»Dann sprang er über Bord«: Alltagspsychologie und psychische Erkrankung an Bord britischer Schiffe im 19. Jahrhundert 9783666300660, 9783525300664, 9783647300665


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German Pages [528] Year 2014

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»Dann sprang er über Bord«: Alltagspsychologie und psychische Erkrankung an Bord britischer Schiffe im 19. Jahrhundert
 9783666300660, 9783525300664, 9783647300665

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Karl-Heinz Reger

»Dann sprang er über Bord« Alltagspsychologie und psychische Erkrankung an Bord britischer Schiffe im 19. Jahrhundert

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300664 — ISBN E-Book: 9783647300665

Für Karl Maria, Tilman, Moritz und Anna. Sie sind unsere Zukunft.

Ergänzendes Material zu diesem Buch finden Sie unter: www.v-r.de/dann-sprang-er-über-bord Mit 7 Abbildungen, 2 Karten und 10 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-30066-4 ISBN 978-3-647-30066-5 (E-Book) Umschlagabbildung: Ausschnitt aus »Kein Land in Sicht« © Friedel Anderson © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.1 Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.2 Die Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.3 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2. Entstehung und Entwicklung der psychiatrischen Wissenschaft und Praxis im 18. und 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.1 Die Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.2 Die Situation in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.3 Die Situation im deutschen Sprachraum . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.4 Die Situation in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3. Die Schiffsärzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3.1 Das »Medical Department« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3.2 Die Ausbildung der Schiffsärzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.3 Die Pflichten der Schiffsärzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.4 Die »Medical Instructions« von 1825 . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.5 Die »Queen’s Regulations« von 1862 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 4. Der Alltag an Bord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 4.1 Die Reise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 4.2 Die Schiffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 4.3 Die Maschine (»Stoke Hole«) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 4.4 Unter Deck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4.5 Die Besatzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 4.6 Gefährliche Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 4.7 Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 4.8 Disziplin an Bord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4.9 Unterbringung an Bord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

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Inhalt

4.10 Das Lazarett (»Sick Berth«) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 4.11 Körperhygiene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 4.12 Kleidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 4.13 Essen und Trinken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 4.14 Freie Zeit an Bord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 4.15 Baden im Meer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 4.16 Landgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 4.17 Prostitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 4.18 Sexualität an Bord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 4.19 Emotionalität an Bord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 4.20 Brauchtum, Religiosität und Aberglaube . . . . . . . . . . . . . . 239 5. Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals . . . . . 262 5.1 »Apoplexy«, »Cephalgia«, »Hydrophobia«, »Poisoning«, »Struck by Lightning« – Psychische Störungen bei somatischen Erkrankungen des Zentralnervensystems . . . . . . . . . . . . . 263 5.2 »Concussion of the Brain«, »Fracture of Skull«, »Traumatic Encephalitis«, »Killed by fall from aloft« – Durchgangssyndrome bei Schädel-Hirn-Traumata . . . . . . . . 282 5.3 »Heat Stroke«, »Sun Stroke« – Überhitzung in der Maschine und durch die Sonne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 5.4 »Delirium tremens« – Alkoholmissbrauch an Bord . . . . . . . . 311 5.5 »Mania«, »Insanity«, »Lunacy« – Der schizophrene Formenkreis 332 5.6 »Debility«, »Nervous Debility«, »Dyspepsia« – Depression und Suizidproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 5.7 »Overanxiety«, »Nervous Shock«, »Sea Sickness«, »Deafness«, »Hemeralopia«, »Amaurosis« – Verschiedene Formen von Anpassungsstörungen . . . . . . . . . 375 5.8 »Paralysis«, »Partial Paralysis«, »Chorea« – Die Diagnose »Paralysis« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 5.9 »Epilepsy« – Die neurologische und psychopathologische Seite der Epilepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 5.10 »Syphilis«, »Syphilitic Cachexia«, »Periostitis«, »Bubo«, »Gonorrhoea« – Die mentale Seite der venerischen Infektionen und die neuropsychiatrische Symptomatik der Syphilis . . . . . . 411 5.11 »Drowned«, »Drowned, not stated how«, »Immersion«, »Submersio« – Das Phänomen des Ertrinkens . . . . . . . . . . . 430

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6. Therapie an Bord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 6.1 Allgemeine Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 6.2 Medikamentöse Therapie an Bord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 6.3 Untersuchungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 6.4 Todesfeststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 7. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 7.1 Alltagssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 7.2 Die psychopathologischen Störungsbilder . . . . . . . . . . . . . . 490 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 1. Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 2. Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 3. Verwendete Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521

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Vorwort

Das vorliegende Buch ist die gekürzte Fassung einer am Historischen Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel angenommenen Dissertationsschrift. Aus Platzgründen wurden nicht sämtliche, sondern nur exemplarische Abschriften der englischen Manuskripte aufgenommen. Die vollständigen Transkripte können ebenso wie eine Synopsis aller ihren Schiffen zugeordneten Fallberichte auf der Internetseite des V&R-Verlages eingesehen werden.*1 An dieser Stelle sei in Worte gefasst, was ich während der letzten Jahre stets empfand: Große Dankbarkeit für die vielfältige Unterstützung, ohne die, alle Autoren wissen es, solch eine Arbeit nicht möglich ist. Die Studie entstand aus dem medizingeschichtichen Oberseminar in Kiel bei Professor Dr. Jörn Henning Wolf und wurde von ihm wie auch von Professor Dr. Martin Krieger vom Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte in jeder Phase kritisch und fördernd begleitet. Gute Lehrer sind gute Vaterfiguren. Rationales und Emotionales fließen ineinander, und erst das macht den guten Lehrer aus. Für das Geschenk, solche Lehrer zu haben, ist man nie zu alt. Zu danken habe ich auch vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei der Quellen- und Literaturerschließung in den National Archives, der British Library, der Bibliothek des Wellcome Trust Centre for the History of Medicine in London und der Caird-Library im National Maritime Museum in Greenwich, London. In der ersten Phase der Materialerschließung erhielt ich beim Militärarchiv in Freiburg im Breisgau als einer Abteilung des Bundesarchives unermüdliche Hilfe, ebenso von der Bibliothek der Marineschule in Mürwik, Flensburg, durch deren Leiter, Herrn Hauke Schröder. Stets hilfsbereit waren die Mitarbeiter der Universitätsbibliothek in Kiel, des Deutschen Schiffahrtsmuseums in Bremerhaven, des Schiffahrtsmedizinischen Institutes der deutschen Marine in Kiel-Projensdorf und des zivilen Pendants, des Hamburg Port Health Center (HPHC) als eines Bestandteiles des Zentralinstituts für Arbeitsmedizin und Maritime Medizin (ZfAM), besonders die Bibliothekarin Frau Jana Fischer, des Bernhart-Nocht-Institutes für Tropenmedizin und des Deutschen Hydrographischen Institutes, beide ebenfalls in Hamburg. Die Fachkollegen Bernd Heuer, Bernhard Wiedenhofer und Charles Gallimore diskutierten mit mir unklare Fallberichte und halfen, manch altes englisches Wort zu entziffern. Meine Mitarbeiterinnen Birgit Jürgensen und Claudia Jacobsen schrieben unermüdlich und nicht nur einmal Seite für Seite des

* www.v-r.de/dann-sprang-er-über-bord.

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Vorwort

Manuskriptes. Frau Dr. Martina Kayser und Herr Daniel Sander vom Verlag Vandenhoek & Ruprecht brachten ihre wertvolle Erfahrung in die Fertigstellung des Buchformates ein. Meinen Kindern, denen das Buch gewidmet ist und die probelasen, PC-Probleme lösten und mich gleichzeitig mit dem Kommentar »Ach Papa, nicht schon wieder die Schiffe …« von manchem Monolog abhielten, zuerst und zuletzt aber meiner Frau Barbara sei für die sagenhafte Geduld gedankt, die wohl durch nichts anderes als durch Liebe zu erklären ist.

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1. Einleitung

Am Anfang stand die Lektüre von Melvilles »Moby Dick«, vor vielen Jahren. Seine psychologische Interpretation der Welt des Schiffes kann im Sinne Hans Blumenbergs als Metapher für »Welt« überhaupt gelesen werden. Vor einer Untersuchung der philosophischen Dimension des Ansatzes »Schiff als Welt« drängte sich mir aufgrund alltäglicher nervenärztlicher Erfahrung die psychologische Fragestellung nach der historischen Situation an Bord von Schiffen auf. Wer fuhr zur See und warum? Wie war es für die Seeleute, monate- und jahrelang auf engstem Raum zusammen zu sein? Hatten sie Heimweh, wurden sie seekrank? Welche emotionale Rolle spielten Essen und Trinken, Tabak und Alkohol? Wie reagierten sie auf die ständige Verfügbarkeit für die Dienstpflichten, wie auf die vielen Gefahren ihrer Arbeit und wie auf die Abwesenheit von Frauen? Hatte der Matrose in jedem Hafen eine Braut? Wie organisierten sich die vielen Untergruppen an Bord, gab es eine strenge Hierarchie? Wie meisterten sie psychische Krisen, was geschah, wenn behandlungsbedürftige Krankheit entstand, und welche mochte es gegeben haben? Diese und viele weitere Fragen ergeben sich aus der Betrachtung des Phänomens »Leben an Bord«. Hilfreich ist, zwischen einer »Psychopathologie des Alltagslebens«, um einen Begriff Sigmund Freuds zu benutzen, und einer Systematik der psychopathologischen Phänomene, um einen schulmedizinischen Begriff zu benutzen, zu unterscheiden und beide Bereiche für sich zu untersuchen. Dass einer den anderen erklärt und bedingt, ist eine Annahme, die nicht ungeprüft gemacht werden sollte, ebenso wenig wie die Annahme eines Kontinuums beim Übergang von dem einen in den anderen Bereich. Die Vorstellung, dass es überhaupt keine psychischen Störungen von Krankheitswert an Bord gibt, schwingt im Selbstbild vieler Seeleute mit, sie wurde mir gegenüber zum Beispiel von Kapitänen im Ruhestand explizit geäußert, und sie scheint auch im wissenschaftlichen Bereich unbemerkt zu gelten. So ist zu erklären, dass innerhalb der reichen sozial- und medizinhistorischen Forschungsliteratur bezüglich der psychologischen Fragestellung eine Lücke klafft, die größer nicht sein könnte. Die Sozialgeschichtsschreibung hat zwar eine Fülle von Erkenntnissen über die Lebensbedingungen an Bord angesammelt, was etwa die Unterbringung, die Ernährung oder die Disziplin betrifft, ebenso in der Medizingeschichte in Bezug auf Vitaminmangelkrankheiten und die Krankheiten der Tropen. Das Wissen über die psychische Verfasstheit in der Alltagssituation und über die

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psychischen Erkrankungen an Bord ist aber minimal. Dass diese Themen selten, und wenn, dann am Rande behandelt werden, mag auf den ersten Blick daran liegen, dass psychologische Sachverhalte in nautischen Aufzeichnungen kaum einmal direkt beschrieben sind. Eine tiefere Betrachtung zeigt aber auch eine Scheu, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, die so alt ist wie die Seefahrt selbst. In dieser Studie soll also aus historischer Perspektive der Frage nachgegangen werden, wie es Seeleuten an Bord ihrer Schiffe emotional ging. Ich schließe mich dabei jenen kritischen Stimmen an, die neben der Ausrichtung auf institutionelle, strukturelle und metatheoretische (medizin)historische Fragen eine »klinisch« orientierte Forschung anmahnen, die sich der individuellen Situation zuwendet.1 Natürlich ist es ein unerfüllbarer Appell an die Geschichtsschreibung, »das, was war« darzustellen. Die Abhängigkeit dessen, »was ist«, von seinem jeweiligen Kontext und damit auch von der Perspektive des Betrachters, ist uns zumeist hinreichend klar. Zu solchem Bekenntnis gehört die Benennung der jeweils gewählten Perspektive. In diesem Buch ist es die Perspektive der Schiffsärzte, im Kapitel mit den Falldarstellungen rein ihre Perspektive, im Kapitel zur Alltagssituation ergänzt um die reiche schifffahrtshistorische Literatur, die sich zum größeren Teil  auf Aufzeichnungen von Offizieren aller Dienstgrade und nur zum geringeren Teil auf Berichte einfacher Matrosen stützt. Weil der Blickwinkel der Schiffsärzte die sozialen Welten des Vor- und Achterdecks umfasste, und weil wir es in den konkreten Falldarstellungen mit einer noch wenig theoriegeleiteten und insofern phänomenologischen Darstellung zu tun haben, liegt besonders im Abschnitt über die psychischen Krankheitsbilder die Chance, die Geschichte des Lower Deck, des Zwischendecks, und damit der Menschen »vor dem Mast« weiterzuschreiben. Um die psychologische Alltagssituation und das Vorkommen psychopathologischer Phänomene an Bord in den Blick zu bekommen, liegt es nahe, Schiffe zu untersuchen, die lange unterwegs waren, also nicht die Binnenschifffahrt und auch nicht die »kleine«, küstennahe Schifffahrt, vielmehr die Überseeschiffe auf »großer Fahrt«. Sie waren lange genug von ihrem Heimathafen und auch mehr oder weniger lange von Häfen überhaupt entfernt. Und es liegt nahe, die Zeit der großen Segelschifffahrt zu untersuchen, also jene Zeit, als Schiffe 1 Vgl.: Davis, Gayle: Book Review: The Politics of Madness, Soc. Hist. Med. 21 (2008), S. 409–411. Arnold sieht in der Begrenzung eines Forschungsprojektes auf wohlumschriebene Gegenstände die Chance, »zu enthüllen und nicht zu verschleiern«. Vgl.: Arnold, David: Colonizing the Body, Berkeley 1993, S. 8. Selbst in profund recherchierten Aufsätzen erschöpft sich die wissenschaftlich vertretbare Aussage zu den psychologischen Bedingungen an Bord in Sätzen wie: »The concentration of so many men of diverse backgrounds and nationalities during the long voyage on one ship together could easily create tensions among the crew.« Vgl.: Bruijn, J., Gaastra, F.: Ships, sailors and spices, Amsterdam 1993, S. 202.

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ohne Funkverbindung und ohne technische Möglichkeit rascher Evakuierung im Krankheitsfalle unterwegs waren. Dies war bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert der Fall.2 Für diese Studie wurde das 19. Jahrhundert ausgewählt. Eine genaue zeitliche und räumliche Eingrenzung folgt weiter unten. Um zu verallgemeinerungsfähigen Aussagen zu kommen, sollten möglichst viele Alltagsbedingungen beschrieben werden können. Ebenso mussten die Quellen das Kriterium einer ausreichend zuverlässigen Überlieferung erfüllen. Materielle Quellen sind nicht verwendet und nicht erforderlich, auch wenn viele Gegenstände zur Veranschaulichung der Alltagssituation verfügbar wären. Zu denken ist dabei an komplett restaurierte Original-Schiffe wie die »Wasa« in Stockholm, die »Jylland« in Ebeltoft oder die »Victory« in Portsmouth und auch an die Präsentation persönlicher Gegenstände von Seeleuten in maritimen Museen, von der Offiziersuniform bis zur Schnupftabakdose. Medizinische Utensilien, wie chirurgische Instrumente oder Medikamentenkisten könnten die medizinische Thematik bereichern, für die psychologische Fragestellung bieten sie aber aus naheliegenden Gründen keinen oder nur geringen Informationsgewinn. Das Material für dieses Buch sind daher ausschließlich schriftliche Quellen. In der Hauptsache sind es die schiffsärztlichen Tagebücher der Royal Navy. Ergänzend sind mehrere hundert Titel zur Seefahrtgeschichte ausgewertet. Nach Darstellung der methodischen Prinzipien und einer Beschreibung der hier erstmals systematisch untersuchten Quellen in Form der Medical Journals von Bord der Schiffe der britischen Königlichen Marine folgt eine Besprechung des Forschungsstandes. Wenn auch keine einzige Arbeit gefunden werden konnte, die gezielt die psychologische und psychopathologische Situation an Bord behandelt, ist doch eine große Zahl von Untersuchungen zur Geschichte der Seefahrt zu berücksichtigen, die aus ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Perspektive Teilaspekte unserer Fragestellung beleuchten. Deutlich wird dabei das Desiderat an Forschung zur alltäglichen psychischen Befindlichkeit und zur Phänomenologie, Häufigkeit und Behandlung psychiatrischer Erkrankungen an Bord. Sodann folgt ein Abriss des im 19. Jahrhundert neu entstehenden und sich stürmisch entwickelnden Fachgebietes Psychiatrie und schließlich eine Darstellung von Ausbildung, Aufgaben und Organisation der Verfasser der Tagebücher, der Surgeons (synonym auch Medical Officers) an Bord der Navy-Schiffe.

2 Eine scharfe Trennung von Segel- und Dampfschifffahrt ist dabei weder möglich noch notwendig, denn während des größten Teiles des 19. Jahrhunderts verliefen die immer weitere Verbesserung der Segeltechnologie und die Entwicklung der dampfgetriebenen Schifffahrt parallel. Erst in den letzten Jahren jenes Jahrhunderts überflügelte der Dampfantrieb den windgetriebenen Modus. Die vollständige Ablösung der alten durch die neue Antriebstechnik geschah in den ersten zwei bis drei Jahrzehnten nach der Jahrhundertwende mit den letzten großen Getreide- und Salpeterseglern.

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Im ersten Hauptteil »Alltag an Bord« werden 20 verschiedene Lebensbereiche dargestellt und auf ihre jeweilige Bedeutung für die psychische Befindlichkeit der Besatzung hin überprüft. Im zweiten Hauptteil »Krankheitsbilder« werden die in den Medical Journals aufgefundenen psychiatrischen Störungsbilder unter elf diagnostischen Oberbegriffen, der damaligen Begrifflichkeit folgend, dargestellt und auf der Grundlage unseres heutigen Wissens und der gegenwärtig gültigen Diagnosen-Systematik diskutiert. In der überwiegenden Zahl kann dabei die diagnostische Einordnung im historischen Zusammenhang recht zuverlässig vorgenommen werden. Wo sich mehrfache Lesarten anbieten, wird dies diskutiert. Mir ist wichtig, darauf hinzuweisen, wie relevant das psychologische Verständnis des »Alltags an Bord« für die in diesem Teil  dargestellten Krankheitsbilder ist. Teils sind in den Alltagsbedingungen Anlässe und Ur­sachen für die Störungsbilder zu entdecken, teils lässt erst die Kenntnis der Bedingungen von Raum, Norm und sozialem Gefüge den Umgang mit psychischer Auffälligkeit und Erkrankung verstehen. In einem eigenen Kapitel »Therapie an Bord« sind die in den Fallberichten vorkommenden Arzneien und Rezepturen beschrieben. Während in allen bislang publizierten Arbeiten Medikamente und Behandlungsmethoden nicht oder nur sporadisch erläutert werden, versuche ich, eine Vorstellung von Anwendungsweisen und Wirk­ mechanismen zu geben.

1.1 Methodik Bereits festgestellt wurde, dass sich in der schifffahrtsgeschichtlichen Literatur lediglich verstreute psychologie- und psychiatriegeschichtliche Hinweise finden. Die Hoffnung, Schiffstagebücher (Logbücher, englisch Ship’s Log) seien geeignete Quellen, wurde nach Durchsicht einer großen Anzahl von ihnen im Archiv des Deutschen Schiffahrtsmuseums enttäuscht. Ernüchterndes Ergebnis war, dass die zumeist vom Ersten Steuermann geführten Aufzeichnungen in Bezug auf gesundheitliche Bedingungen und Ereignisse allzu knapp sind.3 Um zwei Beispiele zu nennen: Im »Journal des Deutschen Segel Schiffes Gustav« findet sich als Eintragung während der Fahrt von Hamburg nach Valparaiso, Manila, Macao, Hongkong, Singapur und wieder zurück nach Hamburg vom 6. Oktober 1840 bis zum 18. Mai 1842 auf dem Seitenrand des Blattes für den 30. März 1841 der Eintrag: »Der Capt. ward schon seit 30. März an Corbut bettlägerig. Der Steuermann Carsten S.  ward seit dreyen Tagen sehr schlecht

3 Deutsches Schiffahrtsmuseum, Hans-Scharoun-Platz 1, 27568 Bremerhaven. (N. B.: Die Schreibweise des Bremerhavener wie auch des Flensburger Schiffahrtsmuseums mit »ff« und nicht »fff« wird hier beibehalten.)

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krank. 16. May starb der Steuermann Carsten S. im Hafen St. Mary auf Seilly.«4 Es finden sich keinerlei weitere Angaben zur Situation des Kaptäns und vor allem auch nicht zu der tödlich ausgehenden Erkrankung, weder in der zeitlichen, kalendarischen Umgebung, noch etwa am Ende des umfangreichen Buches. In der Regel begegnet man sogar noch kürzeren Eintragungen wie der im »SchiffsTagebuch geführt von Joh. Friedr. Tiedeböhl Steuermann des Schiffes Bremerin«, das während der 44 Tage dauernden Überfahrt von New York nach Rio de Janeiro im Frühjahr 1865 lediglich festhält: »Matrose [Name unleserlich] ist schon 2 Wochen krank und daher dienstunfähig.«5 Auf den vielen Schiffen, auf denen kein Arzt mitfuhr, wurden genauere Aufzeichnungen als jene in den Logbüchern nicht erstellt. Nur auf den größten Schiffen war ein solcher vorgesehen und vorgeschrieben.6 Wohl wurden auf Expeditionsschiffen Ärzte und auf den größeren Schiffen für Sklaventransporte Chirurgen ohne akademische Ausbildung mitgenommen, jedoch spiegeln diese Art Schiffe eine so besondere, außergewöhnliche Situation wider, dass deren Beschreibung keinen Anspruch auf Verallgemeinerungsfähigkeit erheben kann. Im Ergebnis muss festgestellt werden: Aus Logbüchern alleine lässt sich weder eine detaillierte psychologische Beschreibung der alltäglichen Bordsituation erstellen, noch der Umgang mit konkreten Krankheitsfällen rekonstruieren. Die Situation stellt sich anders dar, wenn Quellenmaterial der Kriegsmarine herangezogen wird, denn auf ihren Schiffen, sofern es nicht nur kleine Boote waren, fuhren stets Schiffsärzte mit, und das militärische System verlangte und ermöglichte eine genaue Aufzeichnung. Hierfür in Frage kommendes Archiv-

4 Dieses »Journal« findet sich im Archiv des Deutschen Schiffahrtsmuseums unter der Signatur III A 1 G. 5 Ebenda Sign. III A 219 G. Das Gleiche stellen wiederholt Krieger und Goebel für dänische Schiffe fest. Vgl.: Krieger, Martin: Kaufleute, Seeräuber und Diplomaten, Köln 1998; Goebel, Erik: Sygdom og doed under hundrede ars Kinafart, Handels og Sjöfartsmuseet Arsborg 1979. 6 Die Datenlage zu der Präsenz und Funktion von Chirurgen an Bord der Chinaund Indienfahrer der verschiedenen europäischen Handelsgesellschaften ist unsicher. Vgl.: Bruijn, Gaastra: Ships, sailors and spices; Nagel, Jürgen: Abenteuer Fernhandel, Darmstadt 2007; Gelder, Roelof van: Das ostindische Abenteuer, Hamburg 2004; Diller, Stephan: Die Dänen in Indien, Südostasien und China (1620–1845), Wiesbaden 1999. Genauere Angaben machen Bruijn, Iris: Ship’s surgeons of the Dutch East India Company: commerce and the progress of medicine in the eighteenth century, Leiden 2009 für die niederländische VOC und Goebel: Sygdom, S.  75–130 für die dänische Handelskompanie. Bruijn beschreibt aus Finanzdokumenten Herkunft, Ausbildung und Karrieremöglichkeiten der »Schiffschirurgen« (»scheepschirurgijns«), geht aber nicht auf deren praktische Arbeit ein. Er errechnet die generelle Morbidität und Mortalität an Bord aus tabellarischen Rückmeldungen an die Reedereien, macht aber keine Angaben zur relativen und absoluten Anzahl von »Chirurgen« und »Barbieren« an Bord.

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material zur deutschen Marine wird im Bundesarchiv aufbewahrt.7 In gedruckter Form liegen »Statistische Sanitätsberichte der Kaiserlich Deutschen Marine« vor.8 Sie enthalten Zahlen zur Häufigkeit aller an Bord vorkommenden Krankheiten, aufgeteilt in dreizehn Gruppen einschließlich einer Gruppe »Krankheiten des Nervensystems« und einer getrennten Zählung »Suizide«, allerdings nur die summarischen Zahlen und knappe Kommentierungen. Ein anschauliches Bild lässt sich daraus nicht gewinnen. Die »Sanitätsberichte« geben als Primärquelle ihrer Statistiken »schiffsärztliche Berichte« an. Diese vermutlich tagebuchähnlich geführten Berichte müssen als ungedruckte Quellen im Freiburger Militärarchiv liegen. Sie sind dort jedoch nicht auffindbar.9 Die Log­bücher sämtlicher Schiffe der deutschen Marine sind archiviert und nutzbar, es stellt sich jedoch das Gleiche wie für die Logbücher der Handelsschifffahrt heraus: Sie enthalten nur spärliche, hier nicht verwertbare Eintragungen zu gesundheitlichen Aspekten.10 Viele weitere durchaus interessante Dokumente wie zum Beispiel Telegramme aus den Einsatzgebieten der deutschen Marine in Asien und vor den Küsten Afrikas, Dienstanweisungen an diese Flottenteile und auch einzelne Krankheitsstatistiken sind für eine Untersuchung zu lückenhaft.11 Als weitere Quelle sind Lebenserinnerungen und Lebensbeschreibungen von Seefahrern zu diskutieren. Jedoch scheiden diese aus mehreren Gründen als Fundus der Untersuchung aus. Zunächst handeln die meisten solcher Werke von Kapitänen, weil nur sie den Status von Literalität erreicht haben. Sie schrieben über sich selbst oder wurden von anderen beschrieben, weil ihr Leben als Seeleute aufregend genug, interessant genug und bedeutend genug er 7 Bundesarchiv, Abteilung Militärarchiv, Wiesentalstraße 10, 79115 Freiburg im Breisgau. Die »deutsche« Marine begann als »schleswig-holsteinische Marine« (1848–1853) und 1848 parallel als »deutsche Reichsflotte«, die als »preußische Marine« (seit 1864) fortgeführt wurde und in die »Kaiserliche Marine des Deutschen Reiches« (1871–1914) überging. 8 Unter der Signatur MX 1175 sind in der Kieler Universitätsbibliothek die Berichte aus den Jahren 1872 bis 1899, erschienen beim Verlag Mittler in Berlin, verfügbar. 9 Trotz langer und intensiver Suche mit tatkräftiger Unterstützung der dort tätigen Archivare konnte der Standort ebendieser Archivalien nicht herausgefunden werden. Ein einziges, rein zufällig entdecktes Exemplar mag als Beweis dienen, dass diese Art schiffsärztlicher Aufzeichnungen existierten und mit großer Wahrscheinlichkeit, um nicht zu sagen, mit Sicherheit, nach wie vor existieren. Vielleicht hilft eines Tages ein Zufall weiter. Bei dem offenbar unsystematisch in einer Mischkategorie abgelegten Tagebuch handelt es sich um das »Ärztliche Tagebuch der S. M. S. Dania«, eines Minensperrbrechers, aus den Kriegsjahren 1915 bis 1918. (Signatur: RM 95–106). Bei Demme findet sich diese Lücke bestätigt, wenn sie über die schiffsärztlichen Erfahrungsberichte, die sie selbst anhand von Sekundärliteratur behandelt, schreibt: »Die Originalquellen der schiffsärztlichen Erfahrungsberichte sind zur Zeit nicht aufzufinden.« Vgl.: Demme, Christine: Schiffsärztliche Erfahrungsberichte in den deutschen Marinen, Frankfurt am Main 2001, S. 2. 10 Militärarchiv in Freiburg, Signatur RM 92, in einem eigenen Findbuch systematisiert. 11 Militärarchiv in Freiburg, unter anderem unter den Signaturen RM-1, RM-31 und RM-38.

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schien. Der einfache Matrose entbehrt diese Zuschreibungen in aller Regel, damals und wohl nicht viel anders auch heute. Sodann ist eine Selbst- wie auch Fremdbeschreibung aus der Erinnerung stets eine für die historische Forschung besonders zu behandelnde Quelle. Die in solchen Biographien enthaltenen Angaben zu gesundheitlichen und psychologischen Aspekten sind, wo sie auftauchen, in Bezug auf ihre Authentizität nicht genügend überprüfbar.12 In noch stärkerem Maße gilt dies für die belletristische Literatur. Zwar gibt es großartige psychologisch denkende Autoren, wie Herman Melville, Joseph Conrad, Rudyard Kipling und William Golding. Dennoch ist ihnen als Schriftstellern nicht nur erlaubt, sondern geboten, die Wirklichkeit in ihrer höchst subjektiven Sicht zu beschreiben. Die genannten Autoren haben reichlich eigene Erfahrungen verarbeitet, die als authentisch gelten dürfen, aber sie haben sie eben verarbeitet, vermengt mit Erfahrungen anderer und mit eigenen Phantasien. Gerade in der Konstruktion idealtypischer Charaktere, Handlungen und Ereignisse liegt ihre Aufgabe und ihre Stärke. Wenn wir an idealtypischen Beschreibungen interessiert sind und Belletristik als Quellen heranziehen, können sie allenfalls eine qualitative, nicht aber eine quantitative Aussage liefern. Ein einzelnes Werk, das für die allgemeine Leserschaft geschrieben wurde, stellt eine Ausnahme dar. Es handelt sich um Richard Danas 1835 erschienen Reisebericht »Two years before the mast«.13 Die missliche Situation, wie sie für die Archivalien der deutschen Marine beschrieben wurde, besteht nicht für die im 19.  Jahrhundert größte und be­ deutendste Flotte, die britische Marine. Im britischen Nationalarchiv (The­ National Archives in London, Kew), in welches das Public Record Office einbezogen ist, lagern elf Millionen Archivalien, von der einzelnen Urkunde bis zu gebundenen, umfangreichen Volumina.14 Dem Ausmaß entsprechend, in dem Großbritannien von und für die Seefahrt lebt, sind die Archivalien zu 12 In historischen, ethnologischen und soziologischen Arbeiten wird immer wieder auf folgende Titel verwiesen: Baines, Frank: In Deep, London 1959; Schröder, Gustav: Unter Segeln um die Welt, Hamburg 1956; Clements, Rex: A Gipsy of the Horn, London 1951; Hauser, Heinrich: Die letzten Segelschiffe, Berlin 1940; Kircheiß, Carl: Meine Weltumsegelung mit dem Fischkutter Hamburg, Leipzig 1939. 13 In deutscher Übersetzung: Dana, Richard Henry: Zwei Jahre vorm Mast, Leipzig 1988. Mehrere Gründe rechtfertigen den Sonderstatus dieses Buches: Der Autor, Absolvent der juristischen Fakultät von Boston, liefert in einer späteren Ausgabe seines Buches einen kritischen Rückblick auf seine ursprüngliche Publikation, ohne sie relativieren zu müssen. Sein Buch diente einer parlamentarischen Untersuchung in Washington zur Frage der Rechte an Bord amerikanischer Schiffe als wichtige Quelle, und sie wäre in einer Zeit, in der es die Seefahrer, die Dana beschreibt, noch gab und die die beschriebene Arbeit verrichteten, nicht als solche Quelle herangezogen worden, wenn sie nicht als zureichend und zutreffend erkannt worden wäre. Und schließlich sind viele seiner konkreten Angaben durch andere Quellen gestützt und von Fachleuten der jeweiligen Teilgebiete bestätigt worden, ohne dass sie auf Beschreibungen Danas hinweisen, die über eine anschauliche Darstellung hinausgingen. 14 The National Archives, Kew, Richmond, Surrey TW9 4DU, London, UK.

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sämtlichen maritimen Themenbereichen sehr umfangreich. Unter der Signatur »ADM« für »Admiralty« sind unter der Ordnungsnummer »ADM 101« insgesamt 1200 schiffsärztliche Berichte (»Medical Journal« oder »Surgeon’s Journal«) archiviert. Der Archiv-Katalog definiert sie so: »Die Journale sind eine Auswahl all derer, die von den Schiffsärzten der Schiffe Ihrer Königlichen Majestät (und einiger Krankenhäuser, Marine-Brigaden und Küsten-Truppen) an die über die medizinischen Aufgaben aufsichtsführenden Behördenteile eingereicht wurden.«15 Die Schiffe werden in diesem Katalog in die drei Kategorien »HM Ships« (Her Majesty’s Ships, Kriegsschiffe Ihrer Majestät), »Convict Ships« (»Gefangenen-Transportschiffe«) und »Emigrant Ships« (»Auswandererschiffe«) eingeteilt. Die letzten beiden Arten von Schiffen wurden dann erfasst, wenn sie Handelsschiffe waren, die durch die Regierung gechartert waren und mit einem Sanitätsoffizier der Royal Navy ausgestattet waren, der wiederum sein Medical Journal in der für die Royal Navy üblichen Form einzureichen hatte.16 Während die Medical Journals die hauptsächlichen Quellen sind, aus denen geschöpft wird, werden die Logbücher (Ship’s Logs) nur für ergänzende Informationen zu Ereignissen, die in den ärztlichen Journalen dargestellt sind, verwendet. An weiterem, zerstreuten Quellenmaterial, welches sich in den National Archives befindet und das ebenfalls durchgesehen wurde, sich aber eher für formale und organisatorische Fragen denn für konkrete medizinische eignet, und das in reicher Vielfalt von Lloyd und Coulter17 ausgewertet ist, seien noch erwähnt die verschiedenen Dokumente aus den vielen Marinekrankenhäusern (Royal Navy Hospitals at Home und Hospitals Overseas), darunter deren Personal- und Lohnlisten, ihre Einnahmen- und Ausgabenbücher und deren Briefwechsel mit der Admiralität. Verstreut finden sich darin Namenslisten mit Diagnosen der Betreffenden. Detaillierte Informationen sind aus all diesen Unterlagen aber nicht zu gewinnen.18 Die Hoffnung, in den Namenslisten der 15 Zitiert aus dem Handkatalog zu »ADM« in den National Archives, London. Ebenso: Online Katalog, TheNationalArchives: http://www.nationalarchives.gov.uk/catalogue/display cataloguedetails.asp?CATLN=3&CATID=204&SearchInit=4&SearchType=6&CATREF=ADM+101, letzter Zugriff 3.2.2012. 16 Ebd. Im Jahre 2000 wurde ein eigener »Guide to the Naval Records« verlegt: Cock, R.; Rodger, N.: A guide to the naval records in the National Archives of the UK, London 2008. 17 Lloyd, Christopher; Coulter, Jack (Hg.): Medicine and the Navy 1200–1900, Vol. IV, Edinburgh, London 1963. 18 Diese Archivalien finden sich in den National Archives unter den Signaturen ADM 97, ADM 102 und ADM 105. Llyod und Coulter (ebd.) beschreiben die Royal Naval Hospitals ausführlich. In den schiffsärztlichen Tagebüchern werden die Krankenhäuser von Kalkutta, Singapur, Shanghai, Trincomalee, Kanton, Yokohama, Nagasaki, Simon’s Town (bei Kapstadt) und Valparaiso erwähnt, stets im Zusammenhang mit der Verlegung schwerkranker Patienten dorthin. In Kalkutta wurde dafür auch einmal das Krankenhaus des Hindoo College und das Railway Hospital, in Shanghai auch das Civil Hopital in Anspruch genommen. Zur Geschichte dieser Institutionen vgl.: Arnold: Colonizing the Body.

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Krankenhäuser Patienten der hier untersuchten Schiffe wiederzufinden, um deren Schicksal ein Stück weiter verfolgen zu können, zerschlugen sich. War ein Besatzungsmitglied erst einmal dienstunfähig geschrieben und nach England zurückgebracht, verlieren sich seine Spuren. Um eine subjektive Selektion durch den Untersucher auszuschließen, ist einerseits eine vollständige Erfassung der Primärquellen erforderlich. Um die Aufgabe zu bewältigen, ist andererseits eine Mengenbegrenzung notwendig. Als erste Abgrenzung wurden die Gefangenen- und Auswandererschiffe ausgeschlossen.19 Eine weitere Grenzziehung bietet die Aufteilung der britischen Flotte in zwölf verschiedene Kommandos (Stations) an. Ausgewählt wurde die »East India and China Station«, die ab 1864 getrennt als »East India-Station« (vorübergehend auch »Cape of Good Hope and East India Station« bezeichnet) und »China Station« geführt wurde. Diese Wahl ist dreifach begründet. Erstens: Die ostindische Station hatte, abgesehen von der unbedeutenden, mit wenigen Schiffen ausgestatteten und teilweise von der ostindischen Station mitversorgten australischen Station, die größtmögliche Entfernung vom Mutterland England und damit den längsten Anreisewege mit vielen Tagen auf hoher See und damit »typische« Bedingungen eines Hochseeschiffes. Zweitens: Die große Entfernung von zu Hause und die aufwändige Anreise bedingte eine regelmäßig lange Dienstphase von mindestens drei Jahren auf dieser Station und damit eine lange Abwesenheit der Männer von ihrer Heimat, in der Regel dem Vereinigten Königreich, eine weitere »typische« Bedingung des Lebens »auf großer Fahrt«. Drittens: Die ostindische Station war zusammen mit der westafrikanischen Station der »kränkste« Flottenteil. Wegen des Gelbfiebers und der Malaria war die westafrikanische Küste, wegen der Durchfallerkrankungen einschließlich der Cholera war die ostindische Region die am meisten belastete und gefürchtete.20 Ist man an ergiebigen Quellen für Krankheitsberichten interessiert, wird man eine »kranke« und nicht eine »gesunde« Population aufsuchen. In der Annahme, dass psychopathologische Symptomatik genaugenommen immer mit somatischer Symptomatik verknüpft ist, kann erwartet werden, dass in stark

19 Zwar wurden vor dieser Entscheidung einige Journale der nach Australien gehenden Schiffe durchgeschaut, es entstand jedoch der Eindruck, dass es sich an Bord dieser Schiffe um eine so besondere Lebenssituation handelte, dass sie nicht im Sinne einer Alltagssituation eines Seemannes analysiert werden kann. Die Australienfahrt ist ausführlich behandelt und mit umfangreichen Literaturangaben versehen durch: Haines, Robin: Life and Death in the Age of Sail, Greenwich London 2006; Staniforth, Mark: Diet, Disease and Death at Sea on the Voyage to Australia, 1837–1893, Internat. J. Marit. Hist. (1996), S. 119–156. 20 Friedel und Lloyd und Coulter kommen gleichermaßen zu dieser Einschätzung, indem sie die in den verschiedenen Stationen erfasste Anzahl an Krankentagen, Invalidisierungen, Hospitalaufnahmen und Todesfällen vergleichen. Vgl.: Friedel, Carl: Die Krankheiten in der Marine, Berlin 1866; Lloyd, Coulter: Medicine, Vol. IV. Diese Krankheitsverteilung betraf natürlich auch alle anderen Seefahrtsnationen!

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krankheitsbelasteten Regionen bzw. Flottenteilen auch relativ viele psychische Problemsituationen festgehalten worden sind. Bei der ausgewählten Region handelt es sich um Süd-, Südost- und Ostasien. Die Schiffe fuhren an die Küsten Indiens, Sri Lankas, Malaysias, Thailands und Indonesiens, Chinas und Japans. Klimatisch ist es die vom Monsun bestimmte Region des Indischen Ozeans und die jahreszeitlich milder geprägte Küstenund Inselwelt des Pazifiks. Das 19. Jahrhundert war der Höhepunkt einer Entwicklung, die treffend mit »neuzeitliche Europäisierung« beschrieben werden kann und deren Hauptakteure Großbritannien, die Niederlande und Spanien waren.21 Während China und Japan souveräne Staaten blieben, wurden andere Länder zu Kolonien degradiert. Burma (Thailand), Malakka (ein Teil Malaysias), Sarawak (ein Teil  Borneos) und »Britisch-Indien« (größer als das heutige Indien) waren britische, Siam, Sumatra und Borneo niederländische und die Philippinen spanische Besitztümer. Der Handel Europas mit diesen Teilen Asiens war das Fundament, auf dem die politische und wirtschaftliche Macht beruhte. Großbritanniens Motor dieses Interkontientalhandels war die mächtige »East India Company« (EIC), deren umfassende Aktivität den Indischen Ozean im Laufe des 19.  Jahrhunderts zu einem »britischen Binnenmeer« werden ließ.22 Die britische Volkswirtschaft, zu jener Zeit die leistungsfähigste der Welt, war am Offenhalten der Handelswege interessiert und setzte hierfür zwar zielbewusst ihre abschreckend-überlegene Kriegsmarine ein, ging aber insgesamt den Weg eines aggressiven Einsatzes wirtschaftlicher Überlegenheit anstelle militärischer Gewalt, der mit »Freihandels-Imperialismus« oder »infomeller Imperialismus« bezeichnet wird.23 Rund um den Globus und insbesondere in Asien und auf dem Seeweg dorthin standen Häfen in britischem Besitz zur Verfügung, so etwa Hongkong (per Pachtvertrag), Singapur, Simon’s Town an der Südspitze Afrikas, Häfen auf Mauritius, den Inselgruppen im Indischen Ozean von den Malediven und Seychellen über die Andamanen und Nikobaren bis zu den fernen Christmas-Inseln nahe Australien. Wie in Europa setzte auch in Asien parallel zu raschem Bevölkerungswachstum ein regional unterschiedlich starker Industrialisierungsschub ein. Die aktuell intensiv diskutierte Frage, wie das Verhältnis zwischen rein »europäischer Implantierung« und »örtlicher Assimilation« der Strukturen war, ist noch nicht abschließend zu beantworten. Neben der räumlichen bedarf es einer exakten zeitlichen Grenzziehung. Das 19. Jahrhundert als Untersuchungszeitraum wurde schon genannt. Durch seine, 21 Vgl.: Krieger, Martin: Geschichte Asiens, Köln 2009, S. 98–102. 22 Ebd., S. 60. 23 Ebd., S. 57–60; vgl. auch: Angster, Julia: Erdbeeren und Piraten: Die Royal Navy und die Ordnung der Welt 1770–1860, Göttingen 2012; Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt, München 2010, S. 649–654.

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mindestens die Seefahrt betreffende, relativ lange friedliche Periode nach Beendigung der Napoleonischen Kriege, stellt es sich als geeigneter Untersuchungszeitraum dar. Zwar begegnen wir in den Quellen von Schiffen der Kriegsmarine immer auch dem militärischen Auftrag der Reisen und den entsprechenden Normen des Militärs, aber es bestimmen doch nicht aktuelle Kriegshandlungen sondern die alltägliche Seemannschaft das Bild. Von praktischer Bedeutung ist außerdem eine im Vergleich zu vorhergehenden Jahrhunderten wesentlich bessere Quellenlage mit präzisen und vollständigen, nach und nach sich systematisierenden Beschreibungen der Schiffsärzte. In den 1830er Jahren »begann eine neue Ära der Administration der Königlichen Britischen Flotte«24, die unter anderem die systematische Erfassung der Gesundheitsprobleme an Bord der Royal-Navy-Schiffe in Form der Statistical Reports hervorbrachte. Diese »Statistical Reports on the Health of the Royal Navy« wurden zunächst zweimal für einen Siebenjahreszeitraum (1830 bis 1836 und 1837 bis 1843) und dann nach einer dreizehnjährigen Pause seit 1856 in jährlichem Rhythmus erstellt und dem britischen Unterhaus vorgelegt.25 Mit Öffnung des Zeitfensters im Jahr 1830 haben wir die Möglichkeit, das kleinräumige System eines einzelnen Schiffes mit dem der ganzen Einsatzregion, ja sogar mit dem der gesamten weltweiten Flotte ins Verhältnis zu setzen. Die Schließung des Zeitfensters ist in den Lebensbedingungen an Bord begründet und fällt auf das Jahr 1880. In den letzten beiden Jahrzehnten des 19.  Jahrhunderts kam mit dem beginnenden Wettrüsten insbesondere zwischen Großbritannien und dem Wilhelminischen Deutschen Reich eine so starke Veränderung im Schiffbau in Gang, dass sich die Lebensbedingungen an Bord sprunghaft änderten. Nun wurden die Kriegsschiffe gänzlich aus Stahl und Eisen gebaut. Sie verloren ihre Segel und Masten, weil sie keine Funktion mehr hatten. Die Dampfmaschinen wurden innert kurzer Zeit zum einzigen und höchst leistungsfähigen Antrieb. Die Fahrtgeschwindigkeit wuchs rasant. Die Telegraphie verband Schiffe, die untereinander außer Sichtweite waren, erstmals unmittelbar. Damit umfasst der hier untersuchte Zeitraum in seiner Ausdehnung zwischen den Jahren 1830 und 1880 genau fünf Jahrzehnte. Während die Primärquellen in Form der Medical Journals und der Statis­ tical Reports an den zwei Orten National Archives und Parliamentary ­Archives in London konzentriert sind, steht die Sekundärliteratur zerstreut in einer Vielzahl von Bibliotheken. Hauptsächlich genutzt wurden die Bibliotheken der National Archives, des National Maritime Museum und die British Library 24 Lloyd, Coulter: Medicine, Vol. IV, S. 2. 25 Sie sollten die Bemühungen um die Gesundheit der Matrosen und Soldaten Ihrer Königlichen Majestät unter Beweis stellen und für die notwendige finanzielle Ausstattung werben. Alle Statistical Reports on the Health of the Royal Navy sind vor Ort einsehbar, aber auch als digitale Kopie erhältlich in den Parliamentary Archives im Parlamentsgebäude der Houses of Parliament in London SW1A 0PW.

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in London, sowie der Universität Kiel und des Hamburg Port Health Center (HPHC). Weitere Bibliotheken sind im Vorwort genannt. Ein Wort zur Sprache und ihrer Schreibweise in diesem Buch: Geographische Namen sind in der im Deutschen geläufigen Schreibweise wiedergegeben (zum Beispiel Kanton, Hongkong, Singapur), die von der in den Quellen angetroffenen englischen Schreibweise gering abweicht (zum Beipiel Canton, Hong Kong, Singapore). Nur ausnahmsweise ist auf die gegenwärtig offizielle Schreibweise verwiesen (zum Beispiel Xianggang für Hongkong). Im laufenden Text vorkommende englische Wörter werden (mit Ausnahme von Buchtiteln) ohne Anführungszeichen kursiv und groß geschrieben. Sobald es aber im jeweiligen Kontext als wörtliches Zitat erkennbar sein soll, stehen die englischen Worte in Anführungszeichen, und dann ist auch die im Englischen gebräuchliche Kleinschreibung von Substantiven sinnvoll. Die besonderen Regeln für die englischen Transkriptionen der Handschriften werden in der Beschreibung der Quellen genannt. Sämtliche Übersetzungen aus dem Englischen sind von mir selbst vorgenommen worden. Auch in den Fällen von Lebenserinnerungen und­ Romanen, in denen englische und deutsche Ausgaben zur Hand waren, wurde der englische Text zu Grunde gelegt. Abschließend sei bemerkt, dass in dieser Studie die Begriffe »Störung« und »Krankheit« respektive »Erkrankung« synonym verstanden und verwendet werden. Sie werden sowohl hinsichtlich des subjektiven Leides als auch der Bemühung um objektivierbaren, nicht per se objektiven Erkenntnisprozess gleichbedeutend gesehen und keiner mit einer moralischen Wertung verbunden. Häufiger verwende ich den Begriff »Störung«. Dies geschieht in Übereinstimmung und Anwendung der seit 1992 gültigen 10. Revision der »International Classi­ fication of Mental and Behavioral Disorders« (ICD-10), die ein Kapitel (das Kapitel V oder F) der »International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems« (»Internationale Klassifikation der Krankheiten«) ist, herausgegeben von der Weltgesundheitsorganisation. Sie vermeidet den Begriff »Krankheit« im Bereich der psychiatrischen Diagnosen aus Gründen unwillkürlicher Stigmatisierung.26 In diesem Sinne ist »Störung« (»Disorder«) anstelle von »Krankheit« (»Disease«) im international angestrengten Bemühen um Ent­ stigmatisierung von psychischer Störung beziehungsweise Krankheit die politisch korrektere Ausdrucksweise geworden.

26 Dilling, Horst: Lexikon zur ICD-10 Klassifikation psychischer Störungen, Bern 2009.

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1.2 Die Quellen 1.2.1 Physische Beschreibung 70 schiffsärztliche Tagebücher (Medical Journals) stehen für eine Untersuchung der East India and China Station in den Jahren 1830 bis 1880 zur Verfügung. Alle befinden sich im Archivbestand des Nationalarchives in London. Die meisten umfassen einen Berichtszeitraum von einem Jahr (einige auch nur wenige Monate und einige bis 15 Monate), meist beginnend mit dem 1. Januar, teils auch zu anderen Kalenderdaten, abhängig vom Dienstbeginn und -ende des berichtenden Schiffsarztes. 35 Tagebücher sind jeweils als einzelner Band erhalten, zehn Bände enthalten je zwei und fünf Bände je drei Tagebücher, jeweils vom selben Schiff. Die hier untersuchten Tagebücher sind unter den Signaturen ADM 101/82 bis ADM 101/126 und ADM 101/159 bis ADM 101/200 archiviert, wobei für den online-Katalog der National Archives nur sieben der 15 zusammengefassten Bände Untersignaturen, meist »1A«, »1B« und »1C«, erhielten, die restlichen acht aber in ihrer Mehrteiligkeit übersehen worden sind.27 In den gedruckten Findbüchern wie auch in der digitalen Erfassung ist zu jeder Signatur der Name des Schiffes angegeben, zu dem das Medical Journal gehört. Die seit Ende 2010 online verfügbaren Angaben (»Scope and Content«) zu den jeweiligen Bänden standen zum Zeitpunkt unserer Quellenarbeit noch nicht zur Verfügung, wären aber auch keine große Hilfe gewesen, da sich die Erläuterungen auf außergewöhnlich erscheinende Fakten unterschiedlichster Art beschränken. Einmal mehr zeigt sich, dass neuropsychiatrische Symptomatik aus solchen Aufarbeitungen nicht systematisch erfasst werden kann. Wenn, wie oben aus dem Archiv-Katalog zitiert, von einer »Auswahl« die Rede ist, ist die Frage aufgeworfen, wie diese Auswahl der heute im Archiv vorfindbaren Journale zustandekommt. Es waren einmal sehr viel mehr, nämlich 15 000 bis 20 000 dieser Berichte vorhanden.28 Heute fehlt der größte Teil. Nie 27 Die Signierung der insgesamt 804 Bände schiffsärztlicher Tagebücher ist mit mehrfachen kategorialen Sprüngen folgendermaßen aufgeteilt: ADM 101/1–75: Convict Ships (alphabetical order); ADM 101/76–79: Emigrant Ships (alphabetical order); ADM 101/80–127: HM Ships (alphabetical order); ADM 101/128–250: HM Ships (arranged by station); ADM 101/251–255: Convict Ships; ADM 101/256–804: HM Ships (mainly in chronological order). Die Gruppe von Gefangenentransportschiffen (Convict Ships) ist weder nach Jahren, noch nach Schiffsnamen geordnet. 28 House of Commons 1903 (301) Navy (health): Stat. Rep. für 1902, S. 129. Preston fand demnach im Jahr 1902 noch 2 327 Bände vor, die »durchschnittlich acht Medical Journals enthielten«. Die meisten Bände fand er bei seiner Sichtung in »guter Verfassung« vor, einige waren aber auch »durch Feuchtigkeit beschädigt und stark verrottet«. Er bemerkt ausdrücklich, »dass etliche Journale von historischem Interesse fehlen« und fügt hinzu, »unter anderen die der Schiffe von Trafalgar.« (Ebd., S. 133).

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mand im Archiv in London weiß, wann die Berichtsbücher dezimiert worden sind und ob und nach welchen Kriterien eine »Kassation« von wertlos erachteten Archivalien vorgenommen worden ist. Damit bleibt auch offen, nach welchen Kriterien gerade jene Medical Journals für die Aufbewahrung ausgewählt worden sind, die tatsächlich die Jahre überdauert haben.29 Für militärgeschichtliche Erwägungen spricht, dass 19 der 70 hier untersuchten Journale mit Notizzetteln auf dem Buchdeckel versehen sind, auf denen militärische Aktionen genannt sind, zum Beispiel »China War 1858«, ­»Action against Malays«, »Perak Expedition«. Andererseits enthalten nur zwei der genannten 19 Journale konkrete Schilderungen von Kämpfen im Rahmen der sogenannten Opiumkriege. Bleibt als Erklärung noch eine sehr willkürlich getroffene, subjektive Auswahl, vielleicht von besonders »guten«, im Sinne gut erhaltener, Journale. Aber weshalb sollten so viele schiffsärztliche Berichtsbände nach ihrer Lagerung in den Räumen der Admiralität und im Archiv nicht gut erhalten sein? Gab es Schäden in den Jahren der beiden Weltkriege? Oder während des Umzuges des Public Record Office in die National Archives? Wir wissen es nicht. Wir haben im Jahre 2012 eine seit einigen Jahrzehnten feststehende, wenn auch in der Genese ihrer Dezimierung unaufgeklärte Anzahl von schiffsärztlichen Tagebüchern der britischen Kriegsschiffe zur Auswertung zur Verfügung. Die vorgefundenen Journale sind außer einigen Ein- und Abrissen, aus­ geblichenen Deckblättern und geringen Verschmutzungen in gutem physischen Zustand. Einige von ihnen sind lediglich mit einem kräftigen Faden zusammengenäht und mit einem dünnen, flexiblen, blauen Umschlagblatt eingefasst, einige sind fest gebunden einschließlich starrer Buchdeckel von Kartonstärke. Die Journale haben die Abmessungen von 24 bis 25 mal 36,5 bis 38,5 Zentimeter (entsprechend 9½ mal 14½ bis 15½ Zoll oder Inches), je nach Art der Bindung und der Umschläge. Auf der Vorderseite jedes Bandes ist ein 8 mal 15 Zentimeter (3¼ mal 5¾ Zoll) großes Etikett aufgeklebt, das den Namen des Schiffes, den Namen des auf diesem Schiff diensttuenden Arztes und den Berichtszeitraum des jeweiligen Bandes mit genauem Tagesdatum des Beginnes und Endes festhält. Der Umfang der Bücher variiert zwischen 50 und 500 Seiten. Die Blätter aus recht festem, nicht ganz weißem Papier sind beidseitig beschrieben. Alle 29 Die Mitarbeiter des Londoner Archives, allen voran Herr Papallardo, der von 2008 bis 2010 eine digitale Katalogisierung der 1200 im Archiv aufbewahrten Journale von 1793 bis 1880 vorgenommen hat und insofern mit dieser Materie besonders vertraut ist, kennen mit der Ausnahme einiger weniger Journale im Haslar Hospital in Portsmouth keinen anderen Ort, an dem weitere Berichtsbücher der Naval Surgeons zu vermuten sind. Eine persönliche Anfrage im Haslar Hospital in Portsmouth, wo tatsächlich einige Medical Journals geblieben sind, anstatt in das zentrale Londoner Archiv zu gelangen, ergab, dass es sich bei den dort befindlichen Exemplaren um wesentlich später (im 20. Jahrhundert) entstandene Bücher handelt. So bleibt nur die Einschätzung der »offensichtlichen Tatsache, dass große Mengen dieser Journale nicht überlebt haben.« (Persönliche Mitteilung in einem Schreiben Bruno Papallardos vom 26.5.2010).

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Eintragungen sind offenkundig mit Feder und schwarzer, seltener mit blauer Tinte geschrieben. Die Qualität der Tinte muss ausgezeichnet sein, denn nur wenige der Tagebücher zeigen ein verblichenes, schwaches Schriftbild. Die verschiedenen Teile der Medical Journals werden mit Blättern mit vorgedruckten Kopfzeilen eingeleitet und voneinander abgegrenzt. Diese Kopfzeilen lauten für den ersten, freien Berichtsteil »Nature of Disease or Hurt.« für die erste Spalte, »No. of Case.« für die zweite, sehr schmale Spalte und »Men’s­ Names, Ages, Qualities, Time when and where taken Ill, the History, Symptoms, Treatment and daily Progress of the Disease or Hurt, and how disposed of.« für die dritte Spalte, die vier Fünftel der Seite einnimmt. Die allererste Seite trägt zusätzlich die gedruckte Überschrift »Medical and Surgical Journal of Her ­Majesty’s … between the … and the … during which time the said … has been employed in … .« Im Beispielfall des Schiffes Sphinx lautet diese Kopfzeile, die Lücken mit Handschrift ausgefüllt, dann: »Medical and Surgical Journal of Her Majesty’s Steam Sloop Sphinx between the 30th of Sept. 1861 and the 30th of Sept. 1862 during which time the said Ship has been employed in the China Station.« Im mittleren Berichtsteil folgen insgesamt fünf verschiedene vorgedruckte Tabellen mit römischer Zählung »I« bis »V«, die die während des Berichtszeit­raumes beobachteten Krankheiten auflisten. Teilweise sind es sechs Tabellen, dann mit doppelt vorhandener, identischer Tabelle V und VI, wie im Beispiel der Juno für die Jahre 1875/76. Die entsprechenden diagnostischen Kategorien und Zählanweisungen sind in gedruckter Form vorgegeben. Die jeweiligen Zahlen waren in die gedruckten senkrechten Spalten mit der Feder hineinzuschreiben. Die Tabellen erfassen nacheinander folgende Arten von statistischer Erfassung (mit Schreibung in Großbuchstaben wie im Original): »Table I. A NOSOLOGICAL SYNOPSIS of the Sick Book kept during the period, in conformity with the 30th Article of the Surgeons’ Instructions.« »Table II. A LIST of Men who, during the period of the Journal have received Wounds or Hurts, which may either partly or wholly, disqualify them for the Public Service or subsequently in any way interfere with their earning a livelihood.« »Table III. THIS TABLE irrespective of the period for which the Journal is rendered, is to be made out annually on the last day of December or on the day the Medical Officer gives up charge of the Sick; and it is to correspond as nearly as possible with the details contained in the Nosological Returns transmitted between the 1st of January and the 31st of December, both days inclusive. Mean numerical strength of the Ship’s Company … .« »Table IV. IN THIS TABLE are to be inserted all cases which occured between the 1st of January and the 31st of December, or should the Medical Officer give up the charge, from the 1st of January to the date of leaving the Ship. Period included, viz, between the … of … and the … of … . Average numerical strength of the Ship’s Company … .«

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»TABLE No. V. TABLE showing the number of Cases of Diseases, arranged between the following periods of age between the … and the … .« »TABLE No. VI. TABLE showing the number of Cases of Diseases, arranged between the following periods of age between the … and the … .«

Die Tabellen I, III und IV sind in vertikaler Richtung in jeweils 13 Gruppen »Diseases« unterteilt, wobei die Tabelle I auf einer Seite, die Tabellen III und IV auf zwei Seiten Platz finden. Die zweite Seite ist mit der kurzen Überschrift­ »TABLE III.–(continued.)« beziehungsweise »TABLE IV.–(continued.)« versehen. In horizontaler Richtung sind in der Kopfzeile der Tabelle I die Kategorien »Discharged to Duty«, »Sent to Hospital«, »Died on Board«, »Invalided« und »Remaining« vorgegeben. Ferner konnte die Zahl der im Journal genauer beschriebenen Fälle (»Detailed Cases«) pro Diagnosegruppe angegeben werden. In den Tabellen III und IV sind es in der Kopfzeile neben diesen Kategorien noch solche für eine nach Altersgruppen eingeteilte Zählung der Krankheitstage. Unter »Cases arranged according to the Ages of the Patients, viz from*« werden in 10-Jahres-Schritten von 15 Jahren bis 65 Jahren jeweils Spalten für­ »Number of Cases« und für »Days Sickness« gebildet. In Tabelle II (für Verwundungen und Dauerschäden) sind in der Kopfzeile die Kategorien »Number on the Ship’s Books«, »Names«, »Age«, »Quality«, »Date of Pension Certificate, if granted« und »Hurts, whith the nature thereof. Time when, how, and where received.« aufgeführt, wobei »Quality« in diesem Zusammenhang den Dienstrang meint. In der Tabelle VI gehen die Altersgruppen nur von 15 bis 45 Jahren und »Above 45«. In vertikaler Richtung werden die Fallzahlen den 13 Diagnosegruppen zugeordnet, ergänzt um die Gruppen »Unclassed«, »Poisoning« und »Wounds and Injuries«. In Ausnahmefällen sind die Medical Journals auch ohne die vorgedruckten Seiten geführt worden, wobei dann der Schiffsarzt die entsprechenden Angaben am Kopf der Seite und in den Spalten handschriftlich in genau demselben Wortlaut eingetragen und die Trennlinien mit Feder und Lineal gezogen hat. Im dritten und letzten Teil des Medical Journals war der Schiffsarzt aufgefordert, alle medizinisch möglicherweise interessanten Beobachtungen während der Reise festzuhalten. Diese Seiten sind mit der fett gedruckten Überschrift GENERAL REMARKS versehen. In einigen der Journale sind kleinerformatige Blätter in unterschiedlicher Anzahl und teils in kräftig blauer Farbe eingebunden, für freie Berichte von unterschiedlichem Umfang genutzt. Die diagnostische Einteilung in den vorgedruckten Tabellen folgte bis in die 1850er Jahre der Systematik William Cullens, der Ende des 18. Jahrhunderts das dominierende nosologische (diagnostische) System geschaffen hatte.30 Danach 30 Cullen, William: Kurzer Inbegriff der medicinischen Nosologie; 1. und 2. Teil, Leipzig 1786. In diesem System gab es vier »Klassen« mit jeweils einer Vielzahl von »Ordnun-

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wurde eine überwiegend topographisch, also an den Organen und Körperregionen orientierte Einteilung verwendet.31 Innerhalb der uns besonders interessierenden Krankheitsgruppe der Neuroses, bzw. Diseases of the Brain, Nerves, &c. finden sich in den Journalen eine Vielzahl von untergeordneten Begriffen, die sämtlich zweifellos neuropsychiatrische Störungsbilder bezeichnen und die auch in den statistischen Jahresberichten der Admiralität zitiert werden. Es sind dies: Apoplexy  – Epilepsy  – Paralysis  – Phrenitis  – Coup de Soleil  – Cephalgia  – Neuralgia  – Headache  – Softening of Brain  – Delirium tremens  – Coma  – Insanity  – Amentia  – Melancholia  – Nervous excitement  – Hypochondriasis  – Debility dyspepsia – Hysteria – Nostalgia

Nach Einschätzung der Archivmitarbeiter in London handelt es sich bei den hier beschriebenen Medical Journals um die von den Surgeons an Bord eigenhändig verfassten Berichte, deren anfangs lose Blätter nachträglich zusammengebunden worden sind. Alle diese Bücher wurden der Admiralität in London vorgelegt. Der General Inspector, der den Jahresbericht, den Statistical Report, eines bestimmten Jahres zu schreiben hatte, versah manche der Bücher mit persönlichen Kommentaren, wie im Beispiel des Journales der Juno von 1876/77: »Dies ist ein mit viel Fleiß erstelltes ausführliches Journal« (»This is an elaborately […fehlendes Stück der eingelegten Seite] Journal, evincing much industry.«) oder des Journales der Highflyer: »Dieser Band umfasst die medizinische Topogen«. Die erste Klasse waren die Fieber (Pyrexiæ), unter die in fünf »Ordines« sowohl fieberhafte Krankheiten (Febres), als auch alle Formen von Hautausschlägen (Phlegmasiæ, Exanthemata) fielen, die zweite war die der »Nervenkrankheiten« (»Neuroses«), die die vier Ordnungen der »schlafsüchtigen« (Comata), der »entkräfteten« (Adynamiæ), der »krampfartigen« (Spasmi) und der »Gemüths-«Krankheiten (Vesaniæ) enthielt. Die dritte Klasse waren die auszehrenden Krankheiten (Cachexiæ), die sich in einer »Abnahme des Körpers« (Marcores), in einer »Geschwulst des ganzen Körpers« (Intumescentiæ) und in »Hautübeln« (Impetigines), das wichtigste davon die Syphilis, zeigen konnten, die vierte schließlich die »Localkrankheiten« (Locales) mit acht Ordnungen, die Störungen der Sinnesorgane, Verdauungsstörungen, alle Formen von Tumoren, die häufig diagnostizierten Hernien, aber auch Geschwüre ohne Fieber umfassten. 31 Sie erfasste Krankheiten des Gehirns (Diseases of the Brain, Nerves, &c.), der Atmungsorgane (Respiratory Organs), des Herzens (Heart and Blood Vessels), des Magens­ (Stomach and Bowels), der Leber (Liver, &c.), der Nieren (Kidneys, Bladder and Genitals), des Bewegungsapparates (Joints, Muscles and Bones, &c.), der Sinnesorgane (Senses, &c. including Inflammatory Affections of Eyes and Ears) und der Haut (Skin, Glandular System and Cellular Tissue). Ausnahmen dieses topographischen Prinzips waren die nach wie vor getrennt erfassten Fieber ohne (Fevers) und mit Hautausschlag (Eruptive Fevers). Es fehlten auch nicht die beiden Kategorien am Ende der Tabellen für Verwundungen und Unfälle (Wounds, ­Accidents, Injuries, &c.) und für nicht klassifizierbare Krankheiten (Diseases not classed or specified in the above arrangement). In die letzte Gruppe wurden handschriftlich zum Beispiel Skorbut, Appetitlosigkeit, Wasseransammlung im Bauchraum (Ascites), aber auch Simulation (Malingering) eingetragen.

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graphie Chinas und Japans und enthält zahlreiche Essays zu Themen, die mit der Medizin in China verknüpft sind.« (»This book embraces the Medical Topography of China and Japan, and contains numerous essays on subjects connected with medicine in China.«) Den strengen Vorschriften seitens der Admiralität hinsichtlich der Führung der Medical Journals begegnen wir in Kapitel 3 über die Tätigkeit der Schiffsärzte. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass die Handschriften sicher zu lesen sind, wenn auch erst nach einiger Übung. Es sind solche von ausgesprochen gleichmäßiger, wohlgeformter, schwungvoller Handschrift ebenso vertreten wie solche von eigenwilliger, kantiger und wechselnd abgekürzter Schreibweise. Durchweg sind Apothekerzeichen verwendet, wenn Rezepturen aufgeschrieben sind, was sowohl im fließenden Text, als auch abgesetzt und ein- oder ausgerückt geschah, aber auch, wenn die verordnete Medizin im laufenden Text beschrieben wird. Selten werden die Dosierungsmengen Ounce, Dram, Grain und Minim (im Deutschen: Unze, Drachme, Gran und Minim) ausgeschrieben, vielmehr meistens die während des ganzen 19. Jahrhunderts in Großbritannien allgemein gebräuchlichen Abkürzungszeichen verwendet. (Siehe Tab. 10 im Abschnitt 6.2) Die Anzahl der jeweils verordneten Einheiten wird teils in arabischen und römischen Zahlen, teils mit Apothekerzeichen wiedergegeben. Hierzu ist zu bedenken, dass die Schiffsärzte während ihrer Ausbildung alle Fertigkeiten der Herstellung ihrer Arzneien an Bord erlernt hatten, denn dies war stets ebenso ihre Aufgabe wie die ärztliche Behandlung selbst. Ein Apotheker fuhr nicht mit an Bord, und die Arzneikisten enthielten zum Teil nur die Rohstoffe der Arzneien. Anders als die schiffsärztlichen Tagebücher (Medical Journals) sind die Schiffstagebücher oder Logbücher (Ship’s Logs) in großer, vermutlich vollständiger Zahl im britischen Nationalarchiv erhalten.32 Es sind großformatige, fest gebundene Bücher mit kräftigen Buchdeckeln und Lederrücken, die, auf ein Jahr Bericht angelegt, zweifellos in bereits gebundener Form mit auf die Reise genommen wurden. Auf den ersten Seiten zu findende, eingedruckte Angaben der jeweiligen Druckerei weisen auf eine massenhafte, gleichförmige Herstellung mit nur geringen Abweichungen von Druckerei zu Druckerei hin. Sie messen 28 bis 29 Zentimeter mal 41 bis 43 Zentimeter (entsprechend ca 11½ mal 16 bis 17 Zoll). Auf der Vorderseite jedes Logbuches ist ein 8 mal 15 Zentimeter (3¼ mal 5¾ Zoll) großes Etikett mit dem Schiffsnamen aufgeklebt, auf das mit dickem blauem Buntstift die Archiv-Signatur geschrieben ist. Für jeden Tag war eine Buchseite vorgesehen, für den Vormittag die obere, für den Nachmit 32 Im Katalog des Nationalarchives in London sind nicht weniger als 188 652 Bände aus den Jahren 1799 bis 1985 gelistet! Dies macht die Dimensionen der Royal Navy im 19. und 20.  Jahrhundert deutlich. OnlineKatalog:http://www.nationalarchives.gov.uk/catalogue/dis playcataloguedetails.asp?CATLN=3&CATID=156&SearchInit=4&SearchType=6&CATREF =ADM+53, letzter Zugriff 3.2.2012.

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tag die untere Hälfte der Seite. Vorgedruckt waren die Zeiten des Tages in Stunden »a.m.« und »p.m.«, wie bis heute die Uhrzeit in Großbritannien als vor dem Mittag und nach dem Mittag (»ante meridiem« und »post meridiem«) angegeben wird. Auf den gedruckten Seiten vorgesehen waren Angaben zur Windrichtung und Windstärke, zur Lufttemperatur und natürlich für jeden Mittag exakt um zwölf Uhr das Ergebnis des »Mittagsbestecks«. So hieß die mittägliche Bestimmung der Position des Schiffes in Grad, Minuten und unter Umständen auch Sekunden der geographischen Länge und Breite. In einer eigenen Spalte, stets auf der rechten Seitenhälfte, konnten alle Vorkommnisse in freier Form eingetragen werden. Hier wurde die Aktivität an Bord in groben Zügen vermerkt, ob geankert oder gesegelt wurde, ob Feuer unter den Kesseln oder ob es gelöscht war, ob militärisch oder seemännisch geübt wurde, welche Reinigungsund Wartungsarbeiten durchgeführt wurden, ob Proviant, Wasser für die Maschine oder Holz und Kohle geladen wurde und ob ein Teil der Mannschaft an Land durfte. Insgesamt wurde im Log das dienstliche und technische sowie das disziplinarische Geschehen an Bord festgehalten, dagegen kaum etwas Medizinisches und Persönliches. In den Fallkapiteln zu schweren Unfällen, zum Suizid und zum Ertrinken wird erkennbar, dass solche Ereignisse unsystematisch und nach persönlichem Ermessen des Ersten Offizieres, der typischerweise das Logbuch führte, eingetragen wurden.

1.2.2 Die Auswertung der Quellen In einem ersten Schritt wurden in den 70 Medical Journals gegen 10 000 Manuskriptseiten daraufhin durchgesehen, ob die verschiedenen Tabellen, die Verlaufsberichte und die General Remarks irgendeine neuropsychiatrische Problematik beschreiben. Die Funde wurden auf etwa 2 000 Digitalphotographien festgehalten.33 Darauf folgte die Transkription der Handschriften und nach und nach eine immer genauere systematische Einordnung in Diagnosengruppen. Insbesondere dieser Erkenntnisschritt bedurfte viel Geduld, denn die fortschreitende Entzifferung und Abschrift in englischer Sprache veränderte das Verständnis und die Auffassung von so manchem Fall mehrfach.34 Der Auf 33 Glücklicherweise ist im Gegensatz zu den deutschen Bundesarchiven selbständiges Photographieren ohne Blitzlicht in den Arbeitsräumen des Nationalarchives in London gestattet, wenn auch zum Schutz der Archivalien bei ungünstigen Lichtbedingungen photo­ graphiert werden muss, insbesondere in der Abteilung des Archives, in der die Logbücher eingesehen werden können, 34 Etliche englische Wörter waren mit Wörterbüchern des 19.  Jahrhunderts und viele weitere nur mit der Hilfe eines englischen ärztlichen Kollegen zu entziffern und ihre Bedeutung zu klären. Für diese Hilfe sei dem englischen allgemeinärztlichen Kollegen Charles Gallimore, Wing, UK, herzlich gedankt.

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wand für die Logbücher war vergleichsweise gering, da gezielt nur nach Eintragungen an bestimmten Tagen gesucht wurde. Die 2000 photographierten Seiten liegen bis auf wenige Ausnahmen als lückenlose Abschrift vor. Um den Umfang des Buches zu begrenzen, sind nur wenige dieser Transkripte abgedruckt.35 Während die Beschreibung der Fälle von meiner Hand versucht, neben den wichtigsten Fakten das Besondere und Markante in gekürzter Form herauszustellen, soll dem interessierten, kritischen Leser punktuell die Möglichkeit gegeben werden, die Beschreibung, wie sie der Schiffsarzt vor 130 bis 180 Jahren gewählt hat, nachzuvollziehen und sich im Übrigen an der feinen Beobachtungsgabe und der oft exzellenten, gebildeten Sprache dieser englischen, irischen und schottischen Autoren zu erfreuen. Korrekturen der vorgefundenen Schreibweise wurden nicht vorgenommen.36 Wo ein oder mehrere Wörter trotz aller Bemühungen nicht entziffert werden konnten, wird die Leerstelle durch drei Punkte in eckiger Klammer wiedergegeben. Wo eine Lesart als »Konjektur« möglich, aber fragwürdig erscheint, wird ein Fragezeichen in eckiger Klammer nachgestellt. Die in den Manuskripten zahlreich verwendeten Apothekerzeichen sind in Worten ausgeschrieben. Nur einige lange, inhaltsarme Wiederholungen sind ausgelassen und die Leerstelle durch drei Punkte gekennzeichnet. Die Reihenfolge der Fallberichte innerhalb der jeweiligen diagnostischen Gruppe ist chronologisch, eine ebenso einfache wie eindeutige Ordnung, die dem zeitlichen Strom der Ereignisse folgt, ohne eine Hierarchie unter den Fällen aufzubauen. Durch die Angabe der Signatur der National Archives für das jeweilige Medical Journal und durch die Wiedergabe der »Number of Case« innerhalb jedes Journales kann jeder Fall im originalen Manuskript ohne Mühe gefunden werden.37 Analog sind die Zitatstellen aus den Logbüchern anhand der je 35 Ebenso ist eine Synopsis, anhand derer alle Fälle »ihrem« Schiff und dem entsprechenden Schiffsarzt zugeordnet werden können, nicht abgedruckt, steht aber auf der Homepage des Verlages zur Verfügung. 36 In diesem Sinne wird auf »sic«-Hinweise verzichtet, die in der wissenschaftlichen Literatur kennzeichnen sollen, dass eine bestimmte, vielleicht merkwürdig, überraschend oder schlicht falsch erscheinende Schreibweise tatsächlich so in der Quelle angetroffen worden ist. Solche Bemerkungen haben wohl nur dort Sinn, wo ansonsten stillschweigende oder auch gekennzeichnete Korrekturen vorgenommen werden. Solches Korrigieren ist bei der Wiedergabe von handschriftlichem Material aber nicht sinnvoll, zumal wenn es sich um alte Skripte mit stark individueller Prägung und mit variabler, noch nicht so verbindlich festgelegter Schreibweise handelt. 37 Der ursprüngliche Plan einer Seitenangabe erwies sich als unpraktikabel, weil die Seiten der Medical Journals unvollständig und unsystematisch, teils mit gestempelten, teils mit handschriftlichen Zahlen nummeriert sind und in vielen Fällen mehrere Zählungen überlappend und somit verschiedene Seitenzahlen parallel anzutreffen sind. Diese Problematik ist auch durch die elektronische Erfassung der Medical Journals im online-Katalog nicht behoben, denn die dort teilweise wiedergegebene Zählung nach »Folio« ist nicht vollständig und enthält diverse Übertragungsfehler.

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dem Log zugeordneten Signatur und dem Datum innerhalb des Bandes leicht aufzufinden. In den Statistical Reports on the Health of the Navy ist die Zitat­ suche dadurch einfach, dass sie in gedruckter und gebundener Form mit durchgehender Seitenzählung vorliegen. Auch diese Zitate sind von mir aus dem Englischen übertragen.

1.3 Forschungsliteratur Einleitend wurde schon festgestellt, dass unsere Thematik bislang nicht gezielt untersucht wurde. Psychologische Teilaspekte finden sich jedoch in einigen medizingeschichtlichen und in materialreichen sozialgeschichtlichen Publikationen aus Großbritannien, für die es bislang kein Pendant in der deutschsprachigen Literatur gibt. Bemerkenswerte Titel werden hier kurz vorgestellt, um eine thematische Orientierung an die Hand zu geben. Es soll auch ein Blick auf die gegenwärtige Situation geworfen werden, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die historischen Befunde zu weiten Teilen immer noch Bedeutung haben und dass trotz grundlegender technischer Weiterentwicklungen viele Fragen zur spezifischen Situation auf Schiffen die gleichen geblieben sind. In jedem Abschnitt wird, von begründeten Ausnahmen abgesehen, chronologisch rückwärts von den jüngst publizierten zu den ältesten Arbeiten gegangen.

1.1.3 Arbeiten mit psychologischer Fragestellung Es spricht für sich, dass die 2007 erschienene vierbändige »Oxford Encyclopedia of Maritime History«38 unter allen nur erdenklichen Beiträgen keinen explizit psychologischen Artikel und der 219 Seiten (!) umfassende Index kein Stichwort wie »Psychology«, »psychic«, »Emotion«, »Anxiety«, »Depression«, »Mania«, »insane«, »Dependency« o. ä. enthält. Nur der Begriff »Alcohol« findet sich im Artikel »Shipboard Life« und die Begriffe »Drug« und »Narcotics trade« im Artikel »Business Ethics«. Im Aufsatz »Health and Health Care«, wo die Thematik am ehesten zu erwarten wäre, bleiben psychologische Aspekte unbeachtet. Auch das vierbändige Werk »Medicine and the Navy«, der Klassiker über die medizinische Versorgung an Bord der Schiffe und in den Krankenhäusern der Royal Navy, lässt die Thematik der psychischen Befindlichkeit und der psychopathologischen Störungen außer Acht.39 38 Hattendorf, John B. (Hg.): The Oxford Encyclopedia of Maritime History, New York 2007. 39 Lloyd, Coulter: Medicine, Vol. IV.

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Schadewaldt, Nestor der deutschen Geschichte der Schifffahrtsmedizin, publizierte über alle Aspekte der Medizin und Hygiene an Bord. Psychopathologische Aspekte sind in seinen Schriften wiederholt durch das Thema der Alkoholproblematik angesprochen.40 Auch weist er auf die Verbindung von Alkoholmissbrauch und Suizidalität hin, arbeitet allerdings mit dem undifferenzierten historischen Begriff des »Delirium tremens«.41 Unter sozialgeschichtlichen Apekten wenden sich auch Gerstenberger und Welke der Alkoholproblematik zu.42 Marjot vergleicht die Morbiditäts- und Mortalitätsrate in der British Army und der Royal Navy anhand der statistischen Jahrbücher für das 19. Jahrhundert, fächert allerdings den Begriff des »Delirium tremens« nicht in seiner vielfältigen Bedeutung auf.43 Ojala arbeitete über das Desertieren von Seeleuten im Finnland des 19. Jahrhunderts,44 Mackay über das gleiche Thema in der Australienfahrt Mitte des 19. Jahrhunderts.45 Haines und Staniforth übergehen in ihren gründlichen Arbeiten zu »Life and Death« und »Disease and Death« psychische Faktoren und psychiatrische Krankheitsbilder auf den Emigrant Ships und Convict Ships mit ihren 1,6 Millionen Passagieren zum Fünften Kontinent.46 Über die erotische und homoerotische Aufladung der Seemannsfigur arbeitete Heimerdinger als Ethnologe.47 Mehrfach untersucht ist die Rolle von Frauen an Bord, zum Beispiel für die Schiffe der US-amerikanischen Walfang 40 Schadewaldt, Hans: Der Schiffsarzt, Ciba Zschr. (1955), S.  2502–2536; ders.: Geschichte der Schiffahrtsmedizin und Marinepharmazie, in: Finger, Georg (Hg.): Wehrdienst und Gesundheit, Darmstadt 1963, S. 5–55; ders.: Pathophysiologische und pathopsychologische Beobachtungen des Schiffsarztes Savigny beim Schiffbruch der »Méduse« 1816, in: Überleben auf See, Kiel 1965, S.  7–24; ders.: Geschichte der Schiffschirurgie, Münch. med. Wschr. 109 (1967), S. 1732–1742; ders.: Alkohol an Bord, Schiff und Zeit (1975), S. 55– 65; ders.: Die letzte Weltumsegelung alten Stils, Schiff und Zeit (1977), S. 13–25; ders.: Geschichte des Sanitätsdienstes an Bord, Wehr-medizinische Monatsschrift (1980), S. 254–257; ders.: Die Überwindung der Vitaminmangelkrankheiten, Leben und Sterben an Bord, 2002, S. 33–46. 41 Schadewaldt, Hans: Alkohol an Bord, Schiff und Zeit (1975), S. 55–65, S. 56. 42 Gerstenberger, Heide (Hg.): Von Land zu Land, Bremen 1991; Gerstenberger, H.; Welke, U.: Vom Wind zum Dampf, Münster 1996; Gerstenberger, H.: The Disciplining of German Seamen, Internat. J. Marit. Hist. 13 (2001), S. 37–50; dies.: Nach dem großen Umbruch, Schiff und Hafen 54 (2002), S. 77–82. 43 Marjot, D. H.: Delirium Tremens in the Royal Navy and British Army in the 19th Century, J. Stud. Alc. 38 (1977), S. 1613–1623. Diese Differenzierung führe ich im Abschnitt 5.4 »Delirium tremens« durch. 44 Ojala, J.; Pehkonen, J.: Not only for Money: An Analysis of Seamen’s Desertion in­ Nineteenth-Century Finland, Internat. J. Marit. Hist. 18 (2006), S. 25–54. 45 Mackay, David: Desertions of Merchant Seamen in South Australia, 1836–1852, Internat. J. Marit. Hist. (1995), S. 52–73, 236–237. 46 Haines: Life and Death; Staniforth, Mark: Diet, Disease and Death at Sea on the Voyage to Australia, 1837–1893, Internat. J. Marit. Hist. 8 (1996), S. 119–156. 47 Heimerdinger, Timo: Der Seemann, Köln 2005.

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flotte.48 Creighton und Norling finden Beispiele für die gender-typische Rollenerfüllung der Kapitänsfrau. Springer sieht bei mitfahrenden Ehefrauen gleichzeitig Traditionsbruch und streng erfüllte Frauen-Rolle.49 Eine besonders starke Position von Frauen findet Murray in den chinesischen Piratenflotten des 18. und 19. Jahrhunderts.50 Einige Arbeiten aus dem frühen 20. Jahrhundert reichen zwar nur teilweise und knapp in den hier untersuchten Zeitraum hinein, behandeln aber die Lebenswelt der Schiffe aus fachpsychiatrischem Blickwinkel.51 Nocht, Nestor der Tropenmedizin, hat in seinen Vorlesungen von 1906 die psychologische Seite bereits gut im Blick.52 48 Creighton, Margret: »Women« and Men in American Whaling, Internat. J. Marit. Hist. 4 (1992), S. 195–218, 305; Norling, Lisa: Ahab’s Wife, in: Creighton, M.; Norling, L.: Iron Men, Wooden Women, Baltimore 1996, S. 70–91; vgl. auch: Berckman, Evelyn: The hidden Navy, London 1973. 49 Springer, Haskell: The Captain’s Wife at Sea, in: Creighton, Norling, ebd., S. 92–117. 50 Murray, Dian: Practice of Homosexuality Among Pirates, Internat. J. Marit. Hist. 4 (1992), S. 121–130. 1807 bis 1810 war der Chef von 60 000 Piraten die Witwe des letzten Anführers. (Ebd., S.  124) Im europäischen und amerikanischen Bereich sind Piratinnen eine große Ausnahme, wenn nicht gar ganz auf die beiden berühmt gewordenen Fälle von Anne Bonny und Mary Read beschränkt. Sie kommen allerdings in fast jeder Abhandlung über Piraterie vor, sind sie doch, so Bohn, als doppelter Normenbruch von Interesse, dem der Transvestie und dem der Kriminalität. Vgl.: Bohn, Robert: Die Piraten, München 2007, S. 103. 51 Auer, Max: Zur Statistik und Symptomatologie der bei Marine-Angehörigen vorkommenden psychischen Störungen, Arch. Psychiatr. 49 (1912), S.  264–316; ders.: Verhütung von Nerven- und Geisteskrankheiten, in: Verth, M.; Bentmann, E.; Dirksen, E.: Handbuch der Gesundheitspflege an Bord von Kriegsschiffen, Jena 1914, Bd. 2, S. 324–355. Eine neue psychische Belastung kam für das »Personal der Funkentelegraphie« durch die extreme Anforderung an Konzentration unter ausschließlich akustischem Wahrnehmungsvermögen hinzu, welches neurovegetative Regulationsstörungen mit Angstsymptomatik auslösen konnte. (Ebd., S.  331–333, 351.) Bentmann, Eugen: Allgemeines über Krankheiten, Krankheitsursachen und Krankheitsverhütung an Bord, in: Verth, ebd., S. 3–40; Ruge, Reinhold: Über krankhafte Seelenstörungen und ihre Bedeutung für die Marine, Marine Rdsch. Zschr. Seewesen 20 (1909); Meyer, E.: Aus der Begutachtung Marine-Angehöriger, Arch. Psychiatr. 39 (1905), S.  726–782. Ruge, Beyer und Buchinger beschreiben die anhaltende Alkoholproblematik. Vgl.: Ruge, R.: Geschichte der Schiffshygiene, in: Verth, ebd., S. 31–39; Beyer, Henry: Die Alkoholfrage in der Marine., in: Verth, ebd., S. 799–802; Buchinger, Otto: Die Alkoholfrage in der Marine, in: Verth, ebd., S. 803–811. Podestà findet für die Jahre 1870 bis 1900 eine gegenüber dem Heer geringere Suizidrate, jedoch eine höhere Rate an Alkoholmissbrauch und an dauernder Dienstunfähigkeit. Vgl.: Podestà, Hans: Häufigkeit und Ursachen seelischer Erkrankungen in der deutschen Marine unter Vergleich mit der Statistik der Armee, Arch. Psychiatr. 40 (1905), S. 651–703. 52 Nocht, Bernhard: Vorlesungen für Schiffsärzte der Handelsmarine über Schiffshygiene, Schiffs- und Tropenkrankheiten, Leipzig 1906. Für die letzten drei Jahrzehnte des 19.  Jahrhunderts findet er eine gegenüber der Gesamtbevölkerung deutlich erhöhte Mortalität der Schiffsbesatzungen der deutschen Handelsmarine von circa 22 % gegenüber der gleichaltrigen männlichen Bevölkerungsgruppe an Land im Deutschen Reich mit 9–10 %. (Ebd., S. 30).

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1.3.2 Medizingeschichtliche Arbeiten Aus den Schulen von Schadewaldt und Müller aus Düsseldorf und Frankfurt am Main gingen eine ganze Reihe schifffahrtsmedizingeschichtlicher Dissertationen hervor, allen vorweg die akribischen Untersuchungen Müllers zur Arzneimittelversorgung an Bord.53 Hinrichs bearbeitet ein einzelnes schiffsärztliches Tagebuch der Royal Navy und erwähnt unter 1602 Krankheitsfällen sechs Fälle von Epilepsie.54 In der Auswertung zweier Journals durch Blasius finden sich in den Diagnoselisten ohne weitere Ausführung einige neuropsychiatrische Erkrankungen.55 Erstaunlich ist ein Detail dieser Arbeit, wonach sich eine Zwangsjacke an Bord des Schiffes (der Bristol) befand.56 Andere Arbeiten befassen sich mit den wenigen, aber einflussreichen Lehrbüchern zur Schiffsmedizin. Fonssagrives hatte sich in seinem »Traité« von 1856 mit der Problematik der Monotonie langer Reisen und des Heimwehs, welches nach seiner Einschätzung »fast jeden Matrosen« befällt, aber auch mit der Isolierung der Offiziere durch die strenge Hierarchie befasst.57 Wenn Schillings feststellt, dass »wegen 53 Müller, Irmgard: Untersuchungen zur Arzneimittelversorgung an Bord vom Beginn der Entdeckungsreisen bis zur Einführung der Dampfschiffahrt, Düsseldorf 1969. Sie beschreibt alle noch vorhandenen 56 Exemplare von Schiffsarzneikisten aus der Zeit der Segelschifffahrt und erstellt eine Liste von 1301 Arzneien, von denen einige, allerdings ohne weitere Erläuterung, psychiatrischen Diagnosen zugeordnet sind. Dies.: Die Anfänge einer Arzneimittelversorgung an Bord, Deutsches Schiffahrtsarchiv, Oldenburg 1975, S. 161–174; dies.: Das Schiff als medizinisches Experimentier- und Beobachtungsfeld im 19. Jahrhundert, in: Klüver, Hartmut (Hg.): Die Krankheiten der Seefahrer, Düsseldorf 2005, S. 29–38. Auch Volbehr, Klaus: Gesundheit an Bord, Hamburg 1987 erläutert keine angeführte psychiatrische Diagnose. Allerlei volkskundliche Mittel gegen »Nervenerkrankungen wie Müdigkeit, Angstzustände und Heimweh« zählt Bankhofer auf: Hademar Bankhofer’s Schiffs- und Seemannsheilkunde, Herford 1987. 54 Hinrichs, Wiebke: Medizinische Beobachtungen und Erkenntnisse während einer Mittelmeerreise an Bord der H. M. S. St. Jean d’Acre (1859–1860), Frankfurt am Main 2007. 55 Blasius, Julia: Schiffsarztjournale der Royal Navy als medizinhistorische Quellen, Frankfurt am Main 2001. 56 Ebd. S. 89: Tabelle 3. Geschlechtskrankheiten und Alkoholmissbrauch finden Erwähnung bei: Linke, Ute: Beobachtungen von Schiffsärzten der Royal Navy über die häufigsten Erkrankungen zur See, Frankfurt am Main 1987; Stuhldreier, Bernd: Medizinische Beobachtungen und Erkenntnisse des englischen Schiffsarztes Thomas Spencer Wells (1818–1897) während einer Mittelmeerreise 1852/53 an Bord der »Modeste«, Frankfurt am Main 1984. Die in dieser Arbeit behandelte Modeste war das Vorgängerschiff der gleichnamig getauften Fregatte unserer Quellen. Unter vielen Arbeiten zur medizinischen Versorgung in der deutschen Marine bearbeiten zwei das 19. Jahrhundert: Lübbig, Uwe: Geschichte des Sanitätsdienstes der deutschen Marine von 1868 bis 1914, Düsseldorf 1996; Demme: Erfahrungsberichte. Sie stützt sich auf: Benda: Krankheits- und Sterblichkeitsverhältnisse, o. O. 1877 und Bauer, Werner: Die Auslandsreisen der Schulschiffe der deutschen Kriegsmarine in den Jahren 1925–1937, Veröff. Mar.-San.wes. (1940), S. 114–181. 57 Fonssagrives, Jean-Baptiste: Traité d’hygiene navale, Paris 1877.

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der hierarchischen Bindung der Offiziere und auch der Schiffsärzte … über die psychische Situation der Seeleute mitunter geschwiegen« worden sei, ist der bedeutsame Befund der Verleugnung psychischer Störungen, wenn auch sehr beschönigt, immerhin benannt.58 Der Hitzschlag, ein Krankheitsbild mit psychischer Beeinträchtigung, wird in den Abhandlungen von Kiupel59, Rath60 und Frohberg61 bearbeitet. Gerdau62 betont das mit diesem Störungsbild verbundene, Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts beobachtete hohe Suizidrisiko der Betroffenen. Die unserem Untersuchungszeitraum unmittelbar vorausgehenden Jahrzehnte der sogenannten »Nelson-Ära« sind am intensivsten erforscht. Auch in diesen Publikationen sind psychologische Aspekte von Alltag und Krankheit an Bord kaum behandelt.63 Als Einzelfall sind Heimweh, Suizid und paranoide 58 Schillings, Michael: Die Schiffskrankheiten im »Traité d’hygiene navale« von Jean Baptiste Fonssagrives, Düsseldorf 1990, S. 205. Weitere Lehrbücher sind behandelt in: Pollmann, Berit: Schiffsmedizinisches aus der italienischen Literatur, Düsseldorf 1989; Dugbatey, Kwesi: Die Schiffskrankheiten in der »Medicina nautica« von Thomas Trotter, Düsseldorf 1976; Schiller, Gerhard: Die Schiffsmedizin in den »Observations on the Diseases Incident to Seamen« von Gilbert Blane (London 1785), Düsseldorf 1973. 59 Kiupel, Uwe: Arbeit und Gesundheit im industriellen Wandel, in: Brockstedt, Jürgen (Hg.): Seefahrt an deutschen Küsten im Wandel 1815–1914, Neumünster 1993, S. 139–174. 60 Rath, Jürgen: Lebens- und Arbeitsbedingungen des Maschinenpersonals auf kohlenbefeuerten Dampfschiffen. Dipl.arbeit Maschinenbau, Hamburg 1982. 61 Frohberg, Uwe: Gesundheitsschäden der Heizer und Maschinisten auf kohlenbefeuerten Dampfschiffen, Schiff und Zeit (1994), S. 44–49; ders., Über die Hitzebelastung des Maschinenpersonals an Bord deutscher Dampfschiffe, Düsseldorf 1990. 62 Gerdau, Kurt: Die Ozeane von einst: Selbstmordstraßen der Trimmer, Schiff und Zeit (1977), S. 56–58. 63 Crumplin, Michael: Men of Steel, Shrewsbury 2007; Lincoln, Margarette: The Medical Profession and Representation of the Navy, 1750–1815, in: Hudson, G.: British military and naval medicine, 1600–1830, Amsterdam 2007, S. 201–226; Crimmin, Patricia: British Naval Health, 1700–1800: Improvement over Time?, in: Hudson, G., ebd., S. 183–200; Cook, Harold: Matters of Exchange, New Haven, London 2007; McLean, David: Public health and politics in the age of reform, New York 2006. Mit der Verwundetenversorgung auf Schiffen befasst sich: Lehnert, Simone: Verwundetenversorgung auf Kriegsschiffen der englischen Marine zur Zeit der Napoleonischen Kriege, in: Klüver, Schadewaldt: Beiträge, S. 117–128. Sie liefert zwei Beispiele von Operationsberichten von Arm-Amputationen, die jeden Leser auch aus noch so großem zeitlichen Abstand grausen lassen. Dabei gingen diese Eingriffe immerhin mit dem Überleben des Verletzten aus. Millyard, John: Fiddlers and whores, Lowry, James, London 2006; Pietsch, Roland: Der echte Jim Hawkins: Jugendliche Seefahrer im achzehnten Jahrhundert, Deutsche Schiffahrt (2005), S. 4–7; Harland, Kathleen: Saving the Seamen, J. Roy. Nav. Med. Serv. 91 (2005), S. 64–82; Zwei US-amerikanische Arbeiten sind: Friedenberg, Zachary: Medicine Under Sail, Annapolis 2002; Druett, Joan: Rough medicine: sur­ geons at sea in the age of sail, New York 2000. Taylor, Rodney: Sea-Surgeons and the Company of ­Barbers and Surgeons, J. Roy. Nav. Med. Serv. 87 (2001), S. 98–103; Baldock, N. E.: Health in the Royal Navy during the Age of Nelson, J. Roy. Nav. Med. Serv. (2000), S. 60–63; Watt, James: Health and the Royal Navy during the Age of Nelson, J. Roy. Nav. Med. Serv.

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Psychose während der Weltumsegelung (1803 bis 1806) der russischen Schiffe unter von Krusenstern festgehalten.64

1.3.3 Sozialgeschichtliche, soziologische und ethnologische Arbeiten Nachdem die Mannschaft »vor dem Mast« lange Zeit förmlich übersehen worden ist, befassen sich mehrere sozialgeschichtliche Arbeiten aus den letzten Jahren mit den alltäglichen Lebensbedingungen an Bord. Lavery65 untersucht das Lower Deck der Royal Navy durch die Jahrhunderte hindurch, Lewis66 und Goodwin67 die Nelson-Ära und die folgenden Jahrzehnte, Winton68 die viktorianische Ära, sodann Kemp69 und Lloyd70 die britische Kriegs- und Handelsmarine von den Tudors bis in das 19. Jahrhundert. Eine kürzlich erschienene Arbeit von McLean71 über die Schiffsärzte der Royal Navy in der Zeit von 1805 bis 1914 behandelt das für uns so relevante Thema recht anekdotisch, während Earle als ausgewiesener Wirtschaftshistoriker viele Details zu den Alltagsbedingungen explizit an Bord von Handelsschiffen liefert.72 Krieger untersucht den dänischen Handel auf dem Indischen Ozean, Bruijn die »Ships and Sailors« aller

(2000), S. 64–71. Estes, J. Worth: Naval surgeon, Canton, Massachusetts 1998. Hunger und Fehlernährung in der älteren Schifffahrtsgeschichte ist Thema bei Watt, J.; Freeman, E.; Bynum, W.: Starving Sailors, Greenwich, London 1981. Eher verborgen findet sich dort ein Hinweis auf mögliche Depression und Aufmerksamkeitsstörung unter Vitaminmangel. (Ebd., S. 199); Larsen, Oivind: Schiff und Seuche 1795–1799, Oslo 1968. 64 Seidel, Thomas: Medizinische Beobachtungen während der Weltumsegelung des Adam Johann von Krusenstern, Düsseldorf 1979. 65 Lavery, Brian: Royal tars, London 2010. 66 Lewis, Michael: A social history of the navy 1793–1815, London 2004. Er behandelt zwar das psychische Störungen einschließende Krankheitskonzept Gilbert Blanes, bleibt aber seinerseits unsicher und vage. Blanes Arbeit ist: »Statements of the Comparative Health of the British Navy, from the Year 1779 to the Year 1814, with Proposals for its farther Improvement.« Medico-Chirurgical Transactions, published by Medical and Chirurgical Society London, Volume the Sixth, 1815, S. 490–573. 67 Goodwin, Peter G.: Men o’ war, London 2003. 68 Winton, John: Hurrah for the life of a sailor!, London 1977. 69 Kemp, Peter: The British sailor, London 1970. 70 Lloyd, Christopher: The British seaman 1200–1860, Rutherford 1968. 71 McLean, David: Surgeons of the fleet: the Royal Navy and its medics from Trafalgar to Jutland, London 2010. 72 Earle, Peter: Sailors, London 2007. Vgl. entsprechende Arbeiten zur deutschen Küstenund Überseeschifffahrt: Flensburger Schiffahrtsmuseum (Hg.): Alltag an Bord – Brauchtum auf See, Flensburg 2004; Keitsch, C.; Glüsing, J.: Landgang, Flensburg 2000; Kiupel, Uwe: Arbeit und Gesundheit im Industriellen Wandel, in: Brockstedt, Jürgen (Hg.): Seefahrt an deutschen Küsten im Wandel 1815–1914, Neumünster 1993, S. 139–174.

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East India Companies.73 Goethe arbeitet die massive Verringerung der Mannschaftsstärke auf den immer größer und schneller werdenden Segel- wie auch Dampfschiffen heraus.74 Waren die frühen Schiffe »hoffungslos übervölkert«, so war für ihn die in der modernen Schifffahrt des 20. Jahrhunderts fortgesetzte Reduzierung der Besatzung bereits im 19. Jahrhundert »fast atemberaubend«.75 Angster beschreibt in ihrem Buch jüngsten Datums sytematisch die ordnungspolitische Aufgabe und Wirkung der Royal Navy, die eine wesentliche Grundlage für die britische Weltmachtstellung bildete.76 Ein eigenes Forschungsthema stellen die Krankenhäuser dar, die in den wichtigsten Hafenstädten unterhalten wurden, ebenso die als Lazarettschiffe gebauten oder zu solchen umfunktionierten Kriegsschiffe.77 Die medizinische Versorgung an Land, insbesondere für die britischen Truppen in Indien, ist mehrfach und detailliert untersucht und in den Zusammenhang mit der Medizingeschichte insgesamt in den jeweiligen asiatischen Ländern gestellt.78 Die

73 Krieger: Kaufleute. Die Ostindien-Kompanien, vor allem die niederländische (VOC) und die britische (EIC) sind vielfach untersucht, enden allerdings zumeist mit dem 18. Jahrhundert und geben gesundheitliche und speziell psychische Problemkonstellationen an Bord in aller Regel ohne kritisch-sachliche Interpretation wieder. Vgl.: Nagel: Fernhandel; Gelder: Das ostindische Abenteuer; Bruijn, Gaastra: Ships, sailors and spices. 74 Goethe, Hartmut: Die Änderung der Besatzungsstruktur der Seeschiffe im Wandel der Zeit, in: Goerke, H.; Schadewaldt, H.: Geschichte der Schiffahrtsmedizin, Koblenz 1985, S. 45–62. 75 Ebd., S. 58. 76 Angster: Erdbeeren und Piraten. 77 Allison, Richard: Sea Diseases, London 1943; Beach, J.; Sharpley, J.: Historical Reflec­ tions on Mental Health at Haslar 1753–2003, J. Roy. Nav. Med. Serv. (2005), S. 32–36; Jarvis, Lionel: Update – The Royal Hospital Haslar and Ministry of Defence Hospital Unit Portsmouth 2002, J. Roy. Nav. Med. Serv. 88 (2002), S.  47–52; Pugh, Gordon: The Planning of­ Haslar, J. Roy. Nav. Med. Serv. 62 (1976), S.  103–120; Haines, O.: Medical Museum, Royal Naval Hospital, Haslar, J. Roy. Nav. Med. Serv. (1975), S.  157–161; Tait, William: A History of H ­ aslar Hospital, Portsmouth 1905. Einen Überblick über das Hospital der vikto­ rianischen Zeit geben: Mitton, Lavinia: The Victorian hospital, Oxford 2008; Rutherford, Sarah: The Victorian asylum, Oxford 2008. Besonders zu psychiatrischen Einrichtungen jener Zeit vgl.: Parry-Jones, William: The Trade in Lunacy, London 1972; Jones, Kathleen: Lunacy, Law, and Conscience 1744–1845, London 1955. Zu den deutschen Marinekrankenhäusern des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende vgl.: Demme, Christine: Deutsche Lazarettschiffe in Ostasien 1900–1901, in: Klüver, Schadewaldt: Beiträge zur Geschichte, S.  129–146; Adams, Hans-Anton: Deutsche Marinelazarette von den Anfängen bis heute, Köln 1978; Hartmann, V.; Nöldeke, H.: Deutscher Marinesanitätsdienst in Japan, Schiff und Zeit (2006), S.  10–20; Helm, Hans-Georg: Deutsche Marineärzte in Tsinanfu, Hochschule Hannover 1994. 78 Vgl. hierzu insbesondere und unter Aufarbeitung der wichtigsten vorangegangen Arbeiten; Arnold, David: The tropics and the traveling gaze: India, landscape, and science, 1800–1856, Seattle 2006; ders.: Science, technology and medicine in colonial India, Cambridge 2000; ders.: Colonizing the body; Diesfeld, Hans Jochen: Das Gesundheitswesen In-

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traditionelle Sicht eines einseitigen Transfers von westlicher Medizin in die Kultur der Kolonialregionen wird dabei mehr und mehr abgelöst von einer komplexen Auffassung gegenseitiger Beeinflussung und bidirektionalen Austausches. Während die Krankenpflege als Teil des Sanitätsdienstes der Land-Armee ein gut untersuchtes und mit der Person von Florence Nightingale (anlässlich des Krim-Krieges) ein geradezu populäres Thema ist, wird die Pflege an Bord von Schiffen nur gelegentlich erwähnt.79 Auch der Schiffbruch ist ein eigenständiges, schon in der Phantasie emotional hochbesetztes Thema. Untersuchungen weisen die erstaunliche Rate von zwei bis vier Prozent verunfallter Schiffe aus.80 Die berühmt gewordene Irrfahrt des Rettungsfloßes der »Meduse« vor der westafrikanischen Küste im Jahre 1816 beschreibt Schadewaldt.81 Mit auf dem Floß hatte sich der Arzt des untergegangenen Schiffes befunden, der unter seinen Mitbetroffenen delirante und halluzinatorische Zustandsbilder, zwei Suizide und, nach der Tragödie besonders heftig diskutiert, auch Anthropophagie an Bord des dreizehn Tage dahintreibenden Floßes beschrieb. Die mit Piraterie und Freibeuterei zusammenhängenden Fragen sind für die vorliegende Arbeit insofern von Bedeutung, als sich in manchen der untersuchten Journale Hinweise auf militärische Aktionen gegen Piratendschunken in Südostasien finden.82 Dieses Thema ist durch die moderne Form der »Hochseepiraterie« gegenwärtig unerwartet präsent. Brauchtum und Sprache an Bord sind in der ethnologischen Literatur zwar intensiv untersucht worden, jedoch ist die Zahl materialreicher Veröffentlichungen nicht groß und nicht neueren Datums. Nestor der Spracherforschung für den deutschen Sprachraum ist Kluge.83 Für den englischen Sprachraum sind

diens, in: Rothermund, Dietmar (Hg.): Indien, München 1995, S. 349–367; MacLeod, Roy: Disease, medicine, and empire, London 1988; Crawford, Dirom: Roll of the Indian Medical Service 1615–1930, London 1930; ders.: A History of the Indian Medical Service 1600–1913, London 1914. 79 Die Vorgeschichte des 1885 gegründeten Royal Naval Nursing Service beleuchten: Huntsman, R.; Bruin, M.; Holttum, D.: Light before Dawn: Naval Nursing and Medical Care during the Crimean War, J. Roy. Nav. Med. Serv. 88 (2002), S. 5–8, 24–27. 80 Meyer, J. Acerra, M.: Segelschiffe im Pulverdampf, Bielefeld 1996, S. 167–189. Bohn, R.; Lehmann, S.: Strandungen – Havarien – Kaperungen, Amsterdam 2004, S. 15. 81 Schadewaldt: Der Schiffsarzt. 82 Als Standardwerke gelten Ellen, Eric: Piracy at sea, Paris 1989 und Earle, Peter: The Pirate Wars, London 2003. 83 Kluge, Friedrich: Seemannssprache, Halle a. d. S. 1908. Vgl. auch: Goedel, Gustav: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Seemannssprache, Kiel, Leipzig o. J.; Stammler, Wolfgang: Seemanns Brauch und Glaube, in: Stammler, Wolfgang (Hg.): Deutsche Philologie im Aufriss, Berlin 1957, Sp.  1815–1880; Schmidt, Fred: Von den Bräuchen der Seeleute, Frankfurt am Main 1967; Reich, K.; Pagel, M.: Himmelsbesen über weißen Hunden, Berlin 1984; Wossidlo, R.; Bentzien, U.: Reise, Quartier, in Gottesnaam, Rostock 1988. Das

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die Wörterbücher von Jolly und Smyth die Entsprechung zu Kluge.84 Form und Funktion des Singens an Bord, mithin der Shanties als Sonderform von Arbeitsliedern, ist durch Hugill erschöpfend dargestellt.85 Für Literaturwissenschaft wie Kunstgeschichte ist die maritime Welt ein besonders umfangreiches Sujet.86

1.3.4 Forschungsliteratur zur Schifffahrtsmedizin im 20. und 21. Jahrhundert Die maritim-arbeitsmedizinische Forschung der letzten fünfzig Jahre greift die Thematik psychopathologischer Auffälligkeiten und Störungsbilder zunehmend auf. In der öffentlichen Wahrnehmung ist indessen eine Aufhebung alter Tabus und Berührungsängste nicht festzustellen. Im bedeutendsten Handbuch der nautischen Medizin erhalten die Abschnitte »Personality Disorders« und »Treatment of Mentally Ill Crew Members« nur spärlichen Raum.87 Verstreut sind alle psychiatrischen Krankheitsbilder Gegenstand aktueller UnterStandardwerk vor dem 19. Jahrhundert war freilich Röding, Johannes Hinrich: Allgemeines Wörterbuch der Marine in allen europäischen Seesprachen nebst vollständigen Erklärungen, Hamburg, Nemnich u. Leipzig 1794–1798, der alle gängigen seemännischen Begriffe parallel in neun europäischen Sprachen anführt. Eine knappe neuere Zusammenstellung liefert Gerds, Peter: Glaube, Seefahrt, Christentum, Rostock 2009. 84 Jolly, Rick: Jackspeak: A Guide to British Naval Slang and Usage, Cornwall 2000; Smyth, William Henry: Sailor’s Wordbook, London 2009. Ein Auswahl mit der in den Alltagsgebrauch übergegangenen maritimen Ausdrücke gibt: Robson, Martin: Not enough room to swing a cat, London 2008. 85 Hugill, Stan: Shanties fron the Seven Seas, London 1961. Nur wenig ergänzen können: Proctor, D.; Baker, R.: Music of the sea, Greenwich London 2005; Hinze, Werner: Seemanns Braut is’ die See, Hamburg 2004; Brozio, U.; Mittelstädt, M.: Rolling Home, Hamburg 2002. 86 Zur Literatur vgl.: Schütt, Rüdiger (Hg.): Gorch Fock, Nordhausen 2010; Stanzel, Franz: Die Funktionslität des Faktischen, Schiff und Zeit (2007), S. 16–18; Goltz, Reinhard: Von »Seefahrt ist Not« bis »Sünn in de Seils«, in: Rudolf, Wolfgang (Hg.): Maritime Volkskultur, Großbarkau 1999, S. 90–128; Broecheler, Kirsten: Seereisen in der englischsprachigen Romanliteratur vom 18. bis 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1998; Krahé, Peter: Literarische Seestücke, Hamburg 1992; S. 46–50; Adam, Frank: Herrscherin der Meere, Hamburg 1998; Berkenhagen, Ekhart: Seefahrt in der Weltliteratur, Schiff und Zeit (1989) Nr. 29, S.  17–35 und Nr.  30, S.  19–31; Ingenkamp, Karlheinz: »Nelson’s Navy« im Spiegel der Romanliteratur, Schiff und Zeit (1986); Hurtz, Theo: Joseph Conrad, Schiff und Zeit (1977), S.  59–69. Zur bildenden Kunst vgl.: Allers, Christian: Alltag in der Kaiserlichen Marine um 1890; Die Bildmappe »Unsere Marine«, hg. von Beckmann, G.; Keubke K., Berlin 1993; Rudolph, W.; Schnall, U.: Des Seemanns Bilderwelt, Hamburg 1993. Mertens, Sabine: Seesturm und Schiffbruch, Hamburg 1987; Hansen, Hans Jürgen: Deutsche Marinemalerei, Oldenburg 1977; Timm, Werner: Kapitänsbilder, Bielefeld 1971; 87 Goethe, H.; Watson, E.; Jones, D.: Handbook of Nautical Medicine, Berlin 1984.

