähnlichkeit': es genügt irgendeine partielle Ähnlichkeit zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem, um aus einem Zeichen ein iconisches zu machen. So kommt er zur verallgemeinernden Feststellung: Nicht nur die literarische Sprache, ja nicht einmal bloß das LKW, sondern überhaupt alle „Kunstwerke sind nach dem Prinzip der iconischen Zeidien aufgebaut" (1967: 45). Gerade diese partielle Ähnlichkeit oder Analogie macht die Kunst zu einem „Modell" der Wirklichkeit. Das Moment der Ähnlichkeit beschränkt sich bei ihm - hier der große Unterschied zu Ransom auf das Allgemeine, die Struktur: „Aus irgendeinem Material schafft der Künstler ein Bild des Lebens in Entsprechung zu der Struktur, die seiner Meinung nach dem vorliegenden Phänomen der Wirklichkeit eigen ist" (1972a: 22 f.). Dabei geht es — hier ein zweiter möglicher Unterschied zwischen ihm und den „New Critics" - nicht (nur) um die allgemeine, formale Ähnlichkeit, daß nämlich Kunst „wirklichkeitshaft" ist, sondern um konkretere, inhaltlidi erfüllte (aber immer nur partielle) Ähnlichkeiten. „So wird eine Reproduktion in der ihrer Natur nach räumlichen Struktur der Plastik des menschlichen Körpers in der Bildhauerei der Neuzeit zum Ausdruck für die nicht-räumliche Struktur seelischen Erlebens" (ebd. 37). Lotman bestreitet zwar nicht, daß das Dargestellte auch einmaligen Objekten „ähnlich" ist (er nennt dies enttäuschenderweise „Reproduktion", „Abbildung", wie wenn die Kunst die vorgegebene natura naturata kopieren würde), seiner Meinung nach geht aber das Interesse des Künstlers und des Rezipienten nicht auf dieses Einmalige, sondern auf das Allgemeine in ihm: „Das Kunstwerk bleibt, indem es als Modell eines bestimmten Objektes erscheint,

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immer Reproduktion von etwas Einmaligem, aber in unserem Bewußtsein nicht in die Reihe der konkret-individuellen, sondern verallgemeinernd-abstrakten Begriffe Eingereihtem" (ebd. 39 f.). Dabei wird das Allgemeine freilich nicht als Allgemeines, sondern als dem Individuellen Einwohnendes rezipiert (eine Konzeption, die an Georg Lukacs erinnert, sah doch dieser in der Kategorie der Allgemeines und Individuelles in sich aufhebenden Besonderheit die zentrale Kategorie der Ästhetik [1963: 2/193-226]): „Das, was die Verallgemeinerung, die Abstraktion in der Kunst erreicht, ist nicht die Ersetzung des individuellen Modells durch ein allgemeines, sondern ,Rangerhöhung' dieser individuellen Darstellung, indem sie einbezogen wird in die Reihe abstrakt-begrifflicher Zusammenhänge" (Lotman 1972a: 40). Doch ist das eigentlich Intendierte dieses Allgemeine, freilich nicht als Allgemeines an sich verstanden, sondern als menschlich Reflektiertes: ein Kunstwerk ist nicht nur „Modell der Welt", sondern zugleich auch „Modell der Persönlichkeit des Autors" (ebd. 38), womit man sich wieder an Lukacs und dessen Begriff der Mimesis erinnert fühlt. Das eigentlich Intendierte ist also das Allgemeine als „Weltbild": Wenn das künstlerische Modell „vom tragischen Schicksal der Heldin erzählt, so berichtet es vom tragischen Wesen der Welt. Deshalb ist ein gutes oder schlechtes Ende für uns so bedeutsam: es bezeugt nicht nur den Abschluß irgendeines Sujets, sondern es legt auch Zeugnis ab von der Konstruktion der Welt als ganzer" (1972b: 310). Dies, die „Konstruktion der Welt" zu erkennen ist nach Lotman das, woran uns und dem Künstler gelegen ist, ist doch „die Ähnlichkeit mit dem Leben, eine Bewegung auf die Wirklichkeit hin", ja ausdrücklich „die Erkenntnis der Welt" das Ziel der Kunst (1972a: 58; 1967:61). Ich möchte hier nicht auf die (auf der Hand liegenden) notorischen Schwierigkeiten eingehen, die nicht-darstellende Künste wie Musik und Architektur jeder auf die Weltbezogenheit pochenden Kunsttheorie - so auch derjenigen Lotmans — bereiten (was ein Marxist selbst aus diesen Künsten an Weltbezogenem „herausholen" kann, ist bei Lukacs [1963: 2/330-433; 1/266-291] nachzulesen; dazu

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siehe H o r n 1974: 37-39). Ich unterstelle des weiteren, daß die Lotmansche Art, der Literatur zu begegnen, unserer ursprünglichen (in 4.3.4. erwähnten) Bedingung entspricht und trotz Begriffshörigkeit der vorgängigen integralen Schau keinen Abbruch tut. Ich möchte bloß zu der Auffassung Stellung beziehen, das Ziel der Kunst (und somit auch der Literatur) sei die Erkenntnis, die „Modellierung" des Allgemeinen der menschlichen Welt. Vorab: sicherlich ist niemandem vorzuschreiben, als was er Kunstwerke betrachten soll, ob als Quelle von Erkenntnis oder als Gegenstände ästhetischen Wohlgefallens. Doch selbst wenn diese Entscheidung stets subjektiv mitbegründet ist, so bedeutet dies durchaus nicht Relativität, wie wenn jede Wahl wegen der Gleichheit in bezug auf dieses subjektive Moment auch gleich adäquat, objektgerecht wäre. Daß es eine objektive, vom jeweiligen Dafürhalten unabhängige (wie ich meine: „zumindest" ästhetische) Beschaffenheit des Kunstgegenstandes in der Tat gibt, welcher man gerecht werden kann, aber auch nicht, zeigt sich daran, daß alle, auch die Verfechter der Erkenntnis-These, auf ein Kunstwerk ästhetisch reagieren (wie wenig sie sich das im konkreten Fall bewußt machen und wie sie diese Reaktion auch bewerten mögen), nicht aber alle so, wie sie, das heißt: das Kunstwerk zu Erkenntniszwecken „gebrauchend". Es gibt also nur eine einzige notwendige Eigenschaft eines jeden Kunstwerks, die sich in jedem (freilich: jedem befugten, überhaupt empfänglichen) Rezipienten spiegelt, und das ist seine Ästhetizität. Uber dieses notwendige Minimum hinaus kann das Kunstwerk für bestimmte Menschen oder für bestimmte Altersstufen desselben Menschen auch dokumentarischen Wert haben, ihm zur Erkenntnis dieser Welt verhelfen. D a ß der Sinn von Kunst in ihrem Erkenntniswert nicht aufgehen kann, zeigt sich indessen nicht nur an der Allgemeinheit der ästhetischen Reaktion im Unterschied zur Selektivität der erkenntnissuchenden, sondern ergibt sich auch aus folgenden Überlegungen. Erkenntnis im hier gemeinten Sinn kann nur aus der Begegnung mit Allgemeinem oder Besonderem erwachsen, wobei entweder vom psychisch oder vom sozial Allgemeinen bzw. Besonderen die Rede

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sein kann. Wenn etwas streng genommen allgemein ist, so ist es auch mein Allgemeines, mithin mir im Grunde Bekanntes, mehr oder wenig Vertrautes, nicht etwas, was als prinzipiell Neues von mir eigens erkannt zu werden brauchte. Was neu sein mag, ist die Formulierung, Formwerdung dieses bis anhin vielleicht nur dumpf-unreflektiert Vertrauten; dies wird aber - als Verbalisierung eines Innerlichkeitsinhalts, als Befreiung eines möglichen Wirklichkeitsreflexes in die Sinnlichkeit — gerade aus ästhetischen Gründen genossen (und zwar trotz des begleitenden Ausrufs „Wie wahr!", der nur scheinbar Erkenntnis, in Wirklichkeit adaequatio, eben Wahrheit anzeigt, die aber in diesem besonderen Fall nicht nur aus Wahrheitsliebe als wertvoll empfunden wird). Dies ist der Fall jedesmal, wenn wir den Eindruck haben, da hat der Dichter an unser Statt endlich etwas beim richtigen Namen genannt, was als Erfahrung auch uns präsent ist; so etwa im folgenden Passus bei Laszl6 Nemeth: „Es machte ihr Spaß zu sehen, wie ein Mann, gerät er in jenen Strahlenkreis, der anscheinend jede junge Frau umgibt, plötzlich hilflos wird, mit dem Selbstgefühl um sidi schlägt, wie ein verstörter Falter" (Die Kraft des Erbarmens: 549).

Vielleicht — könnte man einwenden — vermittelt aber auch das „bekannte" Allgemeine insofern Erkenntnis, als es ja nie an sich, sondern immer in der Brechung einer künstlerischen Subjektivität dargestellt wird und dies — wie ein bestimmter Künstler die Welt sieht (und interpretiert) - auf jeden Fall neu und erkenntnisreich sein kann. Nach Lotman ist es gar so, daß der Autor dem Leser „sein Modell der Welt, sein Verständnis von der Struktur der Wirklichkeit aufzwingt". Dabei ist der Leser nicht passiv: „er ist interessiert daran, sich das Modell anzueignen, das der Künstler ihm anbietet. Mit seiner Hilfe hofft er, die Mächte der inneren und äußeren Welt erklären und damit besiegen zu können" (1972b: 407). Offenbar kann die Weltsicht eines einsichtigen Künstlers Lebenshilfe sein, sie muß es aber nicht; dagegen ist eine Welt, die gleichsam tangential von einer stellungnehmenden künstlerischen Subjektivität berührt ist (diese also nicht darstellt, sondern nur darbietet), notwendig ästhetisch, eben weil sie Seelisches sinnlich werden läßt. Es mag des weiteren wohl vorkommen, daß uns die Allgemeinheit des auch uns inwohnenden Allgemeinen nicht bewußt ist, so

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daß etwa ein Werk aus fernen Zeiten oder Ländern, das uns dieses präsentiert, uns in der Tat Erkenntnis zu vermitteln scheint: ich habe Brüder überall. Dies ist im Grunde mit jedem Fall verwandt, wenn zunächst fremde Besonderheit sich als Besonderung meines Allgemeinen entpuppt (wenn etwa der Vertreter einer anderen Kultur das obige Bild Nemeths zunächst befremdend-übertrieben findet, weil bei ihnen das Mann/Frau-Verhältnis nicht durch Marienkult, Rittertum usw. mit bedingt ist, dann aber doch das Gemeinsame etwa der Eitelkeit, des Imponieren-Wollens entdeckt). Auch in diesem Fall ist ein Moment der Erkenntnis da: ich erfahre, wie - genau - meine Brüder sind oder waren. Doch die hier vertretene These geht dahin, daß auch diese Freude „zumindest" ästhetischer Natur ist (dabei aber auch sehr wohl durch die gewonnene Erkenntnis bereichert werden kann). Denn wenn das Ästhetische ein Modus der Selbstbegegnung ist (siehe Horn 1969a: 85-92), so ist die Begegnung mit dem „Anderen" paradoxerweise eine Bedingung des Ästhetischen. Allgemeines ist nämlich ohne Konkretes, das Sichselbstfinden ohne Ein-Anderes-Vorfinden nicht denkbar. Ich muß etwas Fremdes vorfinden, damit ich zu mir selbst, zum Allgemeinen komme: ich werde nur durch „Negation" des Anderen „gefunden". In mir mich selbst zu finden ist eine Selbstverständlichkeit, ist kein Erleben meiner Allgemeinheit, sondern bloße Tautologie. Es braucht eben ein Anderes, um in ihm mir selber begegnen zu können. Je bunter, mannigfaltiger, in ihrer Individualität von mir und voneinander abweichender die Gestalten der Menschenwelt sind, der ich in der Kunst begegne, desto größer ist der Triumph der Allgemeinheit, die durch die Negation all dieser Vielfalt zu sich kommen kann, desto mehr fühle ich, daß überall „ich" frei werde, „mir" als Freiem begegne (ebd. 55). Dabei sei keineswegs bestritten, daß jene Freude auch eine dritte, „praktisch"psychologische Komponente haben kann: die Freude am Eingebettet-, am Geborgen-Sein, das Gefühl, zur Gemeinschaft der Menschen zu gehören.

