Das Ende des Traums [Reprint 2020 ed.] 9783112342145, 9783112342138


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German Pages 224 [227] Year 1891

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Das Ende des Traums [Reprint 2020 ed.]
 9783112342145, 9783112342138

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Das

Ende -es Traums von

George Wurng.

Autorisirte Uebersetzung aus dem Französischen von

Dr. Fritz Bischoff.

Berlin, Druck und Verlag von Georg Reimer.

1891.

Erstes Kapitel.

In der Deputirtenkammer. Am 13. November 1881 veröffentlichte eine Zeitung neuesten Ursprungs, der die Heftigkeit ihrer Angriffe aber in der Presse schnell zu jener Art Ansehen verholfen hatte, wie es der kläffigste und bissigste Hund in der Meute ge­ nießt, der Feuerfeste, „Organ für die berechtigten For­ derungen der Arbeiterpartei", einen wüthenden Schmäh­ artikel gegen das Haupt der republikanischen Kammerma­ jorität, den beredten Abgeordneten Michael Costalla. Mehr als einmal schon hatte der äußerste linke Flügel seiner Partei gegen ihn den Vorwurf erhoben, er treibe Oppor­ tunitätspolitik und opfere die Principien um der Erfolge willen; er scheue vor den socialen Reformen zurück, die er einst versprochen habe. Der jetzt vorliegende Hetzartikel des Feuerfesten wiederholte die alten Anklagen und fügte andere hinzu, die noch besser geeignet waren, die Popu­ larität Costalla's zu untergraben; wandten sie sich doch an die boshafte Leichtgläubigkeit, den unruhig spürenden, arg­ wöhnischen Instinkt des Neides, der sich im innersten Wesen jeder Demokratie vorfindet, welchem Lande und welcher Zeit sie auch angehören mag. Die „prachtvollen Fuhrwerke" (eine nicht numerirte Droschke, die Costalla 1*

4 monatweis miethete); — die „lukullischen Gelage" (ein proven?alisches Ragout, womit er Sonntag vormittags einige Landsleute und Freunde von ihm aus dem Süden bewirthete); — die „silberne Badewanne" (eine Zimmerdouche, die er in seiner Schlafstube hatte anbringen lasten); — die „Orgien des modernen Vitellius" (man hatte ihn einmal abends ein Extrazimmer im Palais-Royal nehmen sehen); — schließlich „sein Bojarenpelz" (ein Ueberzieher mit Pelzkragen) wurden von dem Artikelschreiber des So­ cialistenblatts mit allem Feuer entrüsteten Republikaner­ sinnes gegeißelt. Noch weitergehende, „schwererwiegende" „Enthüllungen" wurden dem Publikum in Aussicht gestellt. Das Stück schloß in Form einer Frage, die dem Verfaffer die Ueberschrift zu. seinem Artikel geliefert hatte, dessen ganzes Gift sie in die drei Worte zusammenpreßte: „Wo­ her kommt das Geld?" Es war nicht das erste Mal, daß eine Zeitung der Rechten oder der äußersten Linken sich an den Staatsmann machte, dessen Stellung in der Kammer und tut Lande seit zehn Jahren beständig an Bedeutung zunahm. Es verging kein Tag, wo man ihm nicht den Vorwurf machte, er zwinge seine Politik und seine persönlichen Ansichten der Regierung auf, habe aber nicht den Muth, die Verant­ wortlichkeit der Oberleitung offen zu übernehmen. Noch nie aber war man so leidenschaftlich über ihn hergefallen, nie hatte man seine Persönlichkeit mit so viel Gift und Kühnheit mit in's Spiel gezogen. Die Wirkung war denn auch, daß der von dem Feuerfesten begonnene Feldzug die öffentliche Meinung ziemlich lebhaft erregte, trotzdem sie doch an die heftige, grobe, schmähsüchtige Sprache ge­ wöhnt ist, die den Grundzug der politischen Schriftstellerei unserer Zeit bildet. Man fragte sich, wer dieser Bind ex

5 sei, dessen Unterschrift sich geheimnißvoll und drohend unter dem Artikel hervorhob; welches Ziel der Feuerfeste im Auge habe, indem er Costalla mit Waffen angriff, wie sie bisher noch niemand gegen ihn zu führen gewagt hatte; denn auch seine entschlossensten Gegner, sogar die, welche sein Uebergewicht am ungeduldigsten ertrugen und ihn mit lautem Geschrei ehrgeiziger Absichten beschuldigten, hatten sich bis jetzt nicht getraut, seine Rechtschaffenheit in Zweifel zu ziehen. Man hatte allgemein den Eindruck, die belei­ digenden Andeutungen des Socialistenblattes ließen einen von den Feinden des Hauptes der Kammermajorität ent­ worfenen Plan erkennen, wonach man ihn nicht nur bei seinen Wählern in Verruf bringen, sondern namentlich ihn veranlassen wollte, die vorsichtige Zurückhaltung, die er sich seit einigen Monaten auferlegte, auszugeben und sich durch einen icidenschaftlichen Ausfall bloßzustellen. Allerdings war Costalla nach den großen Kämpfen und dröhnenden Erfolgen auf den ersten Staffeln seiner Laufbahn jetzt der Ansicht (und die aufrichtigsten und ein­ sichtsvollsten seiner Freunde urtheilten ebenso), daß die Kampfzeit seines politischen Lebens endgültig abgeschlossen sei. Wo gab es jetzt noch ein napoleonisches Kaiserthum zu bekämpfen, eine fremde Invasion abzuwehren, einen monarchistischen Staatsstreich zu vereiteln? Die Zeiten des Oppositionsmannes, des Parteihauptes, waren erfüllt; die des zukünftigen Ministerpräsidenten zogen heraus. Be­ vor er an diese neue Rolle herantrat, die nur wenige als der Natur seiner Fähigkeiten entsprechend ansahen, mußte der große Redner, dessen war er sich wohl bewußt, alle die beruhigen, die als konservative oder als gemäßigte Re­ publikaner noch von früher her gegen ihn voreingenommen waren. Er mußte sich freimachen von den jetzt peinlichen

6 Verbindungen, die er in den Stunden der Entscheidung mit den demagogischen Elementen seiner Partei eingegangen war; den Glorienschein des großen Revolutionärs, der sich um seinen Namen gebildet hatte, mußte er zerstreuen; Frankreich, ja ganz Europa, mußte er solche Unterpfänder seiner politischen Korrektheit geben, daß sein Vordringen zur höchsten Macht weder Ueberraschung noch Besorgniß erregte. AIs Mitglied der Budgetkommission setzte er seit zwei Jahren die arbeitsamsten seiner Kollegen durch seine mächtige Arbeitskraft in Erstaunen. Indem er sich sorg­ fältig jeder Theilnahme an den erbitternden und unfrucht­ baren Debatten rein politischer Art enthielt, ergriff er mit einer gewissen Koketterie nur bei den Kommisfionsberathungen das Wort, und die Sachkenntniß, der scharfe Verstand, und der weite Blick, die er bei der Behandlung der schwierigsten Fragen bewies, zeigten genugsam, welchen Nutzen bereits sein biegsamer Geist aus dieser Probezeit gezogen hatte, durch deren günstigen Einfluß sich die Um­ wandlung aus dem Volkstribunen in den Staatsmann ge­ räuschlos vollzog. Deshalb fragten sich viele, die des Mor­ gens den Feuerfesten gelesen hatten, voller Neugierde, indem sie der Kammer zuwanderten, ob Costalla dem wohl­ überlegten Entschlüsse, allen Angriffen ohne Unterschied mit geringschätziger Gleichgültigkeit zu begegnen, treu bleiben, oder ob nicht im Gegentheil jener giftige Artikel einen Zwischenfall Hervorrufen würde, der ihn veranlaffen möchte, die Rednerbühne, der er so lange fremd geblieben war, wieder einmal zu besteigen. Ein Trommelwirbel, der dem Eintritt des Präsidenten unmittelbar vorangeht, weckte in den Galerien des PalaisBourbon ein leises „Ah" der befriedigten Erwartung, das trotz der Erhabenheit der Stätte jenem erleichternden Seufzer

