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German Pages 53 Year 2011
John Maynard Keynes
Das Ende des Laissez-Faire Ideen zur Verbindung von Privat- und Gemeinwirtschaft
Zweite, unveränderte Auflage Mit einem Vorwort von Peter Kalmbach und Jürgen Kromphardt
Duncker & Humblot · Berlin
JOHN MAYNARD KEYNES
Das Ende des Laissez-Faire
John Maynard Keynes
Das Ende des Laissez-Faire Ideen zur Verbindung von Privat- und Gemeinwirtschaft
Zweite, unveränderte Auflage Mit einem Vorwort von Peter Kalmbach und Jürgen Kromphardt
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage 1926 bei Duncker & Humblot Alle Rechte vorbehalten # 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-13456-4 (Print) ISBN 978-3-428-53456-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-83456-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 * ∞
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Vorwort zur Neuauflage Von Peter Kalmbach und Jürgen Kromphardt
Der Essay „The End of Laissez-faire“ von John Maynard Keynes, der in der Gesamtausgabe seiner Werke 23 Seiten umfasst, erschien im Juli 1926 als Broschüre in der Hogarth Press und bereits im gleichen Jahr erstmals in deutscher Sprache unter dem erweiterten Titel „Das Ende des Laissez-Faire. Ideen zur Verbindung von Privat- und Gemeinwirtschaft“ im Verlag Duncker & Humblot. Im heutigen Sprachgebrauch würde man als Untertitel eher „Ideen zum Verhältnis von Privatwirtschaft und Staat“ wählen. In seine 1931 erschienenen „Essays in Persuasion“ hat Keynes nur eine stark gekürzte Version aufgenommen. Die vollständige Fassung ist erst im Band IX der „Collected Writings of John Maynard Keynes“ wieder abgedruckt worden. Der deutsche Text ist wiederabgedruckt in: H. Mattfeld, Keynes. Kommentierte Werkauswahl. Hamburg (VSA) 1985. Der Essay basiert auf Vorlesungen, die Keynes im November 1924 in Oxford und im Juni 1926 an der Berliner Universität gehalten hat. Durch die weltweite Finanzmarktkrise und die Bemühungen fast aller Industriestaaten, sie und ihre Folgen für die reale Wirtschaft zu bekämpfen, sind Keynes’ Überlegungen über die Beziehungen zwischen Privatwirtschaft und Staat, über das Ende staatlichen Nichts-
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tuns, aber auch über die Grenzen staatlichen Handelns und über die Art, es zu organisieren, wieder sehr aktuell geworden. Daher ist es erfreulich, dass dieser Essay nun wieder zur Verfügung steht, zumal es sich dabei, wie Cairncross (1978, S. 38) feststellte, um die einzige von Keynes vorgelegte systematische Analyse über das erforderliche Ausmaß der staatlichen Aktivität in wirtschaftlichen Angelegenheiten handelt. Man sollte allerdings beachten, dass die darin enthaltenen Ideen lange vor dem Erscheinen der „General Theory“ entwickelt worden sind: das, was wir heute unter „Keynesscher Theorie“ verstehen, hat erst nach dem Erscheinen der „Treatise on Money“ im Jahr 1930 Gestalt angenommen (siehe dazu z. B. Pasinetti 2007). Man kann natürlich nur darüber spekulieren, ob der Keynes nach der „General Theory“ andere Akzente gesetzt hätte. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass er weniger als im Fall der „Treatise on Money“ die Notwendigkeit gesehen hätte, sich von seinem früheren Werk zu distanzieren. Keynes beginnt seinen Essay nicht mit unmittelbar wirtschaftspolitischen Fragen; vielmehr befasst er sich – philosophisch gebildeter als der Großteil heutiger Ökonomen – zunächst mit der Ideengeschichte von Individualismus und Liberalismus. Knapp und lakonisch werden die Entwürfe von Hume und Locke dargestellt – und diesen die durchaus andersartigen von Rousseau und Bentham gegenübergestellt. Die Vereinigung der höchst verschiedenartigen Ansätze wird als das Werk des frühen 19. Jahrhunderts angesehen: „Der Beginn des neunzehnten Jahrhunderts vollbrachte diese wundersame Einigung. Sie brachte den konservativen Individualismus von Locke, Hume, Johnson und Burke in Einklang mit dem Sozialismus und der demokratischen
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Gleichheitslehre von Rousseau, Paley, Bentham und Godwin“ (diese Ausgabe, S. 20). Angereichert wurde diese Mixtur schließlich noch mit darwinistischen Ideen. All die verschiedenen Ansätze schienen das Gleiche zu predigen: Individualismus und Laissez-faire. Keynes zufolge lautet die philosophische Doktrin des Individualismus, die Regierung habe kein Recht zu intervenieren, die weltanschauliche, es gebe dafür keine Notwendigkeit. Ökonomen sind insoweit noch nicht im Spiel. Ihnen kommt schließlich die wesentliche Aufgabe zu, den wissenschaftlichen Nachweis zu erbringen, dass staatliche Einmischung ganz unzweckmäßig ist. Entgegen einer häufig geäußerten Ansicht sind es aber nicht Ökonomen, die den Begriff des Laissez-faire erfunden haben. Man findet diesen Begriff z. B. nicht bei Smith, Ricardo oder Malthus. Auch die Physiokraten, denen der Begriff oft zugeschrieben wird, haben ihn nicht erfunden. Als Schöpfer dieser Bezeichnung wird vielmehr der Marquis d’Argenson genannt, der – in einer anonym erschienenen Schrift – diesen Begriff als erster 1751 benutzt zu haben scheint. Die Herkunft des Begriffs laissez-faire aufzuzeigen sowie die philosophischen und weltanschaulichen Hintergründe darzustellen, ist jedoch nur ein Teil der von Keynes verfolgten Absicht. Hiervon findet sich dann etwa in den „Essays in Persuasion“ von 1931 nichts wieder. Es geht ihm auch um den Nachweis, dass „sich die Schlußfolgerung, daß der größte Reichtum durch die ungehinderte, egoistische Tätigkeit der Individuen erzeugt werde, auf viele unrichtige Voraussetzungen [stützt]“ (diese Ausgabe, S. 36). Angeführt werden in diesem Zusammenhang einige der uns heute wohlbekannten Sachverhalte, die das Erreichen eines Wohl-
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fahrtsoptimums verhindern. Dabei wird interessanterweise auch der Informationsaspekt angeführt. Unter den sechs angesprochenen „Komplikationen“ besteht eine darin, dass „Unkenntnis vorherrscht“ (diese Ausgabe, S. 36). Keynes politische Botschaft kommt erst in den Kapiteln IV und V (in der deutschen Version sind dies die Kapitel III und IV) zur Sprache. Nur diese sind von ihm dann in die 1931 erschienenen „Essays in Persuasion“ aufgenommen worden. Um seine Position zu erläutern, übernimmt er von Bentham die Unterscheidung zwischen der Agenda und der Non-Agenda des Staats. Dabei macht er deutlich, dass es ihm nicht darum gehe, bisher von Privaten wahrgenommene Aufgaben auf den Staat zu übertragen (in diesem Zusammenhang betont er, bei der Verstaatlichung der britischen Eisenbahnen handele es sich um ein ökonomisch vollkommen irrelevantes Problem). Bei dem, was ihm zufolge vom Staat geleistet werden müsse, gehe es vielmehr um „jene Funktionen, die über den Wirkungskreis des Individuums hinausgehen, jene Entscheidungen, die niemand trifft, wenn der Staat sie nicht trifft“ (diese Ausgabe, S. 47). So formuliert, gehören natürlich auch Dinge wie die Straßenverkehrsordnung zu den Aufgaben, die der Staat zum Wohl der Gesellschaft übernehmen muss. Für Keynes geht es aber dabei auch und vor allem um die vom orthodoxen Liberalismus abgelehnten staatlichen Eingriffe in wirtschaftliche Abläufe, in erster Linie um makroökonomische Steuerung mit dem Ziel, das Produktionspotential auszuschöpfen sowie Vollbeschäftigung herzustellen und zu erhalten. In einem 1932 gehaltenen Rundfunkvortrag führt er aus: „In Zeiten wie diesen findet sich die hervorragendste Gelegenheit für staatliche Planung auf der ganzen
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Welt allerdings in der Vermeidung und Milderung von Depressionen, die einen so enormen Verlust der weltweiten Potentiale zur Wertschöpfung mit sich bringen“ (Keynes 2007, S. 103). Dabei ist Keynes keineswegs ein eindeutiger Freund zentralistischer Lösungen. Insbesondere ist er nicht der Auffassung, dass das Allokationsproblem durch eine zentralisierte staatliche Bürokratie besser als durch private Initiative gelöst werden könne. In den Schlussbetrachtungen zur „General Theory“ betont er nachdrücklich die Vorteile der Dezentralisierung und des Spiels des Eigennutzes: „Die Steigerung der Effizienz, die sich aus der Dezentralisierung der Entscheidungen und der individuellen Verantwortung ergibt, ist vielleicht noch größer, als das neunzehnte Jahrhundert annahm“ (Keynes 2009, S. 320). Was die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben anbelangt, so plädiert er dafür, diese nach Möglichkeit auf halb-autonome Körperschaften zu übertragen, die zwar letztlich der Kontrolle des Parlaments unterlägen, aber unter normalen Umständen doch einen hohen Grad an Autonomie aufweisen sollten. Solche halb-autonome Körperschaften müssten Keynes zufolge nicht erst neu entwickelt werden. Er verweist auf Universitäten, die Bank von England und den Londoner Hafen als Beispiele dafür, dass sich solche Formen bereits herausgebildet hätten oder jedenfalls Annäherungen daran stattfänden. Eine solche Tendenz sieht er aber auch ganz allgemein bei Aktiengesellschaften: „Eine der wenigst bemerkten und interessantesten Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ist die Tendenz der Großunternehmen, sich selbst zu sozialisieren“ (diese Ausgabe, S. 44). Keynes nimmt hier