Begegnung mit „seinem" Allgemeinen, Begegnung mit fremder Besonderheit, die sich indessen als Besonderung der eigenen Allgemeinheit erweist - in beiden Fällen haben wir für die Erklärung des

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unbestrittenen Genusses eine ästhetische Alternative anbieten können. Wie aber, wenn der dritte Fall eintritt, wenn diese „Idealisierung" des Anderen nicht oder nicht völlig gelingt und wir nach wie vor Fremden gegenüberstehen? Völlige Fremdheit ist vor allem wohl bei der Begegnung mit manchen zwischenmenschlichen Strukturen der Fall, denn streng genommen Psychisches kann uns - im „Normalfalle" - letztlich kaum völlig fremd bleiben. Gleichwohl gibt es manchmal selbst an den Besonderungen unseres PsychischAllgemeinen einen Rest der Fremdheit (wobei es sdiwierig sein dürfte, eine qualitative — also „philosophische" — Grenze zu ziehen zwischen Fremdheit, die vom Allgemeinen „aufgebraucht", voll idealisiert wird, und jener, die trotz ihres allgemein-vertrauten Kerns im Gesamteindruck untilgbar überwiegt). Ist nun nicht gerade dies, dieses Residuum der Fremdheit, der Ort, an dem Erkenntnis beheimatet ist? Ist nicht etwa für einen östlichen Menschen das ihn möglicherweise schrill-übertrieben Dünkende am Bild Laszl6 Nemeths, das hilflose Um-sich-herum-Schlagen des männlichen Selbstgefühls, als Information wertvoll, als etwas, was sein Wissen über die westliche Kultur vermehrt? Wiederum: ausgeschlossen sei dies selbstverständlich auf keinen Fall. Doch mögen drei Bemerkungen erlaubt sein. Erstens versteht auch Lotman unter „Erkenntnis" nicht derlei partikuläre Information. Er geht sogar so weit, zu schreiben: „die künstlerische Sprache . . . modelliert das Universum in seinen allgemeinsten Kategorien" (1972b: 35). Auch wenn man da Abstriche macht und „Universum" bescheidener durch „menschliche Welt", „allgemeinste Kategorien" durch „allgemeine Strukturen oder Gesetzmäßigkeiten" ersetzen möchte (nimmt man nämlich den Satz wörtlich, so ist er nicht nur nicht im Einklang mit Lotmans übrigen Äußerungen, er wird auch tautologisch: freilich ist das Kunstwerk als Seiendes „so wie" andere Seiende!), selbst wenn man also diesen Satz cum grano salis nimmt, ist an ihm Lotmans Intention klar ersichtlich: der Kunst geht es seiner Meinung nach um möglichst allgemeine Erkenntnis. — Doch diese Bemerkung berührt im Grunde nur ihn, nicht aber das zur Diskussion stehende Problem.

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Zweitens ist es offensichtlich, daß die Richtigkeit der „Widerspiegelung" bei Werken, deren Weltzustand jenseits unseres geschichtlichen Horizontes liegt, nicht für uns, nicht für den Rezipienten ist: sie wird bloß supponiert, mangels anderer Dokumente aber nicht festgestellt. O b man solche stützende Quellen kennt, ist purer Zufall; ohnehin ginge es bei etwaiger Bekräftigung nur um das „Wie wahr!"-Erlebnis, nicht um eigentliche Erkenntnis, denn über die Bekräftigung von Einzelfakten kann keine außerliterarische Quelle hinausgehen: selbst wenn ein Werk in diesem oder jenem Punkt richtig, „wahr" ist, kann manches andere an ihm rein fiktiv sein. Hieraus folgt, daß je kritischer der Leser ist, je mehr er um die Autonomie künstlerischer Welten weiß (trotz ihrer Weltbezogenheit), um so weniger wird er geneigt sein, das fremd bleibende Andere als Erkenntnis-Stoff anzusehen und zu genießen. - Doch auch hier läßt sich das Argument abschwächen: Es gibt trotz dieses Wissens eine Glaubwürdigkeit der künstlerischen Darstellung, es gibt den Eindruck der Echtheit selbst bei der Schilderung von Unbekanntem, hauptsächlich in Fällen, da wir keinen Grund erblicken können, weswegen ein sonst geschichtstreuer Dichter den Boden des in seiner Welt zumindest Möglichen plötzlich verlassen haben sollte. Gleichwohl gilt es, drittens, auch hier zu bedenken, daß zwar geschichtliches Interesse - vom Standpunkt der Historie aus zu Recht oder zu Unrecht - am unauflösbar Fremden spezifisches Gefallen finden mag, dieses Fremde auch - und zwar immer — ästhetische Relevanz besitzt. Das geschichtlich Fremde gehört nämlich für uns ebenso zum Bunten, Unberechenbaren, Singulären, „Welthaften" der Welt wie all die Konkretionen von Menschen und Dinglichkeiten, deren Art uns durchaus geläufig ist und die die fiktiven Welten „unserer" Literatur bevölkern: es geht in beiden Fällen um das (vom uns bekannten Allgemeinen oder Besonderen her) Zufällige, das trotz der Notwendigkeit der Notwendigkeit in der Literatur (siehe dazu Horn 1969a: 18) als deren komplementäres Prinzip in keinem darstellerischen Werk fehlen darf. Ist nämlich nur Ableitbares, von „innen", vom Inhalt, vom Allgemeineren her

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Das LKW als Sprachliches

Gesetztes da, so wird zwar der Inhalt in der T a t „frei", die Form, die sinnliche Oberfläche dagegen geknechtet. Indessen: „Beides muß im schönen Objekte vorhanden sein: die durch den Begriff gesetzte Notwendigkeit im Zusammengehören der besonderen Seiten und der Schein ihrer Freiheit als für sich und nidot nur für die Einheit hervorgegangener Teile" (Hegel 1 9 5 5 : 1 4 9 ) . Gleich zwei Theoretiker verwenden für diesen Sachverhalt das Bild des liberalen Staates: einmal Schiller („In der ästhetischen Welt ist jedes Naturwesen ein freier Bürger, der mit dem Edelsten gleiche Rechte hat, und nicht einmal um des Ganzen willen darf gezwungen werden, sondern zu allem schlechterdings konsentieren muß" [186]), sodann Ransom: „Ein literarisches Kunstwerk ist gleichsam ein demokratischer Staat, wogegen die prosaische (mathematische, wissenschaftliche, ethische oder praktisch-alltagssprachliche) Rede ein totalitärer Staat ist. Die Zielsetzung eines demokratischen Staates geht dahin, die Aufgaben des Staates so wirkungsvoll als möglich zu erfüllen, aber mit einem Vorbehalt, welchen das Gewissen diktiert: daß er seine Glieder, die Bürger, der freien Äußerung ihres individuellen und selbständigen Charakters nicht beraubt" (1963: 108).

Das Zufällige (audi das historisch Fremde) ist aber ästhetisch gesehen nicht nur deswegen notwendig, weil es den Anschein erweckt, die Form bestimme ihr Sosein selber (sie darf so sein, wie sie „will"), sondern auch darum, weil es kraft seiner Welthaftigkeit mit dazu beiträgt, daß die dargestellte sinnliche Welt die Illusion der Wirklichkeit, des wirklichen Seins erweckt. Das bedeutet aber, daß diese Welt als Form nicht nur ihr Sosein, sondern auch ihr Dasein scheinbar aus eigenen und nicht aus des Künstlers Gnaden erhält: sie erscheint also in doppelter Hinsicht als von sich selber bestimmt, frei, letztlich - allerdings nur dank der Hinzukunft weiterer Momente - als schön. Demnach ist all das, was am L K W möglicherweise Stoff für Erkenntnis abgibt, („davor" und notwendig) ästhetisch relevant, so daß es unter keinen Umständen angeht, Erkenntnis des Allgemeinen oder des historisch Besonderen als Sinn und Ziel der Kunst hinzustellen. Damit wird - das sei zum Schluß nochmals betont - die „Rechtmäßigkeit" der erkenntnissuchenden Annäherungsweise selbstverständlich nicht im geringsten angezweifelt, nur sie selber in ihre

Die Literatur als besondere Art aktualisierter Sprache

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Schranken gewiesen: sie richtet sich auf etwas, was nicht um ihretwillen da ist. Dies bedeutet für denjenigen, der in der Literatur Erkenntnis sucht, zweierlei: er muß sich bewußt sein, daß das Werturteil, das er nach diesem Kriterium fällt, kein ästhetisches Urteil und daher streng genommen inadäquat ist und daß der etwaige dokumentarische Wert eines Kunstwerks in keiner Weise dessen ästhetischen Wert präjudiziert. Ein Zusammenhang zwischen beiden besteht nur insofern, als die gleiche Einsicht in das menschlich und menschheitlich Wesentliche, die für die Erschaffung großer Kunstgestalten erforderlich ist (damit Selbstbegegnung in tieferem Sinne möglich sei), auch für eine „dokumentarisch"-wissenschaftliche Verwertung manches hergeben mag. Doch umgekehrt ist der Zusammenhang weniger zwingend: die Einsicht ins (human)wissenschaftlich Auswertbare geht nur in glücklichen Stunden der Menschheit mit anschaulicher Phantasie einher.

5. Rückblick Auf den folgenden Seiten soll weder eine erschöpfende Zusammenfassung noch überhaupt nur eine Zusammenfassung versucht werden. Es geht mir vielmehr darum, einerseits ein verstreutes Motiv der MFL, die Hervorhebung dialektischer Züge am LKW, eigens zu thematisieren, andererseits mich mit ihrem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit auseinanderzusetzen. Wenn ich dabei besagte Hervorhebung als Ertrag betrachte, die extremeren Formulierungen jenes Anspruchs dagegen kritisiere, so dürfte es nach dem Vorangegangenen gleichwohl klar sein, daß es beileibe nicht meine Meinung ist, das Positive bzw. Negative an den Thesen der MFL lasse sich auf diese beiden Punkte reduzieren.