7 sehr ähnlich klang, den ungeduldige Zuschauer im Theater ausstoßen, wenn endlich die drei Schläge zum Beginn der Vorstellung ertönen. Die gravitätischen Palastdiener bil­ deten Spalier, der Präsident der Kammer setzte sich in seinen Lehnsessel, während die Abgeordneten bunt durch einander gemischt eintraten, und die Sitzung wurde in­ mitten des betäubenden Lärms der Unterhaltungen, der von Bank zu Bank laut ausgetauschten Wechselreden, der krachend zugeschlagenen Pultdeckel eröffnet. Einer der Schriftführer las soeben, unter allgemeiyer Unaufmerksamkeit, das Protokoll der letzten Sitzung zu Ende, als ein hochgewachsener, starkbeleibter Mann zur Thür links von der Rednerbühne hereintrat. An den unterwürfigen Verbeugungen, die ihm die Palastdiener so­ fort machten, konnte man leicht erkennen, daß der Nach­ zügler eines von den einflußreichen Mitgliedern der Kammer sein mußte. Lange schwarze, an den Schläfen bereits er­ grauende und leicht nach hinten zurückgekämmte Haare ließen eine sehr fest und edel gezeichnete Stirn frei; die braunen Augen schauten über Menschen und Dinge mit dem schönen, klaren und sicheren Blick des ruhenden Löwen; eine morgenländische, gebogene, fleischige Nase mit breit geöffneten Nüstern, ein spöttischer Mund mit sinnlich auf­ geworfenen halb in dem dichten Schnurr- und Backenbart verborgenen Lippen, gaben diesem Gesichte vollends seinen ihm eigenthümlichen Ausdruck geistreicher Gutmüthigkeit, heiterer Lebenslust, Schlauheit und Kraft. Der Name Costalla lief flüsternd rasch über die Ga­ lerien hin, und sofort wurden, wie beim Auftreten eines berühmten Schauspielers, die Gläser auf ihn gerichtet, während er schweren Schrittes die Stufen Hinanstieg, die ihn von seiner Bank trennten. Hände streckten sich ihm

8 entgegen, die er im Vorübergehen mit kindlich gutmüthiger Miene schüttelte, mit jener überquellenden warmen Herz­ lichkeit, die bei ihm nicht wie bei so vielen Südfmnzosen rein äußerlich war, sondern das innere Wesen seiner Natur, jenen angeborenen Trieb der Menschenliebe wiederspiegelte, dem er seine herzbezwingende Macht verdankte. Er hatte sich soeben gesetzt, als zwei Abgeordnete, deren Rath in politischen Dingen er, wie man wußte, mit Vorliebe hörte, sich seinem Platze näherten und ein leises Gespräch mit ihm begannen. Aus ihrem sehr lebhaften Geberdenspiel ließ sich schließen, daß sie eine wichtige Mittheilung machten. Einer von ihnen hielt ihm eine Zeitung hin, die Costalla nachlässig, mit gelangweilter Miene, auseinanderschlug. „Es ist der Feuerfeste", sagte auf der Journalistentribüne ein Berichterstatter, der den ganzen Vorgang mit seinem Opernglase verfolgte; „ich wette, Costalla kommt direkt aus Soisy und hat ihn noch nicht gelesen. Sapperlot! Seht doch, wie er blaß wird!" In der That hatte Costalla die Zeitung soeben heftig auf sein Pult geworfen; mit finster zusammengezogenen Brauen strich er mit der einen Hand liebkosend über seinen Bart, während die andere nervös mit seinem Falzbein spielte. In diesem Augenblicke schloß der konservative Redner, der auf der Tribüne stand, eine Rede voll heftiger Beschuldi­ gungen gegen die Politik des Ministeriums mit folgenden Worten: „Nicht gegen das Kabinet richten sich meine Vor­ würfe. Jedermann weiß, daß das Ministerium keine eigene und unabhängige Existenz hat, daß es nur der Ausfluß, der Abglanz eines Mannes ist, der nicht mit auf der Mi­ nisterbank thront. Dieser ist der thatsächlich Schuldige, denn zu allen von mir aufgedeckten Mißgriffen hat er das Losungswort gegeben. Wenn jemand das Oberhaupt einer

9 Partei ist, und diese Partei die Majorität in der Kammer innehat, so soll er sein Augenmerk nicht darauf richten, sich die Macht, die er besitzt, dadurch länger zu erhalten, daß er sic verstohlen ausübt, daß er der Nothwendigkeit, sie frei und offen wie ein Ehrenmann zu üben, scheu ans dem Wege geht; sondern er soll sie ergreifen, er soll ver­ suchen darzuthun, daß er eigene Gedanken, ein Programm, eine bestimmte Auffassung von der Regierung besitzt; will er aber die Rolle eines unverantwortlichen Diktators weiter spielen, so werden wir schließlich gewissen ärgerlichen Ge­ rüchten das Ohr leihen, die schon jetzt in Umlauf sind, und werden glauben, daß diese eigennützige Taktik sonder­ bare und schwer zn vertretende Berechnungen verbirgt. Die Anspielung auf den Artikel des Feuerfesten war so deutlich, daß Jedermann sie verstand. Die Rechte, die dem Führer der Majorität die rücksichtslosen Mandats­ entziehungen nicht vergab, die er seiner Zeit von der Rednerbühne aus gegen mehr als einen konservativen Ab­ geordneten durchgesetzt hatte, machte ihrem ganzen alten Groll in dem rauschenden Beifall Luft, mit dem sie den beleidigenden Redeschluß begrüßte. Die äußerste Linke blieb stumm, zu zufrieden mit diesem Angriff, um sich dem Widerspruch anzuschließen, welchen die Rede auf anderen Bänken hervorrief, und doch zurückgehalten durch eine Art Schamgefühl, das sie jetzt noch hinderte, offen kund zu thun, wie sehr ihre Ansichten bezüglich Costalla's mit denen der Rechten im Grunde übereinstimmten. Aus dem Centrum hingegen und auf der linken Seite erhob sich ein Murren des Unwillens, und zornige Stimmen verlangten einen Ordnungsruf. Noch hatte sich die Aufregung nicht gelegt, noch wurden lebhafte Zwischenfragen von der einen Seite der Kammer zur anderen hinübergeschleudert, als eine

10 starke klangreiche Stimme, eine Stimme, die alle kannten, den Lärm mit dem Rufe übertönte: „Ich bitte ums Wort". Den Augenblick darauf erschien Costalla auf der Redner­ bühne. Nicht ohne eine gewisse Unruhe hatten seine Freunde ihn aufstehen sehen. Auch der größte Künstler bleibt mit­ unter hinter seinen eigenen Leistungen zurück, wenn er lange nicht vor dem Publikum aufgetreten ist. Würde sich Costalla, von diesem jähen Angriff überrumpelt, erregt, verwirrt vielleicht durch dieses unvermuthete Ueberbranden schmähsüchtigen Hasses, sofort wieder in Besitz seiner mächtigen Fähigkeiten als Momentredner befinden, die er jetzt auszuüben verschmähte? Oder würde ihn die begeisterte Eingebung — jene Eingebung, der er seine schönsten Triumphe als Redner verdankte, und die er nie nöthiger gehabt hatte, als in diesem Augenblicke — im Stich lassen und ihm statt einer jener blitzartig wirkenden Philippiken, mit denen er so oft seine Gegner zerschmettert hatte, nur eine blasse, farblose Entgegnung an die Hand geben? Die ersten Worte fielen von seinen Lippen inmitten einer beinahe andächtigen Stille — eine Huldigung, wie sie die Menge aus eigenem Antriebe denen, aber auch nur denen darbringt, die sie unter die gewaltige Herrschermacht der Beredsamkeit zu beugen verstehen — und die, welche die Probe für den Redner fürchteten, fühlten sich sofort be­ ruhigt. Trotz der langen Unthätigkeit hatte das wunder­ volle Organ seinen Klang, seine Fülle unverkürzt bewahrt. Stimme, Geberdenspiel, Haltung durften sich den glänzend­ sten Leistungen früherer Sitzungen würdig an die Seite stellen; nur bemerkte man dabei einen höheren Grad von nüchternem Ernst, eine größere Korrektheit im Vortrag, eine gewisse Würde im Tone, die sogar in der Haltung des