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Auffassungen vorweg, die später unter Stichworten wie „managerial capitalism“ oder „new industrial state“ diskutiert werden sollten. Im Kern geht es dabei darum, ob sich aus der Trennung von Eigentum und Leitung, wie das für die Kapitalgesellschaft typisch ist, ein neuer und qualitativ anderer Kapitalismus entwickelt. Keynes glaubte seinerzeit, solche Tendenzen erkennen zu können. Aus heutiger Sicht und angesichts der vielfach zu beobachtenden Orientierung der Vorstände von Kapitalgesellschaften am shareholder value, aber auch nach dem, was sich in jüngster Zeit bei Privat- und Landesbanken abgespielt hat, wird man diesbezüglich zu einer zurückhaltenderen Einschätzung gelangen. Unabhängig davon ist es aber höchst bemerkenswert, dass von Keynes hier Fragen angesprochen werden, die heute unter dem Begriff „corporate governance“ eine geradezu ausufernde Diskussion erfahren. Konkret werden von Keynes folgende Vorschläge gemacht: Kontrolle von Währung und Kredit durch eine zentrale Institution, Publizität der relevanten Geschäftsinformationen, öffentliche Einflussnahme auf Höhe von Sparen und Investieren, wie auch auf den Anteil von Auslandsinvestitionen, sowie Einflussnahme auf die Bevölkerungsentwicklung. Als heutiger Leser, und damit aus einem Abstand von mehr als achtzig Jahren, kann man feststellen, dass diese Vorschläge von der Politik aufgegriffen und teilweise realisiert worden sind – wenngleich nicht immer in der Form, die wohl Keynes vorschwebte. So haben wir heute Zentralbanken, im Euroraum sogar eine übernationale, die die Kontrolle von Währung und Kredit übernommen haben, freilich mit einer oft einseitigen Orientierung an der Geldwertstabilität. Mit
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der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung einerseits, den Publizitätspflichten für Kapitalgesellschaften andererseits stehen allen am Wirtschaftsleben Beteiligten heute weit mehr Informationen zur Verfügung, als das in den zwanziger Jahren auch nur vorstellbar war. Die öffentlichen Einflussmöglichkeiten auf Sparen und Investieren haben stark zugenommen – allein schon dadurch, dass der Staatsanteil erheblich angestiegen ist, aber auch durch eine entsprechende Ausgestaltung des Steuersystems und der öffentlichen Ausgaben (automatische Stabilisatoren) sowie durch entsprechende Gesetze (in Deutschland z. B. das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz). Mit der Deregulierung der Kapitalmärkte hat man allerdings heute weniger Möglichkeiten als in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg, auf den von Keynes ebenfalls angesprochenen Anteil der Auslandsinvestitionen Einfluss zu nehmen. Was schließlich die Bevölkerungsentwicklung anbetrifft, so nehmen die Staaten auch darauf Einfluss, im Westen allerdings nicht in der rigorosen Form, wie es bei der chinesischen Ein-Kind-Politik praktiziert wird. So ist z. B. in Deutschland das Elterngeld mit der Absicht eingeführt worden, Beruf und Familie besser miteinander verbinden zu können und damit einer schrumpfenden Bevölkerung entgegen zu wirken. Oder, um ein anderes Beispiel zu geben: In den USA wird die Green Card dazu genutzt, die Zuwanderung nach den Bedürfnissen des amerikanischen Arbeitsmarkts zu steuern. Die hier wieder vorgelegte Arbeit von Keynes ist nicht unwidersprochen geblieben. So kritisiert v. Mises (1927) schon den Titel der Arbeit und stellt fest: „Die berühmte Maxime lautet nämlich vollständig Laissez faire et lais-
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sez passer“ (v. Mises 1927, S. 190). Das passer ist ihm zufolge auf die Freizügigkeit für Menschen und Güter bezogen. Sich gegen laissez passer auszusprechen, wäre insofern ein Plädoyer für Protektionismus und Unterbindung der internationalen Freizügigkeit. v. Mises kommt zu dem kühnen Schluss: „Hätte Keynes vom Ende des Laissez faire et laissez passer gesprochen, dann hätte er nicht verkennen können, daß die Welt heute gerade daran erkrankt, daß seit Jahrzehnten eben nicht mehr nach dieser Maxime regiert wird“ (a. a. O., S. 191). v. Mises bedient sich hier einer bis zum heutigen Tag bei liberalen Autoren beliebten Argumentationsfigur: nicht zuviel Markt, sondern zuviel Staat, nicht zu wenig, sondern zu viel Regulierung, nicht der Liberalismus, sondern der Antiliberalismus sind an allen Übeln schuld. Dies wird den Ausführungen von Keynes nicht gerecht, der durchaus sieht, dass zur Entstehung der laissez-faireIdeologie auch die „Unfähigkeit der Regierungen des 18. Jahrhunderts“ (diese Ausgabe, S. 22) beigetragen hat. Und spätestens zwei Jahre nachdem v. Mises das geschrieben hatte, waren seine Überzeugungen widerlegt: Die Große Depression konnte nicht als die Folge eines allseitigen Antiliberalismus begriffen werden und ihre Bekämpfung sicher nicht darin bestehen, den Staat auf eine Nachtwächterrolle zu beschränken.
Literaturhinweise Cairncross, A. (1978), Keynes and the Planned Economy, in: A. P. Thirlwall (Ed.), Keynes and Laissez-faire, London and Basingstoke (Macmillan), S. 36 – 58. Keynes, J. M. (1926 / 1972), The End of Laissez-faire, London (Hogarth-Press), wiederabgedruckt in: The Collected Writ-
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ings of John Maynard Keynes, Vol. IX, London and Basingstoke (Macmillan), S. 272 – 294. Keynes, J. M. (1926), Das Ende des Laissez-Faire. Ideen zur Verbindung von Privat- und Gemeinwirtschaft. München und Leipzig (Duncker & Humblot). Keynes, J. M. (1931), The End of Laissez-faire, in: Essays in Persuasion, London (Macmillan), S. 312 – 322. Keynes, J. M. (1936 /1973), The General Theory of Employment, Interest and Money, London (Macmillan), wiederabgedruckt in: The Collected Writings of John Maynard Keynes, Vol. VII, London and Basingstoke (Macmillan). Keynes, J. M. (2007), Über Staatliche Wirtschaftsplanung, Rundfunkvortrag in der BBC vom 14. 3. 1932, in: J. M. Keynes, On Air, Der Weltökonom am Mikrofon der BBC, Hamburg (Murmann-Verlag), S. 95 – 107. Keynes, J. M.(2009), Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, 11., erneut verbesserte Auflage, Berlin (Duncker & Humblot). Mattfeld, H. (Hrsg.) (1985), Keynes. Kommentierte Werkauswahl. Hamburg (VSA). Mises, L. v. (1927), Buchbesprechung von Keynes, J. M., Das Ende des Laissez-Faire, Ideen zur Verbindung von Privatund Gemeinwirtschaft, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 82 (1927), S. 190 – 191. Pasinetti, L. L. (2007), Keynes and the Cambridge Keynesians. A ‚Revolution in Economics‘ to be accomplished, Cambridge u. a. (Cambridge University Press).
Zu den Autoren des Vorworts Prof. Dr. Peter Kalmbach ist Professor i. R. der Universität Bremen und Mitgründer der deutschen Keynes-Gesellschaft. Seine Forschungsgebiete sind: Theorie und Politik der Einkommensverteilung, technischer Wandel, Beschäftigung und Arbeitsmarkt sowie Theoriegeschichte. Prof. Dr. Jürgen Kromphardt ist emeritierter Professor am Institut für Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsrecht der Fakultät für Wirtschaft und Management der Technischen Universität Berlin. Er ist Vorsitzender und Gründungsmitglied der Keynes-Gesellschaft. 1999 – 2004 war er Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Seine Forschungsgebiete sind: Konjunktur und Wachstum, Beschäftigung und Arbeitsmarkt.
Dieser Schrift liegt eine Vorlesung des Verfassers an der Universität Berlin am 23. Juni 1926 zugrunde
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ie Einstellung zu den öffentlichen Angelegenheiten, die wir gemeinhin unter den Bezeichnungen Individualismus und laissez-faire zusammenfassen, wurzelt in verschiedenen Gedankengängen und Gefühlsmomenten. Über hundert Jahre lang wurden wir von unseren Philosophen regiert, die in diesem einen Punkte wie durch ein Wunder fast sämtlich einer Meinung waren oder wenigstens zu sein schienen. Selbst heute tanzen wir noch nach der gleichen Melodie – aber ein Wechsel liegt in der Luft. Die Stimmen, die einst am vernehmlichsten und am deutlichsten die politische Menschheit belehrt haben, hören wir heute nur noch undeutlich. Die Orchesterklänge und Chorgesänge verhallen, zum mindesten klingen sie uns wie aus weiter Ferne. Gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts machte das göttliche Recht der Fürsten den Menschenrechten und dem Gesellschaftsvertrag Platz, und das göttliche Recht der Kirche wich dem Prinzip der Toleranz und der Auffassung, daß die Kirche eine „freiwillige Vereinigung von Menschen“1 sei, die in „absolut freier und spontaner Weise“ entsteht. Fünfzig Jahre später wurde der göttliche Ursprung und die uneingeschränkte Herrschaft der Pflicht von Nützlichkeitserwägungen verdrängt. Locke und Hume gründeten auf diese Lehre den Individualismus. Der Gesellschaftsvertrag gewähr1
Locke, „A Letter concerning Toleration“.