5.1. Formalismus und Dialektizität Dialektisch im objektiven Sinne ist etwas, worüber Kontradiktorisches ausgesagt werden kann, freilich nicht in der gleidien Beziehung. (Derjenige, der meint, es gebe eine Dialektik, die durch Kontradiktorisches in der gleichen Beziehung charakterisiert ist und die folglich dem Grundprinzip des vernünftigen Denkens und Redens, dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten, widerstreitet, muß jedenfalls schweigen, denn jeder Satz, den er spricht, jedes Urteil, das er fällt, beweist das Gegenteil.) Wenn nun vorhin der Aufweis dialektischer Züge am LKW als etwas Positives angekündigt wurde, so will das durchaus nicht heißen, daß subjektive Dialektizität (diejenige also, welche die objektive „abbildet") in sich Wahrheit verbürge. Zu behaupten, Wahrheitsnähe zeige sich in (subjektiver) Dialektizität, in dem Sinne, daß von zwei Hypothesen, deren empirischer Gehalt der gleiche ist, diejenige wahrheitsähnlicher sei, wel-

Formalismus und Dialektizität

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che Dialektiken enthalte, dies zu behaupten ist selber zutiefst undialektisch, fußt sie doch auf der Annahme, daß die Wirklichkeit einseitig-dialektisch sei und nicht zugleich dialektisch und nichtdialektisch. Das Stärkste, was ausgesagt werden kann, scheint dies zu sein: Je komplexer etwas ist, um so wahrscheinlicher ist es, daß seine Komplexität auch widerstreitende Züge umfaßt, um so größer daher unsere Berechtigung, von Theorien, die diesen Gegenstand betreffen und dialektisch sind, von vornherein eine größere Wahrheitsähnlichkeit anzunehmen als von nicht-dialektischen. Die Komplexität des L K W steht nun wohl außer Zweifel; daher das Vorurteil, dialektische Theorien oder Theoreme könnten mehr von seinem Geheimnis erhaschen als solche, die nur von „ja-ja" und „nein-nein" wissen wollen. Jedes Vor-Urteil muß sich indessen in ein inhaltlich gleiches Nach-Urteil verwandeln können, so es auf relativ gesicherte Wahrheit Anspruch erhebt, - vorausgesetzt natürlich, daß eine empirische Prüfung überhaupt möglich ist. Diese Möglichkeit ist in unserem Fall tatsächlich gegeben. Die Konfrontierung gewisser dialektischer Thesen oder Beschreibungen der M F L mit der Wirklichkeit der Literatur beweist auch empirisch, daß sie eine hohe Wahrheitsähnlichkeit aufweisen: daß die Formel „das Gleiche und gleichzeitig nicht das Gleiche" (Lotman 1972 b: 185) für die Literatur (und die Kunst überhaupt) wahrhaftig äußerst wesentlich ist. Bei den objektiven Dialektiken, welche die M F L aufgegriffen hat, handelt es sich im wesentlichen um zwei Typen: der eine transzendiert den fraglichen Gegenstand, der andere bleibt ihm immanent. Der erste Typ, den man näher als Funktionalität oder Kontextabhängigkeit bestimmen kann, ist im Zusammenhang mit dem strukturalen Ansatz zur Genüge analysiert worden, daher soll es hier mit einer kurzen Vergegenwärtigung sein Bewenden haben. Wesentlich ist ihm die doppelte Dialektizität von Element und Funktion: einerseits kann das gleiche Element (je nach Kontext oder Struktur) die Funktion F und die Funktion nicht-F erfüllen; andererseits (und ebenfalls strukturabhängig) kann die gleiche Funktion vom Element E und vom Element nicht-E ausgeübt werden. (Vgl. Saussure: „in

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Rückblick

den semiologischen Systemen . . . schlägt der Begriff der Identität in den des Wertes [valeur] um und umgekehrt" [154], d. h.: was den gleichen Wert, die gleiche Funktion hat, ist struktural gesehen identisch.) „Element" ist dabei extensiv zu verstehen: als funktionell zu betrachten sind Substrukturen nicht minder als Zeichen (vgl. Eimermacher: 133: „Zeichen an sich gibt es nicht"): das Gleiche kann etwa von einer Struktur her Zeichen von Unordnung sein (z. B. als etwas, das von der Wahrscheinlichkeitsstruktur der Sprache abweicht), von der anderen (z. B. vom persönlichen Code, dem Idiolekt) her Zeichen von Ordnung. Kontextabhängig sind des weiteren auch die Verfahren: das gleiche Verfahren kann in einem bestimmten textinternen oder textexternen Zusammenhang „pedalisiert" sein, auffallen; in einem anderen dagegen völlig im „Hintergrund" aufgehen. In diesem letzten Fall ist das Verfahren immerhin „vorhanden", wirksam in dem Sinne, daß es etwas Nichtbeachtetes in die Welt gesetzt hat (man denke an die „Prosa" M. Jourdans!). Demgegenüber setzt das sog. Minus-Verfahren nichts in die Welt und ist gleichwohl wirksam, d. h. hier: auf uns wirkend. Ihm eignet insofern eine besondere Dialektik, als in seinem Fall (wiederum kontextabhängig) Nicht-Vorhandenes vorhanden (da wirkend) ist: das Negative der Reimlosigkeit z. B. hebt sich positiv vom Hintergrund der reimenden Tradition ab (Lotman 1972 a:57). (Ein anderer Name für die gleiche Erscheinung ist „Null-Element, „Null-Stufe" [degré zéro]: eine Abwesenheit, die bedeutet; Sinnerzeugung „mit nichts" [Barthes 1964a: 124], Uber das Problematische dieser Bezeichnung war bereits in 3.2.1.1.3. die Rede.) Die Kontextabhängigkeit des Verfahrens bzw. seiner Wahrnehmbarkeit oder Wirksamkeit ist im Grunde bloß eine besondere Form der allgemeineren Dialektik der künstlerischen Wirkung: Der gleiche Text kann die Wirkung W und die Wirkung nicht-W haben — in Abhängigkeit von dem jeweiligen Ganzen, das der Text einerseits und die „mitgebrachten" Vorstellungen und Erwartungen des Lesers andererseits, d. h. die „inner- und außertextlichen Relationen" ausmachen. „Man muß sich entschieden von der Vorstellung lösen, daß der Text und das literarische Werk ein und dasselbe sind. Der

Formalismus und Dialektizität

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Text ist eine der Komponenten des literarischen Werkes, natürlich eine äußerst wesentliche Komponente, ohne die die Existenz des literarischen Werkes nicht möglich ist. Aber der künstlerische Effekt im ganzen entsteht aus der vergleichenden Zusammenstellung des Textes mit dem vielschichtigen Komplex der Vorstellungen vom Leben und dem Ideell-Ästhetischen" (Lotman 1972 a: 57). Der zweite, immanente Typ objektiver Dialektik läßt sich mit Lotmans Ausdruck als „Ko-opposition" oder aber als interner Widerstreit bestimmen. Das Wesentliche an ihm besteht darin, daß die Dialektizität nicht durch das Umgebende bewirkt ist, sondern der inneren Struktur des Gegenstandes selbst zukommt. In diesem Sinne dialektisch sind einerseits Rhythmus und Reim: beide sind durch ein Zusammen von Widerstreitendem gekennzeichnet: reimende Worte und metrisch gleiche Verse sind sowohl gleich als auch nicht gleich. Andererseits sind auch Metaphern vom Typ „blauer Mut" dialektisch, weil ihre Bestandteile unvereinbar und (wie figura zeigt) doch vereinbar sind: unvereinbar für die prosaisch-rationale Sicht, vereinbar für die poetisch-«emotionale". Oder anders (vorausgesetzt, daß man den metaphorisch bezeichneten Gegenstand als Teil der Metapher selbst ansieht): der Mut ist blau und nicht-blau zugleich: letzteres seinem Ansich nach, ersteres im Füruns. Lotman meint, daß der literarische Text auf der Basis gerade dieser beiden Relationstypen aufbaut: „auf der Ko-opposition sich wiederholender äquivalenter Elemente und auf der Ko-opposition benachbarter (nicht-äquivalenter) Elemente." Die erste Art von Koopposition ist bedingt durch „das Prinzip der Wiederholung, des Rhythmus. Es setzt das gleich, was in der natürlichen Sprache nicht gleichgesetzt ist". Der zweiten Art liegt „das Prinzip der Metapher" zugrunde. „Es vereinigt das, was in der natürlichen Sprache nicht vereinigt werden kann. Wenn im ersten Fall der Begriff,Rhythmus' im weitesten Sinn ausgelegt wird, wobei er alle Fälle von Äquivalenz im Text einschließt. .., so wird im zweiten Fall ebenso im weitesten Sinne der Begriff Metapher gebraucht, als die Möglichkeit der Aufhebung jeglicher Einschränkungen bei der Kombination ,textueller' Elemente" (1972 b: 123).

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Rückblick

I m gleichen Sinne (also i m m a n e n t ) dialektisch ist alles, w a s deutig

mehr-

ist: das Gleiche bedeutet dies und nicht-dies, wobei gilt: „ D a s

N e g i e r e n d e löscht das N e g i e r t e nicht aus, sondern t r i t t zu ihm in das V e r h ä l t n i s der K o - o p p o s i t i o n " ( L o t m a n 1 9 7 2 b : 3 5 2 ) . Diese D i a l e k t i k r ü h r t v o n einer a n d e r e n her u n d f ü h r t auch ihrerseits zu einer anderen. I h r e n U r s p r u n g h a t sie i m dialektischen V e r h a l t e n

des

Künstlers, der den C o d e einhält und v e r l e t z t , d e r also bei der W a h l d e r Signifikanten d e t e r m i n i e r t u n d zugleich nicht-determiniert ist (Eco 1 9 7 2 : 1 6 2 ) . D i e so e n t s t a n d e n e M e h r d e u t i g k e i t weist allerdings nicht n u r die v o r h i n e r w ä h n t e D i a l e k t i k des semantischen „Dies u n d nicht-dies" auf, sondern d a r ü b e r hinaus auch diejenige zwischen Eindeutigkeit u n d Mehrdeutigkeit, zwischen „ F o r m " u n d „ O f f e n h e i t " : die A m b i guität des K u n s t w e r k s ist keine grenzenlose, sondern eine k o n t r o l lierte; seinen objektiv v o r h a n d e n e n u n d b e s t i m m t e n Eigenschaften (seiner „ F o r m " ) obliegt es, jene O f f e n h e i t z u u m g r e n z e n ( E c o 1 9 7 3 : 8). Ingardens Buch Vorn Erkennen des literarischen Kunstwerks handelt zum Teil gerade von den verschiedenen wissenschaftstechnischen Möglichkeiten, die notwendige Mehrdeutigkeit des LKW auf ein objektiv bedingtes, nicht mehr aus der Welt zu schaffendes Minimum zu reduzieren, indem man nämlich - unter kommunikativer Kontrolle - 1. „implicite eindeutig Bestimmtes" expliziert, 2. die „Unbestimmtheitsstellen" ausfüllt und 3. die „potentiellen Elemente" des literarischen Kunstwerks aktualisiert, so zwar, daß man dabei „innerhalb der vom Werk selbst vorbestimmten Möglichkeiten" bleibt (1968: 403). Hierdurch entstehen wissenschaftlich vertretbare Konkretisationen, konkrete Lesungen, die genügend gesicherte empirische Grundlage zum weiteren wissenschaftlichen Vorgehen bieten. (Vgl. dazu ebd. 346-381, 428-434 et passim.) In meiner Terminologie (und in teilweisem Widerspruch zu Ingardens sonstiger Theorie) ließe sich diese Möglichkeit folgendermaßen umschreiben. Das je individuelle Füruns nähert sich in diesem Fall dem gattungsmäßigen Füruns an, jener idealen Konkretisation, die ein (supponiertes) reines, allgemeines Menschensubjekt vollziehen würde, welches „noch" nichts Partikuläres an ihm aufweist und welches folglich ohne jegliche aus der Partikularität fließende Ergänzung zu lesen vermag. Dieses gattungsmäßige Füruns „enthält" einerseits das, was in 2.4.2. mit Ingarden als das „schematische Gebilde", als das eindeutig Gegebene am LKW bezeichnet wurde (und das aus „noch-nicht"-veranschaulichten, „noch"begrifflichen Sachverhalten besteht) und andererseits jene wortlautlichen, sinnhaften und psychischen, mit einem Wort: anschaulichen Gestalten, die das eindeutig Gegebene nahelegt. Das gattungsmäßige Füruns ist das einzige, was als

Formalismus und Dialektizität

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das „intersubjektiv Identische" (Ingarden) am gegebenen L K W betrachtet werden kann, ja das einzige, was man als das jeweilige Kunstwerk (im Unterschied zu seinen individuellen Konkretisationen) ansprechen kann. (Diese Unterscheidung schließt nicht aus, d a ß das gattungsmäßige Füruns nur im individuellen Füruns, in den Einzellesungen ist.) Doch als ideale Konkretisation kann es nicht in reiner Form verwirklicht werden: von ihm gibt es nur einander mehr oder weniger angenäherte Aspekte.

