155 105 1MB
German Pages 16 [17] Year 1928
SITZUNGSBERICHTE
1927. xxvm
DER PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN. Sitzung der philosophisch-historischen Klasse vom 10. November. Mitteilung vom 27. Oktober.
Das Kalliasdekret. ERNST FABRICIÜS
zum 70. Geburtstag dargebracht
Von Prof.
W . KOLBE in Freiburg i. B.
Sonderabdruck.
Verlag der Akademie der Wissenschaften. In Kommission bei Walter de Gruyter u. Co. (Preis MM 1.—)
319
Das Kalliasdekret. ERNST FABRICIUS
zum 70. Geburtstag dargebracht.
Von Prof.
W .
KOLBE
in Freiburg i. B.
(Vorgelegt von Hrn.
VON W I L AMO WITZ-MOELLEN DORFI .)
ö e i t den Tagen A U G U S T B O E C K H S 1 ist die Frage nach .der zeitlichen Ansetzung und Auswertung des Kalliasdekrets nicht zum Stillstand gekommen. Die von ihm aufgestellte These, daß die Urkunde in die Zeit n a c h dem N i k i a s f r i e d e n gesetzt werden müsse, fand in K I R C H H O F F 2 einen scharfsinnigen Gegner. Dann aber erstand ihr in J U L I U S B E L O C H 3 ein ebenso beredter, wie leidenschaftlicher Vorkämpfer. K I R C I I H O F F S Untersuchung führte zu dem Ergebnis, daß unser Dekret und damit auch die Reorganisation eines wichtigen Zweiges des attischen Finanzwesens noch in die Zeit vor A u s b r u c h des P e l o p o n n e s i s c h e n K r i e g e s — genauer ins Jahr 435/4 — gehöre. Die gleiche Meinung hat kein Geringerer als E D U A R D M E Y E R 4 gegenüber den BELOCHSchen Angriffen mit besonderem Nachdruck vertreten. So standen sich Jahrzehnte hindurch die Ansichten der Gelehrten u n versöhnlich gegenüber. Bei dieser Sachlage konnte die resignierte Meinung aufkommen, daß es unmöglich sei, zu einer wirklich gesicherten Datierung und Auswertung der wichtigen Urkunde zu gelangen. Indessen seit einigen Jahren beginnt die Forschung sich wieder in erhöhtem Maße unserem Texte zuzuwenden. Zuerst hat sich A D O L F W I L H E L M 5 mit nie ermüdender Sorgfalt um die Wiederherstellung des scheinbar heillos verstümmelten Anfangs der Inschrift auf der Rückseite (B) bemüht, dann versuchte sich B A N N I E R " an der Ergänzung und Datierung des Textes. Vor allem aber erschien 1924 die editio minor des I. Bandes des Corpus7, die dank der überlegenen Sachkenntnis von H I L L E R und K I R C H N E R in zahllosen Fällen einen großen Fortschritt bedeutete. So auch in dem unsrigen. Indem diese Publikation das Kalliasdekret wie die verschiedenen Klassen von Übergabsurkunden in einer zuverBOECKH, Staatshaush. I 3 5280., II 3 41 ff. KIRCHHOFF, Abb. d. Berl. Akad. 1864, 8ff., 1876, 2 i f f . 3 BELOCH, Rhein. Mus. X L I I I 1888, 1 1 3 : Griech. Gesch. II 2 1 1922, 344. 4 ED. MEYER, Forschungen II 1899, 88 ff. 5 Sitzungsber. d. Wien. Akad. 1901, Anzeiger vom 10. Juli, Nr. X V I I I . 6 BANNIER, Rhein. Mus. L X X 1915, 397ff. und nach dem Erscheinen von IIir.r.i:i;s Publikation ebenda. L X X V 1926, 184ff. ' I G I 3 (editio minor) 1924 ed. HILLER V. GÄRTRINGEN. 1
2
Sitzungsber.phil.-bist. Ki. 1027.