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te dem Individuum bestimmte Rechte, und die neue Moral – im Grunde genommen nur die wissenschaftliche Konsequenz des rationalisierten Egoismus – stellte das Individuum in den Mittelpunkt. „Die einzige Verantwortung, die uns die Tugend auferlegt,“ sagt Hume, „ist richtige Berechnung und das stete Streben nach dem größten Maß von Glück“2. Diese Ideen stimmten mit den praktischen Vorstellungen der Konservativen und Juristen gut zusammen. Sie waren eine gute Begründung für die Eigentumsrechte und für das freie Verfügungsrecht des besitzenden Individuums über seine Person und sein Eigentum. Sie gehörten mit zu den Bestandteilen, die das achtzehnte Jahrhundert für die geistige Atmosphäre lieferte, in der wir noch heute leben. Die eigentliche Absicht, aus der heraus man das Individuum so in den Vordergrund gestellt hatte, war die Entthronung von Monarchie und Kirche; die Wirkung war – infolge der neuen moralischen Bedeutung, die man dem Gesellschaftsvertrag beilegte – eine Festigung des Eigentums und der gesetzlichen Vorschriften. Es dauerte jedoch nicht lange, bis die Gesellschaft von neuem ihre Ansprüche gegen das Individuum geltend machte, Paley und Bentham übernahmen den utilitaristischen Hedonismus3 von Hume und seinen Vorgän2 „An Enquiry concerning the Principles of Morals“, Kap. IX. 3 „Ich übergehe“, sagt Archdeacon Paley, „viele der üblichen Tiraden über die Würde und Fähigkeiten unserer natürlichen Anlagen, über die Überlegenheit der Seele über den Körper und unserer geistigen über unsere animalische Natur: über den Wert, die Feinheit und die Zartheit mancher Befriedigungen im Gegensatz zur Niedrigkeit, Roheit und Sinnlichkeit anderer: weil ich überzeugt bin, daß alle Freuden sich in
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gern, erweiterten ihn aber zu einer sozialen Nützlichkeitslehre. Rousseau übernahm den Gesellschaftsvertrag von Locke und entwickelte aus ihm die Lehre vom Gesamtwillen. Der Übergang vollzog sich überall dank des Nachdrucks, den man neuerdings auf die Gleichheit aller Menschen legte. „Locke suchte in seinem Gesellschaftsvertrag die Lehre von der natürlichen Gleichheit aller Menschen im Interesse der allgemeinen Sicherheit einzuschränken, insofern sie sich auch auf die Gleichheit des Besitzes oder gar der Vorrechte erstreckte. Bei Rousseau ist die Gleichheit nicht bloß der Ausgangspunkt, sondern zugleich auch das Ziel selbst4.“ Paley und Bentham kamen zum gleichen Ergebnis, aber auf verschiedenen Wegen. Paley brauchte einen deus ex machina, um nicht rein egoistisch die angenehmen Schlußfolgerungen aus seinem Hedonismus abzuleiten. Er meint: „Tugend heißt der Menschheit Gutes tun, nach Gottes Gebot und um der ewigen Glückseligkeit willen“ – und stellt auf diese Weise die Parität zwischen dem Ich und den Anderen wieder her. Bentham wurde durch die reine Vernunft zum gleichen Ergebnis geführt. Es bestehe kein rationaler Grund, so argumentierte er, das Glück eines Individuums, selbst das eigene Glück, der Glückseligkeit eines anderen Individuums vorzuziehen. Infolgedessen ist das größte Glück der größten Zahl das einzige vernunftgemäße Ziel unseres Verhaltens – wobei er die Nützlichkeitslehre von Hume übernimmt, aber die zynische Randbemerkung dieses nichts voneinander unterscheiden als in Dauer und Intensität.“ „Principles of Moral and Political Philosophy“, Bd. I, Kap 6. 4 Leslie Stephen, „English Thought in 18th Century“, Bd. II, S. 192.
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weisen Mannes vergißt: „Es ist durchaus nicht wider die Vernunft, wenn ich lieber die ganze Welt untergehen sehe, als daß mir ein Haar gekrümmt würde. Es ist auch nicht wider die Vernunft, wenn ich es vorziehe, mich völlig zugrunde zu richten, um einem Indianer oder einer mir völlig fremden Person die kleinste Unbequemlichkeit zu ersparen … Vernunft ist und soll nichts anderes sein als die Sklavin der Leidenschaften, sie kann daher kein anderes Amt beanspruchen, als ihnen zu dienen und zu gehorchen.“ Rousseau leitete die Gleichheit vom Naturzustand ab, Paley vom Willen Gottes und Bentham von einem mathematischen Gesetz der Gleichwertigkeit. Auf diese Weise kamen die Begriffe Gleichheit und Altruismus in die Staatsphilosophie hinein, und von Rousseau und Bentham zusammen stammen Demokratie und utilitaristischer Sozialismus her. Dies ist der zweite Gedankengang – entsprungen aus veralteten Kontroversen und fortgeführt durch längst aufgeflogene Sophismen –, der heute noch immer unsere Gedankenwelt durchzieht. Aber den früheren Gedankengang hat er nicht verdrängt: er hat sich mit ihm vereinigt. Der Beginn des neunzehnten Jahrhunderts vollbrachte diese wundersame Einigung. Sie brachte den konservativen Individualismus von Locke, Hume, Johnson und Burke in Einklang mit dem Sozialismus und der demokratischen Gleichheitslehre von Rousseau, Paley, Bentham und Godwin5. 5 Godwin ging im laissez-faire so weit, daß er jede Regierung für ein Übel hielt, worin ihm Bentham weitgehend zustimmte. Die Lehre von der Gleichheit aller Menschen wird bei ihm zu einem extremen Individualismus, der an Anarchie grenzt. „Die uneingeschränkte Freiheit des individuellen Ur-
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Nichtsdestoweniger wäre jener Zeit die Harmonisierung dieser Gegensätze nicht gelungen, wären nicht die Nationalökonomen im richtigen Moment auf der Bildfläche erschienen. Die Idee einer göttlichen prästabilierten Harmonie zwischen privatem Vorteil und allgemeinem Wohl erscheint schon bei Paley, aber erst die Ökonomen haben ihr eine feste wissenschaftliche Grundlage gegeben. Man nehme bloß an, daß infolge der Wirkung der Naturgesetze die Individuen, die völlig frei und aufgeklärt ihren persönlichen Interessen nachgehen, gleichzeitig auch das Allgemeinwohl fördern! Unsere philosophischen Schwierigkeiten sind damit gelöst – wenigstens für den Mann der Praxis, der seine Arbeit nunmehr darauf konzentrieren kann, die nötigen Bedingungen der Freiheit zu schaffen. Zu der philosophischen Lehre, daß der Staat kein Recht zur Einmischung habe, und zu dem göttlichen Wunder, daß er es gar nicht nötig habe, sich einzumischen, gesellt sich nun der wissenschaftliche Nachweis, daß seine Einmischung gar nichts nutzt. Das ist der dritte Gedankengang, den wir noch bei Adam Smith entdecken können. Adam Smith war grundsätzlich bereit, zuzugeben, daß sich das Allgemeinwohl auf das „natürliche Streben jedes Individuums, seine eigenen Lebensverhältnisse zu verbessern“, gründe; aber erst zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts hat sich diese Theorie voll und bewußt entwickelt. Dem Prinzip des laissez-faire war es gelungen, Individualismus und Sozialismus miteinander zu versöhnen und Humes Egoismus mit dem teils“, sagt er, „ist ein so unsagbar köstliches Gut, daß ein wirklicher Staatsmann eine unüberwindliche Abneigung dagegen empfinden wird, dieses Gut anzutasten.“ Siehe Leslie Stephen, op. cit. Bd. II, S. 277.
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größten Glück der größtmöglichen Anzahl zu vereinen. Der Staatsphilosoph konnte nunmehr dem Geschäftsmann das Feld räumen – denn dieser vermochte das Summum Bonum des Philosophen zu erreichen, wenn er lediglich seinen eigenen Vorteil verfolgte. Es fehlten aber noch einige Ingredienzien zur Fertigstellung des Puddings. In erster Linie die Korruption und Unfähigkeit der Regierungen des achtzehnten Jahrhunderts, die dem neunzehnten Jahrhundert noch manche Erbschaft hinterlassen haben. Der Individualismus der Staatsphilosophen wies in die Richtung des laissez-faire. Die göttliche oder wissenschaftliche Harmonie (je nachdem) zwischen Privatinteresse und Allgemeinwohl wies ebenfalls in die Richtung des laissezfaire. Vor allem aber hat die Unfähigkeit der Staatsbeamten den Mann der Praxis sehr stark zugunsten des laissez-faire beeinflußt – ein Gefühl, das auch heute noch keineswegs überwunden ist. Fast alles, was der Staat im achtzehnten Jahrhundert über seine Mindestobliegenheiten hinaus unternommen hat, war oder schien entweder schädlich oder erfolglos. Hingegen war der materielle Aufschwung der Zeit von 1750 bis 1850 lediglich individueller Initiative zu verdanken und fast gar nicht dem lenkenden Einfluß der organisierten Gesellschaft. Die aprioristische Beweisführung wurde auf diese Weise durch die praktische Erfahrung noch verstärkt. Die Philosophen und die Ökonomen erzählten, daß aus den verschiedensten tiefliegenden Gründen das unbehinderte Privatunternehmen dem Allgemeinwohl am zuträglichsten sei. Was konnte dem Geschäftsmann besser in den Kram passen? Konnte ein praktischer Beobachter, der die fortschrittlichen Segnungen seines Zeitalters vor Augen
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sah, leugnen, daß sie auf die Tätigkeit der „unternehmenden“ Individuen zurückzuführen seien? Die Lehre, derzufolge den staatlichen Einmischungen aus göttlichen, natürlichen oder wissenschaftlichen Gründen möglichst enge Grenzen gezogen und das Wirtschaftsleben so ungehindert wie möglich der Tüchtigkeit und dem gesunden Menschenverstand der einzelnen Bürger überlassen bleiben solle, die von dem bewundernswerten Motiv, in der Welt voranzukommen, geleitet werden, fiel also auf fruchtbaren Boden. Um die Zeit, als der Einfluß Paleys und seiner Gesinnungsgenossen im Abklingen begriffen war, begannen Darwins neue Lehren an den Grundfesten des Glaubens zu rütteln. Hat es größere Gegensätze gegeben, als die alte und die neue Lehre – die Lehre, die die Welt als das Werk eines göttlichen Uhrmachers betrachtete, und die andere Lehre, welche alle Dinge auf Zufall, Chaos und Wirkung der Zeit zurückführte? Aber in diesem einen Punkt stützten die neuen Ideen die alten. Die Ökonomen lehrten, Reichtum, Handel und Maschinen seien die Folgen des freien Wettbewerbs – die freie Konkurrenz habe London geschaffen. Die Darwinisten aber gingen noch einen Schritt weiter – die freie Konkurrenz hatte den Menschen geschaffen. Das menschliche Auge erschien nicht mehr als Symbol einer göttlichen Vorsehung, die auf wunderbare Weise alle Dinge zum besten lenkt, sondern als die vollendetste Schöpfung des Zufalls, der unter den Bedingungen des freien Wettbewerbs und des laissez-faire arbeitete. Man konnte das Prinzip vom Überleben des Tüchtigsten als die weiteste Verallgemeinerung der Ricardoschen Wirtschaftslehre auffassen. Sozialistische Einmischungen erschienen im Lichte dieser grandiosen Synthese nicht bloß als unnütz, sondern sogar als got-
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teslästerlich, weil sie angeblich den Fortschritt jenes mächtigen Geschehens verzögerte, das uns gleich Aphroditen dem Urschleim des Meeres entsteigen ließ. Ich führe daher die merkwürdige Einheitlichkeit der politischen Alltagsphilosophie des neunzehnten Jahrhunderts auf den Erfolg zurück, mit dem sie die verschiedenen einander bekämpfenden Lehren in Übereinstimmung brachte und alles Gute in einem Ziel vereinte. Hume und Paley, Burke und Rousseau, Godwin und Malthus, Cobbett und Huskisson, Bentham und Coleridge, Darwin und der Bischof von Oxford – sie alle, so entdeckte man plötzlich, predigten im Grunde genommen dasselbe: Individualismus und laissez-faire. Dies war die Kirche Englands und jene ihre Apostel; und die ganze Sippschaft der Ökonomisten war einzig und allein dazu da, um zu beweisen, daß die kleinste Abweichung vom Wege der Frömmigkeit finanziellen Ruin zur Folge haben müsse. Diese Gründe und diese ganze Atmosphäre erklären hinlänglich, warum wir bewußt oder unbewußt – und die meisten von uns sind sich in unserer degenerierten Zeit aller dieser Dinge kaum bewußt – eine so starke Neigung zum laissez-faire empfinden, und warum jede staatliche Einmischung in die Regelung der Währungsfragen oder der Kapitalanlagen in vielen stolzen Männerbrüsten auf so leidenschaftliches Mißtrauen stößt. Wir haben diese Autoren nicht gelesen – wahrscheinlich würden wir ihre Beweisführung albern finden, wenn uns ihre Bücher zufällig in die Hände fielen. Und trotzdem glaube ich nicht, daß wir heute so dächten, wie wir es tatsächlich tun, wenn Hobbes, Locke, Hume, Rousseau, Paley, Adam Smith, Bentham und Miß Martineau nie gedacht und geschrieben hätten. Man muß
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die Geschichte der Meinungen studieren, ehe man den eigenen Geist befreien kann. Ich weiß nicht, was mehr konservativ macht – wenn man nichts kennt außer der Gegenwart oder nichts außer der Vergangenheit.