Gerade dieses Zugleich von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, dieser Reichtum der Aspekte bei gleichwohl nicht preisgegebener Identität (ebd. 30) führt abschließend zu einer Dialektik in der Rezeption: zu jener „zwischen der Freiheit der Interpretation und der Treue zum strukturierten Kontext der Botschaft" (Eco 1972: 163). Wohl wissend um das Vorhandensein des objektiv Eindeutigen, des vom Künstler eigentlich Gemeinten, geben wir die Suche nach diesem im Nebel der möglicherweise überwindbaren Mehrdeutigkeiten nicht auf, obschon wir andererseits ebenso wohl wissen, daß sie sich letztlich mit einzelnen (mehr oder weniger großen) Brocken wird begnügen müssen: wahrscheinlich gehört nämlich der „Freiheitsraum der Interpretationen" (ebd. 162) ebensosehr zum „eigentlich Gemeinten" wie das Eindeutige — vielleicht aus der Einsicht heraus, daß die menschliche Seele, um deren geformte Vermittlung es der Kunst zu tun ist und die - als anschaulich Gegebenes - jeglicher künstlerischen Mehrdeutigkeit mit zugrunde liegen dürfte, zwar mit sich selber identisch bleibt, aber für uns von unerschöpflicher Komplexität ist und sich nicht mit letzter Eindeutigkeit festlegen läßt. E r w ä h n t sei immerhin die entgegengesetzte Meinung, wonach Mehrdeutigkeit ein Methodenproblem offenbare und keine Eigenschaft des Objektes sei: die heterogenen Deutungen lägen demnach in den Vormeinungen der Interpreten begründet (Simon-Schäfer: 17). Möglicherweise ist dieser Behauptung ebenfalls dialektisch zu begegnen: Es geht nicht darum, ob Vormeinungen (d. h. Hintergrundwissen und intuitiver Vorgriff auf die Bedeutung) eine Interpretation beeinflussen, sondern ob dies rechtens sei, d. h. ob nicht dieses Persönliche einen eigens f ü r es reservierten Freiheitsraum erfülle. Diese Rechtmäßigkeit scheint erwiesen, falls die im Laufe dieser Arbeit herausgestellten möglichen G r ü n d e der Mehrdeutigkeit (strukturelle Interferenz, Konnotation, Unerschöpflichkeit alles Anschaulichen, Schematismus des L K W ) als objektiv anerkannt werden und die Ableitung der Mehrdeutigkeit aus ihnen plausibel dünkt. Die dialektische A n t w o r t wäre in diesem Fall die folgende: Die Heterogenität der Deutungen ist sowohl durch die unvermeidbaren

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Rückblick

Vormeinungen als auch durch die notwendige „Polyvalenz des Kunstwerks" bedingt. Es gilt aber gleichwohl die Maxime: Handle so, wie wenn am Kunstwerk alles eindeutig zu interpretieren wäre. So entgehst du der Gefahr, die Suche vorschnell aufzugeben und dich in einem allzu bequem-geräumigen Freiheitsraum einzurichten.

5.2. Formalismus und Wissenschaftlichkeit 5.2.1. Formalismus als literaturwissenschaftlicher Szientismus Der literaturwissenschaftliche Formalismus ist nicht nur als Relationismus typisch für die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts (hierauf wurde in 0.2. hingewiesen), sondern auch insofern, als er bemüht ist, naturwissenschaftliche Methoden der Wahrheitssuche auf einen traditionell geisteswissenschaftlichen Gegenstand (die Literatur) anzuwenden. Diese Tendenz wird - in Anlehnung auf das englische Wort für Naturwissenschaft: science — im allgemeinen Szientismus genannt (so etwa von Karl-Otto Apel, der von „einer szientistischen Reduktion der geisteswissenschaftlichen Methoden auf die der Naturwissenschaften" spricht [28]). In diesem Sinne kann der Formalismus als literaturwissenschaftlicher Szientismus bezeichnet werden. Dabei sei bereits hier betont, daß dies eine grosso-mode Bezeichnung ist: genauso wie nicht alle Formalisten „Formalisten" sind in der verabsolutierendetikettenhaften Verwendung dieses Wortes, manche vielmehr durchaus bereit sind, die Bedeutung von Nicht-Formalem anzuerkennen, gibt es auch Formalisten, die man schwerlich Szientisten nennen könnte. Dieser ganze Abschnitt betrifft nur die methodologische Tendenz des Formalismus.

Der Szientismus erwächst einerseits aus der Überzeugung, daß nur naturwissenschaftliche, exakte Methoden im eigentlichen Sinne wissenschaftlich seien, andererseits aus einem Unbehagen an der Diskrepanz zwischen diesen (als ideal angesehenen) Methoden und denjenigen, die in der auf herkömmliche Art getriebenen geisteswissenschaftlichen Forschung effektiv praktiziert werden. Im Bereich der Literaturwissenschaft waren es vornehmlich die von der Linguistik her kommenden Forscher, die sich für die Verwendung exakter Methoden einsetzten, und zwar u. a. gerade weil „durch die methodologische Diskussion die

Formalismus und Wissenschaftlichkeit

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Nidit-Eindeutigkeit literaturwissenschaftlidier Begriffe und Methoden und damit ein allgemeines Unbehagen sowohl an diesen Begriffen und Methoden als auch an den an sie geknüpften Aussagen deutlich" worden waren (Eimermacher: 127).

Wenn wir nun die literaturwissenschaftlich relevanten Wesensmomente des szientistischen Begriffs echter Wissenschaftlichkeit näher ins Auge fassen wollen, so nehmen wir unseren Ausgang am besten von Apels Kurzdefinition: Echte Wissenschaft besteht nach dieser Auffassung in der „Beschreibung und Erklärung objektivierter Daten" (24). „Objektiviert" - das bedeutet zunächst und im wesentlichen, daß sie intersubjektiv prüfbar, „von der Individualität des Forschers unabhängig" (Kreuzer: 7), „mitteilbar und verifizierbar" sind (Franke 1968: 137). „Die Nachprüfbarkeit als notwendiges Kriterium literaturwissenschaftlicher Aussagen setzt voraus, daß 1. zur Beschreibung und Klassifikation von Texten und Textcharakteristika nur solche Begriffe benutzt werden, die einer Definition zugänglich sind; 2. nur solche Textlevels, -konstituenten und -Charakteristika theoretisch angesetzt werden, die am sprachlichen Werktext intersubjektiv nachweisbar sind" (Schmidt 1972: 60). Das Postulat der Mitteilbarkeit führt, wenn diese im strengen Sinne aufgefaßt wird, zur zweiten Bedingung der Objektivität: zur Formalisiertheit. Nach Carnap müssen in der Wissenschaft selbst die Beziehungen (also die Form) formalisiert, ihres inhaltlich-materialen Sinnes entkleidet werden, denn „die Beziehungen selbst in ihrer qualitativen Eigenart sind noch nicht intersubjektiv übertragbar" (13, 20 f.). Gerade weil man es nicht sicherstellen kann, daß qualitativ Gegebenes auch einem anderen Subjekt im gleichen Modus gegeben ist, bedeutet Formalisierung im strengen Sinne Quantifizierung, „Exaktheit" (Birkhoff: 386; Franke 1968:137). Quantifiziert werden kann aber nur Ausgedehntes, Materielles; Geistiges nur insofern, als es an Materielles „gebunden" ist (und die Quantität des Materiellen auch für das Wesentliche an ihm Relevanz besitzt). Somit ist die dritte Bedingung der Objektiviertheit wissenschaftlicher Daten die Materialität dessen, worüber („sinnvolle") Aussagen gemacht werden sollen. In diesem Verstand kann auch von einer „materiellen" Ästhetik gesprochen werden (N. Ulrich: 185),

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Rückblick

die etwa „die Materialität der Kommunikation" untersucht, „und nicht ihre Idealität, die den Gegenstand der klassischen Ästhetik ausgemacht hat, insbesondere auf dem Gebiet der Literatur" (Moles 1971: 256). Gerade im Hinblick darauf, ob die Untersuchung das materiell Vorliegende hinter sich läßt oder aber bei ihm stehenbleibt, läßt sich unterscheiden „zwischen spekulativer .Interpretationsästhetik', in der die ästhetischen Zustände bzw. Eigenschaften Ergebnisse der Interpretation sind, und rationaler ,Feststellungsästhetik', für die die ästhetische Realität der künstlerischen Objekte ein Inbegriff objektiv feststellbarer Merkmale ist" (Bense 1965 a: 204). Das soll heißen, daß „das, was wir als Aussagen über Kunstwerke oder Designobjekte festhalten, feststellbar ist in der gleichen Weise, wie der Mineraloge die Zusammensetzung eines Minerals feststellt und nicht etwa interpretiert" (Bense 1965 b: 29). Der ontologischen Bezeichnung der Materialität entspricht der erkenntnistheoretische Begriff des Datums: nur Materielles, sinnlich-gegenständlich Erfahrbares ist Datum, Gegebenes im strengen Sinne des modernen Empirismus, d. h. etwas, was objektiviert werden, worauf echte Wissenschaft aufbauen kann, was überhaupt der Bezeichnung „Erfahrung" würdig ist (Krampf: 95,112). Solche „Daten" müssen dem ästhetisch Rezipierenden nicht unbedingt bewußt sein. Es kann z. B. sprachliche „Feinstrukturen" (etwa Reihungen von Silbe und Laut) geben, die als solche „unbewußt bei der Lektüre der Texte mit aufgenommen und registriert" werden, die Reaktion des Lesers beeinflussen, aber gleichwohl nichts Geistiges sind: sie können nämlich quantifiziert und mit speziellen Techniken (etwa Computern) gemessen werden (N. Ulrich: 191 f.; Knauer: 193, 195). Im wesentlichen Gleiches meint Benses Begriff des Mikroästhetischen („wir studieren die mikro'dsthetischen Zeichen und Vorgänge, die der unmittelbaren Wahrnehmung entzogen bleiben, an den makroästhetischen Effekten" [1965a: 143; siehe auch Bense 1969: 42]) oder auch die ,Mikrostruktur' bei Walther L. Fischer: „z. B. Regelmäßigkeiten und Symmetrien, die man nicht ,ohne weiteres' mit ,bloßem Auge' oder ,bloßem Ohre' würde feststellen können" (115).