11 Kopfes und dem straffen Ausrichten des Oberkörpers das geheime Bestreben verriethen, auch die letzten Züge abzu­ streifen, welche an den ehemaligen Volksredner hätten er­ innern können. Mit vollster Selbstbeherrschung und Ruhe wandte er sich zunächst jener alten Beschwerde über „verstecktes Dikta­ torspielen" zu, einer Waffe, die zu oft gegen ihn gebraucht worden sei, als daß sie nicht ihre Schärfe hätte einbüßen sollen, die seine Feinde sich aber in Ermangelung einer besseren seit zwei Jahren immer wieder von Hand zu Hand weitergegeben hätten. Keines seiner Worte, keine seiner Thaten, sagte er, könne diese Beschuldigung rechtfertigen. Als überzeugter Republikaner habe er seinen Platz in den Reihen der Demokratie, nicht um sich über sie zu erheben, sondern um als ihr Knecht. . . „Sagt lieber, um sie zu knechten!" schrie eine Stimme, die von den Bänken der äußersten Linken herkam. Costalla zuckte verächtlich mit den Achseln; und mit jener Geistesgegenwart, die ihn selbst im hitzigsten Wortgefecht selten im Stiche ließ, warf er zurück: „Da sieht man, wie selbst meine Gegner die gegen mich gerichtete Anklage nicht ernst nehmen, da sie darin Stoff zu Wortwitzen finden! . . . Diese glückliche Entgegnung mit ihrer Treffsicherheit und Behendigkeit, wie sie die Unklugen, die ihn mit Zwischenrufen zu reizen wagten, so oft schon zu ihrem Schaden kennen gelernt hatten — und noch mehr vielleicht die stolze Ruhe, die behagliche Ueberlegenheit, mit der er sie dem Gegner zuwarf, brachte in der Kammer einen jener kurzen Wellenschläge hervor, welche die amtlichen Berichte mit „allgemeine Bewegung" bezeichnen. Es war etwas flüchtig Vorübergehendes, wie das erste Aufwallen des Wassers vor dem Kochen; etwas Unsagbares strich plötzlich

12 durch die Luft, der unsichtbare Funke, der durch die Be­ rührung der entgegengesetzten Leidenschaften frei wurde, mit denen die Geister sich zu laden begannen. Dies alles vollzog sich blitzschnell, kaum wahrnehmbar; und dann wieder Stille, schwüle drückende Stille; für alle eine Art brennender peinlicher Erwartung, ein unbestimmtes Angst­ gefühl, die instinktmäßige Gewißheit, daß der Sturm im Anzuge sei. Er jedoch hatte seine Rede nach der kurzen Unter­ brechung durch dieses Scharmützel wieder ausgenommen. Die mächtigen klangreichen Perioden rollten so glühend und farbenprächtig nacheinander hervor, daß man beim Anhören in die trügerische Vorstellung gerieth, man em­ pfinde ein rein sinnliches Vergnügen; die Nerven hatten die eigenthümliche Erregung eines Genußgefühls, das eigent­ lich hätte rein geistig sein müssen, und doch in ein schwel­ gendes Wollustgefühl der Augen überging, wie wenn der zauberkräftige Redner nicht Worte, Sätze, Gedanken, son­ dern ein glänzendes Gemälde von Paolo Veronese auf der Rednerbühne entrollt hätte. Als Antwort auf den Vor­ wurf, er habe kein Programm, setzte er jetzt, in der bilder­ reichen Sprache, die er liebte, und die bei diesem Sohne der sonnigen Provence, in welchem der Künstler den Denker überwog, die natürliche Ausdrucksweise für die abstrakten Ideen der Politik war, die Theorie der Republik, wie er sie sich dachte, auseinander. Nicht die Republik der ver­ bissenen Parteimänner mit ihrer Erbitterung, ihrem alten Groll, ihrem Mißtrauen und ihrer Nörgelsucht wolle er, sondern die Republik mit den weit geöffneten Armen, die alle Franzosen auf dem Boden der doppelten Liebe zur Freiheit und zum Vaterlande aussöhnen solle; die duldsame, hochherzige Republik, die auf das Wohlergehen der großen

13 Masse bedacht sei, und es sich dabei doch auch zur Ehre rechne, die Künste und Wissenschaften, alle edlen geistigen Güter zu beschützen, eine Nebenbuhlerin jener liebenswür­ digen athenischen Republik. . . Ein wilder Demokrat, ein alter Knasterbart von 1848, der sich durch dieses Glaubensbekenntniß in seinen Grund­ sätzen verletzt fühlte, schleuderte ihm mit verächtlicher Miene die spöttisch ausmunternden Worte zu.- „Bravo, Perikles". — „Ich danke dem Kleon für erwiesene Ehre", erwiderte Costalla mit olympischer Heiterkeit. Da erhob sich uner­ meßlicher Zuruf, rauschender Beifall ertönte zur Rechten des Redners, hundert begeisterte Stimmen wiederholten, nicht mehr als beißenden Spott, sondern als Tribut der Anerkennung: „Bravo, Perikles!" . . . Die Huldigung war so ungesucht, so unwiderstehlich, daß keiner der Feinde Costalla's Einspruch zu thun wagte. Einer seiner ältesten Gegner, ein ehemaliges Mitglied des klerikal-monarchistischen Ministeriums vom 16. Mai 1877, das er mit Erbitterung' bekämpft hatte, schien sich sogar dem Gefühle der Bewun­ derung, dem die Linke soeben Ausdruck gegeben hatte, anzuschließen, denn man hörte ihn mit lauter Stimme be­ merken: „Der Kerl hat entschieden sehr viel Anlage." Die Arme über der breiten Brust gekreuzt wartete Costalla, bis die Ruhe wiederhergestellt war. Etwas von der Trunkenheit, in die sein Wort die Anwesenden versetzt hatte, fing an ihn selbst zu ergreifen, kraft jener geheimniß­ vollen Gleichheit des Gefühls, welche sich zwischen dem Redner und den Zuhörern entwickelt. Großartige Gleich­ nisse strömten seinem überreizten Gehirn im Ueberflusse zu; prächtige, volle, klangreiche, wie aus einem Gusse geschaffene Sätze drängten sich ihm auf die Lippen; und er hatte Eile, sich ihrer zu entledigen, sie dieser Menschenmenge zuzu-

14 schleudern; denn hinter jenen fühlte er andere wirr durch einander flattern, die auch hinaus wollten: etwas wie ein Summen von Worten und Bildern, das unwiderstehliche Drängen einer tiefen Quelle, die einen Ausweg sucht und in die Höhe steigt. . . Er gab ein Zeichen mit der Hand, es trat Ruhe ein, und er fuhr fort. Die neue Republik, wie er sie träumte, diese beispiel­ lose, noch nie dagewesene Republik, sollte der Welt das Schauspiel des Aufblühens der edelsten Geister der Mensch­ heit bieten. Ein Werk geduldiger Arbeit und weisen Maß­ haltens, sollte sie nicht eines jener flüchtig hergesteüten Gebäude sein, die plötzlich im Sturm emporsteigen und nur eben die Giebeüinien im Toben der Elemente erkennen lassen, sondern ein nationaler Tempel mit tief, in den eigenen Boden des Vaterlandes hinabreichenden Grund­ mauern, ein Tempel mit weit geöffneten Thoren, groß ge­ nug, um alle Männer mit redlichem Willen, um alle be­ geisterten Anhänger Frankreichs zu umschließen. . . Lärmende Rufe erschollen von den Bänken der Rechten. „Sprecht nicht von Frankreich! Ihr habt es verstümmelt und zu Grunde gerichtet! Der Narr soll schweigen! Gebt uns die Provinz und die drei Milliarden wieder, die Ihr uns gekostet habt!" . . . Er drehte sich mit halber Wendung gegen die Zwischen­ rufer herum und, den Kopf nach hinten zurückgeworfen, das Auge voller Blitze, den Arm weit von sich gestreckt, übertönte er mit gewaltiger Stimme alles Geschrei: „Ich erröthe nicht über das, was ich vor zehn Jahren gethan habe! . . . Ihr sagt, daß es das Unglück ver­ größert hat, ich aber schwöre, daß es die Schande verrin­ gert hat!" Die ganze Linke hatte sich wie wahnsinnig klatschend