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ch sagte, daß es die Nationalökonomen waren, die den Praktikern den wissenschaftlichen Vorwand geliefert haben, mit dessen Hilfe diese den Widerspruch zwischen Egoismus und Sozialismus lösen konnten, der sich aus den Philosophien des achtzehnten Jahrhunderts und dem Verfall der Offenbarungsreligionen ergeben hatte. Der Kürze zuliebe habe ich mich so ausgedrückt, möchte diese Behauptung aber gleich näher erläutern. Man hat angenommen, daß die Ökonomen jene Dinge gesagt hätten. In Wirklichkeit finden wir nichts dergleichen in den Schriften der großen Autoritäten; vielmehr stammen diese Aussprüche nur von den Popularisatoren und Verbreitern jener Lehren her. Die Utilitaristen, die gleichzeitig Humes Egoismus und Benthams Gleichheit anerkannten, mußten daran glauben, wenn sie überhaupt eine Synthese zustande bringen wollten6. Die Ausdrucksweise der Ökonomen gab sich sehr gut zur Begründung des laissez-faire her. Aber die Popularität der Lehre ist mehr auf die Staatsphilosophen jener Zeit zurückzuführen, denen sie zufällig in den Kram paßte, als auf die Nationalökonomen.
6 Man kann die Ansicht Coleridges gutheißen, wie sie von Leslie Stephen wiedergegeben wird, nämlich daß „die Utilitaristen jedes Zusammengehörigkeitsgefühl zerstört, die Gesellschaft zu einem Tummelplatz egoistischer Interessen gemacht, gegen alle Ordnung, Patriotismus, Poesie und Religion gesündigt hätten“.
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Der Grundsatz laissez-nous faire wird gewöhnlich dem Kaufmann Legendre zugeschrieben, der ihn einst gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts gegenüber Colbert geäußert haben soll7. Aber der erste Schriftsteller, der ihn benutzt hat, und zwar in deutlicher Verbindung mit der Lehre selbst benutzt hat, war zweifellos der Marquis d’Argenson um das Jahr 1751 herum8. Der Marquis suchte als Erster leidenschaftlich die wirtschaftlichen Vorteile aufzuzeigen, die dem Staate erwachsen, wenn er den Handel sich selbst überläßt. Um besser zu regieren, sagte er, müsse man weniger regieren9. Die wirkliche Ursache des Niedergangs unserer Industrie, behauptete er, sei der übertriebene Schutz, den wir ihr angedeihen ließen10. „Laissez faire, telle devrait être la devise de toute puissance publique, depuis que le monde est civilisé.“ „Détestable principe que celui de ne vouloir notre grandeur que par l’abaissement de nos voisins! Il n’y a que la méchanceté et la malignité du cœur de satisfaites dans ce principe, et l’interet y est opposé. Laissez faire, morbleu! Laissez faire!!“ 7 „Que faut-il faire pour vous aider?“ fragte Colbert. „Nous laisser faire“, antwortete Legendre. 8 Über die Geschichte dieser Redensart siehe Oncken „Die Maxime des laissez-faire et laissez passer“, dem die meisten folgenden Zitate entnommen sind. Die Forderungen des Marquis d’Argenson verhallten ungehört, bis Oncken sie aufgegriffen hatte, teils weil die bei seinen Lebzeiten veröffentlichten wichtigeren Abschnitte nur anonym erschienen waren (Journal Oeconomique, 1751), teils weil seine Werke bis zum Jahre 1858 nicht vollständig gedruckt waren (wenngleich sie bei seinen Lebzeiten vermutlich privatim von Hand zu Hand gegangen sind); vgl. Mémoires et Journal inédit du Marquis d’Argenson. 9 „Pour gouverner mieux, il faudrait gouverneur moins.“ 10 „On ne peut dire autant de nos fabriques: la vraie cause de leur déclin, c’est la protection outrée qu’on leur accorde.“
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In diesen Sätzen finden wir also die wirtschaftliche Lehre des laissez-faire mit ihrer glühendsten Verkörperung im Freihandel bereits voll ausgeprägt. Der Ausdruck und die Idee müssen von jener Zeit an in Paris sehr geläufig gewesen sein. Es dauerte jedoch lange, ehe sie sich in der Literatur eingebürgert hatten; und die Tradition, die sie mit den Physiokraten, speziell mit de Gournay und Quesnay, in Verbindung bringt, findet in den Schriften jener Schule wenig Anhalt, obzwar auch sie natürlich die Übereinstimmung der allgemeinen und der individuellen Interessen verkündeten. Der Ausdruck laissez-faire findet sich weder bei Adam Smith noch bei Ricardo oder Malthus. Selbst die Idee an sich ist in dogmatischer Form bei keinem dieser Schriftsteller vorhanden. Adam Smith war natürlich Freihändler und Gegner vieler im achtzehnten Jahrhundert dem Handel auferlegten Beschränkungen. Aber seine Haltung gegenüber der Navigationsakte und den Wuchergesetzen beweist, daß er nicht dogmatisch war. Selbst die berühmte Stelle über die „unsichtbare Hand“ spiegelt eher die Philosophie wieder, die wir an Paleys Namen zu knüpfen gewohnt sind, als das wirtschaftliche Dogma des laissez-faire. Wie Sidgwick11 und Cliffe Leslie gezeigt haben, schrieb sich Adam Smiths Eintreten für das „auf der Hand liegende und einfache System der natürlichen Freiheit“ mehr von seiner optimistischen und theistischen Weltanschauung her, wie sie in seiner „Theory of Moral Sentiments“12 zum Ausdruck kommt, als von irgendeiner H. Sidgwick, Principles of Political Economy, S. 20. Geschrieben 1793, ein Kapitel veröffentlicht in der Bibliothèque Britannique 1798 und das ganze Werk zum erstenmal gedruckt in Bowrings Ausgabe seiner Werke 1843. 11 12
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rein wirtschaftlichen Theorie. Der Ausdruck laissezfaire kam in England meines Wissens in allgemeinen Gebrauch durch eine bekannte Stelle in Dr. Franklins Werken. Erst in den späteren Werken Benthams13 – der überhaupt kein Nationalökonom war – stoßen wir auf die Theorie des laissez-faire in der Form, in der unsere Großväter sie gekannt haben; bei ihm in den Dienst der utilitaristischen Philosophie gestellt. In seinem „Manual of Political Economy“ schreibt er zum Beispiel: „Die allgemeine Regel geht dahin, daß der Staat nichts unternehmen oder zu unternehmen versuchen solle; das Motto oder die Losung des Staates sollte in solchen Fällen heißen: Bleibt ruhig . . . Diese Forderung von Landwirtschaft, Handel und Industrie an den Staat ist ebenso bescheiden und verständig wie Diogenes’ Bitte an Alexander: Geh mir aus der Sonne.“ Von dieser Zeit an haben der politische Feldzug für den Freihandel, der Einfluß der sogenannten Manchester-Schule und der Benthamschen Utilitaristen, die mannigfachen Aussprüche wirtschaftlicher Autoritäten zweiten Ranges und die lehrhaften Erzählungen von Miß Martineau und Mrs. Marcet das laissez-faire im täglichen Denken als die praktische Folge der orthodoxen Nationalökonomie verankert – nur mit dem großen Unterschied, daß dieselbe Schule inzwischen die Malthussche Bevölkerungstheorie angenommen hatte und das optimistische laissez-faire der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts dem pessimistischen laissez-faire der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gewichen war14. 13 Bentham benutzt den Ausdruck laissez-nous faire. Works, S. 440.