Formalismus und Wissenschaftlichkeit

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E s k o m m t also f ü r den Formalismus nicht d a r a u f an, ob etwas ein ästhetisches D a t u m ist, in der ästhetischen Situation wahrgenommen w i r d ; es genügt, wenn es anläßlich der theoretischen Annäherung zur Gegebenheit gebracht werden kann. N u n entsteht - völlig folgerichtig - das P a r a d o x e , d a ß solcherart „ U n b e w u ß t e s " legitimer Gegenstand formalistischer Forschung werden kann (eben weil diese a m Sinnlich-Gegenständlichen, a m materialen „ T r ä g e r " [Bense 1965 a : 3 1 9 ] orientiert ist), nicht aber, w a s an Seelisch-Inhaltlichem v o m Rezipienten völlig bewußt erlebt wird. D i e Folgerichtigkeit zeigt sich hier natürlich darin, d a ß j a Seelisches allemal qualitativ gegeben und daher streng genommen nicht objektivierbar ist: Aussagen über Inhaltliches lassen sich nicht formalisieren, sind also - wiederum im strengen, neupositivischen Sinn — intersubjektiv nicht p r ü f b a r . A u s der formalistischen Forschung w i r d — neben dem SeelischInhaltlichen - a fortiori alles Metaphysische ausgeklammert, also alles prinzipiell Unerfahrbare, genauer: all das, was als solches weder unmittelbar erfahren noch auf unmittelbar Erfahrbares zurückgeführt werden kann. Hierbei w i r d dem Wort „ E r f a h r u n g " die seit Locke gängige (also nicht die v o m modernen Empirismus verschärfte) Bedeutung unterlegt: ich erfahre etwas, wenn ich es (äußerlich oder innerlich) wahrnehme, wenn es mir unmittelbar gegeben ist, wenn ich es „erlebe". N a c h dieser liberaleren Fassung ist also nur das metaphysisch zu nennen, was als solches weder äußerlich noch innerlich wahrgenommen werden k a n n ; f ü r den modernen Empirismus, insbesondere f ü r den v o m sog. Wiener Kreis vertretenen Neupositivismus, ist indessen das innerlich Wahrgenommene, sofern es nicht mit physikalischen Begriffen dargestellt und somit „vergegenständlicht" werden kann (also: Stimmungen, G e f ü h l e als Anmutungserlebnisse, als „ P h ä n o m e n e " ) bereits „metaphysisch" ( K r a m p f : 96). Was demnach (als solches) nicht einmal innerlich wahrgenommen werden kann, mithin im traditionellen Sinn metaphysisch heißt, gilt dem Formalismus erst recht als wissenschaftlich nicht behandelbar.

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Rückblick

Für die Literaturtheorie des Formalismus ist unter den Merkmalen des Szientismus besonders dieser Ausschluß von Mentalem und Metaphysischem charakteristisch (die Formalisierung etwa ist viel eher für seine Analysen historischer Konkretionen und Besonderungen der Literatur kennzeichnend, also für seine Literatur&nii&). Dies ist auch der Punkt, der grundsätzliche Bedenken hervorruft. 5.2.2. Kritik am Formalismus als Anti-Mentalismus und Anti-Metaphysik Audi diejenigen Formalisten, die im soeben umrissenen Sinn Szientisten sind, haben - ohne daß sie notwendig darum wüßten — eine zwiespältige Beziehung zu diesem Aspekt (aber auch — wie wir unten noch sehen werden — zu anderen Aspekten) des szientistischen Ideals. Bewußt sind sie ihm treu, was ihre Theorie ergänzungsbedürftig macht; möglicherweise unbewußt (und partiell) üben sie „Verrat" an ihm, was im besseren Fall einen Tribut an die Tradition bedeutet und zum Teil ihren Innovationsanspruch entkräftet; im schlimmeren Fall selbst ihrer Wissenschaftlichkeit Abbruch tut. Diese Behauptungen sollen im folgenden näher ausgeführt und belegt werden. 5.2.2.1. Formalistische Treue zum szientistischen Ideal Im Zusammenhang mit einer projektierten „generativen Grammatik literarischer Texte" schreibt Dijk, ihre Folgerungen müssen — „wie dies für alle empirischen Theorien gilt"— „sowohl formalen, internen Kriterien, z.B. jenen der Explizitheit, Kohärenz, Konsistenz, Vollständigkeit, Einfachheit usw., wie auch empirischen, externen Kriterien, z.B. jenen adäquater Beobachtung, Beschreibung, Vorhersage und Erklärung genügen" (74 f.). Da nun der Formalismus Mentales und Metaphysisches von seinen Untersuchungen ausschließt, genügt er zweien der von Dijk (nicht nur für seine projektierte Disziplin) geforderten Kriterien nicht: er gibt weder eine adäquate Beschreibung noch eine adäquate Begründung des Literarischen.

Formalismus und Wissensdiaftlichkeit

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Seine Beschreibung des Literarischen ist insofern und insoweit nicht adäquat, als er außer acht läßt, daß die Literatur als Kunst nicht nur aus einem Ansich besteht, sondern auch -wesentlich für uns ist: „die Betrachtung eines Kunstwerks b e t r i f f t . . . die strukturellen Eigenschaften einer Sache in deren Beziehung zu uns; d. h. die Untersuchung der objektiven Strukturen und der individuellen Reaktionen, die sie hervorrufen" (Eco 1972 c: 49). Dieses Füruns, das L K W (und „darin" das Literarische) als Phänomen besteht nun nicht nur aus Formalem, Quantifizierbarem, sondern auch aus Qualitativem, aus „Erlebnissen" im Sinne des Anschaulichen, Bildhaften, Stimmungsmäßigen, Emotionalen. Vgl. Eco 1972b: 155f.: „Beim Betrachten und Berühren des Steins . . . habe ich nicht-verifizierbare Empfindungen, die zu -meinem Genuß dazugehören . . . Das Werk als individuelle Erfahrung ist zwar theoretisch erfaßbar, es ist aber nicht meßbar." Vgl. audi Levys Zugeständnis, wonach man „gegenwärtig nicht imstande" ist, das „qualitative Wesen" des ästhetischen Erlebnisses mit Hilfe der Mathematik zu erklären (1010).

Eine Beschreibung des Literarischen indessen, die die rezipierende Seele ausklammert, klammert damit auch die literarisch-ästhetisch relevanten Inhalte dieser Seele aus: die dargestellte Seele; überhaupt jeglichen geistigen Inhalt im Sinne des Vermittelten (die Linguistik kommt diesem, sobald er satzüberschreitend ist, nicht bei, denn „die Verbindung der Sätze ist nicht mehr . . . durch die Sprache geregelt" [Busse: 818]; auch die Mathematik versagt bei der Erfassung von „Sinn- und Bedeutungsganzheiten" [Fischer: 116]); ineins mit der rezipierenden Seele wird schließlich auch das Erlebnis der künstlerisch-ästhetischen Qualität, das Werterlebnis ignoriert (diesem kann weder die Linguistik [Ingarden 1961: 5] noch die Informationstheorie [Eco 1972a: 111 Fn.] gerecht werden). Der Anti-Mentalismus führt auch insofern zu einer Inadäquatheit der Beschreibung, als er jegliche Aussage über die produzierende Seele aus der Bestimmung des Literarischen ausschließt. Von der Linguistik her hat dies seinen Grund näher darin, daß sowohl „Entscheidungen der Thematisierung", der Hervorhebung, der Emphase (innerhalb des Sprachlichen) als auch etwa die Assoziationen und Identifikationen „bis in den Bildbereich hinein" pragmatisch, d. h. außersprachlich bedingt sind (Baum-

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Rückblick

gärtner: 769). Der „Gehalt" entspringt „individueller Schöpferkraft" (Lüdtke: 233).

Es dürfte nach dem Vorangegangenen klar sein, daß der Formalismus, insofern er anti-mentalistisch eingestellt ist, wohl der Ergänzung bedarf, wenn sein Gegenstand (sei er ein konkretes Kunstwerk oder das Literarische selber) adäquat beschrieben werden soll. Seiner diesbezüglichen szientistischen Selbsteinschränkung wegen muß er sich den Vorwurf gefallen lassen, er sei um seine Wissenschaftlichkeit „pendantisch besorgt", wobei es „nichts weniger Wissenschaftliches gibt, als die Existenz von Phänomenen ignorieren zu wollen, nur weil sie einstweilen nicht exakt bestimmt sind (Eco 1972c: 50). Die antimentalistische Einstellung führt also dazu, daß der literaturwissenschaftliche Szientismus, indem er dem Grundsatz des strengen Empirismus treu bleibt und nur über Sinnlich-Gegenständliches zu sprechen bereit ist, gerade einem empiristischen Kriterium der Wissenschaftlichkeit, nämlich dem der adäquaten Beschreibung, nicht genügt. Einen ähnlichen Widerspruch kann man ihm auch in bezug auf das Kriterium adäquater Begründung nachweisen. Dieses Kriterium läßt erkennen, daß Wissenschaft auch in empiristischer Sicht nicht nur auf Erscheinungen ausgerichtet ist, sondern (zumindest) auch auf deren Prinzipien, d. h. auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit. Während also einerseits die Frage nach den Gründen als legitim anerkannt wird, schrickt man andererseits vielfach davor zurück, diesen Gründen nachzugehen, da man wohl merkt, daß sie im konkreten Fall des Literarischen im verbotenen Reich des Mentalen und Metaphysischen liegen dürften. Ähnlich führt der Anti-Mentalismus in Linguistik und Spradiphilosophie nach Ansicht Chomskys dazu, daß der Akzent auf die „Daten selbst" zu liegen kommt und nicht auf die „tieferen, zugrundeliegenden Prinzipien" (110).

So kommt es, daß die Formalisten die verschiedenen von ihnen herausgestellten Wesenszüge des Literarischen gleichsam grundlos im Raum schweben lassen, so daß diese einer „fremden", von einem methodologisch weniger restringierten Standpunkt aus vollzogenen Erklärung bedürfen. Im Verlaufe dieser Arbeit wurde verschiedent-

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lieh der Versuch gemacht, den formalistischen Kategorien in diesem Sinne Festeres zugrunde zu legen. Die Prinzipien der Erklärung waren einerseits mentalistisch-psychologisch, wenn es um die Begründung vom Ursprung her ging (so haben wir gesehen, daß Abweichung, überhaupt Innovation nur vom Inhalt, letztlich vom Schöpferischen her zu begründen sind und daß Aktualisieren nur durch Interesselosigkeit, also einen wohldefinierten psychischen Zustand ermöglicht wird); andererseits waren unsere Erklärungsprinzipien, wenn es sich um den Sinn der einzelnen Kategorien handelte, metaphysischer, da ästhetischer Natur (denn was das Ästhetische im wesentlichen ist, kann direkt nicht erfahren werden [siehe Horn 1976b]: wir haben zu zeigen versucht, daß Äquivalenz, Abweichung, Verfremdung, Formung, Reflexivität, Aktualisieren ihren Sinn nicht in sich tragen, sondern im Bewirken bzw. Vermitteln von Sinnesfreude, Transparenz, Formalästhetischem, Können und Künstlichkeit - Kategorien, die allesamt im Ästhetischen gründen. Insofern diese metaphysisch-ästhetischen Begründungen plausibel sind (wir werden zum Schluß noch versuchen, sie so verwundbar als möglich zu machen), so haben sie sich in einer „Problemsituation" (Popper) bewährt, indem sie nämlich eine Mannigfaltigkeit von Erscheinungen verhältnismäßig einheitlich und einfach zu erklären vermochten. Dies beweist zwar die Wahrheit der zugrundeliegenden ästhetisch-metaphysischen Hypothese nicht, aber es erhöht die (niemals in Sicherheit überführbare) Wahrscheinlichkeit, daß sie wahr ist. Daß der Formalismus sowohl in bezug auf die Beschreibung des Füruns des Literarischen als auch in bezug auf die Begründung seines Ansich ergänzungsbedürftig ist, hat seinen Grund - darauf wurde bereits hingewiesen - zum Teil darin, daß das zu beschreibende Füruns Geistiges ist, als solches nicht Äußeres, sinnlich Wahrnehmbares, also nicht „Form" in einer ihrer Grundbedeutungen; folglich aber auch nicht quantifizierbar, „formalisierbar" (wobei „Form" wiederum etwas anderes bedeutet: „das radikal Unqualitative als solches, in dem das Qualitative steht" [Ingarden 1965: 28]). Sofern es aber zum Prinzip erhoben wird, daß „wir dann und nur dann