15 erhoben. Die Rechte schwieg, entmuthigt durch die Er­ folglosigkeit ihrer Unterbrechungen. Der Zwischenfall schien beendigt. Eostalla hatte soeben einen tüchtigen Schluck von dem Grog getrunken, den er statt des üblichen Zucker­ wassers auf der Rednerbühne zu sich zu nehmen Pflegte, und wischte sich die Stirne ab, als ein socialistischer Ab­ geordneter, die kurze Windstille benützend, mit schneidendem Tone die Frage in den Saal schleuderte: „Ihr erzählt uns von einem Tempel. Werdet Ihr die Krämer und Wechsler hinansjagen?" Was nun folgte, war kein Durcheinander mehr, kein Lärm, kein Getöse, sondern etwas Unbeschreibliches, mit Worten gar nicht Auszudrückendes: ein Losplatzen von Geschrei, das theils Wuth, theils wilde Freude ausdrückte; tobendes Gebrüll, wüthendes Geheul, erhobene Fäuste, krampfhaft verzerrte Gesichter, ein Aufflackern von Wahn­ sinn, das über das Halbrund der Abgeordnetensitze dahin­ fuhr und es im Augenblicke ganz erfüllte, so daß es aus­ sah, wie der Vorplatz eines Irrenhauses, dessen Insassen plötzlich die Thüren ihrer Zellen gesprengt haben. Der Präsident in rathloser Verlegenheit schwang wie ein Un­ sinniger seine ohnmächtige Glocke. Voll Erbitterung über die Beleidigungen, die ihm'um die Ohren summten: „Verräther, Orleanist, Miethling, fauler Kopf, Hanswurst, Barras, Mirabeau der Handlungsreisenden . . ." verlor Costalla allmählich jene Selbstbeherrschung, die er bis da­ hin so glücklich bewahrt hatte. Der Augenblick war aller­ dings für ein erstes Auftreten als stilvoller, akademisch ge­ schulter Redner vortrefflich gewählt! So also sprang man mit ihm um! Wüthender fuhr die Kammer gegen ihn los .uni) unduldsamer, als der Pöbel von Belleville bei jener berüchtigten Versammlung, in der er beinahe wäre todtge-

16 schlagen worden; gut denn, meinetwegen! Dann aber — zum Teufel mit den Anstandsrücksichten; zum Teufel mit der süßlichen parlamentarischen Sprache, die weichlich schmeckt wie ihr Zuckerwasfer, und vorwärts mit dem losen Maul! Sie sollen einmal sehen, ob er das noch versteht; ob er noch Fangzähne hat, um wiederzubeißen, wenn einer ihn beißt. Alle seine alten Triebe als Club- und Balkon­ redner, die er für immer verschworen hatte, wurden wieder in ihm wach; die erhabene, heitere Begeisterung, der die soeben vorgetragene meisterhafte Rede entfloß, war von ihm gewichen; er wurde wieder der gemeine, schwülstige, großmäulige Provenzale ohne Schliff und feinere Sprach­ bildung, der er zur Zeit seines ersten Auftretens in Paris gewesen war, der Kneipenredner, dessen Wortschwall von Gemeinplätzen sich fluthend vom oberen Ende eines Wirths­ haustisches über ein beifallslustiges Auditorium von jungen Medizinern und Juristen ergoß. Diese ganze Vergangen­ heit, von der er sich um jeden Preis losmachen wollte, deren lastenden Druck er beim Emporklimmen zu der er­ habenen Stellung eines Staatsoberhauptes, wonach sein Ehrgeiz im Geheimen trachtete, sehr wohl fühlte, diese ganze Vergangenheit hatte ihn wieder gepackt, hielt ihn fest um­ schlungen und blies ihm Entgegnungen in's Ohr, wie sie sonst nur bei Marktweibern üblich sind. Mit heiserer, oft pöbelhaft rauh klingender Stimme, gemeiner Geberde und unanständig freier Haltung arbeitete er sich ab, daß die Schöße seines aufgeknöpften Rockes nur so flogen, suchelte mit den Armen hin und her, schlug sich heftig mit der Faust auf die Brust, oder neigte sich, den Rücken krümmend und die Schultern hochziehend, vornüber, um seine Gegner mit einer Schmutzfluth grober leidenschaftlicher Schmähun­ gen zu überschütten. Das dauerte zwei bis drei Minuten,

17 woraus er erschöpft und athemlos, mit zusammengeschnürter Kehle, die statt der Worte nur noch gurgelndes Schlucken hervorbrachte, mit aufgelöster Halsbinde, schweißtriefendem Hemdkragen, verzerrtem Gesicht, roth und keuchend wie ein Jahrmarktsherkules, den Rest Grog in seinerp Glase auf einen Zug hinunterstürzte, von der Rednerbühne hinab­ polterte und schleunigst aus dem Sitzungssaale verschwand. Mehrere seiner Freunde eilten ihm sofort in die Wandelgänge nach. Sie umringten ihn, drückten ihm die Hände und schwuren, er habe nie gewaltiger gesprochen, nie der Meute der Socialisten und der Monarchisten sieg­ reicher die Spitze geboten. Auch machten sie den Versuch, ihn nach dem Saale zurückzuführen, unter dem Vorwande, es dürfe nicht aussehen, als ob er fliehe. Er aber, noch zitternd vor Wuth, sagte zu ihnen: „Laßt mich, laßt mich ... ich will allein sein.. . Ich will fort von hier" ... Und sich ihren Umarmungen entwindend hüllte er sich in seinen Paletot und erreichte glücklich das Thor des PalaisBourbon. Er durcheilte den Hof, ging durch das Gitterthor und betrat die Brücke, mit großen Schritten laufend, ohne etwas zu sehen, und an die Vorübergehenden anrennend wie ein Betrunkener. Jenseits der Brücke wandte er sich rechts, nach den Tuilerien zu, und gleichsam einen Schlupfwinkel erspähend, stieg er die Stufen des steinernen Treppchens hinan, das die Terrasse am Wasserrande mit dem Concor­ dienplatze in Verbindung setzt. Die Terrasse war menschen­ leer. Dieser einsame lange kahle Baumgang zog ihn an; denn es drängte ihn, der Menschenmenge, den Blicken, der wohlwollenden oder feindseligen Neugierde, den boshaften Bemerkungen der Leute seines Schlages zu entfliehen; er empfand ein gebieterisches Bedürfniß nach Ruhe und FricDuruy, Das (Sube des Traums.

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18 den, so daß es ihm ein eigenthümliches Behagen verur­ sachte, in diese Einsamkeit zu treten, in sie die schmerzhaft gespannten Fibern seines Körpers und Geistes wie in ein erfrischendes Bad zu tauchen. Er nahm den Hut ab, setzte seine dampfende Stirn einige Sekunden lang der Frische der Luft aus, und begann, das Landschaftsbild zu be­ trachten, das sich seinen Blicken bot: zur Linken des wenig umfangreichen Gesichtskreises der vorspringende Winkel des Florapavillons; weiter hin der nadelförmig spitze Thurm der heiligen Kapelle, wie eine Agraffennadel über der wirren Häusermasse der Altstadt aufgepslanzt; die Kuppel des Akademiegebäudes, dessen feierliche, schwerfällige Umriß­ linien ein leichter Nebel wie mit dem Wischer getupft er­ scheinen ließ; der Rechnungshof mit den halb eingestürzten Schornsteinen, den durch die Feuersbrunst verkrümmten eisernen Schäften, die auf den Trümmern feines eingesun­ kenen Giebels emporragen; den weit klaffenden leeren Fensterhöhlen, welche breite, viereckige Stücke Himmel ein­ rahmen; den dicken, und doch zerbröckelnden Mauern; dem schwermüthigen Aussehen einer erst jüngst entstandenen Ruine, eines vom Blitze zerschmetterten Gebäudes. Gerade gegenüber dem Beschauer: der niedrige Palast der Ehren­ legion, einige Gärten, ein Strauß von dicken Bäumen, die ihre Wurzeln bis in den Fluß hinabsenken; die beiden feinen Spitzen von Sankt-Chlotilde und die Deputirtenkammer. Schließlich rechts der wie ein Frühbeet zusammen­ gesetzte Glasbau des Jndustriepalastes, der sich über den Königin-Weg in den Champs-Elysees hinaushebt wie der Rücken einer riesigen Schildkröte, welche die Seine in vorsintflutlichen Zeiten dort zurückgelassen haben mag. Die Ermattung seines ganzen Nervensystems nach dem unge­ heuren Kräfteverbrauch unmittelbar vorher war so groß,