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suchungen.88 Ein eigenes Thema ist die Isolation des Einzelnen auf dem Schiff, ein in historischer Sicht gegenüber der früheren Situation neues Phänomen, entstanden durch die stark gesunkene Mannschaftsgröße und die aus so unterschiedlichen Ethnien zusammengesetzten Crews, für die die Sprachbarriere unüberwindbar sein kann.89 Auch die traumatische Belastungsstörung im engeren Sinne wird thematisiert.90 Während unter Seeleuten und in der öffent 88 Huang Wen: Influence of the sea exercises on the soldier’s psychological and physiological function, Chin. J. Naut. Med. Hyperbaric Med. 15 (2008), S. 168–169; Laak, Ulrich von: Schiffahrtsmedizin, Schleswig-Holst. Ärztebl. (2008), S.  52–56; Hopkins, R.; Weaver, L.: Acute psychosis associated with diving, Undersea Hyperb. Med. 28 (2001), S.  145–148; Lourdes, Ladrido-Ignacio: Psychological Aspects of Seafaring, in: 6th Int. Sympos. on Maritime Health, Manila 2001, S. 179–180; Nikolic, Nebojsa: Ten Commandments for Seafarer in Tropical Country, ebd., S. 85–88; Ping, Yang: Psychological and immunological effects of long sailing on seamen, ebd., S. 159–162; Napoleone, P.; Rizzo, A.: Nervous Disorders Among Seafarers on Board Ship without a Doctor, C. I. R. M. Res. 5 (2001), S. 21–27; Gamito, A.; Weller, M.: Depression At Sea, Acta med. Portug. 4 (1991), S. 268–269; Nitka, Jerzy: Specific Character of Psychiatric Problems Among Seafarers, Bull. Inst. Mar. Trop. Med. Gdynia 41 (1990), S. 47–59; Macleod, A. D.: Calenture – missing at sea?, Brit. J. Med. Psychol. (1983), S. 347–350; Salling Larsen, Svend: Epilepsy Among Seafarers, 3rd Europ. Marit. Medical Officers’ Meeting Norway 1981, Oslo 1982; Lefevre, K.: Der Sanitätsdienst auf Schiffen mit Arzt, Wehrmed. Mon.schr. (1980), S. 40–42; Patterson, Jon: Forensic Psychiatry in the Navy, Military Medicine 145 (1980), S. 564–565; Wilkins, Walter: Psychiatric and Psychological Research in the Navy Before World War II, Military Medicine 137 (1972), S. 228–231; Gunderson, Eric: Epidemiology and Prognosis of Psychiatric Disorders in the Naval Service, Curr. Top. Clin. Commun. Psychol. 3 (1971), S. 179–209; Daniel, K.: Über 8 Fälle von schweren situativ bedingten Depressionszuständen auf hoher See, Erfahrungsheilkunde 18 (1969), S. 2–3; Goethe, Hartmut: Klimabelastung in der Tropenfahrt, 1963; World ­Health Organization, Health and Welfare of Seafarers Copenhagen 1959. Auch die Beschreibungen des Mediziners Hannes Lindemann von seinen Alleinüberquerungen des Atlantiks in winzigen Booten stellen mit seinen Beschreibungen von Angst und Wahrnehmungsstörungen in der Folge von Reizdeprivation Studien hierüber dar. Vgl.: Lindemann, Hannes: Allein über den Atlantik, Frankfurt am Main 1965. 89 Keller, Volker: Pastor auf hoher See, Deutsche Seeschifffahrt (2010), S. 72–75; Gerstenberger: Umbruch, S. 77–82; Zorn, Ernst: Das Problem der psychischen Eignung für den Seefahrtsberuf, Kehrwieder 21 (1977), S. 9–10; ders.: Zur mentalhygienischen Problematik bei Seeleuten, Arb.med. Soz.med. Präv.med. 15 (1980), S. 166–168; Forschungsstelle FH Flensburg: Flensburger Studie Vol. 6: Sozialpsychologische Untersuchungen an Bord deutscher Seeschiffe, Flensburg 1974; Thielicke, Helmut: Mensch und Schiff, in: Schiffahrtsmed. Institut der Marine: Mensch und Schiff, Kiel 1972, S. 7–14. Neben den überwiegend empirischen und beschreibenden Arbeiten ist der Theorieansatz der »totalen Institution« nach Goffman nicht zu vergessen, der in Grenzen auf das Schiff angewendet werden kann und von Lisch auch angewendet wird. Vgl.: Goffman, Erving: Asyle, Frankfurt am Main 1972; Lisch, Ralf: Totale Institution Schiff, Berlin 1976. 90 Oldenburg, M.; Jensen, H.-J.; Baur, X.: Seafaring stressors aboard merchant and passenger ships, Internat. J. Publ. Health 54 (2009), S.  96–105; Oldenburg, M.; Wegner, R.; Schlaich, C.; Ruppert, A.; Hillmer, D.; Baur, X.: Burnout-Syndrom unter Seeleuten, in: Kraus, T.; Gube, M. Kohl R.: Dok. 49. Wiss. Jahrestagung, Lübeck 2009, S. 286–289; Kowalski, Jens: Psychische Störungen in der Schiffahrtsmedizin unter besonderer Berücksichtigung von

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lichen Wahrnehmung die Suizidalität nach wie vor ambivalent behandelt wird, ist sie für die Arbeitsmedizin und Arbeitspsychologie Gegenstand epidemiologischer, therapeutischer und präventiver Fragestellungen.91 Zuverlässige Zahlen zur Häufigkeit psychischer Störungen haben wir seit Einsatz testpsychologischer Screeningmethoden in den Jahren des Ersten Weltkrieges, die bis heute sowohl vor Aufnahme in den Dienst als auch während der Grundausbildung genutzt werden.92 Die Suchtproblematik hat sich ausgeweitet und stellt ein ungelöstes Problem dar.93 Trauma­folgestörungen, Arbeitsmed. Sozialmed. Umweltmed. 43 (2008), S. 200; Smith, Andrew: Seafarer’s Fatigue, in: Equity in Maritime Health and Safety, Esbjerg 2007, Keynote 1–1; Wood, Dennis: Treatment of Psychiatric Disorders Onboard an Aircraft Carrier Assisted with Psychotropic Medication, Mil. Med. 171 (2006), S. 316–320; Hansen, Dierk-Peter: Erfahrungen der Marine im Umgang mit traumatischen Belastungsstörungen, in: Dt. Ges. f. Maritime Medizin 2003, S. 32–41; Jensen, Hans-Joachim: Umgang mit traumatischen Belastungsstörungen in der Seeschifffahrt, in: Dt. Ges. f. Maritime Medizin 2003, S. 42–46; Sampson, H.; Thomas, M.: Lonely Lives? Social Isolation and Seafarers, in: 6th Int. Sympos. on Maritime Health, Manila 2001, S. 194–206; Agterberg, G.; Passchier, J.: Stress among Seamen, Psychol. Rep. 83 (1998), S. 708–710; Katsarov, D. P.: Aspects of Neurotic Depression in Sailors under Conditions of High Seas Navigation, Man and Vessel of the Year 2000, Riga 1986, S. 352–353; Leksowski, Wieslaw: Emotional Disorders of Sailors in Stress Situations During Long Yachting Voyages, Bull. Inst. Mar. Trop. Med. Gdynia 36 (1985), S. 37–42; Goethe, Hart­ oerke, mut: Die Änderung der Besatzungsstruktur der Seeschiffe im Wandel der Zeit, in: G Schadewaldt: Geschichte der Schiffahrtsmedizin, S. 45–62; ders.: Die psycho-physische Belastung des Personals moderner Seeschiffe als aktuelles Problem der Schiffahrtsmedizin, Zbl. Bakt. Hyg. (1978), S. 1–36; Dolmierski, R.; Palubicki, J.; Nitka, J.: Emotional Balance in Seamen, Bull. Inst. Mar. Trop. Med. Gdynia 32 (1981), S. 17–24. 91 Roberts, S.; Jaremin, B.; Chalasani, P.; Rodgers, S.: Suicides among seafarers in UK merchant shipping, 1919–2005, Occup. Med. 60 (2010), S.  54–61; Szymanska, K.: Suicides Among Polish Seamen and Fishermen During Work at Sea, Internat. Marit. Health 57 (2006), S. 36–45; Low, Anthony: Seafarers and Passengers who Disappear without  a Trace aboard Ships, Internat. Marit. Health 57 (2006), S. 219–229; Stander, Valerie: Surveillance of Completed Suicide in the Department of the Navy, Mil. Med. 169 (2004), S. 301–306; Hourani, Laurel: A Demographic Analysis of Suicide among US Navy Personnel, Suicide Life Threat. Behav. 29 (1999), S. 365–375; McDaniel, W.; Grigg J.; Rock M.: Suicide Prevention at a US Navy Training Command, Mil. Med. 155 (1990), S. 173–175; Dennett, Douglas: Suicide in the Naval Service, Nav. Med. 79 (1988), S. 21–23; ders.: Suicide in the Naval Service, Nav. Med. 79 (1988), S. 24–28; Copeland, Arthur: Suicide by Drowning, Amer. J. Forens. Med. Path. (1987), S. 18–22. 92 Ritchie, Elspeth: US Military Enlisted Accession Mental Health Screening: History and Current Practice, Mil. Med. 172 (2007), S. 31–35. 93 Fort, E.; Massardier-Pilonchéry, A.; Bergeret, A.: Psychoactive substances consumption in French fishermen and merchant seamen, Internat. Arch. Occup. Environ. Health 83 (2010), S. 497–509; dies.: Alcohol and nicotine dependence in French seafarers, Internat. Marit. Health 60 (2009), S. 18–28; Henderson, A.; Langston, V.; Greenberg, N.: Alcohol misuse in the Royal Navy, Occup. Med. 59 (2009), S. 25–31; Lande, Gr.; Marin, B.; Chang, A.; Lande, Gal.: Survey of Alcohol Use in the U. S. Army, J. Addictive Dis. 27 (2008), S. 115–121; Ritz-Timme, S.: What shall we do with the drunken sailor?, Forensic science international 156 (2006), S. 16–22; Neue Alkoholbestimmungen, Schiff und Hafen 57 (2005), S. 67; Burgos

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Weitere arbeitsmedizinische Aspekte sind der Einfluss der Wachsysteme an Bord mit der besonderen zeitlichen Beanspruchung durch häufig unterbrochenen Schlaf sowie der Einfluss von Lärm und Hitze.94 Die seit jeher bekannte Seekrankheit ist uns immer noch ein Rätsel. Auch wenn neueste Forschungen sichere Hinweise auf die wesentliche Bedeutung des Histaminstoffwechsels liefern, ist dies noch keine befriedigende Antwort auf die vielen offenen Fragen.95 Ebenso ist die physiologische und psychische Situation Schiffbrüchiger lebendiger Forschungsgegenstand.96 Drei Arbeiten sind bezüglich psychopathologischer Phänomene durch ihre empirische Gründlichkeit hervorzuheben.97 Sie greifen auf Seeleute zurück, die Ojeda, A.: Alcohol consumption in Spanish seafarers, a research study during last 25 years, Med. Maritima 2 (2002), S. 340; Jaremin, B.; Kotulak, E.: Death at Sea among Polish Boat and Cutter Fishermen Sea Catastrophes and Alcohol Abuse as a Specific Cause of Drowning, in: 6th Int. Sympos. on Maritime Health, Manila 2001, S. 55; Galant, A.: Les Marins et L’Alcool, Jeune Marine 55 (1999), S. 25; Dolmierski, Roman: Selected medical-sociological factors and alcohol drinking in seamen, in: Dt. Ges. Wehrmed. Wehrpharm.: Int. Symposium on Naval Medicine, Kiel 1990, S. 63; Micklewright, S.: The management of alcohol abuse in the Royal Navy, J. Roy. Nav. Med. Serv. 79 (1993), S.  29–32; Pereira, Carlos: Alcoholism among Sea­ farers. Why he drinks always but only sometimes gets drunk?, Vigo 1988, S. 506–508; Wodarg, Wolfgang: Psychische Krankheiten der Seeleute, Rehburg-Loccum 1979; Dolmierski, R.; Walden-Galuszko, K. J. de: Some Aspects of Alcoholism Among Employees of the Polish Merchant Marine, Bull. Inst. Mar. Trop. Med. Gdynia 25 (1973), S. 37–42. 94 Gottschalch, H.; Repp, B.: Zur Arbeit von Seeleuten: Ihre Motive und Haltungen im Spiegel eines Persönlichkeitsinventars., Bremen 1988; Henningsen, Henning: Wachsysteme an Bord von Seeschiffen, Schiff und Zeit (1986), S. 21–31; Hermann, Rolf: Trinkwasser­ versorgung auf Handelsschiffen, in: Mensch und Schiff, Kiel 1972, S.  89–94; Hildebrandt, Gunther: Physiologische Zeitordnung und Ruhe, in: ebd., S.  23–34; Kleemann, Arnfried: Trinkwasserversorgung auf Schiffen der Bundesmarine, in: ebd., S.  95–97; Klosterkötter, Werner: Physiologische und pathophysiologische Wirkungen des Lärms, in: ebd., S. ­45–56; Mann, Helmut: Biorythmik und Wachdienst, in: ebd., S. 35–44; Schwarz, Harald-Günther: Toxikologische Probleme an Bord, in: ebd., S.  71–76; Spreter von Kreudenstein, Konrad: Akustische Informationsdarstellung, in: ebd., S. 115–118; Witzleb, Erich: Einfluss von Temperatur und Feuchtigkeit auf die Leistungsfähigkeit, in: ebd., S. 57–66. 95 Gahlinger, Paul: Motion Sickness, Postgraduate Medicin 106 (1999), S.  177–184;­ Goethe, Hartmut: Der Einfluss von Kinetosen auf die Leistungsfähigkeit, in: Schiffahrtsmed. Inst. Kiel 1972, S. 67–69. 96 Bierens, J.; Knape, J.; Gelissen, H.: Drowning, Curr. Opinion Critical Care 8 (2002), S.  578–586; Moon, R.; Long, R.: Drowning and near-drowning, Emergency Medicine 14 (2002), S. 377–386; Henningsen, Henning: Das nasse Grab des Seemannes, Bl. Dtsch. Seemannsmiss. (1988), S. 26–30; Haga, Eivind: The wet grave, sudden death and the bereaved, Nord. psykiatr. Tskr. 39 (1985), S.  23–28; Lehmann, E.: Die psychologische Situation des Schiffbrüchigen, in: DGzRS: Unterkühlung im Seenotfall, Köln 1983, S. 34–39; Schadewaldt: Der Schiffsarzt; Thaner, Rudolf: Physiologie und Pathophysiologie der Auskühlung im Wasser, ebd., S. 25–43. 97 Otterland, Anders: A Sociomedical Study of the Mortality in Merchant Seafarers, Acta med. Scand. (1960); Weibust, Knut: Deep Sea Sailors, Stockholm 1969; ders.: The Crew as a Social System, Oslo 1958.

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Einleitung

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als Deep Sea Sailors, als Hochseematrosen, unter Bedingungen unterwegs waren, die denen um die Mitte des 19. Jahrhunderts in entscheidenden Punkten nahe kommen. Sehr wenig ist zum Thema Sexualität an Bord publiziert. Mit der gemischtgeschlechtlichen Besetzung von Schiffen wird sich diesbezüglich eine neue Dynamik entwickeln und ein hoher Forschungsbedarf entstehen.

1.3.5 Ergebnis Zusammenfassend ist festzustellen, dass weder die medizingeschichtliche noch die sozialgeschichtliche Forschung der Frage nach der psychischen Befindlichkeit an Bord gezielt nachgegangen ist. In Arbeiten zur Medizingeschichte an Bord von Schiffen tauchen zwar in summarischen Darstellungen und insbesondere in Medikamentenlisten psychiatrische Diagnosen auf, deren spezifischer Eigenart wird jedoch mit Ausnahme der Alkoholproblematik nicht nachgegangen. In den letzten Jahrzehnten erschienen sozialgeschichtliche Arbeiten, die insbesondere in der Darstellung der Lebenswelt der einfachen Seeleute »vor dem Mast« (on the lower deck) viele zwischenmenschliche Aspekte nennen, sie aber nicht hinsichtlich ihrer psychologischen Relevanz bewerten. Dies gilt auch noch für die soziologische Forschung, die Mitte des 20. Jahrhunderts die Schiffscrew als soziales System entdeckt. Erst die Arbeitsmedizin, die als Spezial­ disziplin im Laufe des 20. Jahrhunderts entsteht, wendet sich den besonderen Bedingungen an Bord für das psychische Befinden zu und untersucht die ganze Breite psychischer Störungsbilder, die auf Schiffen teils in gleicher Weise wie an Land, teils in veränderter Ausprägung zu beobachten sind. In diesen Publikationen wird jedoch kein oder nur ein sehr andeutungsweiser Blick in die Vergangenheit geworfen. So konnte sich die unhinterfragte Vorstellung erhalten, es hätte in früheren Zeiten an Bord keine nennenswerte psychische Problematik gegeben. Arbeiten zur alltäglichen psychischen Befindlichkeit und zur Phänomenologie, Häufigkeit und Behandlung psychiatrischer Erkrankungen an Bord sind ein Desiderat, und auch das Fehlen solcher spezifischer Forschung ist erstaun­ licherweise bislang nicht thematisiert.

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2. Entstehung und Entwicklung der psychiatrischen Wissenschaft und Praxis im 18. und 19. Jahrhundert

Beschreibung und Diagnostik psychischer Störungen (wie auch der gesunden psychischen Verfassung) bedienen sich zeitabhängiger Begrifflichkeiten. Die Psychiatrie als medizinische Disziplin stellte im Laufe des ausgehenden 18. und während des ganzen 19.  Jahrhunderts solche Begriffe zur Verfügung. Dabei war, was wir heute gemeinhin »Psychiatrie« nennen, erst in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts entstanden und hatte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach und nach zu einer eigenständigen, vollkommen ausgebildeten fachlichen Einheit innerhalb der medizinischen Wissenschaft entwickelt. Diese erste Jahrhunderthälfte war eine Phase mit herausragenden Gründerfiguren und früher Schulenbildung, einerseits mit deutlich national unterschiedlicher Entwicklung, andererseits aber mit intensiver Wechselwirkung der wissenschaftlichen Strömungen über Landesgrenzen hinweg. Unter den zahlreichen Arbeiten zur Geschichte der Psychiatrie1 findet hier insbesondere das »Comprehensive Textbook of Psychiatry« von Freedman und Kaplan Berücksichtigung, das ein von Mora verfasstes historisches Kapitel enthält.2 Dieser Autor verbindet die Darstellung einzelner Persönlichkeiten und herausragender Schulen mit einer Theoriegeschichte auf philosophischer Reflexionsebene. In dieser Hinsicht wurde sein Werk durch keine neuere Arbeit übertroffen. Die Arbeiten von Melling und Forsythe3 und Suzuki4 verknüpfen institutionsgeschichtliche und gesellschaftliche Aspekte der psychiatrischen

1 Schott, H.; Tölle, R.: Geschichte der Psychiatrie, München 2006; Shorter, Edward: A history of psychiatry, New York 1997; Finzsch, N.; Jütte, R.: Institutions of confinement, Cambridge 1996; Berrios, German: The history of mental symptoms: descriptive psychopathology since the nineteenth century, Cambridge 1996; Jetter, Dieter: Geschichte der Medizin, Stuttgart 1992; Murray, R.; Turner, T.: Lectures on the History of Psychiatry, London 1990; Ackerknecht, Erwin: Kurze Geschichte der Psychiatrie, Stuttgart 1967; Alexander, F.; Shorter, E.: The history of psychiatry, New York 1966; Leibbrand, W.; Wettley, A.: Der Wahnsinn, Freiburg i. B. 1961. 2 Mora, George: Historical and Theoretical Trends in Psychiatry, in: Freedman, A. Kaplan H.: Comprehensive Textbook of Psychiatry, Baltimore 1978, S. 4–98. 3 Melling, J.; Forsythe, B.: The politics of madness, London 2006; ders.: Insanity, institutions, and society, 1800–1914, London 1999. 4 Suzuki, Akihito: Madness at home, Berkeley 2006.

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Die Anfänge

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Versorgung im 19.  Jahrhundert, Mahone und Vaughan5 sprechen von einem »Export« britischer psychiatrischer Wissenschaft in die verschiedenen Teile des Empire, der allerdings eher erst Ende des 19. Jahrhunderts in Gang kam. Ein Überblick über die Entwicklung von Diagnostik und Therapie der Epilepsie wird am Schluss des Fallabschnittes »Epilepsien« gegeben.

2.1 Die Anfänge Man kann die Entstehung von zwar verschiedenen, untereinander aber ähnlichen neuen Anschauungen an mehreren Orten als Ausdruck eines Zeitgeistes ansehen. Er ermöglicht neue Denk- und Handlungsweisen. Bis zur frühen Neuzeit waren die psychisch Kranken im Allgemeinen in der Obhut der sozialen Gemeinschaft, aus der sie stammten. Nach einer Phase des tiefgreifenden Umbruches im 16.  Jahrhundert, als sich Aberglaube einerseits und erste wissenschaftliche Erklärungsansätze der Besonderheit seelischer Störung immer schroffer widersprachen, gerieten viele Betroffene, wenn sie nicht privilegiert waren, in die »Zucht- Werk- und Armenhäuser« der absolutistischen Gesellschaftsordnung des 17. Jahrhunderts.6 Im übrigen lag die Versorgung psychisch Kranker, sofern sie nicht im rein familiären Bereich gewährleistet war, in den meisten Landstrichen bei der Kirche. Einige Städte und Stadtstaaten, wie etwa die Hansestadt Lübeck, schufen aber auch auf rein privater, später auf kommunaler Ebene eine gut funktionierende psychiatrische Versorgung.7 Autoren wie Foucault8 und Dörner9 sehen die Ausdifferenzierung psychologischen Verständnisses, die psychiatrische Diagnostik, ja die ganze psychiatrische Disziplin in einer funktionalen Beziehung zur Gesellschaft um 1800, einer Gesellschaft der beginnenden Industrialisierung, Verstädterung und Instrumentalisierung. Der Einzelne sollte »eingeordnet« werden, abweichendes Verhalten sollte nicht mehr nur durch Einsperren und damit Ausschließen beantwortet werden, sondern sollte sich in einer inneren Differenzierung aufheben. Der Anfang der Psychiatrie als eigenständiges Fach ist in den geistes-und naturwissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen und Strömungen des 18. Jahrhunderts eingebettet. Zunächst ist er mit der Idee der Aufklärung 5 Mahone, S.; Vaughan, M.: Psychiatry and empire, Basingstoke, Hampshire 2007. 6 Vergleiche: Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1978; Dörner, K.; Plog, U.: Irren ist menschlich, Rehburg-Loccum 1975. 7 Vgl.: Thomsen, H.; Dilling, H.: Die Unsinnigen und ihr Haus in Lübeck 1601–1828, Lübeck 2008; dies.: Zum Wandel der Versorgung psychisch Kranker vom 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Fortschr Neurol Psychiat 76 (2008), S. 325–333; Reger, K.-H.; Dilling, H.: Geschichte der Psychiatrie in Lübeck: das 19. Jahrhundert, Lübeck 1984. 8 Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. 9 Dörner, Plog: Irren ist menschlich.

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Entstehung und Entwicklung der psychiatrischen Wissenschaft und Praxis

verbunden, deren durchgängiges Programm die »Bestimmung des Menschen« war. Der Glaube an die Vernunft und die Entwicklungsfähigkeit des Menschen ermöglichte die Abkehr von der fatalistischen Haltung, wonach der »Verlust der Vernunft«, wie psychische Erkrankung aufgefasst wurde, unheilbar sei. Daneben gab es seit dem antiken Hippokrates durchgängig eine rein physische, also körperliche Krankheitsauffassung. Angestoßen durch Georg Stahl (1660– 1734) gesellte sich zu diesem »Somatismus« nun mit dem sogenannten »Animismus« eine neue Vorstellung hinzu, derzufolge psychische Erkrankungen nicht nur organisch (»sympathisch«), sondern auch seelisch (»pathetisch«) verursacht sein konnten. So ist bereits im 18. Jahrhundert die Basis für eine nach und nach entstehende psychodynamisch wirksame (damals noch am häufigsten »moralisch« genannte) Herangehensweise zu finden, die allerdings noch lange neben drastischen körperlichen Behandlungen existierte, die als »Irritation« im somatischen Sinne gedacht waren. Methoden wie dem Drehstuhl, dem Übergießen mit Wasser und massivem Medikamenteneinsatz begegnen wir noch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die frühe Psychiatrie als Teilgebiet der Medizin stand in enger Wechselwirkung mit der Physik, der Biologie und der pharmazeutischen Chemie. War die Physik im 18.  Jahrhundert im Verständnis Kants noch eine »mathematische Naturphilosphie«, aus experimentellen und aus rationalistischen Erkenntnissen gespeist, grenzte sie sich im 19. Jahrhundert vollends von den Geisteswissenschaften und ihren Methoden ab und wurde das markanteste Beispiel positivistischer Wissenschaft überhaupt. Schon die Physik des 18.  Jahrhunderts hatte sich intensiv mit der Mechanik der »Kontinua«, womit Gase und Flüssigkeiten gemeint waren, beschäftigt. 1808 wurde die Lichtpolarisation entdeckt und 1849 eine erste terrestrische Messung der Lichtgeschwindigkeit vorgenommen. 1831 hatte Faraday die Induktionswirkung elektrischer Ströme und Magnete entdeckt und sein Modell des elektromagnetischen Feldes entwickelt. Der Blitzableiter, auch an den hier untersuchten Schiffen installiert, war dabei schon seit Ende des 18. Jahrhunderts in Gebrauch. Das Fach Biologie wurde in dieser Zeit erst geboren. Zum ersten Mal gebrauchte den Terminus »Biologie« Friedrich Burdach in seinen 1800 publizierten Vorlesungen, und das sich rasch etablierende Fach fand 1838 Aufnahme in Auguste Comtes »System positiver Philosophie« und damit in den Kanon positivistischer Wissenschaften. Auch die Chemie entwickelte ein immer exakteres Wissens- und Lehrgebäude. Lange zurück lag die Entdeckung des Äthers als »süßer Vitriol« und des Kalomels als harntreibende Substanz sowie die Wirkung der Chinarinde bei Fieber. 1747 hatte Lind experimentell gezeigt, dass Skorbut durch Zitronensaft geheilt und vermieden werden konnte, 1772 entdeckte Priestley das Stickoxid, 1785 beschrieb ­Withering die Digitaliswirkung am Herzmuskel. Weitere Meilensteine der pharmazeutischen Chemie jener Jahre waren 1804 die Reindarstellung von Morphin, 1819 die des Chinins und 1831 die Herstellung von Chloroform, das

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Die Anfänge

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ebenso wie der Äther und das Stickoxid in den 1840er Jahren erstmals für Narkosen angewendet wurde. Denkmöglich war dies alles nur zusammen mit dem paradigmatischen Umschlag vom funktional-teleologischen (nach dem Zweck als Grund fragenden), aristotelischen hin zum kausal-mechanischen (»zweckfreien«) Erklärungsansatz. Die Maschine als zentrales Denkmodell für alles Lebendige brachte enorme Fortschritte, ließ aber gleichzeitig das Problem der Erklärung von Bewusstsein immer deutlicher als ein ungelöstes hervortreten.10 Diese offene Frage griff die junge Disziplin Psychiatrie auf. Sie war dabei eingebettet in die politisch-kulturellen Veränderungen der Übergangszeit vom 18. zum 19. Jahrhundert. Als Stichworte seien die Revolution von 1789 in Frankreich, der aufklärerische Impetus der Regierungszeit Peter Leopolds in Italien, die pädagogisch-religiös agierenden Quäkergemeinden in England, die stark polarisierend wirkende deutsche Kleinstaaterei und die Unabhängigkeitsbewegung der englischen Kolonien in der »Neuen Welt« Nordamerikas genannt. Für die erste, eigenständig psychiatrische Literatur des 18.  Jahrhunderts kann beispielhaft das von William Battie (1704–1776) 1758 herausgegebene Lehrbuch »A Treatise on Madness« stehen.11 Zwar basiert es zweifellos auf seinen Erfahrungen im Umgang mit Patienten des »Bethlem-Hospital« in London, geprägt ist es aber vom Versuch, die beobachteten psychischen Störungen in das »Prokrustesbett eines der im 18. Jahrhundert so beliebten ›Systeme‹ zu pressen«.12 Battie beschreibt eine Behandlungsweise, die ein gutes halbes Jahrhundert später »moral treatment« genannt werden wird. In der Anstalt, ferngehalten von seiner gewohnten Umgebung, sollte der Patient »umerzogen« werden ­(»reeducated«). »Freundlichkeit, Festigkeit und Zwang« sollte die Haltung des Arztes zum Ausdruck bringen. In demselben Sinne brachte wenig später Francis Willis (1717–1807) die »psychische Einflussnahme« auf den Nenner einer »heilsamen Furchterregung«. Nicht erst Philippe Pinel befreite ab 1793 in Paris die psychisch Kranken in den beiden großen Pariser Krankenhäusern, dem Bicêtre und der ­Salpétrière, schrittweise von den gefängnisartigen Bedingungen ihrer Unterbringung. Auch in Florenz hatten sich ökonomische und soziale Reformprozesse das ganze 18.  Jahrhundert hindurch so weit entwickelt, dass neben anderen modernen Projekten in der Regierungszeit Peter Leopolds im Jahre 1788 das »Ospedale di Bonifacio« eröffnet werden konnte. Erster Leiter war der Arzt Vincenzo Chiarugi (1759–1820). Seine Vorgabe war als »oberste moralische Pflicht und ärztliche Aufgabe, den Geisteskranken als Person zu respektieren.« In seinem

10 Wolters, Gereon: Biologie, in: Mittelstraß, Jürgen (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart 2004, S. 315–318. 11 Battie, William: A treatise on madness, London 1758. 12 Ackerknecht: Kurze Geschichte der Psychiatrie, S. 40.

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Entstehung und Entwicklung der psychiatrischen Wissenschaft und Praxis

Hauptwerk »Della Pazzia in Genere e in Specie« von 1793 und 179413 nimmt er eine Einteilung der Erkrankungen vor, der wir zu jener Zeit immer wieder begegnen. Sie ist Ergebnis seiner psychopathologischen Beobachtungen und der Sektionen verstorbener Patienten mit besonders genauer Untersuchung des Gehirnes. Er unterteilt in: »Melancolia« als einer »partiellen Verrücktheit«, »Mania« als »generelle Verrücktheit« und »Amentia« als die »Störung des Verstandes und des Willens«. Er schlägt viele praktische Herangehensweisen und Umgangsformen gegenüber den Betroffenen vor, die als neue, deutlich verständnisvollere und einfühlsamere Haltung beschrieben werden können.

2.2 Die Situation in Frankreich Philippe Pinel (1745–1826) hatte schon fünf Jahre Erfahrung in dem Pariser Krankenhaus »Maison Belhomme« gesammelt, als er 1793 die Leitung des Hospitals für psychisch kranke Männer, das »Bicêtre«, und kurz darauf des entsprechenden Hospitals für Frauen, die »Salpétrière«, übernahm. Seine Anordnung, keine Ketten zur Bewegungseinschränkung der Patienten mehr zu verwenden, war im Zusammenhang mit den Umwälzungen der französischen Revolution möglich geworden. In der damaligen Öffentlichkeit und von der Nachwelt wurde dieser Entschluss als seine persönlich mutige Tat rezipiert und so in Texten und immer wieder auch in bildlichen Darstellungen weitergegeben.14 Unbestritten ist es sein Verdienst, die Möglichkeit einer neuen Entscheidungsfreiheit genutzt zu haben. Pinel war durch seine innere Haltung gut auf diesen Schitt vorbereitet. Er gehörte der vitalistischen Schule von Montpellier an, die im Sinne des deutschen Arztes Johann Christian Reil (1759–1813)15 das Gehirn als Sitz des »Seelenorgans« postulierte, ausgestattet mit einer spezifischen »Lebenskraft«, die der Schule des Vitalismus ihren Namen gab. Und Pinel war in Paris Mitglied der »Ideologisten-Gruppe« (neben Cabanis, d’Holbach und 13 Chiarugi, Vincenzo: Vincenzo Chiarugi’s der Arzneikunde Doctors und Prof. am Bonifacius Hospital in Florenz, Mitgliedes verschiedener Academieen Abhandlung über den Wahnsinn überhaupt und insbesondere, nebst einer Centurie von Beobachtungen. Eine freie und mit einigen Anmerkungen versehene Uebersetzung aus dem Italienischen, Leipzig 1795. 14 Thomsen, Dilling: Die Unsinnigen, S. 249 weisen auf die Möglichkeit einer reinen Legendenbildung dieser »Befreiung von den Ketten« hin, aber auch auf die Tatsache, dass im »Hôtel de Dieu« in Paris wie auch in kleineren, »Petites Maisons« genannten Einrichtungen bereits vor dem in die Geschichtsbücher eingegangenen Jahr 1793 Behandlungen akut psychotisch kranker Patienten mit einem Minimum an Zwangsmaßnahmen und damit ohne Ketten und Fesseln durchgeführt wurden. Und sie stellen klar, dass bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts andere Freiheitsbeschränkungen, allen voran die Zwangsjacke, eingesetzt wurden. 15 Sein einflussreiches Hauptwerk war: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, Halle 1803.

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Die Situation im deutschen Sprachraum

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Helvetius), deren Ideologiekritik auf eine Analyse der gesellschaftlichen Machtverhältnisse zielte. Sein Hauptwerk »Traité Medico-Philosophique Sur L’aliénation Mentale, Ou La Manie«16 enthielt eine Aufteilung der psychischen Störungen in fünf Formen. Er unterschied die »manie« in solche mit und ohne »delir«, womit Störungen des Denkablaufes gemeint waren. Unter dem Oberbegriff »aliénation« verstand er Störungen der Selbstkontrolle. Daraus leitete sich für ihn die Notwendigkeit einer »moralischen«, wir würden heute sagen einer psychologischen Zugangsweise zu den psychisch Erkrankten ab. Es ging darum zu helfen, Leidenschaften und Gefühle (»passions«) in ein Gleichgewicht zu bringen. Pinels wichtigster Schüler war Jean Etienne Esquirol (1772–1840). Er führte das Werk seines Lehrers fort und verfeinerte vor allem die Diagnostik. Sein umfangreiches Lehrbuch »Des maladies mentales«17 übte als vielfach übersetztes Standardwerk insbesondere auf der britischen Insel großen Einfluss aus. Dies betrifft auch die gesundheitspolitischen Gedanken Esqirols, die er in seinen vielen öffentlichen Ämtern produktiv zu nutzen wusste. Weitere bedeutende französische Psychiater waren etwa Antoine Laurent Bayle (1799–1858) und Louis-Florentin Calmeil (1798–1895), die Hirnabbauvorgänge als Spätfolge von Syphiliserkrankungen beschrieben, und Jean Pierre Falret (1794–1870), der den zyklischen Verlauf der Stimmungsstörungen beschrieb. Édouard Séguin (1812–1880) war mit einem Lehrbuch18, das sich besonders der geistigen Behinderung widmete, einflussreich.

2.3 Die Situation im deutschen Sprachraum Johann Christian Heinroth (1773–1843) bekleidete an der Universität Leipzig den ersten Lehrstuhl für Psychiatrie im deutschsprachigen Raum und veröffentlichte 1818 ein wirkmächtiges »Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihrer Behandlung«19. Mit ihm und seiner »moralischen«, nun schon explizit psychologischen Auffassung tritt die Kontroverse zwischen »Psychikern« und »Somatikern« auf den Plan. Die Psychiker sahen den Anfang psychiatrischer Krankheit in einer Störung des Vernunftgebrauches, die zu einer seelischen Störung und in der Folge zu körperlichen Symptomen führt. Dem gegenüber sahen die Somatiker im Beginn der Krankheit eine im Leiblichen, im Soma wirksame Störung, der die Psyche 16 Pinel, Philippe: Traité Médico-Philosophique Sur L’Aliénation Mentale Ou La Manie, Paris 1800. 17 Esquirol, Jean Etienne Dominique: Des maladies mentales, Paris 1838. 18 Séguin, Édouard: Traitement moral, hygiène et éducation des idiots, Paris 1846. 19 Heinroth, F. C. A.: Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihrer Behandlung, Leipzig 1818.

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Entstehung und Entwicklung der psychiatrischen Wissenschaft und Praxis

folgen musste. Dabei wurde von »somatischen« Störungen stark spekulativen Inhalts ausgegangen, keineswegs nur von »organischen«, unserem heutigen Begriff von neurologischen Störungen entsprechend. Es sahen durchaus beide Richtungen eine enge Verknüpfung von Leib und Seele, und beide Lager gingen ganz unzweifelhaft von einer unsterblichen Seele aus.20 Für die Psychiker steht der bereits genannte Heinroth, der von der »Sünde« als Kern psychischer Störung ausging, neben Karl Ideler (1795–1860) (»gewucherte Leidenschaften«), Johann Christian Reil (1759–1813), der mit seiner »psychischen Curmethode« bekannt wurde, Friedrich Eduard Beneke ­(1798–1854) und Ernst von Feuchtersleben (1806–1849). Für die Somatiker sind Maximilian Jacobi (1775–1858) (»mit Irresein verbundene Krankheiten«), Friedrich Nasse (1778–1851) und Johann Baptist Friedreich (1796–1862) (»Psychopathie ist Folge des Temperaments«) zu nennen. Die Entwicklung einer eigenständigen psychiatrischen Wissenschaft war im deutschen Sprachraum gegenüber Frankreich und England, vielleicht durch den Wissenschaftsstreit »Psychiker versus Somatiker« bedingt, verzögert. Einen entschiedenen Schritt über diesen Meinungsstreit hinaus tat Wilhelm Griesinger (1817–1869) mit seiner positivistisch-naturwissenschaftlichen Ausrichtung. Sein Lehrbuch »Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten« erlangte in mehreren Auflagen zwischen 1845 und 1871 größte Bedeutung.21 Psychische Krankheiten wurden darin als Funktionsstörungen des Gehirns aufgefasst, was oft verkürzt und missverständlich rezipiert wurde. Verursacht werden können psychische Krankheiten von allen nur denkbaren externen, nämlich für das Organ »Gehirn« externen, Einflüssen. Damit sind auch psychische Einflüsse als mögliche Störquellen für das Funktionsgleichgewicht ausgemacht. Ihnen galt ebenfalls das große Interesse Griesingers, allerdings glaubte er für jede Art psychischer Störung eine spezifische Auffälligkeit des Gehirns finden zu können. Auf zwei Ansätze aus dem deutschen Sprachraum, die spekulativen Lehren der »Phrenologie« und des »Mesmerismus«, verknüpft mit den Namen Gall und Mesmer, sei gesondert hingewiesen. Franz Joseph Gall (1758–1828) war überzeugt, in den äußeren Schichten des Gehirns das lange gesuchte »Seelenorgan« finden zu können. Seinen Vorstellungen nach besaß dieses Organ unterscheidbare Teile, denen definierte psychische Funktionen und charakterliche Eigenschaften entsprachen. Wenn diese Teile die Hirnrinde prägten, dann musste sich in der Form der Schädelknochen, an den sich die Hirnrinde anschmiegt, die Form dieses Seelenorganes ablesen lassen. Damit ließe sich durch Vermes 20 Schott, Tölle: Geschichte der Psychiatrie. 21 Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, Stuttgart 1845; ders.: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, Braunschweig 1871.

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Die Situation im deutschen Sprachraum

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sung des Schädels, »Cranioskopie« genannt, eine Vermessung des Menschen hinsichtlich seiner Charaktereigenschaften und seines Wesens vornehmen lassen. Diese Idee, einmal streng lokalisatorisch, also psychische Funktionen einer bestimmten somatischen Struktur zuordnend, einmal den psychischen Bereich uferlos ausweitend, fand viele Anhänger und fesselte Fachleute wie Laien. Sie tat dies ähnlich stark wie die vorausgegangene Physiognomie-Lehre Johann Kaspar Lavaters (1741–1801). Und sie wurde, nachdem sie zunächst gründlich verworfen worden war, in der biologischen Anthropologie des späten 19. Jahrhunderts erneut aufgegriffen und schließlich für Vorstellungen der Rassenbiologie und Rassenideologie des folgenden Jahrhunderts benutzt. Galls populäre Lehre hatte einigen Einfluss auf die Entwicklung der Psychiatrie in den Vereinigten Staaten von Amerika. Der wichtigste Vermittler dorthin war Galls Schüler Johann Casper Spurzheim (1776–1832). Auch nach England gab es mit Beginn der 1830er Jahre eine starke Vermittlerpersönlichkeit in dem Schotten Andrew Combe (1797–1847). Ob bei nüchterner Betrachtung die Gallsche Phrenologie als wegweisender Vorläufer späterer Hirnphysiologie und Hirnanatomie angesehen werden kann, wie Schott und Tölle22 es tun, sei dahingestellt. Eine ähnliche Geschichte ist über den »Mesmerismus« zu schreiben. Verbunden ist auch er mit einem Namen, dem diese Modeerscheinung ihre Bezeichnung verdankt: Franz Anton Mesmer (1734–1815). Paracelsisches Gedankengut war es, das den jungen Mesmer in seinen ersten Schriften auf die Einflüsse der Erdplaneten schauen ließ. Volkstümlich wurde seine daraus abgeleitete Annahme, dass wir Menschen mit dem »animalischen Magnetismus« über eine Art Fluidum verfügen, welches, wenn es erst einmal befreit ist, heilende Kräfte besitzt. Neben all dem Spukhaften, das diesen Ideen eignet und das sie in Wellen bis heute interessant macht, ist auch hier ein Gedanke gleichsam auf einem Nebengleis formuliert, der, mehrfach versetzt, großen Einfluss behielt: Diese Schule fokussierte auf neurotische Störungen, im Gegensatz zu der im Ent­ stehen begriffenen psychiatrischen Wissenschaft, die sich auf die schweren psychischen Krankheitsbilder konzentrierte. Ein Schüler Mesmers, James Braid (1795–1860), prägte das Wort »Hypnose« (als Verkürzung seiner ursprünglichen Wortschöpfung »Neurohypnologie«) für das, was mit der magnetischen Behandlung erreicht wurde. Der Weg über die französische neurologische Schule von Jean Martin Charcot (1825–1893) in Paris und Hiopplyte Bernheim (1837–1919) in Nancy zu Sigmund Freud ­(1856–1939) ist Gegenstand jeder Geschichte der Psychoanalyse.

22 Schott, Tölle: Geschichte der Psychiatrie, S. 80.

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Entstehung und Entwicklung der psychiatrischen Wissenschaft und Praxis

2.4 Die Situation in Großbritannien Neben dem eingangs erwähnten Lehrbuch William Batties gilt das in der Nähe der Stadt York eröffnete »Retreat« als Grundstein einer eigenen Entwicklung in Großbritannien. Der Tod eines Mitgliedes der Quäkergemeinde in einem der für psychisch Kranke vorgesehenen »Asylums« war der Anlass für William Tuke (1732–1822), ein neues Krankenhaus, das »Retreat«, zu gründen. Die Tukes leiteten über mehrere Generationen das Haus. Als streng religiös denkende Menschen betonten sie einen nicht-medizinischen Umgang, glaubten an die gute Wirkung von moralischen Grundsätzen und hielten Abstand von allen somatischen Erklärungsansätzen psychischer Störungen. Außer warmen Bädern wurde nichts von dem damals üblichen Therapie-Kanon übernommen. Vielmehr lautete ihre Devise: »Geisteskranke soll man ebenso mit Gerechtigkeit behandeln wie Kinder«. Sie verstanden, ganz in der Tradition des William Battie, unter »moralischer Behandlung« einen »aufgeklärten, offenen Umgang mit psychisch Kranken im Glauben an die Wirkung von menschlicher Güte und Erziehung.«23 Das Hospital, das »Retreat«, war die kunstvoll organisierte, neue Familie. Ihre modellhaft ausstrahlende Einrichtung zog Besucher aus ganz Europa und den USA an. Dabei war diese »moralische Therapie« (»Moral Treatment«) eine Amalgamierung von Lockeschem Sensualismus (der Suche nach den Eindrücken auf die Seele), von Galls Phrenologie (der Suche nach der Lokalisation im Gehirn), des protestantischen Glaubens an die Erziehungs- und Verbesserungsfähigkeit des Menschen und des machtvoll auftauchenden Positivismus des 19. Jahrhunderts (mit der Überzeugung der Messbarkeit und Lenkbarkeit der natürlichen, nach und nach entmythologisierten Vorgänge). Einschränkend kann mit Mora festgehalten werden, dass dieser Behandlungsansatz noch keine psychologische Begrifflichkeit besaß, in der er sich ausreichend klar hätte ausdrücken können. In ihren unterschiedlichen Aspekten blieb er so disparat und unscharf, dass er sich nach außen über Jahrzehnte hinweg wenig verständlich machen und seine Botschaft nicht vermitteln konnte.24 Wirksam blieb diese Überzeugung dennoch und wurde es in besonderem Maße, denn sie hatte ein ideales Übungsfeld in den unabhängig gewordenen Vereinigten Staaten in Nordamerika. Auch dort war mit Benjamin Rush (1745–1813)25 ein Gemeindemitglied der Quäker mit dem neuen Konzept einflussreich. Zwischen 1817 und 1865 entstanden in Nord-

23 Dilling in: Thomsen, Dilling: Die Unsinnigen, S. 249. 24 Mora: Historical and Theoretical Trends in Psychiatry, S. 62. 25 Sein Hauptwerk ist: Rush, Benjamin: Medical Inquiries and Observations, Philadelphia 1815.

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Die Situation in Großbritannien

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amerika 62 Hospitäler für psychisch Kranke, viele von ihnen unter der Leitung eines Quäkers. Da die in der vorliegenden Arbeit verwendeten Primärquellen aus Großbritannien stammen, sei noch ein genauerer Blick auf die Entwicklungsgeschichte der Psychiatrie in Großbritannien geworfen. Außer William Tuke sind weitere wichtige Autoren von Lehrbüchern wie auch Neuerer im Bereich von Therapie und Organisation zu nennen. Bald nach Gründung der ersten Generation von psychiatrischen Abteilungen hatte eine parlamentarische Untersuchung über die Zustände in diesen Institutionen für Aufmerksamkeit gesorgt. Eines der Ergebnisse, 1816 von John Haslam (1764–1844) publiziert, war die Vorschrift, stets einen Arzt in die Behandlung der Patienten einzubeziehen. George Borrows forderte die landesweite Versorgung psychisch Kranker in kleinen Häusern, wie dem seinen, mit der Begründung, psychische Krankheiten seien durch ökonomische, politische und religiöse Faktoren bedingt, die die Konstitution der Betroffenen schädigten. Herausnahme aus der gewohnten Umgebung sei neben ärztlicher Hilfe unabdingbar. Der Aufenthalt in solchen Privatanstalten sei durch die öffentliche Hand zu bezahlen.26 Ausdrücklich auf seine Beeinflussung durch Pinel und Esquirol weist James Cowles Prichard (1786–1848) in seinem Werk von 1835 »Treatise on Insanity and other Disorders Affecting the Mind« hin.27 Er folgt den Franzosen, wenn er zwischen der »Moral Power« der Emotionen und der »Intelectual Power« der kognitiven, verstandesmäßigen Fähigkeiten unterscheidet. Wie Esquirol war auch Prichard nicht nur wissenschaftlich produktiv, sondern als langjähriges Mitglied der »Commission on Lunacy«, der Planungskommission für die Versorgung psychisch Kranker, äußerst einflussreich. Zwei Namen sind mit einer zweiten Phase der Verbesserung, man kann auch sagen der Humanisierung der Lage der betroffenen Patienten, verbunden: ­Robert Gardiner Hill (1811–1878) wies in seinem Buch »Total Abolition of Personal Restraint in the Treatment of the Insane« (1839) auf die unbefriedigende Lage der Patienten hin, sofern sie nicht in den guten und teuren Hospitälern der Mittel- und Oberschicht, sondern in »Public Institutions« untergebracht waren.28 In diesen Häusern galt es noch viele Zwangsmittel zu beseitigen, und Hill beschrieb den positiven therapeutischen Effekt, wenn man sie wegließ. Er machte sich mit seiner Kritik allerdings derart unbeliebt, dass er seinen 26 Zur Geschichte der Versorgung psychisch Kranker in Anstalten siehe Finzsch, N.; Jütte, R.: Institutions of confinement, Cambridge 1996; Jetter, Dieter: Grundzüge der Geschichte des Irrenhauses, Darmstadt 1981; ders.: Grundzüge der Krankenhausgeschichte, Darmstadt 1977; Parry-Jones: The Trade in Lunacy; Jones: Lunacy, Law, and Conscience. 27 Prichard, James Cowles: A Treatise on Insanity and other Disorders Affecting the Mind, London 1835. 28 Hill, Robert Gardiner: Total Abolition of Personal Restraint of the Insane, London 1839.

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Posten am »Public Asylum« in Lincoln ein Jahr nach Publikation seines Buches verlassen musste. Sein Schüler John Conolly (1794–1866) führte das Werk Hills mit Macht fort. Das »Nonrestraint«, die »zwangsfreie Behandlung«, gilt bis heute als unbestrittene Errungenschaft britischer Psychiatrie. Conollys Buch »The Treatment of the Insane without Mechanical Restraints« erschien 1856.29 Er liefert darin die ätiologische Theorie, wonach psychische Krankheiten cerebrale Funktionsstörungen in Abhängigkeit von physischen und sozialen Faktoren ebenso wie von Ernährungsstörungen, körperlichen Krankheiten und Erziehungsmängeln sind. Auf therapeutischer Seite wollte er an die Stelle von äußerem Zwang eine wohlstrukturierte Umgebung setzen. Zu einer solchen Umgebung gehörten auch gut ausgebildete, sich »väterlich den verrückten Kindern« zuwendende Pflegekräfte. Er führte zusätzlich zu der bereits etablierten Arbeitstherapie das Angebot sozialer Aktivitäten unter Einbeziehung der Stadtbevölkerung ein. In England kam es 1860 mit der Eröffnung eines »National Hospital for Nervous Diseases« zu einer bis heute wirksamen deutlicheren Trennung der beiden Teildisziplinen Psychiatrie und Neurologie als auf dem Kontinent. Weitere Meilensteine der britischen Forschung sind das »Manual of Psychological Medicine« (1858 von John Charles Bucknill (1817–1897) und Daniel Hack Tuke (1827–1895) herausgegeben) und das 1892 von D. H.  Tuke heraus­ gegebene »Dictionary of Psychological Medicine«. 1867 war »The Physiology and Pathology of the Mind« von Henry Maudsley (1827–1895) erschienen.30 Und nicht zu vergessen ist das 1859 publizierte Werk »The Origin of Species« von Charles Darwin (1809–1882), das den führenden Neurologen und Epileptologen Hughlings-Jackson (1835–1911) mit seiner Unterscheidung von Rückenmark, Basalganglien und Cortex und der Auffassung dieser Trennung im Sinne evolutionärer Stufen unmittelbar beeinflusste. Ein kurzer Überblick über die 29 Conolly, John: Die Behandlung der Irren ohne mechanischen Zwang, Lahr 1860.­ Conolly sieht »wohlunterscheidbare Variationen« von psychischer Krankheit. Es sind dies »Melancholia« und »Monomania or Partial Insanity«. Für diese beiden Formen findet er »die Bemerkungen von Mr. Locke und Dr. Cullen anwendbar«. (Ebd., S. 4) Er nennt beide »Moral Insanity« und beschreibt mit der »Melancholia« die Gruppe der affektiven Störungen und mit »Monomania« die Gruppe psychotischer Störungen mit inhaltlichen Denkstörungen bei weitgehend normalem formalen Denkablauf. Die »Mania or Raving Madness«, gehe dagegen nicht nur mit wahnhaften Denkinhalten, Halluzinationen und Erregtheit, sondern auch mit formalen Denkstörungen einher. Diese sind für ihn durch »Incoherence« gekennzeichnet, unter der er die Denkzerfahrenheit ebenso versteht, wie Auffälligkeiten in Verhalten, Merkfähigkeit und Antriebsstörungen bis hin zur Apathie. (Ebd., S. 4–6) John Conolly war Mitbegründer der »British Medical Association« (1833), der »Medico-Psychological Association« (1841) und Initiator des »Journal of Psychological Medicine and Mental Pathology« (1848), mithin im Wissenschaftsbetrieb ähnlich einflussreich wie Robert Gardiner Hill oder Jean Etienne Esquirol. 30 Maudsley, Henry: The Physiology and Pathology of the Mind, London 1993.

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Die Situation in Großbritannien

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Geschichte von Diagnostik und Therapie der Epilepsie folgt weiter unten bei der Auswertung des kasuistischen Kapitels zu diesem Krankheitsbild. Schlussfolgerungen Die vier hervorgehobenen Namen Chiarugi, Pinel, Heinroth und Tuke stehen im Rückblick für Positionen, die zum festen Kanon der jungen medizinischen Disziplin der Psychiatrie gehörten. Sie bildeten förmlich das Paradigma des nun wissenschaftlich verstandenen medizinischen Faches. Diese in verschiedenen Ländern entstandenen Positionen repräsentieren aber auch unterschiedliche und wesentliche Aspekte, denen wir bis heute begegnen. Vincenzo Chiarugi hatte zwar alle wichtigen Aspekte einer therapeutischen Zugangsweise zu psychischer Krankheit formuliert, dabei jedoch die Bedeutung der diagnostischen Seite gering eingeschätzt. Der psychiatrische wissenschaftliche Diskurs des 19. Jahrhunderts verlor die Region Italien (in seiner damals noch ungeeinten, politisch instabilen Form) wieder aus dem Blick. In Philipp Pinels uneingeschränkter Hoffnung auf die Wirkung der Vernunft findet sich die Aufklärungsemphase der französischen Revolution wieder. Paradoxerweise entdeckte Pinel dabei die tiefe Bedeutung von Gefühlen und Trieben, aber auch die der unterschiedlichen sozialen Bedingungen, unter denen Menschen leben. Er und noch deutlicher sein Schüler Esquirol kombinierten den »moralischen« Zugang eines »Retreat« mit der rationalen Haltung wissenschaftlich nüchterner Beobachtung. Johann Christian Heinroth als Vertreter der deutschen Psychiatrie erreichten die Wirkungen der französischen Revolution verspätet und über den Reflex der Romantik (einschließlich der romantischen Medizin) idealisiert und dadurch verstärkt. Es entbrannte ein vielleicht typisch deutscher Denkerstreit mit dialektischem Wechselspiel. Wie konkret und direkt (Ackerknecht31) oder indirekt und verwässert (Schott und Tölle32) man die Auseinandersetzung zwischen den divergenten deutschen Psychiatrieschulen aus historischer Sicht auch auffassen mag, die jahrzehntelange Diskussion unter Gelehrten wurde zu einer produktiven Kraft für die Weiterentwicklung des jungen Faches Psychiatrie. Die englische Familiendynastie der Tukes versuchte, mit ihrem religiös motivierten, moralisch engagierten Projekt äußeren Zwang aufzuheben. Ihr »Retreat near York« wird als verhaltenssteuerndes Konzept durch eine spezifisch vorgegebene »moralische« Umgebung verstanden werden müssen. Dann würde an die Stelle der äußeren eine innere Beschränkung treten. Was war das verbindende Neue an den hier aufgeführten Schulen? Allen gemeinsam war der Versuch, das Beängstigende, das Fremde der psychischen Stö 31 Ackerknecht, Kurze Geschichte der Psychiatrie. 32 Schott, Tölle: Geschichte der Psychiatrie.

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rung genauer als bisher zu beobachten. Genauere Beobachtung hieß, auf Konzepte zu verzichten, die das Fremde und den Fremden zurückzuweisen und auszugrenzen anstreben. Befremdendes auszuhalten, konnte bedeuten, an gesunden Anteilen in der Persönlichkeit des Kranken anzuknüpfen. Ein konsistenter Krankheitsbegriff mit entsprechend strukturierter Krankheitslehre ermöglichte die Idee einer Gesundung durch Ausgleich schwacher, kranker mit starken, gesunden Anteilen; wir würden heute sagen: durch Stärkung der IchFunktion. Die Zuwendung dieser ersten Psychiater zu ihren Patienten war zwar in dezidiert väterlicher, paternalistischer Art gedacht und praktiziert. Aber sie nutzte, anders als die vorangegangene Zeit der bloßen Verwahrung und Sicherung der Betroffenen, von Beginn an das heilsame Potential, das in der ArztPatient-Beziehung gesehen werden kann. Gegen Ende des 19.  Jahrhunderts entwickelten sich erneut regionale Unterschiede. In Frankreich blieb die nun fest etablierte psychiatrische Disziplin stark klinisch ausgerichtet. Im mittlerweile entstandenen Deutschen Reich entwickelte sich eine streng wissenschaftlich-akademische Ausrichtung neben den großen, durch die jeweiligen Provinzen unterhaltenen Versorgungskrankenhäusern. In England dominierte die geistesgeschichtlich in diesem Land fest verankerte empiristische Richtung. Wenn wir das 19. Jahrhundert nicht auf den freilich wichtigen Positivismus reduzieren wollen, können wir mit Mann als gemeinsame Intention all der Forscher jener Jahrzehnte die Idee der »Humanität« (»humanity«, »humaniteé«) nennen, die Idee der Menschlichkeit.33

33 Mann in: Mora, Historical and Theoretical Trends in Psychiatry, S. 63.

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3. Die Schiffsärzte

3.1 Das »Medical Department« Das Medical Department war während unseres Untersuchungszeitraumes die organisatorische Einheit für die medizinische Versorgung der Seeleute. In den drei Jahrzehnten von 1793 bis 1815 war für die ärztliche Versorgung der Marine die Sick and Hurt Board (»Kranken- und Verletzten-Behörde«) zuständig, seit 1806 verschmolzen mit der Transport Board. 1817 wurde diese Doppelbehörde gemäß einer ihrer Teilaufgaben umbenannt in Victualling Board (»Verpflegungs- oder Proviantbehörde«). In ihr gab es einen medizinischen Beauftragten, der die Krankenhäuser der Marine und generell die Gesundheit an Bord der Schiffe zu überwachen hatte und unter anderem die Versorgung mit Arznei­ mitteln und die Anstellung der Schiffsärzte organisierte. Auf dem Höhepunkt der Napoleonischen Kriege hatte die Royal Navy mit 140 000 Mann die größte Besatzungsstärke ihrer Geschichte (bis zum Ersten Weltkrieg). Aus den Kämpfen um die Vorherrschaft auf See ging das Vereinigte Königreich als Sieger hervor, allerdings erst rund zehn Jahre, nachdem eines der markantesten Ereignisse, die Schlacht vor Trafalgar von 1805, Horatio Nelson als den heute vielleicht populärsten englischen Helden kreiert hatte. Die Beschlüsse des Wiener Kongresses von 1814/1815 ordneten Europa neu. Nach dem faktischen Kriegsende 1815 wurden innerhalb weniger Jahre die Zahl der NavySchiffe und die Mannschaftsstärke drastisch reduziert. Eine viel kleinere Flotte von um die 20 000 Mann (in den 1830er Jahren) genügte fürs Erste, um Großbritannien die Weltmeere beherrschen zu lassen. Bis 1855 wuchs die Besatzungsstärke wieder auf etwa 60 000 Mann an und blieb bis in das achte Jahrzehnt in dieser Größenordnung.1 Die nach den Kriegsjahren fällige innere Neuorganisation der Marine ließ bis 1832 auf sich warten, als endlich »die Stürme der WhigReformen durch die administrative Maschine fegten« und »das 18.  Jahrhundert beendeten«.2 Nun wurden fünf neu zugeschnittene Abteilungen innerhalb der Admiralität geschaffen. Eine dieser fünf war die medizinische, das Medical Department. Deren Leiter wurde zunächst Physician of the Navy genannt, um 1841 mit dem Titel Inspector General und 1843 (durchgehend bis 1928) mit dem des Director General versehen zu werden. Zwischen 1832 und 1880 bekleideten die

1 Lloyd, Coulter: Medicine, Vol. IV, S. 11. Vgl. auch: McLean: Surgeons, S. 26–30. 2 Lloyd, Coulter, ebd., S. 2.

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Die Schiffsärzte

sen Posten Sir William Burnett (1832 bis 1854), Sir John Liddell (1854 bis 1864), Dr. Alexander Bryson (1864 bis 1869), Sir Alexander Armstrong (1869 bis 1880) und Sir John Watt Reid (bis 1888).3 Die meisten dieser Herren waren Scotsmen, ausgebildet an der berühmten Edinburger Universität, die seit jeher führende Köpfe aller medizinischen Fachgebiete hervorgebracht hat. Alle fünf waren auch erfahrene Schiffsärzte, die, auf glattem politischen Parkett, die Organisation nach ihren besonderen Neigungen und Erfahrungen gestalteten. Bei aller Freiheit, die sie sich nahmen, blieben ihre Pflichten die Aufsicht über die Gesundheitslage und den gesamten medizinischen Bedarf an Bord der Schiffe und in den Krankenhäusern, die Prüfung der Ärzte vor Eintritt in die Navy und vor jeglicher Beförderung sowie die Entscheidung über deren Pensionsansprüche bei Verwundung und Krankheit. Das Medical Department war im Somerset House am Themse-Ufer, natürlich in London, untergebracht. Es stand unter ständiger Kontrolle der Admiralität (mit dem First Lord of Admiralty an der Spitze), die in der nahen White­ hall residierte, sodass alle Post an den obersten Mediziner der Navy über die Schreibtische der Admiralität ging.4 William Burnett erkämpfte sich im Laufe seiner 22-jährigen Amtszeit eine kleine, aber leistungsfähige Abteilung mit zehn Angestellten und erreichte viele Verbesserungen. So wurden 1843 die Schiffsärzte nicht mehr nur als Decksoffiziere (Warrant Officers), sondern als den See­offizieren gleichgestellte Leutnants (Commissioned Officers) eingestuft. Die Macht in Form der Prüfungs- und Ernennungsbefugnis, auch die der Pensionsentscheidungen, entriss dieser erste Inspector General dem Royal College of­ Surgeons, das bis in die 1830er Jahre hinein mit seinen Entscheidungen die ärztliche Versorgung der Navy maßgeblich bestimmt hatte. Durch die personellen Befugnisse über die ärztliche Versorgung konnte er die gesundheitlichen Bedingungen an Bord der Schiffe gezielt und entsprechend dem sich weiter entwickelnden Kenntnisstand verbessern. So können Lloyd und Coulter feststellen, dass »mit bemerkenswerter Geschwindigkeit in die ärztliche Arbeit an Bord übernommen wurde, was immer es an medizinischen Neuerungen gab«.5 Burnett veranlasste 1840 auch die Erstellung eines ersten Statistical Report über den Gesundheitszustand der Royal Navy. 3 Auf Reid folgten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Sir James Dick (1888 bis 1998) und Sir Henry Frederick Norbury (1998 bis 1904), der uns in Form seiner Fallberichte als Staff Surgeon an Bord der Juno in den Jahren 1875 und 1876 begegnet. 4 Die Admiralität hatte einen herkulischen Auftrag. Um 1835 waren 60 Beschäftigte für rund 20 000 Seeleute zuständig. 1870 verwalteten 550 Zivilangestellte rund 55 000 Mann auf 150 Schiffen und 11 000 Beschäftigte in den heimischen Werften, ferner Proviantämter in Deptford, Gosport und Plymouth und schließlich die beiden Krankenhäuser in Haslar und Plymouth. Siehe dazu: McLean: Surgeons, S. 11–21; Wells, John: The Royal Navy, Stroud 1994, S. 19. 5 Lloyd, Coulter: Medicine, Vol. IV, S. VI.

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Das »Medical Department«

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Seit diesen Jahren wird in informellen Schreiben wie auch in den Medical Journals und Statistical Reports der Arzt an Bord durchweg als Surgeon bezeichnet, wobei es Assistant Surgeons als Eingangsstufe und Staff Surgeons als beförderte Stufe gab.6 Der Surgeon unserer Quellen hat nichts mehr mit den früheren »Barbieren« (Barber Surgeons) zu tun, sondern meint sowohl den an der Universität ausgebildeten Arzt (Physician) als auch den am College ausgebildeten Chirurgen (Surgeon). Die weiterhin verwendete Bezeichnung Physician meinte nun dezidiert die Position des aufsichtsführenden Arztes eines Flottenteiles.7 Noch lange über die oben erwähnte Anerkennung als Decksoffiziere hinaus dauerte der Kampf der Schiffsärzte, als Sanitätsoffiziere tatsächlich mit den nautischen Offizieren gleichrangig angesehen zu werden, und ebenso lange der Kampf um eine den Sanitätsoffizieren der Armee entsprechende Besoldung und Angleichung an deren Pensionierungsalter.8 Die Politik schob entsprechende Reformen immer wieder hinaus und wusste damit die bereits etablierten nautischen Seeoffiziere hinter sich, die ihre durch Familienbeziehungen abgesicherten Privilegien verteidigten. Es waren aber nicht nur die Offizierskollegen, die dies lange Zeit behinderten, sondern auch die Matrosen, die die Ärzte aus ihrem eigenen seemännischen Blickwinkel nicht uneingeschränkt als Vorgesetzte wahrnahmen. Es war zwar schon Jahrzehnte her, aber noch nicht vergessen, dass bei den großen Meutereien von Spithead und Nore 1797 die Medical Officers an Bord gelassen und nicht mit den anderen Offizieren an Land geschafft wurden. Es lässt sich als Beleg für eine gewisse Nähe und Verbundenheit der Mannschaft mit ihren Doctors lesen und gleichzeitig als Ausdruck von Respekt 6 Von den 70 ausgewerteten Medical Journals waren 15 von Assistant Surgeons, 42 von Surgeons und zwölf von Staff Surgeons geführt worden. 14 der Surgeons und einer der Staff Surgeons waren promovierte Ärzte. In einem Fall ist weder Name noch Rang bekannt. 7 In den Marinehospitälern war die Kontroverse um die Bezeichnung der Mediziner noch hartnäckiger, da es tatsächlich getrennte Stationen für innere Medizin und für Chirurgie gab. Vgl. hierzu: McLean: Surgeons, S. 76–77. Eine Jahrhunderte dauernde Trennung kam damit zu einem gewissen Abschluss. In der Frühneuzeit führten die Bader den unblutigen Aderlass mit Schröpfköpfen durch und behandelten Knochenbrüche; die Barbiere waren gemäß Zunftordnung für den blutigen Aderlass und die offene Wundversorgung zugelassen. Im 16. Jahrhundert schlossen sich die Barbiere und Chirurgen zusammen (z. B. 1540 in London in der United Company of Barbers and Surgeons) und drängten die Bader in eine untergeordnete Position. Im 18. Jahrhundert gründeten die Chirurgen eigene Ausbildungsstätten (z. B. das College of Surgeons in Großbritannien, Collegium medico-chirurgicum in Preussen, Académie royale de chirurgie in Frankreich) und traten in deutliche Konkurrenz zu den an Universitäten ausgebildeten Ärzten, die im Fach Chirurgie nur theoretisch ausgebildet waren und die weiterhin allein für die Behandlung von inneren Erkrankungen mit diätetischen und pharmakotherapeutischen Mitteln zuständig und somit für die Verordnung von Arzneien autorisiert waren. 8 Ein Zeitdokument, publiziert in der angesehensten britischen medizinischen Fachzeitschrift, schildert die zumindest für einige Schiffsärzte unbefriedigenden Zustände an Bord in deutlichen Worten: Anonymus: Brutal Treatment of Naval Assistant-Surgeons, The Lancet (1848), S. 80–81.

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Die Schiffsärzte

und Anerkennung. Denn eine der Forderungen der meuternden Matrosen war zwar die Verbesserung der medizinischen Versorgung, sie wurde aber in ihrer unzureichenden Qualität nicht den Doctors in die Schuhe geschoben.9 Die Schiffe der Royal Navy hatten immer mit Personalnot bei den einfachen Seeleuten zu kämpfen, während sich die Offiziersränge leicht füllten. Letzteres galt allerdings nicht für die Schiffsärzte. Ihre Arbeits- und Lebensbedingungen waren schlecht und die Arbeit selbst so gefährlich, dass es, nachdem die bei Kriegsende freigesetzten, überzähligen Surgeons nach und nach pensioniert waren, stets ein Problem war, genügend Ärzte für die vorhandenen Stellen zu finden. Die meisten Ärzte, die auf den Schiffen der Royal Navy Dienst taten, stammten aus Wales, Irland und Schottland; vor allem die sozial deutlich benachteiligten Iren meldeten sich für den Dienst.10 Der Department-Chef Alexander Bryson startete 1866 eine eigene Werbekampagne, um gezielt mehr Schotten für den Dienst zu gewinnen. Er selbst hatte sein medizinisches Examen in Dublin abgelegt, so dass man sich fragen könnte, ob er besonderen Grund hatte, den Iren zu misstrauen. Vermutlich sah er aber in Schottland ungenutztes Potential. Sein Vorgänger Liddell war in seinen letzten Amtsjahren sogar in solche Nöte gekommen, dass er auf eine Order zurückgriff, die es erlaubte, Medizinstudenten im Alter zwischen 18 und 22 Jahren für Sanitätsdienste in die Navy einzuziehen. Es hatten sich zum Beispiel im ersten Quartal 1854 ganze fünf Kandidaten auf 31 freie Stellen beworben!11 Die medizinische Presse reagierte auf Liddells Vorstoß mit höhnischer Kritik und erinnerte an alte Zeiten der unseriösen Rekrutierung von Matrosen durch die Pressgangs. Auch Franzosen, Niederländer und Russen konnten unter den Medical­ Officers sein, wenn sie von gekaperten feindlichen Schiffen zur Fortsetzung ihres Dienstes befohlen wurden, doch hatten sie dann »bisweilen in der Abfassung der Journale Schwierigkeiten mit der englischen Sprache«.12 Ein Hol 9 Preston, J., in: House of Commons 1903 (301) Navy (health): Stat. Rep. für 1902, S. 134. 10 Von den 482 zwischen 1870 und 1880 diensttuenden Schiffsärzten waren 103 Engländer, 128 Schotten und 251 Iren. Vgl.: Lloyd, Coulter: Medicine, Vol. IV, S. 20. Nicht ganz so deutlich, aber doch ebenfalls überrepräsentiert waren Schotten und Iren im Medical Service der Royal Army, wie Crawford für die britischen Truppen in Indien zeigt. Vgl.: Crawford 1930, S. 638–642 und 648–649. 11 Lloyd, Coulter, ebd., S. 6. Von Lincoln, Margarette: The Medical Profession and Representation of the Navy, 1750–1815, in: Hudson, Geoffrey L. (Hg.): British military and naval medicine, 1600–1830, Amsterdam 2007, S. 201–226 und Crimmin, Patricia Kathleen: British Naval Health, 1700–1800: Improvement over Time?, in: Hudson, Geoffrey L. (Hg.): British military and naval medicine, 1600–1830, Amsterdam 2007, S. 183–200 liegen zwei aktuelle Arbeiten vor, die die Entwicklung der medizinischen Standards in der Medizin an Bord und die wechselseitige Beeinflussung von faktischer Versorgung und öffentlicher Wahrnehmung der Royal Navy behandeln. 12 Preston, S. 129.

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Die Ausbildung der Schiffsärzte

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länder sei »unübersehbar ohne Sprachkenntnisse« gewesen, ein Russe habe das ganze Journal auf Latein geschrieben, was »den Verdacht aufkommen lässt, dass seine Kenntnisse des Englischen begrenzt waren«, und ein Deutscher habe »dem Leser als ehemaliger Professor einer Universität huldvoll die ganze Geschichte seines Lebens, seiner Erziehung in Deutschland und seiner höheren Position auf dem Schiff gewährt«, schreibt Preston spöttisch.13 Solchen unfreiwilligen Schiffsärzten begegnen wir in den untersuchten Medical Journals nicht. Kein Name und kein Hinweis deutet auf eine andere als die britische Nationalität hin.

3.2 Die Ausbildung der Schiffsärzte Sobald die Admiralität Ernennungsbefugnis für ihre Schiffsärzte innehatte, anerkannte sie auch andere Prüfungszertifikate als die des Royal College of Surgeons of England, etwa die des College of Edinburgh und College of Dublin sowie des Royal College of Physians and Surgeons in Glasgow.14 Der Bewerber musste zwischen 20 und 26 Jahre (ab 1839 bis maximal 24 Jahre) alt sein und hatte eine Sittlichkeitsbescheinigung (Certificate of Morality) eines Geistlichen vorzulegen. Er musste sechs Monate lang einen Posten mit Arzneizubereitung versehen und eineinhalb Jahre in einem Hospital Erfahrung mit chirurgischen Operationen gesammelt haben.15 Das Medical Department prüfte die Kenntnisse seiner Kandidaten in immer mehr Themenbereichen und verdrängte 1866 das Royal College ganz aus diesem Zulassungsprozedere. Seit einem Gesetzesakt von 1858 gab es ein landesweites Register sämtlicher zugelassener Ärzte, das für dieses erste Jahr 33 339 Ärzte im Vereinigten Königreich auswies.16 Die Admiralität konnte auf diese Liste zurückgreifen, um jemanden als ausreichend ausgebildet anzuerkennen beziehungsweise, und daran war die Admiralität sehr interessiert, nach diesem ersten Qualifizierungsnachweis eigene umfangreiche Prüfungen in Anatomie, Chirurgie, Innerer Medi 13 Ebd. 14 Zur Geschichte der Sea-Surgeons und ihrer Organisation, der 1540 entstandenen United Company of Barbers and Surgeons, siehe: Taylor, Rodney: Sea-Surgeons and the Company of Barbers and Surgeons, J. Roy. Nav. Med. Serv. 87 (2001), S. 98–103; Lawrence, Christopher: Medicine in the making of modern Britain, 1700–1920, London 1994; Rodger, Nicholas A. M.: Essays in naval history, from medieval to modern, Burlington 2009, S. XI u. 333–344, der die zerstrittene Situation während des 18. Jahrhunderts sowohl unter den nicht akademisch ausgebildeten Surgeons als auch unter den Universitätsabsolventen, den Physicians, herausarbeitet. Zur gesamten komplexen Geschichte der Ausbildung von Navy-Offizieren durch die drei Jahrhunderte von 1650 bis 1950, die als »Dilemma zwischen Training und Erziehung« beschrieben wird, siehe Rodger, ebd., S. XVII, 1–34 . 15 Lloyd, Coulter: Medicine, Vol. IV, S. 23. 16 Ebd., S. 24.

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Die Schiffsärzte

zin, Chemie, Pharmazie und auch in »Krankheiten der Frauen und Kinder« abzuhalten.17 All diese Prüfungen waren einerseits Gegenstand von Machtfragen unter den Institutionen, andererseits sinnvolle Absicherung, denn bei näherem Hinsehen zeigte sich, dass zwei Drittel der laut jener Liste zugelassenen praktizierenden Ärzte »keinerlei akademische Qualifikation« hatten.18 Den angehenden Surgeon der Navy erwartete stets ein dreifaches Arbeitsfeld: Das des Arztes für innere Krankheiten, das des Chirurgen und das des Apothekers.19 Es war diese dreifache Aufgabe für einen Arzt des 19. Jahrhunderts nicht ungewöhnlich, doch konnten die Schiffsärzte erwarten, besonders viel Erfahrung auf den unterschiedlichsten Gebieten zu sammeln. Es war für viele ein verlockendes Ziel, sich nach den Jahren auf See in einer Praxis niederzulassen und die vergleichsweise große, ja weltläufige Erfahrung gegenüber so manchem an Land gebliebenen Kollegen einzusetzen.20 Um die volle ärztliche und pharmazeutische Befähigung dann auch nutzen zu können, musste allerdings die innerhalb der Royal Navy gültige Zulassung zur Medikamentenherstellung im Anschluss ihre Gültigkeit behalten. In diesem Punkt gab es immer wieder Behinderungen seitens der Society of Apothecaries, die solche Ärzte durch entsprechende Zulassungsbeschränkungen von Apothekern abhängig machen wollte.21 Eine eigenständige Ausbildungsstätte für Schiffsärzte einschließlich einer Lehrsammlung forderte schon Thomas Trotter (1761–1832) in seinem Lehrbuch »Medicina nautica« von 1798. Er stellte sich eine solche in dem schon bestehenden großen Marinekrankenhaus in Haslar vor, das in unmittelbarer Nähe zum bedeutenden Hafen Portsmouth liegt, und führte während seiner Tätigkeit bereits Kurse auf den verschiedenen Stationen durch. Andere erfahrene Kollegen schlossen sich seinem Beispiel an, aber »in wenig gleichmäßiger Qualität und vielleicht mehr zur Bekämpfung von Langeweile unter den angehenden Schiffs-

17 Ebd. 18 Ebd. 19 Die Arzneien mussten an Bord zu einem guten Teil erst aus den Grundstoffen in ihrer jeweils gewünschten Zusammensetzung hergestellt werden. In den Jahren zwischen 1830 und 1840 endete das Monopol der Arznei-Belieferung der Navy durch die Society of Apo­ thecaries. Die Navy bezog nun ihre Medikamente von günstigen freien Anbietern. Sie zog sich zwar die Kritik zu, unter Umständen schlechte Ware geliefert zu bekommen, blieb aber in ihrer Praxis hartnäckig. Vgl.: Lloyd, Coulter: Medicine, Vol. IV, S. 22. 20 Diese Kompetenz schreiben ihnen Lloyd und Coulter auch zu, schränken aber ein: »Die Schiffsärzte hatten mehr Erfahrung in Tropenmedizin als irgendein anderer Zweig dieses Berufsstandes. Es kann aber nicht behauptet werden, dass sie aus dieser Erfahrung viel Nutzen gezogen hätten, waren sie doch, zum größeren Teil, nicht die herausragenden Vertreter ihres Standes.« Vgl.: Lloyd, Coulter: Medicine, Vol. IV, S. VI. 21 Ebd., S. 21–22.

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Die Ausbildung der Schiffsärzte

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ärzten als zu ihrer Wissensvermehrung.«22 Erst 1827 setzte der für die ganze Entwicklung der medizinischen Versorgung an Bord so entscheidende William Burnett die nun schon 30 Jahre alte Anregung effektiv um. Die Krankenhäuser in Plymoth und in Haslar erhielten Mittel für eine Bibliothek, die bestens ausgestattet wurde. Unter den 6 500 Bänden und 400 Handschriften waren so wertvolle Klassiker wie ein Corpus Hippocraticum von 1554 und 1662, sowie eine Sammlung der Schriften Galens von 1562. Im Haslar Hospital kam eine medizinische und naturkundliche Sammlung im »Museum« hinzu, die mit Hilfe der an Bord der Schiffe aus aller Herren Länder mitgebrachten Stücke auf riesige Ausmaße anwuchs. Die Vorlesungen begannen mit Konsequenz im Jahre 1827. Dr. James Scott (1785–1859), fest angestellter Arzt, erster Museumskurator, Bibliothekar und Dozent in einem, hatte in jenem Jahr für seinen ersten Kurs 24 Naval Medical Officers, von denen 22 im Haslar Hospital und nur zwei auf Schiffen in Portsmouth und Spithead tätig waren. Zwei Mal jährlich hielt er Vorlesungen in Praxis der Medizin und Chirurgie und in Physiologie, Pathologie und Pharmakologie ab. Dieser positive Start und die Energie, mit der der erste eigentliche Sanitäts-Chef der Navy, Sir William Burnett, das Ausbildungscurriculum auf den Weg gebracht hatte, versiegte jedoch. Das Angebot an Kursen und Vorlesungen verlief im Sande. Nach 13 Jahren verschwindet der Posten des Lecturer einfach von der Personalliste. Die akribischen Erforscher der Verwaltungsgeschichte der Marine, Lloyd und Coulter, sprechen als erfahrene Sanitätsoffiziere zweifellos pro domo und aus Kenntnis der ungebrochenen Aktualität, wenn sie vermuten: »Ein Grund mag der Mangel an klinischen Anschauungsmöglichkeiten gewesen sein. Ein anderer mag der Mangel an befähigten Ausbildern gewesen sein. Der bei Weitem wahrscheinlichste Grund war aber die häufige Knappheit an Ärzten im Navy-Dienst, die bis zum heutigen Tage die bestgemeinten Absichten für eine medizinische Ausbildung behindert. Die an sich wirkungsvollste Organisation an Unterricht und Übung verkümmert, wenn keine Kandidaten vorhanden sind, die davon profitieren. Auch wird effizientes Lehren zur Enttäuschung, wenn die Ausbildungsteilnehmer ständig in der Situation stehen, kurzfristig abgezogen zu werden, während ihre Ausbildung gerade eben begonnen hat oder kurz vor dem Abschluss steht.«23 Der Lecturer blieb verschwunden: »Zwischen 1840 und 1871 finden wir keinen Hinweis darauf, dass es irgendeine fortgeschrittene Weiterbildung­ (Advanced Training) für einen Schiffsarzt der Navy gab.« Für diesen angehenden Schiffsarzt galt: »Was er an akademischen und praktischen Kenntnissen auf seiner medizinischen Hochschule erworben hatte, wurde für ausreichend erach 22 Trotter, Thomas: Medicina nautica, Erfurt 1798. Vgl.: Lloyd, Coulter: Medicine, Vol. IV, S. 26. 23 Dieses und die folgenden zwei Zitate: Ebd., S. 29.

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Die Schiffsärzte

tet. Es wurde ihm überlassen, die speziellen Erfordernisse in Medizin und Chirurgie, die nur die Royal Navy abverlangt, in der harten Schule der praktischen Erfahrung zu lernen.« Man kann nicht genug betonen, wie sehr der einzelne Arzt auf seinem Schiff auf sich allein gestellt war. Die ihm zur Unterstützung zur Verfügung gestellten Maate (Mate) waren oft so wenig oder gar nicht ausgebildet und erfahren, dass mancher Surgeon »die Breiumschläge in der Kombüse selber zubereiten« musste.24 Immerhin gab es den Posten des Sick Berth Attendant, eines Krankenpflegers für das Lazarett, auf britischen Kriegsschiffen seit 1844.25 Auch von der anderen Seite, von der Schiffsführung her, gab es nicht immer Wohlwollen und Hilfe. Noch 1855 gibt es die Klage, »dass die störende Einmischung des Kapitäns in medizinische Belange den Surgeon zur Bedeutungslosigkeit verdammte«.26 Dass die hohe Mortalität vor allem in der westafrikanischen und ostasiatischen Station auch mit den Beschränkungen der ärztlichen Versorgung an Bord zusammenhing, war der Admiralität und den politischen Institutionen Mitte des 19. Jahrhunderts sehr wohl klar.27 Einen öffentlichen Aufschrei über dieses Faktum gab es aber erst mit dessen eklatantem Beweis im Krimkrieg 1853–1856, dennoch dauerte es weitere Jahre, bis Reformen nicht nur gefordert, sondern auch umgesetzt wurden. Nach 30 Jahren, in denen nichts geschah, gab es von 1872 bis 1881 eine Interimslösung, die Lloyd und Coulter unumwunden als »Placebo« bezeichnen. In der medizinischen Akademie der Armee, der Royal Army Medical School in Netley, wurde die Stelle eines »Professors für Schiffs-Hygiene« eingerichtet. Dort sollten die Navy-Ärzte ihre Weiterbildung absolvieren. Hart gehen die zitierten Autoren ins Gericht mit dem, was dabei herauskam: Den »Naval Doctors« wurde jetzt erst richtig klar, wie viel schlechter gestellt sie gegenüber den Armee-Sanitäts-Offizieren waren. Sie sahen bei den Kollegen der Landtruppen »Lebensbedingungen, die sich gänzlich von denen unterschieden, die ihr eigenes zukünftiges Leben bestimmen würden.«28 Darüber hinaus bekamen sie nicht viel an Unterweisung, die ihnen für ihre spezielle Situation an Bord genutzt hätte. Es muss diese unbefriedigende Situation so viel Unmut erzeugt haben, dass der Ärger über diesen Missstand bis zur obersten Verwaltungsebene durchdrang. Unter Konteradmiral Anthony Hiley Hoskins (­1828–1901) wurde ein Ausschuss gebildet und »über Nacht« ein Beschluss gefasst. Mit dem Februar 24 Preston, S. 130. 25 Ebd., S. 140. Siehe dazu auch den Abschnitt 3.5 über die Queen’s Regulations von 1862. 26 Ebd., S. 131. 27 Mortalitätsberechnungen für die westafrikanische Station und Vergleiche mit den für das englische Festland geltenden Zahlen stellt Harrison an. Vgl.: Harrison, Mark: An ›Important and Truly National Subject‹: The West Africa Service and the Health of the Royal Navy in the Mid Nineteenth Century Mortality and Migration: A Survey, in: Haycock, D.; Archer, S.: Health and medicine at sea, 1700–1900, Woodbridge 2009, S. 108–128. 28 Lloyd, Coulter: Medicine, Vol. IV, S. 39.

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Die Ausbildung der Schiffsärzte

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1881 wurde die Ausbildung für die Navy in Netley gestoppt. Sie sollte ab sofort in Haslar fortgesetzt werden. Zum Glück fand sich ein »Willing Horse« in Staff Surgeon Walter Reid, der innerhalb kürzester Zeit ein Ausbildungs-Curriculum für Haslar zusammenstellte.29 In vier Gruppen gingen die Kandidaten für je einen Monat auf verschiedene Stationen des Hospitals, führten unter Reids Leitung Obduktionen durch, übten die Behandlung von Knochenfrakturen, besichtigten die verschiedenen Schiffstypen und deren konstruktive Prinzipien auf der Werft und beschäftigten sich mit der gesamten Verpflegungssituation eines Schiffes. Bald stand ein recht beachtliches Pensum von 29 Vorlesungen und einer genau festgelegten Zahl der genannten praktischen Übungen fest. Drei Jahre später wurden drei erfahrene Ärzte der Flotte mit der Ausbildung ihrer jungen Kollegen beauftragt. Hinweise auf eine Berücksichtigung psychiatrischer Krankheits­ bilder in diesem Curiculum, etwa durch Visiten in der Abteilung des Lunatic Asylums in Haslar, finden sich nirgends. Im hier als 9. Fall des Kapitels ­»Mania« dargestellten Bericht von einem sehr erregt psychotisch Kranken zeigt der zuständige Surgeon Kenntnisse der speziellen Fachliteratur und der Diskussion über den Einsatz von Zwangsjacken (strait jackets, strait waistcoats) in Krankenhäusern an Land und plädiert für deren Mitnahme auf Schiffen. Nach zehn guten Jahren ging es noch einmal mit der Qualität bergab. Weil sich aber diesmal der Tropenmediziner von Weltrang, Sir Patrick Manson (1844–1922), beteiligte, entstand ein öffentlicher Skandal. Er wurde nicht nur in der angesehensten medizinischen Fachzeitschrift The Lancet ausgetragen, sondern in der wichtigsten Tageszeitung, der Times. Diesen Skandal nutzte wiederum der inzwischen zuständige erfahrene und hochrangige Inspector General Turnbull, um mit Unerschrockenheit und Zähigkeit ab dem Jahre 1897 eine Neuorganisation der Ausbildung zu organisieren und von der Admiralität genehmigt zu bekommen. Fast wäre die Institution in Greenwich bei London beheimatet worden, doch fiel am Ende (1899) doch die Entscheidung für den Traditionsort Haslar Hospital bei Portsmouth. Bis 2009 war dort das Krankenhaus der Royal Navy untergebracht.30

29 Ebd., S. 30. 30 Ebd., S. 32–42.

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Die Schiffsärzte

3.3 Die Pflichten der Schiffsärzte Wertvolle Information für unsere Fragestellung enthalten die in gedruckter Form verbreiteten und verbindlich geltenden Anweisungen für die Ärzte an Bord, die »Regulations and Instructions« von 182531 und die »Queen’s Regulations and the Admiralty Instructions« von 186232 Die frühere Ausgabe enthält nur Anweisungen für die Schiffsärzte, die spätere dagegen Anweisungen für alle Bereiche an Bord, darunter auch die für die schiffsärztliche Versorgung. Mit diesen beiden Büchern haben wir Ausführungsbestimmungen für die Tätigkeit der Schiffsärzte vor uns, die unseren Untersuchungszeitraum vollständig abdecken, aufgeteilt in die ersten 30 Jahre und die zweiten 20 Jahre.

3.4 Die »Medical Instructions« von 1825 Diese Instruktionen sind die ersten schriftlich fixierten Anweisungen für Ärzte seitens der Admiralität. Darin sind die Hauptpflichten eines Surgeons präzise definiert. Zunächst werden in neun Absätzen als Instructions for the Physi­cians of His Majesty’s Fleet die Aufgaben dieses leitenden Arztes (Physician of His Majesty’s Fleet) aufgelistet.33 Dieser Posten beinhaltete die Kontrolle aller Surgeons des ihnen zugeordneten Flottenteiles sowie Visiten auf den dazugehörigen Lazarettschiffen. Er war gehalten, die Schiffe häufig zu besuchen (»He is to visit the Ships of the Squadron frequently,…«) und dabei Instrumente und Medizinvorräte zu kontrollieren. Von dieser Tätigkeit hatte er wöchentlich Bericht an den Commander in Chief zu erstatten. Ihm mussten die Krankenlisten von allen Schiffen an den Küsten Englands monatlich und von den Schiffen der auswärtigen Flottenteile vierteljährlich zugeleitet werden. Für diesen Stabsposten war auch geregelt, dass er sich, sobald er nicht in seiner Funktion eingesetzt war, bei

31 Die »Regulations and Instructions, for the Medical Officers of His Majesty’s Fleet« von 1825 (auf dem festen Bucheinband kurz »Medical Instructions« genannt), sind ein schmales, fest gebundenes Bändchen von 68 Seiten, das unter der Signatur ADM 7/221 in den National Archives in Kew, London aufbewahrt ist. 32 Die »Queen’s Regulations and the Admiralty Instructions for the Government of Her Majesty’s Naval Service« von 1862 sind ein fest gebundenes Buch von 400 Seiten. Es steht in der National Archives Bibliothek unter der Signatur 359.6 REG. Auf diese beiden Quellen beziehen sich auch die Autoren Lloyd und Coulter in ihrer Darstellung der »Duties of a Surgeon«. (Lloyd, Coulter: Medicine, Vol. IV, S. 42–48) Eher kursorisch und anekdotisch zählt McLean im Zusammenhang mit den anfallenden Erkrankungen und Verletzungen die Aufgaben der »Surgeons of the Fleet« auf. Vgl.: McLean: Surgeons, S. 38–50. 33 ADM 7/221, S.  1–4 und als Appendix die tabellarische Erfassung der »Sick and­ Wounded«, S. 5–6.

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Die »Medical Instructions« von 1825

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der Admiralität mit seiner jeweils aktuellen Wohnadresse zu melden hatte, jeweils zum Quartalsende in Kriegszeiten und zum Jahresende in Friedenszeiten. Sodann folgen in 43 Abschnitten als Instructions for the Surgeons of His­ Majesty’s Fleet die Pflichten der Schiffsärzte (Surgeons) an Bord und in einem Anhang (Appendix) 19 verschiedene Listen.34 Die erste Liste nennt die Medikamente, die an Bord zu sein hatten, eine weitere die Instrumente, die der Schiffsarzt zur Verfügung haben musste. 73 Arzneien sind auf der Liste aufgeführt, ferner Geräte zur Herstellung und Gefäße zur Aufbewahrung der Medikamente. Schließlich sind in einer Necessaries-Liste die unterschiedlichsten Ausstattungsgegenstände wie Leintücher, Kopfkissen, Haarnetze, Bruchbänder, Spucknäpfe und Bettschüsseln in je nach Größe des Schiffes festgelegter Zahl aufgeführt. Auch die Menge des mitzuführenden Zitronensaftes ist mit 54 Gallonen für die größten und 9 Gallonen für die kleinsten Schiffe festgehalten. Schließlich folgt eine Aufzählung von 47 verschiedenen Instrumenten für einen Surgeon und 33 Instrumenten für einen Assistant Surgeon, die der Betreffende »at his own­ expence«, auf seine eigenen Kosten, anzuschaffen hatte. Die Anweisung, dass er »auf diese Instrumente Acht geben und sie in bester Verfassung halten« solle, dürfte angesichts des eigenen finanziellen Einsatzes kaum mehr notwendig gewesen sein. Diese Regelung, dass der Schiffsarzt (neben seinen beiden Uniformen) sein Instrumentarium selbst zu finanzieren hatte, galt noch bis 1899.35 Das Instrumentarium sollte der oben genannte Physician of the Fleet regelmäßig kontrollieren und auf einem eigens vorgedruckten Formular den Zustand der vorgefundenen Geräte zwischen »in good order« und »unserviceable« einstufen. Praktisch sämtliche Instrumente waren solche, die die chirurgische Tätigkeit der Schiffsärzte betrafen, einschließlich zweier Trephines, kleinen Ringsägen zur Trepanation (der Schädeleröffnung bei lebensbedrohlicher Verletzung des Gehirns). Die Anweisungen der 43 Abschnitte betreffen unter anderem die Luft­qualität an Bord und insbesondere die des Schiffslazarettes, das Lazarett selbst, die Diät einschließlich der auszugebenden Getränke, die Formalitäten für den Fall von Krankschreibung, Verlegung eines Patienten an Land und der Feststellung dauernder Dienstunfähigkeit (Invalids and unserviceable Seamen). Auch die Untersuchung von neuen Besatzungsmitgliedern war geregelt. Alle Schriftstücke des Schiffsarztes, die das Schiff verlassen sollten, mussten dem Captain oder dem Commanding Officer vorgelegt werden. Schließlich ist in Absatz 33 der formale Aufbau des ärztlichen Tagebuches vorgegeben. In diesem Medical and Surgical Journal sollten die interessantesten Fälle, diejenigen, die in ein Hospital verlegt wurden und schließlich solche, die zum Tode führten, in freier Form, aber stets mit Nennung von Symptomen, Diagnose und verordneter Medizin, 34 ADM 7/221, S. 7–34, anschließend ohne Seitenzählung der Appendix mit Tabellen und Formblättern, insgesamt 19 Gegenstände betreffend. 35 Lloyd, Coulter: Medicine, Vol. IV, S. 48.

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Die Schiffsärzte

festgehalten werden. (»He is to keep a rough and a fair Journal of his Practice, according to the annexed Form, noting the Disease and detailing the daily Symptoms of all particular Cases [including those sent to the Hospital, as well as Cases of Death, and Invalids] with the Medicines prescribed.«) Darüber hinaus mussten alle Krankheitsfälle zur statistischen Erfassung der Diagnosehäufigkeit in Tabellen gezählt werden. Sie sind als Weekly, Monthly und Quarterly Nosological Return, eng an die Systematik Cullens angelehnt, im Appendix abgedruckt und finden sich so in den frühen Medical Journals wieder. Bemerkenswert ist, dass der Surgeon, auch wenn er den Verletzten alle Hilfe zukommen lassen und diese »knapp aber vollständig« beschreiben sollte, »nicht dazu angehalten war, irgendeinen Bericht oder sonstige Beschreibung von Kämpfen abzuliefern, ebenso wenig wie die Gesamtzahl an Getöteten zur Kenntnis zu nehmen.«36 In einem eigenen, sehr kurzen Abschnitt von einer halben Textseite (Instructions for the Assistant Surgeons of His Majesty’s Fleet)37 wird den AssistenzSchiffsärzten »in jeder Hinsicht die gleiche Pflicht« wie ihren voll verantwortlichen Kollegen auferlegt, »insbesondere, wenn er dessen Platz einzunehmen hat in dem Fall des Todes oder sonstiger Abwesenheit des Surgeon«. Die Assistenten mussten sich am Ende jedes Jahres sowohl vom Surgeon als auch vom Kapitän ein Zertifikat ausstellen lassen und dieses an die Admiralität senden. Diese Pflicht ist mit der Androhung versehen, bei Unterlassung die Chancen einer Beförderung auf das Spiel zu setzen und die Half Pay-Bezahlung für den Fall einer Freistellung zu verlieren. (»And he is to observe that if he do not regularly transmit such Certificates at the periods required, the Omission will be regarded as an objection to his being placed on the Half Pay List, and to his Promotion.«) In einem der Medical Journals finden wir diesen Punkt tatsächlich auf einem eigens an »Assistant Surgeons« gerichteten Vorsatzblatt ausgeführt.38

3.5 Die »Queen’s Regulations« von 1862 In den Queen’s Regulations von 1862 finden wir gegenüber den 37 Jahre älteren Medical Instructions nur geringe Veränderungen. Als wesentliche Neuerung ist die Umstellung der Diagnoseneinteilung zu nennen, die 1851 auf Empfehlung des Royal College of Physicians erfolgte und nun stärker topographisch nach Organsystemen gegliedert ist. Nach wie vor sind allerdings Fevers und Eruptive Fevers (das sind Fieber mit Exanthem, also Ausschlag) eigenständige Krankheitseinheiten außerhalb der neuen Topologie. Neu sind die letzten beiden 36 Preston, S. 133. 37 ADM 7/221, gedruckt auf der mit »The End« bezeichneten letzten Seite des Bandes. 38 Im Medical Journal: Smart, H. S., HM Frigate Pearl 1.1.–31.12.1862, TNA, ADM 101/175.

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Die »Queen’s Regulations« von 1862

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Gruppen Unclassified und Wounds and Injuries. Auf das Diagnoseschema insgesamt wurden bereits in Abschnitt 1.2.1 näher eingegangen. Besonders hervorzuheben ist der mit »Patients to be treated with kindness and attention« gekennzeichnete Paragraph 12, der nahezu gleichlautend mit dem elften Abschnitt in den Instruktionen von 1825 geblieben ist. In den älteren Regulations ist noch von den Patienten an Bord der »Ships of War, who labour under so many Inconveniences« die Rede, und es sind dort noch nicht die »realen und eingebildeten Klagen« (»… grievances whether real or imaginary …«), sondern nur »all real Grievances« genannt. Die in einem einzigen Absatz formulierte Aufforderung zu empathischer Zuwendung zeugt von tiefer Kenntnis der Bedeutung der emotionalen Verfassung eines Kranken für dessen Genesung. Wir finden in manchem Fallbericht in den ausgewerteten Medical Journals die hier beschriebene Grundhaltung verwirklicht, teils direkt in der phänomenologischen Darstellung des Zustandsbildes und des Verlaufes, teils eher zwischen den Zeilen in der respektvoll-zugewandten Sichtweise des Geschehens. Der Absatz sei wegen seiner besonderen Bedeutung hier wiedergegeben: »Weil er die Verantwortung für die Gesundheit so vieler Personen hat … und weil Krankheit, die unter günstigsten Bedingungen an Land bis zu einem gewissen Grade die Stimmung drückt, an Bord ähnliche Wirkungen nicht verfehlen wird, ist es seine Pflicht, den Geist seiner Patienten durch möglichst menschliche Zuwendung und tröstende Freundlichkeit zu beruhigen und aufzumuntern; all ihren Beschwerden und Klagen, seien sie real oder eingebildet, geduldig zuzuhören und sich in jeder Hinsicht bereit zu zeigen, Abhilfe zu schaffen; denn solches Verhalten dient wesentlich dazu, Vertrauen zu schaffen, die Stimmung zu heben und folglich zur Hoffnung auf Genesung beizutragen.«39

Für die Untersuchung von Besatzungsmitgliedern gibt es nun, anders als noch in den Bestimmungen von 1825, eine ausdrückliche Direktive, welche vorbestehenden körperlichen und psychischen Auffälligkeiten eine Zurückweisung von Bewerbern für den Dienst in der Marine nach sich ziehen. (§ 34) Als »Gründe, deretwegen ein Mann oder Junge zurückgewiesen werden sollte«, sind insgesamt 13 Gruppen von Krankheiten und Behinderungen aufgezählt. Davon betrifft die »Gruppe II« Störungen, die als »Verwirrtheit, Minderbegabung und Epilepsie« (»Disordered Intellect, or Mental Imbecility; Epilepsy«) umschrieben werden, und die »Gruppe IX« alle Formen von Lähmung (»Paralysis, either Partial or General«).40 Die meisten Paragraphen des Regelwerkes von 1862 sind gegenüber den Abschnitten von 1825 in ihrem Wortlaut unverändert geblieben. Von den Änderungen seien einige für den Alltag relevante genannt: 39 »Queen’s Regulations« 1862, S. 388 (Original englisch). 40 Ebd., S. 398.