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Rückblick

von Ästhetik sprechen, wenn wir Geist auf Form zurückführen können, die unsere Sinne affiziert" (Bense, zit. Gunzenhäuser 1962: 12) — und dies gilt a fortiori auch für gewisse Tendenzen der MFL - , so verwundert nicht, wenn die Beschreibung des Literarischen zu kurz ausfällt. Muß man aber in der Tat so streng sein? Der Sinn der Formalisierung oder - in der schwächeren Version - der Beschränkung auf Äußeres liegt ja in der Ermöglichung intersubjektiver Prüfbarkeit, und die Frage ist gerade die, ob man angesichts der Unmöglichkeit absoluter Objektivierung und der Legitimität „erotischer" Wahrheitssuche (oder des Adäquat-sein-Wollens) sich doch nicht bereit finden könnte, mit weniger als absoluter Gewißheit vorliebzunehmen, zumal dieses Weniger durchaus keinen totalen Verzicht auf intersubjektive Prüfbarkeit zu bedeuten braucht. Jean Piaget, dem man schwerlich vorwerfen kann, er halte die Fahne strenger Wissenschaftlichkeit nicht hoch genug, kennt den Begriff der „objektiven" Introspektion, „denn trotz der unbeabsichtigten oder beabsichtigten Mißverständnisse bedeutet objektiv nicht immer Vernachlässigung des Subjekts', sondern es bedeutet immer ,Versuch, nicht den Illusionen seines Ichs zu verfallen', ein Versuch, der sich auf die methodische Untersuchung der Reaktionen der anderen stützt" (1974a: 206). Über dieses intersubjektive Prüfen berichtet er in bezug auf einen konkreten Fall psychologischer Forschung folgendermaßen: „Die Antworten einer Reihe von in psychologischer Beobachtung geübten Erwachsenen stellten sich als in hohem Maße übereinstimmend heraus, was in einem Fall wie diesem eine objektive Bestätigung eines einfachen, introspektiv gewonnenen Resultats bedeutet" (ebd. 176). Dieses Kriterium der Objektivität (oder „Objektivität") läßt sich auch auf phänomenologische Analysen anwenden, welche Alltagserfahrungen in ihrer phänomenalen Gegebenheit in Worte zu fassen versuchen. „Die Instanz für die intersubjektive Uberprüfung phänomenologischer Aussagen ist. . . die Zustimmung des selber erfahrenen und sachkundigen Lesers in einem ,Ja, so ist es auch'-Eindruck" (Seiffert: 26, 33).

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Piagets Beispiel zeigt, daß im „Entdeckungszusammenhang" (Zimmerli: 350) eine Inkursion geisteswissenschaftlich-philosophischer Methoden in eine strenge Wissenschaft (in die „wissenschaftliche Psychologie") sehr wohl stattfinden kann. (In einer anderen Hinsicht - darüber wird weiter unten noch die Rede sein - geht es dabei nicht bloß um „kann", sondern nachgerade um „muß".) Sofern also der eigentliche Grund für die Vernachlässigung des Füruns in der Annahme liegt, Aussagen darüber seien intersubjektiv nicht prüfbar, so geschieht diese Vernachlässigung von wissenschaftstheoretischem Standpunkt aus zu Unrecht: außer wenn man sich an die (mitunter wohl pedantische) Forderung der Formalisierbarkeit klammert, läßt sich im Zusammenhang mit der Literatur und dem Literarischen durchaus sinnvoll, d. h. wissenschaftlich vertretbar über Inhaltliches und Seelisches reden. Ob solcherlei im Literarischen überhaupt eine Rolle spielt und wenn ja, welche; wie sich ein bestimmter Inhalt phänomenal präsentiert — hierüber zumindest läßt sich unter Kundigen rational diskutieren: dem verbalisierten Ergebnis von Introspektion kann man aufgrund eigener innerer Erfahrung zustimmen oder auch nicht. Mehr an Objektivität ist nicht möglich, doch ist dies viel genug, um darauf — gerade im Namen einer auf Intersubjektivität bedachten Wissenschaft - nicht verzichten zu können. Prinzipiell ähnlich verhält es sich in diesem Zusammenhang mit dem Metaphysischen, indem auch dieses aus erkenntnistheoretischen Erwägungen heraus aus der formalistischen Diskussion ausgeschlossen wird und auch dies zu Unrecht. Selbstverständlich besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Ausklammerungen, da ja das Metaphysische überhaupt nicht, nicht einmal innerlich, zur unmittelbaren Gegebenheit gebracht werden kann und daher metaphysische Aussagen weder widerlegbar noch beweisbar, kurz: unprüfbar sind (Popper 1963:196 f.). Gleichwohl sind auch solche Aussagen rational diskutierbar (Popper 1974: 53), d. h. auch sie lassen sich in eine (wie auch vermittelte) Beziehung zur Erfahrung bringen. Dies geschieht so, daß man sie zu den Problemen in Beziehung setzt, die sie lösen wollen (Popper 1963:199). Diese Probleme ergeben sich

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Rückblick

(bei wissenschaftlich sinnvollem Vorgehen) aus der Empirie: es ist etwas „da", was nach Erklärung heischt. (Etwa: formale und inhaltliche Äquivalenzen sind rekurrente Kennzeichen der Literatur und sie sind ästhetisch. Warum? - Solche Aussagen gelten selbstverständlich nicht als absolute Wahrheit: sie sind bloß mehr oder weniger gut bestätigt durch die Empirie.) Es soll nun eine metaphysische Hypothese vorgeschlagen werden können, mit deren Hilfe das Explanandum „plausibel" oder adäquat erklärt werden kann. („Plausibel" wird dabei eine Lösung genannt, die alle Momente des Explanandums möglichst einfach zu erklären vermag, ohne dabei logische Fehler zu begehen und durch die [innere] Erfahrung schlecht bestätigte Sätze zu Hilfe zu ziehen.) In diesem Fall verhält sich die Sache so: Wir haben einerseits das Explanandum, das - nehmen wir an - durdi Erfahrung verhältnismäßig gut gesichert ist (1. Einschlag der Empirie), andererseits ein plausibles Explanans, das - als solches — durch empirisch gut bestätigte Hilfssätze gestützt ist (2. Einschlag der Empirie). Dies in sich, als Erklärung einer einzigen Art (ästhetischen) Phänomens, genügt nun allerdings nicht, um die fragliche Hypothese relativ wahrheitsähnlich zu machen, denn das gleiche Explanandum kann durch einander widersprechende Hypothesen gleich plausibel „erklärt" werden (Stegmüller: 85). Aber wenn möglichst viele verschieden geartete (ästhetische) Phänomene mit Hilfe der vorgeschlagenen Hypothese plausibel erklärt werden können, mit Hilfe der konkurrierenden Hypothesen indessen nur vereinzelte, so erweist sich erstere als wahrheitsähnlicher als die letzteren, denn angesichts der Ökonomie der Natur (auch was die Zahl ihrer Prinzipien betrifft) ist es unwahrscheinlich, daß (ceteris paribus) Vielerlei durch Vieles und nicht durch Eines begründet sei. Hieraus folgt, daß bei der Erklärung empirischer Phänomene nötigenfalls sehr wohl auf Metaphysisches zurückgegriffen werden kann, denn gerade durch einen solchen Rückgriff werden metaphysische Hypothesen wissenschaftlich „salonfähig", d. h. kritisch diskutierbar: läßt man sie außer acht, so kann man nicht wissen, ob man sie zu Recht außer acht gelassen hat. Auch hier gilt das Prinzip

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der „empirischen" Prüfung und der Absage an jeglichen Dogmatismus: erst durch die Einbeziehung metaphysischer Annahmen in die wissenschaftliche Argumentation, in den konkreten Problemzusammenhang (3. Einschlag der Empirie) läßt sich über deren jeweiligen Wert oder Unwert ein wissenschaftlich vertretbares Urteil fällen. Zu dieser Einbeziehung gehört allerdings das Durchsichtig-Machen von Argumentationstechnik und Voraussetzungreservoir, wodurch diskursiv kontrolliert werden kann, was zuvor möglicherweise nur intuitiv festgestellt wurde: ob nämlich die gegebene Erklärung des fraglichen Phönomens plausibel ist oder nicht. Dies soll in unserem Fall für den Schluß aufgespart bleiben. 5.2.2.2. Formalistischer „Verrat" am szientistischen Ideal Neben seiner (zum Teil fragwürdigen) Treue zum Szientismus übt der Formalismus in gewisser Beziehung auch „Verrat" an ihm, indem er einerseits bestimmte, vom Szientismus bekämpfte Positionen stillschweigend akzeptiert (dies wäre das Gute an dieser Inkonsequenz), andererseits in manchen Fällen dem Ideal der Wissenschaftlichkeit nicht Genüge tut (was als schlechte Inkonsequenz zu werten wäre). 5.2.2.2.1. Das Gute am „Verrat" Hierher gehört vor allem die Tatsache, daß die MFL gewisse traditionelle, nur mentalistisch faßbare literaturtheoretische und ästhetische Begriffe übernimmt und umbenennt. So sind etwa die Bezeichnungen „Isomorphie", „Homologie", „inhaltliche Äquivalenz" (ja zum Teil auch „Konnotation") in ihrer literaturtheoretischen Verwendung bloß neue Namen für den alten Begriff der Transparenz, der „Durchsichtigkeit" der Form auf den Inhalt; wie ja auch „Aktualisieren", „Entautomatisieren" bzw. „Reflexivität" (im allgemeinen Sinn) nur andere Worte für die integrale Schau bzw. für die „Zweckfreiheit" des Kunstwerks sind. Durch diese (zum Teil wohl unbewußte) Praxis des Umtaufens geschieht im Grunde zweierlei: einerseits wird damit die Legitimität des Mentalismus von der MFL implizite anerkannt, andererseits erweist sich die Zäsur zwischen traditionellem und formalistischem

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Rückblick

Gedankengut als doch nicht so markant, wie es manche Vertreter der MFL wahrhaben möchten. Eine Überleitung zur „schlechten" Inkonsequenz verschafft uns Birkhoffs Formel, die — wie erinnerlich — besagt, daß das „ästhetische Maß" direkt mit der Ordnung und indirekt mit der Komplexität proportional sei. Sie gehört insofern noch in diesen Abschnitt, als sie augenfällig macht, daß auch ein mathematisierender Formalismus nicht ohne Intuition auskommen kann. Denn gerade dieses Verhältnis zwischen Ordnung und Komplexität drängt sich von der Erfahrung her durchaus nicht auf (in der Tat hatte — wie wir in 1.2.2.1. gesehen haben - Francis Hutcheson eine andersartige Formel aufgestellt, in der die „Schönheit" auch von der Komplexität direkt abhängt); auch hatte Birkhoff nicht zuerst „experimentiert" und dann seine Formel aufgestellt, sondern umgekehrt. (Über die fragwürdige „experimentelle Bestätigung seiner ästhetischen Formel" siehe Gunzenhäuser 1962: 54 f.) Daraus folgt, daß Birkhoff bei der Konzipierung seiner Formel eine intuitive Entscheidung traf. U m Mißverständnissen vorzubeugen: Intuition muß durchaus nicht absolute Unmittelbarkeit bedeuten (möglicherweise gibt es auch nichts dergleichen; vgl. Poppers M u t m a ß u n g : „es gibt kein Sinnesorgan, in das nicht antizipierende Theorien genetisch eingebaut w ä r e n " [1974: 86]); das heißt: Erfahrung, unsere „Vergangenheit", mag sehr wohl in unsere Intuitionen mit hineinspielen, so daß sie nicht nur auf „Mitgebrachtem", auf „Begabung", sondern auch auf Schlüssen aufbauen. Aber erstens ist intuitives Denken gleichwohl nicht diskursiv, sondern erlebnismäßig momentan, und zweitens h a t es eine irrationale, d. h. aus E r f a h rung (mit Logik) nicht ableitbare Komponente, nämlich die schöpferische Einsicht, welche „die Situation durchschaut" (Seiffert: 25): sie vermag Begegnendes (wesenbestimmend oder erklärend) unter dieses oder jenes Allgemeine (Begriff oder Gesetz) zu subsumieren oder gar Einmaliges zu erfassen. D a auf dem gleichen Gebiet praktischer oder theoretischer Tätigkeit die Intuitionen verschiedener Individuen das, worauf es in der gegebenen Situation ankommt, mit verschiedener (freilich je zu prüfender) Genauigkeit und Tiefe treffen und da sich diese Unterschiede auch bei solchen Menschen zeigen, deren Erfahrungsgut im großen und ganzen gleich genannt werden d a r f , ist die Intuition, diese (zwar auf Erfahrung aufbauende, aber über sie hinausgehende) direkte Fühlung mit den D i n gen, empiristisch wohl nicht zu erklären.