19 daß Costalla ein unbestimmt wohliges Gefühl empfand, indem er in der verschwommenen Betrachtung dieses Schau­ spiels traumhaft versank, es einfach anstarrte wie ein Thier, ohne dabei an etwas zu denken. Auf dem Flusse war ein beständiges Auf und Ab, das die Strömung durchquerte und kurze, plätschernde, mit winzigen Strandgütern beladene kleine Wellen an die Bö­ schungen warf. Ein stämmig gebauter Schleppdampfer zog mühsam eine lange Reihe Lastkähne hinter sich her, wobei er jeden Zug in dem kurzen, gebrochenen Athmen, das diesen Maschinen einen eigenthümlichen Schein von Leben, gleichsam das schmerzliche Keuchen von überbür­ deten Thieren verleiht, durch einen schwärzlichen Rauchstoß markirte. Auf beiden Seiten dieses Wasferspediteurs glitten die schmalen Passagierdampfer und kreuzten sich mit schweigender Geschäftigkeit, wie winzige Weberschiffchen hin- und herfahrend in einem netzartigen Gewebe, dessen Maschen die Bogen der Concordienbrücke hätten darstellen können. Längs der Böschungen bewegten sich plumpe Segelkähne schwerfällig vorwärts, unter dem Gewichte ihrer Steinkohlenladung bis zum Bordrande in's Wasser versin­ kend; große mit Gipssäcken beladene Boote verschwanden unter einer Schicht Staub, so weiß wie Graupeln im März, und der Boden rings herum war ebenfalls weiß, als wenn es auf diesem Punkte des Ufers geschneit hätte. Alle diese Erscheinungen, und noch viele andere — Pserdebahnwagen, Kutschen, die auf der Uferstraße ihm zu Füßen vorbeifuhreu — zogen in wirrem Durcheinander aus seinem Gesichtsfelde vorüber, ohne daß er sich soweit anstrengte, als nöthfg gewesen wäre, wenn er sie eine Sekunde lang hätte im Auge behalten und den ganzen verschwiegenen Zauber dieses Winkels von Pariser Landschaft hätte empfinden wollen. 9*

20 Er fing an, den Baumgang zu durchwandeln. Ihm zu Häupten zog das sparrige Astwerk der entblätterten Linden gewissermaßen schwarze Querstriche auf dem grauen, flockigen Untergründe des Himmels; hie und da auf den Aesten hockende Sperlinge sträubten fröstelnd ihre Federn kugelförmig auf; zu einigen vergilbten Blättern, die ihnen noch geblieben waren, ließen die Platanen kleine Bündel von runden Samenkapseln hängen, die baumwollenen Kugel­ troddeln ähnlich sahen. Hoch oben kamen einige verspätete Holztauben mit kräftigem Flügelschlage von den Feldern zurück; dies alles nicht scharf und deutlich,.sondern unbe­ stimmt, halb verschwimmend in der feuchten Lust, mit zerflatternden Umrissen wie Traumbilder. Der Zufall seines ziellosen Wanderns hatte ihn der Brüstung genähert, welche die Terrasse nach der Seine zu einfaßt; so bemerkte ihn ein auf der Uferstraße vorüber­ gehender Arbeiter und sagte zu seinen Gefährten: „Seht mal, da ist Costalla!" Er ging sofort weg, ärgerlich, daß man ihn erkannt hatte; jene Bewegung aber, der Ton der Stimme hatten die starrkrampfartige Ermattung verscheucht, worin sein Denken momentan versunken war, und die einige Minuten lang erstorbene Erinnerung an das Ge­ schehene packte gebieterischer und herber noch seinen Geist von neuem. Er fing an, alle Zwischenfälle der letzten Stunden zu durchmustern, und er machte sich den Vorwurf, in dieser verwünschten Sitzung die Frucht zweijähriger Anstrengungen, den gejammten Ertrag der Selbstzucht, Ge­ duld und Mäßigung verloren zu haben, die er nicht ohne Mühe der stürmischen Gluth seiner eigenen Natur und dem lärmenden Wesen seiner Partei aufgezwungen hatte. .Ach, wie deutlich sah er jetzt die Falle, die man ihm gestellt hatte, und wie bereute er, wie wüthete er, daß er sich

21 darin hatte fangen lassen! Was sollte Frankreich, was Europa von dem Manne denken, der, während er danach trachtete, einst sein Land zu beherrschen, sich selbst nicht zu beherrschen und die gefährliche Hitze seiner angeborenen Triebe nicht zu zügeln verstand! Wie verrätherisch hatte man ihn aber auch dem Fuchseisen zugetrieben! Wie ge­ schickt hatten ihn seine verschworenen Feinde von der Rechten und von der äußersten Linken mit jenen giftigen Pfeilen, deren wiederholtes Stechen ihn schließlich in sinn­ lose Wuth versetzt hatte, angefallen, gereizt, durchbohrt, durchlöchert. All das Uebel stammte von jenem teuflischen Artikel, den seine Feinde seit dem frühen Morgen in aller Muße gelesen, durchstudirt, mit Randbemerkungen versehen hatten, aus dem sie alle nach einander die beleidigenden Verdächtigungen oder die brennenden Beschimpfungen ge­ schöpft, die sie ihm zu kosten gegeben hatten. Das Treiben und Drängen aufrührerischer Gefühle, das von neuem in ihm anhob, gab jetzt seinem Gange etwas nervös Aufgeregtes, ruckweise Stoßendes. Seine Hände öffneten sich, dann krampften sie sich wieder plötzlich zusammen; seine Lippen zuckten, mitunter stießen sie zer­ fetzte Bruchstücke von Sätzen, dumpfe Ausrufe des Zornes aus. Er näherte sich der Brüstung und lehnte sich darauf, mit zusammengepreßten Fäusten, den Oberkörper vornüber­ gebeugt, in einer Haltung, die er manchmal bei Beginn einer Rede auf der Tribüne annahm, und Vorübergehende drehten sich erstaunt um und sahen sich den Narren an, der sich das Ansehen gab, als hielte er an eine unsichtbare Zuhörerschaft eine Ansprache, von der man nichts vernahm. Als er die aufmerksam spähenden Köpfe bemerkte, die ihn voll Neugierde scharf ansahen, fürchtete er, abermals er­ kannt zu werden und lief schnell zurück. Der Artikel des

22 Feuerfesten lastete immer mehr wie ein Alp auf seinem Denken. „Vindex!" sagte er zu sich. „Wer ist dieser „Vindex?" Was habe ich ihm gethan? Ich kenne den Menschen gar nicht; weswegen haßt er mich denn so? Ach, so ein Elender, so ein Schuft!" ... In diesem Augenblicke kam er an der Baryeschen Bronzegruppe vor­ bei, an dem Löwen, der mit dem Fuße eine Schlange zertritt. Er blieb plötzlich stehen, sah hin und lächelte bitter; und dieses todtwunde Lächeln drückte den Gedanken aus, den die blitzschnell erkannte Beziehung zwischen seiner gegenwärtigen Lage und dem vom Künstler behandelten Vorwurf in ihm hatte aufschießen lassen: „Brülle du nur immerhin; zertritt sie mit dem Fuße; sie hat dich gebissen; das Gift ist in deinen Adern; dein Blut trägt es in sich,

und du wirst sterben, Löwe, an dem Bisse des niedrigen Gewürms." ... Indem so zu seiner eigenen Abspannung noch der schwermüthig stimmende Eindruck dieser einsamen Oertlichkeit, dieses nebligen Winterhimmels, dieser trübkalten Abend­ stunde hinzukam, fühlte er sich von einem heftigen Wider­ willen gegen all die nichtigen Sachen ergriffen, die den Inhalt seines Lebens ausmachten, die Ränke im Parla­ ment, die Kämpfe bei den Wahlen, die Politik, den Ehr­ geiz, die Macht. Er fühlte das Bedürfniß, sich wieder jung zu baden in einer wahren, uneigennützigen Neigung, eine befreundete Hand zu drücken, eine Frauenhand; denn nur Frauenhände scheinen unseren schmerzerfüllten Herzen lind und leicht genug. Er verließ die Terrasse, überschritt die Solferinobrücke und ging am Quai des linken Ufers in der Richtung auf das Akademiegebäude zu stromauf­ wärts.