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Die Schiffsärzte

Wo 1825 noch die Mengen der einzelnen Medikamente abhängig von der Schiffsgröße festgelegt waren, sind 1862 standardisiert drei Arzneikisten für die größten, die 1st Rates Ships, zwei Kisten für die 2nd bis 6th Rates Ships and Sloops und nur eine Kiste für die kleineren Schiffe unterhalb der Größe der Sloops vorgesehen. Je eine Kiste sollte unmittelbar nach dem An-Bord-Nehmen in die Dispensary, die Apotheke, umgefüllt und die anderen so verstaut werden, dass der Schiffsarzt jederzeit Zugriff auf sie hatte. Die Bevorratungsdauer blieb die gleiche: Die Arzneivorräte hatten zwei Jahre zu reichen, die Artikel zur Herstellung und Aufbewahrung der Arzneien ein Jahr lang. Die Bevorratungsdauer von Lebensmitteln war ein halbes Jahr.41 Der Einsatz des einzigen zur Verfügung stehenden Fiebermittels, des Chinins, wurde dem pharmazeutischen Fortschritt angepasst. Für die Männer, die zur Beschaffung von Holz und Wasser oder andere anstrengende Arbeit an Land gehen sollten, war jetzt zur Vorbeugung gegen Fieberkrankheiten eine morgendliche und abendliche Gabe von vier Gran Chinin (ca. 0,3 Gramm), in Wasser aufgelöst, festgelegt. Bei Wassermangel konnte das Chinin auch in Wein oder Schnaps verabreicht werden, jedoch bedurfte dies einer Meldung an den Kapitän, der wiederum den Zahlmeister mit der Getränkeausgabe beauftragte. (§ 9) Die Chinin-Ausgabe zu solchem Zweck war auch schon 1825 geregelt gewesen, jedoch noch in der Dosierung einer Drachme (ca. vier Gramm), also der 15-fachen Menge, von Peruvian Bark, eines nicht so hoch gereinigten Chinin, damals noch regelmäßig zu verabreichen in einem »halben Gill guten Weines« (70 ml entsprechend). In Paragraph 21 wird die Zusammensetzung einer »vollen, halben und mageren Diät« (»Full Diet, Half Diet, Low Diet«) beschrieben, die »so nahe wie möglich an die Krankenhauskost« angelehnt sein sollte. Es gab für diese Diät inzwischen einen aus einer von den Heuern aller Matrosen einbehaltenen kleinen Abgabe gebildeten Sick Berth Fund, aus dem der Schiffsarzt die Ernährung der Kranken verbessern konnte. Auch gab es (§ 22) einen festen Posten von Krankenpflegern, die der Surgeon aus der Mannschaft aussuchen konnte: »Aus allen Dienstgraden, die es erlauben, hat er (die Genehmigung des Kapitäns vorausgesetzt) geeignete Männer von guter Wesensart für die Dienstaufgabe eines Lazarett-Stewards, Lazarett-Helfers und Lazarett-Helfer-Assistenten auszuwählen, deren ausschließliche Pflicht es ist, sich um die Kranken zu kümmern, ohne dass sie zu den üblichen Dienst-Pflichten des Schiffes gerufen werden, ausgenommen im Notfall durch Befehl des Kapitäns oder des kommandierenden Offizieres.«42 Es gibt nun auch einen Hinweis auf die erwartete Genauigkeit und Pünktlichkeit der Berichtsführung durch den Schiffsarzt, die an Deutlichkeit nichts offen lässt: »Er hat sein Journal jederzeit so fortgeschritten zu führen, dass es, 41 Ebd., S. 385. 42 Ebd., S. 393.

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Die »Queen’s Regulations« von 1862

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sollte ihn selbst ein plötzliches Unglück ereilen, wie beschrieben abgeschickt werden kann.« (§ 32) Ein eigenes Kapitel in den Instruktionen von 1862 ist der Disziplin einschließlich der differenzierten Festlegung von Bestrafungen gewidmet.43 Die wichtigsten Punkte davon sind im Abschnitt »Alltag an Bord« dargestellt. In den umfangreichen Queen’s Regulations sind auch die Solde und Heuern (Pay and Wages) der verschiedenen Besatzungsmitglieder niedergelegt.44 Vom Pfeifer und Trommler bis hinauf zum Lieutenant Colonel gehen die Tabellen für die Marinesoldaten; vom Schiffsjungen, Offiziersdiener und Lampentrimmer, über den Segelmacher und Bootsmann, den verschiedenen handwerklichen Fachleuten im Unteroffiziersrang bis hinauf zu den ranghöchsten Offizieren legen sie den Sold für das seemännische Personal fest. In der Gruppe der Offiziere finden wir die Assistant Surgeons, die nach fünf und nochmals nach zehn Jahren Dienst eine magere Solderhöhung von 10 Prozent erhalten können, sodann die Surgeons, die erst nach der langen Dienstzeit von 10 Jahren und nochmals nach 15 bis 25 Jahren, und schließlich die Staff Surgeons, die nach 20 bis 25 Jahren auf eine Gehaltsverbesserung hoffen konnten.45 In späteren Ergänzungen der Regulations werden die Schiffsärzte ausdrücklich zu wissenschaftlicher Arbeit in ihren Reports aufgerufen und auf die Bedeutung des Journals für eine Entscheidung über Beförderung hingewiesen, was solche zusätzlichen Berichte, aber auch die bloße pflichtgemäße Form betraf.46 Allerdings teilten nicht alle in der Verwaltung die Meinung, der Arzt an Bord solle nebenbei den Wissenschaftshunger stillen, wie aus der Aussage des Departmentleiters Dr. Alexander Bryson aus dem Jahre 1856 hervorgeht. Er forderte die Surgeons dazu auf, »mehr auf den Stand des Schiffes als auf den des Wetters Acht zu geben«. (»He advised the Surgeons to pay more attention to the state of the hold than the state of the weather.«)47 43 Ebd., S. 103–128. 44 Ebd., Abschnitt »Appendix«, S. 145–151. 45 Was für die Nelson-Ära galt, gilt für den hier untersuchten Zeitraum zumindest teilweise ebenso: Einen genau festgelegten Anteil der Heuer hatten alle Besatzungsmitglieder in einen Fond für die Pensionen für verwundete und dienstunfähige Seeleute und auch für die Versorgung im Greenwich-Hospital, einer Art Altersresidenz, einzuzahlen. Für diese Ruhestandsbezüge waren die Pension Certificates des Schiffsarztes, denen wir in den Fallberichten immer wieder begegnen, so entscheidend wichtig. Eine weitere Einnahmequelle waren die »Prisengelder« (Prize Money), die bei Kaperung eines feindlichen Schiffes nach sehr ungleichem Verteilungsschlüssel an die Offiziere und die Mannschaft gezahlt wurden und lange ein »wichtiges Motiv, sich für den Dienst in der Flotte freiwillig zu melden«, darstellten, jedoch in der hier untersuchten Zeit faktisch keine Bedeutung mehr hatten. Vgl.: Adam, S. 125. Nur noch bei dem Patrouillendienst vor der westafrikanischen Küste und im Südatlantik gab es eine recht erhebliche Prämie für jeden befreiten Sklaven. 46 Lloyd, Coulter: Medicine, Vol. IV, S. 43–46. 47 Ebd., S. 268.

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4. Der Alltag an Bord

In diesem Kapitel soll versucht werden, ein Bild der Alltagsbedingungen an Bord der Schiffe der Royal Navy zu entwerfen, so wie es sich aus Sicht des Schiffsarztes darstellte. Denn seine persönlich angefertigten Aufzeichnungen in den Medical Journals und die für die Admiralität verfassten Jahresberichte, die eine große Zahl solcher Journals zusammenfassten, sind die Quellen, aus denen geschöpft und aus denen zitiert werden wird. Erkenntnisse aus der sozialhistorischen Fachliteratur über das Leben an Bord werden ergänzend verwendet, sind aber jeweils deutlich als solche gekennzeichnet. Man darf annehmen, dass die schiffsärztlichen Beobachtungen und Aufzeichnungen in besonderer Weise vor Idealisierung und Romantisierung des Schiffslebens geschützt sind, da sie naturgemäß auf die Kehrseiten solcher Romantik, nämlich auf Krankheit und Tod, auf Gefahren und alltägliche Beschwerden und Hindernisse ausgerichtet sind.

4.1 Die Reise 4.1.1 Die »East India and China Station« Unter den zwölf Flottenteilen oder Stationen (Stations) der Royal Navy war die East India and China Station, die ab 1870 getrennt als East India Station und China Station geführt wurde, eine von enormen Ausmaßen. Im ersten Statistical Report von 1841 zur gesundheitlichen Lage der Royal Navy wird eine so anschauliche Beschreibung der Geographie gegeben, dass sie hier zitiert sei: »Das ostindische Kommando ist von großer Ausdehnung. Es umfasst einen Raum über 70 Breitengrade und 100 Längengrade. In der einen Richtung reicht er vom Wendekreis des Krebses bis zum 45. Grad südlicher Breite, in der anderen Richtung vom 50. Grad bis zum 160. Grad östlicher Länge. Die nördliche Grenze ist der Isthmus von Suez, die südliche die Insel Tasmanien. Das Kommando schließt alle Teile der asia­ tischen Küste ein, begrenzt vom Indischen Ozean, die Inseln dieses Meeres, die britischen Gebiete von Neu Holland und Tasmanien sowie die Inseln im nördlichen Pazifik. 1830 gehörte die »Isle of France«, an den Grenzen des Kommandos gelegen, zum Kommando des Caps der Guten Hoffnung, wurde aber später, seiner geographischen Position natürlicher Weise entsprechend, dem indischen Kommando unterstellt. … In dieser Beschreibung zeigt sich, dass die Aufgaben dieses Geschwaders zu einem

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Die Reise

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großen Teil in den Tropen liegen; ein großer Teil davon liegt sogar in unmittelbarer Nähe des Äquators.«1

Die Aufgaben des Geschwaders (Squadron) in Ostasien bestanden in unserem Untersuchungszeitraum in den direkten kriegsbedingten militärischen Einsätzen der drei sogenannten Opiumkriege und der sogenannten indischen Rebellion (Indian Mutiny), in der Präsenz der Kriegsmacht zum Schutz der vielfältigen Handelsinteressen Großbritanniens und im ständigen Kampf gegen Piraterie. Für die zuletzt genannte Aufgabe wurden besonders viele Schiffe im Golf von Bengalen (Bay of Bengal), also im nördlichen Indischen Ozean zwischen Indien und Thailand, an der südöstlichen Küste Indiens (Coromandel) und vor Sri Lanka (Ceylon) eingesetzt. Für diese Piratenbekämpfung dienten kleine, schnelle Kreuzer (Cruisers), die neben dem dominierenden Schiffstyp der Fregatten operierten. In »ansonsten friedlicher Zeit«, wie es in dem Jahresbericht über die Jahre 1830 bis 1836 heißt, kamen allein im Jahre 1836 in der Straße von Malakka (Straits of Malacca)  48 schwere Verwundungen und ein Todesopfer durch Konflikte mit Piraten (Malay pirates) vor.2 Auf der nächsten, noch ferneren Station vor den Küsten Australiens (Australasia), die zeitweise zusammen mit der ostindisch-chinesischen, zeitweise als eigenständige Station geführt wurde, waren in diesen frühen 1830er Jahren nur wenige, 40 Jahre später aber ein Dutzend Schiffe stationiert. Insgesamt segelten in dem beschriebenen Gebiet besonders viele britische Schiffe, fast so viele wie in heimischen Gewässern und mehr als in anderen Teilen der Ozeane.3 Wie wurde die enorme Entfernung überwunden?

1 House of Commons 1841 (53) Navy (health): Stat. Rep. für 1830–36, S. 77 (Original englisch). »Die Inseln des Indischen Meeres« meint Ceylon und Inselgruppen wie die Seychellen, die Malediven, die Nikobaren und Andamanen. »Neu Holland« war die von den Niederländern übernommene Bezeichnung für Australien. Mit den »Inseln im nördlichen Pazifik« sind die zahllosen Inseln von den Philippinen bis zum allein über 1000 Inseln umfassenden Japan. »Isle of France« hieß die östlich von Madagaskar gelegene Insel Mauritius seit ihrer französischen Kolonialherrschaft, die 1814 in die britische überging. 2 Ebd., S. 103. 3 Ebd., S. 77. Vgl. auch: Burroughs, Peter: Defence and Imperial Disunity, in: Porter, A.; Louis, W.: The Oxford History of the British Empire, Vol III, Oxford 2004, S. 320–340.

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4.1.2 Die Fahrt von England nach Ostasien Bis zur Eröffnung des Suezkanals 1869 mussten die Schiffe der ostindischen Flotte »rund Afrika«, also um das Kap der Guten Hoffnung fahren, ein Seeweg von 12 000 Seemeilen (22 000 Kilometer).4 Seit Vollendung des Durch­stiches konnten sie durch das Mittelmeer, den Kanal und das Rote Meer in den Indischen Ozean gelangen und dadurch mit 3 500 Seemeilen ein gutes Viertel des Weges sparen.5 Die Reise nach Ostasien ging in jedem Falle über weite Strecken offenen Ozeans, über den Nord- und Südatlantik, den Indischen und den Pazifischen Ozean. Zu Hilfe stand hierfür die Wetternavigation, also die Kenntnis und Nutzung von Meeresströmungen und Windverhältnissen, besonders und systematisch nutzbar seit der Errechnung und Veröffentlichung der »ortho­ dromischen Fahrten« als der kürzesten und günstigsten Fahrtenrouten durch Matthew Maury.6 Ihre volle Bedeutung eines konkreten Vorhersagesystems er-

4 Eine nautische Meile oder Seemeile ist definiert als ein Sechzigstel eines Längengrades am Äquator. Aus den tatsächlichen 2023,23 Yards zu je drei Fuß wurden im nautischen Gebrauch glatte 2000 Yards gemacht. Im metrischen System sind dies 1852 Meter. 5 Durch den Erwerb der Suezkanal-Aktien im Jahre 1875 wurde diese wichtige Wasserstraße britisch, ein Ausdruck der englischen Wirtschafts- und Finanzmacht. Der Panamakanal als Verbindung von Atlantik und Pazifik folgte erst 1914. Vgl.: Hattendorf, John: Suez Canal, in: Hattendorf (Hg.): Oxford encyclopedia 2007, S. 58–63. 6 Matthew Fontaine Maury, ein amerikanischer nautischer Offizier, veröffentlichte 1855 sein Hauptwerk »The Physical Geography of the Sea«. Seine systematische Erforschung meteorologischer und ozeanographischer Zusammenhänge war von größter Bedeutung und Auswirkung auf die Seefahrt. Vgl.: Kemp, Peter (Hg.): The Oxford companion to ships [and] the sea, London 1979. In Küstennähe war die Navigation weitgehend auf die optische Signalgebung, mithin auf die in den Seekarten eingezeichneten Landmarken und das im 19. Jahrhundert je nach Region sehr unterschiedlich gut ausgebaute System von Leuchtfeuern, Signaltonnen, aber auch auf die 1799 für die englische Kriegsmarine verbindlich eingeführte Lichterführung auf den Schiffen selbst angewiesen. Trugen die Schiffe lange Zeit nur weiße Lichter, wurde 1834 erstmals ein rotes Licht zur Kennzeichnung der Backbordseite verwendet, kurze Zeit darauf rotes und grünes Licht, was dann nach und nach zu dem heute noch gültigen Standard vereinheitlicht wurde. Von Schiff zu Schiff oder zu einem Landposten konnten nach und nach verbesserte Wörterbücher zur Kommunikation mittels Flaggensignalen verwendet werden. 1857 gab es bei Verwendung von 18 Signalflaggen 70 000 Standardsignale. Über die Meere wurden Nachrichten allemal von den Schiffen selbst getragen, teils als nebenbei mitgenommene Botschaften, teils als Hauptaufgabe im Falle der Postschiffe. Auch an Land gab es eine optische Signalübermittlung über recht große Entfernung. Während der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts arbeiteten sowohl Semaphore genannte Signalmasten mit beweglichen Holzarmen, deren verschiedene Stellungen Buchstaben oder komplexe Zeichen bedeuteten, als auch Shutter, die eine Nachrichtencodierung durch verschließbare Öffnungen auf einer Tafel erreichten. So wurde zum Beispiel der Weg von London in die wichtigen Marinehäfen von Portsmouth und Plymouth überbrückt, wobei die Übertragung eines Wortes mit sechs Buchstaben eine ganze Minute in Anspruch nahm.

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Die Reise

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hielt sie aber erst mit der zusätzlichen Möglichkeit der drahtlosen Telegraphie mit Beginn des 20. Jahrhunderts.7 Zwei Beispiele aus den Medical Journals sollen die Dimensionen der langen Reise nach Indien und China verdeutlichen. Die Nimrod fuhr am 8. April 1857 in Plymouth ab und gelangte am 7. Juli nach Singapur, am 18. Juli nach Hongkong, am 1.  August nach Shanghai und am 4.  August an ihr Ziel, die chinesische Hafenstadt Ningpo. In der Sommerzeit war die Hitze, »wie zu erwarten war, beträchtlich« (»as might be expected«). Das Thermometer zeigte häufig über 32 Grad Celsius (»frequently 90° and upwards in the shade«).8 Auch noch im Jahre 1870 war es eine sehr lange Reise, um zum Beispiel ein Marinebatallion von England an seinen Bestimmungsort Yokohama zu bringen. Zunächst war die »Juno« von Anfang November 98 Tage lang bis Hongkong unterwegs, selbst als sie schon »via Suezkanal« nicht mehr um das Kap der Guten Hoffnung segeln musste. Am 10.  Februar 1871 in Hongkong angekommen, stieg das ­Bataillon auf die Princesse Charlotte um und blieb noch bis zum 10.  Mai dort, um dann schließlich an Bord der Adventure nach Japan weiter zu segeln.9 Die kurze Reisebeschreibung eines der kleinsten Schiffe unserer Quellen, der Thistle, liest sich, nachdem es in Sheerness Ende 1870 vom Stapel gelaufen Selbst noch mit der Radio- beziehungsweise Funkübermittlung ging das Ringen um eine (rein phonetisch) sichere Verständigung weiter. Ständig neue Standardalphabete wurden erfunden. Das uns geläufige sogenannte NATO-Alphabet »Alpha, Bravo, Charlie, Delta« und so weiter stammt erst aus einer englisch-amerikanischen Konferenz aus dem Jahre 1956. Vgl. hierzu: Molt, Elizabeth: Language: Dictionaries, in: Hattendorf (Hg.): Oxford encyclopedia 2007, S. 318–321. Zur geschichtlichen Entwicklung der optischen Signalgebung auf See siehe: Draeger, Joerg: Von der Antike zur Neuzeit. Die Bedeutung der optischen Signalgebung für die Seefahrt, Schiff und Zeit (2011), S.  22–27; Lavery, Brian: Nelson’s navy, London 1989, S. 255–264; 295–316; Adam, S. 58–59, 249–261. 7 Brennecke, Jochen: Windjammer, Herford 1968, S. 118. 1897 sandte Guglielmo Marconi die ersten »Funktelegramme« von einer Landstation bei La Spezia zu einem zwölf Kilometer entfernten Schiff. (Ebd., Anm. 209, S. 347) Zur Geschichte der Navigationsinstrumente zur Bestimmung von geographischer Breite, Fahrtrichtung, Fahrtgeschwindigkeit und Zeit, mit der dann die Längengradbestimmung erfolgen konnte, siehe: Paselk, Richard: Measurement of Altitude, in: Hattendorf (Hg.): Oxford encyclopedia 2007, Bd. 3, S. 29–42; Broelmann, Jobst: Measurement of Direction, in: Hattendorf, ebd., S. 42–52; Harvey, J. E.: Measurement of Distance and Speed, in: Hattendorf, ebd., S. 52–59; Turner, Anthony: Measurement of Time, in: Hattendorf, ebd., S. 59–67, speziell zur aufregenden Geschichte der Längengradbestimmung siehe Turner, Anthony: Longitude Finding, in: Hattendorf, ebd., S.  405–415. Einen Überblick über die Entwicklung der elektrischen Telegraphie, ein halbes Jahrhundert mit Hilfe von Untersee-Kabeln, die für die ostindische Station allerdings keine Hilfestellung sein konnte, endlich dann in Form der Wireless Telegraphy, siehe: Andrews, Peter: Electric Telegraphy, in: Hattendorf, ebd., Bd. 4, S. 119–121; Happel, Günter: Seekabel, Schiff und Zeit (2012), S.19–25. 8 Rose, John, HM Sloop Nimrod 1. Teil, 24.3.1857–24.3.1858, TNA, ADM 101/164/1A, Gen. Remarks. 9 House of Commons 1872 (120) Navy (health): Stat. Rep. für 1870–71, S. 31.

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war, so: »During the year 1871 the ship has been employed preceeding to Malta, Port Said, the passage of the Suez Canal, Suez, down the Red Sea, Aden, Bombay, Trincomalee. Singapore, arriving at Hongkong June 1st. Remained at Hongkong until July 23 when the Ship was suddenly ordered to Canton ….« In Kanton war eine sehr bedrohlich klingende »Proklamation gegen die barbarischen Missionare« aufgetaucht, worauf der britische Konsul um Präsenz eines Kriegsschiffes bat. Nur bis zum 9. August lag die Thistle dort, lief dann nochmals nach Hongkong und über Amoy und Shanghai nach Nagasaki, wo sie den Rest des Jahres blieb.10 Auf der Reise nach Ostasien mussten die drei unterschiedlichen meteoro­ logischen Großräume des Atlantiks, des Indischen und des Pazifischen Ozeans berücksichtigt werden. Im Ankunftsgebiet waren die Monsunwinde der entscheidende Faktor. Im Indischen Ozean bringt der Südwest-Monsun etwa von Juli bis September gleichmäßigen Wind, aber auch bei 80 % Luftfeuchtigkeit heftige Wolkenbrüche (»burst«) entlang der Westküste Indiens, entsprechend der Nordost-Monsun von Dezember bis Februar tropische Regengüsse entlang der Ostküste. Weniger ausgeprägt sind diese Verhältnisse im Bereich des malayischen Archipels. Die chinesischen und japanischen Küsten kennzeichnen kalte winterliche Luftströmungen vom asiatischen Festland und feuchtwarme sommerliche vom Pazifik. Jahrhunderte hindurch mussten Segelschiffe aus Europa rechtzeitig um das Kap der Guten Hoffnung kommen, um ohne Überwinterung bis nach China zu gelangen. Auf der Rückfahrt konnte es im südlichen Sommer von Mai bis Oktober rasch ein Ding der Unmöglichkeit werden, gegen die Westwinde des Atlantiks die Südspitze Afrikas zu umrunden. Schließlich waren, besonders entlang der afrikanischen Ostküste, die Meeresströmungen zu nutzen oder zu meiden.11 Ohne fest eingeplante Aufenthalte in den militärisch gesicherten Häfen von Gibraltar, Malta und Aden auf dem Weg durch den Suez-Kanal oder auf den Inseln Ascension und St. Helena und in Simon’s Town am afrikanischen Kap bei der Fahrt um den afrikanischen Kontinent wäre die Strecke auch im 19. Jahrhundert nicht zu bewältigen gewesen. Mit dem hier gewählten Untersuchungszeitraum haben wir die Übergangszeit von der Segelschifffahrt zur Dampfschifffahrt vor uns. Dies bedeutete während der gesamten 50 Jahre zwischen 1830 und 1880 einen gleichzeitigen Einsatz beider Technologien.12 Die großen Strecken auf offener See wurden in dieser Über-

10 Mulcahy, Edward, HM Gun Vessel Thistle 25.10.1870–31.12.71, TNA, ADM 101/183, Gen. Remarks.. 11 Eine hervorragende Quelle für einen Überblick findet sich in Bd.  16 Macropaedia,­ Encyclopædia Britannica, Chicago 2007, einige spezielle Hinweise auch bei Koninckx, C.: The Swedish East India Company, in: Bruijn, Gaastra, S. 121–138. 12 In genauen Zahlen errechnet dies: Friel, Ian: Maritime history of Britain and Ireland c. 400–2001, London 2003, S. 194–232.

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gangszeit immer unter Segeln zurückgelegt. Kohle war nicht nur teuer, auch der Stauraum für das Brennmaterial war in den rein hölzernen Rümpfen mit ihren begrenzten Ausmaßen knapp, und Bunkerhäfen mit Kohlevorräten waren noch sehr dünn gesät. In den Häfen jedoch, in der Annäherung an Land, in extremen Wetterbedingungen, war die Maschine die entscheidende Hilfe, sich von wetter- und strömungsbedingten Zufällen unabhängig zu machen. Und dass die Kriegsmarine Interesse an dieser neuen Art von Berechenbarkeit und damit Zuverlässigkeit hatte, steht außer Frage. Ein Beispiel der konkreten Verteilung der gesegelten und der unter Dampf zurückgelegten Reiseabschnitte finden wir im Medical Journal der Highflyer. Surgeon Charles Courtney machte sich die Mühe, die Zeiten der verschiedenen Antriebsarten während des Einsatzes vom 4. August 1856 bis zum 31. Mai 1861 nach Tagen, Stunden und sogar Minuten (die auf 30 auf- oder abgerundet sind) zu errechnen. Für die Hinfahrt von England nach China im Jahre 1856 benötigte die Highflyer demnach sieben Monate. Dabei lief sie 160 Tage nur unter Segeln, 8 Tage gleichzeitig unter Dampf und Segeln und 23 Tage nur unter Dampf. Für die drei Monate und 13 Tage dauernde Rückfahrt im Jahre 1861 waren dies 85 Tage nur unter Segeln, zwei Tage unter Dampf und Segeln und zehn Tage nur unter Dampf. Die Tabelle unterrichtet uns außerdem darüber, dass das Schiff in seiner Zeit am Einsatzort überwiegend in dem Fluss Kanton nahe seiner Mündung in das Chinesische Meer vor Anker lag. So kamen im ersten Jahr (mit der Ausfahrt nach China)  20 774 Seemeilen und im letzten Jahr (mit der Rückfahrt) 14 771 Seemeilen zustande. Im zweiten und dritten Jahr waren es nur 2 363 bzw. 2 239 Seemeilen und im vierten Jahr 7 969 Seemeilen. Auch für die kürzeren Distanzen der mittleren Jahre war das Verhältnis Dampf zu Segel ähnlich wie auf den großen Reisen, ohne dass in diesen Jahren am Einsatzort gleichzeitig unter Maschine und Segel gefahren wurde. Insgesamt legte die Highflyer 48 116 See­meilen in 395 Tagen zurück, wovon 48 Tage solche unter Dampf waren, 336 Tage unter Segel und elf unter beiden Antriebstechniken. Knapp ein Siebtel der Reisetage überhaupt waren also solche unter Dampf. Surgeon Courtney hält in seinem Journal fest, dass die lange Zeit vor Anker keineswegs die Gesundheit der Besatzung geschont habe, vielmehr der Krankenstand an Bord des Öfteren so hoch wie auf einem Line of Battle Ship (einem »Linienschiff«, der größten Klasse von Kriegsschiffen) gewesen sei. Dies sei auf die harten klimatischen Bedingungen in dem Fluss mit angrenzendem Schwemmland und Sümpfen zurückzuführen, wodurch die klimabedingten Krankheiten wie Fieber, Dysenterie und blasenbildende Hautentzündungen häufig gewesen seien. Insgesamt seien die Heizer die kränkste Gruppe an Bord, und dies trotz der wenigen Betriebstage der Maschine. Auch hierfür sieht er den Hauptgrund im örtlichen Klima. Wenn die größere Statistik der ostindischen Station dies bestätige, so der Surgeon, müsse darüber nachgedacht werden, ob

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nicht wegen dieses Klimas mehr Chinesen als Heizer eingestellt werden sollten, um dadurch »viele wertvolle Leben zu retten«.13 Schlussfolgerungen Die lange Verpflichtungszeit für einen Seemann der Royal Navy war im Falle der ostasiatischen Flotte schon durch die sehr weite und lange Aus- und Rückfahrt bedingt. Wir begegnen diesen zeitlichen Dimensionen in der Problematik der Anpassungsstörung durch die weite Entfernung von der Heimat und der Entbehrung vertrauter Personen. Es gab außer der Rücksendung nach England kein Hilfsmittel, war man erst einmal unterwegs. Auch die Rückreise im Falle von Dienstunfähigkeit dauerte Monate und war ihrerseits eine beschwerliche und bei eingeschränkter Gesundheit manches Mal lebensbedrohlich gefährliche Seereise. Für die Situation an Bord der Segelschiffe der britischen Marine in den Gewässern und an den Küsten Ost- und Südostasiens sind die extremen klima­ tischen Bedingungen zu berücksichtigen. Dennoch nahm die Gesamtmorta­ lität auf den Schiffen im Laufe des 19. Jahrhunderts bemerkenswert deutlich ab. Hierbei spielten verschiedene hygienische Verbesserungen an Bord eine entscheidende Rolle, wodurch Auswirkungen von Hitze und Feuchtigkeit in Grenzen gehalten wurden. Das Klima blieb aber für die englische, irische und schottische Besatzung eine große physische und psychische Belastung. Wir erfahren in den Alltagsbereichen der Unterkunft und der Kleidung und der Versorgung mit Getränken sowie in den kasuistischen Abschnitten zum Hitzschlag von diesen extremen klimatischen Bedingungen, nicht nur im feuchtheißen Wetter Südostasiens, sondern auch in der trockenen Hitze an den arabischen Küsten. Wie hat man sich die Schiffe, auf denen sich der Alltag abspielte, vorzustellen?

13 Courtney, Charles F. A., HM Ship Highflyer 1.1.1859–31.12.1861, TNA, ADM 101/163, General Remarks. Es waren die Erfahrungen der East India Company aus dem zurückliegenden Jahrhundert offenbar noch präsent, als »die Ergänzung der Mannschaft durch eine erhebliche Zahl indischer Seeleute für die Rückreise andauernde Praxis« und schlicht notwendig war, um die Strapazen der Rückfahrt bei inzwischen geschwächter Verfassung zu überstehen. Die Krankheits- und Sterblichkeitsraten auf den Schiffen der E I C waren für die homeward bound Reisen zurück nach England deutlich schlechter als für die outward bound Reisen Richtung Asien. Genaue Zahlen bei: Chauduri, K. N.: The Englisch East India Company’s Shipping (c. 1660–1760), in: Bruijn, Gaastra, S. 49–80.

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Die Schiffe

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4.2 Die Schiffe Unserem Untersuchungsraum vorausgegangen war die Periode der Napoleonischen Kriege von 1793 bis 1815 und auch die eineinhalb Jahrzehnte mit rascher Verringerung der Flottenstärke. Großbritannien hatte die Seemächte Frankreich und Spanien militärisch überflügelt und dafür maximale konstruktive, technische und finanzielle Anstrengungen zuwege gebracht.14 Nach dem historischen Trafalgar-Sieg 1805 unter dem Kommando Horatio Nelsons dauerten die Kriegshandlungen noch bis 1815 an. Von 218 zum Teil sehr großen Schlachtschiffen, 309 Fregatten und 261 Sloops sank die Zahl bis 1820 auf je etwa die Hälfte, bis schließlich im Jahre 1830 nur noch 106 zumeist kleinere Schlachtschiffe und 144 Fregatten und kleine Schiffe übrig blieben.15 Drei Arten von Schiffen bestimmten die Lebenswelt an Bord, die hier untersucht werden soll: Die Fregatte, die Korvette und die Sloop.16 In Bauart und Ausstattung dieser Schiffstypen spiegelt sich die neue Funktion der britischen Kriegsmarine wider: nicht mehr der offensive Kriegseinsatz, sondern die Patrouille, weltweit, auf allen Meeren. Mitte des 19. Jahrhunderts und damit auch in der Mitte unseres Untersuchungszeitraumes vollzog sich der Wandel nicht nur vom Segel- zum Dampfschiff, sondern auch vom massigen, trägen Battle Ship oder Ship of the Line zur schlanken, schnellen Fregatte als dem Hauptschiffstyp für die Kriegsmarine. Im letzten Drittel des Jahrhunderts kam ein weiterer Wandel in Form der gepanzerten Schiffe, der Ironclad Ships, hinzu, denen wir in der ostasiatischen Flotte jedoch nicht begegnen.17 Fregatte (Frigate)  meinte seit dem 17.  Jahrhundert einen relativ kleinen, schnellen Schiffstyp, den alle Marinen nutzten. Im 18. Jahrhundert war sie durch drei Masten und ein oder zwei Decks, die 20 bis 44 Kanonen trugen, gekennzeichnet. »Sie waren groß genug, um Kanonen von bedeutender Schusskraft zu tragen, aber schnell genug, um größeren feindlichen Schiffen zu entkom 14 Gardiner, Robert: Frigates of the Napoleonic Wars, London 2006. 15 Die nächst großen Kriegsflotten unterhielten nun Frankreich und Russland. Ein neuer mächtiger Gegner auf See war in den Vereinigten Staaten von Amerika erwachsen. Dies hatte der Krieg Englands gegen die USA 1812 bis 1815 deutlich gemacht. Vgl.: Sondhaus, Lawrence: Naval warfare, 1815–1914, London 2001, S. 1–15. 16 Wobei nicht übersehen werden darf, dass bis in die letzten Jahrzehnte des 19.  Jahr­ hunderts hinein alle Marinen der Welt aus einer »bunten Mischung sämtlicher Schiffstypen, sofern sie nur groß genug waren«, bestanden. Vgl.: Black, Jeremy: The British seaborne empire, New Haven 2004, S. 103. Wells zählt 20 Konstruktionstypen für diese Zeit. Vgl.: Wells: Navy, S. 19. 17 Diese Panzerschiffe gaben dieser Periode der letzten Jahrzehnte bis 1905 den Namen Iron Clad Age. Neben der eisernen Rumpfpanzerung waren die Schiffe mit Vorder- und Hinterladerkanonen ausgerüstet. die am Ende der Entwicklung nicht mehr auf der ganzen Länge der Schiffsseiten, sondern nun als Central Battery in der Rumpfmitte konzentriert standen.

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men«, bringt es Lavery auf den Punkt.18 War ihre Verwendung in Seekämpfen eher hinter der eigentlichen Kampflinie, wurden sie vor allem in Friedenszeiten in weit entfernten Flottenstationen zum Schutz nationaler und ökonomischer Interessen eingesetzt. Mit Einführung des Hilfsantriebes durch die Dampfmaschine während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs die Größe nach und nach auf 6 000 Tonnen Wasserverdrängung und 200 Fuß Rumpflänge an, was Mannschaftsstärken bis 500 Mann möglich und notwendig machte.19 Nach 1870 verschwand die Typenbezeichnung Frigate in der Royal Navy und wurde durch Cruiser ersetzt, bis sie 1940 wieder eingeführt wurde.20 Die technische Seite der Fregatten fasst Bathe so zusammen: »Charakteristisch für die Schiffe dieser Epoche war die klare, einfache Silhouette, in der der runde Bug und das vereinfachte Heck durch ein gerade durchgehendes Schanzkleid abgeschlossen wurden. Die Schiffe hatten fast vertikale Seiten – eingezogene Bordwände waren abgeschafft –, die Decks wurden dadurch breiter und gaben mehr Fläche. Niedrig gebaut, hatten diese Schiffe drei hohe Masten, die eine wesentlich größere Segelfläche fuhren, als zu Ende des 18. Jahrhunderts üblich gewesen war.«21 Corvette und Sloop waren kleinere, sehr variable Schiffstypen, die nicht mehr unter die sechs einigermaßen standardisierten Klassen fielen und damit als Unrated Ship galten.22 Am bedeutendsten war die Sloop. Ursprünglich ein mit nur einem Mast ausgestattetes Schiff bezeichnend, wurden nach und nach auch zwei- und dreimastige Schiffe so genannt.23 Formal bekam der Begriff während der englisch-französischen Kriegsjahre die Bedeutung, dass dieses Schiff von einem Commander und nicht nur von einem Captain geführt werden konnte.24 Die deutschen Begriffe »Schaluppe«, »Schlup« oder auch »Slup« sind als Übertragung der englischen Sloop problematisch, wenn nicht gar irreführend, denn diese deutschen Namen bezeichnen viel eher kleinere Beiboote, die im Englischen Shallow und Yawl heißen.25 Dieser Schiffstyp, dem wir neben den Fre 18 Lavery, Brian: Nelson’s navy, London 1989, S. 49. 19 Die Weiterentwicklung dieses Schiffstyps im 19.  Jahrhundert behandelt Macintyre, Donald; Bathe, Basil W.: The Man-of-War, London 1968, S. 70–86 . 20 Glete, Jan: Frigate, in: Hattendorf (Hg.): Oxford encyclopedia 2007, Bd. 2, S. 68–69. 21 Bathe, Basil W.; Jobé, Joseph: Der Segelschiffe große Zeit, Bielefeld 1977, S. 183. (Original englisch.) 22 Die First- und die Second Rate Ships waren traditionell Dreidecker mit circa 700 bis 1000 Mann Besatzung, die Third- und Fourth Rate Zweidecker mit 350 bis 700 Mann und die Fifth- und Sixth Rate Eindecker mit 150 bis 350 Mann Besatzung. Die Besatzungsstärke kann erheblich variieren, wie wir es anhand der hier untersuchten Fregatten weiter unten feststellen werden, die deutlich stärker besetzt waren, als es ihre zumeist vorgenommene Einordnung in die fünfte und sechste Klasse vermuten lässt. 23 Die genauere Unterscheidung nennt die zweimastige Version Brig Sloop, im Unterschied zur dreimastigen, der Ship Sloop. 24 Adam, S. 148. Lavery: Nelson’s navy, S. 52. 25 Damit lässt sich allerdings die von anderen Autoren nebeneinander als Unterscheidung verwendete Bezeichnung Sloop und Corvette nicht abbilden.

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gatten in unserem Quellenmaterial begegnen, zeichnete während der ersten Jahrzehnte die Marine des weltumspannenden British Empire aus. »Von den Napoleonischen Kriegen bis ungefähr 1860 wurde ein gut Teil dessen, was wir die Pax Britannica nennen, von kleineren Navy-Schiffen erhalten, zumeist den schön anzuschauenden rahgetakelten Korvetten«, würdigt Archibald ganz besonders diese Art Schiffe.26 Vor dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts waren die Schiffe zugunsten einer großen Anzahl möglichst klein gebaut worden. In den Jahren der Napoleonischen Kriege wurden sie immer größer dimensioniert, bis sie um 1800 bis 1820 die größten Dimensionen der rein hölzernen Kriegsschiffe (dann mit über 1000 Mann Besatzung) erreichten. Bemerkenswert ist, dass die Lebens-, zumindest aber die Einsatzdauer eines solchen Schiffes auf nur zehn Jahre veranschlagt wurde. Fäulnis, Wurmfraß und andere materialbedingte Hindernisse ließen die Schiffe rasch seeuntüchtig werden. Für gewöhnlich musste ein Schiff schon nach einem Einsatz von drei Jahren zur gründlichen Überholung in die Werft. Entsprechendes galt für die Schiffe der Handelsmarine: Von den Segelschiffen der East-India-Company für den Teetransport aus Indien konnten meist nur vier Hin- und Rückreisen und damit zehn Jahre Nutzungsdauer erwartet werden.27 Die Konstruktion der für die Kriegsmarine gebauten Schiffe wurde von der Erfahrung mit dem Bau der viel zahlreicheren Handelsschiffe beeinflusst. Die englischen Blackwall-Fregatten, die die Masse der Ostindien- wie auch der Australienfahrten bewältigten (und für diese Reisen ein bis eineinhalb Jahre vom Auslaufen bis zur Rückkehr benötigten), und die noch etwas schnelleren amerikanischen Baltimore-Klipper hatten mit ihren immer neuen schiffsbautechnischen Verbesserungen starken Einfluss.28 Die Schnelligkeit dieser Segler, zunächst gar nicht Kennzeichen für Schiffe der Handelsmarine, rührte von ihrer Verwendung für den Sklavenhandel zwischen Afrika und Amerika und für den Opiumhandel zwischen Indien und China her. Die Schiffe waren darauf angewiesen, englischen beziehungsweise chinesischen Verfolgern zu entkommen, die beide Arten von »Handelsgeschäft« unterbinden wollten.29 26 Archibald, E.: The Wooden Fighting Ship in the Royal Navy AD 897–1860, Norwich 1968, S. 83. Dieser Autor erläutert neben vielen technischen Details, die für uns nicht unmittelbar relevant sind, auch jenes, dass die Masten, auch wenn es bereits mit Dampfmaschine ausgestattete Schiffe waren, immer höher wurden. Dies ist für den relativ häufigen Unfall durch Sturz aus der Höhe der Takelage von Bedeutung. 27 Krieger, Martin: Tee, Köln 2009, S. 113. 28 Archibald, S. 191–235. 29 Abell, Westcott Stile: The Safe Sea, Liverpool 1932, S. 38. Die Royal Navy erhielt dabei mit dem Bemühen, den Sklavenhandel zu unterbinden, seit 1807 und bis weit in die Mitte des Jahrhunderts hinein, eine neue Aufgabe. Waren es zu Beginn nur ein halbes Dutzend Fregatten und Korvetten, wurden um 1845 schon insgesamt 25 Schiffe eingesetzt, um entlang der 3000 Meilen langen westafrikanischen Küste zu patroullieren und sich immer wieder Auf-

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Der Alltag an Bord

Das letzte Schiff mit hölzernem Rumpf lief in Großbritannien 1875 vom Stapel, nachdem noch 1858 neunzig Prozent der in England und den USA gebauten Schiffsrümpfe aus Holz waren.30 Nicht zuletzt der schiere Holzmangel hatte den Wechsel zum Baumaterial Eisen in Gang gesetzt und beschleunigt. Bald gab es nur noch Composite Hulls aus Holz und Stahl, wobei typischerweise die inneren Verbände wie Spanten und Decksbalken aus Eisen, die Beplankung aber aus Holz bestand, sowie reine Eisenschiffe, komplett aus Stahl gebaut. Mit diesen vollzog sich im Laufe der 1880er Jahre der Wandel zum nächsten Schiffstyp, dem Ironclad und dem Dreadnought als dem wesentlich größeren Panzerschlachtschiff. Damit wurde der Schiffsbau abhängig von potenter Schwerindustrie.31 Das Empire produzierte weltweit. Von den 35 Schiffen, die 1863 in Ostindien operierten, waren zehn in Sheerness gebaut, neun stammten aus der Werft von Portsmouth, fünf aus der von Devonport und zwei aus Woolwich. Fünf Schiffe waren in Hongkong gebaut, aber auch je eines in Shanghai und Bombay. Für

holjagden mit den Sklavenschiffen zu liefern. Wegen des Dauereinsatzes auf hoher See, abgeschnitten von heimischen Kontakten, war dieser Dienst bei Offizieren ebenso unbeliebt, wie bei den Matrosen begehrt. Er wurde als seemännisch fordernd und als sinnvoll empfunden. Und es gab, als Ausnahme in diesen ansonsten friedlichen Zeiten, Prize Money, Belohnung, deren Höhe von der Zahl befreiter Sklaven abhing und bei den relativ kleinen Schiffen unter einer recht kleinen Zahl von Leuten aufgeteilt werde musste. Vgl.: Lavery: Royal tars, S. 295– 297. Wells beschreibt diese Einsätze als »gute Sache, die aber eine beträchtliche Zahl Menschenleben gekostet haben« und deshalb damals als »White Man’s Grave«, als Grab des weißen Mannes, bekannt gewesen seien. Wells, S. 10. 30 Abell, ebd., S. 37. In den USA wurde der Bau hölzerner Klipper noch bis in die 90er Jahre fortgesetzt. In den letzten Jahrzehnten des Holzschiffsbaus waren die USA deshalb im Vorteil, weil sie genügend Holz zur Verfügung hatten. Großbritannien musste teures Holz aus allen Kontinenten importieren. (Ebd.) 31 Nicht die Konstruktion der einzelnen Schiffe machte Großbritannien so überlegen, vielmehr »beruhte seine größere Effektivität weitgehend auf seiner Kapazität, mehr Schiffe und verschiedene Schiffstypen zu bauen und zu unterhalten, auf seiner breiten und wirksamen Verwaltung, auf seiner öffentlichen Finanzkraft und schließlich auf seinen guten seemännischen Führungskräften.« Vgl.: Black, Jeremy: War in the nineteenth century, Cambridge 2009, S. 72. Zur Bedeutung der Hafenwirtschaft mit ihren vielen Arbeitsplätzen, den von ihr ausgehenden Handelsströmen und der Werftindustrie siehe: Black: Seaborne empire, S. 198–203. Die Hafen- und Werftstadt Liverpool war um 1840 mit 140 000 Menschen auf einer Quadratmeile die am dichtesten bevölkerte Stadt der Welt. Die City of London mit ihrem »Gentleman-Kapitalismus« beherrschte durch ihren gigantischen Export von Kapital in alle Winkel des Empires die Wirtschaft. Vgl.: Lambert, Andrew: Wirtschaftliche Macht, technologischer Vorsprung und imperiale Stärke: Großbritannien als einzigartige globale Macht 1860–1890, in: Epkenhans, M.; Groß, G.: Das Militär und der Aufbruch in die Moderne 1860 bis 1890, München 2009, S.  243–268, S.  244. Die Migration verstärkte sich. Von den englischen, schottischen und irischen Häfen wanderten in den hundert Jahren zwischen 1815 und 1914 insgesamt 22,6 Millionen Menschen in die verschiedenen Regionen, hauptsächlich die USA, Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika, aus.

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eines dieser Schiffe ist keine Werft angegeben.32 Die ostindische Flotte der Royal Navy umfasste zwischen 14 Schiffe im Jahr 1830 und 52 Schiffe im Jahr 1871. In den statistischen Jahresberichten finden sich alle Schiffsklassen vom Ironclad über die Fregatten, Korvetten, die Sloops, die Kanonenschiffe (Gun Vessel) bis zu den kleinsten Schiffen, den Kanonenbooten (Gun Boat). Die Tonnage lag zwischen knapp 3 000 Tonnen und ca. 200 Tonnen. Waren in den Statistical­ Reports für die Jahre 1830 bis 1843 noch zur Beschreibung der Schiffsgröße neben der Mannschaftsstärke lediglich die Zahl der Kanonen ausreichend, taucht im Bericht von 1856 zusätzlich die Information auf, ob eine Dampfmaschine an Bord ist. Neben zwölf reinen Segelschiffen waren in diesem Jahr schon fünf mit Dampfmaschinen ausgestattet. Zwei von ihnen hatten als Antrieb seitlich angebrachte Schaufelräder (paddle wheel), waren also Raddampfer, drei hatten dafür eine am Heck angebrachte Schraube (screw), technisch genauer gesagt, einen Propeller.33 1863 gab es in der ostindischen Flotte von 35 Schiffen bereits 26 dampfgetriebene Schiffe mit Schraube sowie sechs mit Schaufel­ rädern und nur drei reine Segler, bei denen es sich um ein Quartierschiff, um ein Gefängnis- und um ein Hospitalschiff handelte.34 1871 sind unter den insgesamt 42 Schiffen der East India Station und der China Station nur noch Dampfschiffe. Der Dampfantrieb wird gar nicht mehr besonders erwähnt.35 Dass neueste Technologie und entsprechend viele Finanzmittel in der bri­ 32 House of Commons 1866 (458) Navy (health): Stat. Rep. für 1863, S. 252. Zur Bedeutung der Dockanlagen, die zwischen 1860 und 1890 im ganzen britischen Weltreich entstanden, siehe Lambert, Andrew, ebd. »Trockendocks ermöglichten es der Royal Navy, Geschwader zu jedem Ort der Welt zu entsenden und sie dort bereitzuhalten. Sie waren lebenswichtig für den wirksamen Einsatz von Einheiten der Seestreitkräfte.« (Ebd., S. 254) Die wichtigsten Anlagen waren in militärischen Festungen integriert, andere waren als privat betriebene Docks gegen privilegierte Nutzung von der Navy nur mitfinanziert. Wirksam wurde diese Technologie allerdings nur im sorgfältig berechneten Zusammenspiel »britischer Telegrafenverbindungen, britischer Kohle und britischer Trockendocks«. (Ebd., S. 268) Einen Überblick über die wichtigsten Werften weltweit liefert Voogd, Cees de: Shipbuilding, Commercial, in: Hattendorf (Hg.): Oxford encyclopedia 2007, Bd. 3, S. 566–584. 33 House of Commons 1858 (473) Navy (health): Stat. Rep. für 1856, S. 154. Bei Schräglage des Schiffes, wenn es gleichzeitig unter Segeln fuhr, arbeitete das Rad auf der dem Wind zugewandten Seite ineffektiv, wenn es zu wenig in das Wasser eintauchte. Ein berühmt gewordener, verblüffend einfacher Test hatte 1845 die Überlegenheit des Propellers gegenüber dem Schaufelrad gezeigt. Die beiden, einschließlich ihren Dampfmaschinen von je 220 PS baugleichen Fregatten Rattler und Alecto waren Heck an Heck durch ein Tau aneinandergebunden und gaben Volldampf. Die mit dem neuartigen Propellerantrieb ausgestattete Rattler zog ihr Schwesterschiff mit 2,7 Knoten rückwärts davon. Vgl.: Kemp: Oxford companion. Die erste militärische Aktion, an der dampfbetriebene Schiffe teilnahmen, war der »BurmaKrieg« von 1822. Mit Dampfmaschine ausgestattet waren 1807 die Clermont auf dem Hudson River, 1812 die Comet auf dem schottischen Fluss Clyde und 1819 die Caledonia auf der Ostsee. 34 House of Commons 1866 (458) Navy (health): Stat. Rep. für 1863, S. 252. 35 House of Commons 1872 (120) Navy (health): Stat. Rep. für 1870–71, S. 23–28.

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tischen Flotte eingesetzt wurden, geht aus den Angaben zum Baujahr der Schiffe für das Berichtsjahr 1863 hervor. Ein einziges von 35 Schiffen war vor 1859 gebaut, also älter als vier Jahre. 22 waren erst zwischen 1860 und 1863 vom ­Stapel gelaufen. Die Mannschaftsstärke lag für die Fregatten bei 300 bis 600 Mann, für die Korvetten bei 100 bis 200. Die Kanonenschiffe hatten rund 100 Mann, die Kanonen­boote ca. 50 Mann an Bord. Die Zahl der Kanonen betrug 84 für das größte Schiff (die Calcutta mit 690 Mann im Jahre 1856) über etwa 40 Kanonen (auf der Pique mit 320 Mann) bis sechs Kanonen auf dem kleinsten Boot (z. B. der Barracouta mit 150 Mann).36 In jedem englischen Text spiegelt sich wider, was im Bewusstsein des englischen Seefahrers fest verankert ist: Ein Schiff ist eine »sie«. Zahllos sind die Kommentare zu diesem Umstand, und häufig deuten sich in ihnen Projektionen tradierter Geschlechter-Klischees an. Broecheler nennt sie direkt beim Namen: Das Schiff bedeute für den Seemann das Unberechenbare ebenso wie das zu Bezwingende und das Ersehnte und sei deshalb weiblich.37 Die Schiffsärzte schreiben ohne Ausnahme »she«, wenn sie über ihren Arbeitsplatz schreiben. Die Namensgebung der Schiffe ist selbstredend ein weites Feld der Phantasie. Sie sind zunächst auf die großen mythologischen Figuren getauft, so dass es eine Perseus, eine Centaur, eine Sphinx, eine Thetis, eine Charybdis, eine Vulcan und eine Odin gibt. Sodann gibt es sämtliche Tiere, mithin die Leopard, die Klapperschlange (Rattler), mit besonderer Vorliebe aber Vögel, so die Kormoran (Cormorant), die Ringeltaube (Ringdove), die Elster (Magpie)  und natürlich die Schwalbe (Swallow). Und schließlich treffen wir mit der Frechen (Insolent), der Knurre (Growler), der Sittsamen (Modeste), der Virginie und der Coquette auf die schiere Projektion menschlicher Eigenschaften. Anhand dreier Beispiel sollen die Schiffe der hier untersuchten Flotte vorgestellt werden. In einigen der Medical Journals gibt es zu Beginn der General Remarks eine kurze Charakterisierung des Schiffes, auf dem der Surgeon Dienst tut, mit dem Baujahr und der Werft, aus der es stammt, dann der Länge, Breite, des Tiefgangs, der Zahl an Kanonen und eventuell der Stärke der Dampfmaschine. Seltener allerdings wurden, wie im ersten Beispiel, darüber hinaus auch die den Mediziner besonders interessierenden Mengenangaben bezüglich Proviant, Salz und Wasser in Fässern bzw. Tanks und das durch Destillation täglich herstellbare Trinkwasser angefügt. Die Pylades, von der ein Journal aus dem Jahre 1858 erhalten ist38, eine Wood Screw Steam Corvette, war 1854 in der Werft von Sheerness in Eng 36 House of Commons 1858 (473) Navy (health): Stat. Rep. für 1856, S. 28. 37 Broecheler, Kirsten: Seereisen in der englischsprachigen Romanliteratur vom 18. bis 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1998, S. 216. 38 Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 1. Teil, 25.2.–31.12.1858, TNA, ADM 101/167.

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land gebaut worden und bis 1875 im Dienst der Royal Navy. Sie war 192 Fuß lang, 33 Fuß breit und hatte einen Tiefgang von 19 Fuß. 21 Kanonen waren an Bord. Die Dampfmaschine trieb mit ihrem horizontal arbeitenden Kolben mit 360 PS einen Schiffspropeller an. 10½ Knoten sind als höchste Fahrtgeschwindigkeit angegeben. Die Mannschaft umfasste 260 Mann. Für sie wurde Brot für 90 Tage, Salzfleisch für fünf Monate und insgesamt an Wasser 47 Tons, das sind knapp 48 metrische Tonnen, mitgeführt. Zusätzlich konnten täglich, wenn erforderlich, 2 000 Gallons39 Wasser (7571 Liter) aus Meerwasser destilliert werden. Die 1867 in Deptford aus Eiche und Mahagoni erbaute Juno40, eine Bark von 210 Fuß Länge, ebenfalls mit Schraubenantrieb, konnte durch Verlängerung des Zwischendecks zu einem Truppendeck für Transportzwecke zusätzlich zu ihrer üblichen Besatzungsstärke von 235 Mann bis zu 326 »überzählige Matrosen oder Soldaten« (Supernumeraries) aufnehmen. Diese wurden dann in einem großen, mittschiffs gelegenen Schlafraum von 38 Metern Länge in 226 Hängematten untergebracht, die Offiziere in einem Military Saloon genannten Teil mit sieben Kabinen im Heckbereich. 100 weitere Schlafgelegenheiten standen zusätzlich zur Verfügung, wenn Tische und Stühle in dem Schlafraum zu einer Fläche zusammengesetzt wurden. In Notfällen und für Stunden konnte, ohne Bereitstellung von Schlafplätzen, die Gesamtzahl zusätzlicher Menschen an Bord sogar auf 500 erhöht werden. Dann war offensichtlich die Höchstgrenze erreicht. Verpflegt wurden die Matrosen und Soldaten in 31 Messen, ausgelegt für je zehn Mann. Weil die Juno offenbar gezielt für den Transport von Mannschaften eingesetzt werden sollte, war sie nur mit acht Kanonen ausgestattet. Ein weiteres Beispiel einer prägnanten Schiffsbeschreibung findet sich im Journal der Thetis von 1873.41 Das Schiff ist konstruiert und gebaut in Devonport von Designer Mr. Rud, vom Stapel gelaufen am 26. Oktober 1871 und in Dienst gestellt am 1. Februar 1873. 1887 wurde sie in Plymouth verkauft. Die Composite Construction aus hölzernem Rumpf und eisernem Mast und Rahen hat eine Länge von 220 Fuß, eine Breite von 36 Fuß und eine Höhe (vermutlich der Bordwand über Wasserspiegel) von 7 Fuß. Die Dampfmaschine der Screw Corvette leistete beachtliche 2 100 Pferdestärken. Die Bewaffnung (Armament) bestand bei diesem recht kleinen und schnellen Schiff aus 14 Vorderlader­ kanonen von 68 Pfund (»14 Guns. 68 Pounders. Rifled Muzzle Loaders«). Kapitän war Thomas Le Hunk. Der Surgeon fügt seiner kurzen Beschreibung des 39 One Gallon: 4,546 Liter; One Ton: 1016 Kilogramm. 40 Norbury, Henry Frederick, HM Frigate Juno 4.11.1875–7.7.1876, TNA, ADM 101/195, General Remarks. 41 Magill, Martin, HM Screw Corvette Thetis 1.2.–31.12.1873, TNA, ADM 101/190, General Remarks.

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Schiffes Skizzen zweier Decks bei, die z. B. einen Drinking Tank und ein Prison aufweisen, ganz vorne im Bug die Captain’s Sleeping Cabin und Captain’s Pantry, direkt dahinter backbord einen Raum, der mit »A. Surgeon«, steuerbord einen, der mit »Doctor« ausgewiesen ist, dahinter die der Lieutenants, des Paymaster, des Chaplain, des Carpenter, einen Raum als »Eng. Bath Room« und als letzten abgeteilten Raum auf dem Plan, der ohne genaue Angabe mittschiffs endet, auf der Backbordseite, die Sick Bay. Schlussfolgerungen Wir haben es bei unseren Primärquellen mit physischen Bedingungen auf Schiffen zu tun, die dem für das 19. Jahrhundert so charakteristischen raschen technischen Wandel entsprechen. Die ganz klassischen »Geißeln« der Seefahrt mit einfachster Navigation, mit Hunger und Durst, mit Skorbut und verfaultem Brot und Wasser waren bereits oder wurden in dieser Zeit überwunden. Aber es waren (im Falle der Kriegsmarine) wie seit zwei bis drei Jahrhunderten mit Menschen vollgezwängte Schiffe, auf denen viele Hände gebraucht wurden. Mit Einführung der Dampfkraft standen zwei Technologien zur Verfügung, die parallel bedient werden mussten. Starker klimatischer Wechsel während der Reise, tropische Bedingungen, verstärkt durch die Hitze aus der Kohlebefeuerung der Dampfmaschine, in anderen Regionen natürlich entsprechende Belastungen durch Kälte, die ein Schiff durchdringen kann, blieben bestehen. Die Stahlschiffe wurden in der Sonne heißer, in der Kälte kälter als Schiffe mit Holzrümpfen. Um gute Luft an Bord wurde technologisch gerungen. Jede Art von aktiver Klimatisierung war noch so gut wie unmöglich. Mit dem Bewusstsein des absolut unausweichlichen Zusammengesperrt-Seins, zumindest auf hoher See, bekamen die rein physikalischen Bedingungen größte Bedeutung. Sie wirkten sich physisch und psychisch aus, und beide Faktoren wirkten wieder­ um aufeinander. Das Schiff war in dieser Hinsicht ein unberechenbares, hochkomplexes System innerhalb eines wiederum unberechenbaren Systems, nämlich des Meeres mit seinen Strömungen und Winden. Was hieß »Hitze aus der Maschine« konkret?

4.3 Die Maschine (»Stoke Hole«) Wir sahen bereits oben, dass 1863 nur in drei von 49 Schiffen eine Hilfsmaschine  fehlte und 1871 bereits alle Schiffe neben ihrer Besegelung eine Dampfmaschine besaßen. Die Arbeit vor den Kesseln brachte die Gefahr der Überwärmung des gesamten Organismus mit der Folge schwerer cerebraler Schädigung mit sich. Wir werden im Abschnitt »Heat Apoplexy« diesem Krankheitsbild begegnen.

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Die Kohle aus dem Bunker vor die Feuerlöcher zu bringen, war Sache der Kohlenzieher, das Befeuern der Öfen die Arbeit der Heizer. Rath42 beschreibt den Werdegang der von den Matrosen oft wenig angesehenen »Schwarzen«. Als Kohlenzieher, auch Trimmer genannt, fing man an, nach ein bis zwei Jahren konnte man, sofern man sich geschickt angestellt hatte, zum Heizer aufsteigen. Es gab keine Ausbildung, jedoch umso mehr Erfahrungswissen. Es galt, die unterschiedlichen Kessel- und Feuerungsarten, wie auch die unterschiedliche Beschaffenheit der Kohle einschätzen zu lernen und nicht zuletzt die 20 Kilogramm Kohlen einer Schaufelladung mit einem schnellen Schwung auf den bis zu zweieinhalb Metern langen Rosten gleichmäßig zu verteilen, um gerade so viel Hitze zu produzieren, dass der für die Maschine erforderliche Dampfdruck entstand. Hinzu kamen das regelmäßige »Aufbrechen« der brennenden Kohleschicht und das Herauskratzen der Schlacke. Bei diesen Reinigungsarbeiten bei geöffneter Feuertür entstand im Feuerraum die größte Hitze, weshalb während dieser Arbeit die meisten Hitzschläge auftraten. Das Beladen (»Bunkern«) der Schiffe mit Kohlen war Arbeit für alle. Winton schildert aus Sicht des Seemannes (wohl eines Handelsschiffes), der seit Jahrhunderten eingebürgert »Jack« oder »Jack Tar« (»Teer-Jack«) hieß, das Beladen: »Aber in vielerlei Hinsicht war Jack immer noch Jack. Er hatte seine Vorlieben und Abneigungen, und ganz besonders verabscheute er mit Kohle betriebene Schiffe. Das Beladen des Schiffes mit Kohle war eine Entwicklung, die jedem Mann an Deck Stunden schwerster Arbeit bescherte. Die Männer kamen in ihren bunten ›KohlenKleidern und Hüten‹; Säcke und Schubkarren wurden herbeigeschafft; das Deck wurde mit Sand bestreut; kleine Boote und andere bewegliche Gegenstände auf dem Oberdeck wurden aus dem staubigen Bereich entfernt. Wenn die Kohlenschute längsseits kam, stiegen einige Arbeiter hinab um Säcke zu füllen, die sie dann an den Auslegern befestigten. Die je rund 200 Pfund schweren Säcke wurden an Bord gehievt, 5 bis 10 auf einmal. An Deck wurden sie in Schubkarren, die meist von den See­ leuten geschoben wurden, abgefahren und in die Kohle-Bunker geschüttet. Unten, in den Bunkern, befanden sich weitere Arbeiter, die die Kohle verteilten. Die ganze Zeit spielte die Kapelle, oder die Männer sangen, wenn es keine gab. Flaggen an der Nock zeigten an, wie viele Tonnen Kohle schon gebunkert waren. Es kam vor, dass Schiffe beim Kohlebunkern in Wettstreit miteinander traten. Nach einem Tag  – und oft auch einer Nacht – des Kohleladens waren das Schiff und alle Besatzungsmitglieder schwarz von Staub. Nach Beendigung der Arbeit wurde das Schiff mit Wasser abgewaschen, und auch die Männer gingen nach unten, um sich zu reinigen. Einen Trost gab es beim Kohle-Bunkern: Die Seeleute durften bei der Arbeit so viel rauchen, wie sie wollten.«43

42 Rath, Jürgen: Heizer und Trimmer, in: Plagemann, V. (Hg.): Übersee, München 1988, S. 264–267. 43 Winton, S. 300. (Original englisch.)

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Anhand zweier Beispiele aus unseren Quellen wird die spezifische Problematik der Hitze im Schiffsinneren deutlich. Die Nimrod war ein Schiff mit einer Maschine von nur 175 PS Leistung. Von ihr wird für 1858 berichtet, dass die Durchschnittstemperatur in den Maschinenräumen während des Sommers 115 Grad Fahrenheit sei und zeitweise bis 138 Grad steige. Dies sind 46 Grad beziehungsweise 59 Grad Celsius!44 Unter diesen Umständen, schreibt der Schiffsarzt, sei es für einige Männer unvermeidlich, in ihrer Arbeit in einen totalen Erschöpfungszustand zu geraten. Dr. John Rose fordert deshalb acht zusätzliche Heizer an, wobei er es vorziehen würde, dafür indisches oder chinesisches Personal zu bekommen, weil sie die hohen Temperaturen besser vertrügen. Zur Bekräftigung seines Ansinnens fügt er hinzu, dem Medical Inspector der Ostasien-Flotte sei das Problem der extremen Hitze bekannt.45 Besonders intensiv befasst sich der Schiffsarzt der Rinaldo rund ein Jahrzehnt später mit den Temperatur- und Luftverhältnissen an Bord seines Schiffes, einer 1860 in Portsmouth gebauten Sloop von 185 Fuß Länge, deren Maschinenleistung er nicht notiert hat. Frische Luft gelangt durch Windfänge in die Räume unter Deck, kann aber nicht verhindern, dass es unter laufender Maschine im After Stoke Hole bis zu 140 Grad Fahrenheit (60 Grad Celsius) heiß wird. Im vorderen Teil, dem Fore Stoke Hole, ist guter Luftaustausch dadurch gewährleistet, dass seitlich des Kamines angebrachte Schächte »die heiße und kalte Luft perfekt trennen«. Im Mannschaftsdeck seien die Seitenwände des Kaminschachtes in der Absicht, zusätzlichen Luftaustausch zu ermöglichen, mit Gittern und Fenstern versehen. Dieses System bleibe allerdings ineffizient, weil heiße aufsteigende und kühle hinabgeführte Luftströme durch »ungenügende Separierung eine Stagnation« verursachten. Ein menschlicher Faktor begrenzt zusätzlich die Ausschöpfung technischer Möglichkeiten. Er beklagt: »Zusätzlich zu diesen konstruktiven Mängeln der Belüftungsfunktion denke ich, dass sie nie in Gebrauch kam, weil ich, wann immer ich den Ort aufgesucht habe, Segel und Hängematten vor den Gittern aufgestapelt vorgefunden habe, bis zur halben Höhe des Kaminschachtes hoch, sodass die Fenster nicht geöffnet werden konnten. Die Temperatur in diesem Teil des unter Dampf fahrenden Schiffes lag zwischen 95° und 120° F (35 bis 49 Grad Celsius), abhängig von der umgebenden Lufttemperatur.«46

44 Zur Umrechnung der beiden Temperaturkalen: 0 Grad Celsius sind 32 Grad Fahrenheit, 100 Grad Celsius sind 212 Grad Fahrenheit. Dadurch ergibt sich als Umwandlungs­ formel von Fahrenheit in Celsius: Die Gradzahl nach Fahrenheit minus 32, das Ergebnis mit 5 multipliziert und dieses Ergebnis durch 9 dividiert, ergibt die Gradzahl nach Celsius. 45 Rose, John, HM Sloop Nimrod 2. Teil, 24.3.–28.5.1858, TNA, ADM 101/164/1B, General Remarks. 46 Buckley, John., HM Sloop Rinaldo 10.5.–31.12.1870, TNA, ADM 101/182, General Remarks.

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Schlussfolgerungen Durch die parallele Technologie des Antriebes durch Windkraft und durch Dampfkraft addierten sich die technischen Anforderungen an die Menschen an Bord und die Gefahrenmomente für die Besatzung. Mit dem Personal »in der Maschine« kam auch eine soziale Veränderung auf das Schiff. Die Techniker brauchten keine »richtigen« Seeleute zu sein und waren es in der Regel auch nicht. Menschen ohne geographische und ohne soziale, familiäre Nähe zur Seefahrt kamen auf die Schiffe. Dort wurden sie als Eindringlinge argwöhnisch empfangen und mussten einen jahrzehntelangen Prozess der Akzeptanz und Anerkennung durchlaufen. Für diese interaktionellen, vermutlich meist unterschwelligen Konflikte finden wir in den Aufzeichnungen der Schiffsärzte keine Belege. Sie werden ihnen nicht verborgen geblieben sein, jedoch wurden sie in ihrer Funktion als Doktor an Bord dafür nicht in Anspruch genommen. Man mag das Fehlen jeden wertenden Hinweises auch als gewissen Beleg nehmen, dass die Surgeons, die die hier ausgewerteten 70 Journale verfasst haben, zwischen den verschiedenen Gruppen im Sinne einer gleichmäßigen Zugewandtheit keinen Unterschied machten. In der Sekundärliteratur finden sich Berichte von so einseitiger physischer und psychischer Belastung unter den »schwarzen Männern« vor den Kohlefeuern, dass es bei fatalem Zusammentreffen ungünstiger Umstände und fehlendem hilfreichem Einschreiten zu Suizidhandlungen gerade in der Gruppe der Heizer und der Kohlenzieher kam. Ein derartiges Geschehen ist in unseren Quellen nicht berichtet. Auf die Konkurrenzsituation wird im Abschnitt »Die Besatzung« eingegangen. In physischer Hinsicht ist mit den dargestellten extremen Temperaturen in den Maschinenräumen jedoch eine Problematik vorgegeben, die ärztliche Hilfe braucht. Die Überwärmung des Organismus kann je nach Grad und Dauer und vorbestehender Verfassung lebensbedrohliche Formen annehmen. Da der Hitzschlag (Heat Stroke)  stets mit neurologischen und psychischen Störungen einhergeht, wird im Kapitel mit Fallberichten ein eigener Abschnitt zu diesem Krankheitsbild folgen. Im Schiff gab es nicht nur heiße Luft, sondern auch schlechte, durch die Bilge.

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4.4 Unter Deck 4.4.1 Die Bilge In vielen Arbeiten zur Hygiene auf Schiffen ist die Luftqualität im Schiffs­ inneren ein zentrales Thema.47 Ebenso wie die Notwendigkeit, genügend Nahrung für Monate hinaus an Bord mitzunehmen mit dem daraus resultierenden neuen medizinischen Problem der Mangelkrankheiten, wuchs auch das Problem der Luftqualität mit der zunehmenden Dauer der Reisen im Laufe der Jahrhunderte. Lange Reisen, und das heißt, alle Überseereisen, erfordern große Schiffe. Und auf großen Schiffen war die Belüftung schwieriger als auf kleinen Schiffen. Die Luft unter Deck auf diesen großen Schiffen konnte aus mehreren Gründen schlecht werden. Zunächst stieg mit der Schiffsgröße die Zahl einge­zogener Zwischendecken im Schiffsrumpf. Die Belüftung der unteren Decks war aus konstruktiven Gründen begrenzt. Sei es, dass sie gar keine Luken in der Schiffsaußenhaut hatten, weil sie knapp über oder gar unter der Wasser­unterlinie lagen, sei es, dass es zwar Öffnungen gab, diese aber bei schwerem Wetter zum Schutz vor eindringendem Wasser verschlossen wurden. Aber auch jenes Wasser, das sich im untersten Rumpfteil ansammelte, in den mehr oder weniger spitz zulaufenden Räumen direkt oberhalb des Kiels, stellte ein Problem dar. Hier blieb alles Wasser liegen, das durch undichte Stellen der Schiffswand drang, und in jeden Holzrumpf drang Wasser ein, sodann das Wasser, das im Sturm das Oberdeck überspülte und durch die Luken in das Schiffsinnere lief, und schließlich das Regenwasser, das in den Tropen sehr schnell in großen Mengen fallen konnte. Hinzu kamen die verschiedensten Verunreinigungen aus dem Schiffsbetrieb, also Abfälle aller Art, Urin und Kot der Besatzung, tote Lebewesen, von Ratten über mitgebrachtes und verendetes Vieh bis hin zu Menschenleichen, wenn man diesbezüglichen, seltenen Berichten Glauben schenken will. Dass aus diesen organischen Abfällen Fäulnis entstand, leuchtet ein. Dass es ihrer gar nicht bedurft hätte, um das eingedrungene Meer- und Regen­ wasser zum Faulen zu bringen, ist zusätzliche praktische Erfahrung der Seefahrt aller Zeiten. Diese Abwässer in den Tiefen des Schiffes nannte und nennt man »Bilge«.48 Natürlich versuchte man sie herauszupumpen. Dies war aber eine wahre Sisy 47 Eine detaillierte Beschreibung der verschiedenen Versuche, auf einem großen Kriegsschiff (der 1853 bis 1875 segelnden »Jean d’Acre«) gute Belüftung zu erzielen, findet sich bei: Hinrichs, S. 55–63, allgemeiner dargestellt auch bei Lloyd, Coulter: Medicine, Vol. IV, S. 81–90. 48 Dieses englische Wort meint ursprünglich nur den unteren Teil des Schiffsrumpfes. Das Rest- und Schmutzwasser, das Bilge Water wurde dann zu Bilge verkürzt. »To bilge« hieß

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Unter Deck

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phusarbeit und stets nur in begrenztem Maße möglich. Schon die Konstruktion des Schiffes setzte eine Grenze dadurch, dass in demselben untersten Kielraum der Ballast des Schiffes lag. Dies waren Steine, Kies oder Sand, die dem Schiff den notwendigen Tiefgang und damit die nötige Seitenstabilität auch in unbeladenem Zustand verleihen sollten. In dem Maße, wie sich nun Ballastmaterial und die faulende, stinkende Brühe mischten, ja verbanden, war letztere durch Pumpen praktisch nicht mehr zu entfernen. Man versuchte, die Bilge mit Meerwasser zu verdünnen, indem zu- und ableitende Rohre die Schiffswände durchbohrten, man kleidete die Rümpfe mit Zement aus, man installierte Pumpen aller Art, die von Hand und später von Dampfmaschinen zu betreiben waren. An chemischen Mitteln wurde zunächst Eisenmonophosphat, dann Zinkchlorid verwendet, welchem wir auch in unseren Quellen begegnen. Es war ein Kampf um Reinigung mit viel Wasser und aggressiven Chemikalien einerseits und gegen Fäulnis und Rost an der Schiffskonstruktion andererseits.49 Aus früheren Zeiten der Seefahrt ist manch tödlicher Zwischenfall im Zusammenhang mit der Bilge bekannt, jedoch ist dies für das 19.  Jahrhundert nicht mehr anzunehmen.50 Im Zusammenhang mit dem Gestank aus der Bilge wird noch besonders lange und offen über miasmatische Theorien der Krankheitsentstehung diskutiert.51 Dass die Bilge eine extrem starke Geruchs­ belästigung darstellte, wird in jedem Medical Journal festgestellt, sofern aus irgendeinem Grunde auf dieselbe eingegangen wird. Dass die Geruchsintensität mit steigender Luft- und Wassertemperatur zunahm, ist aus Gründen der chemischen Reaktionsabläufe unzweifelhaft nachvollziehbar. Auf der Nimble versuchte man, mit Karbolsäure gegen den Bilge-Gestank anzukommen, aber vergeblich, da die Quelle des Verwesungsvorganges nicht erreicht werden konnte. Dafür liest man aber in dem Journal von Mr. Murray, die Karbolsäure sei ein »perfekter Deodoriser in den Latrinen« und nützlich »zur Herstellung antiseptischer Verbände«. (»Carbolic Acid, has been used freely in dann auch »leck werden«. »Die Bilge« als das im Schiff angesammelte Wasser wurde und wird auch im Deutschen wie das englische Wort (»Bildsch«) ausgesprochen. 49 Hinkelmann, Ursula: Die Schiffshygiene im »Traité d’hygiene navale« von Jean-Baptiste Fonssagrives, Düsseldorf 1969 . 50 Bei der organischen Fäulnis fällt, sofern schwefelhaltige Aminosäuren beteiligt sind, der stark nach faulen Eiern riechende hoch giftige Schwefelwasserstoff in Gasform an. Da das Gas schwerer als Luft ist, kann es sich wie ein See im untersten Schiffsrumpf sammeln. Wer dort hinabstieg und sich der Warnung durch den extremen Gestank aus irgendeinem Grund widersetzte, war von einer unmittelbar tödlichen Gefahr bedroht, wenn eine Schwefelwasserstoff-Konzentration von mehr als 1000 ppm (parts per million) vorhanden war. Schwefelwasserstoff wirkt toxisch über die zelluläre, mitochondriale Atmungskette. 51 So z. B. bei Milroy, Gavin: The Health of the Royal Navy Considered in  a Letter Adressed to the Rt. Hon. Sir John S. Pakington, London 1862, S. 56. Ihm ist Schwefelwasserstoff als giftiges Gas bekannt, und doch ringt er mit sich: »Dieses Gas ist eher ein Begleiter und Anzeiger einer noch mehr ernstzunehmenden Ausdünstung.«

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the Bilge but on account of the difficulty of applying it at the source of decay, it has not succeeded well. In the Latrines however it has proved itself to be a perfect deodoriser. I have also used it as an antiseptic dressing and with the best results.«52 Surgeon Norbury untersucht das Bilge-Wasser der Juno, während sie im Jahre 1876 im Roten Meer und später vor Hongkong liegt. Das Schiff pumpt täglich mit Dampfmaschine die hellbraune bis tiefschwarze Bilge heraus, einen halben Zoll Höhe in 24 Stunden. Er protokolliert: »Untersuchung des Bilge Wassers während der Hafenliegezeit in Hong Kong. Spezifisches Gewicht 1,025; die des Hafenwassers 1,021 bei einer Temperatur von 70° und einer Lufttemperatur von 76°; stark alkalische Reaktion, während das Seewasser nur leicht alkalisch reagiert; strenger Geruch nach Schwefelwasserstoff und nach verrottetem Holz, leicht gelblich-ockerfarbene Schattierung; unter dem Mikroskop zeigen sich Öltropfen, Schwärme von Meeres-Kieselalgen, von denen die größeren etwa zwölfmal so lang wie breit sind und frei oszillieren; aktiv sich bewegende, runde Geißelkörperchen finden sich ebenso, wahrscheinlich Zoosporen, ebenso Infusorien zuhauf, und schließlich menschliche Epithelien. Normalerweise bestehen die Niederschläge des Bilge Wassers zu erheblichem Teil aus schwarzem Kalkmaterial, kleinen, länglichen und hohlen Algen, Fetzen von Flanell, Hanfserge usw., Salzkristallen, verrotteten Fragmenten von Holz und anderen Geweben.«53

Erst mit zunehmender technischer Verbesserung der Schiffe bekamen die Ingenieure das Problem der Bilge langsam in den Griff. Die Wände wurden endlich wasserdicht, der Ballast konnte aus massivem Stein oder Stahl bestehen, Abfälle und Abwasser wurden getrennt und gesammelt, um allerdings lediglich nach außenbords in das Meer befördert zu werden. Die reinen Stahlrümpfe, die es Ende des 19. Jahrhunderts gab, die jedoch noch keines der hier untersuchten Schiffe besaß, waren nicht bereits des Rätsels Lösung. Sie ließen durch ihre ganz andere, hohe Wärmeleitfähigkeit sehr viel mehr Schwitzwasser an der Rumpf­ innenseite entstehen als die hölzernen Rümpfe. Die Schiffsbesatzungen wuchsen zu immer größerer Anzahl an. Mit ihrer Zahl und bei gleichzeitiger hoch-

52 Murray, George B., HM Sloop Nimble 2. Teil, 1.1.–31.12.1872, TNA, ADM 101/184/1B. Nach Müller wurde seit 1866 Karbolsäure zur Eindämmung der Fäulnis in der Bilge verwendet, jedoch war auch dies nur eine vorläufige Maßnahme ohne wirkliche Aussicht, gegen die ständige Neuproduktion von Fäulnis anzukommen. Müller: Arzneimittelversorgung. 53 Norbury, Henry, HM Frigate Juno 4.11.1875–7.7.1876, TNA, ADM 101/195, General Remarks. In diesem Bericht finden sich vielerlei Beobachtungen zu den Wirkungen des Schwefelwasserstoffes, die Nurbury als unbedenklich einschätzt. Dem wird man sich heute keinesfalls mehr anschließen. Schwefelwasserstoff blockiert wie Kohlenmonoxid und Zyanid den intrazellulären Sauerstofftransport und verursacht ab Konzentrationen von 100 ppm (Teile auf eine Million) Atembeschwerden, Kopfschmerz, Schwindel und alle Formen von Bewusstseinsstörungen, um sich bis zu unmittelbar tödlicher Wirkung ab einer Konzentration von 1000 ppm in der Atemluft zu steigern. Vgl.: Dietel, M.; Suttorp, N.; Zeitz, M.: Harrisons Innere Medizin, Berlin 2005, S. 2781–2785.

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gradiger Abdichtung der Räume bildeten auch die Menschen enorme Mengen Luftfeuchtigkeit, die sich als Kondenswasser niederschlugen und irgendwo ansammeln mussten.

4.4.2 Bemühungen um »Ventilaton« War schon Wasser im Inneren des Schiffes aus den dargestellten Gründen unvermeidbar, wurde der Feuchtigkeitsgrad von Menschenhand noch zusätzlich erhöht. Denn unausrottbar schien das Deckschrubben mit viel Wasser. Es diente nicht nur der Reinlichkeit, sondern auch der disziplinierten Geschäftigkeit. So lesen wir im Medical Journal von 1857 über die Luft an Bord der ­Nimrod, sie sei feucht und gesundheitsschädlich, weil alles Holz in den Räumen unter Deck einschließlich der Offiziersmesse zur Reinigung mit Wasser getränkt würde, ganz im Gegensatz zu den Empfehlungen des berichtenden Schiffsarztes John Rose. Ganz ungewöhnlich an diesem Zitat ist die Erwähnung der Statistical Reports of the Navy, wie er sie verkürzt nennt, durch den Surgeon, der dies nicht ohne Absicht tut: »Das Zwischendeck und der Vorratsraum und sogar die Offiziersmesse waren trotz meines Einspruches bei jedem Wetter von Wasser durchnässt in der Absicht, ein fleckenlos weißes Deck zu haben, und sowohl Offiziere als auch Mannschaft mussten oft feuchte, ungesunde Luft atmen, die besonders ungeeignet für Kranke war. Die Statistical Reports der Navy beweisen zweifelsfrei, dass dieses System ausgesprochen ungünstig ist, da es Krankheiten begünstigt, die auf Schwäche zurückzuführen sind, und den Körper für schwere Krankheiten anfälliger macht.«54

Er appelliert an die Admiralität, diese Dinge zu berücksichtigen: »Wenn ein Mitglied der Admiralität sich mit diesem Thema auseinandersetzen würde und den Vorschlägen der Sanitäts-Offiziere mehr Aufmerksamkeit schenken würde, könnte man sicherlich mit Fug und Recht sagen, dass der momentan hohe Gesundheitszustand in der Marine noch verbessert werden könnte. Ich lenke noch einmal die Aufmerksamkeit auf den Vorschlag, den ich in aller Ausführlichkeit in 54 Rose, John, HM Sloop Nimrod 2. Teil, 24.3.–28.5.1858, TNA, ADM 101/164/1B, General Remarks. Die Übersetzung des Terminus »lower deck« wirft Fragen auf. Wörtlich übersetzt heißt es natürlich »Unterdeck«, jedoch ist dies ein an Bord selten gebrauchter Begriff. Es ist wie das »Orlopdeck« eine der am tiefsten im Rumpf gelegenen Ebene und oft wurde Lower Deck und Orlop Deck synonym verwendet. Manchmal meinte es das »Batteriedeck«, also die Ebene der Kanonen. Am ehesten scheint »Zwischendeck« zu verkörpern, was gemeint ist: Lower Deck ist das Deck unter dem Hauptdeck, wenn es nur zwei Decks gibt, aber das unterste und unterhalb des »Zwischendecks« liegende, wenn es drei Decks gibt. Es ist als »Zwischendeck« nicht nur ein konstruktiver Ort des Schiffes, sondern auch ein sozialer Ort: der Schlafplatz des »einfachen Seemannes«.

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vorherigen Berichten sowohl auf diesem Schiff als auch auf der ›Flying Fish‹ zur Unterdrückung des Geruchs des Bilgewassers gemacht habe, und wiederhole, dass meine Aussagen tatsächlich von mehreren Praktikern, die ich zu diesem Thema konsultiert habe, gut geheißen worden sind.«55

Dramatisch wurde es, wenn sich, wie in dem Fall eines Schwächeanfalles bei einem Heizer der Nimble 1871, die große Hitze in den Kesseln mit dem BilgeGestank vermischten. Surgeon Murray ordnete in diesem Fall an, dass der 24-jährige Heizer zu seiner Erholung für einige Tage von dieser »unreinen Atmo­sphäre« ferngehalten werden sollte. (»… being kept on deck away from excessive Stoke hole heat and its impure atmosphere, being impregnated with bilge emanations.«)56 Je dichter die äußere Schiffshaut und innere Raumabtrennung, desto schwieriger und gleichzeitig notwendiger wurde die »Ventilation« im Schiff. Jede Form von Luftaustausch wurde angestrebt. Zunächst wurde aber versucht, die Luft mit den unterschiedlichsten Methoden zu »reinigen«, so mit Rauch von verbranntem Teer, mit Essig, Wacholder, Weihrauch, und mit Dämpfen von Schwefel- und Salzsäure. Ein kurioses Beispiel aus einem Medical Journal soll die Phantasie und Hartnäckigkeit verdeutlichen, mit der immer wieder nach Verbesserungen der Belüftung gesucht wurde. Auf dem erst 1871 gebauten Schiff Thetis wurde eine Automatic Pump getestet. Diese Pumpe sollte die warme, feuchte und verbrauchte Luft aus den Schlafräumen des Zwischendecks ziehen und eine weitere Pumpe das Bilgewasser aus den untersten Rumpfteilen in das Meer transportieren. Sehr anschaulich beschreibt der Schiffsarzt Dr. Magill, ein offenbar technikbegeisterter, aber auch kritischer Mediziner, den neuartigen Mechanismus, der zwei der hartnäckigsten technischen Probleme der Seefahrt lösen sollte. Es handelte sich laut Magill um eine »amerikanische Erfindung eines PatentSystems zur automatischen Ventilation«.57 Leider funktionierte weder die 55 Ebd. 56 Murray, George B., HM Sloop Nimble 2. Teil, 1.1.–31.12.1872, TNA, ADM 101/184/1B . 57 Magill, Martin, HM Screw Corvette Thetis 1.2.–31.12.1873, TNA, ADM 101/190. Er beschreibt: Nebeneinander und quer zur Längsachse des Schiffes waren zwei Zylinder angebracht. Sie sollten die Rollbewegungen des Schiffes ausnutzen. Das »Rollen« des Schiffes meint die quer zur Längsachse und Fahrtrichtung stattfindende Hin- und Herbewegung. Wenn die fest montierten Zylinder diese Rollbewegung als Auf- und Abbewegungen nachvollzogen, tauschten sie das in ihnen befindliche Wasser durch eine Rohrverbindung untereinander aus. Das Wasser floss immer von dem gerade in die Höhe steigenden Zylinder in den sich absenkenden. In den bei der Entleerung im Zylinder oberhalb des Wasserspiegels freiwerdenden Raum wurde Luft angezogen, die bei der Gegenbewegung, durch Ventile gesteuert, ausgestossen wurde. Nun musste nur die zuführende Rohrleitung ihre Luft aus den Räumen unter Deck beziehen und die abführende Rohrleitung nach außenbords gehen, so hatte man ein Entlüftungssystem. Das gleiche Prinzip von Zylindern arbeitete bei der Bilge-

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Pumpe für den Luftaustausch noch die für die Bilge. »Weder ich noch irgend ein anderer hat je auch nur einen Spritzer aus dem Rohr fliegen sehen. Der Grund, warum der Mechanismus nicht funktionierte, wurde nicht untersucht«, schreibt Dr. Magill trocken. Außerdem kam auf der Fahrt von Plymouth nach China, was kommen musste: Das ganze Quecksilber lief aus der Pumpmaschine. An die extreme toxische Belastung des ausgelaufenen, wie auch des bei Betrieb in der Maschine befindlichen Quecksilbers darf man aus heutiger Kenntnis gar nicht denken.58 Dieser Gefahrenherd war den damaligen Erfindern und Anwendern, von denen der vorliegende Bericht aus dem Medical Journal handelt, noch nicht bewusst. Schlussfolgerungen Wasser und Luft zusammen bilden die Atmosphäre. Im Schiff wiederholt sich im Kleinen ein Zusammenspiel, welches im Großen das Medium charakte­ risiert, in welchem sich jedes Seeschiff überhaupt bewegt: das Meer, die See. Sind die Länge, die Breite und Höhe des Schiffes, seine Konstruktion mit Masten und Decks, mit Dampfmaschine und ihren Feuerstellen die festen, greifbaren, äußeren Bedingungen des Lebens an Bord, so ist das unmerklich eindringende Wasser, die von ihm ausgehende Feuchtigkeit und Fäulnis, noch Pumpe. Auch diese beiden Zylinder waren durch Röhren miteinander verbunden. Im Gegensatz zu der Pumpe für die Ventilation waren die Zylinder der Bilge-Pumpe jedoch nicht mit Wasser, sondern je zur Hälfte mit Quecksilber gefüllt, insgesamt mit 300 Pounds, der enormen Menge von 130,7 Kilogramm entsprechend! Dies war aus physikalischen Gründen erforderlich, denn: Um Wasser und nicht nur Luft ansaugen zu können, musste in diesem System eine Flüssigkeit mit höherem spezifischen Gewicht als Wasser verwendet werden. Durch die seitlichen Bewegungen des Schiffes sollten nun also die in den Zylindern absinkenden Quecksilberspiegel durch kräftigen Unterdruck Bilge-Wasser durch ein langes Rohr aus den untersten Rumpfteilen hochziehen, um dieses bei der nächsten Gegen­bewegung durch ein anderes Rohr nach außenbords zu drücken. »Theoretisch plausibel« nennt Surgeon Magill den Apparat, aber »in der Tat von geringem praktischen Wirkungsgrad«. Bei einem Hohlmaß des Zylinders von 4 Fuß 6 Zoll mal 1 Fuß 6 Zoll und einem Kaliber der Rohrleitungen von 3 3/8 Zoll musste die »Kapazität eine sehr begrenzte sein«, und sie war es auch. Im Falle der Lufterneuerung arbeitete die Pumpe dann am wenigsten oder gar nicht, wenn das Schiff sie am nötigsten hatte, nämlich in erster Linie bei ruhiger Lage im Hafen, wenn die anderen, passiven Ventilationssysteme wie Windsegel, Lüftungsrohre usw. ebenfalls nicht arbeiteten. Und selbst in Fahrt, wenn sich die Apparatur durchaus bewegte, waren die Neigungsgrade und vertikalen Wegstrecken durch die Rollbewegung des Schiffes nicht ausreichend groß. 58 Die toxikologischen Standards bezüglich Quecksilber sind inzwischen streng. Die durch Verdunstung bei Zimmertemperatur entstehenden Dämpfe gelten als sehr gesundheitsgefährdend. 400 Mikrogramm tägliche Aufnahme, die über die Atemwege leicht möglich ist, gelten heute als eindeutig toxische Menge. Dies entspricht dem zehn- bis zwanzigfachen Wert des durch Nahrungsaufnahme und Atemluft regelmäßig zu sich genommenen Quecksilbers. Vgl.: Dietel, Suttorp, Zeitz: Harrisons, S. 2772–2774.

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mehr die heiße, verbrauchte, stickige und durch die Bilge massiv übel riechende Luft die gegenteilig ungreifbare, gleichwohl hautnah umgebende andere Art der Außenwelt für den menschlichen Organismus. Da es aber kein Entrinnen von einem Schiff auf hoher See gibt, verkörpert die sinnlich stark wahrnehmbare, unmittelbare atmosphärische Umgebung bereits die Grenze der »Welt Schiff«, denn einen Zugriff auf die Welt des umgebenden Meeres gibt es von der Winzigkeit, die das Schiff darstellt, nicht. Die Bedeutsamkeit von Geruch für unser emotionales Erleben ist bekannt. Er konfrontiert uns brutal mit der Nähe von etwas, und er lässt sich nicht ausblenden. Einen Raum, in dem es übel riecht, will man verlassen. Wenn dies nicht möglich ist, müssen wir es dort aushalten. Adaption ist dann erforderlich. Gelingt sie, ist sie eine Mischung aus sinnlicher Herabregulierung, indem der Einzelne den gemeinsamen Geruch wie den eigenen gar nicht mehr wahrnimmt, und aus psychischer Umstellung, zwar eine Differenz wahrzunehmen, diese jedoch nicht mehr negativ zu bewerten. Über schlechte Luft wurde sehr wahrscheinlich ein guter Teil der oft in Erfahrungsberichten beschriebenen »drangvollen Enge« erlebt. Mit dieser Enge umzugehen, war gemeinsame Aufgabe. Im Kapitel über die Unterbringung an Bord wird nochmals auf diese Herausforderung eingegangen. Wer waren nun die Akteure der »drangvollen Enge«?

4.5 Die Besatzung 4.5.1 Wer fuhr zur See? Für die Beantwortung dieser Frage können wir uns nur in wenigen Punkten auf die Primärquellen berufen. In keinem Verlaufsbericht äußern sich die Surgeons zu möglichen Motiven ihrer Patienten, warum sie überhaupt in den Dienst der Royal Navy getreten sind. Auch in keinem der Statistical Reports wird die Motivation der Seeleute, gerade diese Lebensform gewählt zu haben, diskutiert. Solche Überlegungen lagen außerhalb des ansonsten breiten wissenschaftlichen Beobachtungsauftrages der Schiffsärzte. Wir müssen neuere historische und soziologische Literatur heranziehen, um einige ihrer Aussagen mit der notwendigen Vorsicht auf das 19. Jahrhundert anzuwenden. Weibust nennt für die skandinavischen Länder folgende fünf Gründe, zur See zu fahren, die nach seiner Einschätzung für das mittlere 20. Jahrhundert gelten, aber auch weit in die Vergangenheit zurückreichen: Chronischer Mangel an Arbeit an den oft kargen Küstenstreifen, dementsprechend relativ zur Erwerbsmöglichkeit eine Überbevölkerung (was besonders auf die irischen Verhältnisse zutrifft); familiäre Tradition des Seemannsberufes; »ein gewisses Prestige«; ein »Hauch von Abenteuer«; und schließlich »die Möglichkeit, manchen Problemen

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zu entkommen«.59 Wossidlo kommt für die deutsche Ostseeküste zu den gleichen Ergebnissen.60 Ebenso bestätigt Otterland für die mittleren Jahrzehnte des 20.  Jahrhunderts das bereits genannte Motiv des Abenteuerlichen, denn trotz immer kürzer werdender Liegezeiten in den Häfen und Einbindung in Ladearbeiten galten seinen Ergebnissen zufolge Seeleute immer noch als diejenigen, die am meisten von der weiten Welt zu sehen bekamen. Das Hauptmotiv ist für Otterland aber ein rein ökonomisches: »Die Anzahl Leute, die Arbeit auf einem Schiff sucht, verändert sich von Zeit zu Zeit. Wenn viel Arbeit an Land zu bekommen ist, sinkt die Zahl; wenn Jobs an Land rar werden, steigt sie. Wenn reichlich Arbeit an Land geboten ist, ist es manchmal schwer, die Besatzung für ein Schiff zusammen zu bekommen, und die Standards für die Anwerbung müssen gesenkt werden, ein wichtiger sozialmedizinischer Punkt.«61 Auch die oben zitierte »Möglichkeit, manchen Problemen zu entkommen«, bestätigen andere Autoren. Für Aubert stellt das Schiff die »ideale Kombination aus Entkommen und Erwarten« dar, denn es bietet die Möglichkeit der »Flucht vor etwas und der Erwartung von etwas«.62 Lisch bringt dieses doppelte Motiv in einer psychischen Intention zusammen, wenn er beim angehenden Seemann eine positive Erwartung der Einbindung in eine soziale Gruppe und dadurch ein Entkommen aus bislang bestehender Kontaktarmut sieht.63 Aus sozialhistorischer Perspektive schreibt Lavery: »Was sollte einen jungen Mann dazu bewegen, zur See zu fahren, da dies doch immer mit langer Trennung von Familie und Zuhause einherging, oft gefährlich war und meist schlecht bezahlt? … All dies wurde jedoch aufgefangen durch Reisen und Abenteuer in einer Zeit, in der sich nur wenige Menschen jemals weiter weg von ihren eigenen Städten und Dörfern entfernten, sowie durch die Möglichkeit, durch Plünderei und Prisengelder reich zu werden. Außerdem gab es relativ gute Aufstiegsmöglichkeiten, die weniger von Klassen- oder ethnischer Zugehörigkeit bestimmt waren. Aber wahrscheinlich folgten die meisten Seeleute der Familientradition oder gehorchten der Not, da es in Hafenstädten kaum andere Möglichkeiten gab.«64 Die Romanliteratur hat ein spezifisches Interesse an Motiven für Handlungen, denn sie lebt gleichsam von dieser nicht direkt zugänglichen und doch höchst relevanten motivationalen Ebene. Vier Motive, zur See zu fahren, findet Krahé in der Darstellung von Meer und Seefahrt in der englischen Literatur. Es sind dies erstens die Neugier, zweitens ein »unbestimmter innerer Drang«,

59 Weibust: Deep Sea Sailors, S. 44–45. 60 Wossidlo, S. 29–33. 61 Otterland, Anders: A Sociomedical Study of the Mortality in Merchant Seafarers, Acta med. Scand. (1960), S. 150–152. (Original englisch.) 62 Lisch, Ralf: Totale Institution Schiff, Berlin 1976, S. 58. 63 Ebd. 64 Lavery, Brian: The Island Nation, London 2005, S. 65. (Original englisch.)

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drittens ein »Davonlaufen vor der Welt an Land« (»to avoid the world«) als Vermeidungsverhalten und schließlich viertens eine direkte Nachahmung literarischer Vorbilder.65 Die Möglichkeit zu beruflicher Karriere mit Überschreitung der sozialen Schichtgrenzen traf allerdings viel eher für die Handels- als für die Kriegsmarine zu, in der sie nach Ansicht der meisten Autoren nahezu ausgeschlossen war, insbesondere im 19. Jahrhundert. Da stets sehr viele Matrosen der Kriegsmarine, freiwillig und unfreiwillig, aus der Handelsmarine stammten, überschneiden sich die Motive, Seemann zu werden, für die zivile und die militärische Seefahrt. Dabei war die Besoldung in der Royal Navy in Kriegszeiten deutlich geringer als auf Handelsschiffen, gleichzeitig dauerte die Dienstverpflichtung über Jahre, oft genug bis zum Ende der militärischen Auseinandersetzung überhaupt, während der Seemann der Handelsmarine nach Beendigung der Reise stets abheuern und das Schiff wechseln konnte. Vom Seemann früherer Zeiten einschließlich der ersten sehr bedeutenden britischen Flotte der elisabethanischen Ära gibt es keine verlässlichen Angaben und Beschreibungen seiner Motive. Denn, so schreibt Kemp: »He was an evitable illiterate and he had few champions to sing his phrases or to list his woes.«66 Dies änderte sich mit dem Aufstieg der britischen Flotte nach dem erfolgreich beendeten Machtkampf mit dem Festland im 19.  Jahrhundert. »Das 18.  Jahrhundert ist voller klangvoller Namen von Seeschlachten, die auf den Ozeanen der ganzen Welt ausgefochten wurden. Tief eingeprägt in das Bewusstsein des Seemannes – und häufig in Liedern und Geschichten in Erinnerung gebracht – war das Wissen, dass seine Vorläufer die Vormachtstellung auf See gegenüber den Spaniern und Holländern gewonnen hatten. Es war ein Wissen, das in ihm eine regelrechte unbewusste Gewissheit entstehen ließ, eine ähnliche Vormachtstellung vor den gegenwärtigen Feinden, den Franzosen, zu haben.«67 Wie Kemp sieht auch Wells im 19. Jahrhundert das Bewusstsein, dass »das wichtigste Instrument der Pax Britannica die Royal Navy war, unangefochten auf See und in der Lage, einen größeren Einfluss auf die Weltpolitik zu nehmen als jemals vorher in ihrer Geschichte.«68 Der Seemann hatte höchste soziale Anerkennung und verkörperte den Stolz der britischen Nation. »In dem Maße, wie das soziale Bewusstsein der Nation während der Regierungszeit von Königin Victoria wuchs, verbesserten sich auch die Bedingungen für die Seeleute. Allmählich starben die alten Formen

65 Krahé, Peter: Literarische Seestücke, Hamburg 1992, S. 76. 66 Kemp: Sailor, S. IX. Zum »illiterate«: Erst mit dem 1870 erlassenen Education Act gab es in Großbritannien die allgemeine Schulpflicht. 67 Ebd., S. XII. (Original englisch.) 68 Wells, S. 2. (Kursivschreibung im Original.)

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körperlicher Züchtigung aus und wurden durch humanere, dem Vergehen angemessene Strafen ersetzt. Außerdem gab es Verbesserungen in den Bereichen der Bezahlung, Gesundheitsfürsorge, Stellung der Uniformen, regelmäßigen Landurlaubes und insgesamt der Lebensbedingungen auf den Schiffen. Wie bei allen guten Veränderungen war dies ein langsamer Fortschritt, manchmal zu langsam für den neuen Typ von Offizieren, den eine sich rasant entwickelnde Technik hervorbrachte. … Man begann ganz bewusst, sich um die physischen, psychischen und moralischen Bedürfnisse des Seemannes zu kümmern und ihn für einen Dienst in der Marine zu formen, der zwar wohlwollender war, dabei aber doch an einer autokratischen Strenge und Disziplin festhielt, um die überlieferten Traditionen der Vergangenheit mit der wachsenden Emanzipation der Gegenwart zu verbinden.«69 Der Frage, ob besonders häufig Menschen mit psychischen Problemen und psychisch bereits auffällig gewordene Personen zur See fuhren, ist für die jahrhundertelange Seefahrtsgeschichte bis einschließlich dem 19. Jahrhundert noch nicht nachgegangen worden. Es fehlen dafür die epidemiologischen Zahlen als Ausgangswert. Für das dann folgende 20. Jahrhundert, in dem solche Referenzwerte vorhanden sind, deutet sich an, dass tatsächlich psychische Probleme und psychiatrische Erkrankungen einschließlich Behandlungsphasen in psychia­ trischen Krankenhäusern häufiger unter Seeleuten als in der Durchschnittsbevölkerung zu finden sind.70 In den Medical Journals fällt auf, dass der Surgeon oft darauf hinweist, dass ein Matrose aus Irland oder aus Schottland stamme. Auf den Schiffen der Kriegs- wie auch der Handelsmarine waren seit jeher diese beiden Teile des Vereinigten Königreichs überrepräsentiert. Die Angabe der irischen oder schottischen Herkunft hat natürlich keinerlei medizinische Bedeutung, könnte aber als Angabe einer psychologischen Randbedingung gemeint gewesen sein. Insofern wäre diese Information eine Ausnahme von der obengenannten Regel, dass die Schiffsärzte keine Angaben zu Motiven, Seemann zu werden, machten: Ire oder Schotte zu sein, hieß mit größerer Wahrscheinlichkeit, seinen Lebensunterhalt in der britischen Flotte (oder Armee) zu verdienen. Zwar stellten auf den berühmten »Paketschiffen« (packet boats), die im 19.  Jahrhundert einen festen Fahrplan zwischen dem wichtigsten englischen Segelschiffshafen Liverpool und dem wichtigsten Hafen in der Neuen Welt,

69 Ebd., S. XIII. 70 Vgl.: Equity in Maritime Health and Safety, Esbjerg 2007; 6th Int. Sympos. on M ­ aritime Health, Manila 2001; Salling Larsen, Svend: Epilepsy Among Seafarers, 3rd Europ. Marit. Medical Officers’ Meeting Norway 1981, Oslo 1982; Gunderson, Eric: Epidemiology and Prognosis of Psychiatric Disorders in the Naval Service, Curr. Top. Clin. Commun. Psychol. 3 (1971), S. 179–209; Otterland: A Sociomedical Study; World Health Organization: Health and Welfare of Seafarers, Copenhagen 1959.