Es wäre kaum nötig, das Beispiel Birkhoffs heranzuziehen, wenn es nicht etwa über die „materiale" Ästhetik zu lesen wäre, sie halte

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„jede intuitive, auf dem Evidenzerlebnis des einzelnen beruhende und von daher in eine Aussage über den Gehalt eines Kunstwerkes mündende Wesensschau des Künstlerischen als mit ihren Prinzipien für unvereinbar" (N. Ulrich: 185). Mit ihren Prinzipien möglicherweise, mit ihrer Praxis kaum: Hypothesenbildung (auch die formalistische) ist immer ein Akt schöpferisch-intuitiven Entwurfs: im Gesicht der Welt stehen keine Allsätze geschrieben. Sie können zwar — im Falle bereits bestehender Assoziationen — mitgemeint sein, aber je komplexer und je ungewohnter das (praktische oder theoretische) Problem ist, das wir mit einer Hypothese lösen müssen, um so mehr kommt es auf dieses Schöpferische in uns an. Nach der hochinteressanten Auffassung Zimmeriis (bes. 345, 351 f.) kann der methodologische Streit zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften zum Teil gerade durch die Einsicht beigelegt werden, daß im Entdeckungszusammenhang der von den Geisteswissenschaften mitunter bewußt-programmatisch verwendeten Methode des „Verstehens" eine allgemeinwissenschaftliche, also auch die naturwissenschaftliche Erkenntnis umfassende Bedeutung zukommt: auch der Naturwissenschaftler „versteht" die Phänomene, einerseits indem er aus seinem mitgebrachten „Hintergrundwissen" heraus (a) die Sinnesdaten als dies oder jenes deutet (d. h. unsere Beobachtungen sind je schon „theoriegetränkt" [Popper 1974: 85 f.] oder „konzeptualisiert" [Piaget 1974a: 162 f.]) und (b) die verwendete Sprache überhaupt versteht (Apel: 43 f.), andererseits gerade indem er aufgrund intuitiver Einsicht Hypothesen entwirft. Der zweite Schritt der Streitbeilegung besteht für Zimmerli im Gedanken, daß im Bestätigungs- oder Rechtfertigungszusammenhang dagegen das naturwissenschaftliche Ideal der (wie auch vermittelten) empirischen Prüfung leitend sein müsse - auch für die Geisteswissenschaften (und wie ich meine: auch für die Philosophie). Es kommt nicht darauf an, woher Erkenntnis kommt, sondern wie sie sich am Prüfstein der Erfahrung bewährt (wobei sowohl die innere Erfahrung, die Zustimmung der Urteilsfähigen, als auch die Bewährung in Problemsituationen mit zur Empirie zu rechnen wären).

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Rückblick

Für die Methodologie der Literaturwissenschaft bedeutet dies im besonderen, daß Erkenntnisse etwa über den Inhalt eines konkreten Werkes oder über das Wesen des Literarischen sehr wohl intuitiven Ursprungs sein dürfen, ohne daß darob die Wissenschaft ins Wanken geriete: wesentlich ist „bloß", daß sie sich (im weit gefaßten Sinne) empirisch legitimieren können. 5.2.2.2.2. Das Schlechte am „Verrat" Es spricht für die Wissenschaftlichkeit des literaturtheoretischen Formalismus, daß dieser Abschnitt ganz kurz gehalten werden kann und nur einzelne, vom Ganzen her gesehen zufällige Lapsus, nicht aber Prinzipielles zu kritisieren hat. Es geht hier erstens um das mehrfach erwähnte Theorem Birkhoffs, dem das (wahrhaftig nicht seltene) Mißgeschidt widerfahren ist, von der Empirie nicht bestätigt worden zu sein (vgl. Eysenck [1942: 347]: „Das Verhältnis zwischen Ordnung und Komplexität, wie es Birkhoffs Formel darstellt, läuft dem experimentell festgestellten Sachverhalt zuwider"). Dies wäre weiter nicht schlimm: falsche Theorien haben das Gute, daß durch ihre Falsifizierung die Wissenschaft einen Schritt weiterkommt (siehe gerade die diesbezüglichen Arbeiten Eysencks). Das Schlimme ist, daß auf Birkhoffs empirisch widerlegter Hypothese nach wie vor ganze Theorie-Gebäude errichtet werden (so vornehmlich von Bense [1965 a: 322f.; 1965 b: 31 ff.; 1969: 43 ff.] und Gunzenhäuser [1962; 1968; 1971]). Das wissenschaftliche Ungenügen dieser Praxis bedarf keiner Erläuterung. Der zweite Punkt, der einen Abfall des Formalismus vom eigenen Ideal der Wissenschaftlichkeit markiert, tritt sporadisch bei der Bestimmung des Literarischen in Erscheinung, wenn nämlich gewisse Merkmale als notwendige, ja hinreichende Bedingungen des Literarischen hingestellt werden, obwohl sie weder das eine noch das andere sind. So hat sich etwa gezeigt, daß Abweichung das Literarische nicht notwendig charakterisiert, da sie in bezug auf die Vorkommens- und Übergangswahrscheinlichkeit der verwendeten Worte sowie bei den angewandten Kunstmitteln als Merkmal fehlen kann.

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Auch über die Reflexivität konnte ein gleiches nachgewiesen werden: zumindest als Mittel der (notwendigen) Bewußtmachung von Künstlichkeit und Können ist sie entbehrlich: Künstlichkeit kann uns durch manche Konvention, Können gerade durch das Verstecken des Kunstmittels bewußt gemacht werden. Als vollends unhaltbar erwies sich die Ineinssetzung von Reflexivität und „Literalität": gesetzt nämlich, daß Reflexivität notwendig wäre: eine hinreichende Bedingung des Literarischen wäre sie auch in diesem Fall nicht: das Literarische, wie überhaupt das Künstlerische, ist ohne das komplementäre Prinzip der Illusion nicht denkbar.

5.2.3. Die methodologische Antwort auf die Herausforderung des Formalismus Die wissenschaftstheoretischen Folgerungen aus der vorangegangenen Diskussion liegen auf der Hand. Distanzieren muß man sich von der Einseitigkeit des Formalismus, die aus seinen Selbsteinschränkungen resultiert; diese haben sich nämlich gleich in zweifacher Hinsicht als unnötig erwiesen: zum einen wird intuitive Erkenntnis, die manches an Mentalem und Metaphysischem aufschließt, ungewußt auch von den Formalisten praktiziert, - was unumgänglich ist, darf aber auch bewußt getan werden; zum anderen können auch Aussagen über Mentales und Metaphysisches (zwar nur durch Urteilsfähige bzw. nur über die Vermittlung von Problemsituationen) einer Art empirischer Prüfung unterworfen werden. Übernehmen muß man vom Formalismus (letztlich von den Naturwissenschaften) gerade diesen hohen Anspruch empirischer Prüfbarkeit, wenn anders man nicht in spielerischen Unverbindlichkeiten verharren will. Die Frage ist indessen, wie man für eine solche Prüfbarkeit sorgen kann. Mir scheint, daß wenigstens eine mögliche Methode einem durch das Poppersche Ethos wissenschaftlicher Argumentation nahegelegt wird, welches man etwa in folgende Maxime fassen kann: „Gib dir alle erdenkliche Blöße; zeige genau, wo Angriffe auf dich ansetzen

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Rückblick

können, denn je leichter die Kritik, um so schneller und sicherer kommt die Wissenschaft voran." Vgl. Poppers Äußerung über die Vorphase, jene der Selbstkritik, welche vom gleichen Ethos getragen ist: „Wir können uns nie absolute Sicherheit verschaffen, daß unsere Theorie nidit hinfällig ist. Alles, was wir tun können, ist, nach dem Falschheitsgehalt unserer besten Theorie zu fahnden. Das tun wir, indem wir sie zu widerlegen versuchen" ( 1 9 7 4 : 96). Mehr in die von uns hier einzuschlagende Richtung weist der Ausspruch, wonach „die Objektivität . . . jeder Wissenschaft auf der Kritisierbarkeit ihrer Argumente" beruhe (ebd. 155). Das gleiche Prinzip gehört übrigens auch zum Ethos echt demokratischer Führung, nach der Maxime: „Lege die Gründe deiner politischen Entscheidungen bloß, damit diese ,von unten' berichtigt werden können." Ob es also darum geht, die Wahrheit zu finden oder das praktisch Richtige: man soll so handeln, daß Widerstand möglich ist.

Im Sinne dieser Auffassung soll abschließend der Versuch gemacht werden, die logische Struktur und die Voraussetzungen eines der Hauptargumente dieser Arbeit durchsichtig zu machen, desjenigen nämlich, welches beweisen sollte, daß die von den Formalisten herausgestellten Wesensmerkmale des Literarischen von ihrem Sinn her nur mittels der hier vorgeschlagenen ästhetisch-metaphysischen Hypothese begründet werden können. Zunächst sollen die vier hauptsächlichen Ansatzpunkte einer möglichen Kritik aufgezeigt werden, die jede Behauptung erfassen kann, welche die allgemeine Form hat: „X ist vom Sinn her nur metaphysisch und nur mit dieser metaphysischen Hypothese zu begründen." Dabei ist X entweder irgendein ästhetischer Gegenstand oder irgendeine Eigenschaft eines ästhetischen Gegenstandes bzw. des ästhetisch rezipierenden Bewußtseins. Diese Eigenschaft wird als Bedingung dessen angesehen, daß ein Gegenstand als ästhetisch erlebt werde. Zu diesen Eigenschaften gehören die soeben erwähnten Wesensmerkmale des Literarischen.