23 Zweites Kapitel.

Egeria und Mentor. Etwa in der Mitte der Verneuil-Straße erhebt sich ein Haus, dessen Fenster von hohen Oeffnungen in der Mauer umrahmt werden, wie sie die meisten alten Häuser in Paris aufweisen, die noch zu einer Zeit erbaut wurden, wo die Baumeister nicht darauf ausgingen, an Luft und Licht zu sparen, um desto mehr Stockwerke über einander aufstapeln zu können. Das großartige Hausthor, das beim Schließen unter der Deckenwölbung dumpfes Getöse wie fernen Kanonendonner dahinrollen läßt, führt zu einer breiten Steintreppe, in deren geräumigem Gehäuse ein kleines Hotel der Jetztzeit bequem Platz hätte. Der Zwischenstück wird von zwei Gelassen mit etwas niedriger Decke eingenommen, deren Eingangsthüren sich auf dem Treppenflur gegenüberliegen. Zur Zeit, wo diese Erzäh­ lung beginnt, war die Wohnung links, bestehend aus fünf Räumen, bürgerlich einfach eingerichtet, ohne anderen Prunk, als den peinlicher Sauberkeit. Wenn man das Empfangszimmer betrat, wurden die Blicke zunächst von einem Gemälde gefesselt, das den Ehrenplatz inmitten der Hauptwand einnahm. Dieses Bild stellte Michael Costalla in Lebensgröße dar, halb von der Seite, den Kopf etwas nach hinten zurückgebeugt, einen Arm nach vorn gestreckt, in jener schönen, gebieterischen Haltung, die er, wie seine Gegner ihm vorwarfen, auf der Rednerbühne nur zu oft annahm. Zwei lange strohgelbe Palmenzweige kreuzten sich unterhalb des Rahmens, als ausdrucksvolle Huldigung einer Bewunderung, die das Ur­ theil der Nachwelt und der Geschichte nicht abwartete, um

24 dem großen Redner den Preis des Ruhmes zuznerkennen. Zeichnungen, Aquarellbilder, anspruchslose aus illustrirten Blättern ausgeschnittene Holzschnitte, welche die berühm­ testen Ereignisse seines Lebens zur Darstellung brachten, hingen an den Wänden. Hätte aber ein Fremder dieses Heiligthum betreten und gefragt, wessen pietätvolle Hand sich darin gefallen habe, alle diese Andenken zusammenzutragen, ob eines Mannes oder einer Frau, so brauchte man ihm nur auf einem Tischchen in rothem Sammetrahmen die Photo­ graphie Costalla's als schmächtiger Jüngling, ein Maß­ liebchen im Knopfloch, und vor diesem Bilde ein täg­ lich neu eingesetztes Veilchensträußchen zu zeigen, und er mußte es ahnen, daß nur eine Frau sich diese kindlich einfache und rührende Art beständiger Verehrung hatte ausdenken können. Und wirklich war die Wohnung damals schon seit mehreren Jahren auf den Namen Frau Gauthier gemiethet. Es war eine Dame von etwa 36 Jahren, die sehr zurück­ gezogen lebte. Eine alte schweigsame Magd von unantast­ barer Ergebenheit, die, wenn man sie über ihre Herrin befragen wollte, wie ein bissiger Hund knurrte, verrichtete gleichzeitig die Aemter als Köchin und als Kammerzofe. Der Hausmeister wußte, daß seine Mietherin Blumen und Vögel liebte, nie zur Messe ging, selten das Haus ver­ ließ, viele Zeitungen las, wenig Besuche empfing; das war fast alles, was er über sie hätte sagen können. Wenn schönes Wetter war und ein Sonnenstrahl es wagte, in die enge Straße hinabzutauchen, sahen die Nachbarn von gegenüber die niedrigen Fenster des Zwischenstocks sich öffnen und in ihrer Umrahmung eine schmächtige Frauen­ figur mit zartem Profil erscheinen, die ihren Kanarien-

25 vögeln Brotkrumen gab, ihre Hyacinthen begoß, sich dann in die Sonne setzte, ein Buch oder eine Näherei auf den Knieen, die Hände lang ausgestreckt auf den Seitenarmen des Lehnstuhls, den Kopf an der Rückenlehne ruhend, in träumerisch schwermüthiger Haltung. Therese Gauthier war die einzige Tochter eines in Italien gefallenen Officiers. Als Vater- und mutterlose Waise hatte sie den harten und undankbaren Beruf einer Erzieherin in's Auge gefaßt, als im Jahre 1867 eine Cousine, die einzige Verwandte, die sie noch besaß, ihr aus dem Sterbebette ein kleines Vermögen hinterließ. Dieser Umstand brachte eine Aenderung in ihre Zukunfts­ pläne. Der Nothwendigkeit, sich das tägliche Brot selbst verdienen zu müssen, enthoben, richtete sie sich in der Nähe des Luxemburgpalastes in einem Hause ein, wo einen Stock tiefer eine Tante Costalla's wohnte, die er all­ wöchentlich besuchte. Es war die Zeit, wo er das latei­ nische Viertel mit seinem jungen Ruhme zu erfüllen be­ gann. Donnerstags, wo er gewöhnlich mit einigen Freun­ den bei seiner Tante speiste, lauerte Therese heimlich auf seine Ankunft. Etwas überspannt und äußerst gefühlvoll, mit jener lebhaften Einbildungskraft begabt, die sich in der Einsamkeit und den langen Stunden des Müßiggangs noch kräftiger entwickelt, verliebte sie sich bald in den jungen Rechtsanwalt. Des Abends im Sommer wurden bei ihrer Nachbarin die Fenster des Speisezimmers geöffnet, und die mächtige Stimme Costalla's ließ mitten unter dem Klappern der Gabeln und dem Klirren der Gläser gewaltigen volks­ aufwiegelnden Wortschwall ertönen. Bleich und zitternd, halb ohnmächtig in solcher lauen Nacht, deren erschlaffende Wohlgerüche sich mit dieser berauschenden Beredsamkeit ver­ schworen, um sie noch mehr aufzuregen, sog das junge