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New York, unterhielten, Iren die Mehrheit der Matrosen.71 Die Matrosen dieser Paketboote sollen sehr stolze und selbstbewusste Vertreter ihres Berufes gewesen sein. Wie abschätzig und mehr oder weniger verborgen allerdings unter Engländern über Iren und Schotten gedacht wurde, deutet sich in zwei Bezeichnungen an, die unter Seeleuten verwendet wurden: »Irish Pennants« stand für abgerissene oder ausgefranste Stücke Tau, die in der Takelage hingen und als Kennzeichen für ein schlampiges, unordentlich geführtes Schiff galten. Und »Scotchmen« waren Holzlatten, die um die Stahl- oder dicken Hanftaue des stehenden Gutes herum angebracht wurden, um das Verschleißen des Segeltuches zu verhindern, wenn dieses an den Haltetauen entlangrutschte und sich an ihnen rieb.72 Im Zusammenhang mit der Motivation zur Seefahrt taucht stets auch die Frage nach der Zwangsrekrutierung für die Schiffe der Royal Navy (wie aller Kriegsmarinen) auf. Hier ist zu bedenken, dass diese Arbeit das relativ friedliche viktorianische Zeitalter untersucht. Die Zeiten, in denen eine besonders große Zahl an Matrosen gebraucht wurde, mithin die Phase der vielen Aus­ einandersetzungen mit Spanien und Frankreich im 18. Jahrhundert und zuletzt die Napoleonischen Kriege waren vorbei, und damit auch jene Phase von regelmäßigen Zwangsrekrutierungen durch Press Gangs, die mit betrügerischen Versprechungen, mit rechtswidrigen Verträgen, ungültigen Vertragsunterschriften und auch mit roher Gewalt gearbeitet hatten. Auch gehörte die Übernahme ganzer Gefängnisbelegschaften der Vergangenheit an.73 Im Bewusstsein der Menschen blieb die Angst vor den Navy-Werbern jedoch noch lange erhalten. »Niemand wusste es zu dieser Zeit bereits, aber die Press Gangs wurden nie wieder benötigt.«74 Man kann mit Weibust das für die Kriegsmarine angewandte »Pressen« vom »Shanghaien« unterscheiden, welches er nur für den Bereich der Handelsschifffahrt verwendet wissen will. Er erklärt das »Shanghaien« nicht, wie in aller Regel dargestellt, mit dem gewaltsamen An-Bord-Bringen von Chinesen im Hafen von Shanghai, und zwar als Massenphänomen konkret für den Bau des Panamakanales, sondern als ein Kunstwort für die andere Reiserichtung: Nämlich 71 Das ist für Hugill der Grund dafür, dass nahezu alle Lieder, die von diesen Schiffen im Nordatlantik stammen, irischen Ursprungs sind. Hugill: Shanties, S. 18. 72 Ebd. Diese Begriffe finden sich auch im Sailor’s Wordbook von Smyth, London 2009. 73 Die englische Vokabel »the impressment« und »to impress« oder »to press« ist aus einer Verballhornung des Wortes »the prest« entstanden, das einen Geldvorschuss allgemein und in diesem Zusammenhang speziell das Werbegeld meint, welches (in der etwas weicheren Variante) dem Opfer von den Werbern der Press Gang aufgezwungen wurde, typischerweise unter der falschen Behauptung, er habe es freiwillig angenommen. Auch in den deutschen Sprachgebrauch hatte sich das »Pressen« eingebürgert. Zu den im Laufe der Jahre wechselnden gesetzlichen Bestimmungen des Pressens in Großbritannien siehe: Kemp: Oxford companion. 74 Lavery: Royal tars, S. 290.

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der Absicht, aus San Francisco wegzukommen, in Richtung China, und dort am ehesten zum Hafen Shanghai.75 In der Zeit größten Bedarfs an Mannschaften in der Kriegsmarine gab es auch das Verfahren, das unpopuläre Geschäft der Zwangsrekrutierung an zivile Institutionen zu delegieren. Nach der Nelson-Ära wurde dieser Weg wieder verlassen, die hartnäckige Erinnerung blieb aber lange erhalten. Mit dem Erlass vom 5. März 1795 (Quota Act) waren die verschiedenen Landbezirke Englands und Wales’ zur Stellung von jeweils festgelegten Anzahlen von Seeleuten gezwungen worden. Diese Matrosen wurden an Bord Lord Mayors’ Men oder Quota Men genannt, weil die Bürgermeister (Lord Mayors) der Städte und Bezirke für die geforderte Zahl von Seeleuten zu sorgen hatten.76 Gerade mit diesen »Quota-Männern« kamen viele Menschen auf die Schiffe, die man an Land aus sozialen oder politischen Gründen loswerden wollte. Für jene napoleonische Zeit geht Kemp von bis zu 50 % der Männer auf den Navy-Schiffen aus, die in irgendeiner Form gepresst waren.77 Wir haben bereits festgestellt, dass die Matrosen der unzähligen Handelsund Fischereischiffe eine Basis für die Besatzung der Kriegsschiffe darstellten. Diese Verknüpfung von Kriegs- und Handelsmarine nutzte die britische Admiralität in den 1860er Jahren, um unter den Matrosen der Handelsmarine eine ausreichende Zahl von Reservisten aufzustellen, die nur im »unerwarteten Notfall« für drei Jahre in die Kriegsmarine einberufen werden sollten, allerdings mit der Option (seitens der Admiralität) einer Verlängerung auf fünf Jahre. An der geringen Akzeptanz dieses Rekrutierungsversuches lässt sich die Erinnerung an die Zeit der Press Gangs in den Köpfen der Seeleute ablesen. Denn, so schreibt Winton, »dem Seemann der Handelsmarine war die Admiralität suspekt. Zu stark war das Wissen um die Zwangsrekrutierung. Er wollte genau

75 Weibust: Deep Sea Sailors, S. 46–47. Es ist hierzu nötig zu wissen, dass in San Francisco einige der allerberüchtigtsten Crimps oder Runners (die »Heuerbasen«, der deutsche Ausdruck für die Arbeits- Wohnungs- und Kreditvermittler in den Hafenstädten) saßen. Manche jener Runners vermittelten Matrosen mit Betrug und grober Gewalt, unter Einsatz von Alkohol und Betäubungsmitteln und stets gegen Geld, auf Schiffe, die dringend noch Arbeitskräfte brauchten; und dies waren oft aus guten Gründen, oder sollte man besser sagen, aus schlechten, aber zutreffenden Gründen, unterbesetzte Schiffe. Die beiden Crimps Shanghai Brown und Larry Marr besaßen in dieser Hinsicht eine regelrechte Berühmtheit in San Francisco. (Hugill: Shanties, S. 591). Einem glaubhaften Bericht zufolge endete Mister Brown seinerseits als Shanghaiter, nachdem ihn eines seiner früheren Opfer halbtot an Bord eines üblen Schiffes »gebracht« hatte. Brennecke: Windjammer, S. 246 zitiert aus der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts einen Segelschiffskapitän, der unter seinen massiv betrunkenen neuen Leuten gar einen Toten fand. »Es war anzunehmen, daß er von den Runnern schon tot an Bord gebracht worden war.« 76 Kemp: Sailor, S. 163. 77 Ebd., S. 165.

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wissen, was als ›plötzlicher Notfall‹ zu definieren sei. Er hatte Angst, dass er – wortwörtlich – für den Krieg in China shanghait wurde.«78 Wieder ein anderer Versuch in der militärisch relativ ruhigen viktorianischen Ära, die eher von stillem, moralischem als offenem Zwang geprägt war, waren regelrechte Werbekampagnen, die organisiert wurden, um Schiffsmannschaften zusammen zu bekommen. Es wurde in Städten und Dörfern auf Plakaten bekanntgemacht, welches Schiff mit welchem bekannten, guten Kapitän für die Ausreise ausgerüstet werden sollte, es wurden Veranstaltungen mit Rednern gemacht, und es wurden Prämien (Bounties) ausgelobt. Das Problem blieb aber doch das alte: Man wollte gute Leute motivieren, musste aber auch die unmotivierten nehmen. »Der Wirbel um die Rekrutierung funktionierte in der Tat bis zu einem gewissen Grade. Er brachte das, was als ›Bounty Mannschaften‹ bekannt wurde, in die Marine, nämlich einige geschulte und wertvolle Handelsseeleute, aber meist solche Männer, die sich niemals der Marinedisziplin anpassen konnten, Kleinkriminelle, Tunichtgute, Minderbegabte, für Arbeit Unvermittelbare, Schuldner, die schwarzen Schafe der Familien, ganz so wie es in den alten Tagen des Pressens war. … Auf manchen Schiffen gab es in der Tat zwei Schiffsmannschaften, die eigentlichen qualifizierten und die ›BountyMänner‹. Die qualifizierten Leute fanden das gar nicht gut.«79 Eine kleine Gruppe von Männern kam in Form des freiwilligen, aber vielleicht sehr unüberlegten und zwiespältigen Entschlusses zur Seefahrt, die Pierhead Jump hieß. Das waren jene Matrosen, die im allerletzten Augenblick vor Auslaufen eines Schiffes anheuerten. Darunter dürfte manch ein Seemann gewesen sein, der auf der nun beginnenden, vielleicht unabsehbar langen Seefahrt seinen Entschluss bereut und dementsprechend unmotiviert oder offen widerständig seine Arbeitspflicht erfüllt hat. Dieses Pierhead Jump wird es auf Handelsschiffen sehr viel eher gegeben haben als auf Kriegsschiffen. Die Entwicklung auf höchster politischer Ebene kam den Hoffnungen auf Verbesserung der Bedingungen in der Marine entgegen. 1830 starb mit George IV der letzte der King Georges, die sich alle mehr mit der Royal Army als mit der Royal Navy identifiziert hatten. Auf ihn folge William IV, der »Sailor’s King« und 1837 die ebenfalls zu der Marine positiv eingestellte Königin Vicoria. In jenen Jahren veränderte sich das Leben in Großbritannien rasant. Die erste Eisenbahnlinie war 1825 zwischen Stockton und Darlington eröffnet worden, die Regierung der Whigs fand breite Unterstützung, die Mittelklasse gewann mit den Reformgesetzen von 1832 an Bedeutung. Die Rahmenbedingungen der Minen- und Fabrikarbeiter wurden nach und nach festgeschrieben. Auch die Navy wurde nun in dieser Hinsicht Prüfungen unterzogen, zumal mit Sir James­ Graham von 1830 bis 1834 ein ausgeprägter Whig-Reformer First Lord of the 78 Winton, S. 171. »Krieg in China« meint sind die »Opiumkriege« in den 1850er Jahren. 79 Ebd., S. 172. (Original englisch.)

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Admiralty war. In politischen Debatten wurden Parallelen gezogen zwischen der mittlerweile verbotenen Sklaverei und den Bedingungen der Mannschaften auf den Schiffen. Der Dienst wurde für Kriegszeiten auf fünf Jahre begrenzt, wobei diese Dauer nicht gut in Deckung kam mit der üblichen Verpflichtung eines Einsatzes auf ein und demselben Schiff für drei Jahre. In aller Regel mussten die Schiffe nach drei Jahren für eine gründliche Überholung in die Werft, und dafür hatte die Besatzung abzumustern. Verpflichtete sich der Seemann freiwillig weiter, bekam er eine urlaubsweise Unterbrechung und die freie Wahl eines Schiffes zugesagt. Dies war ein Schritt in die Richtung eines kontinuierlichen Dienstes auch der Mannschaft in einer Permanent Navy, auch wenn sie noch lange mit dem Misstrauen der Seeleute und ihrer Angst, doch wieder »gepresst« zu werden, zu kämpfen hatte.80 Eine eigene Betrachtung verdienen die Schiffsjungen (Boys), die ihrer Bezeichnung entsprechend tatsächlich in sehr jungen Jahren an Bord kamen. Eine häufig geübte Praxis war es, verarmte und sozial auffällige Jugendliche als Schiffsjungen auf Kriegsschiffen unterzubringen. 1756 war in London eigens eine Marine Society gegründet worden, die systematisch Jugendliche aus den einfachsten Londoner Quartieren für die Seefahrt rekrutierte. Ein großer Teil  dieser Jugendlichen waren Waisen oder Halbwaisen, für die die Verpflichtung auf einem Schiff eine gewisse Lösung ihrer dramatischen Armut bedeutete. Für einen anderen Teil war es schlicht ein hartes Erziehungsmittel. Pietsch stellt fest: »Der Seedienst scheint über lange Zeit eine gern benutzte Disziplinarmaßnahme in der englischen Jugenderziehung gewesen zu sein. Immer wieder kamen Richter, Gemeinde- und Armenaufseher oder Handwerksmeister zur Marine Society, um diese für den Seedienst einzuschreiben. Des öfteren scheint den Jungen dabei wenig Entscheidungsfreiheit gegeben worden zu sein, besonders wenn es sich um Jungen handelte, die zuvor straffällig geworden waren.«81 Für einige Jugendliche war die Marine aber auch eine gesuchte Möglichkeit, schneller an eigenes Geld zu kommen, als dies an Land möglich war, und auch eine Möglichkeit, sich ohne Genehmigung der Eltern in die weite Welt aufzumachen. Der Ärger mit solchen »illegalen« Jungen muss so beträchtlich gewesen sein, dass die Marine Society in Anzeigenkampagnen Eltern und Handwerksmeister, die ihre Jungen vermissten, aufforderte, »die neuesten Rekruten zu inspizieren, um zu sehen, ob ihr Ausreißer dabei war.«82 Was bislang »Mannschaft« genannt wurde, meint nicht die Schiffsbesatzung insgesamt, sondern alle Besatzungsmitglieder unterhalb des Offiziersranges. Im 80 Lavery: Royal tars, S. 317–320. 81 Pietsch, Roland: Der echte Jim Hawkins: Jugendliche Seefahrer im achzehnten Jahrhundert, Deutsche Schiffahrt (2005), S. 5–6; Adam, S. 110 gibt für die Zeit der Nelson-Ära die Zahl von 23 000 durch die Marine Society verschafften Jugendlichen an. 82 Pietsch, ebd., S. 6.

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Englischen ist der offizielle Begriff für diese Gruppe die Ship’s Company. Synonym wurde und wird verwendet die Crew, die Men und, unter Ausschluss der Soldaten, die Ratings. Mehr umgangssprachlich sind die gleichbedeutenden Bezeichnungen Lower Deck, Hands und schließlich Bluejackets, was als Blues bis 1930 in Gebrauch blieb.83 Während die Royal Navy, wie wir sahen, durch alle Zeiten Mühe hatte, genügend gute einfache Matrosen für die Bemannung ihrer Schiffe zu finden, bestand dieses Problem für die Offiziersränge nicht. Die festgelegte Besoldung, der Löwenanteil am Prisengeld, also der Erlös durch erbeutete Schiffe einerseits und gute Karriereaussichten andererseits, waren stets verlockend genug für eine ausreichende Anzahl junger Männer aus nicht allzu wohlhabenden Familien der Oberschicht.84 Ähnlich war es für das Maschinenpersonal, das im 19. Jahrhundert hinzukam. Auch hier unterschieden sich von Beginn an die Ingenieure, die in ihrem Handwerk speziell ausgebildet waren, und die Heizer und Kohlenzieher (so bei der Kriegsmarine genannt), beziehungsweise die Feuerleute und Mechaniker (die Bezeichnung in der Handelsmarine), die schwere körperliche Arbeit verrichteten. Die Ingenieure kämpften lange um ihre Anerkennung an Bord. Die formale Gleichstellung mit den nau­ tischen Offizieren erreichten sie erst im Jahre 1956.85 Anhand der Angaben in Kemp, Lavery und Adam86 können die verschiedenen Offiziersränge an Bord wie folgt beschrieben werden: Die Offizierslaufbahn stand faktisch nur Mitgliedern der mittleren und hohen Gesellschaftsschicht offen. Ein Gentleman trat (mit Protektion eines einflussreichen Verwandten oder Freundes der Familie)  seine Ausbildung mit 11 bis 16 Jah 83 Wells, S.  9. Der Begriff »Ratings« ist erklärungsbedürftig: Die »einfachen« Seeleute wurden von einem Offizier für bestimmte Positionen »eingesetzt«, »being rated«. 84 Lavery: Royal tars. Rodger präzisiert: »… die Admiralität des 19. Jahrhunderts führte eine informelle, aber wasserdichte Prüfung bezüglich Herkunft und Vermögen ein. Überdies wurde jetzt die Mehrheit der angehenden Offiziere nach politischer Räson ausgewählt und zumeist aus Familien, die eng mit der regierenden Partei in Westminster verbunden waren, zugelassen. Dies brachte der Navy das am ausgeprägtesten aristokratische und am besten untereinander vernetzte Offizierskorps, das sie jemals hatte.« Rodger: Essays, S. XVII u. 9. Rodger gibt in diesem Aufsatz insgesamt einen geschichtlichen Überblick über die Offiziersausbildung in der Royal Navy durch drei Jahrhunderte (bis zum 20. Jahrhundert) hindurch. (Ebd., S. XVII u. 1–34). Die herrschende Einstellung drückt sich auch in dem einen Satz von Admiral Milne aus dem Jahre 1859 aus: »As regards promotion from the forecastle to the quarterdeck, I have no desire to see anyone but a gentleman by birth decorated in a Post Captain’s uniform.« Zit. n. Wells, S. 5. »Post Captain« ist eine mit Captain synonyme Bezeichnung aus den Jahren bis 1860. 85 Differenziert stellt Lavery vor allem die anfängliche Konkurrenzsituation dar, die große Ängste unter den traditionellen Seemannsberufen auslöste. Vgl.: Lavery: Royal tars, S. 330–333. Auch bringt er Belege für die spezifische Fertigkeit der Feuerleute, die die Kunst beherrschen mussten, aus möglichst wenig Zentnern Kohle zum genau richtigen Zeitpunkt möglichst viel Dampfdruck herauszuholen. 86 Kemp: Oxford companion; Lavery: Nelson’s navy; Adam, S. 87–126.

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ren als Servant an, wurde nach drei Jahren Midshipman (ein Trainee Officer) und nach weiteren drei Jahren bei Bestehen des Leutnantsexamens Lieutenant, nun zu den Commissioned Officers zählend. Das Motto der Admiralität blieb das ganze Jahrhundert hindurch: »Catch ’em young«. Man zog die eigene nautische und militärische Erziehung einer breiteren Schulbildung vor.87 Mit Eröffnung der Offiziersschule für die Royal Navy auf der Britannia (im Jahre 1863, davor für kurze Zeit auf der Illustrious) verkürzte sich die Zeit auf insgesamt drei Jahre, bis der unterste Offiziersrang erreicht werden konnte. Der Lieutenant konnte für besondere Verdienste zum Commander befördert werden und ein kleineres Schiff, zum Beispiel eine Sloop führen, ohne allerdings dadurch zum Captain zu werden. Dieser Rang war an eine weitere Beförderung gebunden. Nach den Napoleonischen Kriegen gab es für nahezu 600 Commanders nur knapp 170 Schiffe zu befehligen, also einen enormen Beförderungsstau. Die Ernennung zum Kapitän bedeutete, ein Kommando (und nicht nur vertretungsweise) über ein Schiff zu bekommen, das in eine der sechs Schiffsklassen (Rates) eingestuft war. Von da an ging es ausschließlich nach Seniorität, wer bei freiwerdendem Posten zum Rear Admiral (Konteradmiral), zum Vice Admiral (Vizeadmiral), zum Admiral und damit zum Kommandeur eines Flottenteiles und schließlich zum Admiral of the Fleet (Großadmiral) ernannt wurde. Einmal als Kapitän ein Schiff befehligt zu haben, hieß bei weitem nicht, ein weiteres zur Führung zu erhalten. Man konnte auf Halbsold alt und ranghoch werden, ohne je wieder aktiv zu sein.88 Die enge Verknüpfung mit der Upper Class betraf nicht die Gruppe der­ Warrant Officers (Deckoffiziere), zu denen der Master (zuständig für die Navigation, die Ladung und Besegelung und vieles mehr), der Paymaster oder Purser (Zahlmeister), der Chaplain (Pfarrer) und der Surgeon (Schiffsarzt) gehörten. Diese Gruppe hatte Zugang zur Offiziersmesse (ein sehr bedeutendes Privileg in der Schiffshierarchie), im Gegensatz zu den Deckoffiziersposten des ­Boatswain (Bootsmann), des Gunner (Stückmeister, zuständig für Kanonen und Munition), des Carpenter (Zimmermann) und des Schulmeisters (dessen Aufgabe häufig vom Geistlichen ausgeführt wurde). Weitere Deckoffiziere mit Unteroffiziersstatus (Petty Officer) waren der Master at Arms (Profos oder Stockmeister, Chef der Schiffspolizei zur Überwachung von Feuer, Waffen und vor allem der Disziplin an Bord), der Caulker (Kalfaterer), der Armourer (Waffenschmied) und der Cook, der Koch, der traditionell ein mit Pension versehener invalider Seemann war. Alle Deckoffiziere hatten meist mehrere Mates (Maate) zur Hand, jeweils festen Aufgaben und auch Regionen des Schiffes zu 87 Wells, S. 6. 88 Dies führte zu der Kuriosität, dass es von 1854 bis 1857 keinen Admiral of the Fleet gab: Der einzig berechtigte Senior Admiral war 45 Jahre nicht zur See gefahren, und er war psychisch krank. Man ließ den obersten Dienstposten unbesetzt, bis er verstorben war.

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geordnet.89 Verwirrung stiften kann der Umstand, dass es auch einen Ehrentitel Captain of the Hold, Captain of the Forecastle gab, den Crewmitglieder für einen besonderen Posten führen durften, ohne im obengenannten Sinne förmlich zum Kapitän befördert worden zu sein.90 In der »Mannschaft« gab es den Able Seaman (Vollmatrose oder befahrener Matrose), den Ordinary Seaman (Leichtmatrose) und den Boy (Schiffsjungen), daneben aber auch den Waister (Handlanger, einer der Landleute). Unter den Matrosen gab es eine feine hierarchische Ordnung nach Erfahrung, Alter, Fertigkeiten und Aufgaben an Bord. Die im 19. Jahrhundert hinzukommenden Ingenieure, Mechaniker, Heizer und Trimmer sind bereits beschrieben. Schließlich gab es seit 1702 dauerhaft Seesoldaten als Teil der Flotte, die sich seit 1802 Royal Marines nannten. Die Gruppe der Marines machte auf den meisten Schiffen ungefähr ein Viertel der Besatzung aus und setzte sich wiederum aus zwei Drittel Artillerie- und einem Drittel Infanterieleuten zusammen.91

89 Noch genauere Angaben finden sich in der neuesten Monographie von Lavery. Die von der Reduzierung der Navy in den wenigen Jahren zwischen 1814 und 1817 mit der rapiden Abnahme der Besatzungsstärke von 145 000 auf 19 000 Mann stark betroffenen Seeleute standen weitgehend unpolitisch den Aktivitäten der »Arbeiterklasse« distanziert gegenüber. Der in der englischen Gesellschaft zu beobachtende Aufstieg der Mittelklasse spiegelte sich in der Navy nicht wieder. Sie war fast nur in Form handwerklicher Berufe (Professional Class) und kaum mit kaufmännischen Berufen (Commercial Class) vertreten. Ungelernte Arbeiter (Working Class) kamen nicht mehr als Anwärter für einen Dienst auf dem Achterdeck in Frage. Posten für Offiziere waren rar, und die wenigen für aktiven Dienst wurden über Beziehungen vergeben. In den Jahrzehnten seit Ende der Napoleonischen Kriege bis 1849 stieg die Relation neuer Ofiziers-Kandidaten aus Adels-Familien (Titled Families) von 12 auf 18 Prozent, während der Anteil aus dem Landadel (Landed Gentry) bei ca. 25 Prozent blieb. Im Gegensatz zu den vorausgegangenen Jahrzehnten war der alte Weg vom Deck-vor-dem-Mast auf das Achterdeck nun gänzlich verschlossen. Die Navy war ausgeprägter aristokratisch als zu Kriegszeiten. Nur der Midshipman war echter Anwärter für den Offiziersrang, während der Quartermaster als Unteroffizier keine Chancen mehr hatte, aus seinem Quartier vor dem Mast zu denen hinter dem Mast zu wechseln. Vgl.: Lavery: Royal tars, S. 291–340. 90 Wells, S. 3. 91 Durch ihre roten Uniformjacken deutlich von den Seeleuten zu unterscheiden, war ihr Spitzname »Lobster« (Hummer), und dieser sollte die seit Anfang bestehende und immer wieder neu geschürte Rivalität der beiden Personengruppen durchaus zum Ausdruck bringen. Geschürt wurde die Rivalität oft von den Offizieren. Die Offiziersränge der Soldaten waren hierarchisch deutlich unter denen der nautischen Offiziere eingestuft. Die Aufgaben der Marines bestanden in der Bedienung aller Waffen und der Durchführung von Landungsoperationen. An Bord stellten sie die Wachen vor der Kajüte des Kapitäns, vor den Waffen­ magazinen und wo immer sie hinbefohlen wurden. Ihr Quartier lag traditionell zwischen dem der Mannschaft und dem der Offiziere, worin ihre Aufgabe, Meutereien im Keim zu ersticken, gesehen werden kann. Vgl.: Wells, S. 9, und Adam, S. 120.

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4.5.2 Die Besatzungsstärke Einiges zur Besatzungsstärke wurde bereits oben bei der Beschreibung der Schiffe gesagt. Sie lag im Falle unserer Quellen bei circa 100 bis 700 Mann. Für die 70 bis 80 Meter langen Schiffe war dies eine enorm große Zahl an Menschen. Ganz anders waren die Verhältnisse auf den Handelsschiffen. Aus wirtschaftlichen Gründen waren selbstverständlich nur so viele Männer an Bord wie für den Betrieb notwendig, und parallel zu den raschen technischen Veränderungen während des ganzen 19.  Jahrhunderts wurden im Sinne der Rationalisierung die Mannschaftsstärken immer wieder reduziert.92 Als die Raleigh am 14.  April 1857 England verließ, um nach China zu segeln, hatte sie, wie es im Bericht des Schiffsarztes heißt, »540 Seelen an Bord, die überzähligen Männer (Supernumeraries) mitgezählt.« Und weiter: »Die Crew bestand hauptsächlich aus jungen Leuten, besonders die Marinesoldaten.«93 Die Aufteilung der 220 Besatzungsmitglieder auf der Thetis, der oben beispielhaft beschriebenen nur gut 70 Meter oder 220 Fuß langen Fregatte aus dem Jahre 1873, ergibt 22 Offiziere (Officers), 44 Unteroffiziere (Petty Officers), 88 Matrosen (Seamen), 30 Soldaten (Marines) und 36 Schiffsjungen (Boys).94

92 Nicht hunderte Mann waren im 19.  Jahrhundert an Bord der Frachtsegler, sondern in der europaweiten Fahrt in der Regel bis zu acht, in der Überseefahrt bis zu 15 Mann. Vgl.: Gerstenberger, Welke: Vom Wind zum Dampf, S. 93. Im Laufe des 19. Jahrhunderts ist als Folge von Rationalisierungsbestrebungen eine Verringerung der Mannschaften auf die Hälfte zu verzeichnen. Um die Segel mit der Hälfte der zur Verfügung stehenden Menschenkraft dennoch bedienen zu können, wurden die einzelnen Segel in ihrer Höhe gegenüber den tradierten Maßen halbiert, wodurch sie um etwa die Hälfte leichter wurden. Erst diese »Verschlankung« der Segel ergab das uns so vertraute Bild der großen und dabei eleganten Windjammer mit ihren bis zu acht übereinander angebrachten Rahen und Segel (nämlich je zwei Groß-, Mars- und Bramsegel, ein Royalsegel und eventuell noch ein Skysegel). 93 Crawford, J. J., HM Frigate Raleigh 4.9.1856–25.8.1857, TNA, ADM 101/161, General Remarks. 94 Wir können mit Hilfe der Arbeit von Hinrichs den Vergleich mit einem Ship of the Line oder Battle Ship, also der ersten und größten Schiffsklasse aus derselben Zeit, anstellen. Von einem solch großen Schiff ist kein Journal aus der ostindischen Station erhalten geblieben. Nach Hinrichs waren auf dem mit 950 Mann besetzten, im Mittelmeer stationierten 101-Kanonen-Schiff St. Jean d’Acre im Zeitraum 1859/60 48 Offiziere, 91 Unteroffiziere, 601 Matrosen, 60 Jungen und 150 Marinesoldaten an Bord. Das sind im Vergleich zu der Fregatte unserer Quellen in Relation zur Gesamtzahl halb so viele Offiziere, Unteroffiziere und Schiffsjungen, aber doppelt so viele Matrosen und gleich viele Soldaten. Vgl.: Hinrichs, S. 30.

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4.5.3 Das Alter der Besatzung Die Besatzung war sehr jung. Dies betrifft die Matrosen, die Offiziere und auch die Marinesoldaten. Bezeichnend sind Bemerkungen wie die, wonach ein Patient von 50 Jahren vom Schiffsarzt zu Beginn seines Berichtes mit den Worten eingeführt wird: »This was a very old man.«95 In einem anderen Fall wird von einem 43-jährigen Deckoffizier gesagt, dass er den Zenit seines Lebens hinter sich habe. (»As this patient was past the prime of life …«)96 Wir begegnen in einigen Verlaufsberichten Schiffsjungen, die 14 Jahre, ja sogar erst 12 Jahre alt waren. In der Sick-List der Ruby von 1880 taucht ein erst 16-jähriger Seekadett (Midshipman) auf. In diesem jugendlichen Alter konnte ein Offiziersanwärter seinen Dienst auf Schiffen beginnen. Einer der Captains, in diesem Falle der für den Großmast und damit das Mid Ship zuständige, war freilich auch erst 31 Jahre, einer für den Fockmast und das Fore Ship zuständige 30 Jahre alt. Die einzigen erwähnten Über-Vierzig-Jährigen waren ein Zimmermann von 46 Jahren und der Steward eines der Kapitäne mit 50 Jahren.97 Unter den Patienten sind Boys 1st Class und Boys 2nd Class. Seit einer Regelung der Marine Society von 1756 mussten Schiffsjungen Erster Klasse zwischen 15 und 17 Jahre alt sein. Sie konnten schon zusammen mit Matrosen Wache gehen. Schiffsjungen Zweiter Klasse mussten zwischen 13 und 15 Jahre alt sein. Sie waren meist nur als Diener von Offizieren an Bord.98 95 Die Ausführungen im Folgenden belegen, wie jung die Schiffsbesatzungen tatsächlich waren. 96 Siehe: 13. Fall »Heat Stroke«. 97 Stone, John N., HM Sloop Ruby 2.7.–31.12.1880, TNA, ADM 101/200, General Remarks. Erhebliche Unter- und Überschreitungen auch dieser Altersgrenzen hatte es bis zum Beginn des 19.  Jahrhunderts gegeben. Preston berichtet aus der Zeit der Napoleonischen Kriege von Schiffsjungen von nur neun Jahren und Kapitänen und Unteroffizieren der Batteriedecks von 67 Jahren. Vgl.: Preston, S. 143–144. 98 Kemp: Sailor, S.  162. Immer schon hatte die Navy auf Jungen zurückgegriffen, um mangelnde Besatzungsstärken zu ergänzen. Erst in der victorianischen Ära wurden sie systematisch ausgebildet und ihre Zahl Mitte der 1830er Jahre auf 1 000, bald auf 2 000 festgelegt, um sie freilich schon kurz darauf zu überschreiten. 1 000 Schiffsjungen sollten 500 Männer der Mannschaft ersetzen können. Ein anfängliches Ziel war gewesen, sie für die Krankenpflege an Bord einzusetzen, doch schon bald wurden sie für alle dringend zu besetzenden Posten an Bord genommen. Schulschiffe in Portsmouth (darunter die ausgemusterte Victory, auf der Nelson in der Schlacht vor Trafalgar gestorben war), Plymouth, Cork, Chatham und Leith und die Royal Hospital School am Greenwich Hospital, London, dienten dem einjährigen Trainingsprogramm. Das Aufnahmealter in die Schule in Greenwich war neun bis elf, das Entlassungsalter fünfzehn Jahre. Sie durchliefen einen sehr ehrgeizigen und strengen Drill und sollten sich am Ende ein Schiff ihrer Wahl aussuchen können, was praktisch jedoch die Wahl bedeutete, die der Vater traf. Es kam dann sehr auf das Schiff und auf die Schiffsführung an, ob sie an Bord vieles hinzulernen und sich bewähren konnten, oder nur als Offiziers-Burschen oder »zum Leeren von Abfall-Eimern« eingesetzt wurden. Vgl.: Lavery: Royal

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Als Beispiel einer vollzählig dargestellten Altersstruktur kann das Medical Journal der Dido (eine der relativ kleinen Sloops) von 1852 herangezogen werden, in der sich eine komplette Auflistung »jedes Ranges, der in dem am 31. Oktober 1851 beginnenden Jahr an Bord war«, findet.99 Daraus lässt sich die Altersstruktur, unabhängig von Gesundheit und Krankheit, ablesen. Es waren demnach in dem berücksichtigten Jahr insgesamt 178 Mann an Bord. Die Altersverteilung zeigt Tabelle 1.  Tabelle 1: Alter der Besatzung der Dido 1852 Alter in Jahren

Anzahl an Bord der Dido im Jahre 1852

15 bis 25

99

26 bis 35

54

36 bis 45

18

46 bis 55

6

56 bis 65

1

Gesamt

178

Die größte Teilgruppe bildeten die Matrosen, die Blue Jackets, mit 123,5 Mann, die zweitgrößte die Soldaten, die Marines mit 33,5 Mann. Von den 21,5 Offizieren waren 6 erst in Ausbildung befindliche Cadets, des weiteren drei Zimmerer und Kanoniere (einer aus dieser Dreiergruppe war der einzige, der schon über 55 Jahre alt war) und zwei Verwaltungsleute (Clerks). Schiffsarzt Evan Evans fiel in die Altersgruppe 25 bis 35 Jahre: Er hatte einen Assistenten zur Seite, der zur jüngsten Altersgruppe gehörte. Der Kapitän war wie der Master und der Zahlmeister (Purser) zwischen 35 und 45 Jahre alt. In aller Regel beziehen sich die Altersangaben in den Medical Journals lediglich auf die in der Sick List gemeldeten und behandelten Kranken oder auch auf die an Bord Verstorbenen. Als Beispiel für die an Bord Verstorbenen können wir die Angaben der Highflyer aus den Jahren 1857 bis 1859 verwenden (Tab. 2).100 tars, S. 322–323. Sieben Jahre Verpflichtung waren laut Gesetz von 1847 in Kriegszeiten vorgesehen. In diesen Jahren konnte auch, weil inzwischen die Angst vor allzu häufigem Desertieren geringer geworden war, das Schwimmenlernen auf dem Programm stehen. (Ebd., S. 335–337) Eine sehr genaue Untersuchung der gesamten Schulschiff-Tradition liegt vor von Carradice, Phil: Nautical training ships, Stroud Gloucestershire 2009. 99 Evans, Evan, HM Sloop Dido 12.9.1851–15.12.1852, TNA, ADM 101/96/4. Surgeon Evans errechnet durch Personalwechsel während des Jahres auch »halbe Personen«. 100 Courtney, Charles F. A., HM Ship Highflyer 1.1.1859–31.12.1861, TNA, ADM 101/163, General Remarks.

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Tabelle 2: Anzahl Verstorbener an Bord der Highflyer 1857–1859 Alter in Jahren

Anzahl Verstorbener an Bord der Highflyer 1857–1859

20 bis 24

8

25 bis 29

4

30 bis 35

2

Gegen Ende unseres Untersuchungszeitraumes sind die Altersrelationen nicht wesentlich verändert. Im Journal der Juno von 1876 und 1877 und dem der Daphne von 1878 sind alle Krankheitsfälle tabellarisch in vier Altersgruppen erfasst (Tab. 3).101 Tabelle 3: Krankheitsfälle an Bord der Juno und der Daphne 1876–1877 und 1878 Alter in Jahren

Anzahl Patienten an Bord der Juno 1876 und 1877

Anzahl Patienten an Bord der Daphne 1878

15 bis 25

301

180

25 bis 35

162

93

35 bis 45

57

27

über 45

6

0

526

300

Total

Die Lebensalter sind also nur unter denjenigen, die im Laufe des Jahres auf der Sick List waren, ermittelt. Es findet sich aber eine Bemerkung des Schiffsarztes, wonach »die Hälfte der Mannschaft unter 23 Jahre alt war.«102 101 Nelson, Robert, HM Ship Juno 1.10.1876–31.12.1877, TNA, ADM 101/197 und Campbell, G. A., HM Sloop Daphne 1.1.–31.12.1878, TNA, ADM 101/199, jeweils in den General Remarks. 102 Ebd. Diese Altersverhältnisse waren jenen auf Handelsschiffen recht ähnlich. Rediker hat die Altersverteilung für die englische Handelsmarine des 18. Jahrhunderts ausgezählt und kommt auf bis zu 60 % Anteil der 20- bis 30-Jährigen, wobei die Offiziersränge naturgemäß später beginnen. Vgl.: Rediker, Marcus Buford: Between the devil and the deep blue sea: merchant seamen, pirates, and the Anglo-American maritime world, 1700–1750, Cambridge 1987. Die deutschen Verhältnisse beschreiben Gerstenberger, Welke: Vom Wind zum Dampf, S. 138 präzise: Die Eingangsstufe war der »Schiffsjunge«, der nach ein bis zwei Jahren »Leichtmatrose«, synonym auch »Jungmann« oder »Halbmann« (Ordinary Seaman) werden konnte. Nach vier bis sechs Jahren und bei einem Mindestalter von 20 Jahren konnte der See-

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Die Besatzung

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Die allgemeine und die seelische Verfassung der Mannschaft konnte dem aufmerksamen Beobachter wie etwa dem Schiffsarzt, der mehr oder weniger direkt für die Gesundheit verantwortlich war, schon bei Beginn der Reise im Besonderen einiges Kopfzerbrechen bereiten. So schreibt Surgeon John Buckly von der Sloop Rinaldo im Jahre 1870 regelrecht entsetzt über seine gerade erst übernommene Schiffsmannschaft. Wir erfahren hier auch, dass nach den Regularien eine Berechtigung zur Rückreise nach England erst nach dreijähriger Dienstzeit auf einer Station vorgesehen war. »Nach der Musterung bot die Mannschaft unseres Schiffes zum größten Teil  eine jämmerliche Erscheinung, da die meisten sich eher wie Obdachlose aus London präsentierten als wie Männer, die vor Eintritt in den Dienst sorgfältig ausgewählt worden waren und danach ein zweijähriges Training auf einem Schulschiff durchlaufen hatten. Die Blaujacken waren kleingewachsen und sahen ungesund aus. Ihre Erscheinung versprach kein großes Durchhaltevermögen. Eine Aussicht, die sich im Laufe des Jahres bewahrheitete. Die Männer, die auf der ›Donegal‹ zurückkehrten, zeigten eine viel gesündere Erscheinung, nachdem sie einen Auswahl- und Abhärtungs­ prozess durchlaufen hatten. Gegen Ende des Jahres hatte sich die allgemeine Erscheinung unserer Mannschaft sehr verbessert, da sie unter exzellenten hygienischen Bedingungen gelebt hatte, wie z. B. anregendes Wetter, gemäßigte Arbeitsbelastung, Überfluss an frischem Fleisch bester Qualität und Gemüse. Etwa 25 Männer der alten Besatzung, die die erforderliche Zeit von drei Jahren auf der Station noch nicht abgeleistet hatten, waren für die Rückpassage auf der ›Donegal‹ nicht zugelassen. Über sie sollte ich in meinen Bemerkungen über das häufige Vorkommen von Durchfallerkrankungen etwas sagen.«103

Die gleiche Ansicht findet Preston in einem Medical Journal von 1803, das den erbärmlichen Gesundheitszustand des größeren Teils der Mannschaft für die Colossus festhält, die »picked up by the police in London« gewesen sei und das nach zweijährigem (mehr oder minder unfreiwilligem) Dienst »eine beträchtliche Verbesserung dieser Rekruten« konstatiert.104

mann »Vollmatrose« (Able Seaman) werden. Die nächsten Stufen waren dann »Steuermann«, »Obersteuermann« und schließlich »Schiffer«. Die Bezeichnung der Steuermannsgrade als »Offiziersgrade« wurde als Entlehnung aus der Kriegsmarine in Deutschland erst 1902 üblich. Der Wandel der Bezeichnung des »Schiffers« zu der des »Kapitäns« war schon im Laufe des 19. Jahrhunderts geschehen und war nach Gerstenberger und Welke maßgeblich von den Frauen der Schiffer zur Befriedigung ihrer eigenen Geltungsbedürfnisse forciert worden. Die vielen terminologischen Übernahmen aus der militärischen in die zivile Welt (unter anderem vom »Entlaufen« von einem Schiff zum »Desertieren«) parallelisieren diese Autoren mit einer zunehmenden Hierarchisierung und einer damit einhergehenden »Subordination« an Bord. 103 Buckley, John., HM Sloop Rinaldo 10.5.–31.12.1870, TNA, ADM 101/182. Die ersten Schulschiffe, von denen hier gesprochen wird, waren die Rolla vor Portsmouth und die Nautilus vor Davenport 1848. Vgl.: Kemp: Sailor, S. 198. 104 Preston, S. 143.

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Der Alltag an Bord

Auf das Besoldungssystem soll hier nicht näher eingegangen werden. In mehreren Arbeiten finden sich Listen der Offiziersbesoldungen und der Heuern (wages).105 Lediglich einige Besonderheiten seien erwähnt, die für manche Seeleute einen emotional bedeutsamen Faktor dargestellt haben werden. Dies wäre zunächst die Möglichkeit, einen Teil der Heuer für Angehörige in der Heimat oder für sich selbst zu retten und sie damit dem oft zitierten Schicksal zu entreißen, dass sie während der Landgänge unterwegs, teils absichtlich, teils unabsichtlich verbraucht wurde. Gemeint ist das Angebot der Navy, einen Teil der Heuer direkt an eine Angehörigenadresse zuhause auszahlen zu lassen. Bis zu 50 Prozent der Seeleute nutzten diese Möglichkeit.106 Üblich waren Auszahlungen zwei Monate im Voraus vor der Ausfahrt, sowie zwei Monats-Heuern jeweils nach einem halben Jahr Dienst, sofern ein Paying Port, also ein entsprechender Hafen, erreicht war. Der Rest wurde am Ende der Reise oder der Verpflichtungszeit von in der Regel drei bis vier Jahren ausbezahlt. Manches Mal wird auch die erheblich unterschiedliche Entlohnung innerhalb der Schiffsbesatzung, zum Beispiel mit deutlich schlechterer Bezahlung des Heizerpersonales und besserer der Kanoniere, eine Rolle für das Selbstbild des jeweilig Bevorteilten und Benachteiligten gespielt haben, jedoch sind solche Beobachtungen und Überlegungen nicht in die Aufzeichnungen der Schiffsärzte eingeflossen. Seine Entscheidung, ein Besatzungsmitglied zur Diensttauglichkeitsuntersuchung zu melden, hatte aber materielle Bedeutung, denn sie begrenzte im Invalidisierungsfall die Summe der Dienstjahre. Eine Pension gab es (seit 1859) erst nach 22 Dienstjahren.107 Für so lange »Karrieren« konnte sich der Seemann zunächst für zwölf Jahre verpflichten, dann für nochmals zehn Jahre und für weitere Verlängerungen von jeweils fünf Jahren. Relevant für die Arbeitsmoral und Dienstauffassung war zweifellos ein ganzes System von Zulagen zum Sold. Es gab zum Beispiel für fünf Jahre Dienst ohne Rechtsbrüche, aber auch für den Verzicht auf die tägliche Rumration begehrtes Extra Pay.108 Schlussfolgerungen Die Zusammensetzung der Schiffsbesatzung lässt sich hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft und ihrer Alltagsstruktur gut, hinsichtlich ihrer Handlungsmotive zur See zu fahren, nur unscharf fassen. Wichtiges Kennzeichen ist das geringe Lebensalter. Mit 14 Jahren, ja mit zwölf Jahren konnte man als »Junge« an Bord gehen, mit 40 Jahren war man nur ausnahmsweise noch dort. Die »einfache« Mannschaft stammte aus einfachen 105 Lavery: Royal tars; Lloyd, C.: The British seaman, S. 248–254. 106 Kemp: Sailor, S. 193. 107 Ebd., S. 198. 108 Ebd., S. 202.

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Gefährliche Arbeit

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Verhältnissen, die Offiziere waren als Adelsschicht, als Upper Class, praktisch unter sich. Ein Wechsel zwischen den beiden Gruppen war kaum möglich. Über die Motive jener Zeit, zur See zu fahren, können wir Vermutungen nur dann anstellen, wenn wir davon ausgehen, dass sich die Hoffnungen und Ängste der Menschen des 19.  Jahrhunderts nicht wesentlich von denen des 20.  Jahrhunderts unterschieden. Dann wären familiäre Tradition, Neugier, Reiselust die eine, Flucht aus prekären Verhältnissen und Vermeidung von Auseinandersetzungen an Land die andere grobe Richtung. Ob daraus auf eine besonders hohe oder niedrige Vorbelastung mit psychischen Störungen zu schließen ist, muss für unseren Untersuchungszeitraum offen bleiben. Studien aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weisen zwar auf erhöhte Häufigkeiten hin, jedoch ist die Frage, ob wegen psychischer Störungen zur See gefahren wird oder wegen der Seefahrt psychische Störungen auffällig werden, nicht abschließend beantwortet. Eine extrem wichtige Randbedingung, die immer wieder genannt wird, allerdings wohl mehr vermutet als belegt, nämlich die unfreiwillige Anwesenheit an Bord dadurch, dass der Seemann durch Press Gangs an Bord eines Schiffes verschleppt worden ist, fällt für die Schiffe und die Menschen, von denen unsere Quellen zeugen, fort. Noch für die unserem untersuchten Zeitrahmen unmittelbar vorausgegangene napoleonische Zeit ist von bis zu 50 Prozent der Männer auf den Navy-Schiffen auszugehen, die in irgendeiner Form gepresst waren. Mit dem Jahrzehnt zwischen 1820 bis 1830 sank diese Zahl auf Null. Wohl aber blieb die Erinnerung an die rabiate Form der Rekrutierung im Bewusstsein der Menschen der »Pax Victoria«, der gegen ein Jahrhundert dauernden relativ friedlichen Phase für das Vereinigte Königreich.

4.6 Gefährliche Arbeit Ein Schiff war stets ein gefahrvoller Arbeitsplatz, und er ist es bis heute. Deshalb hatte der Schiffsarzt häufig Verletzungen zu versorgen, von Bagatellverletzungen mit Verstauchung oder Schürfung bis zu komplizierten Knochen­frakturen und Kopfverletzungen. Die Schädel-Hirn-Traumen interessieren uns mit ihrer neuropsychiatrischen Symptomatik besonders und werden in einem eigenen Abschnitt der Fallberichte dargestellt. Mit der Umstellung von der Segel- zur Dampfschifffahrt ging eine Umverteilung der Unfälle einher: Auf den Segelschiffen war die absolute Zahl an Verletzungen, man kann sicher zum größten Teil  von Arbeitsunfällen sprechen, geringer als auf Dampfschiffen, dafür aber die relative Anzahl an tödlichen Unfällen größer. Der Grund hierfür liegt in der Tatsache, dass die Stürze aus großen Höhen bei Segelmanövern häufig nicht überlebt wurden. Wir finden im Fall-Abschnitt »Concussion of the Brain« mehrere Beispiele solcher tödlicher

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Der Alltag an Bord

Ausgänge. Auch war der Sturz in das Meer von der über die Bordwand hinausragenden Rah eine Unfallquelle, die rasch mit dem Ertrinken enden konnte. Diese große Gefahrenquelle fiel bei den Dampfschiffen mehr oder weniger weg, dafür waren aber mehr Gefahrenmomente in der Maschine verborgen: Die Explosion des Druckkessels, der Rohrbruch mit Entweichen des extrem heißen, unter hohem Druck stehenden Dampfes, heiße Maschinenteile, sich bewegende, oft schnell bewegende, in der Dunkelheit schlecht sichtbare Teile. Eine unsichtbare Gefahr verbarg sich im Wellentunnel zwischen Maschine und Schraube, der sich mit Kohlenmonoxid und anderen toxischen Gasen füllen konnte, ebenso wie es in schlecht belüfteten Kohlenbunkern geschehen konnte. In ihnen konnte sich, wenn sie weitgehend leergeräumt waren, brennbares Kohlengas bilden, das bei unbedachter Verwendung von offenem Licht explosionsartig abbrannte.109 Da im untersuchten Zeitraum die Schiffe gleichzeitig mit Segel und mit Dampfmaschinen operierten, muss angenommen werden, dass sich beide Gefahrenquellen und -häufigkeiten addierten.110 Nocht nennt Zahlen aus dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, als es bereits viele rein dampfgetriebene Schiffe gab und stellt fest: »Die Zahl der nicht tödlichen Verletzungen ist also auf Dampfern beträchtlich höher als auf Segelschiffen. Die Verletzungen auf Segelschiffen sind aber im Durchschnitt viel schwerer als auf Dampfern; auf Segelschiffen endet ungefähr die Hälfte aller Unfälle tödlich, auf Dampfern nur ein Zehntel«111. 109 Frohberg: Gesundheitsschäden der Heizer, S. 44–49. 110 Eine Skizzierung der ganzen Breite von Gefahrenmomenten für das Schiff und für die Besatzung findet sich bei Liss, C.; Stenross, K.: Hazards of Seafaring, in: Hattendorf (Hg.): Oxford encyclopedia 2007, Bd. 3, S. 545–549. Beispielhaft sei ein reichlich ungewöhnlicher Fall eines Explosionsunglückes aus unseren Quellen genannt, der für den 23.9.1858 von Bord der Pylades berichtet ist. Beim Abfüllen der wöchentlichen Rumration für die ganze Mannschaft ging das Fass Rum »mit einem enormen Knall« in Flammen auf und verbrannte dem mit der Aufgabe betrauten Mann ein Drittel seiner Haut. Er verstarb zwei Tage später im Railway Hospital von Kalkutta, wohin er sofort gebracht worden war. (Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 1. Teil, 25.2.–31.12.1858, TNA, ADM 101/167, lfd. Fallnr. 182.) Mit der Technisierung an Bord hielten auch neue Chemikalien Einzug in das Engineering Department. So berichtet der Arzt der Juno von einer großen Zahl von Verletzungen, die er unter »Burns«, Verbrennungen einordnete. Die Maschinisten hatten zum Entkalken der Wasserkessel in der Dampfmaschine eine »Franklands Composition« verwendet, die sie »aus Unvorsicht und Ignoranz« auch zum Ablaugen von Farbe mit bloßen Händen benutzten und sich damit schwere Verätzungen zuzogen. (Nelson, Robert, HM Ship Juno 1.10.1876–31.12.1877, TNA, ADM 101/197, General Remarks.) »Franklands Composition«: Vermutlich auf Sir Edward Frankland (1825–1899) zurückgehend, Lehrstuhlnachfolger von Faraday in London, einer der Wegbereiter organischer Chemie. Siehe: Encyclopædia Britannica, Chicago 2007, Bd.4, S. 941. 111 Nocht, Bernhard: Vorlesungen für Schiffsärzte der Handelsmarine über Schiffshygiene, Schiffs- und Tropenkrankheiten, Leipzig 1906, S.  43–45. Demnach verunfallten von 1 000 auf deutschen Seeschiffen beschäftigten Personen 52 auf Dampfschiffen und 18 auf Segelschiffen mit Verletzungen, die nicht tödlich ausgingen. Dagegen wurden von 1 000

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Auf den Rahen der größten Segelschiffe fanden zum Segelsetzen und -einholen bis zu dreißig Mann Platz. Die größten Segel maßen etwas über dreißig Meter in der Breite, ihre Fläche von bis zu 1 400 Quadratmeter nahm viele Tonnen Winddruck auf. Die Arbeit musste bei Neigebewegungen des Schiffes um 30, ja 40 Grad ausgeführt werden. Das Kommando zum Aufentern, also zum Hinaufklettern in den Mast, um ein Segel an seiner Rah zusammen­ zuraffen und es dann mit den »Zeisingen«, den Bändseln, zusammenzuzurren, war der nur in der Kriegsmarine verwendete Ruf: »Lash up’n stow«, was wörtlich zu übersetzen wäre mit »Aufbinden und Verstauen«. Von den rein seglerischen Arbeiten war das Lee-Brassen besonders gefährlich. Dies bedeutete das Lösen, Holen und Festmachen der Leinen an jener Deckseite des Schiffes, die vom Wind abgelegen ist (die Lee genannt wird), damit aber auch auf jener Seite, die durch den Wind tiefer und damit in die Nähe der Wasseroberfläche gedrückt wird. Hier konnten große »Seen«, wie Wellen vom Seemann genannt werden, überkommen und den Mann fortreißen und unter Umständen über Bord spülen. Zum Ankerhieven waren bis zu 100 Mann an der Winde eingesetzt. Gefährlich konnte die Ankerwinde werden, sobald ihre zahnradähnliche Vorrichtung, die normalerweise das Zurückdrehen der Spindel verhinderte, durch Überlastung zerstört wurde. Die enorme Hebelkraft, die auf die Winde wirkte, nämlich das viele Tonnen schwere Gewicht des Ankers und die Zugkraft des Schiffes, konnte gleich mehrere der Matrosen töten oder schwer verletzen. Berichte solcher Unfälle existieren von Bord großer Frachtsegler.112 Auf den mit Dampfmaschine fahrenden Schiffen galt als schwierigste Arbeit das An-Deck-Holen des Schiffspropellers.113 Dass Matrosen der Kriegsmarine auch für gefährliche Sonderaufgaben eingesetzt wurden, zeigt der Bericht über einen tödlichen Unfall aus dem Jahr 1858. Ein Mann der Chesapeake war zur Bergung einer untergegangenen Fracht in einer Taucherglocke eingesetzt. Diese wurde plötzlich leck, Wasser brach ein

Personen sechs auf Dampfschiffen und 18 auf Segelschiffen durch Unfall getötet. »Die Ver­ letzungen bei den Männern im Maschinenbetrieb entsprechen den technischen Gegeben­ heiten. Verbrennungen und Verbrühungen, beim Platzen eines Dampfrohres auch tödliche, sowie Quetschungen und Verstauchungen.« Die Heizer und Kohlenzieher arbeiteten barfuß, und entsprechend ausgesetzt waren ihre Füße und Unterschenkel. War erst einmal eine Verletzung entstanden, so entwickelten sich leicht hartnäckige und umfangreiche Unterschenkelgeschwüre. Augenverletzungen kamen durch Kohlenpartikel und Aschefunken häufig vor; diese entwickelten sich wiederum in aller Regel nicht entzündlich. Beim Kohleladen konnten herabstürzende, grobe Kohlestücke Prellungen und Frakturen verursachen und »in einigen seltenen Fällen sind auf diese Weise Leute ganz verschüttet worden. Ihre Leichen fand man später beim Schwinden des Kohlenvorrates.« 112 Hugill: Shanties, S. 594. 113 Winton, S. 192–194 .

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Der Alltag an Bord

und der Mann ertrank, ohne dass er noch das vereinbarte Alarmzeichen hatte geben können. (»A man belonging to the same ship was accidentally drowned while down in the diving-bell, attempting to secure part of the treasure lost in the steam-packet Ava, off the coast of Ceylon. The water suddenly burst into the bell, so that he was unable to give the accustomed signal.«114 Auch der gefürchtete Unfall im Umgang mit Waffen, der unbeabsichtigte Schuss etwa bei Übung und Wartung, ist berichtet. (»An officer was killed by an accidental gunshot wound through the head,…«)115 Im selben Bericht ist eine weitere Gefahr des militärischen Dienstes festgehalten, nämlich Opfer eines Mordes zu werden. (»A seaman and  a marine were assassinated by Japanese while they were on duty as guard at the British embassy at Yeddo.«)116 Auch die bloßen klimatischen Bedingungen konnten eine Gefahr darstellen. Die Mannschaft musste zu Wooding and Watering an Land, also zum Nachschub-Holen von Holz (wohl als Brennholz) und Wasser, ganz gleich, wie ungesund die Arbeitsbedingungen waren. Die Leute der Imogene taten dies an einem sumpfigen Küstenstreifen in der Nähe Kantons mit Temperaturen bis gegen 80 Grad Fahrenheit (27°C), worauf eine Fieberepidemie unter der Besatzung ausbrach, die sechs Todesopfer kostete.117 Hinzu kamen Ertrinkensunfälle, deren Bedingungen und Umstände in Abschnitt 5.11 anhand konkreter Fälle beschrieben werden. Auch ohne zu ertrinken, konnte der Sturz in das Meer Lebensgefahr bedeuten. Denn in bestimmten Gewässern fürchtete man Haie. Von der Weltumsegelung der österreichischen Fregatte »Novara« ist der folgende Bericht erhalten: »Bald hätten wir am Neujahrstage ein großes Unglück erlebt. Ein Junge, welcher auf den Wanten herabkletterte, fiel über Bord. Das Meer war allerdings ruhig und still, aber schon am Morgen des selben Tages hatten wir viele Haifische, jene fürchterlichen Feinde des Menschen im Ocean, gesehen, und das Leben des armen Jungen schien ernstlich bedroht. Im nämlichen Augenblicke, wo der Junge ins Meer fiel, wurde die Rettungsboje losgeworfen, ein Boot gestrichen und alle Maßregeln zur Rettung getroffen. Obschon derselbe des Schwimmens kundig war, benahm er sich doch, wahrscheinlich aus Schrecken, höchst ungeschickt und wäre unzweifelhaft ertrunken, wenn nicht der zweite Hochbootsmann und zwei andere Matrosen ins Wasser gesprungen und ihm muthig zu Hülfe geeilt wären. Mittlerweile befand sich auch das Boot im Wasser, so daß der Gerettete und die Retter ohne weitere Schwierigkeiten an Bord gebracht werden konnten.«118

114 House of Commons 1858 (473) Navy (health): Stat. Rep. für 1856, S. 138. 115 House of Commons 1865 (419) Navy (health): Stat. Rep. für 1862, S. 236. 116 Ebd., S. 237. 117 House of Commons 1841 (53) Navy (health): Stat. Rep. für 1830–36, S. 96. 118 Von Wüllerstorf-Urbair: Reise der Oesterreichischen Fregatte Novara um die Erde, Wien 1861–1862, Bd. I, S. 257.

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Eine für die Kriegsmarine spezifische Gefahr stellte die große Menge des an Bord mitgeführten Schießpulvers und der verschiedenen vorgefertigten Geschosse. Bei Israel finden wir die Beschreibung: »Für die Arbeit in der Pulverkammer, einem höchst brisanten Ort im Achterschiff, galten strenge Regeln. Hier reicht der Feuerwerker die Pulverkartuschen aus Flanell dem Gehilfen, der sie dann durch den Sicherheitsvorhang, bestehend aus nassen Decken, an die Munitionsmannen – meist noch Kinder – weitergibt. Diese schieben die Kartuschen in zylindrische, mit einem Deckel verschließbare Messingblechdosen oder lederne Behälter und bringen sie darin zum genau bezeichneten Geschütz. In der Pulverkammer durfte nur barfuß oder in Filzpantoffeln gearbeitet werden, um Funkenbildung durch Reibungselektrizität und damit die Explosion des Pulvers zu vermeiden. Erhellt wird die Kammer durch eine Laterne, die aus Sicherheitsgründen im angrenzenden Raum hinter dicken Glasscheiben steht.«119

Auch Pietsch120 berichtet, dass besonders die kleinen und flinken Schiffs­jungen während Schiffsgefechten als Läufer zwischen den Kanonen und der Pulverkammer tief unter Deck unterwegs waren. Nicht zu vergessen sind die auch noch im 19. Jahrhundert erheblichen Gefahren von Strandung, Havarien und Kaperungen.121 In den Medical Journals finden sich alle typischen Unfallarten: Sturz von der Rah durch Ausrutschen, durch Weggeschleudert-Werden, weil ein schweres Tau gegen den Mann schwang, durch Fehltritte beim Übersteigen von einem Stand zum nächsten. Hinzu kommt ein gefürchteter Unfall durch die sprichwörtlichen »Witwenmacher«. So wurden die Blöcke aus Holz genannt, durch die das bewegliche Gut, also alle Arten von Leinen, lief. Als Folge irgendeines Bedienungsfehlers oder auch eines Defektes, z. B. wenn ein Tau riss, konnten diese Blöcke, die enorme Größe und Gewicht haben konnten, plötzlich an einem noch mit ihnen verbundenen Tau über das Schiff schwingen, von anderen Leinen womöglich in der Bahn plötzlich umgelenkt, und nach blindem Zufall jeden be­ liebigen an Deck befindlichen Seemann mit ihrem ganzen Gewicht treffen. Dadurch kam es zu tödlichen Verletzungen. Vollständig erfasst sind die Unfallzahlen jeweils für ein Jahr in den Statis­ tical Reports. Die verschiedenen Unfallarten werden nur gelegentlich beschrieben. Im statistischen Jahresbericht für 1863 finden wir in dem die ostindische Station betreffenden Abschnitt eine nüchterne Aufzählung von Unfällen, die 119 Israel, U.; Gebauer, J.: Segelkriegsschiffe, Berlin 1982, S. 76. 120 Pietsch, S. 4. Er bezieht sich unter anderem auf ein Tagebuch eines Schiffsjungen »The Interesting Narrative of the Life of Olaudah Equiano« von 1791. 121 Siehe hierzu: Bohn, R.; Lehmann, S.: Strandungen – Havarien – Kaperungen, Amsterdam 2004. Dass technische Neuerungen im Verlaufe des 19. Jahrhunderts einschließlich verbesserter Sicherheitssysteme auch neue Risiken produzierte, indem »riskanter gesegelt« wurde, zeigt Cramer, Stephan: Riskanter Segeln, Bremen 2007.

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sämtlich tödlich verlaufen sind: Sturz durch eine Ladeluke, Sturz »from aloft«, also aus der Takelage; Umgestoßen-Werden von einem Kameraden, der von der Bordwand herabgestürzt kam, auf einen anderen Matrosen fiel und dessen Kopf so heftig gegen einen eisernen Ring stieß, dass er eine Schädelfraktur erlitt; Zerquetscht-Werden zwischen der Bordwand des Schiffes und der eines Bootes, das in einer Sturmbö losgemacht worden war; Sturz von der Gangway des Schiffes auf das Dollbord (den oberen Abschluss eines Bootes, in den die Gabeln für die Riemen eingeschnitten oder eingelegt sind) eines längsseits festgemachten Bootes.122 Wenn in diesem Bericht schließlich drei Männer von kleinen Kanonenbooten erwähnt sind, die ohne nähere Angaben »durch Gewalt« den Tod fanden (»Three deaths by violence occured in the gunboats, but no details are given in connection with them.«), so ist neben all den schon genannten Gefahrenquellen auch an Aggressivität untereinander und an Streitsituationen mit tödlichen Folgen zu denken.123 Insgesamt gehen für die ostindische Station im Jahre 1863 von 167 Todesfällen 116 auf das Konto von Krankheiten, aber die stattliche Zahl von 51 auf das Konto von Gewalteinwirkung.124 Für 1879, also am Ende unseres Untersuchungszeitraumes, zeigt eine Tabelle »Deaths by Violence« die Häufigkeitsverteilung von insgesamt 106 Todesfällen durch Unfälle verschiedener Art.125 Einen noch breiteren Überblick liefert eine weitere Tabelle dieses Berichtes, in der die Zahlen der Jahre 1856 bis 1879 für sämtliche Flottenteile der Royal Navy zusammengestellt sind. Demnach ist ein Fünftel bis ein Drittel der insgesamt an Bord um das Leben Gekommenen durch Unfälle und Gewalteinwirkungen gestorben, die anderen zwei Drittel bis vier Fünftel durch Krankheit.126 Wie verhielt sich nun der erfahrene Seemann zu drohenden Gefahren? Wir finden wenige Hinweise auf seine Einstellung. Die eine Richtung hebt Wossidlo heraus, wenn er eben diese Frage so beantwortet: »Die erfahrenen Janmaaten nahmen sie mit Gleichmut auf. … Auch grimmiger Humor kam zu Platz. … Größere Sorge bereitete die Ungewissheit.«127 War die Gefahr überstanden, tauschte man untereinander verharmlosende Sprüche aus. Wossidlo findet allein in der regionalen Sprache der mecklenburgischen Küste einen »unerschöpflichen Reichtum an Redewendungen und Ausdrücken« für alle Unglücksfälle bis hin zum Schiffsuntergang. Nach Wossidlos Einschätzung gab es »nur wenige Matrosen, die ganz ohne Schiffbruch durchgekommen waren und die immer Glück hatten«.128 122 House of Commons 1866 (458) Navy (health): Stat. Rep. für 1863, S. 241–242. 123 Ebd., S. 243. 124 Ebd. 125 House of Commons 1880 (375) Navy (health): Stat. Rep. für 1879, S. 9. 126 Ebd. 127 Wossidlo, S. 138–140. 128 Ebd.

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Auf der anderen Seite gab es tiefe Betroffenheit und auch emotionale Ausdrucksmöglichkeiten. Insbesondere auf den knapp besetzten oder klar unter­ besetzten Schiffen, die im Laufe des 19.  Jahrhunderts in der Handelsmarine durch Reduzierung der Mannschaftsstärke immer häufiger wurden, zählte in sehr praktischem Sinne jede Hand. Durch den Tod eines Mannes wurde die Arbeit noch härter. In solchen Momenten von Verlust wurden auch beim erfahrensten und »härtesten« Seemann Sinnfragen angestoßen. Weibust zitiert nach dem Tod eines jungen Matrosen dessen älteren Kameraden: »Wie kann das Leben grausam sein. Warum soll so ein feiner junger Kerl wie er gehen müssen, wenn ein alter, versoffener Teufel wie ich Jahr für Jahr an Bord und wieder an Land geht. Das ist nicht gerecht.«129 Und derselbe weiter: »Das Schiff ist eine eigene Welt, in der der Tod brutal und fast sichtbar einen Kameraden schnappt. Heute warst du es, morgen kann ich es sein.« Schlussfolgerungen Dass das Schiff ein gefahrvoller Arbeitsplatz ist, ist evident. Wir stellten bereits fest, dass die ungewisse und gefährliche Seite der Welt des Meeres einen Teil ihres Reizes und einen Teil der Motivation, zur See zu fahren, ausmacht. Auch wer die Gefahr nicht eben sucht, muss sie doch klar erkennen und annehmen, um mit ihr umgehen zu können. Auf Gefahren reagieren wir mit Angst als sinnvollem Warnsignal, auf überstandene Gefahren können wir mit Schrecken und Verunsicherung einerseits, mit Befreiung und Erleichterung und schließlich mit Stolz und Stärkung des Selbstbewusstseins andererseits reagieren. Jeder Seemann wird auf seine eigene Weise reagiert haben und zu verschiedenen Zeitpunkten wiederum verschieden. Ein Merkmal schält sich als eine Gemeinsamkeit heraus: Es wurde den Gefahren ins Auge geschaut, und sie wurde dabei klein gemacht, in Worten verharmlost, verlacht oder, vielleicht am häufigsten, verschwiegen. Konkret drohende Gefahren wurden angepackt, einerseits mit Mut und aus innerer Verpflichtung gegenüber der jeweiligen Rolle im sozialen Gefüge, andererseits aus einer Disziplin heraus, von der unten noch gesprochen werden wird. Überstandene Gefahren wurden regelrecht verharmlost. Jede Euphorie und jedes Großsprechertum wären fehl am Platze gewesen: Die nächste Gefahr ließ bestimmt nicht lange auf sich warten. Dies alles bedingt, dass wir bei der Besatzung eines Schiffes eine hochgradige emotionale Zurückhaltung, eine kollektive aktive Verdrängung von »expressed emotions« annehmen müssen. Wer dies nicht konnte, konnte nicht gut bestehen an Bord. Wer sich hierin falsch eingeschätzt hatte, musste unter den bestehenden Bedingungen aushalten, bis er nach wochen- und monatelanger Fahrt von Bord gehen konnte, vertragsgemäß oder per Entlaufen oder Desertieren. 129 Weibust: Deep Sea Sailors, S. 166.

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Der Alltag an Bord

Im Abschnitt »Overanxiety, Anpassungsstörungen« sind die wenigen Fallgeschichten gesammelt, in denen der hier beschriebene Kompensationsmechanismus versagte und ein Störungsbild entstand, das der Schiffsarzt als »Krankheit« definieren und so den Matrosen oder den Offizier auf die Krankenliste nehmen konnte. Wir müssen davon ausgehen, dass anhaltende psychische Problematik, die psychopathologische Symptome produzierte, das »Aus« für den Seedienst bedeutete. Wir werden in den entsprechenden Fallberichten des öfteren »Sent home to England« lesen. Psychosomatische Störungen, die noch nicht als Geschehen wechselseitigen Zusammenhanges physischer und psychischer Krankheitsfaktoren aufgefasst wurden, konnten eine lange Krankheitsgeschichte bewirken. Die Ärzte an Bord ließen in ihren Therapiebemühungen um das körperliche Leiden nicht nach, auch wenn sie keine ihnen bekannte und plausible Krankheitsursache feststellen konnten und diagnostisch auf Symptomebene bleiben mussten.

4.7 Krieg Militärmedizinische Aspekte der untersuchten Quellen sind nicht intendierter Gegenstand dieser Arbeit. Doch kann nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich bei den untersuchten Schiffen durchweg um Kriegsschiffe der Royal Navy handelte, dass es bewaffnete Einheiten waren und dass diese Waffen bei aller Absicht, den einen oder anderen status quo bloß erhalten und schützen zu wollen, auch eingesetzt werden konnten und je nach Lage auch eingesetzt werden sollten. Für die hier untersuchte Zeit und die berücksichtigte Region sind die sogenannten Opiumkriege, ferner die nordindischen Aufstände von 1857 und schließlich die zahlreichen Attacken durch Piraten zu berücksichtigen. Gerade im malaiischen Archipel und an der chinesischen Küste war die Piraterie ein großes Problem.130 Die Briten hatten größtes Interesse an einer möglichst sicheren Handelsschifffahrt von und nach Fernost. Black formuliert: »Freier Handel war ein entscheidender Gesichtspunkt der britischen imperialen Ideologie. Sendungsbewusstsein, Selbstbewusstsein und Eigeninteresse verbanden sich im Ideal der Handelsfreiheit, das sich sowohl in moralischen als auch ökonomischen Werten darstellte.«131 Die Vormachtstellung des Vereinigten Königreiches war an die Beherrschung und Kontrolle der Meere weltweit gebunden. Erreicht wurde dies seltener durch »offensive Militäroperationen«, als durch »Abschreckung mittels bloßer Verfügung über eine überwältigende Schlagkraft«.132 130 Vgl.: Ritchie, Robert: Piracy, in: Hattendorf (Hg.): Oxford encyclopedia 2007, Bd. 3, S. 296–300. 131 Black: Seaborne empire, S. 192. Vgl. insbesondere: Angster: Erdbeeren und Piraten. 132 Lambert, Andrew: The Shield of Empire 1815–1895, in: Hill, John Richard (Hg.): The Oxford illustrated history of the Royal Navy, Oxford 1995, S.  161–199, S.  161; ders.: Wirt-

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Für die imperiale Expansion, die das ganze 19.  Jahrhundert kennzeichnet, hatte Großbritannien mit den Stützpunkten Singapur seit 1819 und Malakka seit 1824 in Asien gute Bedingungen. Seit 1806 war mit Simon’s Town am Kap der Guten Hoffnung auch der wichtigste Hafen auf dem Weg nach Fernost in britischer Hand. Immer wieder gab es Versuche, Chinas Öffnung für den Import von Waren aus dem Westen zu erzwingen. 1839 gerieten die Auseinandersetzungen zwischen chinesischen und britischen Interessen um den zunehmenden illegalen Opiumimport aus Indien nach China hauptsächlich durch die britische East India Company, der mit dem Baumwoll- und mit dem Teeimport verknüpft war, außer Kontrolle. Die chinesischen Streitkräfte wurden in den direkten Kämpfen des sogenannten »Ersten Opiumkrieges« förmlich überrannt.133 In den Verträgen von Nanking 1842 und von Bogue 1843 erzwang Großbritannien Handels- und Niederlassungsrechte für sich in fünf chine­ sischen Häfen und konsolidierte damit seine Position in diesem Handel.134 1856 bis 1858 führte die englische Flotte eine später als »Zweiter Opiumkrieg« bezeichnete (in der englischen Literatur häufiger »Zweiter Chinakrieg« oder auch »Arrow War«, nach dem dabei beteiligten Schiff Arrow, genannte) Attacke gegen die chinesischen Festungen von Kanton durch, um den Zugang zum gleichnamigen Fluss zu kontrollieren. Es waren die Jahre, in denen Großbritannien auch die Aufstände in der indischen Armee, die sogenannte Indian Mutiny niederschlug. Drei der in unseren Quellen vertretenen großen Schiffe werden in Zusammenhang mit dieser Operation in einschlägigen historischen Arbeiten erwähnt, die Sanspareil, die Shannon und die Pearl, ferner das hier einbezogene ärztliche Journal aus den Forts in Canton River. Nach dem Sieg britischer Schiffe über eine große Zahl chinesischer Kriegsdschunken (War Junks) im Fluss Fatchan (Fatchan Creek) und der Einnahme Kantons im Dezember 1857 nicht nur durch britische, sondern auch durch französische Truppen, scheiterten die Verhandlungen über die von den Kolonialreichen geforderten Handelsrechte trotz eines 1858 in Tientsin unterzeichneten Vertrages. So kam es in den beiden Folgejahren zu weiteren Kampfhandlungen, unter anderem im Juni 1859 zu einem Angriff an den Taku Forts in der massiv gesicherten Mündung des Flusses Peiho, die in der »einzigen wirklichen Niederlage der Royal Navy während des schaftliche Macht, S. 243–268, S. 248. Zu den Verschränkungen von Handelskompanie und Kriegsmarine in Ostasien vgl. auch Nagel: Fernhandel; Kennedy, Paul: The rise and fall of the great powers, London 1988. 133 Lambert, ebd., S. 180–181. 134 Sondhaus: Naval warfare, S.  3537; Farooqui, Amar: Opium City, Gurgaon 2006. In diese Zeit fällt auch die Verdrängung der Dänen als Handelsnation aus der Region des Indischen Ozeans durch die Briten. Die britische East India Company und die niederländische Verenigde Oost-Indische Compagnie (VOC) dominierten den Handel. Krieger: Kaufleute, S. 198–206. Eine eigene sozialgeschichtliche Studie zu Einfuhr und Ausbreitung des Opiums liegt vor von Zheng, Yangwen: The social life of opium in China, Cambridge 2005.

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ganzen 19. Jahrhunderts«135 endeten, bis schließlich im Oktober 1860 im Vertrag von Peking die Vereinbarungen von Tientsin Gültigkeit erlangten und darunter auch der Opiumhandel festgeschrieben wurde.136 Gleichzeitig waren die Briten in den Wirren der »Taipi-Rebellion« gegen die zentralchinesische Regierung in Shanghai, dem wichtigsten Handelshafen der Region, engagiert. Nur drei Jahre später stand dasselbe Motiv der Erzwingung von Handelsfreiheit hinter militärischen Aktionen in japanischen Häfen. Nachdem 1853 durch militärische Drohung der US-amerikanischen Flotte (die »schwarzen Schiffe« des Commodore Perry) die wirtschaftliche Öffnung des alten Japans erreicht worden war, war es in den Jahren bis 1863 zu einer mäch­tigen Widerstandsbewegung innerhalb Japans gekommen, die die Vertreibung der Eindringlinge zum Ziel hatte. Im »Bombardement von Kagoshima« im August 1863 und der Beschießung von Shimonoseki im September 1864, beide von See aus durch die vereinten Flotten von Frankreich, den Niederlanden, USA und Großbritannien durchgeführt, wurden japanische Häfen für fremde Schiffe geöffnet. Es folgten politische Regelungen mit festen vertraglichen Handelsvereinbarungen.137 Nach diesen mit militärischen Mitteln beendeten Konflikten mit China, Indien und Japan war nach Einschätzung Lamberts »die Royal Navy bis 1895 die unbestrittene Macht in den fernöstlichen Gewässern, … und es kam nach 1860 am östlichen Rand des Empire zu keinen weiteren Ausein­ andersetzungen mehr auf dem Wasser. Bedrohungen kamen von Land, nicht von See her.«138 In unseren ungedruckten Primärquellen, den Medical Journals, finden die Kriegshandlungen allein in den stets kurz gehaltenen Eintragungen zu den Krankheitsverläufen, die dann etwa »Gun Shot« oder »Shot by a Musket« lauten, ihren Niederschlag. Ausnahmen bilden die Medical Journals der Chesapeake mit Skizzen zu den Kämpfen im Fluss Peiho und der Raleigh mit Fallberichten von Verwundeten von den Kämpfen am Fatchan Creek.139 Die Schiffsärzte waren gehalten, in ihren Büchern keine militärischen Aspekte zu beschreiben. In den Statistical Reports der Kriegsjahre bilden sich die militärischen Aktivitäten in steigender und fallender Anzahl von Schiffen und entsprechenden Be­ satzungsstärken ab. Dabei hatten die Matrosen, die Blue Jackets, eine höhere Unfallrate und auch eine höhere Rate an Ertrinkensunfällen als die an Bord mitfahrenden Soldaten, die Marines. Der statistische Jahresbericht für 1857 führt Zahlen für die kom 135 Lambert: The Shield of Empire, S. 184. 136 Encyclopædia Britannica, Chicago 2007, Bd. 8, S. 967–968. 137 Hill, Richard: War at Sea in the Ironclad Age, London 2002; Sondhaus: Naval warfare, S. 65–70. 138 Lambert: The Shield of Empire, S. 184. 139 Dickson, Walter, HM Frigate Chesapeake »Part Second«, 12.7.1858–30.6.1859, TNA, ADM 101/169. Crawford, J. J., HM Frigate Raleigh 4.9.1856–25.8.57, TNA, ADM 101/161.

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plette englische Flotte an.140 Es waren in jenem Jahr weltweit auf allen Schiffen der Royal Navy 35.800 Blue Jackets und 6.582 Marines eingesetzt. Durch äußere Gewalteinwirkung, also nicht an Krankheiten Verstorbene, gab es 118 Tote. 38 von ihnen kamen in kriegerischen Kampfhandlungen um, 66 durch Unfälle, 5 durch Suizid. 79 Mann sind ertrunken, acht Tote gab es ohne Ursachenklärung, ein Navy-Angehöriger starb nach einem Todesurteil auf dem Schafott (ohne nähere Angaben zu den Hintergründen, »One died on the scaffold«). Alle Todesfälle durch Kampfhandlungen entstammen den militärischen Aktionen in China (20 Tote) und Indien (18 Tote), wobei der Berichterstatter eine Unterteilung dieser Zahlen in Soldaten und Matrosen unterlässt. Auch in der Zahl der Ertrunkenen ist Ostasien mit 13 Fällen in Folge der Krieghandlungen überrepräsentiert. Weltweit verloren insgesamt durch Unfall und Krieg 96 Blue Jackets und 14 Marines ihr Leben. Ertrunken sind 66 Blue Jackets und acht Marines. Relevant sind die Relativzahlen, da es sehr viel mehr Matrosen als Soldaten an Bord gab. Für die Blue Jackets sind es 4,5 auf 1 000, für die Marines 3,3 auf 1 000. Diese Differenz zu Ungunsten der für das Schiff zuständigen Seeleute erklärt der Berichterstatter des Statistical Reports mit der Arbeit der Matrosen »aloft«, also in der Takelage, mit der Gefahr tödlicher Stürze. Tabelle 4: Todesfälle an Bord in der Royal Navy weltweit im Jahre 1857 Besatzung R. N. weltweit 1857

Opfer durch äußere Gewalt

Opfer durch Kampfhandlungen

Unfallopfer

Ertrunkene

Gesamt weltweit: 42 472

118

38

66

79 (5 durch Suizid?)

Blue Jackets: 35 890

96; 4,5/1 000

keine Angabe

keine Angabe

66

Marines: 6 582

14; 3,3/1 000

keine Angabe

keine Angabe

8

Auch ein Schiffsarzt konnte direktes Opfer von Kriegshandlungen werden, wie der für die Marinesoldaten zuständige Staff Surgeon, der 1858 während der Auseinandersetzungen um Kanton in die Hände der Gegner gefallen war. (»The Staff Surgeon of the Royal Marines was cruelly put to death by the Chinese, into whose hands he fell when on service with the force a few miles from Canton.«)141 140 House of Commons 1859 (138-Sess. 2) Navy (health): Stat. Rep. für 1857, S. 165. Das umgangssprachliche »Blue Jacket« wird in den offiziellen Berichten durchgängig in Abgrenzung von den Marinesoldaten, den Marines, verwendet. 141 House of Commons 1861 (175) Navy (health): Stat. Rep. für 1858, S. 138.

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Ebenso konnten Schiffsarzt wie auch Mannschaft ohne eigene Beteiligung an Kriegshandlungen in Kontakt mit den Folgen militärischer Aktionen kommen, wenn etwa ein Schiff Invalidisierte zum Weitertransport oder zum Rücktransport nach England an Bord hatte.142 Schlussfolgerungen Die Zahl an Toten, direkt kriegsbedingt als Opfer von Kampfhandlungen, sind, relativ zu allen Gefahrenquellen, gering. War deshalb aber die Angst gering? Konnten die Matrosen, die Marinesoldaten, die einfache Mannschaft wie die Offiziersränge mit diesen relativ günstigen Zahlen rechnen? Diese stellten sich jeweils erst im Nachhinein heraus. Jeder Auftrag und jede einzelne Aktion hätte auch ganz anders verlaufen können. Militärische Operationen waren es in jedem Falle, jedes Auslaufen eines Schiffes, jedes angesteuerte Ziel, jede Kursänderung. Ein folgenschweres Missgeschick wie jenes, das sich 1834 an der Küste vor Kanton ereignete, könnte als Beispiel und Beleg dieser Ungewissheit vor dem Hintergrund politischer Spannungen und ständig drohenden militärischen Konflikten gesehen werden. Durch ein Missverständnis zwischen den britischen Behörden und dem chinesischen Militär kam es zu einem Schusswechsel zwischen der Imogene und Kanonenbatterien der Festung von Kanton. Es gab auf dem Schiff »einige Verluste«.143 Wir müssen davon ausgehen, dass Angst die meist sehr jungen Besatzungsmitglieder sehr wohl begleitet hat. Jedoch haben sehr wenige solcher Gefühle die ärztlichen Berichtsbücher erreicht. In keinem der Medical Journals finden sich vom Schiffsarzt niedergeschriebene Hinweise auf Angst vor den Gefahren militärischer Aktionen, etwa in Form von Beobachtungen auffälligen Verhaltens, Äußerungen einzelner Besatzungsmitglieder oder Ähnlichem. Wir finden auch keinen Hinweis darauf, dass der Bordgeistliche in diesem Zusammenhang zum Einsatz kam. Die Bewältigung dieser spezifischen Angst ist Thema der modernen Militärpsychologie. In der Sekundärliteratur für das 19. Jahrhundert wird darauf nicht eingegangen. Auch einfühlsam schreibende Autoren wie Kemp, 142 Mason, Richard, HM Ship of the Line Sanspareil 1.1.1858–15.2.1859, TNA, ADM 101/166/1A, General Remarks. Der Surgeon berichtet von acht auf der Rückfahrt Verstorbenen unter den 89 Kranken, die er in Hongkong an Bord genommen hatte, und dass »fünf der schwersten Fälle in ein Krankenhaus am Kap eingeliefert wurden: Männer, deren Zustand sich in der Zeit an Bord nicht verbessert hatte, für deren völlige Genesung aber berechtigte Hoffnung bestand«. 143 (»… when there was a misunderstanding between the British authorities in China and the Chinese, which ended in collision between the ships and batteries, and in which she (die Imogene, KHReger) was engaged with some loss.«) House of Commons 1841 (53) Navy (health): Stat. Rep. für 1830–36, S. 96.

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Winton und Goodwin lassen diese Frage unbeantwortet, genauer gesagt, sie stellen sie nicht. Erst in den konkreten Falldarstellungen des Abschnittes »Anpassungsstörungen« werden wir einige Hinweise auf Angstgefühle und auch Angststörungsbilder unter den Besatzungsmitgliedern finden. Nicht nur im Zusammenhang mit der militärischen Aufgabe, auch wenn wir an die strenge Hierarchie überhaupt an Bord denken, denken wir an Disziplin. Wie stellt sie sich dar?

4.8 Disziplin an Bord 4.8.1 Das Exerzieren Schiffe der Kriegsmarine waren mit ungleich größerer Mannschaft besetzt als jedes Schiff der Handelsmarine. Solange die Schiffe unter Segel fuhren, konnten viele Hände für die Segelmanöver eingesetzt werden. Es waren aber auf den Kriegsschiffen mehr Matrosen als auf den zivilen Schiffen, um bei Angriff oder Verteidigung in Kampfhandlungen besonders rasche Manöver ausführen zu können. Wir stellten bereits fest, dass die Zeit auf den Schiffen der Ostindienund Chinastation überwiegend ohne kriegerische Auseinandersetzung, wenn auch immer wieder in hoher Alarmbereitschaft verlief. Hierfür wurde regelmäßig geübt. Bei Winton finden wir einige Beispiele von »Drill and Exercise«: »In der Blütezeit des Segelns zeichneten sich die Toppgasten144 durch erstaunliche körperliche Geschicklichkeit und durch Wagemut aus. Ihre Routine ließ sie die Gefahren vergessen, was dazu führte, dass viele Männer in den Tod stürzten, aber die, die lebten, schienen weder Angst vor der Höhe noch irgendwelche Probleme mit Schwindel zu haben. Bei ihrer Arbeit in der Takelage, aber auch aus purem Übermut standen die Männer mit vor ihrer Brust verschränkten Armen auf den Royal-Rahen 220 Fuß über dem Deck.«145 144 Die englische Seemannssprache kennt den von Winton benutzten, absolut gebräuchlichen Begriff »topman« oder »yardman« (Toppgast). Waren sie für die obersten Segel eingeteilt, galten sie als »the aristocrats of the lower deck«. (Winton, S. 167). Das entsprechende deutsche Wort »Gast« ist ein altgermanisches Wort für Fremdling. Zunächst hatte sich daraus der »Mahlgast« und »Backgast« für den Kunden des Handwerkers, mit dem »Freigast« der Geselle des zünftigen Meisters herausgebildet. Seit dem 17. Jahrhundert wurde »jeder Mann an Bord, der mit einer bestimmten Aufgabe betraut war«, »Gast«, im Plural »Gasten« genannt. Vgl.: Stammler, Sp. 1841. So gibt es den »Schildergast« (die Wache), den »Flagggast«, den »Kabelgast« (der für die starken Taue Zuständige) und eben auch den »Toppgast«, den Matrosen, der zu den Toppen, also den obersten Mast- und Stengen-Enden aufentert. Immer schon gab es den »Fahrgast« als den Passagier an Bord, der transportiert werden sollte, nur ironisch gemeint schließlich den »Badegast«, denjenigen, denen man gar keine Aufgabe zuschreiben konnte oder wollte. 145 Winton, S. 166. (Dieses und die folgenden Zitate von Winton im Original englisch).

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»Mannschaften waren so diszipliniert, dass sie die Segelmanöver schweigend ausführten, abgesehen von einem gelegentlichen Kommandoruf oder Pfiff. … Die meisten Befehle wurden durch Flaggensignale gegeben. Wenn irgendeine Stimme zu hören war oder wenn auch nur die kleinste Unruhe irgendwo auf dem Deck oder den Masten herrschte, gab das Horn sofort das Kommando »Still«, und keine Menschenseele rührte sich mehr. Es war wie das Kinderspiel ›Grandmother’s Footsteps‹146, das von den Männern hoch oben gespielt wurde. Es war seltsam, die merkwürdigen Armund Beinhaltungen in solchen Augenblicken zu sehen.«147 »Auf See und im Hafen wetteiferten die Schiffe ständig miteinander im Drill. Jeden Tag, außer Sonnabend und Sonntag, gab es vor dem Flagge-Hissen Drillübungen, und jeden Abend wurde nach dem Abendappell das Material der Takelage niedergeholt (»gear was sent down from aloft«). Auf See gab es neben der normalen Tätigkeit des von Wind und Wetter abhängigen Segelsetzens, Segelraffens und Segelstraffens auch zwei Mal am Tag eine Übung für die Wache und abends eine für die gesamte Mannschaft.«148 »Wenn der Admiral dem Schiff signalisierte ›Übung gut ausgeführt‹, stieg die Stimmung an Bord ganz erheblich. Im Gegensatz dazu drückte ein ›Übung wiederholen!‹ die Stimmung an Deck tagelang. In solcher Atmosphäre des intensiven Wettbewerbes gingen die Männer auf den Masten beträchtliche Risiken ein, und manchmal war ein halbes Dutzend Tote durch Stürze während einer Reise zu beklagen.«149

Auch im Batteriedeck wurde entsprechend geübt. In den langen Kriegsjahren gegen Frankreich und Spanien waren die britischen Schiffe berüchtigt für ihre diesbezügliche Perfektion: »Captain Sir John Pechell führte 1812 ein System ein, das es ermöglichte, sämtliche Tische, Hocker, Taschen der Männer und Seekisten der Offiziere jeden Abend in weniger als fünf Minuten wegzuräumen und nach unten zu bringen; das erleichterte nicht gerade das Leben, aber es herrschte Krieg.«150

Von der Andromache gibt es eine Beschreibung über das erreichbare Tempo beim Bedienen der Kanonen. Das Schiff lag 1836 vor Madras: »In einer frischen Brise und bei schwerer Dünung wurden die Kanonen gelöst und eine ganze Breitseite feuerte auf eine 600 Yards entfernte Boje in einer Minute und 25 Sekunden, wobei die meisten Schüsse dem Ziel sehr nahe kamen. Die Besatzung

146 Es muss das Spiel gemeint sein, das man im Deutschen als »Eins, zwei, drei – Ochs am Berg, Donnerwetter, Blitz« oder »Umgedrehter Heringsschwanz« kennt, bei dem die Kinder auf Zuruf augenblicklich in der gerade zufällig ausgeführten Bewegung innehalten sollen. 147 Winton, S. 166. 148 Ebd., S. 192–193. 149 Ebd., S. 193. 150 Ebd., S. 56.

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feuerte 4 Breitseiten in 3 Minuten und 22 Sekunden; sie brachte es tatsächlich fertig, in sechs Minuten 59 Sekunden die Kanonen loszubinden, die Breitseiten zu feuern und die Kanonen wieder seetüchtig festzuzurren.«151

Auch von der Novara, einem nur zu repräsentativen und wissenschaftlichen Zwecken auf Weltreise befindlichen Schiff der österreichischen Kriegsmarine, wissen wir, dass Tag für Tag nach genau festgelegtem Plan geübt wurde.152 Nur in einem der Journale äußert sich auch der Schiffsarzt zu diesem Thema, und dies mit erzieherischem Blick auf die Gesundheit der Leute an Bord. Dr. Mulvany von der Magpie zeigt sich sehr überzeugt vom Nutzen regelmäßigen »Drills«.153 Denn er beobachte »schwache Knie und Unfähigkeit, größere Anstrengungen durchzuhalten«, wenn längere Zeit in den Tropen an Bord nichts zu tun gewesen sei. (»Those who do not take sufficient exercise in the­ tropics become weak about the knees and incapable of much exertion.«) Ja, er habe Matrosen erlebt, die nach sechs Monaten an Bord nicht mehr sicher auf den Beinen gewesen seien, wenn sie an Land gekommen seien. Für gesundheitlichen Nutzen dürfe der »Drill« nicht zu anstrengend sein, nicht zu monoton, nicht von zu »lästiger Natur«. Er müsse ausreichend abgeändert werden, um eine gewisse Aufmerksamkeit abzuverlangen, in seiner Dauer so bemessen, dass er stets einen positiven Effekt erziele, und schließlich solle er nicht den Anschein von Bestrafung tragen. Als ein Beispiel angemessenen Einsatzes von Übungen führt er die auf seinem Schiff geltenden Regelungen an: Der Kapitän der Magpie hatte mit Beginn der heißen Jahreszeit ab März, während der das Schiff im Persischen Golf lag, angeordnet, dass an zwei Tagen um vier Uhr morgens nach Wunsch Kakao ausgegeben wurde, und im Anschluss 15 bis 20 Minuten in der Takelage geübt wurde. An jedem Freitag wurde als General Quarter (auch Battle Stations) die Gefechtsbereitschaft auf dem ganzen Schiff geübt, am Samstag folgte als Fire Quarter eine Feuerlöschübung (oder Schießübung?) und an anderen Tagen der Drill mit Entermessern (Cutlass) und »kleinen Waffen« (Smallarm). Ganz euphorisch sieht der Schiffsarzt damit das Prinzip des »mentem sanam in corpore sano« verwirklicht. Er schließt dies aus der Fröhlichkeit, die abends auf dem Vordeck unter der Mannschaft geherrscht habe und aus der kleinen Anzahl von Seeleuten auf seiner Krankenliste. (»… a system of drill which contributed greatly to maintain a mentem sanam in corpore sano judging from the jollity on the forecastle in the evening & the small sick list.«) 151 Ebd., S. 60. 1832 war im Hafen von Portsmouth auf der ausgedienten HMS Excellent, die 1797 vor St. Vincent eingesetzt gewesen war, mit der Naval Gunnery die erste feste Ausbildungseinrichtung für die Schiffsartillerie eingerichtet worden. Vgl.: Lavery: Royal tars, S. 314–317. 152 Von Wüllerstorf-Urbair: Reise der Novara, Bd. 1, S. 21–25. 153 Mulvany, John., HM Sloop Magpie 1.1.–31.12.1873, TNA, ADM 101/189, General Remarks.

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Lag das Schiff an einem gut erreichbaren Ufer, konnten Exercises auch an Land angeordnet werden. Das Gelände konnte aber auch so ungünstig beschaffen sein, dass Übungen nicht möglich waren. (»While lying at the Bogue [?, Bongao?] the men were landed frequently, but the size and nature of the island were not such as to admit of much active exercise being taken on it.«)154 In unserem Quellenmaterial finden wir eine ungewöhnlich genaue Dokumentation des Tagesablaufes auf einem Schiff der Royal Navy. Dr. Lindsay von der Brig Albatross gibt eine »Einführung in die tägliche Routine des Schiffes«, um darzulegen, dass die strikte Routine einen wichtigen Anteil am niedrigen Krankenstand seines Schiffes hat. (»And this is a more important step as the »Albatross’s list of sick and member of deaths have been unusually low even when employed on such unhealthy shores as the West Coast of Africa, Labian and the Island of Hong Kong.«)155 Der Tagesablauf ist beeindruckend:156 Am Montag wird um 3 Uhr 30 geweckt, dann die Hängematten geschrubbt und die Kleidung gewaschen. 5 Uhr pipe up, 15 Minuten später Deck schrubben, Verpacken von Hängematten und Kleidung, die verstaut und festgebunden werden. 6 Uhr 15 wachenweise Säubern der Waffen und Kanonen. Es wird gemustert, Segelmanöver geübt, an den Schusswaffen geübt, angetreten. Um 7 Uhr gibt es Frühstück, um 1 Uhr Mittagessen, um 4 Uhr Abendbrot. Um 8 Uhr ist 154 Mason, Richard, HM Ship of the Line Sanspareil 1.1.1858–15.2.1859, TNA, ADM 101/166/1A. 155 Livesay, Salter, HM Sloop Albatros 1.1.–31.12.1849, TNA, ADM 101/82/1. Labian ist eine Hafenstadt in Sabah an der Ostküste Borneos, heute zu Malaysia gehörig. 156 »Wir gingen englische Wache«, kann man noch bis in die letzte Zeit der Segelschifffahrt lesen, um den folgenden Ablauf zu beschreiben: »Alle vier Stunden wurde abgelöst und auf der Abendwache von 4–6 und 6–8 Uhr, damit man nicht immer dieselben Stunden bekam.« Vgl.: Lübke, Friedrich Wilhelm: Männer auf Tiefwasserfahrt, Rendsburg 1943, S. 29. Bis 1805 begann der nautische Tag um Mittag, wenn »die Sonne geschossen«, das heißt, ihr Höchststand bestimmt wurde, seit 1805 begann er um vier Uhr früh. Die Wachen hatten ihre Namen. Es gab die »Morgenwache« (Morning Watch) 4–8 Uhr, dann die »Vormittagswache« (Forenoon Watch), die »Nachmittagswache« (Afternoon Watch), und die »Erste und Zweite Abendwache« (First Dog and Last Dog), wobei »Dog« ein verballhorntes »docked« (übersetzt »verkürzt«) ist, denn diese in zwei Hälften aufgeteilte abendliche Wache diente dem täglichen Wechsel der eingeteilten Zeiten, damit nicht immer die gleichen Leute die gleichen unangenehmen Wachen übernehmen mussten. Die späten Abendstunden von 20 bis 24 Uhr hießen »Erste Wache« und die Stunden von null bis vier Uhr nachts »Mittelwache« (Middle Watch) oder auch, weil sie als die unangenehmste Wache empfunden wurde, »Hundewache«. Auf deutschen Schiffen ging man auch anstelle der drei Wachen von 12 bis 24 Uhr zwei je sechsstündige, sodass auf diese Weise ebenfalls ein Rhythmuswechsel entstand. Lag das Schiff im Hafen, konnte es schließlich auch je zwölfstündige Tages- und Nachtwachentörns geben. »Wache« bedeutete neben dieser zeitlichen auch eine soziale Dimension. Am häufigsten war die Mannschaft in eine »Steuerbordwache« und eine »Backbordwache« (Starboard Watch und Port Watch) eingeteilt, seltener in drei Wachen, die dann zumeist »die Rote, die Weiße und die Blaue« hieß.

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vorgeschrieben, mit dem Rauchen aufzuhören, um 9 Uhr wird das Licht gelöscht. Die Wochentage unterschieden sich nur gering, zum Beispiel wurden unterschiedliche Übungen gemacht. Für Sonntag war um 10 Uhr Gottesdienst vorgesehen. »General Routine On Monday the Hands are turned up at 3.30. Hammocks are scrubbed and clothes washed. 5.0 Pipe up. 5.15 Wash decks, and when dry, furl hammock clothes. 6.0 Lash up hammocks. 6.5 Hammock stowers. 6.10 Up all hammocks. 6.15 Quarters clean arms und guns. 6.40 Return arms. 6.50 Retreat, sweep decks. Carpenters up bench. Overhaul lifts and braces, Down boats. 7.0 Breakfast. 7.45 Watch to muster, watch below clear lower deck, down ropes and prepare for crossing yards sea [clea?] 7.55 Clean lower deck. 8.0 Square yards, if not, cross yards or loose sails. Watch. 8.15 Spread awnings, clean wood work and get ready for Quarters. 9.0 Quarters. 9.15 Retreat, watch to musket drill. [durchgestrichen: 2.30 Dismiss. 3.30 Clear up decks, ropes in round coil.] 10.15 Dismiss. 11.15 Furl sails, square yards. 11.30 Clean up decks, rub woodworks, dust guns. 1.00 Dinner. 1.15 Scrub hammocks, and washed clothes piped down. 1.30 Watch to musket drill. 2.30 Dismiss. 3.30 Clear up decks, ropes in round coils. 4.0 Supper. 4.45 Furl awnings and sweep decks. 5.0 Quarters. 5.15 Retreat. Exercise &c. Up wash deck gear. Sunset down yards, up boats, coil up ropes. Hands to dance & skylar. 7.30 Stand by hammocks. 8.0 Leane off smoaking, sweep decks. 9.0 Pipe down out lights. …«

Kein Zweifel: Die Mannschaft wurde pausenlos beschäftigt. Disziplin wurde durch bloße Zeitvorgaben von früh bis spät erzwungen. Es gab nicht stets und für jeden etwas zu erledigen, Hände genug waren aber vorhanden. So wurde gewaschen, geputzt, geschrubbt, ausgepackt und weggestaut, in endloser Wiederholung.157 157 In McPhersons »Life on Board a Man-of-War by a British Seaman« finden wir einen weitgehend mit unserem Beispiel übereinstimmenden Tages- und Wochenablauf. Es heißt dort: »Sunday: Divisions. Service. Monday: Great gun practice and exercise with muskets and cutlasses. Tuesday: boat exercise. Wednesday: sail exercise. Thursday: making and mending clothes. Friday: general quarters, when every gun in the ship is manned and exercised. Saturday: general cleaning day below; evening comes, ›sling clean hammocks‹, and thus ends the week.« (Zit. n.: Lavery, wie Anm. 65, S. 300–301.) Auch noch für das Jahr 1870 liest sich der Tagesablauf von vier Uhr morgens bis acht Uhr abends in den Erinnerungen eines Able Seaman sehr ähnlich. (Zit. n.: Wells, S. 24) Die Disziplin in der Royal Navy soll strenger gewesen sein als auf Kriegsschiffen anderer Nationen. Tradiert ist, dass sich französische Admirale für ihre Schiffe englische Disziplin wünschten und dass die Schlacht von Trafalgar neben der glücklichen Taktik Lord Nelson’s durch die doppelte Frequenz an Breitseiten aus den Kanonen der englischen Schiffe gewonnen worden sei, verglichen mit der Frequenz der französischen und spanischen Flotte. Vgl.: Friedenberg, S. 102. Ein weiteres verinnerlichtes Moment der Disziplin soll die auf britischen Kriegsschiffen eingeübte Fähigkeit gewesen sein, dem allzu frühen Eröffnen des Kanonenfeuers auf feindliche Schiffe so lange zu widerstehen, bis der optimale Abstand zum Gegner erreicht war, um einen größtmöglichen Effekt der Geschosse zu erreichen. Vgl.: Kemp: Sailor, S. 157.

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Mag dies zunächst als spezifisches Merkmal militärischer Disziplin erscheinen, ist doch auch darauf hinzuweisen, dass Disziplin in der Handelsmarine nicht weniger angestrebt wurde. Auch von ihr gibt es Berichte, wonach der Kapitän und sein Erster Offizier sehr darauf achteten, dass nur ja keine Pause im Beschäftigtsein eintrat und dass als letztes Mittel hier wie dort Messing-Polieren, Rost-Überstreichen, am häufigsten aber der Holystone, das »Gebetbuch«, jenes verhasste Stück Bimsstein zum Einsatz kam, mit dem die Planken des Decks gescheuert wurden, gleichgültig, ob es verschmutzt war oder nicht.158 Vieles spricht dafür, dass die Schilderung Richard Danas aus dem Jahre 1830 alltägliche Realität war: »Die Disziplin auf einem Schiff sorgt dafür, dass jeder Mann ständig mit irgendetwas beschäftigt ist, sobald er an Deck ist, außer nachts und sonntags. Zu allen anderen Zeiten wird man an Bord eines gut geführten Schiffes keinen Mann müßig an Deck stehen oder sich hinsetzen oder sich über die Reling lehnen sehen. Es ist Aufgabe des Offiziers, jeden zur Arbeit anzuhalten, auch wenn nichts zu tun ist.«159

Auch die Offiziere sahen sich strengen Regeln ausgesetzt. Als Vorsichtsmaßnahme für besonders gesundheitsgefährdende Küstenstreifen zum Beispiel in Asien und vor Westafrika durften sie außer in wenigen festgelegten Hafenstädten zwischen acht Uhr abends und vier Uhr morgens nicht für Landgang beurlaubt sein. Den Unteroffizieren war es ganz verboten, sich zu anderen Zwecken als dem der Versorgung des Schiffes an Land zu begeben.160 Drei Beispiele sollen folgen, die zeigen, welchen Einfluss der Schiffsarzt haben konnte, wenn es darum ging, den Umgang der Offiziere mit den Matrosen und Soldaten an die vorfindlichen klimatischen Bedingungen anzupassen. Wohl musste er jeweils medizinische Gründe vorbringen, um auf die militä­ rischen und disziplinarischen Abläufe einzuwirken. Der Arzt der Juno gibt für die Liegezeiten im Hafen als morgendliche Weckzeit 4 Uhr 15 an. Die Zeit zwischen der letzten Mahlzeit am Abend um 16 Uhr 30 und der ersten am Morgen um 6 Uhr 30 erscheint ihm mit 14 Stunden derart lang, dass er beim Kommandeur durchsetzt, dass an jeden Mann um 4 Uhr 30 eine Schale Kakao ausgegeben wird. Reinigungsarbeiten werden nach seiner Intervention aufgrund der Hitze nur früh morgens, Exerzierübungen nur abends angeordnet. Außer in Notfällen wird verboten, in der Tageshitze ein Ruderboot von Bord ablegen zu lassen. (»… at 4.30 a. m. a small Bason of Cocoa is served out to each individual 158 In Übereinstimmung mit wissenschaftlichen Arbeiten zum Brauchtum an Bord wird dies auch immer wieder in der belletristischen Literatur, in Romanen etwa von Herman Melville: Redburn, Israel Potter und sämtliche Erzählungen, München 1967; ders.: Moby Dick, München 1974; ders.: Weißjacke, Zürich 1948 und besonders authentisch von Richard Dana: Zwei Jahre vorm Mast, Leipzig 1988 beschrieben. 159 Dana, ebd., S. 21. 160 Livesay, Salter, HM Sloop Albatros 1.1.–31.12.1849, TNA, ADM 101/82/1.