(1)
320
Sitzung der phil.-hist. Klasse vom 10. November 1927. — Mitteilung vom 27. Oktober
lässigen, dem jetzigen Stande der Forschung entsprechenden Form vorlegte, stellte sie den Fachgenossen geradezu die Aufgabe, erneut an das Problem, das noch heute das Kalliasdekret bietet, heranzutreten. Täusche ich mich nicht, so bietet sich heute wirklich die Möglichkeit, die Frage ein wenig zu fördern. B O E C K H und B E L O C H haben in ihrem Vorgehen das gemeinsam, daß sie. von einer allgemeinen Erwägung ausgehen, nämlich von der Vorstellung, daß es unmöglich sei, das Kalliasdekret in der V o r k r i e g s z e i t anzusetzen, weil sich die athenischen Finanzen damals dauernd in blühendem Zustand befanden. So sagte B O E C K I I (Staatshs. I I 3 56): »nun scheint es n a c h d e r G e s c h i c h t e d e s S c h a t z e s 1 , der Volksbeschluß über die Zurückzahlung der Schulden sei ol. 90, 2 (419/8) geschrieben«; und bei B E L O C H heißt es (Gr. Gesch. I I 2% 350): »(es sei) gar nicht abzusehen, zu welchem Zweck in jenen Jahren (d. h. vor dem Kriege) eine große Schuld hätte aufgenommen werden sollen«. Vielleicht noch bezeichnender ist es aber, daß BELOCH a. a. 0., nachdem er sich mit den Gründen von KIRCHHOFF und E D U A R D M E Y E R , die sich auf die aus der Urkunde selbst gewonnenen Einzel tatsachen stützten, auseinandergesetzt hat, seine Beweisführung mit den Worten zum Abschluß bringt: »Doch das alles sind Nebenpunkte; die H a u p t s a c h e ist, daß Athen i m A n f a n g d e s K r i e g e s s i c h in b l ü h e n d e r F i n a n z l a g e b e f a n d . « Es l ä ß t . s i c h nicht wegleugnen, daß beide Gelehrte sich in einem Kreise bewegen: erst wird das Kalliasdekret im Hinblick auf die Lage der Finanzen in die Zeit des Nikiasfriedens datiert, und sodann wird die Inschrift benutzt, um die Geschichte des Schatzes aufzuhellen. Dieser Methode, die am deutlichsten bei BELOCH in die Erscheinung tritt, vermag ich nicht zu folgen. Es erscheint mir heute mehr denn j e als erste Pflicht der Wissenschaft, von dem festen Fundament der gegebenen Tatsachen auszugehen; wir müssen also mit der Interpretation der Urkunden beginnen, und erst dann, wenn es gelungen ist, sichere Anhaltspunkte für die Datierung des (oder der) Dekretes zu gewinnen, wird der Zeitpunkt gekommen sein, das Problem der Geschichte des Schatzes von neuem in Angriff zu nehmen.
A. a. An die Spitze stelle ich die Frage nach der Schaffung der Behörde d e r Ta.fi'ai
TS>V aXXwv Oewv.
In Z. 7 — 1 3 w i r d a n g e o r d n e t , d a ß d i e L o g i s t e n
die den »anderen Göttern« geschuldeten Summen berechnen und daß die Prytanen sie zurückzahlen sollen. Dadurch wird ein »Schatz der (anderen) Götter«
(Z. 26 r a
TWV Oewv, Z. 5 6 r a
rwv aXXwv dewv)
zusammengebracht.
Daß es einen solchen zur Zeit des Beschlusses noch nicht gibt, daß wir es also mit der e r s t m a l i g e n E i n s e t z u n g d e s K o l l e g i u m s zu tun haben, haben K I R C H H O F F und E D . M E Y E R aus dem Umstände geschlossen, daß nach Z. 12 f. die Quittungen über die geschuldeten Summen von den Priestern und Hieropoioi beigebracht werden sollen, die, wie ohne weiteres einleuchtet, Angehörige der Tempelverwaltungen der »einzelnen« Götter sind. B E L O C H hat '
V o n m i r gesperrt.