26 Mädchen, ungesehen auf dem Balkon sitzend, gierig seine Worte ein, wie eine dürstende Blume den Gewitterregen trinkt. Eines Tages erfuhr sie, daß er in einem großen politischen Prozeß als Vertheidiger für einen republikani­ schen Zeitungsschreiber sprechen würde. Es gelang ihr, sich Zutritt im Zuhörerraum der achten Strafkammer zu ver­ schaffen, und sie hörte ihn jene Anklagerede gegen den 2. Dezember schleudern, donnernder als die Trompeten von Jericho, nach der ein schmaler, tiefer Riß, wie von einem Blitzstrahl, das Gebäude der kaiserlichen Macht von oben bis unten durchlief. An jenem Tage empfand sie es, daß sie wie ein willenloser Gegenstand Michael fürs ganze Leben angehörte; daß sie sich unwiderruflich und rückhaltlos hingegeben habe. Und als er ihr nun bei zufälligem Zu­ sammentreffen auf der Treppe wie einer gewöhnlichen Grisette dreist in's Gesicht starrte; als er acht Tage später es wagte, sie mit der flegelhaften Selbstgefälligkeit der Don Juans des Bullier'schen Tanzsaales anzusprechen; als er mit seiner südfranzösischen Unverschämtheit sie bat, einen Besuch machen zu dürfen, dann noch einen; als er seine Neigung erklärte und zudringlich wurde, so bäumte sie sich unter dem Schimpf auch gar nicht auf, empfand weder Unwillen noch Empörung, sondern nahm ihr Geschick mit der widerstandslosen Ergebung eines Geschöpfes hin, das fühlt, wie es einem unendlich Stärkeren zur Beute ge­ worden ist; wie es verfallen ist einer unwiderstehlichen Macht, die sich um die Gebote des Anstandes, um die Achtung der Mitmenschen, um ihr mädchenhaftes Schamge­ fühl ebensoviel kümmerte, wie der Mühlstein in einer Mühle um ein Sandkorn. Ohne auch nur den zuckenden Schauder, das letzte Widerstreben des bezauberten Vög­ leins zu empfinden, das sich in den Rachen der Schlange

27 hinabgleiten fühlt, ließ diese Jungfrau sich überwältigen, sobald er es ihr gebot. Drei Jahre lang lebte sie glücklich und verborgen, voll Vertrauen auf die ruhmreichen Schicksalswege ihres Helden, den sie vielleicht mehr noch bewunderte als liebte, und er­ füllte sich ganz mit seinen Ideen, nicht in der geheimen Absicht, ihm besser zu gefallen, sondern weil es ihr in der Ueberschwänglichkeit ihrer Liebe vorkam, als habe alle Weis­ heit, alle Wissenschaft in Michael ihren Thron aufgeschlagen. So wurde sie eine Freidenkerin und Republikanerin, trotz­ dem ihre Erziehung früher eine ganz andere Richtung ver­ folgt hatte. Der Umschwung in ihrem Geiste vollzog sich mit überraschender Leichtigkeit. Ohne vorhergehende Prü­ fung und Erörterung trat sie zu ihrer neuen Ueberzeugung über, nicht weil sie ihr als wahrer oder gerechter nachge­ wiesen wurde, sondern ganz einfach, weil ihr Geliebter sie für vorzüglicher erklärte; hauptsächlich aber eigentlich des­ halb, weil sie mit der Aufopferung ihrer früheren An­ sichten ein Stück ihrer selbst, einen Theil ihres Wesens mit in den Kauf gab, zu dem ihr Herr und Meister bis­ her noch nicht vorgedrungen war: weil sie die Bestrickung ihres Denkvermögens mit derselben heiteren und beschei­ denen Unterwürfigkeit hinnahm, wie die Umschlingungen feiner Arme. Welche Beweisführung kann in den Augen einer verliebten Frau gegen jenen Grund in die Schranken treten? Wenn auch Therese sehr schnell nach dem Beispiele ihres Freundes die Gewohnheit angenommen hatte, gesell­ schaftliche Anstaudsrücksichten, die man sie einst achten ge­ lehrt hatte, mit einer eigenthümlichen Freiheit zu beur­ theilen, hegte sie doch in den ersten Zeiten ihrer Verbin­ dung den glühenden Wunsch, er möchte ihr den Vorschlag

28 machen, sie zu heirathen.

Jedoch wagte sie es nicht, dieses

Verlangen zu erkennen zu geben,

da sie sich durch ein

zartes Bedenken zurückgehalten fühlte, über das die Durchschnittsmaffe der bürgerlich anständigen Frauen, deren Herz nie lauter gesprochen hat, als schicklich ist, jedenfalls streng urtheilen wird,

das aber die, welche wahrhaft ge­

liebt haben, begreiflich und vielleicht sogar bewunderungs­

würdig

finden werden.

Wenn

sie Costalla sehen ließ,

daß sie die Leistung dieses Schadenersatzes von ihm er­ wartete, so fürchtete die junge Frau, sie möchte dem Ge­ schenke, das sie freiwillig mit ihrer Person gemacht hatte, jenen Charakter völliger Selbstverleugnung nehmen, der sie

vor dem Richterstuhle ihres eigenen Gewissens, wenn auch

nicht vor dem der Welt, ihrer Schuld ledig machte, und der an Stelle eines alltäglichen niedrigen Sündenfalls die Erhabenheit einer völligen und uneigennützigen Selbstauf­

opferung setzte.

Sie beschloß demnach, zu warten, bis

Michael die ersten Schritte thäte; später, als sie die Ueber­ zeugung gewonnen hatte, daß er daran gar nicht dachte, klagte sie nicht die Nachlässigkeit oder die Selbstsucht ihres Liebhabers an, sondern suchte nur noch sich selbst hinter's Licht zu führen; denn der bloße Gedanke, ihm einen Bor­

wurf machen zu wollen — wie zart, verschwiegen und tief im Innersten ihres Bewußtseins vergraben dieser Tadel auch sein mochte — erregte in ihr jenes Entsetzen, das etwa einem Frommen die Versuchung, eine Tempelschän­ dung zu begehen, einflößen mag.

Sie redete sich ein, daß

eine freie Vereinigung, wie die ihrige, ihren beiderseitigen

Ansichten beffer entspreche; die Ehe sei für ihn ein Hinder­ niß, ein Zwang, und sie habe nicht das Recht, sein Leben so in Fesseln zu schlagen; ein Mann wie er sei nicht

dazu angethan, Frau und Kinder und einen häuslichen

29 Herd zu haben wie die anderen; er gehöre der Republik, dem Vaterlande; die Rücksicht auf seine Partei, ja, die Rücksicht auf seinen berechtigten Ehrgeiz erfordere, daß er seine Unabhängigkeit in vollem Umfange bewahre. Da das Herz zuweilen feinere Trugschlüsse zu ersinnen weiß, als der Verstand, so glaubte das arme Geschöpf schließlich an all jene schwächlichen Gründe, mit denen es sich selbst zum besten hatte, und dachte endlich beinahe gar nicht mehr an die getäuschte Hoffnung seiner Liebe. Sie ergab sich also darein, nur die Geliebte Costalla's zu sein, hoffte aber wenigstens, in der Treue dessen, dem sie so viel geopfert hatte, die Belohnung ihrer Zärtlichkeit und Entsagung zu finden. Wie zum Hohne aber hatte das Schicksal diese Frau mit dem tiefen, verschwiegenen Gefühle, mit dem glühenden Idealismus gerade dem Manne überliefert, der am allerwenigsten dazu angethan war, den poetischen Zauber einer dauerhaften Liebe, einer Liebe, welche eine erneuernde Kraft, welche die geheimnißvolle Gabe einer ewigen Jugend in sich trägt, zu verstehen. Die heftigen Ansprüche einer überschäumenden Naturan­ lage; die lüderlichen Gewohnheiten, die er im Laufe einer in jeder Hinsicht unordentlichen Jugend angenommen hatte; die materialistische Lebensauschauung, der er, wenn auch nicht aus selbstgewonnener Ueberzeugung, so doch um so leidenschaftlicher anhing; seine ausgesprochene Vorliebe für die unglaublich groben Späße Rabelais', für die saftigen Possenreime des Mittelalters, für die schmutzigen Zoten der Lafontaine'schen Erzählungen, für alles, was in Litteratur oder Kunst den Stempel der Sinnlichkeit trug, für die Werke, welche die Fleischeslust, das freie fröhliche Ueberwuchern materiellen Genusses besangen, alles und jedes, mit einem Worte, hätte Therese begreiflich machen müssen,

30 daß er zu den Männern gehörte, von

denen man keine

Treue verlangen darf, nicht nur, weil die Treue allen

ihren Naturtrieben zuwider ist,

sondern weil sie in ihren

Augen etwas Albernes, Regelwidriges, Ungeheuerliches ist,

ein Verstoß gegen das Gesetz, kraft besten die Lebewesen sich verbinden, sich wieder verlassen, um un­

sich suchen,

aufhörlich mit anderen Lebewesen das harmlose Experiment des sinnlichen Vergnügens von neuem vorzunehmen. Eines Tages erfuhr sie, daß er sie hinterging, daß er sie von allem Anfang

an

hintergangen hatte.