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which I recommended on account of the fatigue engendered in Tropical Climate by work, and the long period which elapses between Supper at 4.30 p.m. and Breakfast at 6.30 a.m. viz 14 hours. The major part of the Work in this most oppressive Climate [the Ship is stationed on the Singapore Division of the Station, only ­Ninety Miles North of the Equator] has to be performed either in the early morning or in the evening especially during the morning when all the Scrubbing Work &c is done, the Evening being devoted to Gun and Sail Drill &c, and no Row Boat belonging to the Ship is permitted to be sent away during the Head of the day unless in a case of emergency.«)161 In den Fallberichten zum Hitzschlag werden wir tatsächlich auch ein Opfer unter der hier erwähnten Rudermannschaft finden. Ein weiteres Beispiel dafür, sich an die saisonalen klimatischen Verhältnisse anzupassen, wird 1870 von der Rinaldo berichtet: »Die Besatzung war mit der täglichen Routine eines Kriegsschiffes, mit Reparaturarbeiten und Übungen usw. ständig beschäftigt. Dem heftigen Regen im Sommer wurden sie so wenig wie möglich ausgesetzt. Während der Regenzeit arbeiteten sie meist unter großen Regenplanen, sofern die Dienstpflichten sie nicht anderswo erforderten.«162 Unter den extremen Bedingungen in den Tropen hatten die Kommandeure wohl am ehesten ein offenes Ohr, wenn aus medizinischer Sicht argumentiert wurde. Auf der nur wenige Grad südlich des Äquators liegenden Pylades schlägt Dr. Caddy vor, die Männer zum Exerzieren überhaupt nur vor acht Uhr morgens an Deck zu schicken. Auch bei aufgespannten Sonnensegeln sei das Schiffsdeck im Laufe des Tages völlig aufgeheizt. Zwar nicht er selbst, jedoch sein Kollege von der Shannon habe sogar noch kurz vor Sonnenuntergang Hitzschläge beobachtet. Er schlägt vor, für unabdingbare Segelmanöver auch während der heißesten Tageszeiten »some men of colour« in die Schiffsmannschaft aufzunehmen, womit er wohl Männer meint, die aus der tropischen Region stammen und mit den klimatischen Bedingungen besser zurechtkommen sollten. (»…, it would be a valuable addition, some men of colour in a ship’s company to save the exposure of the Europeans.«)163 Als Versuch positiver Sanktionierung kann das 1849 eingeführte System der Badges angesehen werden, der am Ärmel angenähten Kennzeichen für besonders gut geleisteten Dienst sowie für lange Dienstzeiten über fünf Jahre, sofern sie ohne größere Bestrafungen abgeleistet worden waren.164

161 Norbury, Henry, HM Frigate Juno 4.11.1875–7.7.1876, TNA, ADM 101/195. 162 Buckley, John., HM Sloop Rinaldo 10.5.–31.12.1870, TNA, ADM 101/182. 163 Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 3. Teil, 1.1.–31.12.1860, TNA, ADM 101/167. 164 Ebd., S. 198.

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Schlussfolgerungen Vor dem Hintergrund der sehr präsenten Gefahren mussten in der Handels- wie in der Kriegsmarine die Handgriffe und auch die komplexeren Abläufe sitzen. Dafür und um schiere Langeweile und Leere zu vermeiden, wurde regelmäßig geübt. Neben der exakten, gleichbleibenden Zeiteinteilung des Tages sorgte das Üben sämtlicher Abläufe an Bord für die stete Präsenz von Disziplin. Die dem Exerzieren zugrundeliegende Disziplin sicherte nicht nur die Struktur von Befehl und Gehorsam (oder Order und Pflicht), sondern stellt auch einen bedeutenden Faktor in der Vorbeugung und der Bewältigung psychischer Krisen dar. Man wird der lückenlos aufrecht erhaltenen Disziplin einen primär präventiven Charakter von Krisenvorbeugung nicht absprechen können. »Primär präventiv« bedeutet, dass entsprechende Maßnahmen eine vorbeugende Wirkung haben, noch bevor sich irgendwelche Symptome zeigen, unterschiedslos bei krisengefährdeten wie bei krisenresistenten Personen. Einem sekundär präventiven Aspekt werden wir bei den folgenden Ausführungen zu Sanktionen begegnen.

4.8.2 Normen und Sanktionen Wir erfuhren schon, dass die Mannschaftsstärke nach den Napoleonischen Kriegen so stark und rasch reduziert wurden, dass das Problem, genügend Matrosen für die Besetzung der Schiffe zu gewinnen, nach und nach verschwand. Andererseits gab es am Ende dieser Kriege in der britischen Kriegsmarine fast 900 Kapitäne und 4 000 Leutnants für nur 13 Schlachtschiffe und 89 Schiffe der kleineren (vierten und niedrigeren) Klassen. Dies hatte zur Folge, dass Aufstiegsmöglichkeiten blockiert waren, Offiziere sehr lange auf eine solche Beförderung warten mussten und auch warteten und deshalb zum Teil noch bis in ihr siebtes und sogar achtes Lebensjahrzehnt im Dienst waren. Für unsere Fragestellung kommt diesem Umstand eine besondere und vielleicht unerwartete Bedeutung zu, denn in dieser Situation hatten die Schiffsoffiziere nur eines im Sinn, nämlich eiserne Disziplin an Bord zu wahren, um nur ja nicht negativ aufzufallen und damit die schon ungewisse Beförderung noch zusätzlich zu gefährden. »Die Aufmerksamkeit eines Admirales konnte nur ein Schiff auf sich ziehen, das perfekt gestrichen und poliert war, bzw. ein Kapitän, der keine Schwierigkeiten machte durch Desertion oder aufkommende Meutereien in seiner Mannschaft.«165 Weiter konkretisiert Kemp: »Der Weg zur Beförderung war ausgesprochen eng und steinig; besonders durch ein perfekt gewienertes Schiff erhofften Offiziere, den nächst höheren Dienstrang zu er 165 Kemp: Sailor, S. 189.

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reichen. Dies spiegelte sich in einer entsprechend häufigen Benutzung der neunschwänzigen Katze wieder, die die Männer zu Gehorsam und dem Hinnehmen ihrer militärischen Untätigkeit bewegen sollte. Die Aussicht auf Schlachten und die damit verbundene Chance auf Prisengelder hatte wenigstens ein bisschen Glamour in das Leben der Seeleute gebracht und somit die schwierigen Bedingungen unter Deck erträglicher gemacht; aber nun war auch dieser Anreiz dahin. Die kleinste Abweichung vom rechten Wege wurde durch die scharfen Klauen der Katze quer über den Rücken bestraft.«166

Trunkenheit an Bord, sowohl Ursache als auch Folge der eben zitierten »Abweichung vom rechten Wege«, wurde bestraft, wenn auch aller Wahrscheinlichkeit nach mit sehr unterschiedlicher Konsequenz und Härte. Viele Hinweise finden sich in den allgemeinen Kommentaren der schiffsärztlichen Berichte. So heißt es von der Albatross aus dem Jahre 1849: »Trunkenheit wurde immer schwer bestraft, und die Ächtung eines solchen Verbrechens halte ich für das wirkungsvollste Mittel, um durch Verminderung dieser häufigen Krankheitsursache die Gesundheit der Besatzung sicherzustellen. Man kann beobachten, dass die Männer an jedem Tag der Woche nach dem Abendappell, sofern die Pflichten auf dem Schiff es zuließen, die Erlaubnis hatten, sich auf jede beliebige Art zu amüsieren, und es besteht kaum Zweifel daran, dass sich solche Freizügigkeit positiv auf die Männer auswirkte, sie aufheiterte und ihnen die Gewissheit gab, gut geführt zu werden.«167

Unter den »klugen und wohlüberlegten Anordnungen« des Flottenkommandeurs Hotham zitiert derselbe Schiffsarzt unter anderem das »strikte Verbot, bei Arbeiten an Land Palmwein zu trinken«: »Die klugen und wohlüberlegten Anordnungen des Sir Charles Hotham erwiesen sich auch als Maßnahme zur Erhaltung der Gesundheit der Schiffsmannschaften. Besonders effektiv waren die folgenden: Jede Maßnahme zur Erhaltung der Gesundheit der Mannschaften auf königlichen Schiffen ist zu ergreifen. Die Männer sollen weder zum Holzschlagen an Land herangezogen werden noch zu irgend einer anderen Arbeit, die normalerweise von den Kroo-Men gemacht wird oder zu deren Ausführung Eingeborene angestellt werden können. Es ist ihnen verboten, Palmwein zu trinken.«168

Werfen wir einen Blick in die damals jüngste Vergangenheit von Bestrafungspraxis zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wie sie Friedenberg169 anhand amerika 166 Ebd., S. 189–190. (Original englisch). 167 Livesay, Salter, HM Sloop Albatros 1.1.–31.12.1849, TNA, ADM 101/82/1. 168 Ebd. Smyth’s Wordbook schreibt zu den »Kroo-Men«: »Afrikanische Einwohner von Cape Palmas Krou-settra und Settra-krou, Bürger Großbritanniens, deshalb nicht zu versklaven. Sie werden insbesondere für Wasserverproviantierung und Holzschlagen eingesetzt, wo dies für europäische Konstitutionen zu gefährlich ist.« Zit. n.: Smyth, S. 427. 169 Friedenberg: Medicine under Sails.

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nischer und britischer Quellen ausgewertet hat. Vor allem in der Zeit der Napoleonischen Kriege, als die Royal Navy ihre größte Besatzungszahl von über 140 000 Mann hatte, ist demnach mit vielen drastischen körperlichen Strafen zu rechnen. Die Marine hatte in jener Zeit eine besonders große Zahl – wir hörten bereits von der Schätzung von bis zu 50 Prozent – an gepressten, unfreiwilligen Matrosen und Soldaten an Bord. Disziplin und Einsatz war unter diesen Umständen nicht selbstverständlich und wurde durch Strafandrohung und auch deren Durchführung erzwungen. Die formale Grundlage für die Disziplinierungspraxis waren die Articles of War, die sich aus ersten Bestimmungen von 1663 weiterentwickelt hatten. Ursprünglich war ihr Hauptgegenstand das Verhalten im Kampf und das Kapern feindlicher Schiffe. Als kardinale Strafgründe galten der Ungehorsam gegenüber Offizieren, das Schlafen auf Wache, die Vernachlässigung von Dienstpflichten und der Diebstahl.170 Viele der Matrosen, die sich auf einem Navy-Schiff faktisch als Gefangene wiederfanden, versuchten, wenn sie nicht desertieren konnten, dem Dienst durch selbstschädigendes Verhalten zu entkommen. Verbreitet war, sich Verbrennungen der Haut zuzufügen oder Tabaklösung zu trinken, um mit Magenkrämpfen und Erbrechen in das Lazarett zu kommen. Wenn die Schiffsärzte solche Zustände als absichtlich herbeigeführte Krankheiten erkannten, drohten den Betreffenden besonders unangenehme Sonderdienste.171 Friedenberg führt Quellen an, die von der Strafe des Auspeitschens mit sadistischer Art der Durchführung berichten. Er berichtet auch von einem Mann, der an den Großmast gefesselt wurde, nur weil er geflucht hatte, von der Praxis, eine Hand eines Matrosen mit dem Messer an den Mast zu spießen und ihm nur die Wahl zu lassen, seine Hand unter Entstehung schwerer Verletzungen irgendwie davon loszureißen, ja sogar von der gleichen Praxis mit Durchbohrung einer Wange. Bestraft wurde auch, indem man den Seemann vom äußersten Ende der Rah in gefesseltem Zustand mehrfach in das Wasser fallen ließ, was bei einem fahrenden Schiff sicherlich mit Ertrinkens- und Erstickungsängsten einherging. Das »Kielholen«, manchen Autoren zufolge in der Royal Navy, nach Ansicht der meisten aber in der niederländischen Marine aufgekommen, endete nach Friedenbergs Überzeugung für gewöhnlich zwar nicht tödlich, hin 170 Davies weist auf die Debatte unter Historikern hin, wonach eine Gruppe von Forschern von durchgängiger Grausamkeit und dauerndem Missbrauch der Disziplinierungsmaßnahmen ausgeht, während eine andere Gruppe die Quellen so interpretiert, dass Strafen eher selten und weniger brutal durchgeführt worden sind. Einig seien sich alle in der Feststellung, dass die Situation an Bord sich nicht wesentlich von der entsprechender sozialer Gruppen an Land unterschieden habe. Davies selbst konstatiert: »Aktive Marinen waren keine barbarische Ausnahmen von den Regeln der Staaten, denen sie dienten.« Zit. n.: Davies, James O.: Shipboard Organization: Naval Vessels, in: Hattendorf (Hg.): Oxford encyclopedia 2007, Bd. 3, S. 565. 171 Friedenberg, S. 103.

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terließ aber Hautabschürfungen, Schnitte und Quetschungen, die sich anschließend meistens entzündeten, sodass in aller Regel ein Aufenthalt im Lazarett die Folge war.172 Beim Auspeitschen (Flogging) mit der »neunschwänzigen Katze«, der Cat-o’Nine-Tails, musste nicht nur die ganze Mannschaft antreten und zuschauen, sondern auch der Schiffsarzt überwachen, dass das Leben des Bestraften nicht offensichtlich in Gefahr geriet. Er konnte die Strafdurchführung notfalls unterbrechen.173 In jedem Falle hatte er den Mann im Anschluss ärztlich zu versorgen. Die Verbände auf den durch die Peitsche verursachten Wunden wurden für gewöhnlich mit Salzwasser-Kompressen angelegt, eine in der Absicht, die Infektionsgefahr zu vermindern, durchgeführte schmerzhafte Prozedur. Wochen und Monate konnte die Behandlung andauern. Die Narben blieben in der Regel für das ganze Leben.174 Diese Kriegszeiten mit ihren eigenen Regeln und Auswüchsen waren in un­ serem Untersuchungszeitraum von 1830 bis 1880 zwar schon Vergangenheit, aber doch auch erst 15 Jahre her und bildeten den erinnerten und in Ängsten weiterwirkenden Erfahrungshintergrund.175 Die Auffassung von Disziplin wird während dieser fünf Jahrzehnte im Wesentlichen erhalten geblieben sein. Jede 172 Ebd., S. 101–102. 173 Die »Katze« wurde vor jeder Bestrafung neu hergestellt und bis zu ihrer unmittelbaren Benutzung in einem roten Beutel aufbewahrt, beides sicherlich Ausdruck der starken rituellen Aufladung der Strafprozedur. Nur bei Diebstahl wurden in die in einem Griff zusammengebundenen, 65 Zentimeter langen Taue je drei Knoten gemacht, was die Auswirkungen verstärkte und die besondere Schwere des Tatbestandes Diebstahl betonte. Vgl.: Pope 1981 nach Adam, S. 231. Kemp schätzt, dass auf einer Fregatte mit 480 Mann Besatzung jährlich 20 Bestrafungen mit der Peitsche vorkamen, entsprechend die doppelte Zahl auf einem großen Kriegsschiff (Ship of the Line). Vgl.: Kemp: Sailor, S. 153. Diese Zahlen gelten wohl nur für die Kriegsjahre der Napoleonischen Kriege und des Unabhängigkeitskrieges der USA. 174 Friedenberg, S. 101. 175 Zu keinem Zeitpunkt konnte die Todesstrafe durch den Kapitän verhängt werden, sondern stets nur durch ein Kriegsgericht. Vgl.: Adam: Herrscherin; Kemp: Oxford companion. Zu den verschiedenen Aspekten der Durchführung von Militärgericht, Bestrafung und auch Straferlass siehe: Lavery: Nelson’s navy, S. 216–220. Nach Davies gab es einen letzten Fall von Hinrichtung in der US Navy 1849, in der Royal Navy 1860. Vgl.: Davies: Shipboard organization, S. 565. In unseren Quellen ist ein Todesurteil noch in den Jahren 1857 und 1858 festgehalten. Die Anzahl von Peitschenhieben war bis 1806 auf zwölf, danach auf 48 beschränkt, wurde aber oft überschritten, was ausschnitthaft die nahezu unbehinderte Machtausübung des Kommandeurs eines Schiffes ausdrückt. In den Queen’s Regulations von 1862 ist in Artikel 61 die Höchstzahl auf 48 festgelegt, enthält allerdings auch den Zusatz, »außer in extremen Fällen« dürften 48 Schläge nicht überschritten werden. Art.  60 legt fest, dass kein Offizier, Unteroffizier, aber auch kein Träger eines Abzeichens für gute Führung körperlich bestraft werden darf, ausgenommen bei offener Meuterei die Ränge unterhalb der Offiziere. Die britischen organisatorischen Prinzipien, einschließlich der disziplinarischen, wurden von vielen Flotten anderer Länder, weltweit, von europäischen Ländern über die südamerikanischen bis zu der chinesischen und japanischen nachgeahmt. Vgl.: Davies, ebd.

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Verletzung dieser Norm wurde bestraft. Körperliche Strafe war noch während des ganzen 19.  Jahrhunderts gestattet und wurde angewendet. In keinem der Medical Journals wird von einer Auspeitschung berichtet, wohl aber finden sich mehrfach entsprechende kurze Eintragungen in den Logbüchern der hier untersuchten Schiffe. In einem Journal fand sich ein Vermerk von Gefängnisstrafe in einer dafür vorgesehenen Zelle an Bord, und ein Fall von absichtlichem Ertrinken wird als Fallbeispiel dargestellt werden, in dem der Suizid aus einer »Zelle« heraus geschieht, die aus an Deck aufgespanntem Tuch besteht. Ein Matrose, der den morgendlichen Weckbefehl überhört hatte, hätte eine harte Bestrafung zu gewärtigen gehabt, wenn nicht durch energischen Einsatz des Schiffsarztes die Situation geklärt worden wäre. Eine manifeste Hörstörung war der Grund seines Fehlverhaltens gewesen. Ein ganz fataler Fall von Gewaltanwendung ist von Bord der Hesper aus dem Jahre 1858 berichtet. Ein Marinesoldat wurde für eine Haftstrafe an Bord dieses Schiffes gebracht. Was seine Straftat gewesen war, ist nicht vermerkt, wohl aber, dass er sich auf irgend eine Weise eine geladene Muskete hatte beschaffen können. Diese schoss er auf einen Ingenieurs-Assistenten ab, im Glauben, er sei der für seine Verhaftung verantwortliche Sergeant der Marines. Der Soldat wurde nach einem »unmittelbar nach der Tat« abgehaltenen Militärgerichtsverfahren an Bord der Hesper durch Erhängen hingerichtet.176 Kemp versucht, die Häufigkeit der Bestrafung durch Auspeitschen zu er­ fassen und rechnet für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts auf einer Fregatte mit 480 Mann pro Jahr mit 20 solcher Bestrafungen mit sechs bis zwölf Peitschenhieben, in härteren Urteilen auch bis zu drei Dutzend. Die noch härteren Strafen, die durch Militärgerichte verhängt wurden, schätzt er auf eine Häufigkeit von 50 bis 60 pro Jahr bei einer Gesamtzahl von 120 000 Mann.177 Das Hauptproblem beim Auspeitschen war nach Wintons Einschätzung indes, »dass es ganz einfach ineffektiv war. Mit der Zeit verlor es seine Abschreckung und die ›Jungen und Schneidigen‹ betrachteten es als Mutprobe, Peitschenhiebe ohne jeden Laut ertragen zu können; sie stiegen erheblich in der Achtung ihrer Mannschaftskameraden, wenn sie ihre ›vier Packungen‹ wie ein Mann ertrugen.«178 Genauso schätzen es Lavery und Lewis für die weitaus häufiger bestraften Marinesoldaten ein, die »nach ihrem Verhaltenscodex vier Dutzend Peitschenhiebe in ruhiger Haltung hingenommen haben« und so die beabsichtigte warnende, abschreckende Funktion einer Bestrafung durch Schmerzerzeugung außer Kraft setzten.179 Noch aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ist neben der 176 House of Commons 1861 (175) Navy (health): Stat. Rep. für 1858, S. 138. 177 Kemp: Sailor, S. 153. Bei dieser Angabe müssen die Napoleonischen Kriege gemeint sein. 178 Winton, S. 70. 179 Lavery, Royal tars, S. 325; Lewis, Michael: The Navy in transition, 1814–1864: a social history, London 1965.

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Strafe durch Auspeitschen die althergebrachte, grausame körperliche Strafe des »gespreizten Adlers« berichtet, die entwürdigender empfunden wurde als die Peitsche.180 Winton berichtet über Versuche, ausufernder und missbräuchlicher Anwendung körperlicher Bestrafung entgegenzuwirken.181 Der Parlamentsabgeordnete Joseph Hume, ein unermüdlicher Verfechter von Marinereformen, setzte durch, dass die Berichte über Strafen auf See aus den Jahren 1845 und 1846 dem Parlament vorgelegt wurden. Daraus entstand nach und nach die seit 1853 geltende Verpflichtung, alle Bestrafungen in einem vierteljährlichen Bericht an das Parlament zu melden. Waren im Jahr 1839 noch 2 007 Männer ausgepeitscht worden, ging die Zahl auf 860 für das Jahr 1847 zurück, aber einzelne Schiffe lagen immer noch weit über dem Durchschnitt. Im Jahre 1849 machte Kommandeur John C. Pitman sein Schiff Childers zu »solch einer schwimmenden Hölle, dass es zu einem Skandal in der Marine wurde. Es wurde versucht, den Selbstmord eines jungen Seemannes zu vertuschen.«182 Die Admiralität wirkte nun auf diejenigen Kapitäne ein, die in ihren Augen nicht genügend Menschlichkeit hatten walten lassen und Einzelfälle ungenügend untersuchten. Lavery stellt durch Auswertung der Originalberichte an die Admiralität eine erhebliche Abnahme an Bestrafungen mit der Peitsche im Laufe der Jahre 1839 bis 1848 fest, wobei in den letzten Jahren der Grund für die Hälfte aller ausgesprochenen Strafen Alkoholmissbrauch war.183 Dem ersten Naval Discipline Act von 1860 (und beiden Novellierungen von 1861 und 1866) zufolge waren zwar weiterhin sehr harte Strafen möglich, wurden aber nicht mehr so ausnahmslos gefordert, und es waren jetzt im Einzelfall Strafmilderungen möglich.184 Dennoch konnte weiterhin vielerlei, was als Fehlverhalten angesehen wurde, zu körperlichen Strafen führen. In diesen Gesetzen wurden vier »Kapitalverbrechen« aufgezählt: Mord, Verrat, Piraterie und Zerstörung von Arsenalen und Werften. Die Zahl der Vergehen, die mit körperlicher Züchtigung bestraft wurden, wurde auf acht reduziert: Meuterei, Desertion, wiederholte Trunkenheit, Schmuggel von Alkohol, Diebstahl, wiederholter Ungehorsam, Entfernen vom befohlenen Posten und ungebührliches Benehmen.185 180 »It was not uncommon to see men spread-eagled in the rigging, bound hand and foot to the shrouds and ratlines, and left to hang there for three or four hours, often with a gag tightly bound in their mouths.« Zit. n. Kemp: Sailor, S. 191. 181 Winton: Hurrah. 182 Ebd., S. 68. 183 Laver: Royal tars, S. 325–326 . 184 Kemp: Sailor, S. 208. 185 Winton, S. 176. Als »Meuterei« wurde der »Zusammenschluss von zwei oder mehr Personen im Widerstand gegen Autorität, mit oder ohne Gewalt, von passiver Verweigerung der Pflichterfüllung bis zur vollständigen Machtergreifung« definiert, was eine sehr weite Auslegung zuließ. Vgl auch: Wells, S. 11–13.

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Formell verboten wurde das Auspeitschen in Friedenszeiten im Jahre 1871 und in Friedens- und Kriegszeiten im Jahre 1879.186 Die Admiralität ließ nun Zellen an Bord einrichten, nachdem sie in einer Anordnung von 1862 verboten hatte, Kohlenbunker im Schiff als Zellen zu benutzen. Sofern verfügbar, wurden Männer in Militärgefängnisse überstellt, die es zum Beispiel in Gibraltar, auf Malta und Korfu und seit 1862 an der englischen Kanalküste in Lewes gab, einem »trostlosen, grauenhaften Ort, an den niemand ein zweites Mal kommen wollte«.187 Nahezu alle Inhaftierungen hatten mit unerlaubtem Fernbleiben vom Schiff zu tun, und nahezu jedes Fernbleiben hatte seinen Grund in Trunkenheit.188 In der Kriegsmarine der jungen Vereinigten Staaten von Amerika wurde körperliche Bestrafung erheblich eingeschränkt und von einem förmlichen militärischen Gerichtsverfahren abhängig gemacht, allerdings nicht ganz abgeschafft. Auch wenn auf amerikanischen Schiffen manche demokratische Führungsgrundsätze durchgesetzt wurden, sollen doch oft genug Matrosen den strengen dem liberalen Kapitän vorgezogen haben und bei der Befragung zum Strafmaß für einen Kameraden die noch härtere Strafe gefordert haben, als der Kapitän selbst es zulassen wollte. Englische Matrosen, die auf amerikanischen Schiffen fuhren, galten als schwierig und disziplinlos, wenn und weil sie nicht mehr die harten Strafen ihrer britischen Marine fürchten mussten. Mancher, der in dem alten, rigorosen System sozialisiert war, konnte sich unter Umständen nur schwer oder gar nicht auf die neuen Verhältnisse einstellen. Friedenberg führt einen alten Matrosen an, der »wegen seiner grauen Haare« statt mit der Peitsche nur durch Putzarbeiten von Messingteilen bestraft werden sollte. Der Mann habe den Kapitän gebeten, lieber die »Neunschwänzige zu bekommen als von der Mannschaft beim Putzen verspottet zu werden«.189 In unseren Quellen finden wir Beispiele für die Freiheitsstrafe durch »­ Arrest« in einer Zelle, an Bord der Juno wegen Trunkenheit und an Bord der Ruby für eine Schlägerei. Zwei Gefängniszellen gab es an Bord der 1867 gebauten Juno. Sie waren im Bugteil des Schiffes untergebracht und maßen lediglich 6 1/2 Fuß mal 3 1/2 Fuß, also 1,98 Meter mal 1,07 Meter. Luft bekamen sie durch eine Röhre, die unter einer Haube an Deck endete, und durch den hohlen, eiser­nen Fockmast. Licht kam von einer in der Wand fest angebrachten, durch dickes Glas geschützten Lampe, die von außen entzündet und gelöscht beziehungsweise reguliert werden konnte, sowie von einem kleinen Oberlicht zum 186 Kemp: Sailor, S. 205. Davies gibt als Jahr des Verbotes 1881 an. Vgl.: Davies: Shipboard Organization, S. 565. In der US Navy war bereits seit 1850 das Auspeitschen verboten, während es noch über 1881 hinaus unter anderem in der russischen Marine praktiziert wurde. (Ebd.) 187 Winton, S. 182. 188 Ebd. 189 Friedenberg, S. 102.

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Deck. Das Wachestehen, sobald ein Mann in einer solchen Arrestzelle saß, war eine der Aufgaben der Marinesoldaten an Bord.190 Von einer Bestrafung durch Freiheitsentzug, ohne dass eine Zelle benutzt wurde, erfahren wir im Journal der Acorn anlässlich des tragischen Ausganges dieser Strafmaßnahme, nämlich dem Suizid des Betreffenden durch Sprung in das Meer. Er war »während der Nacht unter einem Schirm (aus Segeltuch) auf dem Achterdeck festgehalten worden«.191 Eine der häufigsten Strafen bestand nach dem Ende der körperlichen Bestrafung im Abzug eines Teiles der Heuer bei Überziehung des Landurlaubes, und zwar die Heuer eines Tages für je drei Stunden Fehlen. Schließlich konnte ein Besatzungsmitglied durch öffentlich gemachte, beschämende Sonderbehandlung bestraft werden. Dann war er auf der Black List, der späteren »Strafe 10A«, die ein oder mehrere Tage Grogverbot, Urlaubsverbot, Deckschrubben, Teeren von Tauen und weiteren schmutzigen Arbeiten in der Freiwache bedeutete. Winton schreibt: »Auf der ›schwarzen Liste‹ zu sein (später geändert in die ΄10A΄) war eine Form von Strafe, die ein schon hartes Leben schier unerträglich machte. Der Übeltäter wurde früher als der Rest der Schiffsbesatzung wachgerüttelt, mußte seine Mahlzeiten auf dem Oberdeck unter den Augen eines Wärters essen, wurde zum Arbeiten geschickt, während der Rest der Mannschaft die Mahlzeiten einnahm und mußte stundenlange Streicharbeiten nach der Rohrentleerung ausführen. Aber die unbeliebtesten Strafen waren der Entzug von Grog und ΄Sechs-Wasser-Grog΄, in welchem sechs Teile Wasser anstelle des einen Teils hinzugefügt wurden.«192

Ein großes Problem war stets die Schwächung der Mannschaft durch das Davonlaufen, das Desertieren. Ein Versuch dies einzudämmen war, die Möglichkeiten zum Landgang zu beschneiden. Und es gab viele weitere angedrohte Sanktionen. Winton führt aus:

190 Norbury, Henry, HM Frigate Juno 4.11.1875–7.7.1876, TNA, ADM 101/195. Die Bestrafung durch »solitary confinement in a cell, or under a canvas screen« ist durch die Queen’s Regulations von 1862 als geringes Strafmaß mit höchstens sieben Tage Dauer festgelegt. Dabei musste alle vier Stunden von einem Marinesoldaten und einmal täglich vom Schiffsarzt nach dem Delinquenten gesehen werden. Vgl.: Queen’s Regulations 1862, S. 118. 191 O’Brien, William E., HM Sloop Acorn 1.  Teil, 16.11.1858–31.12.1859, TNA, ADM 101/171/1A, General Remarks, dargestellt als 42. Fallbeispiel im Abschnitt »Debility«. 192 Winton, S. 17. (Original englisch) Siehe hierzu auch Wells, S. 28. In den »Queen’s Regulations« von 1862 finden sich solche als Strafe gedachte Vorenthaltungen von Grog in mehreren Abstufungen im Absatz 50 des Kapitels Punishment. Von sieben über zehn, vierzehn und bis zu 21 Tagen konnte Six Water Grog verhängt werden. Jeweils gesellte sich noch Extra Duty in Form verschiedener unangenehmer Arbeit hinzu. Siehe: Queen’s Regulations 1862, S. 118–119.

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»Ein Deserteur büßte seine Heuer ein, ebenso Prisengelder, Belohnungen, Jahreszahlungen, Pension, Medaillen, Orden, Kleidung und alles, was er an Bord zurückließ. Dennoch wurden in den meisten Jahren 2 000 bis 2 500 Männer formal als Deserteure erfasst und, wenn sie aufgegriffen wurden, strafrechtlich verfolgt, obwohl viele Männer in ein und demselben Jahr mehr als einmal desertierten. Im Jahre 1859 desertierten 2338 Männer, von denen 712 Prämien bekommen hatten, die den Staat 4 571 Pfund gekostet hatten. 86 von ihnen wurden gefasst. Die Verordnungen für Navy-Schiffe von 1860 definierten erstmalig den Begriff Desertieren formal: Nach 21 Tagen unerlaubten Fernbleibens vom Schiff wurde ein Mann in den Schiffsbüchern mit einem ›R‹ als weggelaufen (›Run‹) gekennzeichnet.«193

Das Fernbleiben vom Schiff trotz noch bestehender vertraglicher Bindung mag in der Handelsschifffahrt häufiger gewesen sein als in der Kriegsmarine, stand doch nicht eine so drastisch strafende Macht dahinter. Earle und Lloyd versuchen, eine Größenordnung zu erfassen und finden vor allem für das 18. Jahrhundert erhebliche hierdurch verursachte Dezimierung der Schiffsmannschaften. Nach Auszählung verschiedener Küstenregionen kommt Earle auf »sehr wenige entlaufene Männer in nord- und westeuropäischen Häfen, aber ziemlich häufig vorkommend in Mittelmeerhäfen«, die aber noch übertroffen wurden von den amerikanischen Hafenstädten (bis zu einer Desertion auf acht Mann) und den Ostindienfahrern (einer auf fünfzehn).194 Einig sind sich alle Sozialhistoriker in der Einschätzung, dass mit dem Verschwinden von Zwangs­ rekrutierung, mit der Verbesserung der Lebensbedingungen an Bord und mit 193 Winton, S. 174. (Original englisch). Ojala unterscheidet in einer Studie über das Desertieren von finnischen Handelsschiffen zwei Beweggründe. Einerseits den »exogenen Grund« besserer Beschäftigungsmöglichkeit auf einem anderen Schiff oder an Land und andererseits den »endogenen Grund« der Unzufriedenheit mit den Bedingungen auf dem eigenen Schiff. Diese letztere Bedingung erläutert er aber nur mit einer »häufigen Zuspitzung durch vorübergehenden Anfall von Ärger oder Trunkenheit, der eine Mischung aus einem tief­sitzenden ökonomischen und einem arbeitsplatzspezifischen Groll an die Oberfläche brachte«. (S. 33) Nähere Angaben zu den jeweiligen Situationen an Bord macht er nicht. Von Interesse ist Ojalas quantitatives Ergebnis: Am häufigsten kam Desertieren vor auf großen Schiffen und auf langen Reisen. Der typische Deserteur war der Seemann von niedrigem Rang, im dritten Lebensjahrzehnt stehend und ledig. Ein Drittel von ihnen kehrte später wieder nach Hause zurück, ein Drittel emigrierte dauerhaft, die meisten davon in die Vereinigten Staaten von Amerika; das weitere Schicksal des letzten Drittels ist dem Autor unbekannt. Vgl.: Ojala, Jari; Pehkonen, Jaako: Not only for Money: An Analysis of Seamen’s Desertion in Nineteenth-Century Finland, Internat. J. Marit. Hist. 18 (2006), S. 25–54. Gaastra kommt für die niederländische Handelskompanie V O C zu ähnlichen Ergebnissen. Schon für die Ausfahrt in den Atlantik habe man nicht nur wegen der Windverhältnisse die Route nördlich der britischen Inseln gewählt, sondern auch, um die Mannschaftsverluste in den Häfen des Ärmelkanals zu vermeiden. In Süd- und Ostasien hätten desertierte Seeleute in der Regel direkt bei einer der anderen Handelsgesellschaften vor Ort angeheuert. Es sei durchaus üblich gewesen, Schiffsmannschaften für die Rückreise mit Seeleuten der Konkurrenz aufzustocken. Gaastra, Bruijn: The Dutch East India Company. 194 Earle, Peter: Sailors, London 2007, S. 167–168.

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dem verbindlich zugestandenen Landgang die Veranlassung, das Schiff im Stich zu lassen, verschwand. In allen erhaltenen Medical Journals der ostindischen Station fand sich lediglich in dem von Bord der Ringdove von 1876 ein Hinweis auf desertierte Besatzungsmitglieder. In den General Remarks vergleicht Surgeon Gorham Zahlen aus den Jahren 1873 bis 1876, die zeigen, dass von dem Schiff mit seiner kleinen Besatzung von 91 Mann lediglich zwei Mann 1873 und ein Mann 1874 desertiert sind. Er vergleicht: Gestorben sind in drei der vier Jahre je ein Mann, 1875 waren es zwei, und invalide wurden drei bis neun jährlich.195 Waren für die Offiziersränge die körperlichen Strafen nicht zulässig, gab es gleichwohl auch für diese Gruppe an Bord Sanktionen. War ein Offizier durch ein Militärgericht verurteilt, so konnte er des Schiffes oder des ganzen Dienstes verwiesen werden, er konnte in seinem Rang herabgestuft werden oder seinen altersmäßigen Beförderungsanspruch verlieren und schließlich mit Geldstrafe belegt werden. Unter den aktenkundigen Vergehen finden sich Unterschlagung und Veruntreuung, Fahrlässigkeit in verschiedenen dienstlichen Belangen und, wo dies einmal zur Verhandlung kam, auch unmenschliche Behandlung der Untergebenen.196 Alkoholmissbrauch unter Offizieren konnte an Bord unter Umständen lange ignoriert werden, wurde aber bei Auffälligkeiten an Land hart bestraft. Einige dokumentierte Fälle aus der Mitte des 19. Jahrhunderts betreffen auch die Medical Officers, für die der unbemerkte Zugang zu Alkohol besonders einfach war, wie auch die Versuchung, mit der Anforderung von teuren Materialien aus der Apotheken- und Utensilienliste Betrug zu betreiben.197 Um nochmals einen vergleichenden Blick auf die Handelsmarine zu werfen, die nach der absoluten Anzahl von Schiffen immer hundert-, ja tausendfach stärker war: Auf Handelsschiffen waren die Normen, was Gehorsam, Pflichterfüllung und Befehlsausführung betrifft, nicht unbedingt schwächer. Wenn es in der Royal Navy hieß: »Du hast nicht zu kritisieren, sondern zu gehorchen.« (»Thou shall not critizise but obey.«)198, so galt auch auf dem Frachtschiff: »Befehle müssen ausgeführt werden, selbst wenn sie dir falsch vorkommen.« Oder: »Murren kannst du, gehen musst du.« (»Obey orders, if you break owners.«  – »Growl you may, but go you must.«)199 In der Wache auf seinem Posten zu schlafen, galt nicht als verzeihliche Schwäche, sondern als schweres Vergehen, da es das Schiff in höchste Gefahr 195 Gorham, A.: HM Sloop Ringdove 2.  Teil: 1.1.–31.12.1876, TNA, ADM 101/192/1B,­ General Remarks. 196 Hill, Richard: Naval Discipline and Punishment, in: Hattendorf (Hg.): Oxford encyclopedia 2007, Bd. 1, S. 569–571. 197 McLean: Surgeons, S. 36–37. Die Angaben bei McLean sind jedoch ohne quantitative Einordnung und basieren auf einzelnen dokumentierten Fällen. 198 Wells, S. 38. 199 Weibust: Deep Sea Sailors, S. 188.

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bringen konnte. Auch auf Handelsschiffen konnte es durch Auspeitschen bestraft werden. Entlassung aus dem Dienst des betreffenden Schiffes unter Abzug der Heuer konnte eine andere schwerwiegende Folge für den Seemann sein. Wer bei der Arbeit zu bummeln versuchte (im Englischen Sogering genannt), war äußerst unangesehen unter den anderen Mitgliedern der Crew. Man half sich, man lieh sich das letzte Geld untereinander aus, aber sich bei der Wachablösung zu verspäten, konnte zu erbitterter Feindschaft führen.200 Man musste sich bei der gefahrvollen Arbeit aufeinander verlassen können. Die Aufmerksamkeit des Anderen war Teil der eigenen Sicherheit. Aber auch das Vertrauen in den Mit-Seemann wie in die eigenen Kräfte hatte seine kalkulierte Grenze. Diese ist in dem Grundsatz ausgesprochen, der in vielen Varianten seinen spruchartigen Ausdruck fand: »Eine Hand fürs Schiff und die andere für dich selbst.« »Eine Hand für den Eigner, eine für dich.« »Eine Hand für die Queen und eine für dich.«

Diebstahl an Bord wurde besonders hart bestraft. Die enge Gemeinschaft und die hohe Reputation, die gerade Seeleute auf großer Fahrt genossen und für sich in Anspruch nahmen, setzte diesbezüglich hohe Normen. Auf den Handelsschiffen war es verpönt, die Seekiste abzuschließen. Nur im Hafen, wenn Fremde an Bord kommen konnten, und beim Transport zu einem anderen Schiff wurde die Kiste verschlossen. Wer gegen diese Etikette verstieß, musste als traditionelle Antwort des Vordecks den groben Spaß seiner Gefährten gewärtigen, dass sie den Deckel seiner Seekiste mit großer Sorgfalt zunagelten. Dieses ungeschriebene Gesetz wurde von den Matrosen der Handelsmarine zur dezidierten Abgrenzung von denen der Kriegsmarine benutzt: Letztere schlossen demnach ihre Spinde ab, ja wurden bestraft, wenn sie es unterließen.201 Wobei bezüglich dieses Klischees darauf hingewiesen werden muss, dass im 19. Jahrhundert der Marinematrose gar keine Seekiste, sondern nur einen Seesack mit an Bord brachte. Wurde doch gestohlen, konnte die Mannschaft in einer Art Selbstjustiz den Dieb mit Prügelstrafe büßen lassen. Eine Form davon ist als »Jungfernkranz« immer wieder beschrieben. Der Delinquent – oder der, den man dafür hielt – wurde auf dem Ankerspill festgebunden und von den anderen reihum verprügelt. Dabei wurde ein bestimmtes Lied mit dem Titel: »Wir binden dir den Jungfernkranz« gesungen (das in den meisten Shanty-Sammlungen mit seinem harmlos klingenden Text aufgeführt ist). Das Singen gehörte zum Strafritual, war schlicht ein Hilfsmittel, um die Schmerzensschreie zu übertönen und gleichzeitig Signal an die Offiziere, wegzuschauen und nicht bei der offenen Gewaltanwendung zu intervenieren. Der Kapitän wie auch seine Steuerleute bzw. 200 Ebd., S. 189. 201 Schmidt: Von den Bräuchen, S. 43.

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Offiziere hielten sich in der Regel an diese Nichteinmischung. Neben der rohen körperlichen Strafe war die anschließende Verachtung, ein negativer Spitzname, manchmal auch ein erzwungenes förmliches Schuldeingeständnis die Konsequenz für den Rechtsbrecher und damit eine psychisch belastende Situation innerhalb des sozialen Systems, das sich einmal mehr als eines erwies, das für eine gewisse Zeit nicht verlassen werden konnte. Das strenge Verbot des Diebstahls hatte neben sich das ebenso strenge Gebot der gegenseitigen Hilfe unter Seeleuten. Weibust sieht in seiner ethnologischen Studie, die aus mündlichen Berichten betagter Seeleute durchaus einen Blick zurück in das 19. Jahrhundert wirft, als verbindende Grundlage dieser beiden Rollenerwartungen die unbedingt einzuhaltende »Norm der Reziprozität«: Der Seemann bittet den anderen nur um etwas, was er – in irgendeiner Form – zurückgeben kann. Alles andere wird als »impertinent« angesehen. (»It was regarded as impertinent to ask for something one could not repay. Like several examples previously named this is an example of the general norm of reciprocity.«) Der Autor führt Berichte an, denen zufolge um eine Schachtel Streichhölzer tödlich endende Konflikte ausbrechen konnten, wenn diese Norm verletzt war.202 Untereinander aber, innerhalb der Gruppe des Vordecks, gab es keine oder nur eine geringe formal festgelegte Hierarchie. Es existierten Regeln, wie, wo und wann Spannungen in Kämpfen ausgetragen werden konnten und eventuell auch ausgetragen werden mussten. Im Falle der Matrosen, die auf Segelschiffen noch mit ihrem Kapital an Körperkraft und Geschicklichkeit arbeiteten, war die physische Stärke das erste Mittel solcher Kämpfe. Weibust hat für seine Studie sehr viel Material gesammelt, das die innere Struktur dieser Aggressionskontrolle durch Aggressionsabfuhr verdeutlicht.203 Zu körperlichem Kampf bereit zu sein, galt als eine wichtige Voraussetzung, um in der Gruppe der Matrosen anerkannt zu sein. Keine Angst auch vor einem stärkeren Gegner zu haben, war eine weitere. Mindestens einen Kampf durchgestanden zu haben, galt gar als Voraussetzung dafür, »ein ganzer Seemann« zu sein. Wenn es Streit und Kampf an Bord oder im Hafen gab, galt es, sich unbedingt einer der Parteien zuzuschlagen. Indifferenz, auch wenn sie wohlgemeinte Neutralität sein sollte, war eine gefährliche Haltung. Sie konnte Grund sein, selbst den nächsten Streit am Halse zu haben. Man versuchte, einen Kampf bis zum nächsten Hafen hinauszuzögern. Dort war man unter sich, nämlich außerhalb der Reichweite der Offiziere. Es gab Hafenplätze, die besondere Reputation genossen, gerade dort gekämpft zu haben, zum Beispiel Helsingör für ganz Skandinavien. Wenn es schon an Bord sein musste, galten einige ungeschriebene Gesetze, allen voran jenes, dass der Kampf

202 Weibust: Deep Sea Sailors, S. 194. 203 Ebd., S. 257.

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an Deck und nicht im Mannschaftslogis unter Deck zu geschehen hatte.204 Bekannt ist, dass auf englischen Schiffen ganz überwiegend geboxt wurde.205 Dabei konnte es regelrechte Boxkämpfe mit Runden und mit Schiedsrichtern geben. Die Mannschaft stand um die Kämpfenden herum und schloss Wetten ab. Der Schiedsrichter, sicherlich in aller Regel ein seemännisch wie auch in diesen Ritualen erfahrener, älterer Seemann vor dem Mast, konnte unter Umständen nicht die geringste Ahnung vom Anlass des Streites haben. Es interessierte ihn als »Sportsmann« nicht. Oft wurde bis zu einem regelrechten Knock-out geboxt. Erst dann war entschieden, wer für den Moment der Stärkere war. Idealerweise war die Sache damit bereinigt und die Kampfhähne schüttelten sich die Hände. Es muss indessen offen bleiben, wie oft nach solchen Ritualen der ursächliche Streit keineswegs beigelegt war, sich vielmehr in neuen Aggressionen fortsetzte. Schwere Verletzungen und brutale weitere Schläge gegen einen deutlich Unterlegenen oder erkennbar schon besiegten Gegner sind berichtet. Solche Kämpfe zu unterbrechen, war unter Seeleuten im Allgemeinen dennoch nicht erlaubt und faktisch nicht möglich. Nur Männer mit einem besonderen sozialen Status konnten durch ein Zeichen derlei brutale und von ihnen als sinnlos eingestufte Schlägereien beenden.206 Auf amerikanischen Schiffen des 19. Jahrhunderts gab es eine eigene Form des Boxkampfes, bei der die beiden Gegner an ihren Hosenboden auf eine große Kiste genagelt wurden, auf der sie nun im Reitersitz saßen, um in dieser Zwangshaltung gegeneinander zu boxen. Ein Ausweichen war nun wahrhaftig nicht mehr möglich. Eine noch folgenreichere Sonderform betrifft die skandinavischen Seeleute. Hier, in Skandinavien, gab es ausdrücklich Kämpfe mit dem Einsatz von Kopfstößen. Dieses Butting, auch Helsingör Butt genannt, war offenbar eine zeitlang außerhalb dieser Häfen, zumindest unter Neulingen auf fremden Schiffen, unbekannt. In England galt durch den Einsatz dieser Danish Kisses die Regel der Fairness verletzt. Sie müssen, von den skandinavischen Matrosen unerwartet eingesetzt, verheerende Folgen gehabt haben. Riesige, starke Seebären seien umgefallen »wie ein Stück Blei«, schreibt Weibust.207 Um die Gefährlichkeit, Risikobereitschaft und Ernsthaftigkeit dieser Kampfrituale mit ihrer hohen sozialen Kontrollfunktion noch zu steigern, war nur noch der Schritt zur Verwendung von Messern nötig. Auch für diese Besonderheit gibt es einen geographisch definierten Geltungsbereich, nämlich Finnland, ebenfalls eine große Seefahrernation. Messer und Marlspieker, jene stählerne Dorne zum Spleißen von Tauen, waren dem Seemann immer zur Hand und konnten da 204 Ebd., S. 197. 205 Schmidt: Von den Bräuchen, S. 75. 206 Weibust: Deep Sea Sailors, S. 198. 207 Ebd., S. 199. Man fühlt sich an den Vorfall zwischen Zinédine Zidane und Marco Materazzi beim WM-Endspiel 2006 erinnert, als Zidane seinen völlig überraschten Gegenspieler in der 109. Minute mit einem Kopfstoß niederstreckte.

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her leicht als Waffen dienen. Aber selbst diese offenkundig lebensgefährlichen Messerkämpfe unter finnischen Seeleuten hatten ihre eigenen Regeln. Narben im Gesicht seien häufig gewesen, Todesfälle dagegen selten. Vermutlich als Reaktion auf derlei Erfahrungen war den Matrosen englischer Schiffe die Verwendung und der Besitz eines Messers mit einer Klingenlänge von mehr als drei Zoll, also rund 7,5 Zentimetern, verboten.208 Schlussfolgerungen Eine Weise der Durchsetzung der Normen durch strikte äußere Rahmengebung haben wir bereits im unablässigen Exerzieren kennengelernt. Eine andere war die immer präsente Androhung von Bestrafung. In diesem Punkt ereignete sich in unserem Untersuchungszeitraum eine grundlegende Veränderung: von der unmittelbaren körperlichen Strafe (Corporal Punishment) zum Freiheitsentzug (Prison Cell). Beide Formen, die erste noch mehr als die letztere, sind vor dem Hintergrund der engen sozialen Kontrolle an Bord zu verstehen. Ausgepeitscht wurde ein Mann vor komplett angetretener Mannschaft. Manche Strafe wurde innerhalb der Gruppe der Mitmatrosen ausgeführt, formal eine Art Selbstjustiz, in der Welt ungeschriebener Gesetze jedoch streng geregelt. Kriegs- und Handelsmarine unterschieden sich nur graduell und in Details und bei Weitem nicht immer zu Gunsten der Handelsmarine. Als innere Vorgabe wirkte die »Norm der Reziprozität«, die strenge Gegenleistung für jede selbst erbrachte Hilfe vorschrieb. Auch das strenge Verbot jeglichen Diebstahls an Bord zielte auf die Bewältigung der unausweichlichen gegenseitigen Abhängigkeit in der gefahrvollen Welt des Schiffs auf offenem Meer. Aufkommende aggressive Spannungen innerhalb der Mannschaft konnten durch stark ritualisierte Kämpfe von unmittelbar physischer Dimension abgebaut werden. Auch hier gab es eine inoffizielle Justiz innerhalb der Mannschaft, die der gegenseitigen Kontrolle und damit der Disziplinierung diente. Spannungen in Richtung Kapitän und Offizieren waren durch die Hierarchie kanalisiert. Sie konnten nur bedingt gelöst oder bereinigt werden. Die Hierarchie und die oben dargestellte Strafandrohung und Bereitschaft, diese auch umzusetzen, erzwang es, die Spannung bis zum Ende der Reise zu ertragen. Entweder war der 208 Ebd., S.  200–201. In einer der letzten Reiseberichte eines Segelschiffes aus den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts erfahren wir noch von der »Zeremonie des Messerzerbrechens« (»breaking of knives ceremony, …, an old-established custom on sailing ships«), mit der erreicht werden sollte, dass »wir keine Messer haben, um damit aufeinander loszustechen, wozu die skandinavischen Seeleute, im Zorn oder wenn sie betrunken waren, besonders neigten.« Unter Aufsicht des »Alten« wurden von den Messern, die die Matrosen für ihre Arbeit in der Takelage benötigten und deshalb durchaus behalten durften, »mit einem geschickten Schlag auf den Amboß die Spitze in etwa drei Zentimeter Länge« abgebrochen. Zit. n.: Baines, Frank: In Deep, London 1959, S. 78–79, deutsch 1959, S. 118–119.

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Ärger noch vor dem Reiseziel abgeklungen, oder der Seemann nahm ihn mit von Bord. Erst an Land und erst nach Ende seiner vertraglichen Verpflichtung stand die Möglichkeit offen, in einer formalen Anzeige bei Gericht eine Klärung zu versuchen (und dies wohl nur in der Handelsmarine, während in der Kriegsmarine sicherlich der Dienstweg einzuhalten war). Der Weg gerichtlicher Klärung wurde selten bestritten. Beispiele für völlig unbefriedigende Ausgänge von solchen Klagen z. B. wegen ungerechter oder grausamer Behandlung durch den Kapitän gibt es viele, unbefriedigend aus Sicht des Matrosen, des »einfachen« Mitgliedes der Mannschaft. Dieses Faktum des »Emotions-Staus« betraf die Handels- wie die Kriegsmarine gleichermaßen. Vor allem beim Dienst in fernen Regionen wie der hier untersuchten Ostasien-Station ermöglichten die Landgänge ein Abreagieren schon während der Reise, dauerte diese doch regulär drei Jahre. Im Abschnitt über die venerischen Erkrankungen wird darüber anhand der exzessiven Bordellbesuche zu berichten sein, ebenso im Abschnitt über die Alkoholkrankheit anhand der Trinkexzesse an Land. Einem Teil der Normen begegnen wir in der spezifischen Art der Unterbringung an Bord.

4.9 Unterbringung an Bord Es wurde grundsätzlich im Schiffsinneren geschlafen. Über Jahrhunderte hinweg hatte sich der Wechsel vom Schlafen an Deck zu dem unter Deck vollzogen. Auf den Kriegsschiffen des 19. Jahrhunderts gab es für die Mannschaft als Schlafplatz die Hängematte und für die Offiziere feste Kojen. Auf Empfehlungen Gilbert Blanes209 hatte die Admiralität 1806 festgelegt, jedem neu an Bord kommenden Matrosen zwei Hängematten zur Verfügung zu stellen, die er im Wechsel benutzen und waschen oder ausbessern konnte.210 Die Unteroffiziere, die in unseren Quellen in dieser Hinsicht nirgends besonders erwähnt sind, werden angesichts der Raumknappheit ebenfalls mit der Hängematte haben vorlieb nehmen müssen.211 Auf Handelsschiffen mit ihren wesentlich 209 In dessen Werk: Beobachtungen über die Krankheiten der Seeleute, Marburg 1788. 210 Vgl.: Allison: Sea Diseases, S. 189. 211 Zu bedenken ist bei den Angaben von Höhen- und Längenmaßen an Bord der hier untersuchten Schiffe, dass wir die Akzeleration der Körpergröße auf die Zeit des mittleren 19.  Jahrhunderts zurückrechnen müssen. Proppe gibt für Männer des Geburtsjahrganges 1885 eine durchschnittliche Größe von 168 Zentimeter an, die entsprechende Größe für Frauen war 158 Zentimeter. Bis zum Geburtsjahrgang 1950 steigt die Körperlänge auf 176 Zentimeter für Männer und 167 Zentimeter für Frauen. Zu Beginn des 21.  Jahrhunderts leben die größten, das heißt hier, längsten Menschen in den Niederlanden. Vgl.: Proppe,­ Dietfrid: Geometrie und menschliche Gestalt, Staturindex und Norm, Neumünster 1973, S. 72. Empirisch bestätigt sind diese Berechnungen durch Rekrutierungsuntersuchungen für die niederländische Armee seit Mitte des 19. Jahrhunderts. In diesem Zeitraum wuchs die

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kleineren Besatzungen waren oft auch für die Matrosen fest eingebaute hölzerne Schlafkojen vorhanden. Neben den Witterungsverhältnissen auf dem offenen Meer wären die vielen Matrosen in ihrer Ruhezeit an Deck schlicht im Wege gewesen und hätten wahrscheinlich oft keine Ruhe gefunden. Aber auch ein medizinischer Aspekt könnte wesentlich gewesen sein: Man fürchtete im Sinne der Miasmen-Vor­ stellung krankheitsbringende Luft, die die an Deck Schlafenden ungehindert erreichen würde. Im untersuchten Zeitraum hatten viele Mediziner eine kritische Haltung zu dieser Vorstellung eingenommen, dennoch erfahren wir aus den Journalen, dass zum Schutz gegen die »sumpfige«, krankheitserregende Luft vom Ufer her landseitig alle Luken des Schiffes dicht gemacht wurden. Viele der in der Festung im Kantonfluss stationierten Seeleute und Marine­ soldaten waren nach Übernachtungen im Freien fieber- und durchfallkrank geworden, für den zuständigen Arzt eine Folge des »miasmatischen Einflusses«. (»Most of this sickness would have been avoided, had it been possible to keep the men from thus unduly exposing themselves to the debilitating and miasmatic influence of this climate.«)212 Es gab einen weiteren gesundheitlichen Grund, dass es trotz der Hitze der Tropennächte in der Regel verboten war, an Deck zu schlafen. Sowohl praktische Erfahrung, als auch theoretische ätiologische Überlegungen betrafen die gegen Morgen zu erwartenden erheblichen Niederschläge des Nachttaues. Dieser Niederschlag durch Taubildung war als Verursacher von Erkältungskrankheiten gefürchtet. (»… and many slept out at night, exposing themselves to heavy dews.«)213 Der Kapitän konnte erlauben, an Deck zu schlafen, wenn Sonnensegel mit dem Zweck, den Tau aufzufangen und die nächtliche Kälte abzuschirmen, aufgespannt wurden. (»But the awnings were kept constantly spreat, so that they were screened from dew, and the cold produced by radiation.«)214 Bliebe noch die Frage nach der für die Tropen typische Belästigung durch blutsaugende Mücken. Je nach Situation fiel die Einschätzung, wo es mehr

Körperlänge pro Zehnjahreszeitraum um ein bis zwei Zentimeter an, mit durchaus starken Schwankungen und besonders starker Zunahme zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie nach den beiden Weltkriegen. In den Niederlanden war ein Wehrpflichtiger im Jahre 1990 durchschnittlich 180 cm groß, während dieselbe Gruppe Männer 1860 nur 165 cm maß. Wir müssen also für die hier untersuchte Zeit mit 15 bis 20 cm kleineren Menschen rechnen, die sich auf den zweifellos immer noch sehr beengten Raumverhältnissen der Schiffe bewegten. Immerhin relativiert sich dadurch doch zum Beispiel die Zwischendeckshöhe von 1,80 Meter. Vgl.: Gohlke, B.; Wölfle, J.: Größenentwicklung und Pubertät bei deutschen Kindern, Dtsch. Ärztebl. 106 (2009), S. 377–382. 212 Piercy, Frederick, HM Forts in Canton River, 1.10.1857–16.8.1858, TNA, ADM 101/165, Gen. Remarks. 213 Ebd. 214 House of Commons 1859 (138-Sess. 2) Navy (health): Stat. Rep. für 1857, S. 105.

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Stechmücken gab, unterschiedlich aus: In freier Luft an Deck oder in der Enge unter Deck. Diese Frage (ohne dass die uns heute so geläufige Übertragungsgefahr von Malaria durch eine bestimmte Mückenart bekannt war) wurde meist in dem Sinne beantwortet, dass nicht an Deck übernachtet werden durfte. In dem schon zitierten Report für 1857 allerdings kommt der Kapitän der Acorn, vielleicht nach Beratung durch seinen Medical Officer, zu dem gegenteiligen Schluss. Deshalb auch die notwendig gewordene Tau-Abschirmung an Deck. (»The ship’s company, for several months, have been compelled to sleep on the upper deck, owing to the heat, closeness and the number of mosquitoes which infest the lower deck.«)215 Demnach hatten die Moskitos offenbar die inneren, mehr oder weniger geschlossenen Räume des Schiffes fest im Griff, eine zusätzliche Last für die Matrosen zu der der Hitze und Enge. Ob nun an Deck oder auch in den Zwischendecks: Die »Moskitostiche« konnten neben der spezifischen Gefahr der Malaria-Übertragung durch Mücken der Anopheles-Art ernsthafte Gesundheitsgefahr bringen, wenn sich die Mückenstich-Stellen entzündeten, was im Falle ungehemmten Kratzens vorkommen konnte. Im Statistical Report für 1856 erfahren wir von solchen gehäuften Komplikationen an Bord der Spartan mit Blasen- und Geschwürsbildung, als deren Ursprung »Mosquitobites« vermutet wurden.216 Auch eine noch schwererwiegendere Komplikation in Form phlegmonöser, also großflächiger Gewebeentzündung in den tiefen Hautschichten, gar mit tödlichem Ausgang, ist festgehalten.217 Wie verbreitet die Angst vor der 215 Ebd. 216 House of Commons 1858 (473) Navy (health): Stat. Rep. für 1856, S. 151. 217 Ebd. Präzise Angaben zu diesem Thema finden wir bei Nocht, der das Wissen aus der Schifffahrt des 19. Jahrhunderts mit Erkenntnissen der Malariaforschung verbinden konnte. Wie er schreibt, »stellen sich die Anopheles an Bord mit Vorliebe des Abends ein und halten sich besonders auf der windgeschützten Seite auf. Ihre aktive Flugweite ist nicht sehr lang, man darf sie wohl auf höchstens 1½–2 km schätzen, vom leichten Wind getragen, vermögen die Moskitos aber unter günstigen Umständen auch größere Entfernungen übers Wasser zurückzulegen. In den tropischen Häfen weht die Prise des abends meist vom Lande her und man ist unter Umständen auch dann nicht sicher vor Anopheles, wenn der Ankerplatz des Schiffes 4 und 5 Kilometer vom Lande und weiter entfernt ist. Gegen jeden stärkeren Wind sind die Moskitos außerordentlich empfindlich, viel empfindlicher als andere fliegende Insekten. Man beobachtet das Erscheinen von Moskitos, die von Land zugeflogen sind, an Bord regelmäßig nur bei leichter Brise. Deshalb bleiben die Schiffe, die auf offener Reede ankern, in der Mehrzahl moskitofrei. Besonders gefährlich ist das Ankern in Flußläufen an windgeschützter Stelle. Der Flug vom Lande durch die Luft ist aber nicht der einzige Weg, auf dem Moskitos an Bord gelangen. Ebenso wie auf dem Lande beobachtet ist, daß aus ländlichen Malariagegenden infizierte Anopheles durch die Karren der Bauern, die ihre landwirtschaftlichen Produkte absetzen wollen, in die Städte gelangten und dort Malariaerkrankungen hervorriefen, kann man darauf rechnen, daß Anopheles mit Hafenfahrzeugen, Leichtern mit Gemüse, Obst, Frachtgut und Kohlen weit hinaus auf die Reede und auf Seeschiffe verschleppt werden.« Zit. aus: Nocht: Vorlesungen, S. 88–89. Um 1900 war das Moskitonetz be-

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Mückenplage war, zeigt die Tatsache, dass es aus den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine Empfehlung der Admiralität gibt, das Schiff zum Schutz vor den Mücken so weit vor dem Ufer zu ankern, dass das Land nicht zu riechen war.218

4.9.1 Die Hängematte Seit 1597 war in der Kriegsmarine die Hängematte die übliche Unterbringungsform. Kolumbus soll sie aus der Karibik mitgebracht haben.219 Davor wurde auf dem blanken Boden oder in hölzernen Verschlägen geschlafen. Die Zeiten der doppelten Belegung einer jeden Hängematte jeweils durch den Mann der Freiwache lagen vor unserem Untersuchungszeitraum. Da die Schiffe der Ostasien-Station wochen- und monatelang auf Reede in einem Hafen oder einem Fluss lagen und in solchen Liegezeiten nicht immer die Hälfte aller Männer Wachdienst zu tun brauchten, ist allerdings anzunehmen, dass der Platz für alle Matrosen und Marinesoldaten zu gleichzeitigem Schlafen sehr beengt war. Im Medical Journal der Juno lesen wir, dass auf See regelmäßig 58 von insgesamt 216 Matrosen an Deck waren, während im Hafen nur vier Mann Wache zu gehen hatten.220 Die Hängematten waren (und sind auf entsprechenden Segelschulschiffen bis heute) mit ihren Tau-Enden an Haken an der Decke eingehängt, im Wechsel an ihren Fußenden überlappend, in Abständen von 20 Zoll, 48 Zentimetern entsprechend. War die Freiwache, also die Ruhephase, zu Ende, verstaute der Seemann sein »Bett«. Auf das Kommando »Hammocks up!« (»Hängematten auf«) wurden die Matten, die Decken in ihrem Inneren einschließend, »mit neun Schlägen eines Taues« (»By nine turns of a rope«)221 zu einem festen Bündel zusammengeschnürt und in die Finknetze (Hammock Nettings) gelegt. Dort, am Oberrand der Bordwand, des Schanzkleides, sollten sie Schutz gegen Kugeln im Kampf bieten, und sie sollten sich im Falle eines

reits als wirksamer und gleichzeitig einziger vorbeugender Schutz bekannt. Beim Löschen im Hafen befand man sich, je nach Küstenstreifen, in malariagefährdeten Regionen und musste so gut wie möglich wenigstens den Schlafplatz durch Netze schützen. Nocht hielt das Deck (der Handelsschiffe, über die er am genauesten informiert war) durchaus für einen geeigneten Schlafplatz, war es doch »in den Kammern in der Regel in den Tropen unter einem Moskitonetz vor Hitze nicht auszuhalten«. Allerdings sollten zum Schutz vor nächtlichem Tau Sonnensegel über Deck gespannt sein. Ebd., S. 109. 218 Adam, S. 226. 219 Zur Herkunft der Hängematte aus der »Neuen Welt«, der Karibik, und deren rascher Adaptation siehe: Flensburger Schiffahrtsmuseum: Alltag an Bord; Kemp: Oxford com­ panion; Müller: Arzneimittelversorgung, S. 78–80. 220 Norbury, Henry, HM Frigate Juno 4.11.1875–7.7.1876, TNA, ADM 101/195. 221 Kemp: Oxford companion.

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Schiffsunterganges von selbst aus ihnen herauslösen, um einen Seemann, der sich an sie klammerte, für einige Stunden über Wasser zu halten. Eine Hängematte konnte sich aus ihrer Befestigung an der Decke lösen und mit Fuß- oder Kopfende auf den Boden fallen. Dies konnte ungewollt und gewollt geschehen: Was in der »Nelson-Flotte« fester Brauch war, war vielleicht auch noch weitere Jahre oft geübte Praxis eines Aufnahme-Rituals, dass nämlich den Neuen an Bord, zumindest unter den Offiziersanwärtern, der Streich gespielt wurde, die Aufhängung der Matte zu lockern. In der Dunkelheit des Zwischendecks konnte der Herabgestürzte den Übeltäter in aller Regel nicht ausmachen. »Es herrschte die Sitte, dem neu an Bord Gekommenen (den man Greenhorn nannte) während des Schlafens die Hängematte loszubinden. Dies fand ich sehr unerfreulich. Ich sprang aus meiner Koje mit der Absicht, den Täter zu fassen, aber da ich mich mit den ganzen Örtlichkeiten nicht auskannte und es zudem dunkel war, stolperte ich gegen einen Pfosten und verletzte mich. Hätte ich diesen Herrn erwischt, hätte sein Kopf meine Rache gespürt. Diese Streiche spielen sie ein- oder zweimal, bis du getauft bist.«222

Es gab aber auch das versehentliche Lösen der Befestigungsleinen. Dies war für den Arzt des österreichischen Expeditionsschiffes »Novara« ein häufiges, aber seiner Erfahrung nach hinsichtlich seiner Verletzungsfolgen nicht bemerkenswertes Ereignis. Da die Matten dicht unter der Decke hingen, war der Abstand zum Boden entsprechend groß. Er gibt etwa 150 Zentimeter an.223 In einer späteren Quelle, die mindestens die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts überblickt, lesen wir von einer deutlich kritischeren Einschätzung der direkt mit den Hängematten zusammenhängenden Gefahr: »Eine nur der Kriegsmarine eigene Verletzung wird durch das Rauschen der Hängematte oder Reißen der Hängemattsterte hervorgerufen. Quetschungen des Rückens und 222 Millyard, John: Fiddlers and whores, Lowry, James, London 2006, S.  31. (Original englisch). 223 Schwarzer, Eduard: Reise der österreichischen Fregatte Novara um die Erde in den Jahren 1857, 1858, 1859, Medizinischer Theil, Band I, Wien 1861, S. 129. Schwarzer, Arzt der »Novara«, widmet einen eigenen kleinen Abschnitt dem Thema »Sturz durch Riss der Hängematte« und schreibt: »Drei solcher, auf Schiffen nicht ungewöhnlichen Fälle, kamen vor. Bei der geringen Höhe (ungefähr 5 Fuss ober Deck) geschieht es selten, selbst wenn der Schläfer mit dem Kopfe voran fällt, dass bemerkenswerthe Erscheinungen auftreten. Der eine war mit seinem Kissen im Nacken dergestalt aufgefallen, dass er sich der Erschütterung gar nicht recht bewusst ward, und auf der mitgezogenen Decke weiterschlief; beim zweiten waren leichte Erscheinungen der Erschütterung von kurzer Dauer entstanden, er ward veneseciert, dann derivativ behandelt, und nach einigen Tagen wieder hergestellt; am heftigsten waren die Folgeerscheinungen bei einem der am Cap der guten Hoffnung eingeschifften Kaffern. Trismus, und nachträglich heftige allgemeine Convulsionen dauerten über eine Stunde lang. Auch dieser Mann war schon nach drei Tagen geheilt.«

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Hinterkopfs oft mit Gehirnerschütterung sind die unbequemen und gegen alle Heilbestrebungen oft recht hartnäckigen Folgen.«224 In den untersuchten Medical Journals sind solche Vorfälle nicht erwähnt, wohl aber ist die Hammock, die Hängematte, als Gefahrenquelle im Zusammenhang mit der ärztlichen Behandlung erwähnt. Die Schiffsärzte rechneten bei unruhigen und in ihrem Verhalten auffälligen Patienten damit, dass diese aus den wackeligen Stoffbahnen, die diese Schlafplätze schließlich doch nur waren, herausfielen. Man fürchtete den tiefen und harten Sturz auf die hölzernen Planken oder auch auf die Eisenplatten des Decks. Deshalb konnte der Arzt anordnen, dass ein Patient zur ärztlichen Versorgung und zum Schlafen auf oder in ein Cot gelegt wurde. Damit kann sowohl ein Feldbett, ein in einen Rahmen gespanntes Segeltuch dicht über dem Boden, gemeint sein, als auch ein an der Decke aufgehängtes Bett mit seitlich hochgezogenen Wänden, ebenfalls aus Tuch, wie wir ihm sogleich in der Offiziersunterkunft begegnen werden. Es wäre dann zum Krankenbett umfunktioniert worden. In den schiffsärztlichen Berichten findet sich keine Zeichnung oder Beschreibung, die eine Unterscheidung zwischen den beiden technischen Lösungen erlaubt. Ein Herausfallen wäre aus dem Feldbett natürlich genauso gut möglich, dann aber viel harm­loser. Die zweite Lösung schützte effektiv vor solch einem Sturz.

4.9.2 Offiziersunterkunft In der Regel lag das Kapitänsquartier im hintersten Teil des Hauptdeck, davor waren wenige Kammern der ranghohen Offiziere untergebracht, während alle anderen Offiziere kleine und sehr kleine Kammern in je einer Reihe an beiden Seiten der Offiziersmesse zur Verfügung hatten, von der Messe oft nur durch einen Vorhang, seltener durch eine Türe getrennt. Dennoch waren es Rückzugsorte, die von ihren Bewohnern oft sehr persönlich eingerichtet waren.225 Dass auch die Offiziere mit der allgegenwärtigen Enge an Bord leben mussten, beschreibt Brommy: »Der Officier hat an Bord seine eigene Kammer. Wenn man zum ersten Male ein Schiff betritt, so scheint einem der Aufenthalt in einer solchen Kammer kaum möglich. Freilich erreicht der Officier erst, nachdem er als Kadett vier Jahre hindurch gemeinschaftlich in der Kadetten-Messe mit sechs bis zwölf anderen Kameraden leben musste, dieses Kämmerchen. … Und wer dort in der Kadetten-Messe vier bis fünf Jahre hindurch gelebt, dort einen kleinen Vorbegriff vom perpetuum mobile, vom Chaos und vom Kommunismus erlangt hat, der lernt es erkennen und schätzen, was sechs bis acht Fuß im Kubus abgeschlossenen Raumes auf einem Schiffe für ein kost 224 Auer: Verhütung von Nerven- und Geisteskrankheiten, S. 369. 225 Wells, S. 20.

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barer Besitz sind. … Man hat eine Stätte, wohin man sich zurückziehen und allein sein kann, während man sonst im Schiffe kaum irgend etwas unbeachtet ausführen und nichts für sich allein haben kann, als den Gedanken.«226

Vermutlich nur für die Nelson-Ära mit vielen großen Schiffen gilt, dass nur der Surgeon wie die anderen Offiziere eine der kleinen Kabinen für sich in Anspruch nehmen konnte, der Assistant Surgeon dagegen mit der Mannschaft im Gunroom, dem Batteriedeck zwischen den Kanonen schlafen musste.227 Es gab zwischen den eng an eng angebrachten Hängematten und den hölzernen Kojen der Offizierskabine ein Mittelding, das Cot der jungen Offiziere, eventuell auch der Offiziersanwärter. Manchen war wegen der Schiffsbewegungen die Hängematte am liebsten. (»While the seamen slept in the familiar hammocks, officers usually slept in cots similarly suspended from the deckhead. To some the motion of these is not comfortable, and many of the permanent crew of the current Endeavour replica, for example, prefer hammocks.«)228

4.9.3 Die alltäglichen Lebensbedingungen des Zwischendecks Nur sehr verstreut finden sich in den ärztlichen Berichten Angaben zur Innenausstattung der Schiffe. Gelegentlich aufgenommene Skizzen stellen die konstruktiven Teile und die leeren Räume dar. Da die Surgeons ausdrücklich zur Berichterstattung über die Luftqualität und insbesondere die Frischluftzufuhr angehalten waren, finden sich immer wieder genaue Berechnungen der Rauminhalte der verschiedenen Decksabschnitte. Um die wirklich zur Verfügung stehende Luft zu berechnen, werden die in den Schiffsräumen befindlichen Gegenstände wie Kisten und Schränke mit ihren Volumina abgezogen, was uns wertvolle Informationen liefert. Von der Thetis229 ist, offensichtlich als Besonderheit, vermerkt, dass im Zwischendeck, in dem die Mannschaft wie auch die Offiziere in ihren jeweiligen Messen die Mahlzeiten einnehmen, Tische und Bänke nicht wie üblich rechtwinklig zur Schiffswand angebracht sind. Vielmehr gibt es zwei durchgehende Reihen Kisten, eine fest angebrachte an der Außenwand, eine weitere, bewegliche auf der Mittschiffsseite. Parallel zur Wand läuft ein ebenfalls durchgehender Tisch. Die Kistenreihen sind im Inneren in Fächer unterteilt, die als Spind zur Aufbewahrung von Kleidung dienen. Die Deckel der Kisten sind gleich­ zeitig Sitzfläche. Folglich, so der Berichterstatter, hätten die Matrosen keine 226 Brommy, Karl; Littrow, H. von: Die Marine, Wien, 1878, Reprint Leipzig 2000, S. 206. 227 Wells, S. 3. 228 Millyard: Fiddlers and whores, S. 183. 229 Magill, Martin, HM Screw Corvette Thetis 1.2.–31.12.1873, TNA, ADM 101/190.

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Black Bags, womit vermutlich Seesäcke gemeint sind.230 Nur die Supernumeraries, überzählige, auf die Reise mitgenommene Männer brauchen den Platz für ihre »schwarzen Säcke«. Denn die Spindkästen samt Sitzdeckel waren in der Zahl begrenzt und wahrscheinlich auf die Besatzungsstärke zugeschnitten. Größer als ein Black Bag sei das Volumen der hölzernen Lockers jedenfalls nicht gewesen, betont Surgeon Magill. Immer wieder hören wir von der strengen Trennung von Mannschaft und Offizieren. Diese Trennung war für die Schiffsbesatzung des 19. Jahrhunderts eine »immer schon« bestehende Selbstverständlichkeit. Die Trennung gab es im Organisatorischen, im kleidungsmäßigen Bereich, beim Essen und Trinken und in der Unterbringung an Bord. Diese getrennte Versorgung war Grund für unterschiedliche Häufigkeit an Skorbut schon in alten Seefahrtszeiten (durch die bessere und offenbar frischere, Vitamin-C-haltigere Nahrung der Offiziere). Solche Differenz in der Erkrankungshäufigkeit finden wir aber auch noch in einem Bericht aus dem Jahr 1862. Surgeon Morgan berechnet für die Mannschaft und für die Offiziere unterschiedliche relative Häufigkeiten von »Dysenteric« und »Choleraic Diarrhoea«.231 Demnach hatten 18,4 % aller Männer »Cholera« und 24,6 % »Dysentery«. Eine große Zahl habe zwar unter »Relaxation of the Bowels« gelitten, womit Durchfall überhaupt gemeint ist, jedoch keine ärztliche Hilfe gesucht. Als Gesamthäufigkeit aller drei Erscheinungsformen errechnet er 90,0 %. Unter den 211 Mann an Bord waren 189 »Men«, also einfache Matrosen und Soldaten, sowie 22 »Officers«. Unter diesen beiden Gruppen verteilten sich die relativen Häufigkeiten an Durchfallerkrankungen mit 98,4 % für die Mannschaft und mit 22,2 % für die Offiziere sehr unterschiedlich! Der Schiffsarzt berechnet im Weiteren die Sterblichkeit innerhalb dieser ungewöhnlich schweren Epidemie an Bord und kommt mit 12 Toten unter der Mannschaft und einem Toten unter den Offizieren zu Prozentzahlen, die für die Gruppe der Offiziere ungünstiger ausfallen. Er schreibt, dass er sich mit anderen Offizieren über mögliche Ursachen dafür unterhalten hätte, aber zu keiner Antwort gekommen sei. Bei diesen geringen Absolutzahlen an Todes­fällen waren seine Prozentberechnungen selbstverständlich so stark durch Zufallsschwankungen überlagert, dass seine Überlegungen ins Leere gehen mussten. Die festgestellten Differenzen in der Krankheitshäufigkeit sind aber ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Truppe der Offiziere und die der Mannschaft in vielerlei alltäglicher Hinsicht voneinander getrennt agierten. Brommy beschreibt die psychologische Seite der räumlichen Alltagssituation, die er als eine »peinliche Anomalie der Lokalitätsverhältnisse an Bord« bezeichnet.

230 Der Seesack in heutigem Englisch: Duffel Bag oder Kit Bag. 231 Magill, Martin, HM Screw Corvette Thetis 1.2.–31.12.1873, TNA, ADM 101/190.

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»Auf dem beschränkten Schiffsraume wird jeder Einzelne von allen Anderen beständig beobachtet. … So lernt man denn sehr schnell an Bord den Charakter eines Jeden, seine Neigungen, Leidenschaften, Eigenheiten und Launen kennen, ergründet seine Schwächen und weiss Talente und Fähigkeiten, die ihn auszeichnen, zu beurtheilen und zu schätzen. Bei der Tendenz zur Kritik, die dem Menschen angeboren ist, werden über jeden Einzelnen von allen Uebrigen, je nach der persönlichen Ansicht und je nach dem Vergleiche mit der eigenen Individualität, Urtheile festgestellt. Bei der so leicht gestatteten Einsicht in sein Inneres wird der Einzelne aber nur dem Gleich­ gesinnten sympathisch, nähert sich ihm, während er den Anderen fern bleibt, ja oft sogar abstossend auf sie wirkt. Parteibildungen, Gruppen – und gruppirte Diskussionen, die sich oft unglaublich in die Länge spinnen, zerrissen und wieder angeknüpft werden, deren Werthlosigkeit am Lande einleuchtend wäre, sind auf dem Schiffe beinahe unvermeidlich – werden zu einer oft lächerlichen Wichtigkeit erhoben.«232

Die Schilderung eines englischen Matrosen klingt anders, beschreibt aber doch ähnliche Bedingungen. Aus den Erinnerungen Admiral Ballards, der Mitte des 19. Jahrhunderts das »victorianische Zwischendeck« als Bootsmann erlebte, zitiert Winton: »Die Kargheit des Zwischendecks mit seinen langen Tischen aus Holzplanken mit Hockern erinnerte so wenig an Bequemlichkeit wie eine Gefängniszelle. In kalten Gegenden war es hier feucht und kalt, in den Tropen feucht und heiß. Waren die Stückpforten offen, war es überall zugig, bei geschlossenen hingegen fast stockdunkel, da gläserne Öffnungen noch nicht erfunden waren. Die Räume wurden nachts spärlich und mit großen Unterbrechungen durch Talgkerzen beleuchtet, und da es keine Trockenräume gab, roch es bei Regenwetter nach nasser Serge233 und Flanell. Kurz gesagt waren die Lebensumstände eines victorianischen Blauhemdes, Heizers oder Matrosen so weit von irgendeiner normalen Vorstellung vom Wohnen entfernt, wie man es sich nur vorstellen kann. Außerdem war er Tag und Nacht mitten in einer Menschenmenge. Seine Arbeit und seine Freizeit, sein Essen, Trinken, Waschen und Schlafen, all das fand in drangvoller Enge statt. Er schluckte sein Pökelfleisch und Schiffszwieback, seine Erbsensuppe, seine ›copper rattle‹234 und seinen Rum an einem Tisch in der Messe, an dem es so eng war, dass es so gut wie keine Ellenbogenfreiheit und kaum Platz zum Sitzen hatte. Zweimal in der Woche wusch er gleichzeitig sich und seine Kleider an Deck in den zwei Kübeln kalten Wassers, die für alle 25 Männer seiner Messe zur Verfügung stand, inmitten einer spritzenden Horde von Männern an den anderen Kübeln; und nachts knüpfte er seine Hängematte so eng neben hunderte andere, dass er keinen Bewegungsspielraum hatte, ganz egal, wie sehr das Schiff rollte. Noch nicht einmal im Kopf hatte er eine Privatsphäre.«235 232 Brommy: Die Marine, S. 206–207. 233 Die Serge, auch Sersche, ist ein gewebter Stoff, der besonders für Kleidungsfutter verwendet wurde. 234 Selbst Smyth’s Wordbook kennt dieses Wort nicht. Als »Coppers« wurde der Kessel zum Kochen an Bord bezeichnet, auch wenn er aus Eisen war. Vgl.: Smyth, S. 213. 235 Winton, S. 191–192. Denselben Zeugen zitiert Wells, S. 21–22.

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War es auf einem von Windkraft bewegten Schiff ganz still? Nur zwei Stellen in der umfangreichen Sekundärliteratur äußern sich zu der Frage des Lärmpegels an Bord eines Segelschiffes. Haines berücksichtigt dieses Thema im Falle seiner Studie zu Auswandererschiffen und findet, dass es auf einem Schiff viele Geräusche gab, die den Menschen Furcht einflößen konnten: »Knarrende Planken, knarrende Masten, die donnernde See, die über die Decks lief, oder wenn riesige Wellen gegen die Aufbauten krachten und das Wasser durch jede Spalte nach unten lief. Dieses, zusammen mit dem Zerren und Reißen der Segel in schwerem Wetter, …, das Ächzen des Rumpfes, das Schlagen und Knallen der Segel, und das dauernde Rufen der Mannschaft …« habe sich, zusammen mit dem Geschrei der Kinder und den Streitereien unter den Erwachsenen zu einer Lärmkulisse verbunden, vor der sich manche in irgendwelche leisere Winkel, etwa unter Rettungsboote oder hinter Taurollen zu flüchten versuchten.236 Auch Nöldecke weist darauf hin: »Holzrumpf, Tauwerk und Segel sorgten ständig für knarrende und ächzende Geräusche, an die heute kaum noch gedacht wird.«237 Drei Beispiele sollen die räumlichen Verhältnisse an Bord jener Schiffe, deren ärztliche Tagebücher hier ausgewertet sind, nochmals konkretisieren. Die Pylades, 1860: Dr. John Turner Caddy liefert im Jahr 1860 genaue Maße seines Schiffes, der Fregatte Pylades.238 Das Schiff war insgesamt 193 Fuß lang. Die Schlafräume befanden sich im Vorderteil des Zwischendecks und waren 95 Fuß (ca. 30 Meter) lang. Es war 33 Fuß und 11 Zoll (10,34 Meter) breit und sechs Fuß und ein Zoll (1,85 Meter) hoch. In diesem Raum hingen des Nachts 219 Hängematten. Diese waren jeweils fünf Fuß, sechs Zoll lang und zwei Fuß, zehn Zoll im Umfang (1,68 Meter mal 85 Zentimeter), woraus sich der unglaublich geringe seitliche Spielraum pro Hängematte von 27 Zentimetern errechnet, deutlich weniger als die üblicherweise angegebenen 14 Zoll Abstand von Haken zu Haken, was einen Abstand von 35,5 Zentimeter zwischen den Hängematten ergibt. Er liefert auch Maße für den Kleidersack (Clothes Bag) eines Matrosen. Er maß 34 Zoll in der Länge und 48 Zoll im Umfang, entsprechend 86 bzw. 122 Zentimeter. War der Sack rund gepackt, hatte er 39 Zentimeter Durchmesser. Der ganze Zwischendecksbereich, in welchem über Nacht die Hängematten eingehängt waren, war tagsüber der Raum, um die Mahlzeiten einzunehmen. Dafür war er in 18 Messen eingeteilt. Jeder Matrose war einer dieser Messen fest zugeteilt. Die Leute einer Messe erhielten eine gemeinsame Portion ausgeteilt. 236 Haines: Life and Death, S. 80. 237 Nöldeke, H.: Die Fregatte »Friedrich Wilhelm zu Pferde« und ihr Schiffs-Chirurg, Herford 1990, S. 35. 238 Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 3. Teil, 1.1.–31.12.1860, TNA, ADM 101/167, General Remarks.

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Die Kombüse (Cooking Galley) misst seinem Bericht zufolge »sechs mal sechs Fuß und vier Fuß Höhe«. Da er dies nicht weiter erläutert, fragt man sich, ob bei 1,20 Metern Höhe nur der Arbeitsbereich gemeint ist, eine Art Verschlag, vor welchem der Koch stand? Dr. Caddy hat die Luftqualität für seine Leute im Blick. Bei gutem Wetter kam genügend frische Luft durch Luken von oben und durch verschließbare Bullaugen. Bei schlechtem Wetter jedoch wurden all diese Öffnungen geschlossen, und dann, »nachts, wenn die Wärme der Leute sich oberhalb ihrer Hängematten an der Decke staut, wird die Atmosphäre giftig, es gibt keinen Auslass für die Verunreinigungen und keinen Zufluss von frischer Luft.« (»… and in wet weather under steam, the odours of this sleeping deck where the men are berthed is nauseating. At night with the mens heads close against the deck over their hammocks, the atmosphere is noxious, no outlet for impurities, no current of fresh air.«) Im Mai 1858 waren es (nahe Singapur) an Deck dieses Schiffes 86 Grad Fahrenheit (29,4 Grad Celsius), im Zwischendeck 89¼ Grad Fahrenheit (31,8 Grad Celsius) und auch in der Kabine des Schiffarztes, in der nur er sich aufzuhalten hatte, immer noch 86¼ Grad Fahrenheit (30,1 Grad Celsius). Im Dezember desselben Jahres sind es an Deck 88 Grad Fahrenheit (31,1 Grad Celsius), in der Kabine des Arztes gar 89 Grad Fahrenheit (31,7 Grad Celsius). Das Schiff befand sich zu der Zeit, es war genau der 15. Dezember 1858, auf 5,4 Grad südlicher Breite und 113,35 Grad östlicher Länge. Von sehr hoher Luftfeuchtigkeit, die in diesem Bericht nicht angegeben ist, müssen wir ausgehen. Zusammenfassend stellt der Schiffsarzt fest, das Zwischendeck sollte von den Männern nicht zum Schlafen genutzt werden, sondern nur für ihre Werkzeuge. Die französische Marine plane bereits eine solche Veränderung. (»This is the plan of The French Imperial Navy.«) Die Rinaldo, 1870: Die detaillierteste Beschreibung der Verhältnisse an Bord hinsichtlich der Luftqualität liefert das Medical Journal der Rinaldo, verfasst von Surgeon Buckly.239 Das Schiff war eine 1860 in Portsmouth vom Stapel gelaufene hölzerne Sloop mit drei Masten und Schraubenantrieb. Sie gehörte mit ihren 185 mal 33 Fuß zur größten Klasse der Sloops und trug 17 Kanonen. Im Jahre 1870 wurde sie, vermutlich nach Reparatur- und Umbauarbeiten, wieder in Betrieb genommen und fuhr für die Navy bis zu ihrem Verkauf im Jahre 1884. Der Arzt errechnet für die 160 Seeleute der Mannschaftsgrade, also der Matrosen, der Soldaten und der Schiffsjungen, 80 Kubikfuß Luft pro Mann, die an Bord zur Verfügung steht; das sind 2,264 Kubikmeter. Hierfür zieht er vom gesamten Rauminhalt der Mannschaftsunterkünfte die Volumina von Schornsteinschacht, Kabel 239 Buckley, John., HM Sloop Rinaldo 10.5.–31.12.1870, TNA, ADM 101/182, General Remarks.

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kasten, sowie Schränken und Kisten ab. Weiter korrigiert er die Zahl um die zur Nachtzeit an Deck befindlichen Leute, nämlich für Liegezeiten im Hafen den Quartiermeister, die Marineleutnants (Corporals) und die drei bis vier Personen, die durchschnittlich im Schiffslazarett untergebracht sind, zusammen um die zehn Männer. Auf See seien während der nächtlichen Wachen durchschnittlich 45 der 160 Mann an Deck. Für die Luftqualität unter Deck sind Zahl und Größe der Luken zum Oberdeck sowie der Öffnungen für die Niedergänge mit Leitern und Treppen maßgeblich, weswegen alle genau mit ihrer jeweiligen Fläche aufgeführt werden. In der Außenwand des Schiffes befinden sich je Seite acht Luken von 14¼ mal 11 Zoll. Als maximale Temperatur wurden in den Schlafräumen 80 Grad Fahrenheit (26,7 Grad Celsius) gemessen. Wesentlich heißer ist es in den Räumen, die an die Kombüse angrenzen. Im Winter sind diese um so viel leichter warm zu halten, wie sie im Sommer »unbewohnbar« werden. (»… but during the hot months it becomes a serious inconvenience, raising the temperature of the messes in its immediate neighbourhood to an uncomfortable degree and rendering that part uninhabitable.«) Ähnliches gilt für die in der Nähe der Destillierapparate befindlichen Unterkünfte. Zum Glück, stellt Mr. Buckly fest, hätten sie in den Gewässern vor Japan viele Gelegenheiten, sauberes Wasser zu bekommen, sodass nicht viel und damit nicht häufig kondensiertes Wasser hergestellt werden müsse. (»… as we generally use water from the shore which in Japan is every­ where of good quality.«) Für jeden Offizier gibt es eine Kabine auf demselben Deck, auf dem sich die Mannschaftsunterkunft befindet, dem Zwischendeck. Buckly errechnet durchschnittlich 260 Kubikfuß (7,36 Kubikmeter) pro Kabine. Was er davon an Rauminhalt abzieht, deutet an, was in einer solchen Kabine vorzufinden war: Eine Kleiderkiste, ein Waschtisch und Gepäck und vermutlich auch ein festes Bett, eine Koje. Offenbar waren die Luken in der Schiffswand jeweils den Kabinen (möglicherweise aber nicht allen) zugeordnet. Neben diesen Luken werden die Türe zur Kabine und »offene Jalousien« als einzige Wege der Frischluftzufuhr angegeben. Die Juno, 1875: Noch genauere Messungen der Temperaturen in den Schlafräumen der Zwischendecks hat Staff Surgeon Norbury für die Juno angestellt.240 Sie ist mit 210 Fuß Länge das größte der drei Schiffe, eine 1864 in Deptford gebaute Fregatte mit einer 1090 PS leistenden Dampfmaschine. (»She is  a Barque-rigged Screw Corvette of 2216 Tons and an indicated Horse Power of 1090.«) Mit einem Ventilationssystem, das aktiv die Luft austauscht, kann der höchst unan­ 240 Norbury, Henry, HM Frigate Juno 4.11.1875–7.7.1876, TNA, ADM 101/195, General Remarks. Abbildung 5, S. 257, zeigt ihr Ventilationssystem.

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genehme Wärmestau in den Schlafräumen vermieden werden. (»When the Ship is under steam the Temperature of the Lower Deck at a time when occupied by Supernumeraries is from 6° to 10° above that of the External Air, and that of the Main Deck from 3° to 5°; if the Ship is under Sail the Temperature of the former rises about 5° that of the latter about 2.5°.«) An Bord der Juno waren für die Offiziere zehn »geräumige Kabinen, mit Schlafkojen« vorgesehen, je fünf steuerbords und backbords. Da sie für 19 Offiziere gedacht waren, ist anzunehmen, dass nicht für jeden Offizier eine Einzelkabine zur Verfügung stand. Ob manche der Kabinen nicht nur mit zwei, sondern mit drei oder vier Personen belegt waren, ist nicht erwähnt. Die gemeinsame Messe für alle Offiziere bot 28 Plätze. Auch der Schiffsarzt der Juno rechnet genau aus, wie viel Rauminhalt pro Mann an Bord tatsächlich vorhanden ist. Es sind 424 Kubikfuß (12 Kubikmeter) pro Mann auf See und 315 Kubikfuß (8,9 Kubikmeter) im Hafen. Diese differenzierende Berechnung kommt wahrscheinlich wieder durch die unterschiedlich große Wachmannschaft und damit durch die unterschiedlich große Zahl Matrosen unter Deck in Freiwache zustande. Transportiert das Schiff die größtmögliche Zahl zusätzlicher Matrosen oder Soldaten (Supernumerary Seamen or Troops), so reduziert sich dieses Maß auf 182 Kubikfuß (5,15 Kubikmeter) für die 216 Mann Stammbesatzung und 75,5 Kubikfuß (2,13 Kubikmeter) für die maximal 326 zusätzlich an Bord aufgenommenen Männer. Schlussfolgerungen Das für die Schiffskonstruktionen eingangs Gesagte gilt für das Innere des Schiffskörpers ebenfalls und in besonderem Maße. Noch näher, noch direkter sind hier die vielfältigen Wechselwirkungen von menschlichem Befinden und räumlicher Umgebung, und ebenso die Wechselwirkungen, verursacht durch die denkbar größte Nähe einer großen Zahl von Menschen. Hunderte junger Männer befanden sich in einem niedrigen und nicht groß bemessenen Schlafraum, in direkter Berührung miteinander in ihren Hängematten. Ebenso waren sie für die Mahlzeiten in Gruppen von 6 bis 10 Mann eingeteilt, als »Messe« (Mess), um einen gemeinsamen Essenstopf, und um eine Kanne Wasser, Tee oder Kaffee. Bier, Wein und Rum wurden stets für jeden abgemessen ausgeteilt, aber vermutlich gemeinsam konsumiert. Von großer psychologischer Bedeutung ist die räumliche Trennung von Offizieren und Mannschaft. Sie war alltäglicher Ausdruck der hierarchischen Schichtung und Trennung. Zahllos sind die Berichte, die besagen, dass ein Kapitän nie das Vorschiff, zumindest nicht das Mannschaftslogis unter Deck, betrat und nie ein Matrose auf das Achterdeck, zumindest nie in die Offiziersmesse oder eine Offizierskabine kam. Die Raumteilung des Schiffsinneren ebenso wie die Aufteilung des Oberdecks in Vor-, Groß- und Achterdeck war ein Medium

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Das Lazarett

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der psychologischen Barriere und hielt die soziale Schichtung und damit die Hierarchie aufrecht. Dass die Marinesoldaten, an Bord mit vielfältigen polizeilichen Aufgaben betraut, typischerweise zwischen der Mannschaftsunterkunft und den Offiziersräumen untergebracht waren, verstärkt noch den trennenden Charakter der »Konstruktion Schiff«. Der Schiffsarzt war ein Wanderer zwischen diesen Welten. Von seinem Selbstverständnis ein Offizier, auch unter ihnen und in ihrer räumlichen Sphäre lebend, war sein Wirkungsbereich doch stets sowohl im Achter- als auch im Vorschiff, wo sich die Krankenabteilung befand. Viel spricht dafür, dass sich keiner der Ärzte scheute, auch in die einfachsten Mannschaftsräume hinabzusteigen, um einen Patienten zu untersuchen und dort auch zu behandeln, wenn dies nicht in den Lazaretträumen nötig oder möglich war. Seine vielfach dokumentierten Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse belegen, dass er sich in sämtlichen Winkeln des Schiffes auskannte, weil er überall hin gerufen wurde und er überall wenigstens ab und zu war. Vielleicht spielte eine Rolle, dass im Bewusstsein der Schiffsärzte ihr eigener Kampf um Anerkennung durch die Gruppe der nautischen Offiziere nicht lange zurücklag oder noch andauerte. Zwar waren die Surgeons als Medical Officers durchaus Angehörige der oberen, der Offiziers-Schicht, an Bord, jedoch war im victorianischen Zeitalter das aristokratische Bewusstsein so ausgeprägt, dass sie es doch mit den gewissen feineren Unterschieden, die die Upper Class macht, zu tun bekamen.

4.10 Das Lazarett (»Sick Berth«) Die Krankenstation, in unseren Quellen Sick Berth oder Sick Bay genannt, war der Wirk- und Machtbereich des Schiffsarztes.241 Die ersten nur für die Krankenversorgung vorgehaltenen Räume an Bord entstanden in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und erst nur auf den nach Übersee bestimmten Schiffen. Davor wurden Abschnitte des Zwischendecks behelfs- und bedarfsweise für die Krankenversorgung verwendet. Umgekehrt wurde auch bei Bedarf die Sick Mess (ein weiteres Synonym für das Sick Berth) in ein Gefängnis umgewidmet.242

241 Sick Berth ist der ältere Ausdruck. Ein Berth ist zunächst die Koje im Schiffsrumpf, neben der Bedeutung des Liege- oder Ankerplatz des Schiffes. Im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts kam mit der üblich werdenden runden an Stelle der bisherigen dreieckigspitzen Form des Schiffsbuges der Name Sick Bay auf. Vgl.: Carr Laughton, Leonard George: The British navy in war, London 1915. Die Bay ist zum einen der Schiffsbug, zum anderen die Bucht als Landschaftsform. Das »Sailor’s Wordbook« nennt »sick-berth« den Kranken- und Verwundetenraum im Unterschied zur »sick-bay« für die Invaliden. Vgl.: Smyth, S. 624. 242 House of Commons 1903 (301) Navy (health): Stat. Rep. für 1902, S. 140.

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In den hier untersuchten Jahren kamen nur die Schwerkranken, die ständige Pflege und Behandlung brauchten, eventuell auch die zu Isolierenden auf die Krankenstation. Die meisten Mannschaftsmitglieder behandelte der Arzt in deren jeweiligen Unterkünften, auch wenn sie auf seiner Krankenliste, der Sick List, als Patienten vermerkt waren. Wir finden in den schiffsärztlichen Berichten keine Hinweise darauf, dass die Krankenstation bevorzugt für die einfachen Seeleute oder die Offiziersränge genutzt wurde. Allerdings hatte ein Offizier höheren Ranges eine eigene Kabine, wenn auch oft winzigen Ausmaßes, zur Verfügung, in der er ärztlich behandelt und von einem als Pflegekraft abgestellten Matrosen oder Jungen versorgt werden konnte. Wir können von einer ausgewogenen Häufigkeit der »Krankschreibung« an Bord ausgehen. Der Schiffsarzt der Dido erstellt 1852 eine Vergleichsberechnung der Zahl an Krankheitstagen, bezogen auf die drei großen Gruppen der Besatzung, und errechnet, dass sich in jenem Jahr auf der Sick List 25,4 Krankheitstage pro Offizier, 24,1 Tage pro Matrose und 20,5 Tage pro Marinesoldat ergeben.243 Tabelle 5: Krankheitstage an Bord der Dido 1852 Teil der Besatzung an Bord der Dido

Anzahl der Krankheitstage auf der Sick List im Jahr 1852

Offiziere

25,4

Matrosen

24,1

Marinesoldaten

20,5

In Form von Lazarettschiffen besaß die Flotte auch größere Krankenabteilungen, förmliche Krankenhäuser auf dem Wasser. In den Jahrzehnten vor unserem Untersuchungszeitraum waren dies typischerweise aufgebrachte feindliche Schiffe, die in englischen Häfen als Hospitäler eingesetzt wurden, ohne dass größere Umbauten vorgenommen worden wären. Sie endeten nach den Kriegsjahren als Prison Hulks, übervoll besetzt mit französischen, spanischen, dänischen und amerikanischen Kriegsgefangenen. Manche an fernen Küsten gekaperte Schiffe wurden an Ort und Stelle ebenfalls in diesem Sinne umgewidmet.244 Die große Bedeutung eigens vorgesehener Lazarettschiffe wurde im Krimkrieg 1855 erkannt, als mit ihrer Hilfe innerhalb von 22 Monaten über 100 000 Kranke und Verletzte versorgt und transportiert wurden.245 Da im

243 Evans, Evan, HM Sloop Dido 12.9.1851–15.12.1852, TNA, ADM 101/96/4. 244 House of Commons 1903 (301) Navy (health): Stat. Rep. für 1902, S. 140–141. 245 Schadewaldt, Hans: Der Schiffsarzt, Ciba Zschr. (1955), S. 2502–2536, S. 2533.

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Das Lazarett

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Londoner Archiv keine Berichtsbücher von Lazarettschiffen aufbewahrt sind, können keine näheren Angaben zu ihnen gemacht werden. Wir erfahren aber immer wieder in Form von Briefen anlässlich einer Überweisung auf ein Hospital Ship von deren Existenz in der ostasiatischen Station. Eines dieser Schiffe war die Melville vor Hongkong. Ein weiteres lag vor Macao.246 Die Krankenstation, stets aus nur einem Raum bestehend, lag im vorderen Teil des Schiffes im ersten Unterdeck. Außenfenster gab es dort in aller Regel keine, weswegen die Ventilation zur Versorgung mit frischer Luft besonders wichtig war. Vor der Darstellung der Krankenstationen aus unserem Quellenmaterial sei bemerkt, dass die medizinische Versorgung auf Handelsschiffen sehr viel einfacher und erst später organisiert wurde. Dort wurde der Seemann zumeist in seiner Koje und damit im Mannschaftslogis, das stets im Vordeck lag, behandelt, wenn er seinen Wachdienst nicht wahrnehmen konnte. Auf größeren Frachtschiffen konnte durchaus ein Raum als Krankenzimmer vorgesehen sein, der aber oft genug als Stauraum genutzt wurde, solange er nicht für einen kranken Matrosen gebraucht wurde. Dieses Krankenzimmer wurde, eine militärische Tradition übernehmend, »Lazarett«, im Englischen Lazareet genannt (was wiederum auf die Leprahäuser des Mittelalters zurückgeht). Der Kapitän oder, viel häufiger, der Erste Steuermann besuchten ihn dort mehr oder weniger regelmäßig und verabreichten ihm Medizin aus der Arzneikiste. Ein Offizier wurde dort nie behandelt. Er blieb auch im Krankheitsfall in seiner Kabine »hinter dem Mast«. Viele Erfahrungsberichte überliefern, dass es bei völliger Ahnungslosigkeit des Vorgesetzten, um was für ein medizinisches Problem es sich handelte und wie es zu therapieren sei, mit der stets gleichen Medizin für alle Krankheitsfälle zuging. Im Laufe des 19.  Jahrhunderts standen den Kapitänen und Steuerleuten, die für die laienhafte Krankenversorgung zuständig waren, Büchlein zur Verfügung, in denen die wichtigsten und häufigsten Krankheitsbilder so verständlich wie möglich beschrieben waren und die auf die in den amtlichen Arzneikisten verwahrten Medikamente verwiesen, die zu verabreichen seien. Im deutschen Sprachraum ist dies die ständig neu aufgelegte »Anleitung zur Gesundheitspflege an Bord von Kauffahrteischiffen«247, für die englischen Schiffen war dies zum Beispiel die »Scale of Medicines« von Thomas Spencer-Wells248. Vier Beschreibungen der Sick Bay aus der Feder der Schiffsärzte in ihren­ Medical Journals und weitere aus den statistischen Jahresberichten der Admi-

246 Von vier deutschen Lazarettschiffen in Ostasien während des sogenannten Boxeraufstandes berichtet Demme. Vgl.: Demme 2006, wie Anm. 77, S. 129–146. 247 Anleitung zur Gesundheitspflege an Bord von Kauffahrteischiffen, Berlin 1888. 248 Spencer Wells, T.: The Scale of Medicines, London 1851.

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ralität können wir zur Veranschaulichung nutzen.249 Die früheste Beschreibung ist die von Bord der Euryalus aus dem Jahre 1862. Surgeon Morgan äußert sich unzufrieden mit der Örtlichkeit seiner Krankenabteilung, wie auch mit den dort herrschenden Licht- und Luftverhältnissen. Ein Aspekt des ewigen Deckschrubbens, nämlich des unvernünftigen Umganges mit viel Wasser, dem wir bereits oben bei der Beschreibung der Schiffe begegnet sind, wird hier als gravierendes medizinisches Problem herausgestellt. »Die Krankenstation dieses Schiffes war auf Anweisung der Werftbehörden im unteren Teil des Decks gebaut worden, einem völlig unpassenden Platz für die Unter­ bringung von Kranken, für die Licht und Luft unverzichtbar sind. Demzufolge wandte ich mich an die Lordkommissare der Admiralität, woraufhin auf Anordnung der Lordschaft Räume auf der Steuerbordseite des Hauptdeckes unter Einschluss der Heckgalerie und zweier größerer Luken gebaut wurden, die groß genug waren, einige der dringendsten Fälle in Betten unterzubringen, die vorne und hinten auf Pfosten lagerten, ähnlich der Konstruktion in Offizierskabinen. Dies habe ich als besonders günstig bei der Unterbringung jener speziellen Fälle empfunden, die gelegentlich auftreten und ständiger sorgfältiger Beobachtung bedürfen. Zu dieser Zeit war das Unterdeck des Schiffes ungewöhnlich feucht vom ständigen Schrubben und Waschen, was besonders zu Beginn der Reise für nötig gehalten wurde, um die Decks des Kriegsschiffes in die gewünschte Form zu bringen. Aber das poröse Holz (Fichte), aus denen die Decks gebaut sind, absorbierte so viel Feuchtigkeit, dass die Luft zwischen den Decks Tag und Nacht mit Wasserdampf gesättigt war. In einem Brief an die Admiralität stellte ich dies als einen gewichtigen Grund für Krankheiten heraus und schlug gleichzeitig vor, das Übel wenigstens teilweise zu verringern, indem man das Deck mit Lack und Ölfirnis streicht, wodurch es weni 249 Hinrichs beschreibt die Sick Bay eines der größten Schlachtschiffe, des mit 101 Kanonen bestückten Zweideckers St. Jean d’Acre aus dem Jahr 1860. Demnach war das Lazarett auf diesem Schiff entsprechend größer, aber hinsichtlich der Aufteilung, Ausstattung und auch Besetzung mit einem Sick Berth Attendant, einem mit der Krankenpflege beauftragten Seemann, den in unseren Quellen beschriebenen sehr ähnlich. Vgl.: Hinrichs, S. 33–34. Bemerkt sei auch, dass die Zeiten vernachlässigter und untauglicher Lazarette um die Mitte des 19.  Jahrhunderts bereits Vergangenheit waren, zumindest auf den Schiffen der Royal Navy. Wie diese schlechten Verhältnisse ausgesehen haben, lesen wir in den »Aben­ teuern des Roderick Random« von Tobias Smollett. Dieser Schriftsteller war als Assistant Surgeon der britischen Kriegsmarine von 1740 bis 1742 auf der Cumberland tätig, und bei all seinen künstlerischen Fähigkeiten gelten die Kapitel, die von der Seefahrt handeln, als frühe, nüchterne Schilderungen aufgrund eigener Erlebnisse. Er schreibt: »Als ich ihm (dem Schiffs­ steward) mit den Arzneien in das Lazarett oder Hospital folgte und die Lage der Patienten sah, war ich weniger überrascht, daß Leute an Bord sterben als daß ein Kranker wieder gesund wird. Hier sah ich etwa fünfzig übellaunige arme Teufel, in engen Reihen in ihren Hängematten liegend, für jeden nicht mehr als vierzehn Zoll Platz, des Tageslichtes und frischer Luft beraubt und nichts als eine übelriechende Atmosphäre von krankmachenden Ausdünstungen ihrer eigenen Exkrementen und kranken Körper zum Atmen. Ungeziefer und Schmutz umgab sie und es fehlte jegliche Bequemlichkeit, die Menschen in so hilfloser Situation brauchen.«. Vgl.: Smollett, Tobias George: Roderick Random, London 1964, S. 153.