W . KOLBE: Das Kallias'dekret
321
diese Auffassung im Rhein. Mus. XLIII 1888, 119 und mit besonderem Nachdruck Griech. Gesch. II 22 354-ff. bekämpft. Denn Tliuk. II 13 beweise, daß sich beim Beginn des Krieges noch »ansehnliche Schätze (xpripara OVK öXiya) in den Tempeln außerhalb der Akropolis« befanden; erst beim Einfall der Peloponnesier im Jahre 431 habe man die verschiedenen Schätze auf der Burg in Sicherheit gebracht und ein p r o v i s o r i s c h e s Schatzmeisterkollegium von 5 Mitgliedern gebildet, das durch Kallias' Antrag, als man nach dem Nikiasfrieden das Provisorium in ein Definitivum umwandelte, auf 1 o Tapiai gebracht worden sei. Gegen diese Hypothese, die reichlich künstlich, um nicht zu sagen gekünstelt, erscheint, ist zunächst zu sagen, daß sie sich nicht auf Tliuk. II 13 berufen kann. Mit keinem Wort ist dort gesagt, daß sich die Schätze außerhalb der Burg befinden. Der Schriftsteller führt in seiner Übersicht über die Finanzlage zunächst die regelmäßigen Jahreseinkünfte von 600 Talenten an, dann den Schatz von 6000 Talenten gemünzten Geldes und die in ungemünztem Edelmetall vorhandenen Werte an Weihgeschenken und Prozessionsgeräten in Höhe von 500 Talenten, en Se KCU r a e/c TWV äXXwv iepwv TrpocreTtOei XPQPATA, d. h. ferner fügte (Perikles) die »aus den anderen Heiligtümern herrührenden Gelder« hinzu. Auch diese sind sofort greifbar, wie der Zusatz beweist: oTs xpqcreo-Oai avTovs, Kai 'rjv iravu e^EIPYWVTCU irävTwv, Kai avrrjs Trjs Oeov TOIS irepiKeipevois xpvcrtois. Hätte nun B e l o c h mit seiner Deutung recht, so müßte Thukydides geschrieben haben: ert Se Kai t o e(i>) t ( O T S ) aXX(ois) iep(ois) irpocreTidei jpripara, wie er ja unmittelbar vorher in § 3 geschrieben hatte: virap^övTwv ev rrj aKpoiriXei. Da er sich aber des Ausdrucks r a ¿K TWV aXXwv iepwv %pripara bedient, so sagt er damit, daß diese Gelder bereits aus den Heiligtümern nach Athen übergeführt sind und sich innerhalb der Stadt, vermutlich auf der Akropolis, befinden. Zum zweiten ist bei der Belociischen Hypothese anstößig — und dieses Argument dürfte durchschlagende Kraft haben — , daß die Quittungen der einzelnen Tempelverwaltungen benötigt werden, um die Höhe der ausgeliehenen Gelder festzustellen. Nehmen wir mit B e l o c h ein provisorisches Kollegium der ,rapiai TWV Qewv an, so ist die gegebene Konsequenz die, daß diese Tapiai den Organen der verschiedenen Tempelverwaltungen Quittungen über die Höhe der abgelieferten Summen ausstellten, sowie daß ihre eigenen Buchungen über alle aus dem Fonds gemachten Zahlungen Auskunft gaben. Mithin war es, als man zur Aufstellung einer Generalübersicht über die aus dem Zentralfonds ausgeliehenen Summen schritt, unter Zugrundelegung von Belochs Hypothese eben n i c h t notwendig, auf die iepeTs und ieponoioi der Einzelverwaltungen zurückzugreifen und von ihnen die