Und

mit wem? Mit Schenkmädchen, mit Volkssängerinnen, mit

Straßendirnen vom Montmartre oder aus dem Studenten­ viertel, so daß zu dem Schmerze sich verrathen zu sehen, noch die Demüthigung hinzukam, worfenster Art aufgeopfert zu sein.

Nebenbuhlerinnen ver­ Sie besaß Würde ge­

ihm das zwecklose Jammern und die beleidigenden Schmähungen zu ersparen, in denen sich sonst gewöhnlich die Verzweiflung der Verliebten gefällt; sie hörte nicht

nug,

einmal auf, ihn zu lieben, da sie eine von den Frauen war, die sich nicht wieder zurücknehmen können, wenn sie sich einem geschenkt haben;

nur wurde sie krank und

wäre beinahe gestorben. Als sie nach der furchtbaren Krisis,

die sie Wochen

lang zwischen Leben und Tod hatte schweben lasten, wieder auf dem Wege der Besserung war,

eignisse vollzogen.

hatten sich ernste Er­

Das Kaiserreich war gestürzt worden;

ein deutsches Heer belagerte Paris.

Michael,

durch die

Revolution vom 4. September zur Macht gelangt, organisirte den Widerstand in der Provinz.

Welche Frau hätte

es nicht mit Stolz empfunden, sich bevorzugt, ja geliebt zu sehen von jenem Manne, der sich kühn dem siegreichen Feinde entgegenstellte, ihn zaudern, fast schon am Siege

31 zweifeln machte, dessen Gestalt, schon so mächtig vor dem Riesenkampfe, den er aufzunehmen wagte, jetzt von einem

Abglanze antiken Heldenthums bestrahlt wurde?

innere sich

an

jene

tieftraurige Zeit,

an

Man er­

die Monate

Oktober, November, Dezember 1870, Januar 1871, wo jeder Tag durch ein verhängnitzvolles Ereigniß seinen be­ sonderen Stempel aufgedrückt erhielt: eroberte Städte,

übergebene Festungen, verlorene Schlachten, Rückzüge, die noch verheerender wirkten als Niederlagen; an jene Zeiten, wo die Invasion wie ein aus den Ufern getretener Strom alles überschwemmte, ertränkte, mit sich fortriß.

Abgeson­

dert von dem übrigen Frankreich und der Welt wie ein von den Fluthen umbrandetes Inselchen, wußte Paris nicht eir u al, welcher Akt des Dramas jenseits der von Kanonen starrenden Einschließungslinien abgespielt wurde, die seinen engen Horizont umgrenzten.

— Manchmal aber drang

durch die Maschen des verwünschten Netzes, das die große

Stadt zusammenschnürte, ein Träger von Nachrichten durch. Er erzählte, weit unten im Süden wolle ein Mann durch­

aus nicht verzweifeln; da sei noch eine Stimme übrig ge­ blieben, um diesem armen erschöpften Frankreich kräftige Trostesworte zuzurufen, die es noch im Tode elektrisch

durchzuckten.

Und

da war es wie ein Schimmer von

Morgenröthe, der an unserem so finsteren Himmel auf­ blitzte; man fing wieder an zu glauben, vielleicht sei doch noch nicht alles aus; man fühlte dunkel den unbeschreib­

lichen heftigen Fieberftost, nicht des Todeskampfes, sondern

der Geburtswehen, durch den ganzen Leib des Volkes gehen,

das mit neuen Heeren kreißte; man glaubte das dumpfe Getöse heranziehender, von Nord, Süd und West herbei­ eilender Legionen, fernes fröhliches Rufen der Heerhörner,

Sieges- und Freiheitsgeschrei zu hören.

Wenn Therese dem

32 Treulosen noch irgendwie zürnte, so schmolz dieser Groll allmählich und verlor sich in der wieder lebhafter werden­ den Bewunderung, die sie der großartigen Leistung zollen mußte, welche Costalla zu vollführen versucht hatte. Wenn sie noch litt, so schien ihr das eigene Leid weniger beachtenswerth zu einer Zeit, wo in ganz Frankreich von einem Ende bis zum anderen ein solcher Jammer herrschte, daß alles Mitleid, alle Thränen nicht genügten, um die Trauer des Vaterlandes nach Gebühr mitzuempfinden. Sobald die Thore von Paris sich öffneten, reiste sie nach Bordeaux. Es wurde Michael einigermaßen schwer, diese verlebte, abgezehrte, um zehn Jahre gealterte Frau zu erkennen, die da wieder vor ihm erschien. „Wie, du bist es, meine arme Therese!" sagte er zu ihr. „Ja, lieber Freund, erwiderte sie mit schmerzlichem Lächeln; ich bin es, so wie du mich zugerichtet hast." Keine weitere Klage sollte weder an diesem Tage noch später je aus ihrem Munde ertönen. Er glaubte, da sie verziehen habe, sei sie bereit, das Leben von ehedem wieder aufzunehmen; sie machte ihm bemerklich, daß er von nun an in ihr nur eine Freundin, eine aufrichtig ergebene zärtliche Freundin und nichts weiter sehen dürfe. Er fing an zu lächeln, da er wohl wußte, wie viele Frauen sich diesem hübschen Traume, dem ehemaligen Geliebten als Schwester zur Seite zu stehen, hingegeben haben, und wie selten es vorkommt, daß kein störendes Wiedererwachen der Leidenschaft den friedlichen Verlauf einer so schwierigen Umwandlung unter­ bricht. AIs sich jedoch das Ermatten des Willens, aus das sein durch den Widerstand wieder angeregter Kitzel spekuliren zu können glaubte, nicht einstellte, nahm es unseren Michael baß Wunder; denn die geringe Kenntniß des Frauenherzens, die er besaß, war aus zu gemeinen

33 Quellen geschöpft, als daß er die Erhabenheit der Ge­ wissensbedenken hätte begreifen können, von denen sich Therese leiten ließ. Zuerst glaubte er, sie schmolle, und die lange Dauer dieses Zustandes erschien ihm unpassend, weil sie über das Maß von kindischem Wesen, das er den Frauen einräumte, hinausging. Da aber Monate, Jahre vergingen, ohne daß sie nachgab, wenn ihn zu­ fällig einmal die vorübergehende Laune anwandelte, ihren Widerstand doch noch zu beugen, so ging es ihm schließlich wie dem, welcher plötzlich den geheimen Wohlklang einer fremden Sprache, die er schlecht versteht und nie sprechen wird, entdeckt: er erkannte schließlich, wenn auch undeutlich, welche Feinheit des Zartgefühls, welch tiefe Achtung vor der Liebe sich in dem hartnäckigen Widerstände dieser Frau verbargen, die dabei doch, das fühlte er, noch immer in ihn verliebt war. Diese verworrene Erkenntniß einer hohen sittlichen Würde vermehrte noch die Achtung, welche ihm Theresens Verstand und Entschlossenheit bereits eingeflößt hatten. Er empfand deutlicher den Werth dieser edlen Freundschaft, die ihm rückhaltlos geboten wurde, während ihm dabei doch mit milder aber unbeugsamer Festigkeit das Recht verweigert wurde, sich auf die Vergangenheit zu berufen, um mehr zu verlangen. Dieses eigenthümliche Liebesverhältniß enthüllte ihm thatsächlich Genüsse seltnerer und feinerer Art, als die sonst von seiner Sinnlichkeit er­ strebte Befriedigung, der er bis dahin allein Werth bei­ gelegt hatte. Gewöhnt, ihn alle Frauen ohne Unterschied wie untergeordnete Geschöpfe behandeln zu sehen, Aus­ stattungsstücke für Frauengemächer oder Blumen für den Harem, die eben durch die Minderwerthigkeit ihrer Fähig­ keiten für immer dazu verurtheilt seien, sich dem Belieben des Mannes zu fügen, fanden seine Freunde in seinem . Duruv, T\ti? (