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ger porös und somit nach dem Nasswerden schneller wieder trocken würde; aber jeglicher Vorschlag war vergeblich. Ich möchte hier feststellen, dass dieses Schiff nicht geräumig genug für ein Flaggschiff ist, auf dem durch andauernde Aufnahme überzähliger Personen die Besatzungsstärke beträchtlich höher ist als auf anderen Schiffen derselben Größe. Der kommandierende Offizier hat alles in seiner Macht stehende zur Belüftung des Unterdecks unternommen, unter anderem durch Windsegel. Jedoch ist die Luft zwischen den Decks während feuchten Wetters, wenn die Luken notwendigerweise geschlossen sind, schlecht und ungesund. Um diese Krankheitsquelle unter Seeleuten auszuschließen, würde ich vorschlagen, dass Zinkrohre zwischen den Spanten und der Verkleidung des Schiffes eingebaut werden sollten, um eine Verbindung zur Außenluft zu verschaffen, und zwar oben unmittelbar unter der Höhe der Hängematten und über dem Decksboden. Die Öffnungen der Rohre sollte mit Gittern verschlossen werden, um die Männer (die generell eine außerordentliche Abneigung gegen Frischluft zwischen den Decks haben) davon abzuhalten, die Röhren z. B. mit Kleidungsstücken zuzustopfen. Die dichtere Außenluft würde so zum Zwischendeck geführt werden und dort die verbrauchte, weniger dichte Atmosphäre ersetzen.«250

Der zeitlich nächste Bericht in unseren Quellen stammt von der Rinaldo aus ihrem Einsatzjahr 1870. Surgeon Buckley muss mit einem Provisorium und Kompromisslösungen leben. Das Sick Berth der Rinaldo lag wie üblich unter dem Vordeck des Schiffes, jedoch war bei ihr lediglich ein Vorhang zur Abtrennung vom übrigen Zwischendeck gezogen. »Die Hälfte des Raumes unter dem Vordeck ist der Behandlung der Kranken vorbehalten. Was dort zur Verfügung steht, ist vorläufiger Natur. Der Bereich ist mit einem Leinenvorhang abgeteilt, der innerhalb kürzester Zeit hochgerollt werden kann. Grundsätzlich genießen die Kranken das Privileg, an Gefechtsübungen und Feuerlöschübungen nicht teilnehmen zu müssen, außer in so ernsthaften Fällen, wo ihr Verbleiben gefährlich wäre. Im Hafen und bei gutem Wetter ist die Krankenstation in vielerlei Hinsicht ein wunderbarer Ort: Durch zwei große Bullaugen gut belüftet, und da das Schiff meist mit dem Bug im Wind liegt, strömt jeder Luftzug rein und frisch herein. Ich habe mir oft selbst zu diesem wunderbaren Ortes gratuliert, besonders dann, wenn ich bei rauem Wetter die Kranken im Zwischendeck besuchen musste. Der übliche Ort für die tägliche Visite ist diese Klasse. Im Lazarett ist Platz für fünf oder sechs Hängematten oder zwei Betten für die ernsthafteren Fälle und hat Licht im Überfluss zur Durchführung kleinerer Operationen und zum Anlegen von Verbänden. Dort gibt es auch ein Wasserklosett, was für diejenigen mit Durchfallerkrankungen während der Regenzeit von großem Vorteil ist. So wird vermieden, sich bei häufigen Besuchen am Schiffsbug der Nässe auszusetzen. Im Winter und auf See weist dieser Bereich einige Nachteile auf. Wenn das Schiff stampft, dringt die See mit Macht durch die Trassen-Löcher und setzt diesen Bereich unter Wasser und macht ihn äußerst ungemütlich. Wenn das der Fall ist, ordne 250 Morgan, David Lloyd, HM Frigate Euryalus 23.1.–31.12.1862, TNA, ADM 101/174.

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ich die Verlegung der Kranken auf ihre Plätze in der Messe im Zwischendeck an. Bei kaltem Wetter ist die Lufttemperatur beinahe dieselbe wie draußen. Beim Auftreten einer Epidemie können die Infizierten rasch von der restlichen Schiffsbesatzung getrennt werden, indem der Vorhang über das ganze Deck ausgedehnt wird, sodass der gesamte Raum unter dem Vordeck abgetrennt ist.«251

Von der Juno sind zwei Medical Journals erhalten, die Jahre 1875 bis 1877 umfassend. Zunächst sei aus dem Tagebuch des zweiten Zeitabschnittes 1876–1877 zitiert.252 In ihm finden wir nicht nur eine Beschreibung der Kranken­station, sondern auch eine von Surgeon Nelson angefertigte einfache Skizze. (Siehe Abb. 4, S. 256.) Bei der Juno handelte es sich um ein 206 Fuß langes, 29 Fuß hohes Fighting Troopship, das 1868 gebaut worden war. Geplant war ein Aufnahmevermögen von 250 Mann für den Transport, zusätzlich zu den 235 Mann Besatzung. Für diesen Zweck hatte sie sich als nicht günstig erwiesen, weswegen sie wie andere Schiffe auch als Schrauben-Korvette in Übersee eingesetzt wurde und aufgrund ihrer Bauart (für den ursprünglichen Zweck) als außergewöhnlich geräumig und gut belüftet erwies. In den Angaben des Schiffarztes finden sich Höhenangaben der Decks: Jeweils sieben Fuß für das Ober- und Unterdeck und 15 Fuß zwischen Unterdeck und Kiel. Das Sick Berth ist im Bug des Zwischendecks untergebracht und hat die Form eines gleichschenkligen Dreiecks. Seine vorderste Spitze ist trapezförmig beschnitten. Es hat eine Länge von 22 Fuß, eine Breite zwischen sieben Fuß und 30 Fuß und, wie das ganze Deck, eine Stehhöhe von sieben Fuß. Der Rauminhalt ist mit 3 000 Kubikfuß berechnet. Seine außergewöhnlich großzügigen Abmessungen rühren daher, dass der Raum, so vermutet der Surgeon jedenfalls, ursprünglich zur Unterbringung von Frauen und Kindern vorgesehen war, wenn auf dem Schiff Truppen transportiert worden wären. Nelson beschreibt seine Krankenstation als »hinreichend bequem« (»sufficiently commodious«). Die Skizze zeigt vier Betten von sechs Fuß mal 2,5 Fuß im mittleren vorderen Teil des Raumes in Längsrichtung des Schiffes aufgestellt mit einem Sitzbadebecken zwischen den Betten. Es gibt außerdem eine Badewanne von sechs mal zwei Fuß, zwei Esstische, ein Handwaschbecken mit Wassertank und einen »Creare’s«-Wasserfilter. Durch einen Vorhang abgeteilt ist ein Schreibtisch sowie ein Ofen. Auf Backbordseite achtern führt eine Tür in die Apothekenkammer, die vier mal sieben Fuß groß ist, auf der Steuerbordseite führt eine andere Tür in ein »Water-Closet« von 4 mal 5,5 Fuß Grundfläche. Bemerkenswert ist die auf diesem Plan eingezeichnete Toilette mit Wasserspülung. In den 1870er Jahren gab es derlei Einrichtungen durchaus an Bord, wie im nächs-

251 Buckley, John, HM Sloop Rinaldo 10.5.–31.12.1870, TNA, ADM 101/182. 252 Nelson, Robert, HM Ship Juno 1.10.1876–31.12.1877, TNA, ADM 101/197.

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ten Abschnitt dargestellt, wenn auch nicht für alle an Bord. Gerade im Lazarett wird diese Neuerung sicherlich ein Segen gewesen sein. Im Journal für 1875–1876 kommt ein spezifisches technisches Problem zur Sprache, welches noch ganz in die berichtete Zeit gehört: Die Klage über nicht oder nur knapp ausreichende Beleuchtung. In den unter Deck gelegenen Räumen mit ihren kleinen Luken oder ganz ohne Öffnungen in der Rumpfwand war Lichtmangel zu erwarten. Der jetzt zuständige Surgeon Norbury klagt darüber, dass sein Lazarett im Bug des Schiffes so wenig Tageslicht bekomme, dass selbst bei hellstem Sonnenschein Kerzenlicht gebraucht würde. »Im vorderen Teil  dieses Decks ist das Lazarett, das den Grundriss eines gleichschenkligen Dreiecks mit einer Seitenlänge von 25 Fuß und einer Basis von 28 Fuß hat; dort gibt es eine Apotheke, ein Wasserklosett, einen Creare’s-Tank-Filter, und vier eiserne, an der Decke aufgehängte Krankenbetten. Licht fällt durch Bullaugen und durch einen langen Luftschacht, der mit dem oberen Deck verbunden ist und bei nassem Wetter durch Oberlichter abgedeckt wird, die an Scharnieren schräg zu stellen sind. Die Lichtverhältnisse sind jedoch so jämmerlich schlecht, dass die Ausübung des Berufes nur mit Schwierigkeiten und mit der Hilfe von Kerzen, selbst bei hellichtem Tage ausgeführt werden kann. Dieser Mangel ist meiner Meinung nach von großer Bedeutung ….«253

Es konnte im Schiffslazarett bei entsprechenden klimatischen Bedingungen durch seine Lage unter Deck heiß, feucht und stickig sein. Dass es dort auch sehr laut sein konnte, erfahren wir von der Victory. Auf dem Vordeck, so beklagt der zuständige Surgeon, wurde regelmäßig so laut exerziert (»constant noise from overhead in exercising the ship’s company«), dass keine günstigen Bedingungen zur Gesundung resultierten. Er wünscht sich, sein Sick Berth läge ein Deck tiefer. Zwar gehörte die Victory im Jahre 1853 nicht zur Ostindischen Flotte, sondern war in der Home-Station in Portsmouth eingesetzt. Wegen der anschaulichen Schilderung des Tagesablaufes auf der Krankenstation, der in den Medical Journals der ostindischen Flotte nirgends eigens niedergeschrieben ist, sei dennoch aus dieser Quelle zitiert.254 Surgeon William Guland macht demnach täglich um 8.30 Uhr morgens sowie um 4.00 Uhr nachmittags und 19.30 Uhr abends »reguläre Visite« auf der Krankenstation. Bei der Morgenvisite untersucht er alle Kranken sorgfältig, entscheidet, wer zum Dienst entlassen werden kann und führt »medizinische und chirurgische Eingriffe« aus. In der Visite am Nachmittag untersucht er erneut alle Patienten, überprüft die Wirkungen der Morgenmedizin, verordnet neue Medizin und führt nötigenfalls nochmals Eingriffe durch. Dasselbe wiederholt sich abends. Für die Nachmittagsvisite führt der Schiffsarzt noch die 253 Norbury, Henry, HM Frigate Juno 4.11.1875–7.7.1876, TNA, ADM 101/195. 254 Guland, William, HM Ship of the Line Victory 1.1.–20.7.1853, TNA, ADM 101/125/2.

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Zubereitung der Medikamente an, die »für einen sofortigen Einsatz stets vorrätig sein mussten«. Als Beispiel führt er »Antimonial«-Lösung an, sowie eine Salzlösung für Erkältungskrankheiten. Klage führt er über die starke zeitliche Beanspruchung durch zusätzliche Untersuchungen von Marineangehörigen, die von anderen Schiffen nach der Rückkehr aus fremden Einsatzorten oder aus anderen Häfen Englands zu ihm geschickt werden. Er sollte offenbar häufig Seeleute hinsichtlich der Notwendigkeit einer Invalidisierung begutachten. Dies seien in den letzten zwölf Monaten (bis Juli 1853) gegen 1 500 Patienten gewesen. Schließlich hat er medizinische Prüfungen von Kandidaten des Naval College, das in Portsmouth beheimatet war, abzunehmen. Diese Prüfungen fanden offenbar einmal monatlich statt. Allein auf seinem eigenen Schiff, der Victory, gab es seiner Zählung nach eigentlich 600 Mann, tatsächlich aber im Durchschnitt eher 700 Mann zu versorgen. Alle wollten den Service einer sofortigen medizinischen Hilfe für sich beanspruchen. (»The immediate medical surveillance of the Surgeon of this Ship.«) Dabei sei ihm auf seine letzte Medizinbestellung hin lediglich Material für 150 Mann geliefert worden. (»The last supply of medicine sent necessaries being only for 150 men.«) Ein wahrhaft umfangreiches Arbeitspensum wurde hier bewältigt. So ist gut nachvollziehbar, dass Surgeon Guloned schlussendlich die Einstellung eines zweiten Medical Officers für die Victory fordert. (»I am of opinion that an additional medical officer should be appointed to the Ship.«) Wenn wir bedenken, wie knapp die ärztlichen Stellen in der Königlichen Marine veranschlagt waren und dass auch diese nur schwer besetzt werden konnten, ist anzunehmen, dass dem Wunsch dieses Arztes nicht allzu viel Erfolg beschieden gewesen sein wird. Auch in den Statistical Reports finden wir manche anschauliche Details, die die Admiralität aus den regelmäßig eingehenden schiffsärztlichen Berichten zur Bekanntmachung auswählten. Der allererste dieser Reports geht auf die Verhältnisse an Bord der Hyacinth ein. Sie war 1835 auf dem Weg von Batavia nach Trincomalee auf Ceylon und hatte auf dieser Etappe mit Temperaturen über 30 Grad Celsius zu kämpfen. Es fiel auf dieser Reise extrem viel Regen, sodass sich die Belüftung der Decks als völlig ungenügend erwies. Nach drei Monaten Fahrt auf Ceylon angekommen, wurden die vielen Fieberkranken auf ein anderes, derzeit unbenutztes Schiff gebracht, wo mehr Platz zur Verfügung stand und einige Räume besser trocken gehalten werden konnten und das so als provisorisches Lazarett genutzt wurde. Die extremen Bedingungen auf der­ Hyacinth hätten sieben Todesopfer allein durch »Dysenterie« (Durchfallerkrankung) gekostet, und weitere fünf gingen im Hospital auf Ceylon einem ungewissen Schicksal entgegen, so der Berichterstatter.255 255 House of Commons 1841 (53) Navy (health): Stat. Rep. für 1830–36, S. 101.

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Im Statistical Report von 1856 wird von so großer Enge und so problematischer Unsauberkeit auf der Krankenstation der Calcutta berichtet, dass der Schiffsarzt wenig Heilungschancen für die häufig zu behandelnden Ulcerationen an den Unterschenkeln, vor allem über den Schienbeinen der Matrosen, sieht. Diese »Geschwüre« waren zweifellos bakteriell superinfiziert, nässten und heilten nicht ab, schon gar nicht unter den Bedingungen eines Schiffslazaretts. Viele solche Patienten lagen auf der Calcutta beieinander und infizierten sich gegenseitig durch die bloße Nähe und sicherlich auch durch Keimübertragung bei der ärztlichen Versorgung. Die Grundsätze der Asepsis waren noch nicht bekannt. Über miasmatische, atmosphärische Zusammenhänge wurde noch eifrig spekuliert. »Geschwüre tauchten in Kalkutta auf der Überfahrt nach Hongkong auf und befielen 177 Mannschaftsmitglieder. Vier von ihnen wurden invalidisiert und einer starb. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass diese zerstörerische Krankheit ihre Existenz und Dauer dem Einfluss äußerer Stoffe verdankt, irgendeinem tierischen Gift, das in die örtliche Atmosphäre eindringt und diese vergiftet, und seine Zerstörungskraft scheint von konstitutionellen Besonderheiten der angegriffenen Individuen abzuhängen. Obwohl die Beziehung zwischen diesem Krankheitsgeschehen und bestimmten örtlichen atmosphärischen Bedingungen nicht vollständig erklärt werden kann, glaube ich dennoch fest an eine solche, und zur Unterstützung dieser allgemeinen Aussage zögere ich nicht zu behaupten, dass die Krankenstation definitiv ihr Hauptquartier ist, wo eine große Zahl von nässenden und eiternden Geschwüren vorhanden ist. Während einer Reise in den Tropen ist es an einem beengten und überbelegten Ort schwierig, den Luftunreinheiten entgegenzuwirken, bzw. sie zu beseitigen, obwohl nichts unversucht geblieben ist, diese Schwierigkeit zu überwinden und deshalb auf absolute Sauberkeit geachtet wurde. Die Geschwürsbildung wird durch die üble Zusammensetzung der örtlichen Atmo­sphäre beeinflusst, wechselnd günstig und ungünstig an ein und demselben Tag, ohne Bezug zu Veränderungen auf dem Thermometer oder Barometer. Wieder und wieder schien die Gewebszersetzung für ein paar Tage zu stagnieren, aber nur, um sich danach umso heftiger zu entwickeln, wobei jede Verschlimmerung vom Einfluss bestimmter Stoffe abhängig zu sein scheint. Prinzipiell sind vom ersten bis zum letzten Mann der Besatzung, die Neulinge und Schiffsjungen und auch andere Personen von schwacher Konstitution, grundsätzlich alle befallen worden, wobei die Krankheit, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf die unteren Extremitäten beschränkt blieb.«256

War das Schiff in den Tropen und gab es Fieberkranke im Lazarett und in anderen Bereichen der unteren geschlossenen Decks, so wurde es in diesen Räumen für die Patienten noch unangenehmer als man es sich für die gesunde Mannschaft vorzustellen hat. Eine einfache Lösung dieses Problems bestand darin, die Kranken an Deck auf Feldbetten unterzubringen, dann natürlich wiederum 256 House of Commons 1858 (473) Navy (health): Stat. Rep. für 1856, S. 150.

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mit entsprechendem Schutz vor der Sonne. Ein »doppeltes Sonnensegel« wurde aufgespannt. In mehreren Fallbeschreibungen werden wir dieser Praxis begegnen. (»The thermometer being frequently 90° and upwards in the shade. … Our lower deck being small, crowded and badly ventilated, they were moved to the upper deck under a double awning.«)257 Dr. Caddy von der Pylades nutzt zwei Literaturverweise, um auf die Pro­ blematik des Deckscheuerns mit Unmengen von Wasser hinzuweisen. Ein Lazarett sollte nur gefegt und nicht nass gewischt werden. Er hat völlig zutreffend sowohl die Gefährdung durch Malaria als auch durch Bronchitis im Blick, wenn er seine Aufmerksamkeit auf die Luftfeuchtigkeit in diesen Räumen richtet. »For producing Malaria it appears to be necessary that a surface should be flooded and soaked with water and then dried. The quicker the drying process, the more virulent is the poison that is evolved. For this reason Dr. A. T. Thompson recommended that the floor of a sick room should only be swept, never washed. An invalid might as well sleep in a swamp as in a room the floors of which is frequently washed. Dr. Alison has observed the more frequent occurrence of croup on Saturday night. The only day of the week on which the lower classes of Edinburgh wash their houses. (Braithwates Retrospect of Medicine. Volume 34. Page 3. Dr. C. H. Jones).«258

Miasmatische Krankheitsvorstellungen hatten durchaus noch Bedeutung. Deshalb wurde, wenn die rasche Ausbreitung einer Erkrankung beobachtet wurde, durch Räuchern, durch Einsatz stark riechender Chemikalien und mit starkem Durchzug versucht, die Luft und damit die in ihr schwebenden Miasmen aus dem Lazarett zu vertreiben. Als im Jahre 1862 mehrere Fälle von Masern und schwerer Cynanche, also Rachenentzündung, vielleicht Scharlach oder Diphtherie, auf der Euryalus auftauchen, veranlasst Surgeon Morgan die Desinfektion des ganzen Schiffes. Die gesamte Mannschaft – das Schiff war noch nicht aus Plymouth ausgelaufen – wurde auf die Hulk Vigo verlegt und dann die Euryalus mit »Chlorinegas« und mit Rauch aus der Dampfmaschine sowie aus kleineren Öfen, die umhergeschwungen wurden, behandelt. Den Gebrauch des »Chlorinegases« nennt Morgan die »Methode nach Faraday«. (»The ship was disinfected by the generation of chlorine gas as recommended by »Faraday«. Heat was generated on the lower deck by lighting the fires in the stoke hole and by swinging stoves.)259

257 Rose, John, HM Sloop Nimrod 2. Teil, 24.3.–28.5.1858, TNA, ADM 101/164/1B. 258 Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 3. Teil, 1.1.–31.12.1860, TNA, ADM 101/167, General Remarks. 259 Morgan, David Lloyd, HM Frigate Euryalus 23.1.–31.12.1862, TNA, ADM 101/174, General Remarks. »Chlorine Gas« ist gasförmiges Chlor, das zum Bleichen von Textilien und zur Desinfektion eingesetzt wurde. Michael Faraday (1791–1867) forschte intensiv über die elektrolytische Darstellung von Chlor; ihm gelang 1824 die Verflüssigung von Chlor durch Kälte und Druck.

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Körperhygiene

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Schlussfolgerungen Die Krankenstation an Bord der untersuchten Schiffe hatte räumliche und institutionelle Schutzfunktion. Schon auf der Krankenliste, der Sick List zu stehen, bedeutete einen solchen Schutz. Der Seemann war vom Dienst ganz oder, was eher selten vorkam, teilweise von seinen Dienstaufgaben befreit. Im Sick Berth kam eine durchgehende und intensivere Behandlung hinzu, als dies bei der Behandlung in den Mannschaftsunterkünften möglich war. Die ärztliche Therapie wurde von Matrosen, die für ihre assistierenden und pflegerischen Aufgaben ausgewählt und angeleitet waren, unterstützt. So eingeschränkt die Möglichkeiten der Behandlung in vielen Fällen auch waren, nach damaliger Kenntnis wurde das medizinisch Machbare auf Schiffen ebenso angewandt wie an Land. An Bord war das Lazarett für viele einfache Seeleute leichter erreichbar als ein Krankenhaus an Land. Diese Gewissheit ist als psychischer Faktor hoch zu veranschlagen und zusammen mit der Frage der Angstbewältigung zu sehen. Die Seefahrt selbst war gefahrvoll, der Dienst auf einem Kriegsschiff im Falle militärischer Auseinandersetzungen noch einmal mehr mit Lebensgefahr verbunden. Die Verfügbarkeit einer Krankenabteilung konnte kompensatorisch wirksam sein.

4.11 Körperhygiene Nur punktuell wird in den Medical Journals auf die Körperhygiene einge­ gangen. Sie warf in der Regel kein medizinisches Problem auf, wenige Aus­ nahmen werden im Folgenden besprochen, und ihre allgemeine Einhaltung war Gegenstand der täglichen Schiffsdisziplin.

4.11.1 Wasser und Seife Das Grundproblem ist in den einschlägigen schiffsmedizinischen Arbeiten wiederholt dargestellt: Es fehlte lange an der notwendigen Menge an Süßwasser, und es fehlte Seife. Um mit Meerwasser zu waschen, braucht es eine besondere Art von Seife, die mit Salzwasser überhaupt eine Wirkung entfaltet. Erst auf Betreiben des einflussreichen Schiffsarztes Gilbert Blane erhielten Kranke in den Schiffslazaretten der Royal Navy zum ersten Mal im Jahre 1782 Seife zur Verfügung gestellt.260 Fünfzig Jahre später wird dies eine Selbstverständlich 260 Vgl.: Ruge, Reinhold: Schiffsärztliches aus dem 17. und 18. Jahrhundert, Marine Rdsch. Zschr. Seewesen 11 (1900). Seife war in Großbritannien bis 1853 eine mit hoher Steuer belegte, teure Ware. Das Zentrum der Produktion war in und um London. Vgl.: ­Encyclopædia Britannica, Chicago 2007, Bd. 21, S. 352–357.

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keit gewesen sein. An einer Stelle in den untersuchten Journals finden wir Seife, und zwar Salzwasserseife, aufgrund der Tatsache erwähnt, dass sie an Bord der Pylades »ziemlich trocken« und deshalb vielleicht nicht mehr so gut brauchbar geworden war. (»The salt water soap is quite dry.«)261 Auch die Wasserversorgung war im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts dank Einführung eiserner bzw. stählerner Wassertanks an Stelle von Holzfässern dauerhaft gut geregelt. Einen fortgeschrittenen Stand der Technik spiegelt ein Bericht aus dem Journal der Juno von 1876 wieder, der »drei große Tanks mit Zapfhahn, auf jedem Deck einer, für Waschzwecke der Mannschaft, und einen »Creare’s Tank Filter« im Zwischendeck für Trinkwasser« erwähnt. Für »Waschzwecke« ist jede Messe mit einem Bottich ausgerüstet. (»There are three Expense Tanks with Tabs, two of the Ordinary Kind, one on each Deck for the washing purposes of the Crew, and a Creare’s Tank Filter on the Lower Deck for the Drinking Water. The Sick Berth likewise contains a small Tank Filter as before mentioned. For purposes of Ablution Tubs are furnished in the proportion of one to each Mess.«)262 Wir werden im Abschnitt »Kleidung« sehen, dass für viele Menschen mit dem An-Bord-Kommen ein besseres, jedenfalls geregelteres und gesünderes Leben begann, als sie es an Land hatten führen können. Dies mag auch hinsichtlich der körperlichen Reinlichkeit gelten. In dem im Abschnitt »Disziplin« dargestellten Tagesablauf an Bord taucht am Montag und Donnerstag die Anordnung »washed clothes« auf, was auf eine entsprechend regelmäßige Reinigung der Kleidung und wohl auch der Hängematten, Seesäcke usw. hindeutet. In manchen Reisebeschreibungen und Lebenserinnerungen wird geschildert, dass Schiffe am Waschtag wie eine einzige Wäscheleine aussahen. Im kasuistischen Abschnitt werden wir auf den traurigen Fall von Ertrinken stoßen, der sich beim Aufhängen von Kleidung zum Trocknen in der Takelage, draußen am Ende einer Rah, ereignete. Bei den langen Liegezeiten in den Häfen oder auch auf Reede gab es die Möglichkeit, dass Kleidung von Bord mit kleinen Booten an Land geschafft und dort in Wäschereien gewaschen wurde. Diesen Dienst dürften aber in aller Regel nur die Offiziere, diese dafür regelmäßig, genutzt haben. Wäscher und Wäscherinnen konnten auch an Bord der Schiffe kommen, zusammen mit Bäckern und Schnaps-Schmugglern, wie wir aus unseren Quellen erfahren. Dieses Detail liefert das Journal der Sanspareil von 1858: Das Schiff lag am Ufer einer Insel im Kanton-Fluß, als chinesische Bäcker und Wäscher an Bord kamen, um das Leinenzeug der Offiziere zu waschen. (»While ly 261 Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 3. Teil, 1.1.–31.12.1860, TNA, ADM 101/167. 262 Norbury, Henry, HM Frigate Juno 4.11.1875–7.7.1876, TNA, ADM 101/195, General Remarks. Eine Aufklärung des vermutlich mit dem Eigennamen »Creare« versehenen Filtersystem konnte trotz Nutzung aller lexikalischer Quellen und Suchfunktionen im Internet leider nicht erreicht werden.

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ing at the Bogue the men were landed frequently, but the size and nature of the island were not such as to admit of much active exercise being taken on it. There were a few Chinese on this island who were employed in baking for the ship, and some in washing the linen of the officers, so that were no means of their procuring samshoo.«)263 Und mit diesen Diensten kam die Prostitution auf die Insel. Sobald dies vom Kommandanten bemerkt wurde, wurden die Frauen von der Insel weggeschickt. Ob sie schon an Bord der Sanspareil waren, erfahren wir nicht. Wir werden im Abschnitt zu Sexualität und Prostitution sehen, dass die Anwesenheit von Prostituierten an Bord in Hafenliegezeiten ein anhaltendes Thema war. (»Some women from the mainland were on one occasion brought over, but were only on the island a few days, having being sent away as soon as their presence was known, and before much harm had been done.«)264 Im Zusammenhang mit Pockenfällen an Bord der Pearl im Jahre 1863 wird als einzige Möglichkeit der Einschleppung dieser Keime der Kontakt mit Einheimischen der Gegend um Nagasaki diskutiert. Diese konnten in den sogenannten Bumboats, den Kähnen, die frische Lebensmittel zum Verkauf zu den Schiffen brachten, an Bord gekommen sein, aber auch in Person einiger Waschfrauen, die auf die Schiffe kamen, um ihre Arbeit zu tun. (»The only intercourse that the ship’s company had the any of the natives was confined to the bumboatmen, or a few washerwomen who came on board.«)265 Einen unerwarteten Zusammenhang von Kleiderwäsche und Gesundheit stellt Surgeon Nelson von der Juno dar. Nur die Offiziere, die ihre Kleider für gewöhnlich zu Dhobics oder Washermen in die chinesischen Städte gaben, bekamen seiner Beobachtung nach eine Hauterkrankung, die er als Scabieserkrankung, also als Krätzmilbenbefall, diagnostiziert. Diese Dhobic Itch oder Washerman’s Itch kämen in China und Indien sehr häufig vor, würden allerdings selten in offiziellen Berichten festgehalten. Dieses besondere gesundheitliche Problem komme daher, dass die genannten Wäschereibetriebe die zu ihnen gebrachten Kleidungsstücke überhaupt nicht sauber wuschen, sie vielmehr mit einer Art leuchtend weißer Stärke überzögen, die das Leinen nur glänzen ließe und nun einen Übertragungsherd für die Parasiten darstelle. Die Matrosen, deren Kleidung stets an Bord gewaschen würde, seien von diesem Ansteckungsherd praktisch ausgeschlossen.266

263 Mason, Richard, HM Ship of the Line Sanspareil 1.1.1858–15.2.1859, TNA, ADM 101/166/1A. 264 Ebd. 265 House of Commons 1866 (458) Navy (health): Stat. Rep. für 1863, S. 208. 266 Nelson, Robert, HM Ship Juno 1.10.1876–31.12.1877, TNA, ADM 101/197.

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4.11.2 Hautbelastung Neben den soeben dargestellten hygienischen Problemen stellen die vielen diagnostizierten Hauterkrankungen eine medizinische Besonderheit der Schiffsbesatzung dar. Da sie in den kasuistischen Kapiteln nicht näher behandelt sind, sei unter hygienischen Gesichtspunkten an dieser Stelle darauf hingewiesen. Schon im ersten an das Parlament erstatteten Bericht über die Jahre 1830 bis 1836 wird auf die enorm hohe Rate an oberflächlichen, entzündlichen Hauterkrankungen hingewiesen. Knapp ein Fünftel aller Matrosen kam mit diesem Problem in Behandlung, wobei nur einer von 2 400 Betroffenen jener ersten sieben Berichtsjahre daran starb. Zu denken ist an die stets drohenden und dann durchaus lebensgefährlichen Komplikationen wie Phlegmone und Sepsis.267 Die meisten wurden wieder gesund, und nur wenige blieben dienstunfähig. Der Berichterstatter bringt die hohe Prävalenz der Hautprobleme explizit mit den »notwendigen Arbeiten an Bord«, den »klimatischen Bedingungen« und den »üblichen inneren Abläufen eines Schiffes« in Zusammenhang.268 Ursache der vielen Entzündungen der Haut war, dass unter den gegebenen hygienischen Verhältnissen auch oberflächliche Hautverletzungen und Schürfungen langsam oder gar nicht abheilten und chronische Unterschenkelgeschwüre entstehen ließen. Die Hautverletzungen ihrerseits hatten einen für die Segelschiffe sehr spezifischen Hintergrund. Sie entstanden durch eine häufig geübte Praxis des Abenterns nach Segelmanövern, indem die Matrosen die Wanten hinunterrutschten, anstatt zeitraubend Leine für Leine die Füße zu benutzen.269 Noch in einem Bericht aus dem Jahre 1940 war dieses Phänomen, zumindest als Relikt aus alter Zeit, bekannt. »Sehr viele dieser Geschwüre waren Überbleibsel alter Enterwunden von den Segelschulschiffen, auf denen die Schienbeine beim Durchrauschen durch die Wanten besonders notleiden. So gering die Geschwüre in den Allgemeinzustand eingreifen, so langwierig ist die vollständige Heilung.«270

267 Die Phlegmone ist eine in und unter der Haut infiltrierend sich ausbreitende Ent­ zündung des Bindegewebes, vor allem durch die Erreger Staphylokokken und Strepto­kokken, seltener und noch gefährlicher durch anaerobe (ohne Sauerstoff auskommende) Keime. Bei massiver Aussaat der Bakterien in die Blutbahn kann eine Sepsis, die sogenannte Blutvergiftung, entstehen, die vor der antibiotischen Ära absolut lebensbedrohlich war. 268 House of Commons 1841 (53) Navy (health): Stat. Rep. für 1830–36, S. 112. 269 Zur Erläuterung: Die Masten waren in seitlicher Richtung durch die Wanten am Rumpf fixiert. Diese steil nach oben zum Ende des ersten Mastabschnittes verlaufenden, sehr stabilen Taue oder »Wanten« waren durch wesentlich dünnere, horizontal verlaufende »Webeleinen« verbunden, sodass eine Art Strickleiter entstand. Dasselbe wiederholt sich, immer steiler werdend, an den oberen Mastabschnitten. 270 Bauer: Die Auslandsreisen der Schulschiffe, S. 114–181, S. 151.

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4.11.3 Tätowierungen Der Meinungsstreit, ob die Tätowierung wirklich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts durch Einflüsse der Südsee-Entdeckungsreisen aus ihrem Schattendasein geholt worden ist, oder ob das »Bilderstechen« auch in Europa mindestens seit dem 12. Jahrhundert gebräuchlich war, ist nicht entschieden. Was sicherlich im Laufe des 18.  Jahrhunderts als neue Nachricht in Europa eintraf, war der Brauch der Tätowierung des ganzen Körpers der Ozeanier. Nicht nur den Begriff »Tattoo« für diesen Brauch, sondern auch eine erste systematische Beschreibung der Praxis des Bilderstechens, der Ornamente und ihrer Bedeutungen brachte James Cook von seiner ersten Reise in der Beschreibung Tahitis mit, und dieses Wort wurde nun auch für die kleinen »Hautbilder« der Matrosen (und nicht nur der Matrosen) verwendet.271 Unter der Vielzahl der »kleinen, emblematischen Hautbildern« können Motiv­gruppen unterschieden werden.272 Neben den klar maritimen Motiven (Fregatte, Steuerrad, Windrose, Anker) sind vier weitere Themengruppen vorherrschend: Die Liebes- und Glückssymbolik; christlich-religiöse Symbolik; patriotisch-nationale Motive; und schließlich Darstellungen aus der Welt der Spielbuden.273 Das vielleicht populärste aller Motive, der Anker, kann dabei ebenso gut die schlichte Arbeitswelt des Seemannes wie auch die metaphorische Bedeutung der Hoffnung auf das ewige Leben (und Verankerung in demselben) bedeuten.274 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden die Motive durch Zusammensetzung aus mehreren Bestandteilen komplexer und thematisierten stärker den »Mariner«, also das Militärische, und die Nationalität in Form von Flaggen. Besonders beliebt wurde jetzt auch das »nasse Seemannsgrab«,275 ein Sarg mit maritimen Beigaben, aber auch ein in den Wellen des Ozeanes und unter Blitz und schwarzen Wolken versinkendes, voll getakeltes Schiff.276 Leistungen und Erfahrungen konnten die Tattoos wie ein Abzeichen ausdrücken: Ein Drachen bedeutete abgeleisteten Dienst in der chinesischen Station, war er golden, stand er dafür, über die Datumsgrenze gesegelt zu sein; für die durchgemachte Äquatortaufe konnte eine Neptunfigur ebenso wie eine Schildkröte stehen, die Umrundung Kap Hoorns symbolisierte ein vollgetakeltes Schiff; das

271 Vgl.: Shaw, Lindsey: Tattooing, in: Hattendorf (Hg.): Oxford encyclopedia 2007, Bd. 4, S. 93–96. 272 Vgl.: Rudolph, Wolfgang; Schnall, Uwe: Des Seemanns Bilderwelt, Hamburg 1993. 273 Ebd., S. 28. 274 Gerds, S. 83. 275 Ein »Sjømans-Grav« etwa bei Gerds, ebd., S. 71. 276 Shaw, S. 93–96.

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Wort »Rope« (»Tau«) um das Handgelenk eintätowiert, hieß, dass der Träger als Decksmatrose eingesetzt gewesen war.277 Nach Kemp soll das Tätowieren am beliebtesten unter den Matrosen der Royal Navy gewesen sein, gefolgt von französischen Soldaten und Kriminellen.278 In unseren Quellen finden wir keine Angaben zu dieser Art von Körperschmuck, auch keine Bemerkungen, ob sie nur in den Häfen oder auch an Bord gestochen wurden. Sie waren mit Sicherheit immer wieder Infektionsquellen für Staphylokokken mit Vereiterungen der oberflächlichen oder tieferen Hautschichten und Auslöser für allergische Reaktionen auf die verwendeten Farbpigmente, scheinen aber keinen ausreichenden Anlass dargestellt zu haben, den Schiffsarzt aufzusuchen.279 Wir werden im Abschnitt zum Aberglauben einer ganzen Reihe von Bildmotiven begegnen, die die Funktion hatten, Ängste vor Ungewissheit und drohender Gefahr zu bannen. Ein anderer, sehr praktischer Zweck war: Tätowierungen konnten zur Identifizierung eines Ertrunkenen dienen, wenn das Meer seinen Leichnam freigab.280

4.11.4 Latrinen Ein weiterer problematischer Bereich der Hygiene war die Entsorgung der Fäkalien. Jahrhundertelang war die Seemannstoilette die Bordwand, auf größeren Schiffen das Galion, ein offenes Gebälk unterhalb des Bugspriets und damit unterhalb der Galionsfigur, also »ganz vorne«, oder Holzplanken beidseits am Bug angebracht. Diese Orte, Heads genannt, garantierten eine sofortige Entsorgung der Fäkalien in das Meer, stellten aber durch ihre Lage und das unter Umständen kunstvolle oder mühsame Balancieren eine gewisse Gefahr dar, 277 Ebd., S. 95. 278 Kemp: Oxford companion. 279 An Pigmenten dürfte damals schon verwendet worden sein, was noch heute in Gebrauch ist: Kobaltblau für blaue, Zinnober (Quecksilbersulfid) für rote, Chromoxid für grüne und Kadmium für gelbe Farbtöne. Auch unterschiedlichste Pflanzenextrakte und schließlich Ruß für das Schwarz wurden und werden eingesetzt. Die Diskussion über die Toxizität all der Stoffe ist in Gang. Vgl.: Braun-Falco, O.; Burgdorf, W.; Landthaler, M.: Dermatologie und Venerologie, Heidelberg 2005, S. 879–880. Gesundheitliche, und das heißt hauptsächlich, die Infektionsgefahr betreffende Gründe stehen, neben der Bemühung, alte Klischees vom tätowierten Seemann zurückzudrängen und nicht neu zu fördern, hinter der Empfehlung der modernen Royal Navy, auf Tattoos ganz zu verzichten, und hinter dem Verbot in allen Marinen des 20.  Jahrhunderts, Tätowierungen an gut sichtbaren Körperbereichen und solche von obszönen und rassistischen Inhalten anzubringen. Vgl.: Shaw, S. 96. Diese Bemühungen stehen neben der erstaunlichen Tatsache, dass »jeder Vierte zwischen 14 und 34 heute ein Tattoo trägt«, bezogen auf Deutschland. Vgl.: Bilow, Uta: Ein Mensch, kein Ei: Unser Körper schluckt die Farben, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4.4.2012, Nr. 81, S. N1. 280 Stammler, Sp. 1831.

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unvermittelt in das Meer zu stürzen. Belege von solchen Unfällen gibt es reichlich. Wer die unerfreuliche Aufgabe hatte, die Konstruktion unter der Galion reinzuhalten, erhielt von den Seeleuten den Spitznamen »Galionsinspektor«.281 Bei schlechtem Wetter, wenn die Kletterkunststücke außenbords nicht mehr gewagt wurden, fanden sich die Ausscheidungen in der Bilge, mithin im Schiffsinneren, wieder. Nach und nach kamen Eimer, Wannen und im 19. Jahrhundert auch Vorrichtungen mit Wasserspülung in Gebrauch.282 Peinliche, drängende Not und Ungehorsam konnte entstehen, wenn das Zahlenverhältnis zwischen Besatzungsmitgliedern und Toiletten allzu ungünstig ausfiel, wie wir bei Winton lesen: »The provision of proper toilet facilities for the men was often neglected. The old wooden depot hulks were often the worst of all. The Duke of Wellington at Portsmouth had a normal complement of 1,000 men, but with ships commissioning and paying off and drafts of men passing through, the Duke often had some four thousand men on board. For all these there were twelve latrine holes, six on each side. From 4.00 a.m. until long after pipe-down at night there were queues of men on each side of the ship struggling to reach the heads. In spite of sentries posted to stop them, any number of desperate men could wait no longer and were put in the ΄report΄ for offences against decency. Every morning, the sweepers had to remove the evidence from scores of places on the upper-deck.«283

Auf den von uns untersuchten Schiffen gab es Toiletten, die diesen Namen schon verdienen, jedoch waren sie in Anzahl und Ausstattung durchaus so, wie man sie sich für jene Zeit vorzustellen geneigt ist. An Bord der Juno sahen sie so aus: »Es gibt zwei offene Latrinen an jeder Seite des Hecks mit je 4 Sitzen, einem Trog, der als Urinal fungierte, und einem kleineren Trog, der als Ausguss zum Entsorgen von Abfällen etcetera dient. Die Höhlung der Latrine ist eine stark geneigte Ebene, die unten in ein hölzernes Rohr übergeht, das einen Fuß über der Wasserlinie endet, um dort die Fäkalien abzugeben. Seine Neigung ist ausreichend, um die Fäkalien leicht ablaufen zu lassen. Dies wird außerdem durch den oben erwähnten Ausguss gefördert, der im oberen Teil einmündet, so dass die Abfälle ständig herausgespült werden. Das Rohr aus dem Urinal leert sich in das Hauptrohr, und dieses Rohr wird täglich mit einem langstieligen Besen geschrubbt und anschließend mit reichlich Karbolsäure versehen. Das Urinal wird genauso gereinigt und anschließend mit Karbolsäure und Tünche gespült. Wenn es an Bord keine überzählige Besatzung gibt, wird je eine Latrine tageweise abwechselnd benutzt. Neben den oben erwähnten Latrinen gibt es zusätzlich sechs gut gelüftete Wasserklosetts mit je einem Sitz. Sie stehen über 281 Wells, S. 20; Reich, Konrad; Pagel, Martin: Himmelsbesen über weißen Hunden, Berlin 1984, S. 2122. 282 Flensburger Schiffahrtsmuseum: Alltag an Bord. 283 Winton, S. 191.

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zähligen Offizieren, der Offiziersmesse, dem Kanonenraum, den Ingenieuren und den Unteroffizieren zu. Der Kapitän ist mit zwei Wasserklosetts in seiner Kabine ausgestattet. Im Hinblick auf die Latrinensituation für die Männer ist festzustellen, dass bei voller Besatzung einschließlich aller zusätzlichen Männer ein Toilettensitz für 68,5 Personen zur Verfügung steht. Es gibt jedoch eine gewisse Möglichkeit für die Mannschaft in dem vorderen Kellerraum bei schlechtem Wetter. Sind keine zusätzlichen Besatzungsmitglieder an Bord, gibt es einen Sitz für 28,1 Personen.«284

Schlussfolgerungen Die unmittelbare Systemgrenze des Individuums gegenüber seiner Umwelt, die Kontaktstelle vom »ich« zu »den Anderen« ist der Leib. Ihn zu pflegen und zu schützen, ist der Anfang von Gesundheit. Wenn wir an Bord einfachste Verhältnisse der Körperhygiene vorfinden, dann ist zu bedenken, dass die Vergleichsgröße weniger unsere heutigen Maßstäbe als vielmehr diejenigen der Landbevölkerung zur selben Zeit Mitte des 19. Jahrhunderts sein müssen. Den Vergleich mit dieser alltäglichen Situation an Land musste ein Schiff nicht scheuen. Auch schon vor einer eigentlichen Krankheit und erforderlichen Behandlung gab es an Bord eines Schiffes mit einem Schiffsarzt eine regelmäßige Beachtung der körperlichen Verfassung, der Kleidung, der Nahrung und weiterer Faktoren. Es könnte sich unter diesen Bedingungen weniger Missstand eingespielt haben als in so manchen Lebensverhältnissen an Land. Die ständige Observanz und die fest vorgesehene Sorge um das physische Befinden wird nicht ohne positive Auswirkung auf die psychische Verfassung geblieben sein. Entsprechende Wirkung wird auf den ungezählten Frachtschiffen gezeitigt haben, wenn typischerweise »der Erste«, also der Erste Offizier aus Verantwortungs- und Mitgefühl ein wenig die Rolle des Arztes zu übernehmen bereit war und sich traute, in die knapp ausgestattete Arzneikiste zu greifen. Nichts tragen wir näher an uns als unsere Kleidung. Sie ist ein Teil der Hygiene, und sie ist ein Teil der sozialen Interaktion.

4.12 Kleidung Die Kleidung der Schiffsmannschaft war Schutz vor Kälte, Nässe und Sonne, und sie war, zunächst nur für die Offiziere, Uniform. Sie musste in erster Linie vor Wind und Nässe schützen. Sich zu erkälten, war bei dauernd drohender Nässe durch Regen, Gischt und überkommende »Seen«, wie der Seemann das Wasser des Meeres nennt, ein häufiges Ereignis. Daraus konnte sich jederzeit nicht nur eine Erkältung und Bronchitits, sondern auch eine Lungenent-

284 Norbury, Henry, HM Frigate Juno 4.11.1875–7.7.1876, TNA, ADM 101/195.

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Kleidung

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zündung entwickeln, und diese war in der Zeit vor der Verfügbarkeit von Anti­ biotika potentiell lebensbedrohlich. Auf den Schiffen der ostindischen Flotte (wie auch einiger anderer Flottenteile) kommt noch die Funktion des Sonnenschutzes hinzu und die Notwendigkeit, einen Wärmestau zu vermeiden. Für die Offiziersränge gab es eine Uniform-Regelung seit 1748, womit die britische Flotte mit 100-jähriger Verspätung der französischen folgte. 1827 gab es dann eine erste einschneidende Veränderung der Kleiderordnung für die Offiziere, während für Offiziersanwärter und Unteroffiziere weiterhin die alten Muster aus dem 18. Jahrhundert galten. Unteroffiziere trugen seit 1827 ein Abzeichen mit einem Anker (Unteroffiziere Zweiter Klasse), oder einem Anker unter einer Krone (Unteroffiziere Erster Klasse), blau auf weißem Grund.285 20 Jahre später bekam schon die Zweite Klasse Anker und Krone, die Erste jetzt gekreuzte Anker und Krone.286 Die Offiziersuniform hatte generell einen Frackzuschnitt mit langen Ärmeln, einem Stehkragen und selten einer, meist aber zwei Reihen goldener Knöpfe. An unterschiedlichsten Abnähern, an den teils aufwändig gestalteten Manschetten, sowie an den Schulterstücken, den Epauletten und schließlich am Hut, dessen Krempe seitlich hochgeschlagen und verziert war (Cocked Hat), konnte der Rang ihres Trägers abgelesen werden. Diese Kleidungsstücke ergänzte stets ein weiter, bodenlanger Umhang mit großer Kapuze (Boat Cloak), denn auch die Offiziere waren, wie der einfache Matrose, dem Wetter und den Seen ausgesetzt. Das Tragen der Uniform war obligatorisch und nur gewisse Lockerungen ausschließlich während des Dienstes auf See erlaubt. Es gab gut geschneiderte Stücke, aber auch solche »von einer Geschmeidigkeit von Pappkarton mit schlecht sitzendem Gehrock und knitternden Hosenbeinen«.287 Miller attestiert der Reform der Offiziersuniformen von 1827 einen »DandyEffekt«. Durch üppige Verwendung von Goldfäden, flammenden Farben und hautengem Schnitt verkörperte die Uniform eine besonders betonte Masku­ linität, die nach ihrer Einschätzung von den »Macaronies«, jenen jungen Engländern, die von ihrer »grand tour« durch Europa (und vor allem Italien) zurückgekehrt waren, übernommen worden war. Sie arbeitet heraus, dass damit eine von der Navy »übersehene Nähe« zum Thema Homosexualität ange­

285 Vielfach bearbeitet ist die Entwicklung der seemännischen Kleidung in den Marinen der verschiedenen Länder. Siehe hierzu besonders: Miller, Amy: Dressed to kill, London 2007; Miller, Amy; Tomlinson, Barbara: Sailor’s Dress: Naval and Sea Service Uniforms, in: Hattendorf (Hg.): Oxford encyclopedia 2007, Bd. 3, S. 473–478; Hinrichsen, Ute: Blaue Jungs, Husum 2005; Jaacks, Gisela: Marinekleidung, in: Plagemann, Volker (Hg.): Übersee, München 1988, S. 322–324; Dickens, Gerald: The Dress of the British Sailor, London 1977; Manwaring, George Ernest: The Dress of the British Seamen, London 1922. 286 Lavery: Royal tars, S. 334. 287 Wells, S. 14.

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sprochen sei, denn so manche dieser Macaronies seien in homoerotische Skandale verwickelt gewesen.288 Eine lange Diskussion ging der 1849 erfolgten Einführung von Abzeichen für Mannschaft und Unteroffiziere voraus, die gute Führung und besondere Leistung des Trägers anzeigen sollten. Sie waren teilweise mit einer Solderhöhung und weiteren Privilegien verbunden, wie etwa dem, nicht mehr körperlich bestraft zu werden, und sie erwiesen sich als nötig, um die Disziplin und den Ehrgeiz in der Gruppe der Unteroffiziere und der Mannschaft zu verbesssern. Bei der großen Bedeutung gegenseitigen Ansehens innerhalb der jeweiligen sozialen Gruppe an Bord war dies zweifellos ein wirksames Mittel.289 Die Differenzierung innerhalb der Offiziersgruppe lässt sich anhand der langwierigen Bemühungen der Medical Officers nachvollziehen, endlich nicht nur auf dem Papier, sondern auch im alltäglichen Umgang als vollgültige Offiziere anerkannt zu werden. Miller zeigt an Details der Uniformen, wie die formalen Kennzeichen und die Qualität der Materialien für einen kleinen, aber erkennbaren Unterschied sorgen konnten. Der Assistant Surgeon sah in seiner Uniform anders aus als der Surgeon, und dieser wieder anders als der Staff­ Surgeon. Durch das schmale Gehalt eines Schiffsarztes waren im Übrigen Grenzen in der Ausführung seiner Kleidung gesetzt. Jeder Offizier hatte auf eigene Kosten zwei Uniformen zu beschaffen: Eine Dress Uniform, als die Ausgeh-Uniform, die für Besuche an Bord anderer Schiffe und an Land vorgesehen war, und eine Undress Uniform, vorgesehen für den gewöhnlichen täglichen Dienst an Bord.290 Im Jahre 1857 erhält auch die Rating, die Mannschaft der Schiffe, eine reguläre Uniform. Dabei darf nicht übersehen werden, dass auch schon vor 1857 die Kleidung der Matrosen eine gewisse Uniformierung im Sinne einer Einheitlichkeit hatte. Innerhalb der Gesamtgesellschaft, man könnte wohl auch sagen, von Land aus gesehen, hatten die Seeleute ein vertrautes Aussehen. Nun aber erreichte die »Stratifikation der victorianischen Gesellschaft« die ganze Mannschaft eines Schiffes, nicht mehr nur seinen Kopf.291 Miller sieht eine starke moralische und politische Kraft hinter der Uniformierung für die Mannschaft: Eine Aufwertung der »arbeitenden Klasse« an Bord, eine moralische Gleich­ stellung, ohne dass deshalb an die Möglichkeit eines Aufstieges in eine höhere soziale Klasse zu denken gewesen wäre. Jeder sollte seinen Platz in einer Gesellschaft haben, die sehr viel Verunsicherung des sozialen Gefüges und des Status in einer Zeit massiver Gesellschaftsveränderungen der frühen Industria­ 288 Miller: Dressed to kill, S. 41–43. Zur »Uniform als Fetisch« in ihrer Funktion, zusammen mit anderen Mechanismen, zur Erzeugung eines bestimmten, stark erotisierten Männlichkeitsbildes siehe auch Heimerdinger, Timo: Der Seemann, Köln 2005, S. 199–216. 289 Lavery: Royal tars, S. 335. 290 Miller, Dressed to kill, S. 48 und 150. 291 Ebd., S. 84–90.

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lisierung kannte. So bekommt die einheitlich geregelte Kleidung der Matrosen eine hohe soziale Regulierungsfunktion nicht nur innerhalb einer Schiffsmannschaft und auch nicht nur innerhalb der Schiffe einer Flotte, sondern auch eine solche über diesen Rahmen hinaus für die ganze Gesellschaft. Nach der Verordnung vom 30.  Januar 1857 sah die Kleidung der Matrosen mit nur noch minimalen Veränderungen während des ganzen 19.  Jahrhunderts folgender­ maßen aus: »They included a blue cloth jacket and trousers, a duck or white drill frock with ›­collar and wrist bands of blue Jean‹, duck trousers, blue serge frock, pea jacket, black silk handkerchief, hat ›black or white according to climate‹, cap, woollen comforter and the appropriate petty officers’ badges.«292

Veränderungen, die in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts hinzukamen, bestanden hauptsächlich in verschiedenen Abzeichen für die neu aufkommenden technischen Spezialisierungen an Bord. Die in populären Aufsätzen immer wieder genannte Funktion des Matrosenkragen als Kleiderschutz für die langen Haare und die Bedeutung der drei weißen Streifen als Hinweis auf die drei Siege Lord Nelsons gehört in den Bereich der nachträglich entstandenen Mythen.293 Es wurde praktisch gedacht: Mit zwei Bändern am Kragenausschnitt des Matrosenkittels konnte das Halstuch befestigt werden. Zwei Löcher an den Seiten der unteren Kittelkante dienten zum Aufhängen des Stückes auf einer Wäscheleine.294 Der Tarpaulin-Hat, der Teerhut, wird in der hier untersuchten Zeitspanne schon nicht mehr die gemeinsame Kopfbedeckung von Kriegs- und Handelsmarine gewesen sein. Zu Nelsons Zeiten war sie das: Ein aus geteerter Leinwand in Form eines Strohhutes gefertigter Hut, den man als Vorstufe des Südwesters betrachten kann. Das Erkennungsmerkmal britischer Navy-Matrosen war ein anderes: Das in einem langen Zopf getragene Haar, das oft mit Fett zu einem stabilen Körper zusammengehalten wurde. Daher rührt der Spitzname der Matrosen der Royal Navy: »Pig Tail«, »Schweineschwanz«. Von diesen Matrosen setzten sich die »Yankees«, die Seeleute der Neuen Welt durch ihre 292 Ebd., S. 84. Vgl.auch: Lavery: Royal tars, S. 303. Die Matrosenkleidung war der Kleidung der Royal Yacht, der repräsentativen Yacht Königin Victorias nachempfunden. Die Farbe Blau wurde, wie viele andere Merkmale auch, von der Britischen Marine für die Deutsche Marine übernommen. Der »Matrosenanzug« und besonders der »Kieler Anzug« hatten wie die soeben besprochene Mannschaftsuniform den großen Kragen und drei weiße Streifen auf blauem Tuch. Hinrichsen nennt neben einer Vielzahl sozialpsychologischer Momente eine besondere Geschichte, die dieser Anlehnung gut zu Grunde liegen könnte: Kaiser Wilhelm II war als Kleinkind in einen englischen Matrosen-Kinderanzug gesteckt worden. Dies geschah ihm nicht von ungefähr, war er doch ein Enkel der englischen Königin Victoria. Vgl.: Hinrichsen: Blaue Jungs. 293 Miller: Dressed to kill, S. 90–91. 294 Ebd., S. 146.

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Art, die Haare short cut, also kurzgeschnitten zu tragen, ab.295 Dabei trugen die Seeleute keine Bärte, sondern rasierten sich oder wurden rasiert. Erst 1869 wurde das Tragen von Bärten erlaubt, wobei ein Lippenbart allein und ohne Vollbart nicht gestattet war.296 In den Medical Journals fanden sich keine Hinweise auf den Umgang mit der Haartracht von Mannschaft und Offizieren. Es wird vermutlich nicht viel Haarpflege betrieben worden sein. Hinweise auf Vernachlässigung mit der Gefahr des Befalls mit Läusen, Milben und anderem Ungeziefer finden sich wiederum nicht. Den Medical Officer an Bord beschäftigte es nicht oder nur präventiv. Die Kleidung konnte schon eher ein Gegenstand sein, für den sich der Arzt an Bord mit medizinisch begründeten Vorschlägen einsetzen konnte. Im Falle unserer Quellen ging es um die tropisch heißen, zum Teil auch um die trocken heißen klimatischen Bedingungen der ostasiatischen Station beziehungsweise der Regionen auf dem Seeweg dorthin. In keiner Sekundärliteratur fanden sich so konkrete Hinweise wie in einem der hier ausgewerteten Medical Journals. Zunächst nur ein Vorschlag, noch nicht die Realität, ist die Beschreibung aus der Feder von Surgeon Murray von der Nimble, wie eine für die Hitze des Persischen Golfes passende Kleidung aussehen könnte: »Recommendations for the preservation of the health of Ships Companys serving in the Persian Gulf during hot months. … 4th The introduction of  a dress, suitable to the climate for Officers and men. For Officers a white tunic, buttoned loosely to the neck, after the pattern of the military patrol jacket. With this dress a light underwest would be alone necessary, tight linen collars could be dispensed with and at the same linen neatness maintained. For men the present checked shirts and white trousers only during the day, at night large trousers flannels.

Für die kälteren Monaten schlägt er vor: »Cold months 1st Careful attention to the clothing, Owing to the low temerature at night the chest, in particular, should be well protected, comforters should be worn and the flannel undershirts should be shaped so as to afford protection to the front of chest.«297

Der Arzt der Rinaldo, Surgeon John Buckly, fordert für die Matrosen, die im Hafen von Hongkong intensiver Sonneneinstrahlung ausgesetzt sind, ähnlich gute Ausrüstung wie für die Soldaten an Land, die mit leichter Kleidung und 295 Schmidt: Von den Bräuchen, S. 28. 296 Vgl.: Adam, S. 114; Wells, S. 17. Ansonsten und weniger derb hießen die Royal-NavyMatrosen unter den Seeleuten anderer Nationen »Matlow«, was nichts anderes ist als das englisch ausgesprochene französische Wort »matelot« für »Seemann«. 297 Murray, George B., HM Sloop Nimble 2. Teil, 1.1.–31.12.1872, TNA, ADM 101/184/1B.

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hellen, großen Hüten ausgestattet seien. (»… the sailor, dressed in much the same fashion as if he were in England, is pulling about the Harbour, …«)298 In Hongkong sei die Überholung und Ausstattung des Schiffes mit sehr viel Geschäftigkeit verbunden gewesen, so dass die Leute der direkten Sonne ausgesetzt gewesen seien. Und was für die Soldaten recht sei, müsse für die Matrosen nur billig sein, die ein genauso wertvoller Gegenstand (»article«) seien und eine teurere Ausbildung bekommen hätten. (»What is considered good in a sanitary point of view for the soldier, ought to be equally good for the sailor, who is quite as precious an article and has cost more in his training.«)299 »Zwei Grundregeln« für die leichte Bekleidung fügt der Schiffsarzt der Albatross hinzu: Abendlicher Wechsel zu wärmeren Sachen und Trocknen durchnässter Kleidung bei erster Gelegenheit. (»… one or two general rules … to change his lighter clothes for blanket or flanell at sunset. … clothing became wet from exposure, at the first opportunity the whole of the wet clothes were set out on the rigging to dry.«)300 Eine besondere Erwähnung verdiente in den Augen des Berichterstatters des Statistical Report von 1857, dass für die Mannschaften der Ruderboote eine Flanellkleidung zur Verfügung stand, die neben dem Schutz vor dauernder Nässe eine niedrige Rate an Fieberkrankheiten bedingt habe.301 Es waren seit Beginn des 19.  Jahrhunderts und lange vor der einheitlichen Bekleidung der Mannschaften wiederholte dringende Empfehlungen der Schiffsärzte an die Admiralität gegangen, wollene Unterkleidung und ebensolche Hemden und Westen an die Schiffsmannschaften auszugeben, um die häufigen Erkältungskrankheiten und lebensgefährlichen Pneumonien zu verhindern, die die Männer wegen der ständigen Durchnässung ihrer üblichen Baumwollbekleidung so häufig bekamen. Der Erfolg war nach entsprechender Einführung offenbar überzeugend.302 In dem schon zitierten Bericht von der Albatross gibt der Arzt unter »Ergänzende Empfehlungen« noch ganz persönliche Erfahrungen weiter: »Don’t go to any expence about clothes. A full dress useless, it will be only food for cockroaches. Take plenty of common yacht shirts and duck trowsers, socks and low shoes, very light (Ladie’s cloth or cashmerette) jackets, but they would be as good and cheaper if made on board of ship’s serge, as well as the trowsers – this saves washing. Always wear flannel next the skin, vest and drawers. …

298 Buckley, John., HM Sloop Rinaldo 10.5.–31.12.1870, TNA, ADM 101/182. 299 Ebd. 300 Livesay, Salter, HM Sloop Albatros 1.1.–31.12.1849, TNA, ADM 101/82/1. 301 House of Commons 1859 (138-Sess. 2) Navy (health): Stat. Rep. für 1857, S. 108. 302 House of Commons 1903 (301) Navy (health): Stat. Rep. für 1902, S. 138–139. Flanell (auch im Englischen »Flanell«) ist ein in Körper- oder Leinenbindung gewebter, aufgerauhter Wollstoff. Das Wort selbst ist keltischen Ursprungs.

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McIntosh303 capes, or Cordings are excellent in the rainy season. They must never be put away wet, but hung up spread eagle fashion, or they speedily soften into a tenacious gum. … Use an umbrella ashore as a parasol. Air your bedding once or twice a week, and the ship’s company’s also. Flannel pillow cases are less liable than cotton ones to allow pools of perspiration to form about your face. … Salter Livesay«304

Der Seemann stattete sich vor der Abreise in der Hafenstadt mit dem Notwendigen aus. Dafür gab es traditionell zwei Monatsheuern Vorschuss. Aber nicht alles konnte im richtigen Maß bevorratet werden, sei es aus Mangel an Voraussicht, sei es aus Mangel an Geld. Daher gab es auf jedem Schiff der Handelsmarine eine »Slopkiste« oder »Schlappkiste« (Slop Chest), auf kleinen Schiffen tatsächlich eine mehr oder weniger große Truhe, auf größeren eine Kammer, aus der der Kapitän oder der Zahlmeister Kleidung und alltägliche Gegenstände, die der Seemann unterwegs eventuell nachkaufen musste, beziehen konnte. Traditionell wurde bei günstigem Wetter samstagnachmittags verkauft. An Geschichten über Wucherpreise (»Seepreise«) und Tricks, den Matrosen um seine sauer verdiente Heuer zu bringen, mangelt es nicht. Auf den Kriegsschiffen war die entsprechende Einrichtung das Warenlager des Purser, des Zahlmeisters. Er war nicht nur für den gesamten Einkauf all dessen, was ein Schiff für eine lange Reise benötigte, zuständig, sondern vertrieb auch in kleinen Mengen von Kleidungsstücken über Tabak bis zum hölzernen Essbesteck alles, was die Seeleute unterwegs benötigen könnten. Erwähnung findet diese Möglichkeit des Nachkaufes in den Medical Journals nicht. Wie teuer in mehrfachem Sinne die stets knapp bemessene Kleidung für den Seemann angesehen wurde, zeigt vielleicht die fest gepflegte Sitte, die Kleider eines verstorbenen Matrosen sehr bald nach seiner Bestattung, sei sie auf See oder an Land geschehen, unter der Mannschaft zu versteigern. Ein dreifacher Zweck wurde damit erfüllt: Der Wert wurde respektiert, der Erlös den Hinterbliebenen übergeben und die abergläubische Furcht, wonach Tote nicht an Bord bleiben durften, dadurch besänftigt, dass die Kleidungsstücke nun nicht mehr die eines Toten waren, sondern nunmehr Besitz eines anderen Mannes. Um anhand der Kleidung einen abschließenden Blick auf die zivile Schifffahrt des 19. Jahrhunderts zu werfen, sei erwähnt, dass unter Seeleuten das Erkennungsmerkmal der britischen Handelsmarine das Monkey Jacket, eine besonders warme Jacke für nördliche Meeresregionen, und die Red Topped Boots, Stiefel mit rotem Innenleder, waren, welches nach Umklappen des oberen Schaftstückes seine leuchtende Farbe zeigte. Es gehörten auch die High Shoes 303 McIntosh cape: Ein mit Kautschuk imprägnierter Baumwollstoff, benannt nach dem schottischen Chemiker Charles Macintosh (1766–1843). 304 Livesay, Salter, HM Sloop Albatros 1.1.–31.12.1849, TNA, ADM 101/82/1.

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für den Landgang dazu, die auf jeden Fall höhere Absätze haben mussten als die Schuhe, die die Nicht-Seeleute trugen.305 Die Kleidung der Matrosen sollte durchaus etwas darstellen und, wie wir sahen, auch ein identitätsstiftendes Erkennungsmerkmal sein, vor allem aber musste sie absolut tauglich sein für die schwere und gefährliche Arbeit. Dass der »Südwester« ein Hut war, dessen besonders breite Krempe den Nacken bedeckte, um Wasser nicht unter die Jacke oder den Mantel gelangen zu lassen, ist hinlänglich bekannt. Auch, dass der Mantelstoff geteert sein konnte, um ihn wasserdicht zu machen, wovon der Name »Teerjacke« (Jack Tar) herrührt. Schließlich auch, dass die Hosenbeine ein weites Ende, »einen doppelten Schlag« hatten, um über den Stiefelschaft gestülpt werden zu können. Aber es gab auch ein ganzes System von Bändseln an der Seemannskluft, um die Kleidung wahrhaft funktional und sicher zu machen. »Soul’n Body Lashings«, Bänder oder Schnallen für Leib und Seele, hießen die Leinen- und Fadenstücke, mit denen zum Beispiel das Messer außen an der Regenkleidung befestigt werden und die Ärmel um die Handgelenke zusammengeschnürt werden konnten, damit auch im schlimmsten Wetter alles zur Hand war und das Wasser bei Über-Kopf-Arbeiten nicht in die Ärmel hineinlief. Es gehörten außerdem Bändsel dazu, die den Südwester vom Davonfliegen und vom Umklappen abhielten, und solche, die die weiten Hosenbeine zusammenschnürten, damit sie bei Arbeiten im Rigg nicht zerrissen, aber auch, um zu verhindern, dass Wasser in die Stiefel hineinlief. Und nicht zuletzt waren die Bänder nötig, um nicht mit flatternden, losen Teilen irgendwo hängen zu bleiben. Ein Sturz in die Tiefe konnte jederzeit die Folge sein.306 Schlussfolgerungen In zweifacher Hinsicht hat die Kleidung der Seeleute ihre besondere psycholo­ gische Bedeutung. Zunächst ist die Zweckmäßigkeit zu nennen, die die Kleidung den jeweiligen Aufgaben angepasst hat. Der Matrose sorgte für sie, indem er sie reinigte, ausbesserte und, was er nicht im Moment nutzte, in seiner Seekiste oder in seinem Seesack verstaute. Er musste sich auf sie verlassen können, so wie er sich auf sich selbst verlassen musste, wenn er bei seiner Arbeit stets eine Hand für das Schiff, eine aber auch für sich selbst einsetzte. Die andere Bedeutung ist die ordnende und separierende hinsichtlich der sozialen Rolle. Hier ist die Kleidung als Uniform angesprochen, wobei uniformie 305 Hugill: Shanties, S. 593. Die Bedeutung der englischen Sprache wie der ganzen britischen Seefahrt wird einmal mehr daran erkennbar, dass auch die deutschen Matrosen eine grobwollene, wärmende »Pijacke« (Peajacket), die niederländischen einen »pijrock«, und eine kurze »Monkijacke« für schönes Wetter und Landgang hatten. Vgl.: Stammler, Sp. 1838. 306 Hugill: Shanties, S. 596.

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rend auch die kunterbunte oder abgerissene Garderobe von Mannschaften sein konnte, die auf einfachen und ärmlichen Frachtseglern unterwegs waren. Gerade der wilde, ungeordnete Eindruck der Walfängerschiffe war deren besonderes Kennzeichen. Mitten in unseren Untersuchungszeitraum fällt der Wandel von der durch die Matrosen selbst erzeugten relativen Einheitlichkeit ihrer Kluft zu der durch die Admiralität angeordneten, verbindlichen Gleichförmigkeit ihrer Kleidung. Eine arbeitsbedingte Notwendigkeit kann in dem Schritt dieser formalen Uniformierung nicht eindeutig entdeckt werden. In der Handelsmarine gab es keinen solchen vereinheitlichenden Zwang (die Uniformen auf Yachten und Vergnügungsdampfern tauchten erst später auf), und die Seeleute der verschiedenen Schiffe oder Reedereien konnten sich als je eigene Gruppe definieren. In den nachfolgenden Fallgeschichten wird die Kleidung der Betroffenen im Falle von Erkältungen, die schwere Erkrankungen nach sich ziehen, aber auch im Zusammenhang mit der Problematik des Hitzschlages durchaus eine Rolle spielen. Viel häufiger aber ist die Nahrung Thema in den schiffsärztlichen Berichten, als Gesundheitsproblem und als Heilmittel.

4.13 Essen und Trinken 4.13.1 Der Speiseplan Bei jeder Beschäftigung mit der praktischen Seemannschaft stoßen wir auf die eminente Bedeutung, die das Essen im täglichen Ablauf an Bord eines Schiffes hat.307 Zwar sind die Jahrzehnte mit Hunger, mit krasser Fehlernährung und entsprechend schweren Avitaminosen und mit dem oft dramatischen Trinkwasserproblem an Bord für die hier untersuchte Zeit schon Vergangenheit.308 Dennoch musste auf die langen und weiten Reisen gerade in die entfernten Einsatzgebiete Ostasiens viel konservierte Nahrung mitgenommen werden. Ein gu 307 Vgl.: Schadewaldt, Hans: Die Überwindung der Vitaminmangelkrankheiten, in: Klüver, Hartmut (Hg.): Leben und Sterben an Bord, 2002, S. 33–46; ders.: Der Schiffsarzt; Watt, J.; Freeman, E. J.; Bynum, W. F.: Starving Sailors, Greenwich, London 1981; Ruge: Schiffsärztliches aus dem 17. und 18. Jahrhundert. 308 Ein früher Bericht von Hungersnot an Bord, ein Problem, das erst mit den großen und langen Überseereisen aufkam, liegt von der Weltumsegelung Magellans 1519 bis 1522 vor. Der Berichterstatter Antonio Pigafetta beschreibt so großen Hunger unter der Besatzung, dass Lederstücke, fünf Tage lang in Salzwasser gelegt, gegessen worden seien, ja dass Kannibalismus gedroht habe. Auch Mangel an Trinkwasser wurde zu einem bedrohlichem Problem während dieser Reise. Geschildert werden halluzinatorische Erlebnisse von Fischen, die über das Deck liefen, und von gebratenem Fleisch und Krügen voll Wein, die die Matrosen vor sich stehen sahen. Vgl.: Pigafetta, Antonio: Die erste Reise um die Erde, Stuttgart 1983, S. 92 und 257.

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ter Teil der Fahrtrouten ging auch nach Eröffnung des Suezkanales 1866 noch über 12 000 Seemeilen um das Kap der Guten Hoffnung. Entsprechend der großen Bedeutung des Essens an Bord hatte auch der Koch eine wichtige und geachtete Funktion innerhalb der Gruppe der Seeleute. Eher die Bedingungen seines Arbeitsplatzes wurden auf seine Person projiziert, wenn er mit »Smeerlapp«, »Smeerjack« oder Smuddje« gehänselt wurde, was wörtlich »schmutziger Kerl« bedeutet. Jeder wusste und weiß auch noch heute, dass »Smutje« der Schiffskoch ist. Ebenso hatte er den Spitznamen »Doktor«, weil er auf vielen Schiffen (der Handelsmarine) nicht nur den Zitronensaft ausgab, sondern oft auch den Medizinschrank verwaltete.309 Menge und Zusammensetzung des täglichen und wöchentlichen Speiseplanes war für die Marine verbindlich geregelt und vorgeschrieben. Darüber im Allgemeinen lässt sich keiner der Surgeons aus. Nur in den Logbüchern der betreffenden Schiffe finden wir Proviantlisten, die über Auswahl und Menge der eingekauften und an Bord genommenen Nahrungsmittel informieren. Der streng regulierte und eingehaltene Tagesablauf wurde bereits oben dargestellt. Er betraf auch die Essenszeiten. Die General Routine der Albatross zum Beispiel sah nach dem Wecken um halb vier in der Frühe erst um sieben das Frühstück (Breakfast), um ein Uhr das Mittagessen (Dinner) und um vier Uhr nachmittags das Abendessen (Supper) vor, lange bevor um neun Uhr die Lichter für die Nacht gelöscht wurden.310 Der Kommandeur konnte, beraten von seinem Arzt an Bord, ein Einsehen haben und eine kleine zusätzliche Mahlzeit anordnen, wie wir es von Bord der Nimrod erfahren. Auf ihr wurde in den kühleren Monaten November bis März (1857 auf 1858) die Frühstücksmahlzeit vor der ersten Arbeit eingenommen, in den anderen, heißen Monaten wurde dagegen sehr früh mit Arbeit und Exerzierübungen begonnen und erst danach regulär gefrühstückt. Zu diesem verspäteten Frühstück gab es etwas Kaffee, bei schlechtem Wetter zusammen mit Schnaps. Bemerkenswert ist, dass der Schiffsarzt die Ausgabe von Schnaps im Allgemeinen, also außerhalb schlechten Wetters, »nicht für empfehlenswert« hält. (»Except in wet weather I have not considered it advisable to recommend the issue of spirits along with it.«) Der 309 Weitere Details hierzu siehe: Reich; Pagel: Himmelsbesen, S. 347–351; Wells, S. 13. Auf den hölzernen Schiffe befand sich der gemauerte oder aus Eisen gefertigte Herd in einem Küchenraum, dessen Wände durch Steine oder Eisenplatten gegen Brandgefahr abgesichert waren. Nachts, bei schwerem Wetter und vor einem Gefecht wurde das Feuer gelöscht. Die Lagerbedingungen der Nahrungsmittel beeinträchtigten die Qualität dessen, was daraus zubereitet wurde, erheblich. Die Mitglieder der Offiziersmesse konnten sich Verbesserungen des Speiseplanes hinzukaufen. Eine eigene Ausbildung erhielten die Köche der Royal Navy erst seit 1873. 310 Zu den in Details gegenüber der deutschen und englischen Marine abweichenden Zeiten und Formen der täglichen Ernährung in der französischen Kriegsmarine siehe: Hinkelmann, die die zweite Auflage des »Traité d’hygiène navale« von Jean-Baptiste Fonssagrive auswertet, ferner für die Zeit bis 1815: Adam, S. 220–223 .

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Kaffee stellt, im Gegensatz zum Schnaps, eine Neuerung an Proviant dar, den der Schiffsarzt als wirksame Vorbeugung gegen »Wechselfieber und andere Krankheiten« ansieht. (»I have no doubt it has acted as a prophylactic against intermittent fever and other diseases.«)311

4.13.2 Kohlenhydrate Auch noch 1858 war der Schiffszwieback neben Reis (in der Asienfahrt) wichtigster Kohlehydratlieferant. Denn es ist eine Neuerung und lediglich ein Vorschlag an die Admiralität, wenn Surgeon Dr. John Rose von der Nimrod vorschlägt, mindestens zweimal wöchentlich Kartoffeln aus Konserven auszugeben. »I also recommended preserved potatoes to be issued at least twice a week to ships companies in all vessels proceeding to China, and on other long voyages. This would be a very desirable addition to usual diet at sea, and the expense would not be great.«312

4.13.3 Fleisch Den größten Raum in der Kommunikation über die Ernährung an Bord nimmt das Fleisch ein. Es ist faktisch hochkalorisch, es ist aber auch durch alle Zeiten als »Kraftlieferant« emotional besetzt. Im 19.  Jahrhundert werden viele Menschen an Bord gekommen sein, die von ihrer Herkunft an Land den Genuss von Fleisch nur als Luxus kannten. Dabei war auf Schiffen frisches Fleisch ebenfalls Mangelware, allein wegen dessen rascher Verderblichkeit. Erst die moderne Kühlkonservierung änderte dies grundlegend. Besonders groß war das Problem der Haltbarkeit in der subtropischen und tropischen Region, die geographisch unser Untersuchungsgebiet ist. Von der Pylades erfahren wir von so großer Hitze während ihres Aufenthaltes im malaiischen Archipel, dass an Bord geschlachtetes Fleisch nur 30 Stunden gehalten habe.313 Dabei wurde an Bord dieses Schiffes ganz ungewöhnlich reichlich geschlachtet, weil es den Auftrag erfüllte, den siamesischen Bot­ 311 Rose, John, HM Sloop Nimrod 2. Teil, 24.3.–28.5.1858, TNA, ADM 101/164/1B. 312 Rose, John, HM Sloop Nimrod 2. Teil, 24.3.–28.5.1858, TNA, ADM 101/164/1B. Unzählig sind die Kommentare zum »Schiffszwieback«, womit typischerweise Weizenhartbrot gemeint ist, und unzählig sind die Beschreibungen über seinen Zustand, wonach aus ihm »die Maden ohne große Mühe herausfielen, wenn man es beidseits auf die Back klopfte«, wie Brennecke schreibt, und das nur noch von dem »Peerfeut« (Pferdefuß) genannten Roggenmischbrot, »handgroß und steinhart« in zwei Hälften gebacken, an Ungezieferbefall übertroffen wurde. Vgl.: Brennecke: Windjammer, S. 232. 313 Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 3. Teil, 1.1.–31.12.1860, TNA, ADM 101/167.

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schafter samt 26-köpfiger »Party« von Suez zum Fluss Menam in Südostasien zu bringen. Die Lieblingsspeise der vornehmen Gesellschaft sei Hühner- und Schweinefleisch gewesen, vermerkt der Arzt ausdrücklich. Die Mannschaft muss ein sehr viel einfacheres und weit weniger schmackhaftes Essen ge­boten bekommen haben, denn der Schiffsarzt veranlasst wenigstens für seine Patienten im Schiffslazarett den Kauf von »Pfeilwurz für das minderwertige Gemüse und andere Zutaten, um die Mahlzeiten geschmackvoll zu machen«. Er kann ansonsten an diätetischer Unterstützung für die Kranken »Rindfleischsuppe und Bouillon« (die Bouillon vermutlich vom Huhn) anbieten. Der ganzen Mannschaft kann er jedoch zur Linderung ihrer allgemeinen Erschöpfung keine Essensverbesserung verschaffen. Vielmehr beschränkt sich die Zuwendung in der heißesten Phase nach Auslaufen aus dem Hafen von Kalkutta auf die Ausgabe von »Schnaps und Chinin« abends um acht Uhr, eine Praxis, auf die noch näher eingegangen wird. Selten klingt es bezüglich der Ernährung so günstig wie im Medical Journal der Rinaldo aus dem Jahre 1870 in japanischen Gewässern. Ihre Besatzung erhielt im Hafen von Yokohama fünf Mal in der Woche frisches Fleisch an Bord geliefert, zusätzlich sei ein halbes Pfund Gemüse auf ein Pfund Fleisch hinzugekommen, ferner frisches Brot von eineinhalb englischen Pfund pro Mann. Das Fleisch sei von ausgezeichneter Qualität. Es komme von Kobé nahe der (japanischen) Inlandsee, wo das Vieh stets in Ställen und nie auf den Wiesen gehalten werde. (»… proceeded from Kobé in the Inland Sea where the cattle are always fed in stalls and never put out in pastures.«) Das Brot sei aus amerikanischem Mehl gebacken und sehr gut.314 An Menge viel bedeutsamer als frisches Fleisch war das durch Pökelsalz haltbar gemachte Fleisch. Häufig, wenn auch nicht systematisch protokollieren die Surgeons die Dauer der Ausgabe von Salzfleisch oder »Salz-Proviant«, wie die Salt Provision wörtlich zu übersetzen wäre.315 Dr. John Rose vermerkt auf der Reise der Nimrod 1857 von Plymouth bis nach Singapur, dass sie 72 solcher Tage 314 Buckley, John., HM Sloop Rinaldo 10.5.–31.12.1870, TNA, ADM 101/182. 315 Das Pökeln (englisch: to cure by salting) ist eines der ältesten Verfahren zur Haltbarmachung von Nahrung. Rohes Fleisch wird in Salzlake gelegt oder wiederholt damit eingerieben. Die Lake ist eine 15 bis 25-prozentige Kochsalz- (also Natriumchlorid-) Lösung. Zur Erhaltung der roten Fleischfarbe kann Natriumnitrat hinzugegeben werden. Bis 1906 wurde Salt Beef, gepökeltes Rindfleisch, bis 1926 Salt Pork, gepökeltes Schweinefleisch, in der britischen Kriegsmarine ausgegeben. Parallel wurde seit 1867 auf vielen Schiffen »a good quality of preserved meat in tins«, also Fleisch in Konservendosen mitgeführt. Vgl.: Allison: Sea Diseases, S.  190. Brennecke beschreibt unter anderem das Einlegen verdorbenen Fleisches in ein Essigbad über Nacht und die Verwendung von »übermangansaurem Kali«, einem für die Anwendung auf der Haut vorgesehenen Desinfektionsmittel, vielleicht aus der Arzneikiste entwendet und zweckentfremdet. Natürlich wurde lediglich der Geruch und der Geschmack des Fleisches, nicht aber sein Nährwert verbessert. Vgl.: Brennecke: Windjammer, S. 233.

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»on Salt Provision« verbrachten. (»We were 72 days on Salt Provision during the passage from England to Singapore.«)316 Auch noch aus dem Jahre 1872 besitzen wir eine aufschlussreiche kleine Liste, die George B. Murray, Assistant Surgeon der Nimble, an das Ende der General Remarks seines sehr sorgfältig geführten schiffsärztlichen Berichtes stellt. Von den 366 Tagen jenes Jahres, also offensichtlich eines Schaltjahres, war das Schiff auf seiner Reise durch den Persischen Golf und entlang der westlichen indischen Küste 69 Tage »at Sea« und 297 Tage »in Harbour«. An 102 Tagen gab es Salt Provision, also das gepökelte Fleisch. An immerhin 89 Tagen gab es »mageres Fleisch« (»89 days on which leane was given«), was vermutlich Frischfleisch für den Speiseplan bedeutete, und an 141 Tagen wurde Zitronensaft verteilt.317 Der Nährwert von Pökelfleisch war sehr schlecht, Vitamine enthielt es nicht mehr. Auch noch im 19.  Jahrhundert konnte unter Pökelfleischproviant und ohne Zitronensaft Skorbut auftreten. Der Statistical Report von 1853 berichtet nicht nur dies von der Convay, sondern auch von sprichwörtlich rohen Gewohnheiten der Männer an Bord im Umgang mit dem eingesalzenen Fleisch. Der Berichterstatter fürchtet, dass länger dauernder Verzehr von Pökelfleisch die Menschen dazu bringe, dieses Fleisch in rohem Zustand hinunterzuschlingen. (»It is also mentioned that the men were in the habit of cooking their salt meat as it came from the brine, without previously steeping it in water, and that, in some­ instances, it was even eaten raw. This morbid propensity to indulge in raw meat and in unwholesome or piquant messes almost invariably occcurs amongst men who have been long restricted to a salt-meat diet.«)318 Eine wesentliche Umstellung und Verbesserung in der Ernährung wurde mit der Erfindung der Konservendose möglich. Nach Schadewaldt ist dies erstmals dem Franzosen Nicolas Apert (1750–1841) gelungen und wurde als »Büchsenfleisch«, bekannter noch mit seinem englischen Ausdruck Corned Beef, schnell in allen Marinen der Welt eingeführt.319 Zu Beginn der Verproviantierung mit diesen Fleischdosen gab es ernsthafte Vergiftungen durch die Bleiverlötung der Büchsen, wenngleich die erste Ladung Dosen für die Royal Navy aus dem Jahre 1816 gleich sieben Jahre »bestens erhalten« blieb, wie der Surgeon jenes Schiffes, der Blossom, 1824 feststellt.320 Oft hielt sich das Fleisch darin nicht gut, war vielmehr vollkommen ungenießbar, und es tauchten prompt Dosen auf, die sämtliche Fleischabfälle mitenthielten, was zum Zeitpunkt des Kaufes ja nicht

316 Rose, John, HM Sloop Nimrod 2. Teil, 24.3.–28.5.1858, TNA, ADM 101/164/1B, Gen. Remarks. 317 Murray, George B., HM Sloop Nimble 2. Teil, 1.1.–31.12.1872, TNA, ADM 101/184/1B, General Remarks. 318 House of Commons 1853 (555) Navy (health): Stat. Rep. für 1837–43, S. 31–32. 319 Schadewaldt: Geschichte der Schiffahrtsmedizin, S. 34. 320 House of Commons 1903 (301) Navy (health): Stat. Rep. für 1902, S. 137.

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zu erkennen war. Unter den Seeleuten musste sich das Konservenfleisch erst durchsetzen, bis es Spottnamen wie »Kabelgarn«, »Chinesenfutter« und »tote Franzosen« loswurde.321 Die Fleischbrühtafel, die Portable Soup, aus eingedickter Hühner-, Ochsenoder Kalbfleischbouillon mit Gemüsezusätzen gab es schon einige Jahrzehnte vor der Konservendose. 1853 kam der »Getreidestein«, auch »Zeilithoid« genannt, hinzu, ein aus verschiedenen Getreidekörnern, Bierwürze und Zucker gebackenes Nahrungskonzentrat, das, in Wasser aufgelöst, mit Hopfen zu einem bierähnlichen Getränk und mit Mehl zu einer Art Zwieback verarbeitet werden konnte.322 Auch eingedickte Suppe in Flaschenabfüllung (»concentrated gravy soups in bottles«,»pour essence of soup«) wurde versucht, setzte sich aber nicht durch.323 Die Fleischvorräte hatten eine nochmals gesteigerte Bedeutung für die Krankenabteilung an Bord. Eine häufig angetroffene Anordnung zur Kräftigung der Patienten ist die Verabreichung von Beef Tea, also einer Rinderbrühe. Wenn wir allerdings davon ausgehen, dass Pökelfleisch erst gewässert, dann ausgekocht und das Ergebnis als heißes Getränk gegeben wurde, ist die Wirksamkeit dieser Diätvorschrift hinsichtlich ihres Nährwertes als deutlich vermindert anzusehen. Vielleicht konnte der Arzt für diesen Zweck bevorzugt auf die Portable Soup zurückgreifen.

4.13.4 Obst und Gemüse Obst und Gemüse konnten in noch geringerem Maße als Fleisch zu Proviantzwecken haltbar gemacht werden. Was bei letzterem das Pökelfleisch war, war beim Gemüse das Sauerkraut, dabei sogar mit recht gutem Ergebnis in Bezug auf den Vitamin-C-Gehalt. Berühmt wurde der rigorose Einsatz dieser Art von Weißkohl aus dem Fass bei den großen Seereisen des James Cook, denn damit hatte er eine für damalige Verhältnisse (des 18. Jahrhunderts) einmalig niedrige Rate an Skorbut erreicht: Die milchsaure Gärung erhält relativ viel des im Kohl enthaltenen Vitamin C, im Gegensatz zu vielen anderen Konservierungstechniken, allen voran der Erhitzung.324 So war man also auf Nachschub frischen Gemüses angewiesen und suchte diesen auch, sobald in Hafenstädten solches zu kaufen war. Während das in 321 Wossidlo, S. 108; Stammler, Sp. 1836. 322 Schadewaldt: Geschichte der Schiffahrtsmedizin, S.  35. Flensburger Schiffahrtsmuseum: Alltag an Bord. 323 House of Commons 1903 (301) Navy (health): Stat. Rep. für 1902, S. 137. 324 Cooks Reisebegleiter Forster berichtet von vierjähriger Haltbarkeit und Genießbarkeit des an Bord befindlichen Sauerkrauts! Forster, Johann Reinhold: Beobachtungen während der Cook’schen Weltumsegeelung 1772–1775, Stuttgart 1981, S. 546.

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Japan bezogene Fleisch an Bord der Rinaldo, wie oben zitiert, in den höchsten Tönen gelobt wurde, fällt das Urteil über das eingekaufte Gemüse ganz anders aus: »The vegetables are not of good quality. The potatoes are small and watery. Turnips and carrots are tasteless and mostly composed of woody fibre, but when chopped up and boiled with the beef, make an excellent seasoning for soup.«325 Die aufgezählten Gemüsesorten könnten in der (damaligen) japanischen Küche weniger verwendet worden sein als in Mitteleuropa. Ob Versuche mit stärker regionaltypischer Verproviantierung gemacht wurden, ist in den Journalen nicht berichtet. Obst, sicher insgesamt kein häufig zur Verfügung stehendes Nahrungsmittel an Bord, wird noch seltener erwähnt als Gemüse. Nur am Ende des Berichtes der Rinaldo tauchen neben Gemüse in schlechter Qualität, nämlich »geschmacklos und unverdaulich«, Früchte auf, in Form von »Aprikosen und so weiter«, die, zu früh geerntet, hart und grün seien. Das Obst wie auch die in großen Mengen zum Schiff gebrachten Gurken (Cucumbers) sah sich der Arzt wegen der Gefahr von Durchfallerkrankungen »gezwungen zu verbieten.« (»The vegetables which were supplied with the beef according to contract and of the description usually met with in the East – unripe, tasteless and undigestible. The fruit, the apricots etc, had been gathered too early and were hard and green. Also cucumbers were brought alongside in grat quantitiy, but owing to the prevalence of Diarrhoea, I was obliged to forbid.«)326 Kamen Matrosen nach langer Seefahrt an Land, hielten sie sich nicht immer an die Warnungen vor dem Verzehr unverträglicher Lebensmittel und erkrankten entsprechend häufig an den ortstypischen Durchfallerkrankungen. Der für die Forts im Kanton-Fluss im Jahre 1857 zuständige Arzt Fred Piercy beobachtete diese Situation unter den soeben aus England angekommenen Matrosen und Marinesoldaten. Sie seien entgegen allen Warnungen großzügig in der prallen Sonne umhergegangen und hätten sich mit Früchten und verschiedenen rohen Lebensmitteln, die sie von den Bumboats327 gekauft hatten, vollgegessen. Schließlich hätten sie sich noch unter freiem Himmel schlafen gelegt, sich dem »starken Tau« aussetzend. Die Folge waren massenhafte Durchfallerkrankungen und eine lange Krankenliste. (»These men … gorged themselves with fruit and all sorts of indigestible commodities from the bumboats, and many slept out at night, exposing themselves to heavy dews. The consequence was of course

325 Buckley, John., HM Sloop Rinaldo 10.5.–31.12.1870, TNA, ADM 101/182. 326 Buckley, John., HM Sloop Rinaldo 10.5.–31.12.1870, TNA, ADM 101/182. 327 Das Wort Bumboats wird im Deutschen identisch als »Bumboot« verwendet. Laut Brommy sind es »Boote, welche in den Häfen sich mit dem Kleinverkauf von Esswaren u.s.w. an die Mannschaft der Schiffe beschäftigen.« Vgl.: Brommy: Die Marine, S. 508. Wie chinesische »Bumbootsmänner« arbeiteten, ist zum Beispiel in der »Weltreise« von Sperling plastisch beschrieben. Vgl.: Sperling, C. F.: Eine Weltreise unter deutscher Flagge, Leipzig 1907, S. 19–22.

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a large Sick List, between forty and fifty being on the list at one time, with fever, dysentery or diarrhoea.«328 Nochmals sei ein Blick auf die Verhältnisse in der Handelsmarine geworfen: Das Essen in der Handelsmarine dürfte karger gewesen sein als das in der Kriegsmarine. Der Schiffseigner wollte sparen. Neben den festen Zeiten für das »Schaffen«, wie das Essen an Bord hieß, wurde durchaus auch zwischendurch gegessen, wenn der Hunger groß war. »Fische wurden an Bord viel gegessen, hauptsächlich getrocknete und gesalzene. Frische Fische, die seltener auf den Tisch kamen als die Landratte sich vorstellt, waren die Ausnahme. Gedörrter Kabeljau und Salzhering tauchen am häufigsten in den Berichten auf«, schreibt Wossidlo.329 Es gab ein gewisses Repertoire an sehr speziellen Speisen, die unter einfachsten Bedingungen an Bord aller möglicher Seefahrzeuge zubereitet wurden. Die Schiffsjungen auf englischen und vielleicht auch auf so manch anderem Schiff der europäischen Seefahrtsnationen wurden rasch angelernt, zum Beispiel aus Zwiebackresten und Stücken Rind- oder Schweinefleisch den­ Cracker Hash zu backen; oder Zwiebackstücke zusammen mit Zucker und Wasser zu einem Brei, dem Dog’s Body zu mischen; oder den mit einem Belegnagel in einem Leinensack klein gehämmerten Schiffszwieback mit Fett, Zucker oder Melasse330 in einer Rindfleischbüchse zu backen, was dann Dandy Funk hieß und von Clements als »meist geschätzte Delikatesse unserer Essensliste« eingestuft wurde.331 Für die Neuen an Bord war das Essen ebenso unverträglich und abstoßend, wie es für die Alten gewohnt und begehrt war. Unendlich sind die Zeugnisse von Klagen über die Monotonie von gesalzenem Schweine-, Rind- und Pferdefleisch, von Zwieback und Erbsensuppe. Oft wiederholte sich der Speiseplan allwöchentlich. Villiers meint: »Ein Mann, der sich einmal an Diät von gepökeltem Pferd und Erbsensuppe gewöhnt hat, hat seinen Gaumen für den Rest des Lebens ruiniert.«332 Hugill drückt die Verbundenheit und gleichzeitige Abneigung mancher Matrosen gegen das im Laufe der Zeit völlig ausgetrocknete, hart gewordene Pökelfleisch durch die Tatsache aus, dass sie aus eben diesem Grundstoff Schiffsmodelle schnitzten. In der Sonne zusätzlich getrocknet, sei dieses konservierte, alte Fleisch frei von Geruch und hart wie Teakholz geworden.333 Schon eher genießbar erscheint uns heutigen Lesern das Tabnab, ein Früchtebrot. Allerdings handelt es sich auch in diesem Falle um etwas Seetaugliches, 328 Piercy, Frederick, HM Forts in Canton River, 1.10.1857–16.8.1858, TNA, ADM 101/165. 329 Wossidlo, S. 108–109 . 330 Melasse (englisch Molasses): Ein dickflüssiger, dunkelbrauner Sirup mit hohem Anteil nichtkristallinen Zuckers, als Nebenprodukt aus der Zuckerrohrverarbeitung auf den Schiffen der Royal Navy leicht verfügbar. 331 Weibust: Deep Sea Sailors, S. 94. 332 Villiers, Allain in Hugill: Shanties. 333 Hugill, ebd., S. 595.

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also gut Konserviertes, nämlich um hart getrocknetes Früchtebrot, dessen englische Bezeichnung Rock Cake, wörtlich »Stein-Kuchen«, aufschlussreich ist.334 Das in Deutschland bekannte Labskaus, eines der vielen Resteessen aus der Schiffskombüse, war nach Hugill eine der kulinarischen Erfindungen der Seeleute aus Liverpool. Der Name »Lobscous« beinhaltet den Namen, den die Einwohner Liverpools haben: Scouser.335 Die Spottnamen für (schlechtes) Essen an Bord waren Legion. Einen Höhepunkt beziehungsweise Tiefpunkt stellt wohl die Bezeichnung Fanny Adams und Harriet Lane für besonders zähes Fleisch dar.336

4.13.5 Zitronensaft Medizinisch von größter Relevanz war die regelmäßige Zuteilung von Zitronensaft. In allen Handels- wie Kriegsmarinen war die Verteilung von Lime Juice, von Zitronensaft, gebräuchlich. Wie konsequent dies allerdings durchgeführt wurde, steht auf einem anderen Blatt. Einige Quellen sprechen von sehr positiver Aufnahme durch die Schiffsmannschaften, andere davon, dass die Matrosen ihn nur für würdig ansahen, in das Wasser zum Waschen zu kommen.337 Auf den Schiffen der Royal Navy war eine verhältnismäßig zuverlässige Kontrolle über die Einnahme und Dosierung gegeben. Eventuelle Skorbutanzeichen fielen dem Schiffsarzt frühzeitig auf. Der Zitronensaft konnte allerdings zu früh ausgehen. Auf einer Fahrt von der australischen Westküste nach China muss es einem Schiff so ergangen sein. Wir hörten bereits (anlässlich der Fleischversorgung) von der Convay, der auf der Fahrt von der australischen Westküste nach China der Zitronensaft ausgegangen war und nun Skorbut an Bord hatte. Auf der oben zitierten Nimble wurde an 141 der 366 Tage des Jahres 1872 Zitronensaft zur Skorbutvorbeugung ausgegeben. (»Number of days Lime juice is 334 Hugill, ebd., S. 596. 335 Hugill, ebd., S. 594. 336 Die Namen gehörten zwei Prostituierten, die im Hafen von Sidney ermordet wurden. Manche Quellen dichten ihnen eine direkte Entsprechung an, andere Quellen sehen eine weniger obszöne, aber ebenso makabre Ähnlichkeit billigen Dosenfleisches mit der Tat­sache, dass die Leichname der Ermordeten zerstückelt aufgefunden wurden. Vgl.: Heitzmann, Ray: Language: Nautical Expressions, in: Hattendorf (Hg.): Oxford encyclopedia 2007, Bd.  2, S. 323–325. 337 Zur Geschichte des langen Kampfes gegen den Skorbut in der Seefahrt siehe: Schadewaldt: Die Überwindung der Vitaminmangelkrankheiten, S.  33–46; ders.: Geschichte der Schiffahrtsmedizin, S.  5–55; ders.: Der Schiffsarzt, S.  2502–2536. Die erste Vorschrift zur Ausgabe von Zitronensaft in der britischen Marine von 1795 sah eine Dreiviertelunze (21  Gramm) davon vor, zusätzlich zwei Unzen (57  Gramm) braunen Zucker. Vgl.: Adam, S. 225. Für die internationale Literatur gilt die Arbeit von Carpenter als die umfassendste und gründlichste: Carpenter, Kenneth J.: The history of scurvy and vitamin C, Cambridge 1986.

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sued: 141.«)338 Stand genug frische Nahrung zur Verfügung, war die Zitrone nicht erforderlich. (»Up to the end of this year, there has been no occasion to issue Lime Juice, the ship’s Co never having been more than 5 or 6 days exclusively on salt provisions.«)339 War eine besonders lange Seereise in Aussicht, konnte der Arzt doppelte Mengen an Zitronensaft anordnen. (»From Singapore Lime juice in double quantitiy was given in anticipation of the long sea trip to Vancouver Island.«)340 Der Vitaminmangelproblematik begegnen wir im Abschnitt »Debility, Depression, Suizid«, da zu Vitamin-Mangelzuständen stets psychische Beschwerden gehören.

4.13.6 Trinkwasser Ein weiteres Proviantproblem stellte das Wasser dar. In viel kürzerer Zeit als Mangel an Essbarem konnte (und kann) Wassermangel zu einem lebens­ bedrohlichen Faktor einer Reise werden, auch inmitten der »Wasserwüste«. Mit den Schiffen des 19. Jahrhunderts befinden wir uns jedoch bereits in der Zeit guter Haltbarkeit von Wasser in stählernen Tanks an Bord. Verfaultes Wasser aus Holzfässern war Vergangenheit. Die Mengen waren allerdings sehr begrenzt und im Vergleich zu Vorschriften des 20. und 21. Jahrhunderts winzig.341 Die Mitnahme des Trinkwassers an Bord ausschließlich in Eisentanks war in der Royal Navy 1815 eingeführt worden. So konnte die erforderliche Trinkmenge und die notwendige Wasserqualität für jeden Mann an Bord vorgehalten werden, auch unter den besonderen Bedingungen großer Hitze. Während der ersten Jahrzehnte dieser neuen Technologie gab es allerdings durch die Verwendung von Bleirohren an Bord gesundheitliche Probleme durch Bleivergiftung. Zwar waren die Leitungswege auf den Schiffen kurz, wenn das Wasser aber zur Verbesserung seiner Haltbarkeit mit etwas Säure versetzt war, was hier und da praktiziert wurde, konnte schnell ein schädlicher Bleigehalt resultieren. Beides 338 Murray, George B., HM Sloop Nimble 2. Teil, 1.1.–31.12.1872, TNA, ADM 101/184/1B. 339 Buckley, John., HM Sloop Rinaldo 10.5.–31.12.1870, TNA, ADM 101/182. 340 Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 3. Teil, 1.1.–31.12.1860, TNA, ADM 101/167. 341 Schadewaldt: Der Schiffsarzt, S. 2525, rechnet für die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts mit 0,25 bis 0,5 Liter täglicher Wasserzuteilung pro Mann, in den Tropen kaum mehr als einen ganzen Liter. Bauer errechnet für die Zeit einhundert Jahre später 50 Liter Süßwasserbedarf je Mann und stellt fest: »Wenn man die 5 Liter täglich auf den alten Schiffen bedenkt, kann man beinahe von Luxus sprechen. Soviel läßt sich sicher sagen, daß man mit einem Tagesbedarf an Wasch- und Trinkwasser von 50 Liter auf den Kopf auskommen kann, wenn man muß, schlechter bei längerem, besser bei kürzerem Tropenaufenthalt.« Vgl.: Bauer: Die Auslandsreisen der Schulschiffe, S. 170. Die deutsche See-Berufsgenossenschaft legte 1970 20 Liter trinkbares Wasser pro Mann (oder Frau) je Tag fest, bei Fahrten im tropischen Klima 25 Liter. Hinzu kommen 80 bis 100 Liter Tagesmenge an »Waschwasser«.