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In Mrs. Marcets „Conversations on Political Economy“ (1817) beharrt Caroline so lange wie möglich darauf, daß die Ausgaben der Reichen kontrolliert werden müßten. Aber auf Seite 418 muß sie die Segel streichen: Caroline: „Je mehr ich von diesen Dingen einsehe, um so mehr werde ich davon überzeugt, daß die Interessen der Nationen und die Interessen der Individuen einander nicht nur nicht zuwiderlaufen, sondern miteinander in vollkommenstem Einklang stehen.“ Mrs. B.: „Alle freien und großzügigen Ideen müssen stets zu ähnlichen Schlußfolgerungen führen und uns lehren, das Gefühl gegenseitigen Wohlwollens zu pflegen; daher die Überlegenheit der Wissenschaft über bloße praktische Kenntnisse.“ Bis zum Jahre 1850 ließen die „Easy Lessons for the Use of Young People“ des Erzbischofs Whatley (die von der Gesellschaft zur Förderung Christlichen Wissens massenhaft verteilt wurden) nicht einmal jene Zweifel zu, die Mrs. B. Carolinen gelegentlich auszusprechen gestattete. Das Büchlein schließt mit der Behauptung „jede staatliche Einmischung in die Geldangelegenheiten der Menschen, mag es sich um Verleihen oder Borgen, um Kaufen oder Verkaufen jeder Art handeln, richtet höchst wahrscheinlich mehr Schaden als Nutzen an“. Die wahre Freiheit besteht darin, daß 14 Vergl. Sidgwick (op. cit. S. 22): Selbst jene Nationalökonomen, die im wesentlichen Anhänger der Adam Smithschen Begrenzung der staatlichen Einmischung waren, setzten diese Begrenzungen eher widerwillig als triumphierend durch; nicht weil sie die aus der „natürlichen Freiheit“ entstandene gegenwärtige Ordnung bewundert hätten, sondern weil sie überzeugt waren, daß sie jeder künstlichen Ordnung, die der Staat an ihre Stelle setzen könnte, immer noch vorzuziehen sei.
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„jedermann frei über sein Eigentum, seine Zeit, seine Kraft und seine Fähigkeiten verfügen kann, und zwar auf die Art, die ihm richtig dünkt, vorausgesetzt, daß er seinen Nachbarn damit nicht schadet“. Kurzum, das Dogma hatte den Erziehungsapparat erobert; es war zu einer Fibelweisheit geworden. Die Staatsphilosophie, welche das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert geschmiedet hatte, um Könige und Kirchenfürsten zu stürzen, hatte sich in Kindermilch verwandelt und buchstäblich in die Kinderstuben Einzug gehalten. Schließlich erreichen wir in den Werken Bastiats den am meisten extravaganten und den überschwenglichen Ausdruck der Religion der Nationalökonomen. In seinen „Harmonies Economiques“ sagt er: „Ich möchte die Harmonie der göttlichen Gesetze aufzeigen, die die menschliche Gesellschaft beherrschen. Was diese Gesetze harmonisch macht statt disharmonisch, ist das Zusammenwirken aller Grundsätze, aller Motive, aller Triebfedern und aller Interessen zu einem großen Endziel. Dieses Ziel ist die unbeschränkte Annäherung aller Klassen an ein stets steigendes Niveau; mit anderen Worten die Gleichstellung aller Individuen in einer allgemeinen Emporentwicklung.“ Und wo er, gleich anderen Priestern, sein Credo bekennt, so lautet es folgendermaßen: „Ich glaube, daß Er, der die materielle Weltordnung schuf, auch der sozialen Weltordnung seine Aufmerksamkeit nicht vorenthalten hat. Ich glaube, daß Er die freien Kräfte ebenso kombiniert und in harmonische Bewegung gesetzt hat, wie die leblosen Moleküle … Ich glaube, die unbezwingliche soziale Tendenz geht auf die ständige Annäherung der Menschheit an eine gemeinsame Moral hin, an ein geistiges und kör-
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perliches Niveau, das sich unbegrenzt erhöht und steigert. Ich glaube, zur allmählichen und friedlichen Entwicklung der Menschheit ist nichts weiter nötig, als daß man diese Tendenzen nicht durchkreuzt und ihre freie Bewegung nicht stört.“ Von der Zeit John Stuart Mills an machte sich bei allen Nationalökonomen von Bedeutung eine starke Gegenströmung gegen alle diese Ideen geltend. „Es gibt wohl keinen englischen Nationalökonomen von Ruf,“ wie Professor Cannan sich ausdrückte, „der sich an einem allgemeinen Angriff gegen das Prinzip des Sozialismus beteiligen würde“, obgleich, wie er gleich hinzufügte, „fast jeder Nationalökonom, ob berühmt oder nicht, immer bereit ist, gerade in den sozialistischen Vorschlägen Fehler zu entdecken“15. Nationalökonomen haben heute keine Beziehung mehr zu den theologischen oder politischen Philosophien, aus denen das Dogma der Gesellschaftsharmonie entstanden ist, und ihre wissenschaftlichen Forschungen führen sie nicht mehr zu ähnlichen Schlußfolgerungen. Cairnes war in seiner Antrittsvorlesung über „Political Economy and Laissez-Faire“, die er 1870 an der Londoner Universität gehalten hat, vielleicht der erste orthodoxe Nationalökonom, der einen Angriff auf das laissez-faire im allgemeinen unternahm. „Der Grundsatz des laissez-faire“, erklärte er, „hat überhaupt keine wissenschaftliche Grundlage, sondern ist bestenfalls eine handliche Gewohnheitsregel16.“ Dieses ist seit fünf„Theories of Production and Distribution“, S. 494. In der gleichen Vorlesung gab Cairnes die „herrschende Ansicht“ in folgenden Sätzen sehr richtig wieder: „Die herrschende Ansicht geht dahin, die Nationalökonomie habe nachgewiesen, daß Reichtum am schnellsten angesammelt 15 16
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zig Jahren der Standpunkt sämtlicher führenden Nationalökonomen. Ein höchst wichtiger Teil der Arbeit Alfred Marshalls – um nur ein Beispiel zu nennen – war der Aufzeigung der bedeutsamsten Fälle gewidmet, in denen Privatinteresse und Gesellschaftsinteresse nicht konform gehen. Trotzdem vermochte sich die vorsichtige und undogmatische Einstellung der besten Nationalökonomen nicht gegen die allgemeine Meinung durchzusetzen, daß sie eigentlich das individualistische laissez-faire zu lehren hätten und de facto auch wirklich lehren. Die Nationalökonomen wählten sich, wie auch andere Wissenschaftler, die Hypothese, von der sie ausgehen, und die sie dem Anfänger darbieten, weil sie die einfachste ist, nicht weil sie den Tatsachen am nächsten kommt. Teils aus diesem Grunde, teils auch, wie ich zugebe, weil sie durch Tradition beeinflußt sind, begannen sie mit der Annahme eines Zustandes, bei dem die ideale Verteilung der Produktionsgüter durch die unabhängige individuelle Tätigkeit nach der Methode von Versuch und Irrtum geschieht, wobei die Individuen, die den richtigen Weg einschlagen, im Wettbewerb über jene Individuen obsiegen, die den falschen Weg und am gerechtesten verteilt wird, das heißt, daß das Allgemeinwohl der Menschheit am besten gefördert wird, wenn man die Menschen einfach sich selbst überläßt; wenn man also die Menschen dem Trieb ihres Egoismus folgen läßt, ohne sie durch Staat oder öffentliche Meinung zu beschränken, so lange sie sich der Gewalt und des Betruges enthalten. Das ist die Lehre, die weit und breit als laissez-faire bekannt ist; und folglich wird die Nationalökonomie, meiner Meinung nach, gewöhnlich als eine Art wissenschaftlicher Darstellung dieser Lehre angesehen – als Rechtfertigung der individuellen Unternehmungs- und Vertragsfreiheit als der einzig möglichen und genügenden Lösung aller wirtschaftlichen Probleme.“
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genommen haben. Daraus folgt, daß es keine Gnade und keinen Schutz für jene geben dürfe, die ihr Kapital oder ihre Arbeitskraft in die falsche Richtung steuern. Durch diese Methode kommen die erfolgreichsten Profitmacher durch einen unbarmherzigen Kampf ums Dasein nach oben, einen Kampf, der mit einer Auslese der Tüchtigsten durch den Bankrott der minder Tüchtigen endet. Diese Methode stellt die Kosten des Kampfes selbst nicht in Rechnung, sondern hat nur die Vorteile des Endresultates im Auge, die man für dauernde hält. Ihr zufolge besteht das Lebensziel darin, die obersten Blätter von den Zweigen abzugrasen, und der beste Weg, dieses Ziel zu erreichen, ist der, wenn man zuläßt, daß die Giraffen mit den längsten Hälsen die Giraffen mit kürzeren Hälsen aushungern. Entsprechend dieser Methode, eine ideale Verteilungsart der Produktionsmittel für die verschiedenen Zwecke zu erreichen, gibt es eine ähnliche Voraussetzung über die Art, wie sich eine ideale Verteilung der Verbrauchsgüter bewerkstelligen läßt. Erstens wird jedes Individuum mittels der Methode von Versuch und Irrtum nach dem Prinzip des „Grenzwertes“ finden, welche Verbrauchsgüter es selbst am meisten begehrt; auf diese Weise wird jeder Konsument nicht nur seinen eigenen Verbrauch am vorteilhaftesten ordnen, sondern jedes Verbrauchsgut wird auch den Weg zu dem Verbraucher finden, der es im Vergleich zu den übrigen am stärksten begehrt, weil der betreffende Konsument die anderen überbieten wird. Wenn wir also die Giraffen sich selbst überlassen, so wird 1. die größte Zahl von Blättern geerntet werden, weil die Giraffen mit den längsten Hälsen dadurch, daß sie die anderen aushungern, näher an die Bäume herankommen; 2. jede Giraffe wird sich an die Blätter heranmachen, die sie