Vorlegung der iriv&Kia und 7 p a p p a r e i a zu verlangen. Wenn Kallias dies doch tat, so kann das nur darin seinen Grund gehabt haben, daß es ein provisorisches Schatzmeisterkollegium noch nicht gab. Auch die Anordnung Z. 13 f.: Taplas Se äiroKvapeveiv TOTOV TOV xpepärov spricht gegen Beloch. Denn wenn es vor dem Kalliasdekret bereits rapiai TWV ä. dewv gegeben hätte, müßte es heißen: t o s Se Tapias T6TOV TOV %pepärov äiroKvapeveiv KTX. Ich fasse zusammen: Belochs Hypothese von der Entstehung des Zentralfonds ist gescheitert. Mit zwingender Notwendigkeit ergibt sich, daß die Bildung des »Fonds der anderen Götter« erst durch den von Kallias angeregten (l*)
322
Sitzung der phil.-hist. Klasse vom 10. November 1927. — Mitteilung vom 27. Oktober
Volksbeschluß angeordnet worden ist. Aus Thukydides lernten wir, daß dieser Beschluß v o r 431 gefaßt sein muß. Dieses Ergebnis kann nicht dadurch wankend gemacht werden, daß, wie B E L O C H S. 3 4 8 betont, in Z. 1 8 ff. oi vvv Tapiai den neu einzusetzenden (Tapiai oi \a%6vT€s) gegenübergestellt werden, woraus die Existenz des Kollegiums bereits vor Erlaß unseres Dekretes zu folgern sei. Er konstruierte zu dem Zweck eine Verschiedenheit in der B e s t e l l u n g der Schatzmeister: »Die vvv Tapiai sind im Gegensatz zu den erlosten rafiiai (r. oi Xa^ovTes) die zur Zeit fungierenden Tapiai TWV aWwv Oewv, die demnach, w i e es s c h e i n t , nicht erlöst, sondern e r w ä h l t wurden.« Hier ist B E L O C H ein sprachliches Mißverständnis unterlaufen. Der Begriff oi Xa^ovTes hat nichts mit der Losung zu tun, sondern will nur ganz allgemein die neu zu bestellenden Tapiai kennzeichnen, deren Person ja noch nicht feststeht 1 . Es ist daher nicht der leiseste Anhalt dafür vorhanden, daß die Tapiai TWV aWwv Oewv jemals durch Wahl bestellt worden sind. Es hat mithin sein Bewenden dabei, daß der Gegensatz der radial, von dem in Z. 18 ff. unseres Dekretes offenbar die Rede ist, von anderer Art sein muß. In Z. 18 ff. wird angeordnet, daß die neu einzus e t z e n d e n Tapiai TWv aXXwv Oewv s i c h die S c h ä t z e irapa TWV €7Tt(TTttT(dV Kai TS>V iepOTTOlWV TWV 6V TO?S iepoTs,
TWV VVV Tapiwv
Kai
Ol VVV §ia)(eipi^OV S'èKiroi\eOêi iravreXôs KTX. Mir scheint der zweite Versuch den Vorzug zu verdienen, und zwar aus dem Grunde, weil das überlieferte Adverbium TravreXws ein Verbum des Vollendens verlangt, so daß das vollere eKiroieîv dem Sinne besser entspricht als das einfache iroieîv. Ist damit in großen Zügen der Aufbau des Satzes wiederhergestellt, so ist etwas sehr Wesentliches gewonnen, nämlich die Tatsache, daß der Beschluß B w ä h r e n d des A u s b a u s der P r o p y l ä e n gefaßt ist. Es wird, wie 1
HILLERS Vorschlag
lautet:
Kai
[TÔ ypa/ifia
KeKevôvTov
ÄeV]A TÔV àpx'TeK\r6vov
iro\êv
hoawep
PREUNER bei NOACK, Eleusis 392, bietet folgenden Wortlaut: Kai [TÔ wapa&iy|/i