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war vor allem auf französischen Schiffen der Fall, und deshalb war dort in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die »Colique sèche des vaisseaux« ein rätselhaftes Gesundheitsproblem.342 Der Unvernunft der Menschen konnte damit freilich nicht vollständig begegnet werden. Immer wieder ist zu lesen, dass die Matrosen verbotenerweise unsauberes, bakteriell verseuchtes Wasser, hauptsächlich wohl Flusswasser, tranken. Auf der Nimrod, die 1857 vor Shanghai lag, wurde vielleicht auch entsprechend ungeeignetes Flusswasser in die Tanks der Schiffe gefüllt. S­ urgeon Rose vermutet, dass die Verwendung von Flusswasser die Hauptursache für Durchfallerkrankungen, aber auch für den häufigen Wurmbefall der Seeleute war. Als seltene Ausnahme bezieht er in seine Überlegungen die Handelsschifffahrt mit ein. Vielleicht war er auch schon auf Handelsschiffen mitgefahren. (»The use of river water for drinking appears to me to be prejudicial to health, and to be one cause of the dysentery, and intestinal worms which have been so prevalent in our ships, and in the mercantile marine.«)343 Er plädiert entschieden für ausschließlich gefiltertes Wasser, das an Land gekauft werden kann, als nächste Alternative zur Filterung an Bord, in jedem Falle aber für die Verwendung von destilliertem Wasser.344 Es sei unverantwortlich, die Leute verschmutztes Flusswasser trinken zu lassen, nur um Kraftstoff (für die Destillierapparatur) zu sparen. (»To compel to drink muddy water on account of the cost of fuel on this station is most unwise & injudicious patrimony, and I consider I am only doing my duty in respectfully calling attention to this circumstance, while I record my protest against such a system.«) Sicherlich zutreffend geht er von tierischer und organisch-pflanzlicher Verschmutzung aus, die 342 Das gleiche Problem entstand durch die Kontamination mit der stark bleihaltigen Farbe, die auf den Schiffen in großer Menge eingesetzt wurde. Auf englischen Schiffen soll sie gut getrennt im Schiffsbauch gelagert haben, auf französischen dagegen wenig abgetrennt. Vgl.: Schadewaldt: Geschichte der Schiffahrtsmedizin, S.  34. Bleivergiftungen können neben ihrer hauptsächlichen Auswirkung in Form von Bauchbeschwerden und Blutschädigung auch neurologische Symptome bewirken. In einem unserer Fallberichte finden wir tatsächlich die Frage des Schiffsarztes an seinen Patienten erwähnt, ob seine Kammer in letzter Zeit gestrichen worden sei und ob er in der Nähe von Farbtöpfen geschlafen habe. Auf die Vermutung, dass bleiverseuchtes Wasser eine Rolle spielen könnte, stoßen wir in keiner der hier untersuchten Quellen. 343 Rose, John, HM Sloop Nimrod 1. Teil, 24.3.1857–24.3.1858, TNA, ADM 101/164/1A, Gen. Remarks. 344 Destilliertem Wasser wurde anfänglich misstraut. Seine Brauchbarkeit als Trinkwasser über eine längere Zeit wurde mit einem Experiment an französischen Strafgefangenen überprüft, indem sie, auf Schiffen untergebracht, kein Quell- sondern ausschließlich de­ stilliertes Wasser zu trinken erhielten. Der Ausgang war günstig. Es zeigten sich nicht die befürchteten Mangelerscheinungen. Vgl.: Kleemann, Arnfried: Trinkwasserversorgung auf Schiffen der Bundesmarine, in: Mensch und Schiff, Kiel 1972, S. 95–97, S. 95–97. Eine ausführliche Darstellung der Entwicklung von Destillationsapparaten und Trinkwasserbehältern findet sich bei: Hinkelmann: Schiffshygiene.

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sich in dem »selten unter 85 Grad Fahrenheit (30 Grad Celsius) warmen Flusswasser« erhält und vermehrt. Dieses organische Material stammt, so seine Vermutung, von den abgeernteten Reisfeldern und deren Düngung, von Abwasserkanälen der Stadt Shanghai und schließlich von der »immensen Flotte an Schiffen und Dschunken«.345 In einer ähnlichen Situation war die Rinaldo auch noch im Jahre 1871, als sie vor Hongkong vor Anker lag und Wasser von Land nehmen musste. Durch besonders schwere Regenfälle wurde viel Erdreich in Teiche und Flüsse geschwemmt, aus denen Trinkwasser entnommen wurde. Das Wasser habe einen sehr deutlich »erdigen Geruch, selbst nach Filterung« (»… an earthy flavour, even when filtered«) gehabt. Weil Filter nur für die Offiziersmesse zur Verfügung standen, nicht aber für die Mannschaftsmessen, traten Durchfallerkrankungen bei der Mannschaft häufiger auf. Dabei benötigte die Mannschaft bei großer Hitze und regelmäßiger körperlicher Betätigung besonders große Mengen an Trinkwasser. (»… a filter is simply absurd. It would not supply the wants of a third of their number.«)346 Die Rinaldo verließ Hongkong am 28.  Mai und erreichte bei nur gelegentlichem Regen auf der Fahrt die japanische Küste am 5. Juni bei gutem Wetter. Noch während des Aufenthaltes in japanischen Gewässern war nach Überzeugung des Schiffsarztes eine sehr hohe Rate von Diarrhoe auf schmutziges Wasser aus Hongkong zurückzuführen. Erst in den letzten Tagen war kondensiertes Wasser verwendet worden. Auf der weiteren Fahrt habe das Schiff überall an der japanischen Küste reichlich frisches Wasser nehmen können, zum Beispiel in Nagasaki, wo gutes Trinkwasser aufgefüllt werden konnte, das nicht mit Verunreinigungen von den Reisfeldern versetzt gewesen sei. Aus demselben Journal erfahren wir, dass die Destillierapparate regelmäßig mit Silbernitrat keimfrei gemacht wurden. Bei Ingangsetzen des Apparates wurde das Destillat so lange als Vorlauf in die Bilge abgelassen, bis die Wasserqualität für ausreichend gut befunden wurde. Ebenso wie diese Apparate beschreiben die Schiffsärzte immer wieder die Reinigung, Desinfizierung und Trocknung der Wassertanks an Bord, sodass angenommen werden kann, dass 345 Rose, John, HM Sloop Nimrod 1. Teil, 24.3.1857–24.3.1858, TNA, ADM 101/164/1A. 346 Buckley, John., HM Sloop Rinaldo 10.5.–31.12.1870, TNA, ADM 101/182. Dasselbe Phänomen beschreibt Spahr in seiner Untersuchung der Choleraepidemie auf den Schiffen während des Krimkrieges 1854. Die Schiffsärzte erkrankten trotz ihres dauernden engen Kontaktes mit den schwerkranken Seeleuten ebenso selten wie alle anderen Offiziere, weil sie aus anderen Wasservorräten mit Getränken versorgt wurden. Diese an sich bekannte Differenz führte seinerzeit nicht zu entsprechenden Schlussfolgerungen. Zwar war das Prinzip eines Ansteckungsvorganges durchaus im Blick, jedoch vermochte man das »cholera poison« einfach noch nicht so zu verstehen, dass es zu entsprechenden wasserhygienischen Vorkehrungen geführt hätte. Siehe: Spahr, Frank: Die Ausbreitung der Cholera in der britischen Flotte im Schwarzen Meer während des Krimkrieges im August 1854, Frankfurt am Main, 1989, S. 148–153.

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die Überwachung dieser Vorgänge zu ihren Aufgaben gehörte. (»…, the condensed water is allowed to run into the bilges until it is perfectly fresh. The watertanks when nearly empty are thoroughly cleaned out and dried, and afterwards whitewashed and allowed to dry before any water is run into them.«)347 Auch die Trinkwasserversorgung an Land war ein ungelöstes Problem. Wir erfahren aus einem späteren Journal der Nimrod, dass die in Shanghai lebenden Engländer Regenwasser nutzten und es kochten, bevor sie es tranken, während die chinesische Bevölkerung üblicherweise auf das Kochen verzichtete. (»The English Residents use Rain Water, which has been boiled, for drinking and culinary purposes; and the Chinese themselves unusually boil the water they use.«)348 Gut denkbar ist, dass die Wasser-Rationierung auf Handelsschiffen noch strenger und knapper bemessen war als auf den Schiffen der Kriegsmarine. Aus finnischen Archiven zitiert Weibust solche strenge Rationierung, die bis in die Zeit unserer Untersuchungen zurückreicht. »Wenn wir auf See waren, war Wasser streng eingeteilt. Jeden Morgen erschien der Erste Steuermann mit dem Griff für die Pumpe, die Wasser aus dem 30-Tonnen-Tank holte: 12 Eimer für den Koch, 6 für den Steward, 3 für den Zimmermann, den Quartiermeister, den Segelmacher und den donkeyman, 4 Eimer für die zwölf Männer im Vordeck und 2 Eimer für die Lehrlinge aus Litauen. Gesamte Menge: 27 Eimer. Wenn das Wasser hoch gepumpt war, wurde der Pumpenschwengel abgeschraubt und der Erste verstaute ihn wieder unter seinem Kopfkissen.«349

Von einem anderen finnischen Schiff wird von täglich vier Litern Süßwasser pro Mann berichtet. So genügten die Tanks für alle Mann für eine Dauer von sechs Monaten. Die Wasserqualität war unterschiedlich. Es sollte vor dem Trinken abgekocht werden, doch nicht jeder Matrose hielt sich daran. Manchmal kam die Besatzung des Rettungsbootes, das zum Wasserholen losgeschickt war, »mit einem erschreckenden Material zurück: grün, stinkend und voller Schmutz, mit einem kleinen Fisch darin.«350 Zum Waschen der Kleidung und für die Körperhygiene wurde aus Gründen solcher Knappheit, so gut es ging, Regen­wasser gesammelt, was häufig zu Kämpfen um die Verteilung führte. Zum Trinken war 347 Buckley, John., HM Sloop Rinaldo 10.5.–31.12.1870, TNA, ADM 101/182. Noch bis in modernste Zeiten ist die Wasserqualität ein anhaltendes Thema der Arbeitsmedizin und Hygiene, zum Beispiel bezüglich toxikogener Schimmelbildung. und der Bekämpfung von Typhuserregern und anderer bakterieller Besiedelung des Wassers in den Tanks. Vgl.: Schwarz, Harald-Günther: Toxikologische Probleme an Bord, in: Mensch und Schiff, Kiel 1972, S.  73; ebenso: Hermann, Rolf: Trinkwasserversorgung auf Handelsschiffen, in: ebd., S. 89–94. 348 Roberts, William O., HM Sloop Nimrod 2.  Teil., 21.9.–30.9.1859, TNA, ADM 101/168/1B. 349 Weibust: Deep Sea Sailors, S. 88. (Original englisch). 350 Clements, Rex: A Gipsy of the Horn, London 1951, S. 185, zit. n. Weibust, ebd., S. 90.

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dieses Wasser im Übrigen nicht geeignet, weil es stets Salz enthielt, das von den Leinwänden, mit denen es gesammelt wurde, stammte, oder weil es mit der Gischt vom Meerwasser vermischt war.

4.13.7 Alkohol Über Jahrhunderte war eine, wenn nicht die einzige Möglichkeit, die erforderliche Trinkmenge sicher zu konservieren, sie in Form alkoholischer Getränke mitzunehmen. Viel ist darüber in einschlägigen Untersuchungen zur Versorgung an Bord geschrieben worden. Als eine naheliegende Faustformel ist immer wieder berichtet, dass auf französischen, spanischen und portugiesischen Schiffen mehr Wein, auf den Schiffen anderer Nationen mehr Bier getrunken wurde, ganz entsprechend den Gebräuchen an Land. Umgekehrt vermissten die Matrosen das jeweils gewohnte Getränk, wenn sie auf Seglern anderer Nationalitäten fuhren.351 In den untersuchten Medical Journals der britischen Schiffe tauchen beide Getränke ausschließlich in ihrer Verwendung als diätetische Verordnung auf, wenn ein Patient zur Verbesserung seiner Ernährung Wein oder Bier, meist Porter-Bier, in genau festgelegter täglicher Menge erhalten sollte. Was die Seeleute bei ihren Landgängen an Alkoholika zu sich nahmen, ist nur dann vermerkt, wenn eine der schwerwiegenden Folgen resultierte, die in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen im Abschnitt über das »Delirium tremens« besprochen werden. In allen Fällen von Alkoholmissbrauch sind hochprozentige Alkoholika genannt. Manchmal ist es Gin, häufiger aber Samshu (auch Samshoo geschrieben), ein Destillat aus vergorenem Soja. Es muss offen bleiben, ob bei diesen Fällen von Alkoholkonsum mit Intoxikationsfolgen tatsächlich immer nur Spirituosen im Spiel waren, oder ob dies die voreingenommene Annahme der Schiffsärzte war. Immer wieder werden in den ärztlichen Berichten Extra-Rationen von hochprozentigem Schnaps erwähnt, teils im Sinne einer Verteidigung der Zuteilung, 351 Der einfache italienische Rotwein hieß an Bord der englischen Schiffe »Blackstrap« (wörtlich »schwarzer Prügel«, in einem Wörterbuch von 1880 als »bleichrother Wein« übersetzt), und der spanische »Mistela«-Wein wurde an Bord zu »Miss Taylor« verballhornt. Für eine umfassende »Sozial- und Kulturgeschichte des Alkohols« siehe: Holt, Mack P.: Alcohol, Oxford, New York 2006, jedoch widmet sie sich der spezifischen Situation des Schiffes nur am Rande. Vgl. auch: Juba, Ferencz von: Adaptation der Seeleute in Jahrtausenden – Die erzwungene und freiwillige Anpassung an das Schiffsmilieu, in: Jahrbuch der Universität Düsseldorf 1973–1975, Düsseldorf 1976, S.  273–287. Er hält Bier für das früheste an Bord seetüchtiger Schiffe mitgenommene Getränk überhaupt, nachgewiesen auch schon in der sumerischen Seefahrt lange vor der Zeitenwende. Er nennt aus schwedischen Quellen des 15.  Jahrhunderts 3,5 Liter, aus dem 16.  Jahrhundert 4,5 Liter tägliche Bierration für jeden Matrosen.

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teils im Sinne einer aus ärztlicher Sicht befürworteten Begrenzung und Reduzierung, je nach Situation, von der berichtet wird. Männer der Mannschaft und auch Offiziere der Sanspareil, die beim Ausbau der Garnison in Kanton eingesetzt waren, erhielten laut Bericht des Schiffsarztes Mason »drei halbe Gill Rum, ausgegeben mit dem Mittagessen, vor der abendlichen Arbeitsschicht und ein drittes Mal nach ihrer Rückkehr von derselben.«352 Auch wurde offenbar eine Zeit lang der begehrte Extra-Kaffee vor dem Frühstück ergänzt durch ExtraSchnaps. Diese Gepflogenheit schränkt John Rose, Schiffsarzt der Nimrod, auf Tage mit nassem Wetter ein.353 Zum Grog bzw. generell zur traditionellen Ausgabe einer bestimmten Menge hochprozentigen Alkohols finden sich in den General Remarks der Magpie von 1873 eine elaborierte Abhandlung des Schiffsarztes mit einer kritischen Auseinandersetzung mit den physiologischen Wirkungen von Alkohol ins­besondere auf das Herz und eine »nach eigener zweieinhalbjähriger Erfahrung gebildeten« entschiedenen Verteidigung des Half Gill of Rum. (»Grog as served out to the Sailors holds a medium place & its influence is not easily ascertained. Hence so much diversity of opinion with regard to its physiological action, lauded as tonic, decried as toxic, praised as a stimulant, abused as narcotic &c I threw theory aside and formed my opinion from observed results. This opinion is, that its use is beneficial, it is not a hasty opinion since it took me 2½ Yr to arrive at.«) Mäßiger Grog-Konsum erhalte »Gewicht, Muskelmasse und psychische Kraft«, jedoch nur bei strikter Einhaltung einer Menge, die »leicht ausgeschieden« werden kann. (»I believe it beneficial because it assists the body to maintain its weight. I am of opinion the spirit ration should be continued, but as the use of Grog is habitual, daily its quantity should be strictly limited to what can be eliminated with facility.«) Der Autor wird verhindern wollen, als unkritischer Grog-Befüworter hingestellt zu werden, wenn er betont, dass »eine kleine Dosis die Grenze zwischen einer günstigen und einer ungesunden chemisch-toxischen Wirkung« überschreite. Deshalb ist er entschieden gegen Erhöhung der Rumration und ge­ either gen Austausch mit Bier, Porter-Brandy oder Porter. (»I would therefore n increase it in quantity, nor sanction an extra allowance, nor recommend the simple ½ gill of Rum to be exchanged for either beer, porter brandy or porter.«).354 352 Mason, Richard, HM Ship of the Line Sanspareil 1.1.1858–15.2.1859, TNA, ADM 101/166/1A. Ein »Gill« ist ein altes englisches Raummaß und entspricht 0,148 Liter. 353 Rose, John, HM Sloop Nimrod 2. Teil, 24.3.–28.5.1858, TNA, ADM 101/164/1B. 354 Mulvany, John., HM Sloop Magpie 1.1.–31.12.1873, TNA, ADM 101/189. Von den unzähligen Definitionsversuchen des Grog sei wegen ihrer Kürze die von Wolter genommen: »Grog: Rumgetränk, dessen Erfinder der englische Admiral Vernon ist. Seit 1750 ließ er auf seinen Schiffen täglich zur Stärkung der Gesundheit seiner Besatzungen Brandy ausschenken; erst später nahm man Rum, der mit Wasser verdünnt wurde. Da der Admiral nach dem groben Tuch seiner Kleidung (engl. grogram) »Old Grogy« genannt wurde, bekam sein Getränk den Namen Grog.« Zit. n. Wolter, Gustav Adolf: See und Seefahrt, Herford 1968, S. 220.

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Destillierte alkoholische Getränke konnten pur oder kombiniert mit Kaffee oder Zitronensaft Teil der ärztlichen Verordnung sein, zum Beispiel für die Matrosen bei schlechtem Wetter und für die Heizer bei besonders großer Hitze, wie bereits im Abschnitt 4.13.5 zitiert.355 Chinin in Schnaps wurde zur Behebung »allgemeiner Schwäche« bei der im Abschnitt 4.13.3 erwähnten klimatisch belastenden Transportfahrt des siamesischen Botschafters eingesetzt. (»Quinine with one half gill of rum and an equal quantity of water, by my recommendation were given each man from the tub at on about 8 PM on reaching Diamond­ Harbour.«)356 Auch der Schiffsarzt der Acorn betrachtet die Verabreichung von Extraportionen Rum als unproblematisch, ja sogar als guten Schutz gegen Fieber, wenn zusammen mit »Rinde« (womit »Chinarinde« als Chinin-Arznei gemeint ist) gegeben. Nicht ohne Spitze wird er mit seiner Einschätzung im Statistical Report für 1857 zitiert. »The Surgeon mentions that, in accordance with his instructions, he caused to be issued, during the months of May and June, to the boats’ crews employed in the night time, the usual allowance of bark and rum. This he thought was beneficial, as the men forming the boats’ crews were less frequently attacked than those who remained all night on board the ship.«357

Viel behandelt in der Sekundärliteratur ist die King’s Allowance beziehungsweise Queen’s Allowance, die tägliche Rumration für die Besatzung britischer Kriegsschiffe, auf die jedes Besatzungsmitglied ab dem 19.  Lebensjahr einen festen Anspruch hatte und mit der nicht zuletzt schwunghafter Handel getrieben wurde. Diese tägliche Ration Rum wurde notabene erst im Jahre 1970 abgeschafft.358 Schon seit 1870 erhielten nur noch die Offiziere (in deren Messe oftmals Wein und Brandy den Rum ersetzte) und ältesten Männer der Mannschaft den Rum pur, alle anderen in Form des verdünnten Grog. Die Ausgabe des »Schlückchens« (Tot), wie die 75 Milliliter reiner Rum hieß, »war für die Mehrheit, die ihn in Anspruch nahm, der höchste Moment des Tages.«359 Dass bei weitem nicht nur die Mannschaft, sondern auch die Gruppe der Offiziere 355 Rose, John, HM Sloop Nimrod 2. Teil, 24.3.–28.5.1858, TNA, ADM 101/164/1B. 356 Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 3. Teil, 1.1.–31.12.1860, TNA, ADM 101/167. 357 House of Commons 1859 (138-Sess. 2) Navy (health): Stat. Rep. für 1857, S. 105. 358 Schadewaldt berechnet eine Menge an Spirituosen von 140 bis 180 Milliliter täglich für die Zeit der King’s oder Queen’s Allowance ohne genaue zeitliche Eingrenzung. Sobald ein Seemann die Ration eines anderen abkaufte oder sich beim Purser, dem Proviantmeister, Schnaps hinzukaufte, konnten die Mengen davon abweichen. In diesem Aufsatz findet sich auch eine recht detaillierte Darstellung der geschichtlichen Entwicklung des je nach Land doch recht unterschiedlichen Umgangs mit alkoholischen Getränken an Bord. In einer früheren Arbeit kam der Autor auf die wesentlich höhere Tagesmenge von 0,25 Liter bis 0,5 Liter hochprozentiger Getränke. Vgl.: Schadewaldt: Alkohol an Bord, S. 62; ders.: Der Schiffsarzt, S. 2524. 359 Wells, S. 14.

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Alkoholmissbrauch betrieb, zeigt die Häufigkeit von Anklagen gegen Offiziere in diesem Zusammenhang. Zwischen 1870 und 1885 z. B. kam es bei 800 Offizieren, 16 Prozent der Offiziere insgesamt, zu Militärgerichtsverhandlungen, und »in der Mehrzahl waren sie wegen Trunkenheit und damit verbundenen Vergehen angeklagt«.360 In unseren Quellen findet sich bestätigt, was alle Autoren der Schifffahrtsgeschichte übereinstimmend feststellen: Der massive Alkoholmissbrauch fand weniger während des Dienstes an Bord, als vielmehr in der freien Zeit an Land statt, also in den Tagen und Wochen vor der Abfahrt, nach der Rückkehr und während der Landgänge unterwegs.361 Bei Winton lesen wir etwa: »Als jedoch Henry Capper in den 1860ern ein Junge auf der ›Inconstant‹ war, geschah es regelmäßig, dass Männer sich bis zu ihrer Rückkehr besinnungslos vollgetrunken hatten; man installierte eine Vorrichtung an der Groß-Rah, um sie an Bord zu hieven; dann ließ man sie im Speigatt fünf oder sechs Stunden lang ihren Rausch ausschlafen; wenn sie dann an ihre Arbeit zurückkehrten, wurde kein Wort mehr darüber verloren.«362

Kemp teilt einerseits die gleiche Haltung und Praxis mit, beschreibt aber auch das Sich-Betrinken an Bord: »Trunkenheit war immer noch eines der größten Probleme an Bord, und es gehörte nicht viel Scharfsinn von Seiten der Autorität dazu, der täglichen Ration eines viertel Liters Rum daran die Schuld zu geben, obwohl die meisten Offiziere die Erfahrung machten, dass auf Schiffen, auf denen Landgang erlaubt war, die Männer ausnahmslos durch die Kneipen zogen und am Ende ihrer Freiheit meist sturzbetrunken an Bord zurückkehrten. Sogar während der Zeit an Bord sparten viele Seeleute drei oder vier Tage lang ihre Rumrationen auf, um ab und zu einen ordentlichen Rausch zu haben, und es war keine Methode bekannt, diese Angewohnheit zu beenden.«363

Die Schiffsführungen der in der Karibik im Kampf gegen französische Streitkräfte stationierten Navy-Schiffe hatten lange Zeit gebraucht, um dahinterzukommen, dass die von den Frauen, die die Seeleute besuchten, mit an Bord gebrachten Kokosnüsse nicht etwa das als gesund erachtete Kokoswasser ent 360 Ebd., S. 29. 361 Auch in der aktuellen Literatur befassen sich viele Arbeiten mit dem Thema des Landganges und seiner extremen Bedingungen. Vielsagend ist schon die Fragestellung in: »Alcoholism among Seafarers … Why he drinks always but only sometimes gets drunk?« von­ Pereira, Carlos in: Actas del symposium sobre alcoholismo y toxicomanias en la gente de mar. Vigo, 4–6 noviembre 1987, Vigo 1988, S. 506–508. 362 Winton, S. 168. (Original englisch) Die »Speigatte« sind sowohl die Rinnen an Deck, als auch die Öffnungen im Schanzkleid, der über das Deck ragenden Bordwand, durch die Wasser nach außenbords ablaufen konnte. Im sehr wörtlichen Sinne wurde mit dieser Ortswahl vermutlich vorausschauend mit dem Erbrechen des Betrunkenen gerechnet. 363 Kemp: Sailor, S. 194. (Original englisch.)

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hielten, sondern Rum, der von den Frauen an Land eingefüllt worden war. (»The resultant drunkenness on board was completely inexplicable, and the practice continued for years before it was at last discovered.«)364 Im Statistischen Jahresbericht für 1858 wird das offenkundige Ausmaß wie auch die vermutete verborgene Auswirkung des Alkoholmissbrauches thematisiert: »Von den zwölf Todesfällen aufgrund von Delirium Tremens passierten acht oder zwei Drittel unter den Seeleuten in Kanton. Diese Männer erlaubten sich einen beängstigenden Gebrauch, oder besser Missbrauch des chinesischen Schnapses Samshu; es ist deshalb möglich, dass die reine Sterblichkeitsrate hier den wirklichen Verlust aufgrund der Auswirkungen dieses entwürdigenden Lasters nicht angemessen wiedergibt, denn – direkt oder indirekt – gibt es Grund zu der Annahme, dass es bei der Verursachung vieler Fälle von endemischen und klimabedingten Krankheiten mitbeteiligt war und andere von nicht-endemischem Charakter verstärkte.«365

Zwar spielt hier die besonders leichte Verfügbarkeit des chinesischen hoch­ prozentigen Getränkes Samshu für die an Land stationierten Marinesoldaten eine Rolle, jedoch lässt sich unschwer vorstellen, dass die Soldaten einen regen Austausch des Schnapses mit den Matrosen ihres jeweiligen Schiffes pflegten, und wahrscheinlich auch ein gewinnbringendes Geschäft. Im Zusammenhang mit der Häufigkeit körperlicher Bestrafungen kommt dem Alkoholmissbrauch eine besondere Bedeutung zu. Lavery liest aus den an die Admiralität eingereichten Protokollen der Jahre 1846 bis 1848, dass die Hälfte aller Strafen aufgrund Trunkenheit (drunkeness) ausgesprochen wurden.366 Er nimmt an, dass die (kleineren) Mengen des an Bord der Navy-Schiffe ausgegebenen Weines und Bieres gegenüber dem wesentlich stärker berauschend wirkenden Rum das viel geringere Problem gewesen seien. Die Menge des Standard Naval Drink blieb problematisch, auch nachdem 1825 die tägliche Ration von einer halben auf eine viertel Pinte (etwa ein viertel Liter) reduziert worden war. 1847 kam eine Verordnung der Admiralität, wonach die Rum­ration eines Quarter of a Pint durch eine halbe Unze Tee und zwei Unzen Zucker ersetzt werden konnte. Es wurde aber ausdrücklich betont, dass diese Wahl »vollkommen freiwillig« geschehen solle.367 Ein Ziel der Reformversuche war, den Weiterverkauf der eigenen täglichen Rumration zu unterbinden. Mal sollte der Koch einen Teil des Rums verteilen und ein Auge darauf haben, mal sollten die Männer die Tagesration gleich bei der Austeilung auf einmal und komplett austrinken.368 364 Ebd., S. 145. 365 House of Commons 1858 (473) Navy (health): Stat. Rep. für 1856, S. 126–127. 366 Lavery: Royal tars, S. 326. 367 Ebd., S. 326–327. 368 Ebd.

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Schließlich gibt es aus der Mitte des 19.  Jahrhunderts einige Beispiele von Alkohol­missbrauch unter den Schiffsärzten. McLean nimmt an, sie hätten leichten Zugang zu Alkohol gehabt und seien unter besonders wenig Kontrolle gestanden. Auffälliges Verhalten durch Alkoholrausch sei unter den Offizieren vor allem beim Landaufenthalt streng verfolgt und auch durch Militärgerichte bestraft worden. Herabsetzung der Besoldung, Strafversetzung ganz weg von Schiffen und auf die geringste Half Pay-Bezahlung und zusätzlich Platzierung an das Ende der Warteliste für einen neuen Einsatz seien gefürchtete Bestrafungsmaßnahmen gewesen.369 Auf allen Schiffen, die Ostasien bereisten, war der Samshu als eine der Waren, die von den Proviantbooten (den Bumboats) gekauft wurden, bestens bekannt. Diese Bumboats waren kleine Ruderboote, die in den meisten tropischen Häfen die vor Anker liegenden Tiefwassersegler umschwärmten und von denen, wie Hugill schreibt, »mit lauter Stimme ihre Waren angepriesen wurden – Früchte, Schnaps, Kurioses etc., für die der Seemann ein Hemd oder ein Stück Seife eintauschte. Black dog white monkey! wurde oft gerufen.«370 Den Samshu beschreibt Hugill aufgrund vieler Berichte und vermutlich auch aus eigener Erfahrung als »sehr feurig und stark«.371 In der Handelsmarine fand Weibust die bis in das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts reichende wöchentliche Ausgabe von hochprozentigem Alkohol dokumentiert, oft zusammen mit der Wochen-Ration Zucker und Butter. Von der »Carl av Hammerland«, einem finnischen Schiff, berichtete ihm ein Zeuge: »Ein halber Liter Schnaps wurde jede Woche ausgeteilt«.372 Wer weiß, wie lange noch in dem einen oder anderen Frachtschiff nach anstrengendem Manöver der Brauch des »Besanschot an!« (im Englischen »Splice the main braces!«) gepflegt wurde. Dies war auf Segelschiffen die Order an die Mannschaft, nach einem schwierigen Segelmanöver zusammenzukommen, um einen Becher Hochprozentiges ausgeteilt zu bekommen. Nicht zu vergessen ist, dass es seit etwa 1840 parallel zu den Problemen des Alkoholkonsumes an Bord die Temperance Movement gab, mit »Mäßigungs­ vereinen«, die mehr oder weniger heftig gegen den hohen oder generell gegen jeden Alkoholkonsum an Bord agitierten. Wo sie erfolgreich waren, gab es Kaffee und Sirup an Stelle von Schnaps und Bier.373 Clark nennt in seiner Beschrei 369 McLean: Surgeons, S. 36–37. McLean benennt die Quellen und die Umstände nicht. 370 Hugill: Shanties, S. 592. 371 Ebd. 372 Weibust: Deep Sea Sailors, S. 89. 373 Zur Geschichte der Temperance Movement, die unter Führung von »Aggie« Weston (1840–1918) im offiziellen Rahmen der Royal Temperance Society seit 1873 im Kampf gegen den Alkohol nachhaltige Erfolge verbuchen konnte, siehe Winton, S. 211–226; ebenso: Wells, S. 28–30. Agnes Weston hat eine leidenschaftliche Autobiographie mit der Beschreibung ihres Lebenswerkes hinterlassen: Weston, Agnes: Mein Leben unter den Blaujacken, Hamburg

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bung der amerikanischen Klipper-Seefahrt ein generelles Alkoholverbot auf diesen schnellen amerikanischen Schiffen. Versicherungen hätten um 10 Prozent niedrigere Prämien angeboten, wenn die Bedingung der Alkoholabstinenz erfüllt gewesen sei. Grog sei auf den amerikanischen Schiffen gänzlich unbekannt gewesen.374

4.13.8 Tabak Neben alkoholischen Getränken war Tabak das wichtigste Genussmittel des Seemannes. Tabak gehörte wie seetüchtige Kleidung und etwas Werkzeug zur Grundausstattung, die von den üblichen zwei Monatsheuern Vorschuss gekauft wurde, bevor der Seemann überhaupt an Bord ging. Und Tabak war der Stoff, der auf der Reise nachgekauft und eingetauscht wurde, untereinander ebenso wie aus der »Slopkiste« des Kapitäns. Und es war der Stoff, für den es, wenn wirklich alle Vorräte aufgebraucht oder alles Geld und alle Tauschobjekte her­ gegeben waren, die verschiedensten Varianten erfunden wurden. »Ohne Pfeife ist ein rechter Seemann nicht zu denken.« »Tabak schmeckt nirgends so gut wie in der salzigen Luft an Bord«. Diese und ähnliche Sätze sind in allen Reise­ berichten und Lebenserinnerungen der Deep Sea Sailors zu finden. Solange in den eigenen Reserven vorhanden oder an Bord verfügbar und kaufbar, war es Kautabak und Pfeifentabak, der genutzt wurde. Der an Bord aus der Slop Chest verkaufte Tabak war in der Regel Plug Tobacco, am ehesten mit Pfriemtabak zu übersetzen, der gleichermaßen zum Kauen und Rauchen verwendet wurde. Zigarren wurden des viel höheren Preises wegen vor allem vom Kapitän und vielleicht noch von den Steuerleuten beziehungsweise den Offizieren geraucht. Nur diesen war im Übrigen erlaubt, unter Deck zu rauchen, die Mannschaft musste sich dafür an Deck begeben. Gefürchtet war die Feuer­ gefahr. Weitaus am häufigsten wurde der Tabak gekaut, wobei dieses sofort zu unterbleiben hatte, sobald ein Offizier mit dem Mann sprach. Dann muss es eine Technik gegeben haben, mit der gleichzeitig mit dem Abnehmen der Mütze der Brocken Tabak elegant in dieselbe hineingespuckt wurde. Und »war die Konversation beendet, kehrten Mütze und Priem mit ein und derselben Bewegung an ihre rechtmäßigen Plätze zurück«. (»When conversation ended cap and quid were returned to their rightful places with one and the same movement.«)375 1913. Die »Mother of the Navy« ist in Großbritannien eine hochgeachtete Persönlichkeit geworden und geblieben. Die auf sie zurückgehenden Seemannsheime sind von großer Bedeutung, und 1940 wurde eine Fregatte Weston-super-Mare getauft, die von den Seeleuten allerdings prompt auf Aggie-on-Horseback umgetauft wurde. Kemp: Oxford companion, S. 932. 374 Vgl.: Clark, Arthur Hamilton: The Clipper Ship Era, New York 1911. 375 Wells, S. 16.

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Kautabak, auch Navy Cut genannt, gab es in »englischen Platten« zu einem halben Pfund, aber auch in Riegeln zu einer Unze und noch in vielen anderen Größen und Formen zu kaufen. Mundgerechte Stücke wurden abgebrochen, abgeschnitten oder abgebissen. Auch nach Wossidlo war das Kauen weiter verbreitet als das Rauchen.376 Es gab berühmte Marken. Auf den englischen Schiffen waren es zum Beispiel die Tabake mit den Namen Buckskin, Lucky Hit, Faithful Lover und Fair Maid.377 Der ausgekaute Tabak wurde oft nicht ausgespuckt und weggeworfen, sondern in getrocknetem Zustand in der Pfeife geraucht. Von Baines gibt es eine eindrucksvolle Erinnerung an den stimulierenden Effekt solcher Rauchware: »Es gab dir eine kolossale Empfindung, wenn du das auf leeren Magen inhaliert hast, sagen wir, wie Meskalin. Dieser Stoff verschaffte dir Visionen, ich hatte Halluzina­ tionen, hörte regelrecht Stimmen, die sich miteinander unterhielten und die mich hypnotisierten, oben im Rigg. Nach ein paar solchen Zügen stolperst du über alles und zitterst wie ein Blatt, dann bricht dir kalter Schweiß aus, dann lässt die Droge nach und du bist in Ordnung. Ich hatte nie irgendwelche krankhafte Nachwirkungen und habe immer noch keine.«378

Ging der Tabak auch nach doppeltem Gebrauch vollends zur Neige, wurde alles Mögliche als Ersatz genommen: altes Kabelgarn aus Manila oder Hanf, ge­ trocknete Teeblätter (sicherlich bereits aufgebrühte), Kaffeesatz, Seegras aus den Matratzen, getrockneter Seetang und schließlich Mischungen aus sämtlichen Materialien. Clements erinnert sich an Seeleute, die getrocknete Tinten­ fischringe kauten, wenn ihnen der Kautabak ausgegangen war. Die beliebteste Mischung sei, so schreibt er, »eine Kombination von Tauwerk, Kaffeesatz und die Kruste aus dem Schweinekübel gewesen, kleingerieben und zu gleichen Teilen vermischt. Wenn es auch nicht unbedingt das Aroma von bestem Virginia hatte, so erfüllte es doch seinen Zweck, und wir waren dankbar dafür.«379 Schlussfolgerungen Eine alte Erkenntnis besagt, dass der Seemann »seinen Bauch mehr liebt als irgend etwas anderes« und dass schlechte Versorgung mit Essen und Trinken kein geringes Moment bei Meutereien oder zumindest schlechter Stimmung an Bord darstellte.380 Allen Beteiligten war dies klar, weshalb, wenn auch an der Qualität gerne gespart wurde, Seeleute nur in sehr seltenen Fällen hungern mussten. Ge 376 Wossidlo, S. 111. 377 Weibust: Deep Sea Sailors, S. 95–96, und Hugill, Shanties, S. 593. 378 Baines: In Deep, S. 137. (Original englisch.) 379 Clements, Rex: A Gipsy of the Horn, London 1951, S. 233, zitiert in Weibust: Deep Sea Sailors, S. 96. 380 Lavery: Royal tars, S. 340.

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rade die Verpflegungssituation wurde in den hier untersuchten Jahrzehnten wesentlich verbessert, wenngleich modernisierte, verbesserte Konservierungstechnik neben der alten, ernährungsphysiologisch ungenügenden weiter­bestand. Trat ein Vitaminmangelzustand auf, was bei einseitiger Ernährung und schlechtem Proviant auf den weiten Überseereisen jederzeit geschehen konnte, war eine begleitende psychopathologische Symptomatik vorprogrammiert. Die Erhellung der biochemischen Natur dessen, was wir »Vitamine« nennen, ja der ganze Vitaminbegriff erfolgte erst ein halbes Jahrhundert nach unseren Medical Journals. Auf die Bedeutung des Alkoholkonsumes wird in der Auswertung des Abschnittes 5.4 »Delirium tremens« im zweiten Hauptkapitel ausführlich eingegangen. Alkohol war ständiger Begleiter in der täglichen Arbeit, Stimulans in der Leisure Time, der Freizeit, und Mittel zum Zweck des letztlich absichtlich herbeigeführten Rausches beim ersehnten Landgang. Wesentlich unauffälliger war die Rolle des Tabakkonsumes als »Tranquilizer«, ohne dass im 19.  Jahr­ hundert bereits ein Bewusstsein für die gesundheitsschädigenden Spätfolgen dieses Genuss- und Suchtmittels vorhanden gewesen wäre. Von Opium als damals gerade in Asien verbreitete Droge lesen wir in den Medical Journals nur in Form von Berichten aus einer exotischen Welt, nicht in Form einer Problemanzeige an Bord. In der modernen Seefahrt ist der Drogenkonsum dagegen ein ebenso bedeutendes Thema wie es der Alkoholmissbrauch nach wie vor ist.

4.14 Freie Zeit an Bord Neben den oben dargestellten, ritualisiert und gleichzeitig brutal ausgeführten Kämpfen mit Boxen, Ringen und dem Einsatz von Messern, die zweifellos alle der unmittelbaren Aggressionsabfuhr dienten und dabei gleichzeitig Grenzen zu setzen vermochten, gab es auch harmloses Spielen. Brettspiele, zum Beispiel das Damespiel, waren verbreitet. Kartenspiele waren unterschiedlich, einerseits als besonders einfaches Spielgerät, andererseits auf vielen Schiffen abergläubisch als verpöntes »Teufelszeug« angesehen. Solcher Auffassung gemäß konnten sie das Schlimmste verursachen, was es für ein Segelschiff gibt: Ungünstigen Wind. Geschichten, möglichst genau oder stark verändert weitererzählt oder vollkommen neu erfunden, eben das Story Telling, das »Spinnen von Seemannsgarn«, dessen Begriff und Bedeutung auch in die Sprache des Binnenlandes eingedrungen ist, gehörte gewiss zum Alltag aller Schiffe. Auch stille Lektüre wurde genutzt, am liebsten in Form von Briefen der Angehörigen. Sie werden, in der Seekiste gut verwahrt, so manches Mal rund um den Globus gesegelt sein. Sehr viel regelmäßiger als auf den Handelsschiffen gab es auf den Schiffen der Kriegsmarinen Bücher. Denn immerhin schon im Jahre 1838 hatte die britische Admiralität der Ausstattung ihrer Seeschiffe mit Büchereien zugestimmt. Große Schiffe bekamen demnach 276, kleine Schiffe 156 Bücher, die überwie-

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gend religiöser oder erzieherischer Natur waren. Verschiedene Gesellschaften und Privatpersonen kamen für die Anschaffung auf. Der geborene »Bibliothekar« an Bord war natürlich der Pastor, sofern es ihn auf dem jeweiligen Schiff gab.381 Spencer Wells empfiehlt in seinem »Scale of Medicines«, einem Handbuch zur praktischen Medizin an Bord, zur Aufrechterhaltung der Disziplin Spiele wie Single Stick, Sling the Monkey und Ship Billiard. Damit sind sicher einige der Spiele genannt, die Mitte des 19. Jahrhunderts an Bord der Schiffe bekannt und gebräuchlich waren. Er fordert im Übrigen dazu auf, die Mannschaften zum Lesen anzuregen.382 Friedel erwähnt in seiner Übersichtsarbeit von 1866 zur britischen Marine, dass ein »Wettrudern« stattgefunden habe. Anlass für diese Erwähnung ist der traurige Umstand, dass es dabei zu einem tödlichen Zwischenfall durch Herzmuskelruptur »bei zu vermutender Herzmuskelhypertrophie und Dilatation« gekommen war.383 Dies geschah auf der ostindisch-chinesischen Station und könnte sich damit auf eines der von uns untersuchten Schiffe beziehen. Den zugehörigen Schiffsnamen nennt Friedel leider nicht. In den erhalten gebliebenen Medical Journals taucht der Vorfall nicht auf. Die volkskundliche Forschung hat überreiches Material zum Thema der Freiwache, der arbeitsfreien Zeit an Bord, gesammelt.384 Am zahlreichsten sind die Berichte von den derben, lauten Spielen. So beschreibt Wossidlo das »Schin 381 Vgl.: Winton, S. 25. In der französischen Marine gab es eine Liste der an Bord mitzuführenden Bücher seit 1827. Zunächst waren es allerdings nur nautische Fachbücher, 1858 ergänzt um unterhaltende Literatur. Die US Navy ließ seit 1828 für Offiziere 36 Bücher, seit 1841 für die Mannschaft 14 Bücher an Bord mitführen. Vgl.: Richard, Hélène: Shipboard Collections, in: Hattendorf (Hg.): Oxford encyclopedia 2007, Bd. 2, S. 364–366. 382 Spencer Wells: The Scale of Medicines, S. 57–58. Single Stick ist das zu dieser Zeit nur noch spielerisch geübte Stockfechten. Bei Sling the Monkey hing ein Mann an einem Tau und wurde von den Mitspielern mit deren verknoteten Halstüchern geschlagen, während er gleichzeitig versuchte, eines der Tücher zu schnappen. Wem er das Tuch wegnehmen konnte, war der Nächste »Affe« am Tau. Ship Billiard meint das Billiardspiel an einem Tisch, der durch seine kardanische Lagerung die Schiffsbewegungen nicht mitmacht. (Mündliche Mitteilung Frau Doreen Powell, Windsor). Leider nur für das vorausgegangene Jahrhundert hat Rediker: Between the devil and the deep blue sea, S. 307 die Häufigkeit von Lese- und Schreibfertigkeit in der Mannschaft von Handelsschiffen errechnet, wobei die Tatsache, dass diese aus der Fähigkeit, ein Dokument mit ganzem Namen zu unterschreiben abgeleitet wurde, die Aussagekraft einschränkt. Dass Kapitän, Quartiermeister und Maate und auch der Schiffsarzt zu 100 Prozent lesen konnten, verwundet nicht. Die Deckoffiziere wie Zimmermann und Kanonier konnten es zu 80 %, die Matrosen (die nicht weiter aufgeschlüsselt sind), und die ohne Angaben Angeheuerten konnten es zu knapp 70 %. Die zur Ausbildung an Bord Befindlichen bilden mit 60 % das Schlusslicht. Dies könnte bedeuten, dass an Bord durchaus auch Lesen und Schreiben gelernt wurde, zumindest nebenbei. 383 Friedel, S. 154. 384 In der deutschen Literatur: Wossidlo; Stammler; Weibust: Deep Sea Sailors; Schmidt: Von den Bräuchen. In der englischen Literatur: Lavery: Royal tars; Jolly, Rick: Jackspeak,

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kenklopfen«, das an Bord »Frischbackspiel« oder »Frischwasserspiel« hieß, und bei dem ein Mann mit verbundenen Augen erraten musste, wer von der Mannschaft ihm gerade mit der flachen Hand auf das Hinterteil geschlagen hat. Gegenseitiges Hochstemmen, Tauziehen und Fingerhakeln sind weitere solche Spiele mit körperlichem Kräftemessen.385 Hochklettern an straffen Seilen, ausschließlich unter Einsatz der Hände, oder das Hochgezogenwerden an einem Tau, welches nur mit den fest zusammengebissenen Zähnen gehalten wird, konnten schon recht gefährliche Spiele sein, die es auf Segelschiffen gleichwohl nicht selten gab. Mannschaftsweise Wettkämpfe boten sich natürlich zwischen Steuerbord- und Backbordwache an, die sehr vergleichbar oder regelrecht gleich stark waren, weil sie dadurch zustande kamen, dass zu Beginn einer jeden Reise der Kapitän und sein Erster Steuermann (oder Offizier) abwechselnd je einen Mann auswählten.386 Einig ist sich die volkskundliche Forschung in dem Punkt, dass, anders als in der Handelsmarine, in der Kriegsmarine nicht oder nicht viel gesungen wurde. Hier und dort findet sich die Begründung, dass die Befehle für Segelmanöver nicht überhört werden durften, doch kommen sehr tiefsitzende emotionale Motive viel eher in Betracht. Man sang einfach nicht auf einem Man-of-War, es war unmilitärisch. Sollten es schon die Seesoldaten, die Marines, nicht, und hatten diese auch gar keinen Anlass, »Arbeitslieder« zu singen, da sie ja nicht an den körperlich schweren Segelmanövern beteiligt waren, so war es gewiss nicht zugelassen, dass neben diesen Männern die Gruppe der Matrosen ihre Arbeitsund Freizeitlieder anstimmten. An dieser Stelle seien einige Aspekte, die Konkurrenz zwischen der Kriegsund der Handelsmarine betreffend, genannt. Hier, in der Handelsschifffahrt, sang man, dort, in der Kriegsmarine, sang man nicht. Hier durfte man seine Kiste keinesfalls abschließen, denen dort wurde es nachgesagt, selbst wenn sie gar keine Kiste (sondern ihre Seesäcke) hatten. Hier musste mit aller Kraft und wirklich jeder Hand angefasst werden, um die enormen Massen zu bewegen und Widerstände zu überwinden, dort war eine Überzahl an Menschen an Bord, die gezielt beschäftigt werden musste. Und schließlich waren die Aufgaben denkbar unterschiedlich, hier der Wirtschaftsverkehr, dort die militärische Aufgabe.387 London 2011; Kemp: Sailor; Winton: Hurrah; Smith, Peter Charles: Per mare per terram, St. Ives, Hunts. 1974; Haines: Life and Death. 385 Wossidlo, S. 117–122. 386 Weibust: Deep Sea Sailors, S. 126–131. 387 Ohne ausdrücklichen Vergleich sind die wichtigsten sozialen Aspekte des Shipboard Life sowohl für die Handels- wie für die Kriegsmarine dargestellt in: Gerstenberger, Heide: Shipboard Life: Commercial Vessels, in: Hattendorf, J. (Hg.): The Oxford encyclopedia of maritime history, New York 2007, Bd. 3, S. 545–550; dies.: Shipboard Organization: Commercial Vessels, ebd., Bd. 3, S. 551–562 und Davies, James O.: Shipboard Life: Naval Vessels, ebd., Bd. 3, S. 540–545; ders.: Shipboard Organization:Naval Vessels, ebd., Bd. 3, S. 562–566.

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Der Alltag an Bord

Teilweise entsprach dem für die Handelsschiffe so typischen Shantygesang als Arbeitsgesang auf den Kriegsschiffen die Musikkappelle als Teil des militärischen Zeremoniells. Für die Kriegsmarine stellt das Jahr 1847 ein wichtiges Datum dar, als nämlich der Bandsman, der Musiker, als fester Posten bei den Marinesoldaten eingeführt wurde. Schon lange vorher hatten die Seesoldaten allerdings auch ohne ausdrücklich formulierten Auftrag die Musiker an Bord der Schiffe gestellt.388 So war also Musik durchaus eine bedeutende Begleiterscheinung der Arbeit wie auch der Freizeit auf Schiffen.389 In den Fallberichten der hier untersuchten Journale taucht mehrfach die Bezeichnung Bandsman, also Musiker, Mitglied einer Musikkapelle, auf. Als weiteren Hinweis auf deren Aktivität findet sich im Bericht der Magpie von 1873 der Hinweis, dass abends der Fiddler, der Geigenspieler, geholt wurde und das Vordeck nachts mit Singen und Tanzen belebt worden sei. (»It is a very remarkable fact that the men are always in best spirit after a hard day’s work they get up the fiddler and music & dancing enliven the forecastle at night whereas they’ve little or nothing to do for some days they are dull dispirited and silent at night.«)390 Stan Hugill, der Nestor der Erforschung von Shanties, stellt fest: »Auf See war die Geige stets das beliebteste Instrument für die Hundewache, und in Schiffen der Königlichen Marine war der Geiger, der ›Fiddler‹, Teil der Schiffsbesatzung. Kapitän Frank Shaw schreibt, dass in der Royal Navy Geiger mitgenommen worden seien, um die Blutzirkulation der Männer in Gang zu halten und so Krankheiten vorzubeugen, zumindest in der Zeit des Skorbut. Es war eine Art Skorbutheilmittel wie Zitronensaft.« Und aus persönlicher Erinnerung fährt er fort: »Mein Vater erzählte mir, dass selbst noch in seiner Zeit, als die großen Schiffe der Navy eine ganze Musikband unterhielten, die kleineren Schiffe an ihren Geigern festhielten.«391

Auf den Seglern für den Handel, die Holz, Getreide oder andere Waren über die Meere fuhren, war keine feste Gruppe der Matrosen eigens für die Musik abgestellt. Umso eher wurde improvisiert. Fou-Fou-Band wird eine wäh 388 Smith: Per mare per terram, S. 170. 389 Einen kurzen Überblick zur »Musik des Seemannes« mit bibliographischen Angeben eher aus nordamerikanischer Sicht gibt Lloyd Webb, Robert: Seafarers’ Music, in: Hattendorf (Hg.): Oxford encyclopedia 2007, Bd. 2, S. 600–604, aus europäischer Sicht: Proctor, D.; Baker, R.: Music of the sea, Greenwich London 2005; Brozio, U.; Mittelstädt, M.: Rolling Home, Hamburg 2002. Als wichtigste Liedsammlungen werden immer wieder die von Danpier 1690, Forrest 1776, Smith 1888, Wossidlo 1988, Lloyd Webb 2007 genannt. Die Shanties lassen sich nach ihrer Form, ihrer Funktion und ihrer verborgenen psychologischen Thematik unterscheiden. Letztere ist vor allem die Bewältigung von Verlustangst, von Aggression und von sexuellem Triebstau. 390 Mulvany, John., HM Sloop Magpie 1.1.–31.12.1873, TNA, ADM 101/189. 391 Hugill: Shanties, S. 17–18. (Original englisch) Gut verfügbar ist von den drei großen Liedsammlungen Stan Hugills die deutsche Übertragung von »Songs of the Seas«: Hugill, Stan: Windjammerlieder, Düsseldorf 1978.

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Freie Zeit an Bord

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rend der Reise improvisierte Band genannt, deren Instrumente auf jedem Schiff aus gewöhnlich vorhandenem Arbeitsmaterial hergestellt werden konnten. Bei­ Learmont ist eine solche beschrieben: Ein leeres Mehlfass, mit eingeweichter Leinwand überspannt, war die Trommel. Ein Marlspieker (der Stahldorn zum Spleißen von Tauen) war die Triangel, ein papierüberspannter Kamm das überall bekannte »Kazoo«-Instrument. Auch hier (wie bei den Shanties) zählte man vor allem auf die musikalischen Iren.392 Bei Wossidlo in seinem Material zur mecklenburgischen Schifffahrt finden sich die gleichen und ähnliche, abgewandelte Instrumente. Auf der Ostsee hieß eine solche Band einfach »kleine Kapelle«.393 Beliebt war überall der Step-Tanz. »Bi’t Steptanzen pfleegen de Been as ’ne Maschien. Dat Liew röögt sik, nich bloß de Been.«394 Weibust zitiert Quellen für Tänze und ganze Tanzshows an Bord. »Matrosen waren gelenkige Kerle und konnten clowneske Kunststücke vorführen«.395 Getanzt wurde, notgedrungen, miteinander, unter Männern. Schlussfolgerungen Dass die freie Zeit mit ihren vergnüglichen Aspekten eine große Bedeutung für die psychische Verfassung hatte, liegt auf der Hand. In diesem Abschnitt finden wir durchaus einige Klischees des Seemannlebens bestätigt. Sie haben ihren realen Kern und Hintergrund: Das Geschichtenerzählen, das Singen, das Kräftemessen im Wettkampf. Echten Rückzug in eine private, geschützte Sphäre gab es so gut wie nicht. Solche »kleine Fluchten« finden sich allenfalls in persönlichen Erinnerungen und in der belletristischen Bearbeitung. Zentrum des Lebens an Bord war die Arbeit. Die reine Freizeit- und Vergnügungs-Schifffahrt war Mitte des 19. Jahrhunderts noch kaum existent. Die Arbeit war aber unterbrochen von physischer und psychischer Erholung und Entspannung. In der Phantasie, und dies spiegelt sich in vielen Erinnerungen erfahrener Seeleute wieder, waren viele problematische, negative, angstbesetzte Aspekte von positiven Aspekten gerahmt. Der Seemann zog aller Wahrscheinlichkeit nach viel Kraft für seine harte Arbeit aus den wenigen schönen freien Stunden.

392 Learmont, James: Master in Sail, London 1954. 393 Wossidlo, S. 95–101. 394 Ebd., S. 122. 395 Weibust: Deep Sea Sailors, S. 134–135.

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Der Alltag an Bord

4.15 Baden im Meer Erfrischten sich die Seeleute in tropischer Hitze durch einen Sprung in das kühlende Meer? Konnten sie überhaupt schwimmen? In der einschlägigen Literatur wird regelmäßig eher ungeprüft davon ausgegangen, dass der Seemann traditionell von einer abergläubisch begründeten Furcht vor dem tiefen Wasser beseelt war. Dementsprechend müssten die meisten oder zumindest sehr viele nie schwimmen gelernt haben. Im 19. Jahrhundert war Schwimmen als Sport oder gar als schulisch vermittelte Fertigkeit noch kein Thema. Von den zaghaften Versuchen, wenigstens in den Schulen der Royal Navy ab Mitte des 19. Jahrhunderts Schwimmunterricht einzuführen, und von der gar nicht abergläubischen, sondern sehr lebenspraktischen Befürchtung des Einsatzes der Schwimmkunst für das Desertieren erfuhren wir im Abschnitt 4.5.3 »Alter der Besatzung«. Stammler sieht in der Weigerung der Seeleute, schwimmen zu lernen, eine Art Galgenhumor am Werk. Es sei »ja doch zwecklos, schwimmen zu können, wenn man bei hoher See über Bord ging«.396 Die gleiche Haltung, allerdings in harmloserem Zusammenhang, vermutet er hinter dem ungeschriebenen Gesetz, sich während einer Kap Hoorn-Umrundung »von 50 Grad zu 50 Grad« nicht zu waschen. Das dauernde Durchnässt-Werden ließ es sinnlos erscheinen. In unseren Quellen wurde die Information, wer schwimmen konnte, nicht systematisch festgehalten. Bekannt wurde sie wohl nur aus konkretem Grund, und dieser war stets dann gegeben, wenn ein Mann ertrunken war. Wie die Fallberichte im Abschnitt »Ertrinken« zeigen, ist in drei von 16 Fällen von Ertrinken ausdrücklich vermerkt, dass der Betroffene habe schwimmen können, einmal davon sogar, dass er ein guter Schwimmer gewesen sei. Zweimal ist ausdrücklich die Tatsache festgehalten, dass es sich um einen Nichtschwimmer gehandelt habe. In den restlichen zehn Fällen ist hierzu keine Angabe gemacht. In der Person des Surgeon Mulvany finden wir einen überzeugten Befürworter des Badens im Meer. In seinem Journal von Bord der Magpie aus dem Jahre 1873 finden wir das erfrischende Bad im Meer in den höchsten Tönen gelobt. Wir lesen in seinen General Remarks, dass »nachts und morgens« zum Baden ermuntert worden sei, wann immer »keine Gefahr von Haien erkennbar« gewesen sei. (»Bathing was encouraged night & morning wherever no danger from sharks was apprehended.«) Großzügig sei dem Wunsch nachgegeben worden, vor Bahrain, Muskat und Sansibar im Meer zu baden, und es sei von »höchstem gesundheitsfördernden Effekt, physisch und mental« gewesen. (»It was indulged in freely at Bahrain, Muskat & Zanzibar & with the most salutary effects physical & mental.«) In einem eigenen Abschnitt mit dem Titel »Bathing« führt er Überlegungen an, wonach der Sprung in das Wasser durch einen leichten Schock 396 Zit. n.: Stammler, Sp. 1831. Siehe als »Bade-Unfall« auch 18. Fall »Drowned«.

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Baden im Meer

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eine Spannung in den Nerven erzeuge, die Muskulatur beim Schwimmen durch die Beanspruchung sämtlicher Muskeln besonders gut ernährt werde und insgesamt eine Stärkung des Körpers resultiere. Die Haut werde gründlich gereinigt und ihre temperaturregulierende Funktion durch Schwitzen verbessert. Ganz pädagogisch und, wenn man so will, neuropsychiatrisch denkt er an »ein gesundes Hirn und einen gesunden Verstand« (»cerebrum sanum & mens sana«) durch die Erwartung und Vorfreude auf das Vergnügen, morgens und abends in das Wasser springen und mit den Wellen kämpfen zu können. (»The delights of splashing about in the water & the consciousness of power which bathing with the waves inspires.«)397 Die von Surgeon Mulvany erwähnte Gefahr, von Haien angefallen zu werden, wird nicht leicht abzuschätzen gewesen sein. Immer wieder stoßen wir auf diese Befürchtung. Der Schiffsarzt der Pylades warnt vor dem Baden in den Gewässern vor Siam. Er behandelt in seinem Journal giftige Wasserschlangen, giftige Fische und »im Wasser wimmelnde gefräßige Haie«. (»… it appears it would be as dangerous to dispatch a fishing party of the ship’s company as for them to bathe, without the protection of a sail in waters abounding with voracious sharks.«)398 Die Haigefahr ist auch im Reisebericht der »Novara« aus den Jahren 1857 bis 1859 dokumentiert und sei nochmals zitiert: »Bald hätten wir am Neujahrstage ein großes Unglück erlebt. Ein Junge, welcher auf den Wanten herabkletterte, fiel über Bord. Das Meer war allerdings ruhig und still, aber schon am Morgen des selben Tages hatten wir viele Haifische, jene fürchterlichen Feinde des Menschen im Ocean, gesehen, und das Leben des armen Jungen schien ernstlich bedroht. Im nämlichen Augenblicke, wo der Junge ins Meer fiel, wurde die Rettungsboje losgeworfen, ein Boot gestrichen und alle Maßregeln zur Rettung getroffen. Obschon derselbe des Schwimmens kundig war, benahm er sich doch, wahrscheinlich aus Schrecken, höchst ungeschickt und wäre unzweifelhaft ertrunken, wenn nicht der zweite Hochbootsmann und zwei andere Matrosen ins Wasser gesprungen und ihm muthig zu Hülfe geeilt wären. Mittlerweile befand sich auch das Boot im Wasser, so daß der Gerettete und die Retter ohne weitere Schwierigkeiten an Bord gebracht werden konnten.«399

Bei Weibust finden wir für das ausgehende 19.  und beginnende 20.  Jahrhundert bestätigt, wie hoch die Gefahr durch Haie in tropischen und subtropischen Gewässern eingeschätzt wurde. Die Offiziere und Steuerleute hatten demnach ihre Not damit, das Verbot für die Mannschaft durchzusetzen, trotz der großen Versuchung nicht zur Abkühlung in das Meer zu springen. Wo aber in Häfen gefahrloses Baden möglich war, wurde es in der Freizeit regelmäßig genutzt.­ (»Bathing, swimming and swimming tournaments were always popular, but the 397 Mulvany, John., HM Sloop Magpie 1.1.–31.12.1873, TNA, ADM 101/189. 398 Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 3. Teil, 1.1.–31.12.1860, TNA, ADM 101/167. 399 Von Wüllerstorf-Urbair: Reise der Novara, Bd. I, S. 257.

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Der Alltag an Bord

men were often forbidden to jump into the water on account of the large numbers of sharks occurring in tropical and subtropical waters. With the men perspiring heroically after loading and unloading cargo in a hot climate, it was at much as the mates could do to prevent them disregarding the ban and exposing themselves to deadly danger. Bathing was possible however in certain harbours, in which case it was invariably a popular pastime.«)400 Auch Schadewaldt weist auf den überraschenden Befund hin, dass in früheren ärztlichen Berichten von Bord ausgesprochen selten von Haifischbissen berichtet worden sei. In der Zeit des Zweiten Weltkrieges sei dies ein bedeutendes Thema gewesen.401 Dies lässt sich als indirekter Hinweis deuten, dass das Bad im Meer in früheren Jahrhunderten ungewöhnlich war und selten vorkam. Schlussfolgerungen Auf die große Bedeutung der knappen freien Zeit mit ihren vergnüglichen Aspekten für die psychische Verfassung wurde schon hingewiesen. Dass das Meer zwar seine Anziehungskraft als erfrischendes Nass hatte, dabei aber bei weitem nicht eine allgemeine Einladung zum Schwimmen darstellte, sondern in überwiegendem Maße Quelle von Angst und ein realer Gefahrenherd war, findet sich in den hier untersuchten Originalquellen bestätigt. Einerseits kann das Klischee und Vorurteil des Seemannes, der nicht schwimmen konnte, bestätigt werden, andererseits begann in dem hier untersuchten Zeitraum gerade die Aufmerksamkeit für diese Fertigkeit zu wachsen. Das als Vergnügen gedachte Baden im Meer verschränkt sich mit der Unfallgefahr an Bord eines Schiffes im Phänomen des Ertrinkens, das als ein eigener Fallabschnitt im zweiten Hauptteil behandelt wird. Darin wiederum zeigt sich eine außergewöhnliche Nähe der Gefühle von Freude und Angst. Eigentlicher Ort des Vergügens und der Freude war der Landgang, jedoch nicht uneingeschränkt, wie wir sehen werden.

4.16 Landgang War der Seemann an Land, on Shore, weil er auf sein neues Schiff wartete, oder auf Landurlaub, on Leave, kam es zu vielen unerwarteten und unliebsamen Zwischenfällen. Viele Unfälle, häufige Volltrunkenheit, viele Fälle von Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten, von Fieber, Durchfallerkrankungen und schließlich immer wieder rohe, kriminelle Gewalt schien dazuzugehören. Landgang konnte, musste aber nicht gewährt werden. Er wurde gegeben, sobald die Pflichten an Bord es nach Einschätzung des Kapitäns zuließen. 400 Weibust: Deep Sea Sailors, S. 151. 401 Schadewaldt: Geschichte der Schiffschirurgie, S. 1738.

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Landgang

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Lange Zeit hielt sich bei vielen Kapitänen die Furcht, häufige Landgänge würden die Gefahr des Desertierens befördern. Noch 1890 musste die Admiralität festlegen, dass jeder Seemann innerhalb von drei Monaten mindestens 48 Stunden Landgang haben sollte.402 Die häufig geübte Praxis sehr knapper Gewährung von Landgang hatte den negativen Effekt, dass Matrosen diese knappe Zeit nur für heftigsten Alkoholkonsum nutzen wollten und dies auch taten, vermutlich aus dem Erleben heraus, dass die zur Verfügung stehende Zeit immer viel zu knapp war. Die »einzige Idee in ihrem Kopf war, so schnell wie möglich betrunken zu werden und in diesem Zustand zu bleiben, bis die Wache einen an Bord zurückbrachte,« meint Kemp: »It proved a very mixed blessing, for a considerable majority of men went ashore for their forty-eight hours’ general leave with only one idea in their minds, which was to get drunk as quickly as possible and remain in that state until brought back on board by the patrols. The punishment returns after periods of general leave provided formidable lists of offenders, all of whom paid the penalty with a few days in the ship’s cells or a stoppage of pay and leave. Often ships were immobilized for a week or more after general leave had been given, so many of their crew being under punishment that there were not enough left to work them.«403

Einige Flottenchefs erkannten allerdings, die geschilderte Logik durchaus bestätigend, dass längerer Landgang die Rate von Alkoholexzessen verringerte und berücksichtigten diese Erkenntnis. Bekannt für eine solche vorausschauende Haltung und entsprechende Handlungsweise wurde Admiral John ­Fisher.404 Auch von Landseite her wurde über Alternativen zu Hafenkneipen und Bordellen nachgedacht. Nach und nach entstanden im 19. Jahrhundert in den großen Hafenstädten Einrichtungen wie Bibliotheken mit Leseräumen, in Verbindung mit Seemannsheimen, der Seemannsmission und der Heilsarmee, deren missionarischer Eifer auf christliche Frömmigkeit im Allgemeinen und auf Alkoholabstinenz im Besonderen gerichtet war. Was sagen die schiffsärztlichen Aufzeichnungen über die Häufigkeit, Dauer und Art des Landganges aus? Zu diesem Thema finden wir in den Statistical Reports und in den Medical Journals reichlich Material. Der Landurlaub, der Leave on Shore, beschäftigte den Schiffsarzt, denn er verlief häufig folgenreich.405 Es gab Ausgang von wenigen Stunden bis zu mehreren Tagen. Aus Anlass einer Fieberepidemie an Bord der Belleisle im Jahre 1857 haben wir genaue Angaben darüber, dass die Leute »wachenweise«, also in der Gruppeneinteilung 402 Kemp: Sailor, S. 206. 403 Ebd. 404 Ebd., S. 210. 405 Gezielt zum Thema »Seemann an Land« vgl.: Fingard, Judith: Communities: Seafarers Ashore, in: Hattendorf (Hg.): Oxford encyclopedia 2007, Bd. 1, S. 469–478.

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ihrer Wachdienste, von fünf Uhr nachmittags bis acht Uhr abends an Land rudern konnten (wobei oft enorme Strecken zurückzulegen waren). Das Schiff lag vor Anker vor Kalkutta, um überholt zu werden, deshalb der großzügige tägliche Urlaub. Die fatale Folge dieser Regelung waren nach gut zwei Wochen 150 Fieberkranke unter 235 Mann Besatzung. (»The crew, who were employed refittting the ship, were allowed to go on shore on leave, by watches, and to remain there from five until eight o’clock in the evening.«)406 Der Schiffsarzt der Chesapeake schreibt, dass die Mannschaft nach längerer ununterbrochener Zeit an Bord zwei Tage am Stück Urlaub bekam. Jeweils drei Gelegenheiten wurden im Hafen von Hongkong gegeben, dazu noch vorher Sold ausbezahlt, sodass »mehr und länger als üblich« gefeiert wurde und dabei sich die jüngeren Leute weniger hemmungslos gebärdeten als die alten Kriegsschiffmatrosen. (»Nevertheless the young men, who formed  a large pro­ portion of the ship’s company, were much less intemperate than they were a few years ago, and less intemperate than the old man-of-war’s men with whom they were associated.«)407 Blue Jackets wie Marines konnten gesundheitliche Probleme gezielt verbergen und verschweigen, wenn es um den ersehnten Landgang und die Ausnutzung der ganzen erlaubten Zeit ging. Dr. John Turner Caddy gibt anlässlich des Verlegungsberichtes an das Krankenhaus in Kalkutta für fünf Besatzungsmitglieder, die dringend behandlungsbedürftige Geschwüre verheimlicht hatten, um an Land zu dürfen, etwas kleinlaut zu, dass er »dieses Manöver der Leute nicht erwartet hatte«. (»Many men concealed their ulcers until their leave had expired. This maneuvre was not suspected by me.«)408 Dieselbe Krankheit, »Ulcers«, die defekten Hautstellen an den Schienbeinen der Matrosen, die, wenn sie erst einmal chronisch entzündet waren, schlecht heilten, eine Art Berufskrankheit durch das Auf- und Abentern, veranlasst den Berichterstatter des Reports für 1856 zur schonungslosen und resignierten Bemerkung, dass eben alle Besatzungen, wenn sie mit Geld in der Tasche nach einer langen Reise auf Urlaub an Land gelassen würden, nicht zurückzuhalten seien. Ihre Geschwüre gingen nach ihrer Rückkehr vom Landurlaub wieder auf, vor allem bei den jungen Leuten. (»…it is reasonable to suppose their behavior was not different from that of other ships’ companies, when let loose in a sea-port town, after a long voyage, with money in their pockets. After their return from leave in October, the number of ulcers increased rapidly; and in consequence of neglect, many old sores re-opened, …«)409 Aus schiffsärztlicher Sicht war ein Risiko des Landganges, dass sich die Seeleute Durchfallerkrankungen zuzogen. Vermutlich war der Aktionsradius der 406 House of Commons 1859 (138-Sess. 2) Navy (health): Stat. Rep. für 1857, S. 110. 407 House of Commons 1862 (199) Navy (health): Stat. Rep. für 1859, S. 126. 408 Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 3. Teil, 1.1.–31.12.1860, TNA, ADM 101/167. 409 House of Commons 1858 (473) Navy (health): Stat. Rep. für 1856, S. 150.

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Matrosen in Hafenstädten für gewöhnlich klein und auf Straßen und Viertel in Hafennähe beschränkt.410 Von der Chesapeake wird aus dem Jahre 1859 berichtet, dass sich etliche Besatzungsmitglieder beim Landgang in Aden »mit der Bevölkerung gemischt und bis zum Exzess getrunken« hätten und, zurück an Bord, an einer »choleraic diarrhoe« mit schwerem Verlauf erkrankt seien. Einer starb an Bord, ein zweiter während seiner Hospitalbehandlung an Land. (»… amongst men who had gone on shore on leave at Aden, where they mixed with the population, and drank to excess. One died on board, and another on shore in hospital.«)411 Auch ohne erkennbare »Mischung mit der Bevölkerung« konnten die Landgänge ziemlich wüste Formen und Folgen annehmen. Nach sechswöchiger Fahrt der Calcutta vom 11. Juli bis zum 20. August 1858 wurde die Mannschaft nach Auszahlung eines Teiles ihres Soldes »as usual« auf Landurlaub gelassen. Sie gaben sich einem »hemmungslosen Lebenswandel hin, auf Kosten ihrer Gesundheit«, heißt es im Jahresbericht. Da das Schiff bis Ende des Jahres in Hongkong vor Anker lag, gab es vermutlich viele solcher Gelegenheiten, jedenfalls solange das Geld reichte. Die hohe Zahl der Fieber- und Durchfallerkrankungen, die unter der Mannschaft auftraten, gingen erst dank kühlerer Witterung im Laufe des Herbstes zurück. (»… as usual, were permitted to go on shore on leave; there they indulged in riotous living at the expense of their health, for immediately afterwards there was a large increase in the number of febrile and diarrhoeal attacks: gradually, however, as the season advanced and the weather grew colder, the former became less numerous and less severe.)«412 Immer wieder stoßen wir auf, allerdings eher beiläufig eingestreute, Kommentare des Schiffsarztes, wonach die Zeit auf See für die Männer an Bord an und für sich die gesündere sei. Oft war ja die Situation an Bord hinsichtlich der zuverlässigen Versorgung mit nahrhaftem, insgesamt ausreichenden, gesunden 410 Stand etwas mehr Zeit zur Verfügung und bot sich die entsprechende Gelegenheit, war es unter Seeleuten sehr beliebt, sich ein Pferd zu mieten und auszureiten. Dana beschreibt dies als Freizeitvergnügen während seiner langen Anwesenheit an der kalifornischen Küste, und selbst noch Lübke für das beginnende 19. Jahrhundert für die australische Küste. Vgl.: Dana: Zwei Jahre vorm Mast; Lübke: Männer auf Tiefwasserfahrt. Ein Beleg dafür findet sich auch in unseren Quellen: Der 25-jährige Marinesoldat der Cockatrice George B. brach sich bei dieser Gelegenheit eine Rippe und musste wegen heftiger Atemnot zwei Wochen auf der Sick List bleiben. (Nihill, John, HM Sloop Cockatrice 1. Teil, 1.1.–14.9.1852, TNA, ADM 101/94/1A, lfd. Fallnr. 8.) Zu reiten war freilich die selbstverständliche Möglichkeit, die Reisegeschwindigkeit und damit den Aktionsradius von Landausflügen zu vergrößern, wenn das Geld dazu vorhanden war. Hier und da kann man auch dem Gedanken begegnen, das Reiten auf einem Pferd sei dem Seemann von seinen Ritten auf den Wellen her vertraut, vielleicht eine etwas hergeholte Assoziation. Jedoch ist genau diese Verknüpfung Wahnthema im 9. Fallbericht des Abschnittes »Mania«. 411 House of Commons 1862 (199) Navy (health): Stat. Rep. für 1859, S.128. 412 House of Commons 1861 (175) Navy (health): Stat. Rep. für 1858, S. 118.

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Essen und ebenso ausreichendem, guten Trinkwasser besser als an Land mit seinen Krankheits- und Ansteckungsquellen und mit seinen Gelegenheiten und Verlockungen zu unvernünftigem, riskanten Verhalten. Waren die Männer erst einmal auf Urlaub an Land, waren sie auch der Kontrolle durch ihre Vorgesetzten entzogen, in disziplinarischer wie auch medizinischer Hinsicht. Wir erfuhren schon zum Beispiel von der bewussten Verschiebung handgreiflicher Auseinandersetzungen auf die Urlaubszeit im nächsten Hafen, um den Blicken der Offiziere entzogen zu sein. Einen Versuch, dennoch solche Reglementierung durchzusetzen, gab es für die Besatzung der Nimrod, als sie im Oktober 1859 zur Reparatur im Dock von Kanton lag. Die ganze Mannschaft wurde kurzerhand zum Schlafen an Bord der Magicienne untergebracht, um sie »vor der Malariaexposition während der Nacht« und auch, um sie »vor dem Zugang zu schlechtem Schnaps« zu schützen. Die Rechnung ging hinsichtlich des Alkohols auf, hinsichtlich der Fieberprophylaxe jedoch nicht. Es traten so viele Fiebererkrankungen auf, dass das Schiff rasch nach Hongkong verlegt wurde und dort die Laderäume leer geräumt und ausgeräuchert wurden. Zwei dieser Fieberfälle von Kanton endeten sogar tödlich.413 Landgang hieß neben den durch eigenes Handeln provozierten Gefahren auch, sich den klimatischen Gefährdungen der unterschiedlichsten, oft wenig bekannten, in unserem Falle teilweise tropischen Gegenden auszusetzen. Von nach heutigem Wissen falschen Voraussetzungen ausgehend, waren die medizinischen Überlegungen jener Jahre zu richtigen Schlüssen gekommen: Die Nähe von sumpfiger, feuchter, gewässerreicher Küste war ständige Infektionsquelle für Malaria. Und Süßwasser aus solchen Küstengegenden war oft salmonellenoder vibrionenverseucht (und dementsprechend für Typhus und Cholera prädestiniert). Es brauchte hierfür keine »Miasmata«, keine ätherisch-mystischen Kräfte, die damals immer noch zur Erklärung der Krankheitsentstehung herangezogen wurden. Im statistischen Jahresbericht für 1859 unterscheidet der Berichterstatter zwei Arten von Fieber, ein »aus den Sümpfen oder terrestischen Miasmata« entstehendes und ein »dezidiert periodisches« Fieber. (»… the one arising from marsh or terrestrial miasmata, the other; the former was distinctly periodic, and the remissions well marked; ….)«414 Er verwendet den Gedanken einer »Infektion« im modernen Sinne, wenn er von einem Fieber »from a specific personal infection« spricht und auf seine Beobachtung verweist, es hänge mit den Landgängen zusammen. Das Fieber sei zuerst bei den »Chinesen« (gemeint sind vermutlich die chinesischen Einwohner der Stadt) aufgetreten, und habe dann diejenigen Matrosen, die am längsten in den Städten herumgebummelt waren, »attackiert«. (»This fever, as on the preceding year, first appeared amongst the Chinese, and then began to attack the men who were most given to ­straggling 413 House of Commons 1862 (199) Navy (health): Stat. Rep. für 1859, S. 122. 414 Ebd.

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in the city.«)415 Neben Fieber, das die Mannschaft auf Urlaub häufig befiel, war es in großer Zahl, aber kaum der Rede wert für den Arzt der Sanspareil, die Syphilis. Nach 48-stündigem Urlaub sei »keinerlei Ansteigen der Krankenzahl« zu verzeichnen gewesen, außer »ein paar Fällen von Syphilis«, schreibt er. (»…, further than that there were a few cases of syphilis, …)«416 Ergänzend zu den Hinweisen aus unseren Quellen kann auf Studien des 20.  Jahrhunderts Bezug genommen werden, die sich mit dem Phänomen des »Durstes nach Land« beschäftigen. So nennt Weibust in seiner ethnologischen Studie die wahre Wut, mit der sich Matrosen nach Seereisen auf die lange entbehrten Freuden stürzen. Schon von den Bumboats wird Alkohol eingekauft. Der »durstige« Seemann ist leichtes Opfer der Boarding Houses mit ihren Wucherpreisen und ihren Versuchen, Leute von einem Schiff ab- und auf ein anderes Schiff anzuwerben. Die Bar Girls erfüllten eine regelrecht mütterliche Funktion für manchen Stammgast.417 Manche Kneipen genossen wahrhaft weltweiten Ruhm, so etwa die von Shanghai Brown und von Larry Marr an der »Barbary Coast« in San Francisco oder die von Paddy Wester in Liverpool. Zu der allgemeinen, fast schon symbolischen Funktion der Frauen an Land während der Reise gesellte sich eine generalisierte Namensgebung. Hugill schreibt: »›Seemanns Braut an Land‹ war, wenn schon nicht in jedem Hafen, so doch zu­ mindest in Phantasie und Kommunikation eine so feste Institution, dass sie einen eigenen Namen erhielt. Unter den englischen Matrosen hieß sie stets ›Doudou‹, ein kreolisches Wort von den West-Indies, in Liverpool war es noch spezieller ›Judy‹, gleich wie sie ›wirklich‹ hieß. Und die stolzesten Matrosen der ›Sky-Segler‹, also der Schiffe, die über den Royalsegeln, ansonsten die höchsten Segel am Mast, zusätzlich ›Sky-Sails‹ fuhren, kamen in den Häfen der Welt mit dem Anspruch an Land, die hübschesten Mädchen ausführen zu können.«418

Die »Braut«, Frauen überhaupt, waren auch unterwegs an Bord das wichtigste Gesprächsthema, wenn die Matrosen in der Freiwache zusammensaßen. In Gedanken war man während solcher Gespräche noch auf dem letzten oder schon auf dem nächsten Landgang.419 Diese Überlegung und die folgende Schilderung Wintons zum klischeehaften Bild des Seemannes auf Landurlaub leiten schon zum Stichwort der Prostitution an Land, aber auch an Bord über. »Es gab die Tradition von Seeleuten, die auf Landurlaub außer Rand und Band waren. Sie brieten ihre Uhren (»frying their watches«), aßen mit Fünf-Pfund-Noten be 415 Ebd., S. 122. 416 Mason, Richard, HM Ship of the Line Sanspareil 1.1.1858–15.2.1859, TNA, ADM 101/166/1A. 417 Weibust: Deep Sea Sailors, S. 147–156. 418 Hugill: Shanties, S. 592–593. (Original englisch). 419 Weibust: Deep Sea Sailors, S. 138.

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legte Sandwiches, mieteten vier offene Kutschen, um dann ihre Taschen in die erste zu tun, ihre Hüte in die zweite, all die Nancy Dawsons und schamlosen Bet Monsons der Stadt in die dritte, und sich selbst am Schluss in die vierte. Ein Seemann an Land gab Geld aus, als ob es nicht mehr in Mode sei, beteiligte sich an tagelangen Zechereien, trug heftige Straßenkämpfe mit Polizisten und Wachleuten aus, fuhr verrückte Eselsrennen den Strand entlang, und endete am Morgen danach mit schmerzendem und aufgeschlagenem Kopf, seine Heuer verloren und gewärtig, ausgepeitscht zu werden.«420

Schlussfolgerungen Der Landgang war einer der wichtigsten Mechanismen für die Stabilisierung der psychischen und sozialen Situation an Bord. Das soziale System, das in ganz extremer Weise durch die Unentrinnbarkeit aus diesen Systemgrenzen gekennzeichnet war, hatte in diesem Ventil seine spezifische Umwelt. Wie kaum eine andere Institution war und ist bis heute das System Schiff nicht nach dem Tagesrhythmus, sondern nach größeren Einheiten von Wochen und Monaten ausgerichtet, und in kaum einem anderen sozialen System fallen Arbeits- und Privatwelt derart eng zusammen. Hatte der Seemann, gleich, ob Schiffsjunge oder ranghöchster Offizier, auch Freiwache, musste er jederzeit mit dem Kommando »All Hands on Deck« rechnen und sich dementsprechend an die Arbeit machen. Nur eine einzige Zeitspanne war davon ausgenommen: Der Leave on Shore, der Landurlaub. So kann es nicht verwundern, dass während der Fahrt und während der Dienstzeit alles, was der Aufsicht, der Kontrolle und der Beschränkung entzogen sein sollte, auf diese Stunden und Tage des Landganges projiziert wurde und auch, dass vieles und manchmal zu vieles in diesen Stunden und Tagen auch tatsächlich umgesetzt wurde. Der Seemann tat dann, was er an Bord nicht oder nur in jeder Richtung begrenzt tun konnte: Er schlenderte oder fuhr umher, kaufte ein und freute sich seines (freien) Lebens, trank bis zum Vollrausch, prügelte sich ohne Schiedsrichter und suchte Nähe zu Frauen. Dass dies in aller Regel gegen Be­ zahlung geschah, wird Thema des nächsten Abschnittes sein. Dass das Geld von monatelanger harter Arbeit innerhalb von Tagen verbraucht war, spielte keine Rolle unter dem Aspekt, dass es in den vorhergehenden wie auch den folgenden Monaten sowieso nicht ausgegeben werden konnte. Aber es bedeutete auf lange Sicht sehr wohl, dass für viele, vielleicht für die meisten Seeleute auch nach Jahren kein wesentlicher Gewinn ihrer Arbeit übrigblieb. Vermutlich gelten diese Mechanismen vor allem für die einfachen Seeleute der »Mannschaft«, während sie ihre Bedeutung in den Offiziersrängen mehr oder weniger verloren. Die Offiziere (in der Kriegs- wie in der Handelsmarine, wo sie anfangs des 19. Jahrhunderts noch »Steuerleute« hießen) erlebten nicht 420 Winton, S. 44. (Original englisch).

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ganz so drastisch die Entbehrungen an Bord, dafür durften sie sich an Land nicht in beliebigem Maße von ihren Pflichten befreien. Darin mag der Sinn der durchgängigen Trennung der hierarchischen Ebenen liegen. Die Mannschaft erlebte mehr emotionalen Stau, konnte ihn aber, vor allem beim Landgang, unmittelbar lösen. Die Offiziere erlebten ihn weniger unmittelbar, konnten ihn aber auch nicht so direkt abbauen. Ein freies Wechseln zwischen diesen Rollenzuschreibungen, die im Laufe des Berufslebens zu Selbstdefinitionen wurden, war schlechterdings nicht möglich. Zwei Hauptmechanismen der Triebabfuhr dienten aber gleichermaßen beiden Gruppen, wenn auch in Details der Ausführung unterschiedlich: Der Alkoholkonsum und die sexuelle Prostitution. Dies wird in den beiden Abschnitten des kasuistischen Hauptteiles »Delirium tremens« und »venerische Erkrankungen« durch Fallgeschichten belegt.

4.17 Prostitution Zum Landgang gehörte neben dem, wenn schon nicht zwangsläufigen, so doch häufigen, bereits oben behandelten Sich-Betrinken der Besuch von Bordellen (Brothels). In ihnen saßen manche der »Bräute an Land«. Auch für sie gab es für das Gespräch unter britischen Matrosen einen eigenen Namen: »Chowlah«. Hugill meint, es sei vermutlich ein Hindustani-Wort.421 Besuch bei Prostituierten hieß mit hoher Wahrscheinlichkeit Infektion mit Gonorrhoe, Syphilis oder einer der anderen venerischen Erkrankungen. Allen war klar, dass keine Vorkehrungen ausreichend sein würden, Ansteckungen zu vermeiden und das Lady’s Fever zu bekommen, um sich anschließend der Quecksilberbehandlung zu unterziehen. Alle kannten den Spruch: »Eine Nacht mit Venus und ein Leben lang mit Merkurius.« (»One night with Venus and a lifetime with Mercury.«)422 Wegen dieser Risikoverhältnisse wurde versucht, sowohl die Matrosen frühzeitig zu therapieren als auch, die Prostituierten zu kontrollieren. Gerade letztere Bemühungen scheiterten allerdings schon in ihren Anfängen. Aus Sicht der Royal Navy mangelte es oft an der notwendigen Kooperation der Behörden in den Hafenstädten. 1864 bis 1869 wurden mehrere »Gesetze zur Bekämpfung ansteckender Krankheiten« (Contagious Diseases Acts) verabschiedet, die unter anderem durch obligatorische ärztliche Untersuchungen der Prostituierten gute Erfolge zeitigten, aber nach wenigen Jahren aufgehoben wurden. Prompt stiegen die Erkrankungsraten wieder an. Bemerkenswert ist, dass die Hafenstädte an den Küsten Englands bei weitem die meisten Prostituierten beherbergten 421 Hugill: Shanties, S. 592. Smyth’s Sailor’s Wordbook kennt das Wort allerdings nicht. 422 Wells, S. 30. Mercurium ist die alte Bezeichnung für Quecksilber.

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und auch viel höhere Raten an Geschlechtskrankheiten aufwiesen als alle Häfen in Übersee.423 Von regelmäßigen Untersuchungen und prophylaktischer Behandlung der Matrosen vor und nach ihren Landausflügen und von jeglichen Aufklärungsversuchen der Männer lesen wir nichts in den hier ausgewerteten Medical Journals und Statistical Reports. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden solche Maßnahmen an Bord fest etabliert. Im Laufe der hier untersuchten Jahrzehnte verschwand die Praxis der Prostitution an Bord, die über Jahrhunderte zwar von den offiziellen Stellen ignoriert, gleichwohl gang und gäbe war. Um einerseits eine restriktive Handhabung des Landganges durchhalten zu können, andererseits den dadurch verursachten Unmut zu unterdrücken, wurden Prostituierte an Bord gelassen, um nicht zu sagen, geholt. Diese Notwendigkeit verschwand in den 1860er Jahren, als durch verbesserte Lebensbedingungen und eine nach und nach wachsende positive Haltung zum Dienst an Bord die Furcht vor Desertion verschwand und Landurlaub regelmäßig gewährt wurde. Die Prostituierten konnten sich an Land zurückziehen.424 Die Notiz, dass nach einem 48-stündigen Landurlaub in Hongkong »nichts weiter als ein paar Fälle von Syphilis« zu berichten waren wurde im vorigen Abschnitt bereits zitiert. (»… a few cases of syphilis, which, perhaps owing to regulations recently established for the registration and examination of prostitutes were not severe.«)425 Was in diesem Zitat nur mit »nicht so strenger Registrierung und Untersuchung der Prostituierten« angedeutet wird, ist im Jahresbericht von 1863 hinsichtlich der Situation in Japan ausgeführt. Von Seiten der japanischen Behörden schien eine vollkommene Resignation oder eine verborgene Abneigung gegen die von den Briten »gewünschten« Überwachungsmaßnahmen die 423 Lloyd, Coulter, Medicine, Vol. IV. Man mache sich die Größenordnung klar: Mitte des 19.  Jahrhunderts hielten sich in Liverpool ständig um die 30 000 Seeleute in der Stadt auf. 1836 gab es 300 Bordelle in dieser Hafenstadt, 1846 fast 550. Vgl.: Black: Seaborne empire, S.  200. Nur von 1822 bis 1824 war Prostitution ein illegaler Tatbestand. Eine gründliche Studie zu den verschiedenen Aspekten der Prostitution an Land und an Bord findet sich im ersten Teil von: Stark, Suzanne J.: Female tars: women aboard ship in the age of sail, Annapolis 1996. Sie beschreibt auch die desolaten Lebensumstände dieser Personengruppe, ihre Herkunft nicht nur aus den Hafenstädten, sondern auch aus den umliegenden ländlichen Gebieten und schließlich das zu vermutende geringe Lebensalter, das mit der Tatsache in Zusammenhang zu sehen ist, dass das Mindestalter für erlaubten Geschlechtsverkehr in Großbritannien bis 1871 nur zwölf Jahre war. Erst in jenem Jahr wurde es auf dreizehn Jahre und 1885 auf sechzehn Jahre hochgesetzt. Bei Geschlechtskrankheit und Schwangerschaft gab es, den auch sonst geltenden Bedingungen des sozialen Status entsprechend, so gut wie keine Hilfe. Erste von der Royal Navy unterstützte Krankenhausabteilungen, in denen Prostituierte behandelt wurden, wurden 1858 in Portsmouth und 1863 in Plymouth eingerichtet. Ebd., S. 33. 424 Ebd., S. 44. 425 Mason, Richard, HM Battalion of Royal Marines 1.1.–31.12.1860, TNA, ADM 101/166/1B.

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Antwort. Sie hatten vorgeschlagen, die infizierten Prostituierten von den gesunden zu trennen, um »die Crews der Schiffe Ihrer Majestät vor Geschlechtskrankheiten zu schützen«. (»… to prevent the spreading of venereal diseases among the crews of Her Majesty’s ships in the bay.«) Die Antwort der japanischen Beamten war »ebenso aufrichtig wie knapp«: Man könne nicht erkennen, wie das in einem Betrieb gehen sollte, in dem alle angesteckt sind. (»The reply of the Japanese official was as frank as it was laconic: viz., that he could not see how it was possible to weed the infected women from the healthy in an establishment where all were equally tainted by the disease.«) Ob ein Brand des »Kan Kuiro«-Bordells in Yokohama unmittelbar nach dem offiziellen Besuch der Briten ewas mit deren Anliegen zu tun hatte, lässt der Berichterstatter diplomatisch mit der Formel »bemerkenswert« offen. (»Our visit, however, was followed by a remarkable incident. On the night following, nearly the whole of the buildings were burnt and reduced to ashes, but fortunately without any loss of life among the unfortunate women, who in a few days carried on their wretched trade as briskly as ever. Within eight-and-forty hours, in fact, the whole of the buildings [being constructed of wood] were rebuilt.«)426 Der Kommentar lässt zwar weitere Schuldzuweisungen (»sehr niedrige Preise« und »haltlose Gewohnheiten der Bevölkerung«) folgen, verschweigt aber auch nicht den Anteil, den die »Besatzungen aller Nationen« an dem Ge­schehen spielten, indem sie den Bordellen »herdenweise« Besuche abstatteten. (»Latterly however, from the great accession of foreigners of all nations, the gregarious manner in which the men cohabited, the loose habits of the people, and the cheap rate of prostitution, over which the authorities exercised little or no control,…«)427 Positiv fällt eine Beurteilung des Hafens von Hongkong durch John Buckly von der Rinaldo aus. (»The sanitary regulations issued by the general com­ manding at this place might be copied with advantage for the guidance of the s­ ister service.«) Mit Erreichen Nagasakis sieht auch dieser Schiffsarzt erheblichen Mehrbedarf an Maßnahmen gegen die Syphilis. (»There is a hospital for the reception of the Japanese in the rear of the native town and is in charge of Dutch doctors, it is a very old foundation. There are no arrangements for reception of venereal cases but it is to be hoped that this want will be soon supplied as at the time I am writing Dr. Newton the Naval Surgeon lent for this purpose has left­ Yokohama for Nagasaki and Kobé for purpose of organizing an efficient system of inspection. The ravages of Syphilis are thoroughly awful to contemplate, they are met with in every form.«)428 Der Arzt der Thalia macht sich die Mühe, die Zahl der Infektionen in den Hafenstädten Singapur, Hongkong, Shanghai, Penang, Yokohama, Nagasaki 426 House of Commons 1866 (458) Navy (health): Stat. Rep. für 1863, S. 239–240. 427 Ebd., S. 241. 428 Buckley, John., HM Sloop Rinaldo 10.5.–31.12.1870, TNA, ADM 101/182.

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und Kobé mit deren Status als »protected« oder »unprotected« in Verbindung zu bringen, kann aber keine erkennbare Differenz aufzeigen. »Geschützt«, sicherlich im Sinne einer irgendwie gearteten gesundheitspolizeilichen Aufsicht der Prostituierten, waren die Städte Singapur, Hongkong und Yokohama.429 Staff Surgeon Nelson von der Juno macht die bemerkenswerte Feststellung, dass sich die Seeleute in chinesischen Bordellen fast zehnmal seltener mit Scabies, der Krätzmilbe, anstecken als in den entsprechenden Häusern in England.430 Obwohl die Prostituierten einen so schmutzigen Eindruck machten, so schreibt er, sei doch die Scabies unter ihnen sehr wenig verbreitet. Dementsprechend führt er die Scabiesfälle an Bord auf einen ganz anderen Übertragungsweg zurück, nämlich durch die Wäschereien in den Häfen der fernöstlichen Station. Die zweischneidige »Reinlichkeit« der leuchtend weißen Wäsche (die mehr mit Stärke getüncht denn gewaschen wurde) aus den Wäschereien an Land ist oben im Abschnitt über die Körperhygiene am Beispiel der Pearl dargestellt.431 Anhand der Erledigung der Wäsche durch Waschfrauen wurde auch schon darauf hingewiesen, dass Prostitution nicht nur an Land, sondern auch an Bord stattfand. Denn nicht nur Bäcker und Waschfrauen fanden sich auf der Insel im Fluss ein, an dessen Ufer die Pearl lag, sondern schnell auch Prostituierte. Schlussfolgerungen Wie bereits im vorigen Abschnitt festgestellt, hatte der Landgang in doppelter Hinsicht kompensatorische Funktion: Erstens, die rein physische, der engen Welt des Schiffes zu entfliehen. Zweitens, die emotional bedeutende, von der minutiös eingeteilten Arbeitswelt auf Urlaub entlassen zu werden. Da auf dem Schiff alle oder doch sehr viele Freiheitswünsche disziplinarisch unterdrückt wurden, entluden sich diese in den Stunden und Tagen des Landurlaubes entsprechend schnell und heftig.432 Ein wichtiger Ausgleichsmechanismus innerhalb des Landganges ist unter dem Abschnitt »Alkohol« besprochen worden: Trinken bis zum totalen Rausch, auch bis zur letzten Minute der erzwungenen Rückkehr zum Schiff, Trinken ohne das Verbot der Vorgesetzten und ohne die sofortige Gefahr eines Arbeits 429 Head, Richard L. B., HM Frigate Thalia 2.  Teil, 1.1.–10.8.1876, TNA, ADM 101/194, Gen. Remarks. 430 Nelson, Robert, HM Ship Juno 1.10.1876–31.12.1877, TNA, ADM 101/197. Die ScabiesMilben gelangen durch direkten Kontakt auf die Haut, durchdringen deren oberste Schicht und bohren sich in Gängen durch tiefergelegene Hautschichten, was heftigsten Juckreiz hervorruft. Es ist auch in modernen Zeiten ein regelhaft mit schlechter Körperhygiene verknüpftes Gesundheitsproblem. 431 Smart, H. S., HM Frigate Pearl 1.1.–31.12.1862, TNA, ADM 101/175. 432 Vgl.: Gedai, Martina: Prostitution, in: Plagemann, Volker (Hg.): Übersee, München 1988, S. 281–282 am Beispiel Hamburgs; ferner: Stark: Female tars; Berckman: The hidden Navy.

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unfalles, wenngleich mit neuen Gefahrenquellen. Der andere Ausgleich ist die Sexualität, die an Land in Form der leicht verfügbaren Prostitution umso intensiver gesucht wurde, als man ihrer an Bord entbehrte. Dass beide Mechanismen, wenn auch aus moralischer Sicht regelmäßig verurteilt, doch dem seelischen Gleichgewicht dienten, war den Verantwortlichen der Marine stets klar. Somit mussten sie das rechte Maß von Einschränkung und Erlaubnis suchen, um allzu schädlichen Gebrauch und Missbrauch einerseits zu vermeiden und genügend entlastende Wirkung andererseits zu gewinnen. Resultat einer allzu repressiven und strafenden Haltung wäre ein Gefühlsstau gewesen, der sich zu einem großen Teil in Aggressionsstau geäußert hätte. Der wiederum hätte sich mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit Luft verschafft im Desertieren oder in aktivem und passivem Widerstand gegen die Arbeitsanordnungen an Bord, dann aber unkontrollierter, weil emotional stärker aufgeladen als im Rahmen der sonst üblichen Widerstände und (stillen) Proteste. Kluge, und das heißt empathische und selbstsichere Kommandeure, Kapitäne und Offiziere suchten die zu ihrer jeweiligen Mannschaft passende Mischung von Freiheit und Beschränkung und fanden so die günstigste Gruppengröße für Landurlaube und die optimale Dauer und Häufigkeit innerhalb der durchaus flexibel handhabbaren Liegezeiten im Hafen oder auf Reede.

4.18 Sexualität an Bord Nur ein Aspekt, aber doch ein wichtiger Aspekt von Emotionalität ist Sexua­lität. Einige wenige Arbeiten befassen sich mit der Thematik, bezogen auf Schiffsbesatzungen, historisch wie auch aktuell.433 Eine besondere und hochbedeut 433 Stanley, Jo: Homosexuality among Sailors, in: Hattendorf (Hg.): Oxford encyclopedia 2007, Bd. 2, S. 148–150; ders.: Women aboard Ship, in: Ebd., Bd. 3, S. 549–551; Bohn: Die Piraten; Earle: Sailors; Friedenberg: Medicine under Sail; Creighton, Margret: »Women« and Men in American Whaling, Internat. J. Marit. Hist. (1992), S. 195–218, S. 305; Bake, R.; Kiupel, B.: Seemannsbräute und Seemannsfrauen, in: Plagemann, Volker (Hg.): Übersee, München 1988, S. 278–281; Murray, Dian: Practice of Homosexuality Among Pirates, Internat. J. Marit. Hist. 4 (1992), S. 121–130; Stark: Female tars; Neubauer, Ursula: Prostitution und Geschlechtskrankheiten, Kiel 1999; Urban, Alfred: Staat und Prostitution in Hamburg, Hamburg 1925; World Health Organization: Health and Welfare of Seafarers, Copenhagen 1959; Winton: Hurrah; Kemp: Sailor; Lavery: Royal tars. Die wenigen aktuellen Untersuchungen zur Homosexualität betreffen vier thematische Bereiche: Die Welt der Piraten; den offenen Umgang mit Homosexualität unter den Stewards in bestimmten Passagierschiff-Linien ab den 1920er Jahren, die zu gezieltem Angebot und Nachfrage führten; Bemühungen von US-amerikanischen Seeleuten und in der Folge der anderer Nationen um die Anerkennung ihres homosexuellen Status; und schließlich die Verwendung des Themas »Homosexualität und Matrosen« als eigenständiges Icon für Kunst, z. B. Jean Genet, Tom of Finland, und Werbung z. B. Jean Paul Gaultier. Vgl.: Heimerdinger: Der Seemann. Bemerkenswert ist, dass der Ausschluss homosexueller Militärangehöriger in

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same Bedingung dieses Phänomenbereiches im Rahmen unserer Untersuchung ist der Umstand, dass wir es in der traditionellen Seefahrt mit einer reinen Männergesellschaft zu tun haben. Wie wir schon sahen, darf jedoch die Abwesenheit von Frauen an Bord nicht absolut gesetzt werden. In drei unterschiedlichen Rollen waren sie in der Zeit der Segelschifffahrt traditionell an Bord vertreten: Erstens als Prostituierte, sobald das Schiff im Hafen oder auf Reede festlag. Zweitens als Frauen der Deckoffiziere, die oft besonders lange Dienstzeiten an Bord verbrachten und denen das Schiff das Zuhause war. Und drittens die Frauen, die sich als Männer ausgaben und deren Existenz dank gründlicher Verdrängungsleistung erstaunlich lange unaufgeklärt blieb.434 Die mitreisende Ehefrau des Kapitäns war immer schon eine akzeptierte Ausnahme, jedoch bedeutete dies für die Frau an Bord manches Mal vollkommene Abschottung vor jeder Begegnung mit den anderen Besatzungsmitgliedern. Es gibt Zeugnisse, wonach der einfache Matrose »vor dem Mast« die Frau des Kapitäns während einer lange dauernden Reise nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekam. Über einen langen Zeitraum hinweg, seit Ende des 17. Jahrhunderts bis zum Ende des Siebenjährigen Krieges 1763, waren Frauen auf Hospitalschiffen als Krankenschwestern und Waschfrauen (Nurses, Laundresses, Washerwomen) eingesetzt. Das erste Marine-Hospital in Haslar wurde 1754 bis 1854 und dann wieder ab 1885 mit weiblichen Pflegekräften besetzt, doch soll es so häufig zu Klagen wegen Alkoholmissbrauches bei diesen Frauen gekommen sein, dass dies ein Grund für Unterbrechungen über kurze und längere Fristen war.435 Auch in der britischen Handelsmarine der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es Versuche, Frauen regelmäßig an Bord zu holen, in der Regel Ehefrauen der Matrosen. Auch hier waren sie in der Krankenpflege und als Wäscherinnen eingesetzt, jedoch wurde dies wegen »viel Unzufriedenheit und Reibereien innerhalb der Crew« wieder aufgegeben.436 Manche Autoren sehen die Mitte des 17. Jahrhunderts437, andere die Jahre der amerikanischen Unabhängigkeitskriege von 1775 bis 1783, hier vor allem die Flottenteile in der Karibik, als Höhepunkt an, was die Anwesenheit von Frauen an Bord betrifft. Kemp beAustralien erst 1992, in Kanada 1998, in Großbritannien 1999 und in Deutschland 2000 aufgehoben wurde. In den USA führte das von Präsident Clinton eingeführte »Don’t ask, don’t tell« zu zwiespältigen Reaktionen zwischen Akzeptanz und Protest der homosexuellen Gruppierungen und zu Debatten, die auch im Jahre 2012 noch nicht zur Ruhe gekommen sind. 434 Stark: Female tars, S. 2. Eine letzte Frau in Männerkleidern war William Brown, die 1806 bis 1814 in der Royal Navy diente, wobei Stark nicht ausschließt, dass in der Frachtschifffahrt und Walfangfahrt Frauen noch länger hin unentdeckt bleiben konnten. Ebd., S. 122. 435 Ebd., S. 68. 436 Friedenberg, S. 25. Zur Situation der Seemannsfrauen insgesamt siehe: Stanley: Homosexuality; Stark: Female tars und Berckman: The hidden Navy, beschränkt auf den Bereich der Handelsmarine auch Bake, Kiupel: Seemannsbräute, S. 278–281. 437 Berckman: The hidden Navy, S. 30.

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schreibt, dass sehr häufig und regelmäßig Frauen als Sexualpartnerinnen an Bord genommen wurden, und wie schwer es für die Schiffsführungen war, gegen diese offiziell verbotene Praktik vorzugehen, die die einfachen Matrosen schon zu ihrem Recht gemacht hatten.438 In der Zeit der Napoleonischen Kriege war nach Artikel XI der Additional Regulations grundsätzlich jede Anwesenheit von Frauen an Bord verboten, es sei denn, sie waren »wirklich« Ehefrauen eines der Besatzungsmitglieder. Prompt mangelte es nicht an beliebig gefälschten Ehebescheinigungen.439 Creighton440 untersucht die Anwesenheit von Frauen auf Schiffen der USamerikanischen Walfangflotte der Jahre 1830 bis 1870 und kommt zu dem Schluss, dass »die antihäuslichen Schilderungen, die lange in der Seegeschichte und im Volksglauben vorherrschend waren, zu stark vereinfacht sind.«441 Kapitäne hätten ihre Frauen oft mit an Bord gehabt mit der Folge, dass »die Achterkabine aussah wie ein viktorianisches Heim, das als Ort häuslicher Rituale diente. Es war erfüllt von Geschäftigkeit, die eine fromme Gattin mit Stolz erfüllen konnte.«442 Sie findet Hinweise, wonach »Schiffsführer, die an Seekrankheit und Liebeskummer litten, oft ihre Schiffseigner um Erlaubnis fragten, ihre Ehefrau mit auf die Reise mitnehmen zu können.«443 Dabei seien sie in der Regel auf entschiedene Ablehnung der Schiffseigner gestoßen. Als deren Argumente macht die Autorin aus: Frauen würden schwanger; sie würden häufiger seekrank; sie machten den Kapitän übermäßig vorsichtig und seien oft »Sabbatarier«, also Personen, die »aus christlicher Überzeugung den Sabbat (oder Sonntag) von Arbeit freihalten wollen, anstatt rund um die Uhr auf Waljagd zu gehen«.444 Manche Autorinnen sehen in der Welt der Piraterie eine nicht unbedeutende Beteiligung von Frauen und damit keinen so konsequenten Ausschluss wie in der übrigen Seefahrt. Dieser Befund scheint sich aber auf die Pirate 438 Kemp: Sailors, S. 143–148. 439 Ebd., S.  167, ebenso Lavery: Royal tars, S.  272–274. Der erste reguläre Einsatz von Frauen in der Royal Navy wurde, lange nach unserem Untersuchungszeitraum, mit dem Ersten Weltkrieg beschlossen. Die 86 000 Frauen der Women’s Royal Naval Services, der Ab­ kürzung »WRNS« folgend oft nur Wrens genannt, waren hauptsächlich für Arbeiten an Land, in kleinerer Zahl aber auch als Funkerinnen auf Truppentransportern eingesetzt. 1990 wurden alle Dienste in der Royal Navy für Frauen geöffnet. Die Handelsmarine beschäftigt weibliche Deckoffiziere schon seit 1980. Vgl.: Lavery: The Island Nation, S. 72–73. Zu Status und Umgang der Frauen und Kinder von Seeleuten vgl.: Heijden, Manon: Communities: Sea­farer’s Wives and Children, in: Hattendorf (Hg.): Oxford encyclopedia 2007, Bd. 1, S. 478–479. 440 Creighton: »Women« and Men in American Whaling, S. 195–218, 305. 441 Ebd., S. 305. 442 Ebd., S. 206. 443 Ebd., S. 209. 444 Ebd.