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in ihrer Reichweite am schmackhaftesten findet; 3. werden die Giraffen, bei denen die Nachfrage nach einem bestimmten Blatt am größten ist, ihre Hälse auch am meisten danach ausrecken. Auf diese Weise werden mehr und saftigere Blätter verschluckt werden, und jedes einzelne Blatt wird in den Hals wandern, der sich seinetwillen am meisten angestrengt hat. Diese Annahme von Verhältnissen, unter denen die ungehinderte natürliche Auslese einen Fortschritt erzeugt, ist nur eine der beiden provisorischen Voraussetzungen, die, als buchstäbliche Wahrheit aufgefaßt, zu den beiden Stützen das laissez-faire geworden sind. Die zweite Voraussetzung ist die Wirksamkeit, und sogar die Notwendigkeit, der Freigabe unbeschränkter Möglichkeiten privaten Geldverdienens als Reizmittel zu höchster Anstrengung. Unter dem System des laissezfaire wächst der Profit des Individuums, das sich durch Tüchtigkeit oder Glück mit seinen Produktionsmitteln zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle einfindet. Ein System, das dem geschickten oder glücklichen Individuum gestattet, die ganzen Früchte dieser Konjunktur einzuheimsen, bietet ganz offenbar einen ungeheuren Anreiz zur Ausübung der Kunst, zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle zu sein. Auf diese Weise wird einer der mächtigsten menschlichen Triebe, die Liebe zum Gelde, zu einer Verteilung der wirtschaftlichen Mittel angeschirrt, die auf eine möglichste Steigerung des Volkswohlstandes abzielt. Der Parallelismus zwischen dem wirtschaftlichen laissez-faire und dem Darwinismus, den ich schon kurz gestreift habe, erscheint nun, wie Herbert Spencer als Erster erkannte, als wirklich sehr eng. So wie Darwin die sexuelle Liebe, die sich durch die sexuelle Zucht-
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wahl auswirkt, als Hilfsmittel der Auslese im Kampf ums Dasein in Anspruch nahm, um die Entwicklung in eine Richtung zu leiten, die ebenso wünschenswert wie zweckmäßig ist, so nimmt der Individualist die Liebe zum Gelde, die sich im Streben nach Profit auswirkt, als Hilfsmittel der natürlichen Auslese in Anspruch, um die Produktion jener Güter, die nach ihrem Tauschwert gemessen am meisten begehrt sind, in größtmöglichem Maßstabe zu bewirken. Die Schönheit und die Einfachheit dieser Theorie sind so groß, daß man leicht vergißt, daß sie nicht den wirklichen Tatsachen entspricht, sondern sich aus einer der Einfachheit halber angenommenen unvollständigen Hypothese ableitet. Abgesehen von anderen später zu erörternden Einwendungen, stützt sich die Schlußfolgerung, daß der größte Reichtum durch die ungehinderte, egoistische Tätigkeit der Individuen erzeugt werde, auf viele unrichtige Voraussetzungen, nämlich daß die Vorgänge von Produktion und Konsumtion nichts Organisches seien, daß eine genügende Voraussicht der Verhältnisse und Bedürfnisse vorhanden sei, sowie die Möglichkeit, sich diese Voraussicht zu erwerben. Denn die Nationalökonomen sparen sich meistens die entstehenden Komplikationen für ein späteres Stadium ihrer Beweisführung auf. Solche Komplikationen entstehen: 1. wenn die Produktionseinheiten im Verhältnis zu den Konsumtionseinheiten ziemlich groß sind, 2. wenn Generalunkosten oder Nebenunkosten stark hineinspielen, 3. wenn die inneren Wirtschaftsverhältnisse auf eine Steigerung der Produktion hinwirken, 4. wenn die für Umstellungen erforderliche Zeitspanne sehr lang ist, 5. wenn Unkenntnis vorherrscht, 6. wenn Monopole und Trusts die Gleichheit beim freien Vertragsabschluß aufheben; eine Erklärung dieser Tatsachen spa-
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ren sich die Nationalökonomen, wie gesagt, für ein späteres Stadium ihrer Argumentation auf. Überdies sind viele von ihnen, auch wenn sie einsehen, daß die vereinfachte Hypothese den Tatsachen nicht genau entspricht, der Meinung, sie stelle jedenfalls den „natürlichen“ und darum idealen Zustand dar. Sie betrachten die vereinfachte Hypothese als das Gesunde und die weiteren Komplikationen als Krankheitserscheinungen. Außer dieser Tatsachenfrage gibt es noch andere allgemein bekannte Erwägungen, welche ganz richtig auch die Kosten und die Art des Daseinskampfes selbst in Rechnung stellen sowie die Tendenz zur Verteilung des Reichtums an Stellen, an denen er nicht am meisten geschätzt wird. Wenn uns das Wohl der Giraffen am Herzen liegt, so dürfen wir die Leiden derer mit kürzeren Hälsen, die ausgehungert werden, nicht übersehen, noch die süßen Blätter, die zu Boden fallen und während des Kampfes unter den Füßen zertrampelt werden, noch die Überfütterung der langhalsigen, noch den bösen Blick oder die gierige Gefräßigkeit, die sich in den milden Gesichtern der Herde widerspiegelt. Aber das Prinzip des laissez-faire hat noch andere Verbündete außer den nationalökonomischen Lehrbüchern. Man muß zugeben, daß die Schwäche der gegnerischen Theorien – des Protektionismus einerseits und des marxistischen Sozialismus andererseits – das Prinzip des laissez-faire bei gründlichen Denkern und dem verständigen Publikum noch befestigt hat. Diese Theorien sind beide nicht bloß oder hauptsächlich durch ihre Überschneidung der allgemeinen Voraussetzung des laissez-faire charakterisiert, sondern durch die logischen Trugschlüsse, die ihnen zugrunde liegen. Beide sind ein Beispiel der Gedankenarmut, der Unfähig-
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keit, einen Vorgang zu analysieren und bis in seine letzten Konsequenzen zu verfolgen. Die Argumente gegen diese Theorien werden durch das Prinzip des laissez-faire verstärkt, aber sie haben es gar nicht besonders nötig. Von den beide ist der Schutzzoll wenigstens einleuchtend, so daß seine Popularität nicht weiter wunder nimmt. Aber der marxistische Sozialismus wird immer eine crux in der Geschichte der Lehrmeinungen bleiben – wie es möglich sein konnte, daß eine so unlogische und langweilige Lehre einen so mächtigen und dauernden Einfluß auf den Geist der Menschen und durch ihn auf den Gang der Geschichte auszuüben vermochte. Jedenfalls haben die augenfälligen wissenschaftlichen Mängel beider Theorien weitgehend zur Hebung des Ansehens und der Autorität des laissez-faire im neunzehnten Jahrhundert beigetragen. Selbst die größte Abweichung vom individuellen laissez-faire in der Richtung einer zentralen Zusammenfassung aller gesellschaftlichen Kräfte – der letzte Weltkrieg – hat weder die Reformer ermutigt, noch veraltete Vorurteile zerstreut. Freilich läßt sich auf beiden Seiten viel dazu sagen. Die Kriegserfahrung bei der Organisation der sozialisierten Produktion hat bei vielen eingeweihten Beobachtern den optimistischen Wunsch erweckt, diese Organisation auch im Frieden zu wiederholen. Der Kriegssozialismus wirkte unzweifelhaft gütererzeugend, und zwar in einem viel größeren Maßstabe als wir es je im Frieden gekannt haben; denn wenn damals die Güter und Dienste auch nur für augenblickliche und unfruchtbare Zerstörung bestimmt waren, so bedeuteten sie doch nichtsdestoweniger Mehrschaffung von Werten. Trotzdem war die Vergeudung der Kräfte und die allgemeine Verschwendung ebenfalls enorm, gar nicht davon zu reden, daß die
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Gleichgültigkeit gegen die Kosten jeden sparsamen oder vorsorglichen Menschen abschreckte. Der Individualismus und das laissez-faire hätten sich schließlich trotz ihrer tiefen Verwurzelung in der politischen und moralischen Philosophie des späten achtzehnten und des frühen neunzehnten Jahrhunderts doch nicht ihren dauernden Einfluß auf die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten bewahren können, wenn sie sich nicht mit den Bedürfnissen und Wünschen der Geschäftswelt jener Tage gedeckt hätten. Sie ließen unseren früheren Helden, den großen Geschäftsleuten, den größten Spielraum. „Mindestens die Hälfte der besten Begabungen der westlichen Welt“, pflegte Marshall zu sagen, „ist im Geschäftsleben tätig.“ Ein großer Teil der „mit höherer Phantasie Begabten“ jenes Zeitalters stand im Dienste des „business“. Auf die Tätigkeit dieser Männer konzentrierten sich alle unsere Hoffnungen auf Fortschritt. „Diese Art Männer“, schrieb Marshall17, „leben in einer Welt selbstgeschaffener, fortgesetzt wechselnder Visionen, und erblicken immer neue Wege, auf denen sie das gewünschte Ziel erreichen können; sie sehen die Schwierigkeiten voraus, die ihnen die Natur auf jedem einzelnen Wege entgegensetzten wird, und finden gleichzeitig neue Mittel zu ihrer Überwindung. Diese Phantasie findet bei dem Volke wenig Anerkennung, weil es sich nicht für sie schwärmen läßt; ihre Stärke wird durch einen noch stärkeren Willen gebändigt; und ihr höchster Ruhm liegt in der Erreichung großer Ziele mit so einfachen Mitteln, daß man niemals erfährt und selbst die Wissenden kaum ahnen, wie ein Dutzend anderer Mög17 „The Social Possibilities of Economic Chivalry“, Economic Journal (1907), Bd. XVII, S. 9.