Diese Behauptung ist nun wahr, es sei denn, 1) man kann an X weitere, von der gegebenen Hypothese nicht erfaßte Momente aufzeigen; 2) man kann zwar das nicht, aber man kann eine Hypothese vorschlagen, die alle Momente erklärt und empirisch besser gesichert ist; 3) man kann zwar das auch nicht, aber man kann eine andere metaphysische Hypothese vorschlagen, die (a) mehr Probleme (b) vollständiger und (c) einfacher löst als diese;

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4) man kann zwar auch das nidit, aber man kann aufzeigen, daß die verwendete Argumentationsweise falsch ist. Diese letztere hatte nun in unserem Fall folgende allgemeine Form: (1) Das (objektiv) Ästhetische ist wesentlich (scheinbare) Freiheitin-der-Sinnlichkeit (Fr-i-S), daher Metaphysisches ( = sein Wesen Verbergendes, denn es wird nicht als Freiheit erlebt); (2) Kunstwerke sind (primär) da, um ästhetisch zu wirken; (3) X läßt sich als Fr-i-S oder als Bedingung von Fr-i-S interpretieren (wir kürzen um das Wort „scheinbare"); (4) X ist eine Beziehung am Kunstwerk; folglich (5) ist X so, wie es ist, damit Fr-i-S, d. h. Metaphysisches entstehe. Diese Schlußfigur ist aufteilbar in folgende drei Syllogismen: 1. Syllogismus: (1) Das Ästhetische ist Fr-i-S, daher Metaphysisches; (3) X läßt sich als Fr-i-S oder als deren Bedingung interpretieren; folglich (6) ist X wesentlich ästhetisch, das heißt metaphysisch, oder Bedingung von Ästhetischem, d. h. Metaphysischem. 2. Syllogismus: (2) Kunstwerke sind da, um ästhetisch zu wirken (wir kürzen um „primär"); (4) X ist eine Beziehung am Kunstwerk; folglich (7) ist X da, um ästhetisch zu wirken oder Ästhetisches zu erwirken, d. h. um seiner direkten oder indirekten Ästhetizität willen. 3. Syllogismus: (7) X ist um seiner Ästhetizität willen da; (1) Ästhetizität besteht in Metaphysischem; folglich (8) ist X da um eines metaphysischen Zieles willen, oder anders: (9) X ist da, um das Metaphysische an ihm wirken zu lassen bzw. Metaphysisches zu erwirken,

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Rückblick

oder wiederum anders: (5) X ist so, wie es ist, damit Metaphysisches (Fr-i-S) entstehe. Quod erat demonstrandum. Dabei ist (3) wahr, das heißt (A) X (das will hier besagen: irgendein ästhetischer Gegenstand) ist als Fr-i-S interpretierbar, (a) insofern empirisch kein Vonaußenbestimmtsein an ihm aufzeigbar ist und (b) keine weiteren relevanten Momente an ihm aufzeigbar sind (d. h. solche, die seine bei der Interpretation berücksichtigten ästhetischen Merkmale ergänzen oder tiefer begründen), und (im speziellen) (c) insofern seiner besonderen Form keine (von seinem Allgemeinen unabhängige) ästhetische Bedeutung zugeschrieben werden kann; (B) X (das heißt hier: eine Eigenschaft eines ästhetischen Gegenstandes oder des ästhetisch rezipierenden Bewußtseins) ist als Bedingung von Fr-i-S zu interpretieren, wenn (a) hinsichtlich des von ihm Bedingten die drei Bedingungen unter (A) erfüllt sind und (b) ihm selber keine andere ästhetische Funktion zugeschrieben werden kann. Schließlich ist (1) wahr, (a) nach Maßgabe der Zahl jener ästhetisdien Phänomene, die aufgrund der drei Punkte unter (A) als Fr-i-S interpretiert werden können, oder - nach dem Prinzip der Falsifikation (b) insofern bis zum gegebenen Zeitpunkt kein offenkundig ästhetisches Phänomen gefunden werden konnte, bei dem nicht alle drei dieser Bedingungen erfüllt gewesen wären. — Diese Reflexion auf die eigene Methode sollte eine Möglichkeit aufzeigen, wie auf die methodologische Herausforderung des Formalismus positiv reagiert werden kann: durch durchsichtiges, kritisierbares, „objektiviertes" Argumentieren. Die negative Seite dieser Reaktion - dies sei zuletzt noch kurz in Erinnerung gerufen - besteht

Kritisches zum informationstheoretisdien Ansatz

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darin, daß man im Gegensatz zum Formalismus bemüht ist, das Literarische in dessen Totalität zu behandeln, indem man - durch unbegründete methodologische Skrupeln unbeirrt - möglichst alle Momente des Ansich und des Füruns des Literarischen erfaßt.

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Namensregister

Horaz 157 Hume, D. 105 Husserl, E. 3, 68, 171 Hutdieson, F. 44, 224 Ihwe, J. 74-77,122, 123, 125 Ingarden, R. 1, 2, 13, 31, 43, 82, 163, 210,211,217,219 Ingold, F. Ph. 3 Jakobson, R. 4, 5, 8, 15, 16, 32, 63, 64, 70, 80, 81, 85, 94, 99, 117, 127, 130, 134-140, 170, 178, 183, 184, 191 James, H . 150,151 Joyce, J. 171 Kafka, F. 36, 82 Kant, I. 3, 56, 98, 153, 186-189 Kayser, W. 107,108 Kiessling, A. 157 Kiparsky, P. 121 Knauer, K. 214 Krampf, W. 7,90,214,215 Kreuzer, H. 213 Kruszewski, M. 134 Landon, G. M. 49, 145 Langer, S. K. 10, 11, 133, 158, 159, 174 Lausberg, H . 52 Lersch, Ph. 174-176 Lévi-Strauss, C. 4, 5, 8-10, 12 Levin, S . R . 164 Levy, J. 93, 217 Locke, J. 215 Lotman, J. M. 12, 13, 15, 33-37, 39-41, 60, 64-67, 70-73, 94, 95, 99, 100, 113-115, 130, 131, 145, 196-200, 202, 207-210 Lüdtke, H . 152, 218 Lukacs, G. 80, 103, 105,149,159, 198 Mach, E. 7 Mann, Th. 143, 148 Marti, K. 111 Maser, S. 43, 58

McChesney, D. 171 Moles, A. A. 20, 21, 23, 30-32, 45-47, 63, 85, 214 Molière 208 Morris, Ch. W. 64, 65 Motschmann, J. 85 Mozart, W. A. 58,59 Mukafovsky, J. 9, 10, 15, 16, 67, 70, 85, 94,114,163,170, 183, 188 Musil, R. 173 Naumann, H . 87 Németh, L. 80,200-202 Neumann, F . W . 15 Peters, W. A. M. 170,195 Pfeiffer, G. 24, 26, 42, 61 Piaget, J. 3,10, 85, 92, 93,157, 220, 221, 225 Plato 3, 118 Plautus 38 Poincaré, H . 7 Pope, A. 160 Popper, K. R. 41, 161, 219, 221, 224, 225, 227, 228 Posner, R. 5, 139, 141-143, 145, 186 Propp, V. 4,9, 10 Quine, W. O. 138 Quintilian 52 Ransom, J. C. 54, 194-197, 204 Riffaterre, M. 5, 8, 140, 143 Ruwet, N. 63, 91 Saussure, F. 2, 65, 85, 87-89, 99, 120, 121, 135, 207, 208 Sceglov, J. 122,125 Schiller, F. 54, 55, 204 Schiwy, G. 3 Schmidt, S. J. 34, 69, 74,133, 213 Schramm, G. 15, 80 Schulte, G. 24, 26, 43 Seiffert, H. 220,224 Shakespeare, W. 23, 38, 60, 61, 82, 99, 109, 110, 112

Namensregister Simon-Schaefer, R. 211 Sklovskij, V. 4, 15, 94,114, 115, 162, 165-172, 180, 193-195 Standop, E. 97 Stegmuller, W. 222 Steinbeck, J. 142,143, 148 Stender-Petersen, A. 76-79,190 Sterne, L. 97, 98, 106, 107,113, 168 Striedter, J. 6, 181 Sudiier, W. 40 Szerdahelyi, I. 136, 137 Tate, A. 195,196 Todorov, T. 15, 49, 50, 75, 116,117, 141, 180, 185, 186 Trakl, G. 177 Trotzkij, L. 13 Trubetzkoy, N . 85, 87-91, 99 Tynjanov, J. 114, 115, 167

Ulrich, N . 213,214,225 Ulrich, W. 134,135 Vergil 141, 142 Vivas, E. 187 Warren, A. 14, 19, 170 Wellek, R. 3, 9,14, 19, 20, 94, 163 Wellershoff, D. 106 Werner, H . 171, 172, 174 Wheelwright, Ph. 184 Willcock, G. D. 61 Wolfram von Eschenbach 173 Zimmerli, W. Ch. 221,225 Zirmunskij, V. 11, 12, 115, 166, 167 Zolkovskij, A. K. 122, 125

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Walter de Gruyter Berlin • New York Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker Neue Folge. Groß-Oktav. Ganzleinen zuletzt erschienen: R . Bruder

Die germanische Frau im Lichte der Runeninschriften und der antiken Historiographie X , 192 Seiten. 1974. D M 88,- I S B N 3 1 1 004152 9 (N. F. 57/181)

R . Zeller

Spiel und Konversation im Barock Untersuchungen zu Harsdörffers „Gesprächsspielen" X , 198 Seiten. Mit 1 Faksimile. 1974. D M 68,I S B N 3 1 1 004245 z (N. F. 58/182)

W . Wetzeis

Johann Wilhelm Ritter: Physik im Wirkungsfeld der deutschen Romantik X I I , 139 Seiten. 1973. D M 48,- I S B N 3 1 1 003815 3 (N. F. 59/183)

E . Nyffenegger

Cristän der Kuchimaister

R . Hildebrandt (Herausgeber)

Summarium Heinrici

W . Pape

Nüwe Casus Monasterii Sancti Galli Edition und sprachgeschichtliche Einordnung X I I , 232 Seiten. 1974. D M 124,- I S B N 3 1 1 004098 0 (N. F. 60/184)

Band 1 : Textkritische Ausgabe der ersten Fassung Buch I - X X L I V , 404 Seiten. Mit 16 Seiten Faksimile. 1974. D M 196,- I S B N 3 1 1 003750 5 (N. F. 61/185)

Joachim Ringelnatz Parodie und Selbstparodie in Leben und Werk Mit einer Joachim-Ringelnatz-Bibliographie und einem Verzeichnis seiner Briefe X I V , 457 Seiten. 1974. D M 86,- I S B N 3 1 1 004483 8 (N. F. 62/186) Preisänderungen vorbehalten

Walter de Gruyter Berlin • New York Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker Neue Folge. Groß-Oktav. Ganzleinen

E. Gotti

zuletzt erschienen:

Die gotischen Bewegungsverben Ein Beitrag zur Erforschung des gotischen Wortschatzes mit einem Ausblick auf Wulfilas Ubersetzungstechnik X I I , 155 Seiten. 1974. D M 86,- I S B N 3 11 004331 9 ( N . F. 63/187)

F. Trapp

»Kunst« als Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftskritik bei Heinrich Mann VI, 328 Seiten. 1975. D M 82,- I S B N 3 11 005968 1 ( N . F. 64/188)

M. Schräder

Mimesis und Poiesis Poetologische Studien zum Bildungsroman X I I , 367 Seiten. 1975. D M 72,- I S B N 3 1 1 005904 5 ( N . F. 65/189)

F. Spicker

Deutsche Wanderer-, Vagabunden- und Vagantenlyrik in den Jahren 1 9 1 0 - 1 9 3 3 Wege zum Heil - Straßen der Flucht X I I , 346 Seiten. 1976. D M 98,- I S B N 3 u 004936 8 ( N . F. 66/190)

E. M. Dahms

Zeit und Zeiterlebnis in den Werken Max Frischs Bedeutung und technische Darstellung X I I , 209 Seiten. 1976. D M 64,- I S B N 3 11 006679 3 ( N . F. 67/191)

V. Doebele-Flügel

Die Lerche Motivgeschichtliche Untersuchung zur deutschen Literatur, insbesondere zur deutschen L y r i k VIII, 488 Seiten. 1977. D M 9 8 - I S B N 3 11 0059096 ( N . F. 68/192) Preisänderungen vorbehalten