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lichkeiten, von denen jede dem flüchtigen Beobachter ebenso glänzend dünkt wie die vorhergehende, zugunsten des einfachsten Mittels beiseite geschoben werden. Die Phantasie dieser Männer beschäftigt sich wie die eines Schachmeisters mit der Voraussicht der Schwierigkeiten, die dem erfolgreichen Ausgang seiner weitreichenden Pläne entgegengesetzt werden könnten, und der darum fortwährend glänzende Vorschläge ablehnt, weil er schon selbst die Gegenzüge voraussieht. Seine Nervenstärke steht im größten Gegensatz zu der nervösen Unverantwortlichkeit von Leuten, die übereilte utopische Pläne schmieden, die man etwa der kühnen Leichtfertigkeit eines schwachen Spielers vergleichen könnte, der schnell die schwierigsten Schachprobleme löst, weil er über die schwarzen Figuren ebenso disponiert wie über die weißen.“ Dies ist ein ausgezeichnetes Porträt des großen Industriekapitäns, des Meister-Individualisten, der, wie jeder Künstler, uns dient, indem er sich selbst dient. Und doch beginnt auch dieses Idol seinen Glanz zu verlieren. Wir werden immer mehr zweifelhaft, ob wir an seiner Hand ins Paradies eingehen werden. Diese vielfachen Bestandteile haben zu unserer heutigen Geistesrichtung, zur geistigen Einstellung und zur Orthodoxie unserer Zeit beigetragen. Die treibende Kraft vieler ursprünglicher Gründe ist dahin, sie sind aber, wie gewöhnlich, von der Lebensfähigkeit ihrer Schlußfolgerungen überdauert worden. Wenn man der „City“ von London eine gemeinsame Aktion für das Allgemeinwohl vorschlagen wollte, so wäre das ebenso als wollte man über die „Entstehung der Arten“ mit einem Bischof von vor sechzig Jahren diskutieren. Die erste Reaktion ist keine intellektuelle, sondern eine mo-
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ralische. Ein orthodoxer Glaube ist in Gefahr, und je überzeugender die Argumente sind, desto größer ist die Lästerung. Trotzdem habe ich mich in die Höhle des schlafenden Ungeheuers gewagt, jedenfalls habe ich seine Ansprüche und seinen Stammbaum verfolgt, um zu beweisen, daß es uns mehr durch erbliche Vorrechte als durch persönliches Verdienst beherrscht hat.
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ir wollen nunmehr gründlich mit den metaphysischen und allgemeinen Prinzipien aufräumen, auf die man von Zeit zu Zeit das Laissez-faire immer wieder aufbaut. Es ist nicht wahr, daß jedes Individuum eine vorgeschriebene „natürliche Freiheit“ seiner wirtschaftlichen Tätigkeit besitzt. Es gibt keinen „Vertrag“, der denen, die schon besitzen oder die noch erwerben, ewige Rechte überträgt. Die Welt wird von oben her nicht so regiert, daß private und allgemeine Interessen immer zusammenfallen. Sie wird von unten her nicht so verwaltet, daß diese beiden Interessen in praxi zusammenfallen. Aus den Prinzipien der Nationalökonomie folgt nicht, daß der aufgeklärte Egoismus immer zum allgemeinen Besten wirkt. Es ist auch nicht wahr, daß der Egoismus im allgemeinen immer aufgeklärt ist; meistenteils sind die Individuen, die einzeln ihre egoistischen Interessen verfolgen, zu unwissend oder zu schwach, um auch nur diese zu erreichen. Die Erfahrung lehrt nicht, daß Individuen, die sich zu einer gesellschaftlichen Gruppe zusammenschließen, immer weniger klarsichtig sind, als wenn sie einzeln handeln. Wir können das, was Burke „eines der subtilsten Probleme der Gesetzgebung“ genannt hat, „nämlich die Bestimmung darüber, was der Staat selbst auf sich nehmen muß, um die allgemeine Vernunft zu leiten, und was er unter möglichst geringer Einmischung dem Tun
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des Individuums überlassen soll“18, nicht nach abstrakten Theorien entscheiden, sondern müssen es nach seinem Wert im Einzelnen durchgehen. Wir müssen unterscheiden zwischen dem, was Bentham in seiner vergessenen, aber nützlichen Nomenklatur Agenda und Non-Agenda genannt hat, aber ohne die Annahme Benthams, daß jede Staatseinmischung sowohl „ganz zwecklos“ als „ganz schädlich“ sei19. Es ist vielleicht die wichtigste Aufgabe der heutigen Nationalökonomen, von neuem zwischen den Agenda und den Non-Agenda des Staates zu unterscheiden; parallel damit geht die Aufgabe der Politik, im Rahmen der Demokratie Staatsformen zu finden, welche der Übernahme der Agenda gewachsen sind. Ich will an zwei Beispielen erläutern, was ich meine. 1. Ich glaube, daß die ideale Größe für die Organisations- und Kontrolleinheit irgendwo zwischen dem Individuum und dem modernen Staat liegt. Daher glaube ich, daß der Fortschritt in der Richtung der Entwicklung und der Anerkennung halbautonomer Körperschaften im Rahmen des Staates liegt; – Körperschaften, die in ihrem Wirkungskreis nur nach dem Kriterium des Allgemeinwohls handeln, so wie sie es auffassen, und aus deren Erwägungen Motive privaten Vorteils völlig ausscheiden – wobei man ihnen allerdings in mancher Hinsicht, solange der menschliche Altruismus nicht gewachsen ist, für ihre Gruppe, Klasse oder Fakultät gewisse Vorteile belassen muß –; Körperschaften, die unter normalen Umständen innerhalb bestimmter 18 Zitiert nach Mc Culloch in seinen „Principles of Political Economy“. 19 Benthams „Manual of Political Economy“, veröffentlicht nach seinem Tode in Bowrings Ausgabe (1843).
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Grenzen großenteils autonom sind, aber letzten Endes der Souveränität der Demokratie, die sich im Parlament verkörpert, unterstehen. Ich schlage also gewissermaßen eine Rückkehr zu den mittelalterlichen Formen selbständiger Autonomien vor. Aber Körperschaften sind, wenigstens in England, eine Regierungsform, die niemals aufgehört hat, wichtig zu sein, und die mit unseren übrigen Einrichtungen gut zusammenstimmt. Es ließen sich eine Menge bereits vorhandener Beispiele für gesonderte Autonomien anführen, die sich der von mir vorgeschlagenen Form annähern oder sie bereits erreicht haben – die Universitäten, die Bank von England, der Londoner Hafen, vielleicht sogar die Eisenbahngesellschaften. In Deutschland gibt es gewiß analoge Beispiele. Noch interessanter aber ist die Entwicklung der Aktiengesellschaften, wenn sie ein gewisses Alter und eine gewisse Größe erreicht haben, bei der sie sich mehr dem Status einer öffentlichen Korporation annähern als dem eines individuellen Privatunternehmens. Eine der wenigst bemerkten und interessantesten Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ist die Tendenz der Großunternehmungen, sich selbst zu sozialisieren. In der Entwicklung eines Großunternehmens kommt ein Moment – besonders bei großen Eisenbahnunternehmungen oder einem großen gemeinnützlichen Unternehmen, aber auch bei Großbanken oder großen Versicherungsgesellschaften –, in dem die Kapitalbesitzer, das heißt die Aktionäre, fast gänzlich von der Verwaltung losgelöst sind, mit dem Erfolg, daß das unmittelbare persönliche Interesse der Verwaltung an großen Profiten eine sekundäre Bedeutung bekommt. Sobald dieser Punkt erreicht ist, legt die Verwaltung größeren
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Wert auf die allgemeine Stabilität und das Ansehen der Institution als auf die höchstmöglichen Gewinne für die Aktionäre. Diese müssen sich mit angemessenen Dividenden zufrieden geben; sind die Dividenden erst gesichert, so hat die Verwaltung oft nur noch das unmittelbare Interesse, jede Kritik der Öffentlichkeit und der Kunden zu vermeiden. Dies gilt vornehmlich für die Fälle, in denen das Unternehmen durch seine Größe oder seine halbmonopolistische Stellung stark exponiert ist, zumal wenn es durch öffentliche Angriffe leicht geschädigt werden kann. Vielleicht das extremste Beispiel dieser Tendenz bietet eine theoretisch rein in Privatbesitz befindliche Institution, nämlich die Bank von England. Man könnte beinahe sagen, daß der Gouverneur der Bank von England bei seinen geschäftlichen Entscheidungen an keine Menschengruppe im ganzen Königreich weniger denkt als an seine Aktionäre. Ihre Rechte, die über die Entgegennahme angemessener Dividenden hinausgehen, sind fast gleich Null. Das Gleiche gilt bereits in gewissem Maße auch für viele andere große Unternehmungen. Mit der Zeit beginnen sie sich selbst zu sozialisieren. Nicht als ob dies ein ganz reiner Gewinn wäre. Dieselben Triebkräfte führen zu starkem Festhalten am alten Konservativismus und tragen zum Verschwinden des Unternehmungsgeistes bei. Tatsächlich sehen wir heute schon in diesen Fällen viele der Fehler wie der Vorzüge des Staatssozialismus. Dennoch halte ich diese Tendenz für die natürliche Entwicklungsrichtung. Der Kampf des Sozialismus gegen den unbeschränkten Privatprofit erringt im Einzelfall Sieg auf Sieg. Auf diesem speziellen Gebiet – auf anderen Gebieten bleibt er auch weiter akut – ist er kein brennendes Problem mehr. Es gibt beispielsweise keine sogenannte wichtige politische
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Frage, die in Wirklichkeit so unwichtig und gleichgültig für den Wiederaufbau des englischen Wirtschaftslebens wäre, wie die Verstaatlichung der Eisenbahnen. Allerdings wird man in Zukunft viele große Unternehmungen und andere, die viel fixes Kapital gebrauchen, halb sozialisieren müssen. Aber in bezug auf die Formen dieser Halbsozialisierung müssen wir uns eine gewisse Elastizität vorbehalten. Wir müssen uns den natürlichen Zug der Zeit voll zunutze machen und vermutlich halb autonomen Körperschaften den Vorzug geben vor den Organen der Zentralregierung, die der unmittelbaren Verantwortlichkeit der Minister unterstehen. Ich tadle den doktrinären Staatssozialismus nicht deshalb, weil er die altruistischen Triebe der Menschen in den Dienst der Gesellschaft stellen will, oder weil er sich von dem laissez-faire abwendet, oder weil er dem Menschen die Freiheit nimmt, eine Million zu verdienen, oder weil er den Mut zu kühnen Experimenten aufbringt. Alle diese Dinge kann ich nur gutheißen. Ich tadle ihn, weil er die Bedeutung der aktuellen Ereignisse verkennt, weil er in Wirklichkeit nicht viel mehr ist als das verstaubte Überbleibsel eines Planes, der auf die Lösung der Probleme von vor fünfzig Jahren zugeschnitten war, und sich auf einem Mißverständnis dessen aufbaut, was jemand vor hundert Jahren gesagt hatte. Der Staatssozialismus des neunzehnten Jahrhunderts nahm seinen Ursprung von Bentham, der freien Konkurrenz usw., und ist eine in mancher Hinsicht klarere, in mancher Hinsicht verworrenere Version genau der gleichen Philosophie, die dem Individualismus des neunzehnten Jahrhunderts zugrunde liegt. Beide legten den größten Nachdruck auf die Freiheit – der
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eine negativ, um Beschränkungen der bestehenden Freiheit zu verhindern, der andere positiv, um natürliche oder erworbene Monopole zu zerstören. Beide sind verschiedene Reaktionen auf die gleiche geistige Atmosphäre. 2. Ich komme jetzt zu einem Kriterium der Agenda, das für die in nächster Zukunft besonders dringlichen und wünschenswerten Angelegenheiten außerordentlich wichtig ist. Wir müssen danach streben, die technisch sozialen Dienste von den technisch individuellen Diensten zu trennen. Die wichtigsten Agenda des Staates betreffen nicht die Tätigkeiten, die bereits von Privatpersonen geleistet werden, sondern jene Funktionen, die über den Wirkungskreis des Individuums hinausgehen, jene Entscheidungen, die niemand trifft, wenn der Staat sie nicht trifft. Nicht das ist wichtig für den Staat, daß er die gleichen Dinge etwas besser oder etwas schlechter ausführt, die heute bereits von Einzelpersonen getan werden, sondern daß er die Dinge tut, die heute überhaupt nicht getan werden. Es liegt nicht in meiner Absicht, an dieser Stelle praktische Vorschläge zu entwickeln. Ich beschränke mich daher auf die Erläuterung meiner Ansicht an einigen Beispielen, die ich aus den Problemen herausgreife, über die ich besonders viel nachgedacht habe. Viele der größten wirtschaftlichen Übel unserer Zeit entstehen aus Risiko, Unsicherheit und Unwissenheit. Teils dadurch, daß manche durch Glück oder Naturanlagen besonders begünstigte Individuen in der Lage sind, aus der Unsicherheit und Unwissenheit der anderen Kapital zu schlagen, teils weil das Geschäft schon aus diesem Grunde häufig ein Lotteriespiel ist, entstehen die großen Ungleichheiten im Besitz; die gleichen
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Faktoren verschulden auch die Arbeitslosigkeit, die Enttäuschung gerechtfertigter geschäftlicher Erwartungen und den Niedergang von Arbeitskraft und Produktion. Das Heilmittel gegen diese Übel liegt aber außerhalb des individuellen Tätigkeitsbereichs, ja es kann sogar im Interesse des Individuums liegen, die Krankheit noch zu verschlimmern. Ich glaube, daß das Heilmittel zum Teil in der wohlüberlegten Kontrolle der Währungs- und Kreditfragen durch eine zentrale Einrichtung, zum Teil in der Sammlung und weitesten Bekanntmachung geschäftlicher Statistiken liegt, einschließlich der vollen Publizität aller wissenswerten geschäftlichen Tatsachen, die, wenn nötig, gesetzlich erzwungen werden müßte. Durch diese Maßnahmen wäre die Gesellschaft in der Lage, durch entsprechende Organe die geistige Führung bei inneren Komplikationen der Privatwirtschaft zu übernehmen, doch ohne daß private Initiative und privater Unternehmungsgeist durch sie angetastet würden. Sollten sich diese Maßnahmen auch als unzureichend erweisen, so werden sie uns zum mindesten doch bessere Anhaltspunkte dafür geben, welche Schritte wir in Zukunft zu unternehmen haben. Mein zweiter Vorschlag betrifft die Ersparnisse und die Kapitalanlagen. Ich glaube, daß wir zu einer gemeinsamen vernünftigen Entscheidung kommen müssen über den Umfang, in dem das Sparen innerhalb einer Gemeinschaft erwünscht ist, und über den Umfang, in dem diese Ersparnisse im Ausland angelegt werden sollen; ferner darüber, ob die heutige Organisation des Anlagemarktes die Ersparnisse in der für die Nation produktivsten Art verteilt. Ich glaube, man sollte diese Dinge nicht ganz und gar dem Zufall der privaten Entscheidung und des privaten Gewinns überlassen, wie es heutzutage der Fall ist.
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Mein dritter Vorschlag betrifft die Bevölkerung. Die Zeit ist heute schon gekommen, wo jedes Land nationale Überlegungen darüber anstellen muß, ob seine Bevölkerungszahl kleiner oder größer werden oder stationär bleiben soll. Hat man in dieser Frage eine Entscheidung getroffen, so muß man Maßnahmen ergreifen, sie in die Tat umzusetzen. Später kommt vielleicht eine Zeit, in der die Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit der angeborenen Qualität ihrer künftigen Mitglieder die gleiche Aufmerksamkeit zuwenden wird wie heute ihrer Zahl.
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iese Gedankengänge zielen auf mögliche Verbesserungen der Technik des modernen Kapitalismus durch das Mittel kollektiver Betätigung ab. Sie widersprechen in nichts den meiner Meinung nach wesentlichsten Kennzeichen des Kapitalismus, nämlich seiner Abhängigkeit vom Stimulus der gelderwerbenden und geldliebenden Instinkte der Individuen als der Haupttriebfeder der Wirtschaftsmaschine. Ich kann jetzt, zum Schlusse meiner Ausführungen, nicht noch auf andere Gebiete abschweifen. Doch möchte ich Sie daran erinnern, daß die heftigsten Kämpfe und die am tiefsten empfundenen Meinungsverschiedenheiten in den nächsten Jahren nicht um technische Fragen entbrennen werden, bei denen die Argumente auf beiden Seiten fast ausschließlich wirtschaftlicher Natur sind, sondern um Fragen, die wir mangels eines besseren Ausdrucks als psychologische, oder vielleicht gar als moralische, bezeichnen können. In Europa, mindestens in einigen Teilen von Europa – in den Vereinigten Staaten von Amerika verhält es sich, glaube ich, anders – hat sich eine ziemlich verbreitete latente Reaktion dagegen geltend gemacht, die Gesellschaft in dem ausgedehnten Maße, wie sie es heute tut, auf die Pflege, Unterstützung und den Schutz der Geldsucht der Einzelnen aufzubauen. Die Tatsache, daß wir unser Leben nach möglichst geringer Berücksichtigung anstatt möglichst starker Berücksichtigung des Geldmotivs regeln möchten, braucht nicht ganz
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aprioristisch zu sein, sondern kann sich aus dem Vergleich von Erfahrungen ableiten. Bei den einzelnen Menschen spielt je nach der Wahl ihres Berufs das Geldmotiv eine große oder eine kleine Rolle, und Historiker können uns von anderen Phasen der Gesellschaftsorganisation berichten, in denen dieses Motiv eine viel geringere Rolle gespielt hat als heute. Die meisten Religionen und Philosophien verachten, um es milde auszudrücken, eine Lebensweise, die sich lediglich von Erwägungen persönlichen Geldgewinns leiten läßt. Andererseits lehnen die meisten Menschen heutzutage asketische Ideen ab und sind sich über die tatsächlichen Vorteile des Reichtums völlig klar. Es erscheint ihnen überdies ganz selbstverständlich, daß man ohne das Geldmotiv nicht auskommt, und sie finden, daß es – abgesehen von einigen zugestandenen Mißbräuchen – seine Aufgabe recht gut erfüllt. Folglich beschäftigt sich der Durchschnittsmensch nicht weiter mit dem Problem und hat über das, was er eigentlich denkt und fühlt, noch über diese verflixte Materie im Ganzen, irgendeine klare Vorstellung. Unklarheit im Denken und Fühlen führt auch zu Unklarheit der Ausdrucksweise. Viele Leute, die den Kapitalismus als Lebensgrundlage wirklich ablehnen, argumentieren so, als lehnten sie ihn nur ab, weil er unfähig sei, seine eigenen Ziele zu erreichen. Andererseits sind viele Anhänger des Kapitalismus häufig übermäßig konservativ und lehnen jede Reform der kapitalistischen Technik, die dem Kapitalismus nur zugute käme, ab, aus lauter Angst, dergleichen könne der erste Schritt zu einer Los-vom-Kapitalismus-Bewegung sein. Immerhin mag eine Zeit kommen, wo wir uns über die Dinge klarer sein werden als heute, wo wir darüber reden, ob der Kapitalismus eine gute oder eine schlechte
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Technik, und ob er an sich wünschenswert oder abzulehnen ist. Ich für mein Teil bin der Ansicht, daß ein klug geleiteter Kapitalismus die wirtschaftlichen Aufgaben wahrscheinlich besser erfüllen wird als irgendein anderes, vorläufig in Sicht befindliches System, daß man aber gegen den Kapitalismus an sich viele Einwände erheben kann. Unser Problem geht dahin, eine Gesellschaftsorganisation zu schaffen, die möglichst leistungsfähig ist, ohne dabei unsere Ideen über eine befriedigende Lebensführung zu verletzen. Der nächste Schritt nach vorwärts wird nicht aus politischer Agitation oder unreifen Experimenten heraus erfolgen, sondern aus Überlegung … Wir müssen uns endlich verstandesmäßig über unsere Gefühle klar werden. Heute kann es vorkommen, daß unsere Sympathie und unser Verstand auf verschiedenen Seiten stehen – woraus ein schmerzlicher und lähmender Geisteszustand hervorgeht. Auf dem Felde der Tat werden Reformatoren nicht eher Erfolg haben, als bis sie ein klares und bestimmtes Ziel verfolgen, bei dem ihr Verstand und ihre Gefühle zusammen gehen. Mir scheint, daß heutzutage keine einzige Partei auf der ganzen Welt das richtige Ziel mit den richtigen Mitteln verfolgt. Materielle Armut gibt den Anstoß zu Umwälzungen gerade unter Umständen, die dem Experiment wenig Spielraum gewähren. Materieller Wohlstand lähmt diesen Antrieb gerade unter Umständen, unter denen man eine Umgestaltung wagen dürfte. Europa fehlen die Mittel, und Amerika fehlt der Wille, den ersten Schritt zu tun … Wir brauchen neue Überzeugungen, die ganz natürlich aus der ehrlichen Prüfung des Verhältnisses unserer Gefühle zu den Tatsachen der Außenwelt herauswachsen.
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