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rie in asiatischen Gewässern zu beschränken, wo Frauen teilweise die wahren Kommandeure an Bord gewesen sein sollen, unantastbar dabei von den Männern desselben Schiffes, gleichzeitig Objekt des Raubes und der Überwältigung für die Männer jedes anderen, nicht zu der Gruppe gehörenden Schiffes. Murray geht dem Umgang mit Sexualität einschließlich der Homosexualität in der großen chinesischen Piratenflotte des 18. und 19. Jahrhunderts nach.445 Demnach hatten viele dieser Piraten ihre Frau an Bord, jedoch nur wenn sie verheiratet oder einander »fest versprochen« waren. Das Zusammenleben war streng geregelt. Übergriffe anderer als in dieser Weise legitimierter Männer wurden hart bestraft, im Falle von Vergewaltigung einerseits und Ehebruch andererseits mit dem Tode. Für die übrigen Männer, also diejenigen ohne Frauen, seien homosexuelle Praktiken und feste, gleichgeschlechtliche Partnerschaften eine wichtige Institution gewesen. Bemerkenswert ist, dass ein 60 000 Mann (und Frauen) zählender Zusammenschluss von Piratenschiffen von 1807 bis 1810 von einer Frau, nämlich der Witwe eines zu Tode gekommenen Chefs, angeführt wurde.446 Die Funktion der Frauen an Bord sieht die Autorin schlichtweg in »sozial ausgleichender, bindender und aggressionskontrollierender Wirkung ihrer Anwesenheit«.447 Im europäischen und amerikanischen Bereich sind Piratinnen eine große Ausnahme, wenn nicht sogar ganz auf die beiden berühmt gewordenen Fälle der Anne Bonny und Mary Read beschränkt. Sie kommen allerdings in nahezu jeder Abhandlung zur Piraterie vor, sind sie doch, so Bohn, als doppelter Normenbruch von Interesse, nämlich dem der Travestie und dem der Krimina­ lität.448 Strenggenommen traten sie gar nicht als weibliche Piratinnen, sondern als männliche Piraten in Erscheinung. Als Klischee hat die »Piratenbraut« in der romantischen Vorstellungswelt von der Seefahrt als Projektion sexueller Wünsche ihren festen Platz. Für die Kapitäne war es mithin ein schwieriges Abwägen zwischen einer Lockerung des Verbotes, Frauen an Bord zu haben, einerseits und der Gefahr häufiger Desertionen andererseits. Von der Ausübung der Prostitution nicht nur an Land, sondern auch auf den Schiffen hörten wir im vorigen Abschnitt. Einige Kapitäne erlaubten eine von ihnen selbst festgelegte Zahl von Prostituierten an Bord in der Hoffnung, dadurch eine gewisse Kontrolle über diese Problematik zu erlangen.449 Kemp sieht sie (in der Handelsmarine) in einer Zwangslage: »If he wanted to keep them, and moreover keep them contended, he really had 445 Murray, Dian: Practice of Homosexuality Among Pirates, S. 121–130. 446 Ebd., S. 124. 447 Ebd., S. 127. 448 Bohn: Die Piraten, S. 103. 449 Ebd., S. 172. Stark nimmt jedoch an, dass nur auf sehr wenigen Schiffen Prostituierte auch noch nach dem Auslaufen aus dem Hafen an Bord bleiben konnten. Vgl.: Stark: Female tars, S. 48.

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no alternative but to except the abominable practice.«450 So wird auch erklärbar, dass, wenn auch insgesamt als Ausnahme, immer wieder Berichte von an Bord geborenen Kindern auftauchten, und nicht nur von Kindern des Kapitäns.451 Ein Weg zur sexuellen Bedürfnisbefriedigung außerhalb der Landgänge blieb die homosexuelle Beziehung. Die Forschungsliteratur zur Homo­sexualität ist noch spärlicher als die zum Thema der Sexualität an Bord überhaupt. Die Feststellung Stanleys verwundert nicht, wonach von den Seeleuten selbst verschwiegen wurde (und bis in die Gegenwart verschwiegen wird), dass überhaupt, auf welche Weise und in welchem Umfang Homosexualität eine Rolle spielt.452 Die Seeleute fürchten um ihren Arbeitsplatz (und taten dies, als Mindestes, schon immer), würden sie ihre Homosexualität öffentlich machen. Von Seiten der Schiffsleitung wird formal oder informell darüber hinweg gesehen und die Problemlage ignoriert. Auch die Überlegung, ob deshalb so wenig dokumentiert worden ist, weil die Homosexualität so selten vorkam, oder eher deshalb, weil sie im Gegenteil so häufig und normal war, dass es keiner Berichterstattung wert erschien, hilft nicht weiter. Das Tabu über der ganzen Thematik der Homosexualität bewirkte einen massiven Verdrängungsprozess, der alle praktischen Aspekte mit in seine Verschleierung und Verdunkelung hineinzog.453 Die uns aus Büchern, Filmen und der Werbung durchaus vertraute »erotische und homoerotische Aufladung der Seemannsfigur« ist nach Heimerdinger erst in den letzten Jahrzehnten populär geworden, speist sich aber schon lange aus Fiktionen und realen Aspekten der Lebenswelt des Schiffes.454 450 Kemp: Sailor, S. 168. 451 Ebd., S. 171. 452 Stanley: Homosexuality. 453 Die Literatur ist ein Ort, an dem dieses Tabu umgangen werden kann, indem sie von der Tabuisierung handeln und gleichzeitig die tabuisierten Inhalte darstellen kann. Das wichtigste Beispiel für die tiefsitzende Ambivalenz diesem Thema gegenüber ist die Erzählung »Billy Budd« von Herman Melville. Der »handsome sailor« Billy Budd erlebt sich selbst nicht homosexuell, wird jedoch umso mehr von den anderen Seeleuten an Bord so wahrgenommen und aufgrund dieser Projektionen zum Opfer gemacht. Derselbe Autor Melville deutet in seinem Roman »White Jacket« für den Bereich der Kriegsmarine nur an, was in Goldings »Rites of Passage«, einem Roman über eine mehrmonatige Passagierfahrt auf einem Segelschiff, an ausgelebter Homosexualität offen mitgeteilt wird. Vgl.: Melville, Herman: Billy Budd, Stuttgart 1980; ders.: Weißjacke, Zürich 1948; Golding, William: Äquatortaufe, München 1983. 454 Heimerdinger: Der Seemann. Der Autor geht aus ethnologischer Sicht den »Seemannsinszenierungen«, den »Seemannsperformanzen« in verschiedenen Topoi und den »Seemannsverkörperungen« in Büchern, Filmen, der Werbung sowie in der Selbstwahrnehmung nach, konzentriert auf das Deutschland des 19. Jahrhunderts. Er positioniert sich mit Gerstenbergers und Welkes Hierarchiemodell und gegen Goffmans Theorie der »totalen Institution« und nennt an psychologischen Aspekten die Funktion der Bordbesatzung als Familienersatz sowie die Funktion des Tanzes unter Männern als Spannungsabbau. Der homoerotische Teil dieser Dynamik habe im 19. Jahrhundert »den staatlichen Intentionen schroff entgegengestanden«, und bis heute seien »Militär und Homosexualität zwei Felder, die sich, zumindest öffentlich und offiziell, kaum miteinander kombinieren lassen.« Ebd., S. 202.

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Stanley geht von zwei unterscheidbaren Identitäten homosexueller Seeleute aus. Demanch definiert sich eine Gruppe primär, unabhängig von der Arbeit auf See, homosexuell, während sich eine andere Gruppe nur situativ, unter Mangel an weiblichen Sexualpartnern, homosexuell verhält. Die letztere Gruppe lebt in parallelen Welten: An Bord homosexuell, an Land heterosexuell. Psychodynamisch wird man für diese Identität an die große Einsamkeit denken, die auf hoher See bei langen Reisen aufkommen kann, ferner an die überbetont männliche Selbstdarstellung der Arbeitswelt auf Schiffen und dabei nochmals besonders an die Ambivalenz von Nähe-Wunsch und betont distanziertem Verhalten, die an Bord gepflegt wurde und bis heute gepflegt wird. Ein Ventil, allerdings ein verschwiegenes, heimliches, für derart emphatisches Männlichkeitsgehabe, könnte situativ homosexuelles Verhalten an Bord sein, ein anderes, offen gelegtes dagegen die regelmäßigen, prahlerisch ausgemalten Bordellbesuche in den Hafenstädten. Auffällig wurde homoerotisches Verhalten seit jeher erst im Zusammenhang mit disziplinarischen Untersuchungen, und diese wurden dann auf den Plan gerufen, wenn es Anlass gab, Missbrauch abhängiger Personen, Rivalität unter Partnern oder Erpressungsversuche in Richtung einer hierarchisch überlegenen Person zu klären, und es zu entsprechender förmlicher Anklage oder auch nur zur Kommunikation eines solchen Vorwurfes kam. War es in irgend einer Weise öffentlich und justitiabel, dann allerdings konnte es zu drastischen Strafen kommen. Auspeitschen oder gar die Todesstrafe durch Erhängen waren in der Royal Navy, wenn es erst einmal zum Schuldspruch durch das Kriegsgericht an Bord gekommen war, die Maßnahmen. Stanley führt die extrem seltenen Fälle von Todesurteilen an, die in den Jahren 1807 und 1816 als spektakuläre Fälle Bekanntheit erlangt haben.455 Winton schätzt den ambivalenten Umgang mit dem Rechtstatus und der Rechtspraxis so ein: »Homosexualität war unter englischem Gesetz bis 1885 kein Vergehen, aber die Marine betrachtete das Problem strenger. Bis 1829 konnte Sodomie an Bord mit dem Tode bestraft werden. … Aber die Bedingungen an Bord begünstigten homosexuelles Verhalten: Es war nicht nur das Fehlen von Frauen, sondern auch das Fehlen von Ausgang und Privatsphäre, lange Seereisen, sehr volle Zwischendecks und das dichte Beieinandersein älterer Männer mit Jungen. Auf einigen Schiffen war Homosexualität zweifellos weit verbreitet und offen akzeptiert. Offiziere, die ranghöchsten Unteroffiziere und höhere Dienstgrade hatten ihre speziellen ›Jungen‹. Die Vergehen wurden im Falle von Anklagen unterschiedlich benannt als anzügliches Verhalten, als grobe Unschicklichkeit, unsittlicher Angriff, unsittliche Handlungen an Jungen, Unreinlichkeit, hässliche Akte, unehrenhaftes Verhalten, skandalöse Handlung, schmutziges Verhalten und unanständige Freizügigkeit. Immer wieder war Betrunkenheit der Anlass, dass sich jemand selbst entlarvte.«456

455 Stanley: Homosexuality, S. 148. 456 Winton, S. 184–185. Zu beachten ist, dass »Sodomy« homosexuelles Verhalten meint.

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Auch zwei von Earle aus Gerichtsakten zitierte Fälle weisen »die allerüblichste Entschuldigung, die Seeleute bei irgendeinem Ärger vorbrachten«, auf, nämlich die, »während der vorgeworfenen homosexuellen Handlung betrunken gewesen zu sein«. Insgesamt schätzt Earle, dass »homosexuelle Beziehungen in der ganz oder nahezu ganz männlichen Welt der Schiffe, obwohl nicht unbekannt, so doch selten« waren.457 War die entbehrte und ersehnte Frau in der Heimat oder im nächsten Hafen ein Hauptgesprächsthema an Bord, war es die Angst vor Potenzproblemen nicht minder, zumindest, wenn es nach längerer Zeit auf See einem Landurlaub entgegenging, trotz und gleichzeitig wegen der erwarteten sexuellen Aktivität. Deshalb gab es eine besonders große Zahl von volkskundlichen Mitteln zur entsprechenden Potenzsteigerung. Typisch sollen gewesen sein: Knoblauch und Sellerie, Artischocken und Spargel, Bananen und Ananas, Blütenpollen aus dem Bienenstock, Petersilie, Rosmarin, aber auch so harmlos klingende, alltägliche Nahrungsmittel wie Hafer und Pellkartoffeln. Man bestellte in gutem Glauben und um die Angst zu besänftigen, beim Koch entsprechende Speisen oder Tees und gab, etwa für die erwähnten Blütenpollen, ein Vermögen aus.458 Schlussfolgerungen Was über die Prostitution im Zusammenhang mit den Landurlauben gesagt wurde, gilt auch für das Ausleben von sexuellen Wünschen an Bord. Es ging um ein fragiles Gleichgewicht von Erlaubnis und Verbot, von Freizügigkeit und Einschränkung. Mehr noch als bei der Prostitution in den Hafenstädten, immerhin eine mehr oder weniger legalisierte, mindestens aber eine allgemein »gewusste« Angelegenheit, war auch die Sexualität an Bord von der Zwiespältigkeit des Nicht-Wissen-Dürfens und Doch-Tun-Wollens und ErmöglichtHabens betroffen. Dass legale Ehefrauen der Seeleute mitfuhren, gehörte schon in der Handelsmarine zur Ausnahme, in der Kriegsmarine war es vollends so gut wie ausgeschlossen. In unseren Quellen finden sich lediglich die oben zitierten Hinweise auf die Anwesenheit von Frauen auf den Schiffen, die als Wäscherinnen arbeiteten. Als die zu unterbindende Aktivität wird die Prostitution gleichwohl hier und da genannt. Noch stärker betrifft die offizielle Negierung die Homosexualität. Der Schiffsarzt »durfte« keinen Kommentar dazu in seinen Medical Journals abgeben und tat es auch nicht. Ebenso wenig taucht das Thema in den gedruckten, von der Admiralität herausgegebenen Statistical Reports auf. Wo es als große Ausnahme dennoch geschah, konnte es in eine Katastrophe münden.

457 Earle: Sailors, S. 102–103. 458 Bankhofer: Schiffs- und Seemannsheilkunde, S. 116–119 .

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Dieses Gleichgewicht von informellem Wissen voneinander und übereinander kann als erstaunliche Leistung gewürdigt werden. Es muss viel psychische Energie gekostet haben. Eine bestimmte Art gegenseitigen Vertrauens, das allerdings auch Misstrauen als Strategie des Vertrauenserhaltes eingeschlossen haben wird, war dazu notwendig, vielleicht vergleichbar mit der Situation auf physischem Gebiet bei der Arbeit in der Takelage, wo jeder einzelne genauso existenziell auf den anderen angewiesen war wie der andere auf den Betreffenden selbst.

4.19 Emotionalität an Bord In allem, was das Leben an Bord ausmacht, können wir tief unbewusste Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster erkennen, die aus der Tatsache resultieren, dass das Schiff in seiner Welt des Wassers bereits in einer fremden, ursprünglich feindlich-gefährlichen und deshalb gefürchteten Welt zu Hause ist. Das »große Wasser« musste immer schon Gegenstand von Projektionen sein, denn der Mensch ist ohne erhebliche Kulturleistung nicht dort, auf dem Meer, sondern hier, an Land.459 Im Sinne echter Omnipräsenz ist Wasser in allen Mythologien anzutreffen, sei es in seiner lebensspendenden, sei es in seiner vernichtenden Macht. Die Anfangsgründe der psychischen Dimension formulierte Freud, als er die vorgeburtliche Existenzform im uterinen Fruchtwasser mit dem uns allen innewohnenden »ozeanischen Gefühl« verband. Der Übergang zur transzendenten Dimension ist uns in der sakralen Verwendung des Wassers in der Taufe als »Wasser des Lebens« tief vertraut, wobei es auch, wenn auch seltener, eine negative sakrale Bedeutung des Wassers als »Wasser des Vergessens« gibt.460 In der »Geschichte kollektiver Ängste« spielt das Meer immer schon eine herausragende Rolle.461 Die Herausforderung, die im Befahren des offenen Meeres liegt, und die gleichzeitige vollkommene Abhängigkeit von den meteorologischen Bedingungen an Bord eines Segelschiffes mit der wortwörtlichen Unberechenbarkeit, ja Launenhaftigkeit von Wind und Wellen, musste eine eigene, spezifische Haltung erzeugen. Sie steht in dem Spannungsfeld zwischen dem großen, unfassbar-numinosen Respekt vor den Naturbedingungen und der Bereitschaft, mit ihnen zu kämpfen. Auf emotionaler Ebene entspricht dieser Ambivalenz einer 459 Dieser uns fremden Welt des endlosen Wassers hatte vor einigen Jahren der Spielfilm »Waterworld« von Kevin Reynolds einen alptraumartigen Ausdruck verliehen. Die Sehnsucht der Menschen dort ist ein Fleckchen trockenes Land. Der Filmtitel »All is lost« mit­ Robert Redford 2014 sagt alles. 460 Vgl.: Prahl, H.-W.; Schack, M.: Meer und Gesellschaft, Kiel 1992. 461 Vgl.: Delumeau, Jean: Angst im Abendland, Reinbek 1985, S. 49–62, Bd. 1.

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seits der Wunsch, sich den »höheren Mächten« zu ergeben, andererseits das Auto­nomiestreben mit dem Bedürfnis der Selbstkontrolle samt dem Eros, der in solcher aggressiver Selbstbehauptung liegt.462 Diese Wechselwirkung von Naturbedingungen und menschlicher Reak­ tionsweise spiegelt sich in vielen Lebenserinnerungen von Hochsee-Matrosen in Sätzen wie: »Den größten Einfluss auf uns alle haben Wind und Wetter: Ein Kapitän, der bei dauernd schiefem Wind noch guter Laune bleibt, kann kein guter Kapitän sein.«463 Denkt man zunächst an die Herausforderung im Sturm, so ist die psychische Belastung einer Flaute nicht geringer. »Wir lagen hilflos auf einer öligen See, die Spieren starrten nutzlos in den Himmel. Die Hitze war schrecklich. Eisen war zu heiß, um es anzufassen und das Pech trat in Blasen aus den Fugen der Decksplanken und haftete an unseren nackten Fußsohlen. Von den Rahen hingen die Segel reglos in schweren Falten. (…) Es war entnervend. Der Mann am Ruder lehnte untätig an den Ruderspeichen, denn das Schiff hatte jede Ruderwirkung verloren; das Zwischendeck war wie ein Backofen und unser einziges Vergnügen bestand darin, den unverschämt blauen Himmel abzusuchen und Wind heranzupfeifen.«464

Die andere Art von Abhängigkeit war die rein zwischenmenschliche. Dabei ist ein nicht einfach zu deutendes Detail der Umstand, dass unter Seeleuten nicht das Wort »Kamerad« benutzt wurde. Schmidt geht zwar darauf ein, erklärt aber nur: »Unter Seeleuten war diese Vokabel nun mal ungebräuchlich.«465 Zu vermuten ist, dass Matrosen ihre enge gegenseitige Abhängigkeit, was Zuverlässigkeit und gemeinschaftliches Denken betrifft, derart hoch, und höher als in irgendeinem anderen sozialen System einschätzten, dass sie das zum Beispiel im Militär verankerte Wort »Kameradschaft« nicht für sich verwenden wollten. Auch zwischen der Handels- und der Kriegsmarine wollte man sich in dieser Hinsicht noch unterscheiden. Konkurrenzgefühle wurden unter den Seeleuten verschiedener Nationen durch gegenseitigen Respekt unterschiedlicher Tönung, in teils humorvoll dis 462 Ein Denkmal für die Ewigkeit hat Victor Hugo diesem Kämpfer in seinem »Les travailleur de la mer« (»Die Arbeiter des Meeres«) gesetzt. Gilliat entreißt dem Meer das verloren geglaubte Schiff. Er besiegt mit den Wellen den »Abgrund der Tiefe« und mit dem Wind den »Abgrund der Höhe«, weil er »aus der Kenntnis des Bösen Gutes gewinnt«. Was in diesem Roman an Eros dargestellt ist, wird in dem Werk von Weltrang, dem »Moby Dick« von Herman Melville, an Machtstreben und Kontrollwahn ausgemalt. Vgl.: Hugo, Victor: Die Arbeiter des Meeres, Hamburg 2003, S. 369. Melville, Herman: Moby Dick, München 1974; Drewermann, Eugen: Moby Dick oder Vom Ungeheuren, ein Mensch zu sein, Düsseldorf 2004. 463 Hauser, Heinrich: Die letzten Segelschiffe, Berlin 1940. 464 Clements, Rex: A Gipsy of the Horn, London 1951, S. 56–57. 465 Schmidt: Von den Bräuchen, S. 42. An manchen Stellen entdeckte ich das Wort »Gefährte«, kann aber nicht beurteilen, wie gebräuchlich es unter Seeleuten war.

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tanzierter, teils irrational gefährlicher Weise kanalisiert. Wossidlo hat viele Aussagen darüber gesammelt. Seine Zeugen waren deutsche Seeleute, sodass er etwa zu der Frage, wie der englische Matrose bei den deutschen angesehen war, schreibt: »Das Verhältnis zu den Engländern war durch eine merkwürdige Mischung aus Hoch- und Mißachtung bestimmt. Wir finden anerkennende Worte, … andererseits tadelte man seine Anmaßung.«466 Die »Anmaßung« sahen sie in der Tatsache, dass der »Engelsmann« seinerseits die Deutschen »Frischwatersailors« nannte, womit er Seeleute meinte, die nur in der Nord- und Ostsee herumfuhren. Die englische Sprache war bei aller sprachlichen Buntheit an Bord das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch die dominierende. Deshalb stellten deutsche Seefahrer fest: »Auch hinsichtlich des Sprachgebrauchs fühlte man sich einerseits zurückgesetzt. Andererseits war man stolz auf englische Sprachkenntnisse.«467 Die größte Achtung hatten die vielen von Wossidlo Befragten von der Mecklenburger Küste vor den Holländern, die engste Verbindung bestand zu den Dänen als den nächsten Nachbarn, während »man den Skandinaviern glaubte mißtrauen zu müssen.« Im kleineren Rahmen eines einzelnen Schiffes war das soziale Gefüge ein sensibles Thema, für den unbefangenen und unwissenden Beobachter über rauhe Formen und grobe Mechanismen geregelt, wie oben in den Abschnitten zur »Disziplin« und zur »Freien Zeit an Bord« bereits gezeigt. Die Hierarchie an Bord entwickelte sich jedoch immer wieder neu aus Tradition, Zweckmäßigkeit und Machtstreben. Unter den Matrosen der Handelsschiffe waren innerhalb einer Wache, war diese erst einmal durch Kapitän und Erstem Steuermann ausgezählt, die »Toppgasten« diejenigen, die für verschiedenste seemännische Belange zuständig waren, und »Toppgast zu sein, galt auf allen Schiffen mit Recht 466 Dies und folgende Zitate: Wossidlo, S. 171–177. Nach Reich und Pagel handelt es sich bei der volkskundlichen Sammlung Richard Wossidlos, die in Rostock aufbewahrt und beforscht wird, um die unglaubliche Zahl von etwa zwei Millionen Handzetteln, die mündliche Mitteilungen festhielten! Vgl.: Reich, Pagel, S. 321. 467 Auf dieser Tatsache der schon lange bestehenden Bedeutung der englischen Sprache auf See basiert die 1980 durch die International Maritime Organization of the United Nations (IMO) eingeführte Sea Speak oder Essential English for International Maritime Use. Dieses Gewicht erhielt das Englisch aber erst im Laufe des 19. Jahrhunderts. Im 16. und 17. Jahrhundert war das Holländische die dominante Sprache, wenn die Mannschaften von Schiff zu Schiff zu kommunizieren hatten, und viele der typisch englischen nautischen Begriffe (zum Beispiel »bowline«, »buoy«, »keelhaul« oder »sloop«) sind aus dem Niederländischen entlehnt. Dabei spielte nicht nur die Vormachtstellung Großbritanniens auf den Weltmeeren während des 19. Jahrhunderts eine Rolle, sondern als ein spezifisch verstärkender Faktor die Ein­f ührung der Dampfmaschine auf den Schiffen und die dafür erforderliche Kommunikation, angefangen bei den gängigen (überwiegend englischen) Manualen für die neue Technologie bis hin zur Verständigung zwischen Brücke und Maschine, wobei mit »der Maschine« die Maschinisten beziehungsweise die Ingenieure gemeint sind. Vgl.: Molt, Elizabeth: Language: Dictionaries, in: Hattendorf, J. (Hg.): The Oxford encyclopedia of maritime history, New York 2007, Bd. 2, S. 318–321.

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als Auszeichnung«.468 Wer an welchem Mast der Toppgast war, war wiederum nach ungeschriebenen Gesetzen der Tradition geregelt. Auch die Steuerbordseite konnte eine andere Bedeutung als die Backbordseite haben. »Auf Kriegsschiffen soll die Steuerbordseite dem Kommandanten vorbehalten geblieben, das Fallreep dieser Seite den gewöhnlichen Sterblichen verwehrt gewesen sein«, zitiert Schmidt, der als Kapitän der Handelsmarine Wert darauf legt, dass in ihr Wachen stets nur nach Leistung beurteilt worden seien.469 Im Mannschaftslogis gab es nochmals eine Rangabstufung, die sich nach körperlichen Kräften richtete. Der Stärkste, der »Baas«, hatte das Sagen. Oft genug war der wichtigste Regelungsmechanismus die schiere »Hackordnung«. »Die Solidarität der Mannschaft untereinander hörte sofort auf, wenn ein einzelner das soziale Gefüge in Frage stellte. Die ungeschriebenen Gesetze herrschten nicht nur bei der Arbeit, sondern auch in der Freizeit, beim Essen und sogar beim Schlafen. … Aufgestauter Ärger wurde von oben nach unten weitergegeben, zu leiden hatten dabei hauptsächlich die niederen Dienstränge. Die Prügelknaben an Bord waren die Schiffsjungen, denen immer die schmutzigsten Arbeiten zugeteilt wurden. Auch wenn er sich noch so viel Mühe gab, irgendeinen Grund fand man immer, um seine schlechte Laune an ihm auszulassen. Viele Jungen kehrten nach diesen Erfahrungen der Seefahrt für immer den Rücken.«470

Solche Hackordnung entstand nicht nur durch die tägliche Erfahrung in der Arbeit, sondern auch durch Einsatz der verschiedenen Initiationsriten, von denen ein harmloser Brauch in Form des »Hänselns« bis in die Gegenwart hineinreicht: Der »Frischling« wird spaßhaft zu den unmöglichsten Aufgaben losgeschickt und muss sich den Spott der erfahrenen Matrosen anhören und zeigen, dass er belastbar genug ist, diesen Spott, stellvertretend für andere Härten, zu ertragen. Es geht dabei um Belastbarkeit überhaupt und um emotionale Belastbarkeit im Besonderen. Viele andere, brutale Inititationsriten gab es, die einerseits der Bestätigung und der Stärkung des Zugehörigkeitsgefühles des neuen Mitgliedes zur Gruppe dienten und die andererseits die gegenseitige Abhängigkeit der Gruppen­ mitglieder deutlich machten. Im Falle des Seemannes mit seiner gefährlichen Arbeit in der Höhe von Masten und Segel, und dies nicht nur im Sturm, war es eine Abhängigkeit auf Leben und Tod. Der Fehler des einen Seemannes konnte rasch zum Unglück für den anderen werden. Lange vor dem vielleicht populärsten Ritual an Bord, der »Äquatortaufe«, die im 17. Jahrhundert in der englischen Marine aufgekommen ist, gab es als Brauch zur Versicherung von physischer 468 Schmidt: Von den Bräuchen, S. 51. 469 Ebd. 470 Rath, Jürgen: Matrosen und Junggrade, in: Plagemann, Volker (Hg.): Übersee, München 1988, S. 261.

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und psychischer Kraft den absichtlichen Sturz in die Meeresfluten. Der neue Matrose an Bord kletterte auf die unterste Rah, dort hinaus zu ihrem äußersten Ende, der Nock, und ließ sich in das Wasser fallen. Er war an einer Leine angebunden, mit der er aus dem Wasser gezogen wurde. Es muss diese Prozedur erhebliche Angst ausgelöst haben, zumal wenn es ein Nichtschwimmer war, wenn das Schiff ordentlich Fahrt machte und wenn selbst seine unterste Rah noch viele Meter über der Wasseroberfläche schwebte. Dieser Brauch war unabhängig vom Breitengrad. Anders die »Äquatortaufe«. Sie wurde durchgeführt, wenn ein Seemann zum ersten Mal die südliche Erdhalbkugel erreichte. Die »Taufe«, wie die »Äquatortaufe« an Bord verkürzt hieß, (und im Englischen als Rites of Passage ohne begrifflichen Bezug auf das Taufen ist) war in ihren unterschiedlichen Formen und unendlichen Variationen der Ausführung gleichzeitig eine Art Opfergang vor dem Meeresgott Neptun, dann eine symbolische Erniedrigung und Einverständniserklärung vor der Hierarchie der Gruppe an Bord und schließlich eine Mutprobe, die zeigen sollte, dass die Mannschaft sich auf den neuen Mann verlassen konnte. Nach Meinung von Stammler sowie von Schmidt wurde sie erst im Laufe der Zeit als ein Reinigungs-Ritual aufgefasst, insofern einer christlichen Taufe entsprechend: Man war vom Schmutz der nördlichen Halbkugel gereinigt und hatte jetzt erst die Erlaubnis, in die südliche Hemisphäre einzutreten. Erst wer diese Taufe hatte über sich ergehen lassen, gehörte zur Gruppe der »Hochsee-Seeleute«, der Deep Sea Sailors.471 Die Gefühle bei der »Zeremonie« lesen sich bei Baines, dessen genauer Beobachtung vertraut werden kann, zum Beispiel so: »War mit Neptun etwas Unbestimmtes an Bord gekommen, ein fremder Gott? Um ihre Lippen spielte ein Ausdruck von Gewalttätigkeit, in den Augenwinkeln kauerte etwas, das, wer es mal beobachtet hat, nicht mißverstehen kann, denn es verrät Mordgedanken. Wer schon einmal überfallen worden ist, kennt die Anzeichen. Die hatte ich jetzt bei den Matrosen gesehen. Es waren nicht die Männer, mit denen ich freundlichen Umgang gehabt hatte. Machten aufgespeicherte Sehnsüchte sie so wild? Erotische vielleicht?«472

Angst zu ertragen und sie dabei nicht zu zeigen, wird eine ständige emotionale Herausforderung an Bord eines Schiffes gewesen sein. Gefahren lauerten immer und überall, und es galt mit ihnen zu rechnen. Der Schiffsführer konnte manches Mal nur zwischen verschiedenen gefahrvollen Alternativen entscheiden. Ein Abwarten gab es oft nicht, bzw. konnte noch größere Gefahren heraufbeschwören. Die Mannschaft hatte zwar nicht die Entscheidungsnot, in die ihr Kapitän kommen konnte, musste sich dafür aber der jeweiligen Anordnung 471 Peter, Karl Hinrich: Wie ich Neptuns Freund wurde, Schiffahrt Internat. (1977), S. ­81–90; 131–140; Schmidt: Von den Bräuchen; Stammler, Sp. 1815–1880. 472 Baines: In Deep, S. 153.

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fügen und die Aufgabe so gut wie nur möglich ausführen, um dadurch bestimmte Gefahren zu vermindern.473 Vermutlich war die wichtigste Bewältigungsstrategie hierfür die gemeinsame Regel, nicht über die Angstempfindungen zu reden. Gerstenberger und Welke stießen in ihrem Material, das sie aus der Seefahrt an den deutschen Küsten gesammelt haben, auf eben diese dezidierte Einstellung des Seemannes, wonach es verpönt war, über ausgestandene Gefahren zu berichten, ganz zu schweigen davon, von der eigenen Angst in der Gefahrensituation zu erzählen.474 Das enge Zusammengehörigkeitsgefühl, das wir in das geflügelte, landläufige Wort übernommen haben, dass wir manchmal »alle in einem Boot sitzen«, kann als gemeinsame Verdrängungsleistung essentielle Hilfe in der Not sein. Baines beschreibt diese Verdrängungsleistung in dem Moment, da sie versagt. Bei der Äquatortaufe ist ein tödlicher Unfall geschehen, das hilfreiche Gefüge gerät für kurze Zeit durcheinander: »Die beiden letzten Tage waren allen sehr an die Nerven gegangen. Vom Schiff entfernen konnte sich ja keiner, nicht wegkommen aus dem Netz menschlicher Beziehungen, der kreuz und quer spürbaren inneren Verbundenheiten und Seelenverwandschaften, die bisweilen, in ihrer geschlossenen Ruhe, etwas Vollkommenes, gleichsam Abbilder der göttlichen Ordnung und anspruchslosen Schlichtheit der Sternbilder waren, jedoch, sobald Unruhe aufkam, diese Vollkommenheit bis zur Unkenntlichkeit verzerrten.«475

Von den unendlich vielen Gefahrenquellen seien einige Beispiele angeführt. Mit ständiger Brandgefahr mussten alle mit voller Ladung von Chile wegsegelnden Salpeterschiffe leben. Das Nitrat, erst einmal in Brand, wenn auch nur als Schwelbrand, war praktisch nicht zu löschen. Ebenso gibt es Berichte von wochen- und monatelangen Schwelbränden auf Schiffen mit Kohle-, Baumwolloder Hanfladung, die in diesem bedrohlichen Zustand einen Hafen erreichen mussten.476 Die Eisberge in der Nähe der Falklandinseln auf Fahrten um das Kap Hoorn waren gefürchtet. Der Ausguck auf dem Mast, der »Toppgast« oder »Kiekut«, starrte ebenso wie der Ausguck am Bug des Schiffes, der »Lugut«, Tag und Nacht auf das Meer, um eine entsprechende Kollisionsgefahr möglichst früh 473 Eine Arznei gegen diese Angstgefühle und für die Angstbewältigung gab (und gibt) es nicht, ausgenommen volksheilkundliche Mittelchen, die allerlei Aberglaube bedienten. Vgl.: Bankhofer: Schiffs- und Seemannsheilkunde, S. 120–122. Er führt verschiedene solche volkstümlichen Rezepturen für »Heimweh, Nervosität und Angstzustände« an. In den Medical Journals finden wir einige wenige Angstreaktionen, auf die gezielt Einfluss genommen wird. Sie sind im Abschnitt »Anpassungsstörungen« aufgeführt. 474 Gerstenberger, Welke: Vom Wind zum Dampf, S. 98. 475 Baines: In Deep, S. 174. 476 Viele Beispiele zur Gefahr von Feuer und auch Explosionen an Bord von Schiffen des ausgehenden 19. Jahrhunderts gibt Brennecke: Windjammer, S. 172–184.

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zeitig zu erkennen. Was aus späteren Zeiten der Seefahrt unter den Bedingungen des Ersten und Zweiten Weltkrieges berichtet ist, dass nämlich halluzinatorische Wahrnehmungsstörungen während solcher Ausschau-Wachen mit ihrem endlosen In-die-Leere-Starren auftraten, dürfte es auch schon zu früheren Zeiten gegeben haben. Die andere Gefahr sind die Stürme. Vor der Westküste Südamerikas suchte man die »Pamperos«, die ungeheuer raschen und heftig losbrechenden Stürme mit wechselnden Windrichtungen und heftigen Gewittern zu erkennen, bevor sie das Schiff erreichten. Diese Stürme entstehen durch heiße Luftmassen, die über den argentinischen Ebenen entstehen. Blitze in der Ferne waren das einzige Erkennungszeichen für diese Bedrohung. Auf das Barometer konnte man sich nicht verlassen. In Ostasien sind es die Taifune, Wirbelstürme, die von Dezember bis März an der innermonsunalen Front zwischen dem chinesischen und japanischen Monsungebiet auftreten. Auf ihrem bogenförmigen Weg Richtung Osten können sie wegen ihrer geringen Tendenz zur Fortbewegung sehr langlebig sein.477 Eine Umsegelung des Kap Hoorn war in jedem Falle eine Mutprobe. Die Umsegelung in Richtung Westen galt als die noch schwierigere als die gen Osten. Bei der Fahrt aus dem Pazifik in den Atlantik war ungewiss, wie gut man gegen die Meeresströmung des Humboldtstromes ankam. 400 Seemeilen Abdrift sind beschrieben und 80 letztlich vergebliche Segeltage, die mit der Umkehr und Rückkehr an den Ausgangsort beendet wurden, weil der Proviant aufgebraucht war.478 Doch auch das uns unter dem Namen »Kap der Guten Hoffnung« vertraute südliche Ende Afrikas hieß eine viel längere Zeit der Seefahrt »Kap der Stürme«. Zwar liegt es nicht in so hoher südlicher Breite wie die südamerikanische Landspitze, die Wassermassen des Atlantischen und des Indischen Ozeans können aber unterschiedlicher nicht sein und erzeugen ein wahrhaftiges meteorologisches Chaos. Aus tiefsitzender Angst soll die Phantasie der Seeleute besonders mit Geschichten von Menschenfresserei und Kannibalismus beschäftigt haben. Niaussat stellt das Phänomen der Anthropophagie in einer kurzen, aber prägnanten Arbeit dar.479 Es war nicht nur bis in das 19. Jahrhundert, sondern sogar noch im 20.  Jahrhundert grässlicher, wenn auch nicht häufiger Erfahrungsgegenstand in Rettungsbooten nach Schiffbrüchen. Kannibalismus blieb Gegenstand von Erzählungen aus exotischen, »wilden« Welten. Immerhin gibt es einen eige 477 Eine Zusammenstellung aller regional unterschiedlichen Stürme, nicht nur der »Pamperos, Hurrikane und Taifune«, findet sich bei Brennecke, ebd., S. 122–141. 478 Ebd., S. 39–67, 95–117. 479 »Anthropophagie« meint den Verzehr von Menschenfleisch zur Ernährung im Notfall, »Kannibalismus« den Verzehr aus rituellen Gründen ohne Nahrungsknappheit. Vgl.: Niaussat, Pierre Marie: Seefahrt, Menschenfresserei, Kannibalismus, in: Klüver, H. (Hg ): Leben und Sterben an Bord, 2002, S. 17–32.

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nen Shanty zu diesem Thema. Eine Kopfjagd soll noch im Jahre 1956 in Papua beobachtet worden sein.480 Neben der Angst kann Einsamkeit ein intensiv empfundenes, besonders schwer erträgliches Gefühl sein. Es wird sich in mancher Heimwehproblematik geäußert haben. Wir können annehmen, dass es nicht nur das Sehnen nach der geographischen Heimat, sondern das nach Geborgenheit in der Gruppe gewesen ist. Auch und gerade der Kapitän (beziehungsweise der »Schiffer« oder »Schiffsführer«, wie die amtliche Bezeichnung in Deutschland bis 1902 lautete)  fand sich mit dieser Herausforderung konfrontiert. Oberste Autorität zu sein, konnte größte Einsamkeit bedeuten. Die Verantwortung war unteilbar, eine Distanzierung von ihr konnte extrem schwer fallen oder ganz misslingen. Ein Beispiel unter vielen für dieses unbedingte Verantwortungsgefühl ist der Kapitän, der aus dem Schlaf heraus aus seiner Kabine an Deck kommt, weil er eine zwar kaum merkliche, aber mit seinem »Ersten« nicht abgesprochene Kursänderung »gespürt« hat.481 Rath resümiert: »Durch die in der Seemannsordnung abgesicherte Rechtsstellung, verbunden mit den Möglichkeiten der Polizeigewalt, war der Kapitän im wahrsten Sinne des Worters »master next god« an Bord. … Nicht selten verspielten Kapitäne den Vertrauensvorschuss der Besatzung durch allzu rigide Durchsetzung der Reedereiinteressen oder durch Ausnutzung der eigenen Position. … Die soziale Distanz zum Rest der Besatzung führte ohnehin zu einer Vereinsamung des Schiffsführers, auf Schiffen jedoch, auf denen ein schlechtes Betriebsklima herrschte, dürfte diese Einsamkeit den Kapitän in noch viel stärkerem Maße getroffen haben.«482 480 Ebd., S. 27. 481 Mündliche Mitteilung von Kapitänsfrau Ingeborg Philipp, Kiel. 482 Rath, Jürgen: Kapitäne und Schiffsoffiziere, in: Plagemann, Volker (Hg.): Übersee, München 1988, S. 257–260. An dieser Stelle sei angemerkt, dass das Problem der emotionalen Bewältigung von drangvoller Enge auf Schiffen früherer Jahrhunderte durch das nicht geringere Problem großer Isolierung des Einzelnen an Bord in der modernen Seefahrt, vor allem der letzten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, abgelöst worden ist. Vgl.: Thielicke, Helmut: Mensch und Schiff, in: Schiffahrtsmed. Institut der Marine Kiel: Mensch und Schiff, Kiel 1972, S. 7–14. Endlos ist die Liste der technischen Veränderungen, die dazu beitragen, bis hin zur Existenz von Klimaanlagen und der Tatsache, dass nicht mehr gesungen wird, weil nicht mehr gesungen werden muss. Menschliche Hilfe wird als Ausgleich gesucht und Erziehungsoffiziere werden eingesetzt. Die meisten gesundheitlichen Probleme, von denen wir in den Dokumenten des 19. Jahrhunderts lesen, finden heute eine unvergleichlich bessere Lösung. Es sind aber auch neue hinzugekommen wie das des Lärmes durch riesige Maschinen an Bord. Vgl.: Spreter von Kreudenstein, ebd., S. 115–118. Als nach wie vor ungelöstes Problem muss das der Biorhythmik bei Schichtarbeit angesehen werden. Angesichts des zwangsläufigen 24-Stunden-Betriebes an Bord ist ein Wachensystem wie eh und je unumgänglich. Vgl.: Hildebrandt, ebd., S. 23–34, S. 32. Auch sind trotz aller Klimatisierungstechnik hohe Temperaturen, etwa in den Maschinenräumen, zu bewältigen. Vgl.: Witzleb, ebd., S. 57–66, S. 64.

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Auch für diese Einsamkeit in der alleinigen Verantwortung gab es Lösungsversuche. Schmidt weist auf die tradierte Form des »Schiffsrates« hin.483 Ihn konnte der Schiffsführer in einer Situation äußerster Gefahr einberufen. Er bestand aus dem Kapitän, seinen Steuerleuten und allen erfahrenen Leuten der Besatzung. Sie beschlossen gemeinsam, was zu tun sei und waren gemeinsam verantwortlich, also nicht mehr allein der Kapitän. Diese Möglichkeit war eine Institution zur »Erleichterung der drückenden Verantwortungslast, die auf dem Schiffsführer ruht.« Schmidt schränkt aber ein: »Nach modernem Recht« sei zwar »der Brauch des Schiffsrates erhalten geblieben«, dieser habe jedoch nur noch beratende Funktion. Gebunden sei der Kapitän »keineswegs mehr an seine Beschlüsse«.484 Schlussfolgerungen Neugier, Abenteuerlust, Freude an den eigenen Kräften und an der Gruppenzugehörigkeit sind auf der Seite positiv getönter Gefühle zu nennen. Heimweh, Einsamkeit und Ängste kamen auf der Negativseite hinzu. Aggressive Spannung und sexuelle Impulse sind in den vorausgehenden Abschnitten behandelt. Wir haben es bei den hier untersuchten Schiffen zum großen Teil mit sehr jungen Menschen zu tun, die den Umgang mit solchen Emotionen erst zu lernen im Begriff waren. Deshalb ist die Eingebundenheit in die Schiffsmannschaft gar nicht hoch genug zu veranschlagen. Sie ermöglichte gegenseitige Bestätigung und Korrektur und auch eine Kontrolle der Grenzen, die auf längere Sicht vermutlich wirksamer war als die formale durch die hierarchischen Strukturen. Auch innerhalb der jeweiligen Subgruppe bildete sich eine hierarchische Ordnung heraus, vom Privileg der Erfahrenen über die physische Präsenz und Muskelstärke bis zur blanken Hackordnung, an deren unterem Ende sich die jungen und gehemmten Besatzungsmitglieder rasch wiederfinden konnten. Wir müssen davon ausgehen, dass Gefühle weniger durch Worte als durch Handlungen zum Ausdruck gebracht wurden. Deshalb hatten die vielen ritualisierten Abläufe an Bord eine eminent wichtige Bedeutung für die Kommunikationsabläufe. Positiv gelernt wurde durch Nachahmung des Nächstälteren, des Nächsterfahrenen, des Stärkeren und vom Vorgesetzten, was idealerweise das Gleiche bedeutete. Negative Lernerfahrungen werden durch schmerzhafte Erlebnisse am eigenen Leib (und der eigenen Seele) und durch direkte Sanktionierung in Form von Korrektur oder Bestrafung erfolgt sein.

483 Schmidt: Von den Bräuchen, S. 124. 484 Ebd.

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4.20 Brauchtum, Religiosität und Aberglaube 4.20.1 Die religiöse Grundhaltung Wir sprechen von der »christlichen Seefahrt«. Eine allgemein anerkannte Erklärung dafür, dass wir die Seefahrt »christlich« nennen, gibt es jedoch nicht. Nach Stammler geht die Bezeichnung noch auf die von Spanien ausgehenden, dezidiert gegen arabische Seeräuber gerichteten Fahrten zurück, womit das Attribut »christlich« mehr einen Zweck denn eine Eigenschaft beschriebe.485 Einigkeit herrscht in der Annahme: Der Seemann war ein gläubiger Mensch, jedoch verbarg er seinen Glauben gut.486 Er verbarg ihn hinter vielfältigem Aberglauben ebenso wie hinter einer vermeintlich rauen, gänzlich unmetaphysischen Haltung. Uneinigkeit herrscht allerdings über die Erklärung dieser Zuschreibung. Einerseits wuchs jeder zukünftige Seemann zunächst unter den gleichen Bedingungen auf wie seine Zeitgenossen, die ihr weiteres Leben an Land zubrachten, andererseits geschah der Eintritt in die Seefahrt in recht jungen Jahren, sodass die Kontrolle gewisser Autoritäten ab- und der Einfluss spezifisch seemännischer Kultur im weiteren Jugend- und Erwachsenenalter zunahm. In der belletristischen Literatur ist diese Thematik häufiger bearbeitet als in der Fachliteratur.487 Schon die Person des Priesters an Bord wird doppeldeutig aufgenommen und kommentiert. In ebenso ehrfürchtiger wie spöttischer Überziehung heißt der (anglikanische)  Pfarrer auf englischen Schiffen immer schon Holy Jo.488 Uralt ist die Überzeugung, dass ein Priester an Bord Unglück bringt, ebenso wie

485 Stammler, Sp. 1825. 486 Vgl.: Henningsen: Das nasse Grab des Seemannes, S. 26–30. Ein durchaus nützliches Anleitungsbüchlein für den Seemann konnte zum Beispiel »Der fromme Seefahrer« heißen und von einem Pastor verfasst sein. Vgl.: Harries, Heinrich: Der fromme Seefahrer, Flensburg 1792. Umgekehrt dient die Welt des Seemannes als religiöses wie auch als säkulares Motiv für alle Kulturbereiche vom Alten und Neuen Testament über die ganze Kunst-, Musik-, Literatur- und Architekturgeschichte. Vgl.: Göttlicher, Arvid: Religious Motifs, in: Hattendorf (Hg.): Oxford encyclopedia 2007, Bd. 2, S. 585–589; Schokkenbroek, ebd., Bd. 2, S. 589– 592. Auf die Omnipräsenz maritimer Symbolik nicht nur in der christlichen Tradition, sondern in vielen, wenn nicht allen Weltreligionen weist die neuere Arbeit von Gerds hin, wobei die Mehrzahl seiner Beispiele aus unserem Kulturkreis natürlich christliche Symbole sind. Dies fängt bei der »Arche« für die Rettung der Welt an und reicht in umgekehrter Richtung bis zu Kirchensiegeln neuerer Zeit, in deren Bildteil so manches stolze Segelschiff prangt. Vgl.: Gerds: Glaube, Seefahrt. 487 Kennerley, Alston: Seafarers’ Religion, in: Hattendorf (Hg.): Oxford encyclopedia 2007, Bd. 3, S. 422–425. 488 Hugill: Shanties, S. 593.

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er beim Fischen nicht zuschauen darf, sollen die Netze nicht leer bleiben.489 Nur durch besonders zupackende Art, ja durch aktive Beteiligung am Kampf gegen die Naturgewalten, wie auch gegen den militärischen (oder seeräuberischen) Feind kann sich der Priester einen gewissen Respekt der Seeleute erwerben, wie es etwa von »Father Mapple« in Melvilles »Mobby Dick« erzählt ist. Der Literaturwissenschaftler Peter Krahé erkennt eine alte Tradition in der immer wieder erzählten zwiespältigen Haltung gegenüber dem Geistlichen, wonach diese Befürchtungen bis auf den biblischen Jonas und den durch seine Gottesflucht hervorgerufenen Sturm und auch auf die Schiffbrüche des Heiligen Paulus zurückgehen.490 Der Teufel verfolgt demnach die Gottesmänner besonders hartnäckig auf hoher See, weil er sie dort leichter erwischt als an Land.491 Man kann diese Überzeugung auch funktional als naiven Erklärungsansatz für die Unberechenbarkeit von Wind und Wellen ansehen. Und auch der aggressive Standesdünkel könnte nach einer Erklärung verlangen und in der Person des Geistlichen einen Sündenbock finden. So wäre die tragische Figur des Pfarrers Colley in William Goldings »Rites of Passage« (»Äquatortaufe«) zu verstehen.492 Er wird an Bord des Auswandererschiffes nach Australien als »a kind of natural bringer of bad luck« angesehen, und er wird selbst Opfer des ihm in die Schuhe geschobenen Unglückes. Seine unbeholfene Frömmigkeit verliert gegen das historisch gewachsene Beziehungsgeflecht an Bord. Sowohl hartnäckiger Aberglaube in seiner unreflektiertesten Form als auch feindseliger Standesdünkel stehen ihm entgegen. Autoren historischer, soziologischer und ethnologischer Studien sehen den Grund für die religiöse Grundhaltung in der Nähe des Todes durch die gefahrvolle Arbeit und im dauernden Kampf mit den erbarmungslosen Elementen.493 Deshalb, so Stammler, gelte: »So gotteslästerlich mancher Seemann flucht, wenn See, Wind und Wetter ihn immer wieder aufhalten: Im Grunde seines Herzens weiß er doch, daß er ein Nichts ist gegenüber dem Weltenlenker. Am treffendsten drückt seinen Gottesglauben der Satz 489 Stammler, Sp. 1821. Eine ganze Reihe historischer Arbeiten befasst sich mit dem Bordgeistlichen. Einen Überblick über diese Literatur und eine eigene Untersuchung, eingeschränkt auf das 18. Jahrhundert und die Royal Navy, liefert: Rodger: Essays, S. X, S. 33–45. In einem Ausblick auf das 19. Jahrhundert stellt er eine sehr stark abnehmende Bedeutung des Priesters an Bord fest, was seine eigentliche geistliche Aufgabe betrifft. Wurde er nicht direkt zur Verbesserung der Disziplin der Mannschaft eingesesetzt und im Grunde missbraucht, konnte er nur hoffen, dass er wenigstens die Rolle des Schulmeisters ausfüllen konnte. In jedem Falle durfte er nicht auf viel Anerkennung seiner Arbeit setzen. 490 Krahé: Literarische Seestücke, S. 168. 491 Ebd., S. 193. 492 Golding, William: Äquatortaufe, München 1983. 493 Vgl.: Du Mollat Jourdin, Michel: Europa und das Meer, München 1993; Weibust: Deep Sea Sailors; Stammler: Seemanns Brauch.

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aus: ›Gott lenkt den Seemann, steuern muß er selber.‹ Also kein blinder Fatalismus beherrscht ihn, sondern ihn beseelt das Vertrauen auf das Können, das Gott in ihn gelegt hat, und mit dem er sich selbst helfen muß.«494

Wenig bedacht ist die psychologische Dimension, die ebenfalls naheliegt, auch ohne den »Kampf mit den Elementen«. Gemeint ist der regelmäßige, auf großer Fahrt ununterbrochene Umgang mit demjenigen Element, das für die Tiefenpsychologie ein Symbol für das Unbewusste schlechthin ist: Die unendliche Weite und undurchschaubare Tiefe des Wassers der Ozeane. Das Meer lädt in seiner unendlichen Weite zur Nachdenklichkeit über das Unendliche ein. »Neben dem Bewusstsein der eigenen Relativität entwickelt sich so das Bedürfnis nach Absolutheit.« Dies ist für du Mollat die recht banale Erklärung für die dauerhafte Affinität des Seemannes zur Religiosität.495 Ja, die See überhaupt, mit ihrem im Unendlichen verschwindenden Horizont, gibt sich für viele Menschen als das Tor zum Tod zu erkennen. Nicht nur der oft erzählte ruhige Blick des alten Menschen auf das Meer hinaus, auch schon die Reise über eben dieses Meer in die ungewisse Ferne entspricht dem geläufigen Topos des Todes als letzter Reise. Mit britischem Humor kann Hamilton-Patersen schreiben:496 »Vielleicht ist das der Grund, weshalb in Großbritannien so viele alte Menschen an die Küste ziehen, um auf den Tod zu warten. Damit nicht zu offensichtlich ist, dass das Unbeständige sie mit dem Anblick der Vernichtung lockt, wirken die Städte baulich oft täuschend solide und liegen an Plätzen, die für ihre Heilwirkungen berühmt sind. Doch wer sich in Bournemouth zur Ruhe setzt, gibt zu, dass er im Übergang ist.«

4.20.2 Christliche Glaubenswelt Das Zentrum des religiösen Lebens ist die Heilige Messe. Deshalb war der Sonntagsgottesdienst auf vielen Schiffen regelmäßiger und geachteter Brauch. Ob es das sonntägliche Ritual gab, war abhängig von der Einstellung des Kapitäns, denn zunächst und zumeist galt der Spruch »Sonntag ist Segeltag«.497 War kein Geistlicher an Bord, was auf den allermeisten Schiffen der Handelsmarine der Fall war, lag die Leitung der Zeremonie in der Hand des Kapitäns. Man las die Messtexte ohne die Wandlung und nannte dies eine »trockene Messe«.498 Dass 494 Stammler, ebd., Sp. 1826. 495 Du Mollat Jourdin: Europa und das Meer, S. 248. Hierzu gehört als Gegenstück der ebenso sehr an die Seefahrt gebundene »Insel-Mythos« als Ausdruck von Hoffen, Träumen und Wünschen, ja schlicht der Sehnsucht nach der »Insel der Glückseligen«. 496 Hamilton-Paterson, James: Seestücke, Stuttgart 1996, S. 169–170 . 497 Wossidlo, S. 145. 498 Du Mollat Jourdin: Europa und das Meer, S. 215.

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der Donnerstag als »Seemannssonntag« bezeichnet wurde und hier und da auch heute so genannt wird, ist eines der vielen Beispiele für die Amalgamierung von germanischer Götterverehrung, hier nämlich des Thors oder Donars, mit christlicher Tradition. Nicht an Land, wohl aber auf See entstand daraus die Tradition, den Donnerstag als diesbezüglich besonderen Tag anzusehen.499 In den Medical Journals finden sich keine Eintragungen über sonntägliche Gottesdienste, jedoch kommen als Patienten des Schiffsarztes und damit als Besatzungsmitglieder immer wieder Geistliche (Chaplains) vor. Wells nennt die stattliche Zahl von 90 Geistlichen (Chaplains) für das Jahr 1870, in dem es ungefähr 150 Schiffe in der Royal Navy gab.500 In den Logbüchern der hier untersuchten Schiffe ist »Divine Service« eingetragen, wenn ein Gottesdienst an Bord abgehalten worden war (was an den meisten Sonntagen so war), und auch, wenn Besatzungsmitglieder für den Kirchenbesuch an Land gerudert worden waren. Die Regierungszeit von Königin Victoria war durchaus von der von ihr vermittelten strengen Religiosität geprägt und gilt dennoch als wesentlich toleranter als vorausgegangene Jahrzehnte und Jahrhunderte. Insbesondere die römisch-katholischen Gläubigen wurden in ihrer täglichen Praxis nicht behindert, wie wir in den soeben genannten Eintragungen in den Logbüchern anhand der an Land ermöglichten katholischen Gottesdienste ausdrücklich erfahren. Die festlichen Anlässe hoher Feiertage, die schmerzlich an die ferne Heimat erinnern konnten, waren an Bord typischerweise extrem einfach, sparsam, hochgradig reduziert und ritualisiert und stellten in dieser Form eine Bewältigung durch Sublimierung dar: Angesichts der Entfernung von zuhause auftauchende schmerzliche Emotionen werden begrenzt zugelassen und in ihrem wahren Ausmaß verleugnet.

4.20.3 Taufe und Bestattung In allen Studien zum Brauchtum an Bord wird das Ritual der Bestattung eines Seemannes auf hoher See beschrieben. Zunächst sei aber darauf hingewiesen, dass nicht nur Bestattungszeremonien an Bord vorkamen, sondern auch, wenngleich sehr viel seltener, Taufen. Wenig ist darüber überliefert, wenn es sich um das Kind einer der halboffiziell oder ganz illegal mitreisenden Frauen war, von denen unter dem Abschnitt »Prostitution« und »Sexualität« berichtet ist.501 Zuverlässig vermerkt wurde, wenn die Frau des Kapitäns ein Kind gebar. 499 Vgl.: Keller, Volker: Pastor auf hoher See, Deutsche Seeschifffahrt (2010), S. 74; ebenso: Gerds, S. 38. Der Tag des Thor oder Donar ist der Donnerstag. 500 Wells, S. 9 und 19. 501 Auch Stark und Berckman nennen keine konkreten Zahlen. Stark: Female tars; Berckman: The hidden Navy.

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Eine Runde Plumpudding und Punsch für die ganze Crew sind für den Fall dieses freudigen Ereignisses dokumentiert.502 Getauft wurde das Neugeborene im nächsten Hafen, oder auch an Bord durch den Kapitän selbst. Die Kinder bekamen dann unter Umständen den Ort ihrer Geburt als Teil ihres Vornamens, sodass es etwa eine »Clara Hobson« oder »Laura Atlanti« gab.503 Eine Seebestattung musste rasch vor sich gehen, und doch galt es, einen gewissen christlichen Kodex einzuhalten. Der Kapitän war durch das Gesetz zur Abhaltung einer Trauerzeremonie verpflichtet, ebenso wie zum Eintrag in das Logbuch. Nur ein »tyrannischer Skipper« konnte der Mannschaft die Erfüllung dieser traurigen Pflicht ausschlagen.504 Viele Zeugnisse von den unterschiedlichen Ausführungen der letzten Ehrbezeugung sind erhalten. Zur Durchführung war zunächst notwendig, die Fahrt aus dem Schiff zu nehmen. Dies war Ausdruck der Bedeutsamkeit der Bestattung, die in Ruhe vonstatten gehen sollte, und gleichzeitig praktische Notwendigkeit, denn nur dann konnten alle Mann ihren Arbeitsposten verlassen. Die Schiffsflagge wurde auf Halbmast gesetzt und ein gemeinsames Lied, oft das Lieblingslied des Verstorbenen, angestimmt. Zuvor hatte der Kapitän ein paar Worte gesagt, einen Bibeltext verlesen und vielleicht ein Vater-Unser gesprochen. Auch wurde der Leichnam, eingenäht in Segeltuch, oft in eine Flagge seines Herkunfts­ landes gewickelt. Salz und Brot und auch Geldmünzen wurden dem Verstorbenen mitgegeben, oder auch »ein bisschen geweihte Vaterlandserde«, die sich »wohlverwahrt am Grunde des (See)Sackes« finden ließ, wurde in seinen »hänfenen Sarg« getan, wie es im Expeditionsbericht der österreichischen Fregatte­ »Novara« heißt.505 Manchmal sprachen auch noch der eine oder andere der Matrosen ein paar Worte, und manchmal ging jeder am Toten vorbei, um ihn kurz zu berühren. Das »give away« als Kommando, den Leichnam den Wogen zu übergeben, hatte in jedem Falle der Kapitän zu geben. Denselben Sinn dürfte die auf englischen Schiffen gebräuchliche Umschreibung für den Tod eines Seemannes ausdrücken: »He slipped his cable.« Er hat sein Tau losgelassen. Man darf annehmen, dass nicht nur die Ansprache des Kapitäns, sondern die ganze Zeremonie ebenso gefühlvoll und direkt wie formgebunden und kurz war. Stets galt: Die Arbeit musste sofort wieder aufgenommen werden.506 Der Umstand, dass in den Leinensack Steine oder Eisenteile eingenäht waren, hatte wieder zwei unterschiedliche Aspekte: Einen magischen, abergläubischen, der verlangte, dass der Tote sofort in den Fluten versinkt, weil man einem Toten nicht nachschauen durfte, wollte man nicht selbst der Nächste sein. Diese Regel 502 Weibust: Deep Sea Sailors, S. 163–164 . 503 Ebd. 504 So formuliert Weibust, ebd., S. 163–168. 505 Schwarzer: Reise der Novara, Medizinischer Theil, S. 114. 506 Stammler, Sp. 1828.

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schloss mit ein, dass auch ein aus den Wassern wieder aufgetauchter Toter großes Unglück bringen würde.507 Der andere, lebenspraktische Aspekt war der, den Leichnam davor zu schützen, von Haien wahrgenommen und gefressen zu werden. Dieses Schicksal wollten auch die festesten Seebären dem Verstorbenen ersparen. Der Sack aus Segeltuch für den Toten war für alle Besatzungsmitglieder üblich mit Ausnahme eines auf See zu bestattenden Kapitäns, der in einem hölzernen Sarg auf den Meeresgrund sank. Sofern das Schiff nicht im Hafen oder auf Reede lag, gab es zu dem beschriebenen Verfahren seit frühesten Zeiten der Hochsee-Schifffahrt bis in die hier untersuchte Zeit des 19.  Jahrhunderts keine Alternative. Die Konservierung eines Leichnams war ein zu großes Problem, als dass sie, außer in extremen Ausnahmefällen, nämlich bei den ranghöchsten Personen, versucht wurde.508 Hinkelmann stellt die im Laufe des 19. Jahrhunderts versuchten Maßnahmen zusammen, die von der Aufbewahrung in einem Sarg voller Holzkohle bis zur Verwendung verschiedener desinfizierender Lösungen reichten.509 Wenn irgend möglich, das heißt, wenn sich das Schiff nahe genug einer gangbaren Küste befand, wurde der Tote an Land gebracht, damit er von einem Pfarrer beerdigt werden konnte. Dafür wurde unter Umständen über eine weite Distanz gerudert. Der praktisch denkende Seemann konnte aber auch diese fromme Handlung mit anderem verbinden. Weibust bringt einen Bericht, wonach die Matrosen erst die traurige Pflicht erfüllten, ihrem verstorbenen Kameraden auf diese Weise die letzte Ehre an Land zu ermöglichen – um sich ebendort anschließend geschlossen völlig zu betrinken.510 Ein Schiff konnte nach einem Todesfall Trauer tragen. Dies geschah durch das Anmalen der Mastspitzen, der Rah-Enden oder von Teilen der Reling in blauer Farbe. Je nach Rang des Verstorbenen konnten weitere Teile des Schiffes

507 Solche Überlegungen finden wir in Kiplings genau recherchiertem Roman »Captains Courageous« wieder. Vgl.: Kipling, Rudyard: Über Bord, Hamburg 2007. 508 Berühmtestes Beispiel ist zweifellos der Leichnam Lord Nelsons, der nach der Seeschlacht vor Trafalgar in einem Fass Rum oder Brandy, hierin weichen die Darstellungen voneinander ab, nach London gebracht wurde. 509 Hinkelmann: Schiffshygiene. 510 Zit. n.: Weibust: Deep Sea Sailors, S. 168. In die gleiche Richtung geht auch die Schilderung von Baines, die zwar aus dem 20. Jahrhundert stammt, sich aber auf eine alte Tradition der Segelschifffahrt beruft, wonach nämlich die Matrosen, die während einer langen Nachtwache einen verstorbenen Kameraden in einen Segeltuchsack einnähten, in dem er am nächsten Tag der See übergeben werden sollte, Alkohol ad libitum bekamen: »Zum Nähen der Hülle versammelten sich die Männer unter Aufsicht des Bootsmanns in der Segelkoje. Der Erste maß von einem Ballen neuen, allerbesten Segeltuchs entsprechende Stücke ab. … Auf einem Schemel stand ein Krug. Er enthielt Rum für die Männer, die das Seebegräbnis vorbereiteten. Nach der Tradition mußte ihnen an diesem Tage bei ihrer Arbeit soviel Rum ge­ geben werden, wie sie verlangten.« Zit. n.: Baines: In Deep, S. 162.

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diesen blauen Anstrich erhalten. Für den Schiffer oder Reeder war es eine hellblau angestrichene Leiste an der Reeling, die rund um das ganze Schiff lief.511 Die Seefahrer hegten immer auch Reinkarnations-Vorstellungen, die außerhalb der christlichen Vorstellungswelt auf der Idee der Seelenwanderung fußen. Dies können die geisterhaften Matrosen an Bord des »Fliegenden Holländers« sein, viel häufiger aber sah man sie in den alltäglichen, lebenden Begleitern des Seemannes aus der Tierwelt, dem Albatross, der Möwe, dem Delphin oder dem Seehund. Erst in der säkularisierten Welt ist die Frage weitgehend, wenn auch nicht ganz aus unserem Bewusstsein verschwunden, wie die auf See Gebliebenen ihre Seelenruhe finden können.512 Im englischen Sprachraum gab es für die Seeleute ein eigenes »Letztes Gericht«. Sie erfanden »Dave Jones«, der am Meeresgrund auf die verlorenen, nämlich faulen und schlechten Matrosen wartete, um sie in seinen Käfig zu sperren, während die guten und tüchtigen Seeleute in das »Fiddler’s Green« kamen, wo es Rum und Tabak und Mädchen in Fülle gab.513 Nicht nur solche abergläubische Vorstellungen, sondern auch religiöse Überzeugungen auf katholischer wie protestantischer Seite konnten immer wieder ernsthafte Konflikte über die Frage hervorrufen, ob ein am Strand angeschwemmter Toter auf dem kirchlichen Friedhof oder aber am Strand in die Erde kommen sollte. Die unterschiedlichsten Auslegungen und praktischen Lösungen wurden gefunden. Die Suche nach den Leichen von Ertrunkenen, damit diese in geweihter Erde beigesetzt werden konnten, war eine der Aufgaben von Bruderschaften, die Seeleute an vielen Küstenstreifen unterhielten. Blieben sie vermisst, wurden sie in der Dorfgemeinschaft in christlicher Zeremonie symbolisch beigesetzt.514 Bis heute existiert dieser Brauch, genannt Proëlla (aus der Formel »pro illa anima« entstanden) auf der französischen Insel Ouessant, die, von den Engländern 511 Ebd., S. 169. 512 Zu der traditionellen, magischen Vorstellungswelt des rastlos, weil ruhelos umherirrenden Toten, der auf hoher See und nicht in geweihter Erde eines Friedhofes bestattet wurde oder ganz ohne Ritual aus der Welt der Lebenden verschwand, vgl.: Henningsen: Das nasse Grab des Seemannes, S. 26–30 und Haga, Eivind: The wet grave, sudden death and the bereaved, Nord. psykiatr. Tskr. 39 (1985), S.  23–28. Beide Arbeiten waren veranlasst worden von der Katastrophe der norwegischen »Kielland«-Ölbohrplattform in der Nordsee am 29.  März 1980, bei der 123 Männer ihr Leben ließen, und von denen zunächst 87 Leichen nicht geborgen werden konnten. Die Bevölkerung hatte massiv gefordert, alle müssten an Land ihr Begräbnis erhalten, woraufhin dreieinhalb Jahre später die in gekentertem Zustand an die Küste geschleppte Bohrinsel mit enormem Aufwand gewendet wurde. Nach diesem Manöver konnten sechs weitere Tote aufgefunden werden. 513 Henningsen: Das nasse Grab des Seemannes, S. 27. 514 Du Mollat Jourdin: Europa und das Meer, S. 213. Als »verschollen« gilt heute und galt im 19. Jahrhundert ein Schiff und auch deren Besatzung, wenn ein Jahr seit Auslaufen des Schiffes vergangen ist, ohne dass ein Lebenszeichen vernommen ist. Vgl.: Brennecke: Windjammer, S. 185. Wie ein Geist kehrt der »Verschollene« (Tom Hanks) im gleichnamigen Film vom Meer zurück.

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Ushant genannt, die entscheidende Landmarke bei der Ausfahrt aus dem Ärmelkanal in die Bucht von Biskaya darstellt. Die in ganz Nordeuropa verbreiteten Erinnerungstafeln für die Toten der Seefahrt (in der Bretagne »Mauern der auf See Gebliebenen« genannt) sind Aufforderungen zum christlichen Gebet, lassen sich aber auch als Anklang an »die germanische und angelsächsische Mythologie mit den Legenden von Meeresgespenstern, von Geisterschiffen und fliegenden Holländern auf den Vordecks« lesen.515

4.20.4 Beten und Fluchen Heftige Flüche standen nicht im Widerspruch zu einer religiösen Haltung. »Gut geflucht ist halb gebetet« ist daher ein typischer Satz von Bord. In Berichten vom Bordleben begegnet man mehr der Fähigkeit zu fluchen als der zu beten. Das besagen Sprüche wie: »Wer nicht beten kann, werde ein Schiffsmann«, oder: »In Seenot halte dich lieber an den Mast als an Gott«, und im Englischen: »Once on shore, we pray no more«, ebenso wie: »If anyone should learn to pray, let him go to sea«.516 Die beiden Seiten von Gottesglaube und Weltbezug drückt der Spruch an einem Pfarrhaus auf Hiddensee aus: »Gottes sind Wogen und Wind, aber Segel und Steuer sind euer, dass ihr den Hafen gewinnt.«517 Es muss aber auch eine offizielle Haltung zu Flüchen an Bord gegeben haben, denn immer wieder begegnen wir bei Bestrafungen der Begründung, das Besatzungsmitglied habe geflucht. Manche Autoren sehen jedoch gewisse Unterschiede in den groben verbalen Äußerungen und stellen fest, der Seemann des 19. Jahrhunderts schrecke bei aller Spottlust doch vor Gotteslästerung zurück.518 Oft werden Gebete die Funktion von flehentlicher Bitte um Hilfe und Rettung aus Gefahr gehabt haben. Der bedeutendste Schutzheilige der Seefahrer, den man anrufen konnte, war und ist der heilige Nikolaus, Bischof von Myra in Lykien im 3. bis 4. Jahrhundert. Für die Fischer ist der entsprechende Schutzheilige der Apostel Petrus. Daneben gibt es viele in begrenzten geographischen Regionen und in besonderen Situationen verehrte und um Beistand angerufene Heilige, etwa Adelheid, Sunniva, Ursula, sodann Brandan, Christophorus, Clemens, Johann Nepomuk, Werenfried und natürlich Erasmus.519 515 Ebd., S. 244. 516 Gerds, S. 50. 517 Ebd. 518 Dies ist der Standpunkt von Schmidt: Von den Bräuchen, S. 50. 519 Gerds, S. 28–31. Im Falle des Heiligen Erasmus, einer der vierzehn Nothelfer, haben wir ein Beispiel für die apotropäische Natur, die die Seemannssprache vielfach auszeichnet, vor uns: Das »Apotropäum« ist das Unheilabwendende. Der Name des Schutzheiligen ist gleichzeitig der Name des schlimmsten Feindes des Seemannes, nämlich der grimmigen, tobenden See, die als »Rasmus« immer wieder einmal einen Matrosen mitnimmt und

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Von der Dankbarkeit für erhaltene göttliche Hilfe wie für eine demütige Haltung sprechen die vielen Votivschiffe, die in Kirchen an allen europäischen Küsten auf Wandborden stehen oder an der Decke hängen. Nach Cousin kennzeichnen drei Ebenen diese Votivgaben: Zunächst die Natur (der Sturm, die aufgewühlte See), dann der Mensch (das in Not befindliche Schiff) und schließlich der angerufene Heilige.520 In diesen Bildern kommt die lebenspraktische, psychologische Wirkung der Religion, dem einzelnen Menschen Sicherheit und Schutz zu gewähren, besonders deutlich zum Ausdruck. Ein unüberhörbarer Beleg für die hohe und gleichzeitig ambivalente Bedeutung von religiöser Praxis ist das Wort, das der Seemann dem quaderförmigen Stück Bimsstein gab, mit dem er regelmäßig das Deck seines Schiffes schrubben musste: »Gebetbuch«. Im Englischen heißt es nicht viel anders: »Holystone«. Dieses »Gebetbuch« wurde reichlich traktiert, wie Hugills Zitat des grimmigen »Philadelphia Catechism« zeigt: »Six days shalt thou labour … and do all that so art able, On the seventh day thou shalt holystone the deck an’ cleanscrape the rusty cable.«521

Das Deck zu schrubben, wozu sich die Matrosen nebeneinander auf den Knien rutschend langsam mit viel Wasser vorarbeiteten, war Arbeit, die der Kapitän anordnen konnte, wenn gerade einmal sonst nichts zu tun war. Der oben zitierte Vers spielt sarkastisch darauf an, und noch spezieller auf den Sonntag, der dem Matrosen als ein kleines Stück Freiheit zustand – es sei denn, das Wetter verlangte Wichtigeres. Durchbrach der Kapitän diese Regel willkürlich, war einer der gefürchteten Machtkämpfe zwischen dem über drastische Strafen gebietenden Schiffsführer und der über die Arbeitskraft verfügenden Mannschaft vorprogrammiert.

verschlingt. Aufgrund dieser doppelten Verwendung ist »Rasmus« ein magischer Name. »Spricht man ihn aus, so ruft man zugleich den Heiligen um Hilfe.« Vgl.: Stammler, Sp. 1875. 520 Vgl.: Delumeau: Angst im Abendland, Bd. 1, S. 49–62; ebenso: Cousin, Bernard: Frömmigkeit und Gesellschaft in der Provence: Votivbilder der Notre-Dame-de-Lumières, Ethnologie française: revue de la Société. 7 (1977), S. 121–142. 521 Zit. n.: Hugill: Shanties, S. 596. Neben diesen Steinen in Buchform und -größe gab es noch große flache, um die 110 Pfund schwere Steine mit glatter, weicherer Unterseite und zwei Eisenringen an der Oberseite, durch die zwei Taue gezogen waren, an denen sie von zwei Seeleuten abwechselnd hin- und hergezogen wurden. Mit ihnen wurden die großen, freien Flächen poliert. Vgl.: Adam, S. 215.

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Der Alltag an Bord

4.20.5 Aberglaube Religiöse Überzeugung und magisches Denken können mit fließenden Grenzen ineinander übergehen, nicht nur bei den Seeleuten. Endlos sind die großen und kleinen rituellen Handlungen, die Sprüche und einzelnen Worte, die dem Beobachter an Bord und schon vor dem An-Bord-Gehen begegnen konnten. Halb christlich, halb urheidnisch gedacht ist das strenge Verbot, am Freitag auszulaufen, genauso wie am Himmelfahrtstag und am Heiligen Abend.522 Bei allen Übergängen und gegenseitiger Beeinflussung gab es reichlich handfesten Aberglauben. In der »seemännischen Glaubenswelt«, die Wossidlo bis in das kleinste Detail erfragt hat, ist zunächst immer »der Andere« abergläubisch, während der direkt darauf angesprochene Seemann seinerseits ganz frei von Aberglauben ist und »nur ab und zu« damit in Berührung kommt. Tatsächlich, so fährt Wossidlo fort, »zeigt sich doch das Fortwirken von vielen Glaubensvorstellungen«, die bereits »beim Schiffbau anzutreffen sind und keinen Gegenstand, kein Getier in und außerhalb des Schiffes, auch nicht das Geld, auslassen und mit Bedeutung, sowohl guter, als auch schlechter, versehen, um sie als Sage und Spuk zu lesen und als Vorzeichen zu nutzen in der Welt des offenen Meeres, die so unberechenbar, bedrohlich und gefährlich war«.523 Am Anfang und am Ende des magischen Denkens stand der Wind. Mit ihm steht und fällt im wahrsten Sinne des Wortes alles für das Segelschiff. Das Verbot, an Bord eines Schiffes zu pfeifen, hat neben dem praktischen Aspekt der Störung der durch die Seemannspfeife übermittelten Signale auch einen abergläubischen: Mit Pfeifen holte man schlechte Winde heran. Der Wunsch andererseits, Wind heranholen zu können, erzeugte eine große Zahl abergläubischer Überzeugungen und Praktiken.524 Allerlei Geräusche, die an Tiere erinnern, Träume, in denen Pferde vorkamen, alles Mögliche konnte Zeichen herannahenden Windes sein. Ihn, den so dringend benötigten Wind, die Kraft, die allein das Schiff voranbringen konnte, versuchte man durch vielerlei Techniken zu locken. Am weitesten verbreitet waren: Pfeifen, Am-Mast-Kratzen, und zwar durch den Jüngsten an Bord, einen Besen verbrennen, etwas über Bord werfen, der Kapitän seine Mütze, der Koch seinen Besen, der Matrose seinen alten Schuh, auf jeden Fall aber auf der Luvseite, der Seite, von der der Wind kommt oder kommen soll, niemals auf der Leeseite. Auch seinen Bart dem Meeresgott Neptun zu opfern, konnte helfen. Schließlich versprach, eine Haifischflosse an 522 Stammler, Sp. 1821. 523 Wossidlo, S.  231–236. Bei Wossidlo findet sich eine umfassende Zusammenstellung von »Sagen und Döntjes«, ebd., S. 231–275, ebenso bei: Stammler, Sp. 1851–1864. Nicht weniger reich ist die Welt der »Wassergeister« etwa bei den Elbschiffern. Vgl.: Becker, Heinrich: Schiffervolkskunde, Halle a. d. Saale 1937. 524 Weibust: Deep Sea Sailors, S. 7.

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den Bug-Sprit zu nageln, guten Wind. Schmidt sieht in ihrer quer festgemachten Form, und nur diese kam in Frage, ein Hörnerpaar nachgeahmt, das seit Urzeiten der Geisterabwehr diente.525 Auch finden wir an allen Küsten rund um den Globus das an den Bug eines Bootes oder Schiffes gemalte Auge, das »dem Zweck diente, den ›bösen Blick‹ zu bannen und den Bug als heiligen Bezirk zu kennzeichnen«.526 Dabei gehörten schwierige Windverhältnisse zu jedem Törn. Kapitäne, die immer gute Fahrt hatten, standen im Rufe, mit dem Teufel im Bunde zu sein und von ihm die Macht erhalten zu haben.527 »Schweres Wetter« bedeutete zwar besonders harte und gefährliche Arbeit für den Matrosen, war aber immer noch besser als wenig oder gar kein Wind. Wirklich gefürchtet waren viel eher Flauten. Sie kosteten Zeit und konnten für Ernährung und Wasser sehr ernsthafte Probleme bringen. Es gab in der Vorstellungswelt »gute Schiffe« und »schlechte Schiffe«. Zu einem geflügelten Wort auch an Land wurde die als bedrohliches Zeichen gedeutete Beobachtung, dass Ratten ein Schiff verließen. Es war dem Untergang geweiht. Dasselbe galt für die Küchenschaben, die »Kakerlaken«, (ein ursprünglich niederländisches Wort, englisch Cockroach), die nicht davonlaufen sollten, weil sie zu einem wirklich sicheren Schiff gehörten.528 Jeder kennt die Schiffstaufe mit einer Flasche Wein, die am Bug des Schiffes zerspringen soll, eine sehr viel ältere Tradition nachahmend, in der vor der Ausreise Wein über das Deck gegossen wurde.529 Dass die Galionsfigur nicht nur besonders häufig ein weibliches Wesen ist, sondern insbesondere ihre nackten Brüste zeigt, ist Ausdruck der zwiespältigen abergläubischen Besetzung der Frau auf oder auch nur in der Nähe eines Schiffes. Als Galionsfigur soll sie falschen Wind und Sturm besänftigen. Noch recht verbreitet soll die Furcht vor bestimmten Tagen sein, an denen ein Schiff auf Fahrt geht, angefangen beim Freitag, über den ersten Montag im April bis zum zweiten Montag im August und dem 31. Dezember. Alle diese Daten sind mit biblischen unglücklichen Geschichten verknüpft (Kain und Abel, Sodom, Judas). Das Haarnetz eines Kindes soll noch im 20. Jahrhundert von Matrosen für teures Geld erstanden worden sein, da es gegen den nassen Tod schützen sollte. Einen ganz individuellen Versuch, mit abergläubischen Überzeugungen und magischem Denken das Schicksal zu beeinflussen, finden wir in der Benutzung von Talismanen und Amuletten und in der langen seemännischen Tradition der Tätowierung. Bei den Glücksbringern ist besonders der goldene Ring im rech 525 Schmidt: Von den Bräuchen, S. 96. 526 Kennerley: Seafarers Religion, S. 424. 527 Stammler, Sp. 1820. 528 Brennecke, Windjammer, S. 252. 529 Dieses und die weiteren Beispiele dieses Absatzes vgl.: Kemp: Oxford companion.

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ten Ohr lange Zeit das Zeichen der Seeleute gewesen. Er sollte vor Augenkrank­ heiten, Rheumatismus und Schwindel schützen.530 Die Tätowierungen bannten mit ihren primitiven Grundelementen von Anker, Herz und Kreuz, Schlange, Sonne und Dolch die Gefahren, die der Seemann vor sich sah. Ein Schwein tätowiert auf dem einen Fuß, ein Huhn auf dem anderen, soll vor dem Ertrinken schützen, Kreuze auf Händen und Füßen entsprechend vor Haien; Kreuzigungsszenen oder ein Christusbild auf dem Rücken sollten Schutz gegen die Bestrafung durch die Peitsche bewirken. Andere Darstellungen zielten auf die Gefahren in Form von Sturm, Schiffbruch und überhaupt Unglück.531 Stammler sei nochmals mit seiner Überzeugung zitiert, die Tätowierung habe zur Identifizierung eines Ertrunkenen gedient, wenn das Meer seinen Leichnam an den Strand gespült hat.532 Für Schmidt war das eintätowierte Kreuz das Er­ kennungsmerkmal eines christlichen Mannes, der in geweihter Erde begraben sein will.533 In die früheste Menschheitsgeschichte reicht die archaische Vorstellung zurück, die zur Besänftigung böser auf dem Meer beheimateter Mächte das Menschenopfer verlangte. Bis in unsere Zeit hinein hat diese Vorstellung ihre Bedeutung behalten, und wir werden ihr im Abschnitt über das Ertrinken begegnen, nämlich in der lange erhalten gebliebenen Furcht davor, einen Ertrunkenen anzufassen, ja manchmal auch in der Weigerung, einen Ertrinkenden zu retten. Zu derselben Wurzel gehört die Schiffstaufe, die vor und neben den christlichen Ritualen Tier- und auch Menschenopfer kennt beziehungsweise kannte. Stammler berichtet von zwei Arten der Verschiebung des Menschenopfergedankens: Zum einen auf das Tieropfer, wenn auf Kap-Hoorn-Schiffen noch im 20. Jahrhundert »der Kapitän seinen Hund über Bord gehen ließ, und zwar in Luv, um günstiges Wetter zu erhalten«, zum anderen, wenn ein Schiffsführer versucht, zu Beginn einer Reise den »Jonas« unter seiner Mannschaft auszumachen als den Unglücksbringer, zumindest hinsichtlich des Wetters, und diesen nie ans Ruder zu lassen.534 Wer zum Beispiel im letzten Hafen sein Mädchen nicht bezahlt hatte, konnte schnell dieser Jonas sein. Eine auch an Land populär gewordene Figur des seemännischen Aber­ glaubens ist der Klabautermann. Er ist der gute Geist des Schiffes, der harmlose Streiche spielt, aber auch der bestrafende, wenn man es sich mit ihm verdorben hat. Er kann auch einmal der »graue Tod« sein, der im Sturm dem Rudergänger als Vorzeichen des Unterganges erscheint. Die Etymologie ist sich nicht einig, ob der »Klabautermann« ursprünglich ein »Kobold«, ein »Klettermann« oder ein 530 Stammler, Sp. 1831. 531 Shaw, S. 95. 532 Stammler, Sp. 1831. 533 Schmidt: Von den Bräuchen, S. 126. 534 Stammler, Sp. 1819.

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»Poltermann« war. Um 1800 taucht er zuerst in der angelsächsischen, danach in der französischen und deutschsprachigen Literatur auf.535 In den skandinavischen Ländern hat jedes Schiff einen »Schiffs-Nisse« (von Nisse als Verkleinerung von Niels, und dies vom ursprünglichen Namen Nikolaus, dem Schutz­ heiligen der Seefahrer).536 Ihm enspricht im Norddeutschen der »Nis Puck«, wobei Henningsen wiederum den Ursprung des »Puck« im isländischen »puki« für Kobold sieht. Wie der Klabautermann ist er meist ein hilfreicher Geist, der erst, wenn die Menschen den nötigen Respekt vermissen lassen, unangenehme Züge annimmt. Für die Kunst gewann der Sagenstoff des Fliegenden Holländers (Flying Dutchman) große Bedeutung. Es ist die Geschichte des wegen eines gottlosen Frevels zu ewiger Irrfahrt verdammten Schiffsführers und seines Gespensterschiffes. Im 17. Jahrhundert aufgetaucht, erlebte diese Sage ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert in Lyrik, Prosa und Musik.537 Ein Beispiel für eine nachträgliche spirituelle Umdeutung einer ursprünglich profanen, handfesten Problematik ist die Vokabel des »Seelenverkäufers«, womit wir, durchaus noch heute gebräuchlich, besonders schlechte, ja seeuntüchtige Schiffe meinen, auf denen zu fahren Lebensgefahr bedeutet. Dass es den »Seelenverkäufer« gibt, beruht nach Reich und Pagel538 auf der Verballhornung des Wortes »Zettelverkäufer«. Dies waren Anbieter von Schuldscheinen für mittellose Leute in den Niederlanden, die für ihre Reise in die ostindischen Kolonien einen Vorschuss erhielten, den sie, wenn sie lebend ankamen, am Zielort nach und nach ablösen mussten. Den holländischen Geldwert aufzubringen, bedeutete aber, in der Ferne sehr hart zu arbeiten und »äußerst kümmerlich zu leben«.539 Später wurde das Wort vom anrüchigen Händler solcher Zettel (Zettel­verkäufer, Seelenverkäufer) auf das Schiff übertragen, auf dem es in eine so ungewisse und oft unglückliche Zukunft ging. Schlussfolgerungen Religiosität, wie wir sie auf den (alten) Schiffen vorfinden, ist eine kluge und eminent psychologische Überlebensstrategie. In ihrer ursprünglichen Ambiguität im Sinne Merleau-Pontys, die scheinbar absichtlich nicht zwischen dog 535 Reich, Pagel, S.  321–326; Wossidlo, S.  246–250. Das Englische benutzt »Klabautermann« und kennt keinen speziellen englischen Namen für ihn. Als »Kobold« wäre er der »Ship’s Cobold« oder »Ship’s Goblin«. 536 Henningsen: Das nasse Grab des Seemannes, S. 28. 537 Reich, Pagel, S. 326–332; Wossidlo, S. 250–252. 538 Vgl.: Reich, Pagel, S.  402–405, die sich auf Röding, Johannes Hinrich: Allgemeines Wörterbuch der Marine in allen europäischen Seesprachen nebst vollständigen Erklärungen, Hamburg, Nemnich u. Leipzig 1794–1798 berufen. 539 Ebd., S. 404.

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matischer und abergläubischer Haltung unterscheidet, wiederholt sie auf das Treffendste die lebensweltliche Situation des Schiffes. Die Wahrnehmung des Lebens an Bord wie der sie umgebenden Elemente selbst erlaubt gar keine sichere Trennung zwischen theoretischem und praktischem Wissen, zwischen Tradition und Moderne, zwischen Gottesfurcht und Naturglaube. Auf diesem kleinen und absolut begrenzten Raum gab es kein Entrinnen, kein Verobjektivieren, ja kaum ein Sich-Distanzieren. Die allgegenwärtigen, kulturell, traditionell, sublimiert gebildeten Grenzen mussten ständig neu erzeugt werden, denn sie wurden ständig eingerissen. Jede Regel musste ihre Ausnahmen mitliefern. So war Beten und Fluchen, Sonntag und Werktag (als Segeltag), die Heilige Schrift als unantastbares Buch und der Holystone als verhasstes Stück Bimsstein, der nahe Tod in der gefahrvollen Arbeit und der nüchtern davongetragene Sieg über das »kalte, nasse Grab« derart eng beieinander be­ heimatet, ja ineinander verwoben, dass eine wahrhaft eigene Welt des Schiffes mit einer eigenen Metaphysik entstehen musste und entstanden ist. Die vielfältig beschriebenen, sehr stark festgelegten Rituale bei der Bestattung eines an Bord verstorbenen Seemannes sind als Sublimierungsleistungen anzusehen, mit dem stets drohenden Tod zurechtzukommen und auf dem »Dienstposten« sofort wieder zur Verfügung zu stehen. Im selben Sinne, aber schon vorbeugend, sollten die Sprüche, die Talismane und die mit Bedeutung unterlegten Tätowierungen wirken. Mit Stammler lässt sich zusammenfassen: »Der Glaube des Seemannes ist dadurch bestimmt, daß seine Fahrt von mannigfachen außermenschlichen Ereignissen abhängig ist. So entsteht eine Gemengelage von magischer und alltäglicher Wirklichkeit. Daher stammt der Dämonen-, Toten-, Zauber-Glaube, daher die Übung bestimmter Bräuche, daher das Unterlassen bestimmter Handlungen. In seiner ›prälogischen‹ Denkart glaubt der Seemann, die Naturmächte auf magische Weise bezwingen, sich dienstbar machen zu können, sobald er ihre geheime Gesetzlichkeit erkannt hat.«540

540 Stammler, Sp. 1818.

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Abb. 1: Medical Journal der H. M. S. Pylades 1858 TNA, ADM 101/167.

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Abb. 2: Verlaufsbericht. Medical Journal der H. M. S. Pylades 1858 TNA, ADM 101/167.

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Abb. 3: Nosological Synopsis. Medical Journal der H. M. S. Dido 1852 TNA, ADM 101/96/4.

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Abb. 4: Plan of the Sick Berth. Medical Journal der H. M. S. Juno 1876–77 TNA, ADM 101/197.

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Abb. 5: Plan of the Ventilation. Medical Journal der H.M.S. Juno 1875–76 TNA, ADM 101/195.

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Abb. 6: Logbuch der H.M.S. Pylades 1859–60 TNA, ADM 53/6886.

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Abb. 7: Track of H.M.S. Juno. Logbuch der H.M.S. Juno 1875-76 TNA, ADM 53/11115.

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Karte 1: Die wichtigsten Hafenstädte auf dem Weg in die East India Station. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300664 — ISBN E-Book: 9783647300665

Karte 2: Die in den Fallberichten genannten Hafenstädte. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300664 — ISBN E-Book: 9783647300665

5. Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

In diesem zweiten Hauptteil werden sämtliche Fallberichte über psychopathologische Krankheitsbilder, die sich in den 70 schiffsärztlichen Tagebüchern finden, in elf Abschnitten, teilweise in Unterabschnitte gegliedert, aufgeführt und besprochen. Die Reihenfolge ist chronologisch von den ältesten zu den jüngsten Journalen voranschreitend. Die einzelnen Fälle werden in gekürzter Form wiedergegeben und dabei versucht, das Typische und das Besondere und Markante herauszustellen. Reichliche Zitate und in einigen Fällen komplette Transkriptionen sollen die feine Beobachtungsgabe und teilweise exzellente, gebildete Sprache der berichtenden Schiffsärzte nachvollziehbar machen. Aus grundsätzlichen Erwägungen heraus sind die Familiennamen der erkrankten Besatzungsmitglieder mit einem Buchstaben abgekürzt. Mag es auch noch so lange her sein, handelt es sich bei den Betroffenen doch um Patienten, von deren persönlichem Schicksal berichtet wird. Einzige Ausnahme davon ist die besondere Situation des 12. Falles im Abschnitt »Overanxiety«, in der der Schiffsarzt einen Verlaufsbericht über sich selbst als Patienten schreibt. In der überwiegenden Zahl kann dabei von einer recht hohen Zuverlässigkeit der diagnostischen Einordnung nach den Originalschilderungen im historischen Zusammenhang ausgegangen werden. Insbesondere gilt dies für die Störungsbilder mit einer stark somatisch-neurologischen Beteiligung, wie den Kopfverletzungen, den Lähmungen und den verschiedenen Formen der Epilepsie, während bei den »Debility« genannten Schwächzuständen und den eher bunten Erscheinungsformen der Anpassungsstörungen eine nachträgliche dia­ gnostische Einordnung mit größerer Ungenauigkeit behaftet bleibt. Entsprechende mehrfache Lesarten und Interpretationsmöglichkeiten wie auch offenbleibende Zweifelsfälle werden in der Auswertung der Fallabschnitte diskutiert. Jeder Fallbericht ist durch die Signatur des Medical Journal der National Archives in London und durch die Number of Case innerhalb des Journales im Original im Londoner Archiv ohne Mühe aufzufinden. Dasselbe gilt für die Zitate aus den Logbüchern, die durch Signatur, Schiffsname und Datum definiert sind. Schließlich sind einige wenige Fälle aus den Statistical Reports entnommen, die als gedruckte und im Archiv des Britischen Parlaments verfügbare Quellen mit ihrer jeweiligen genauen bibliographischen Angabe eindeutig zu finden sind.

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Störungen bei somatischen Erkrankungen des Zentralnervensystems

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5.1 »Apoplexy«, »Cephalgia«, »Hydrophobia«, »Poisoning«, »Struck by Lightning« – Psychische Störungen bei somatischen Erkrankungen des Zentralnervensystems In diesem Abschnitt werden verschiedene Störungsbilder zusammengefasst, deren Gemeinsamkeit in einer aus heutiger Sicht nachweisbaren zerebralen Erkrankung oder einer anderen zu einer Hirnfunktionsstörung führenden Schädigung besteht.1 Dass dabei neurologische und psychische Auffälligkeiten auftreten, liegt auf der Hand. Wir werden bei den Falldarstellungen wie in der Auswertung sehen, wie hilflos die Medizin des 19. Jahrhunderts diesen Störungen gegenüberstand, wie bedrohlich mithin diese Erkrankungen waren.

5.1.1 »Apoplexy« Vier Fälle fanden sich in den Journals mit der expliziten Diagnose Apoplexy. Drei von diesen verliefen tödlich, ein Fall, hier als vierter aufgeführt, wurde invalidisiert. Die Patienten waren zwischen 17 und 43 Jahre alt, ihre Aufgaben an Bord waren verschiedene. Fallberichte 1. Fall: Case 6 der Niger (1857) – »Apoplexy«2 Der 17-jährige Schiffsjunge William C., ein »gut gewachsener, athletischer Bursche«, kommt von der Isis auf die Niger mit der Mitteilung des dortigen Schiffsarztes, bei ihm liege eine Epilepsie vor. Eine Invalidisierung war bereits geplant gewesen, wegen der Versetzung aber verschoben worden. An Bord der ­Niger findet Surgeon William Patrick keine epilepsietypische Anfalls-Anamnese. Die erst kürzlich aufgetretenen Krampfanfälle seien nicht »von echt epileptischem Charakter«. Allerdings fallen ihm die seither bestehenden heftigen Kopfschmerzen auf. Vom 3. bis 9. September (des Jahres 1857) ereignet sich nichts Besonderes. Am Abend des 9. Septembers wird der Schiffsarzt jedoch zu ihm gerufen. Der Junge war gerade dabei, seine Hängematte zum Schlafen an der Decke zu befestigen, als er plötzlich wild um sich zu schlagen, zu schreien und zusammenhangslos zu reden begann. Wenn er energisch angesprochen wird, 1 Der Definition nach ICD-10, Kapitel F 0 entsprechend. Vgl.: Dilling, H.; Freyberger, H.: Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen, Bern 2008, S. 21. 2 Patrick, William, HM Sloop Niger 2. Teil, 1.7.1857–30.6.1858, TNA, ADM 101/160, lfd. Fallnr. 6.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

antwortet er vernünftig. (»Visited him at once and found him struggling violently and restrained with difficulty, he was screaming wildly and muttering incoherently, but replied rationally when spoken to energetically.«) Surgeon Patrick kann auch diese Situation nicht als Ausdruck einer Epilepsie einordnen. Der erregte Patient wird mit kaltem Wasser übergossen, worauf er »erschöpft niedersinkt« und bei »merkwürdig langsamem und unregelmäßigem, ja flatterndem Puls« einschläft. Mit 40 Schlägen pro Minute wird eine ausgeprägte Bradykardie festgehalten. Nach dem Erwachen äußert der junge Mann den Wunsch, wegen der Kühle auf das Oberdeck gehen zu dürfen, was ihm erlaubt wird. Dort legt er sich hin, mit einem Kissen unter seinem Kopf. In dieser Position wird er fünfzehn Minuten später vom Lazarettpfleger, der nach ihm sehen soll, tot aufgefunden. »He had died without a struggle«, schreibt Surgeon Patrick. Er sei ohne einen Kampf gestorben. Bei der am nächsten Morgen 15 Stunden nach seinem Tod durchgeführten Obduktion findet sich eine Massenblutung in sämtliche Ventrikelräume des Gehirns. Der Schiffsarzt sieht jetzt eine »klare Evidenz, dass eine Apoplexie die unmittelbare Todesursache« des jungen Patienten gewesen ist. Alle anderen Organe findet er unauffällig vor. Wir müssen bei diesem dramatischen Verlauf am ehesten von einer Hirn­ blutung, z. B. durch spontane Gefäßruptur eines Aneurysmas, ausgehen, sofern wir annehmen, dass nicht ein äußeres vorhergehendes Trauma verschwiegen oder übersehen worden ist. 2. Fall: Case 20 der Sanspareil (1858) – »Apoplexy«3 Dieser Fall handelt von einer tödlich verlaufenden Hirnblutung nach äußerer Verletzung. Der 27-jährige Marinesoldat John K. muss eine Nacht auf der Polizei­station von Shanghai verbringen, nachdem er in der Annahme, er sei stark betrunken, festgehalten wurde. Am nächsten Morgen wird er von dort in das Lazarett des Bataillons gebracht. Der Patient ist bei Aufnahme in koma­ tösem Zustand. »Schwere Atmung, Kieferkrampf, warme Haut, dabei regelrechte Lichtreaktion der Pupillen« wird vom Surgeon festgehalten. Nach Rasur des ganzen Kopfes findet sich eine eineinhalb Zoll (Inch), also gegen vier Zentimeter lange Schnittwunde am rechten Hinterkopf. Auf die Anwendung eines Brechmittels reagiert der Patient nicht. Therapieversuche mit Aderlass, mit Pflasterapplikation am Hinterkopf und mit kühlenden Umschlägen bleiben erfolglos. Der Mann verstirbt unter den Händen des Arztes. Am letzten der drei Beobachtungstage war keine Pupillenreaktion mehr vorhanden. Die Ex­tremitäten waren kalt, die Atmung verlangsamt und schwer, der Puls kaum mehr fühlbar. 3 N. N. (Surgeon’s name not recorded), HM Battalion of Royal Marines 1.1.–31.12.1860, TNA, ADM 101/166/1B, lfd. Fallnr. 20.

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Störungen bei somatischen Erkrankungen des Zentralnervensystems

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Der Obduktionsbericht (»post mortem examination 4 hours after death«) beschreibt ein typisches Subduralhaematom mit fünf Unzen Blutmenge unter der Dura mater, der harten Hirnhaut. Diese Blutung kann mit einem heftigen Schlag auf den Kopf und damit auch mit der Schnittwunde am Hinterhaupt in ursächlichen Zusammenhang gebracht werden und erklärt den fatalen Verlauf. 3. Fall: Case 39 der Modeste (1876) – »Apoplexy«4 Dargestellt als 8. Fall »Delirium tremens«. 4.Fall: Case 23 der Juno (1877) – »Apoplexy (serous)?«5 Als »Apoplexy« wird auch folgendes Geschehen diagnostiziert, das sich auf der Juno abspielte: Der hager und schwächlich aussehende Mann (»Is a spare and weakly looking man …«) namens Moses W., Steuermann an Bord der Juno, stürzt laut Bericht seiner Kameraden am Vormittag des 30. Januars 1877 mitten im Gespräch ohne jede Vorwarnung und ohne Aufschrei zu Boden. Auf der Krankenstation klagt er eine Stunde später über heftigen Kopfschmerz, verwirrte Gedanken (»confusion of ideas«), unscharfes Sehen und »museae volitantes«, was ein alter englischer Ausdruck für die sogenannten »Mouches volantes« ist.6 Der Arzt stellt eine diffuse Sensibilitätsstörung des ganzen Körpers und eine Motorikstörung in Form einer Abweichung der Zunge nach links fest. Der Verlauf ist über acht Wochen hin bis zum 27. März ohne wesentliche Änderung. Der Patient bleibt schwach, klagt über Kopfschmerz und wird aufgrund seiner Appetitlosigkeit mager bis zur Auszehrung, ja kachektisch. Sein Gesichtsausdruck ist verhärmt und sein Verhalten wirkt ängstlich. In deutlicher Ratlosigkeit überweist Surgeon Nelson den Patienten in das zivile Krankenhaus in Singapur. Anamnestisch findet er außer etwas Diarrhoe einige Tage vor dem akuten Ereignis und starker Sonnenexposition am Morgen desselben Tages nichts Auffälliges. Eintragungen zur ebenso langwierigen wie erfolglosen Behandlung belegen die Anwendung von Kalomel, Chinin, saurer Milch, Rizinusöl, Einläufe, Pflasterapplikation und zuletzt: »Half diet, milk and eggs extra. Port wine 6 oz daily.« Am Ende der Verlaufsbeschreibung besagt eine Bemerkung in Klammern, dass der erfahrene Seemann vom Navy-Krankenhaus aus als dienstuntauglich nach England geschickt worden ist. (»29th: Discharged and sent to Civil Hospital at Singapore. Invalided and discharged for passage to England 18th April«.) 4 Siccama, R. R., HM Sloop Modeste 1.1.–31.12.1876, TNA, ADM 101/196, lfd. Fallnr. 39. 5 Nelson, Robert, HM Ship Juno 1.10.1876–31.12.1877, TNA, ADM 101/197, lfd. Fallnr. 23. 6 »museae volitantes«: wohl eine andere Schreibweise für »mouches volitantes« (französisch »fliegende Mücken«). Als Phänomen des »Mückensehens«, einer mückenartig erscheinenden Wahrnehmung im Gesichtsfeld, vor allem auf hellblauem Hintergrund, gilt es als ernsthaftes Anzeichen der Glaskörperabhebung im Auge.

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Darüber, ob die Diagnose in diesem Falle zutrifft, kann man nur rätseln. Grundsätzlich kommt eine Hirnblutung in Frage, welche sich stabilisiert und eine anhaltende Persönlichkeitsveränderung hinterlässt. Auswertung Wir müssen davon ausgehen, dass unter der Diagnose Apoplexy nur zu einem geringen Prozentsatz jenes Krankheitsgeschehen zu verstehen ist, das wir heute unter diesem Begriff kennen, also einen Ausfall von Hirnfunktionen durch Verschluss eines Blutgefäßes oder durch Einblutung in das Hirngewebe. Bei der zumeist jungen und sehr jungen Besatzung des Schiffes sind diese »echten apoplektischen Insulte« nur als große Ausnahme anzunehmen. Wir haben es vielmehr in der Mehrzahl mit den unterschiedlichen Formen von plötzlichem Bewusstseinsverlust durch Kreislaufversagen (»Synkope«) verschiedenster Ursache und mit funktionellen Störungen, einschließlich rein psychosomatischer Ur­sache zu tun.7 Apoplexy war in den frühen Jahren ein unscharfer Sammelbegriff für den mehr oder weniger plötzlichen Bewusstseinsverlust mit teils günstigem, teils fatalem Ausgang war. Verschiedene cerebrale Krankheitsabläufe von letztlich unklar gebliebener Verursachung konnten nur beschreibend erfasst werden. Um die Jahrhundertwende 1900 hatte die neurologische Wissenschaft dann ein wesentlich differenzierteres diagnostisches Spektrum zu bieten. Deshalb ist eine kasuistische Betrachtung aufschlussreich, will man einen Eindruck davon gewinnen, was mit »Apoplexie« gemeint war. In allen drei der angeführten, tödlich endenden Fallberichten wurde eine Obduktion durchgeführt. Rätselhaft ist der erste Fall des erst 17 Jahre alten Schiffsjungen, der mit offensichtlich symptomatischen epileptischen Anfällen auffiel und eine Ventrikelblutung erlitten hatte, wie die Obduktion ergab. Er durchlief vor seinem Tod eine akute organische Psychose. Am klarsten einzuordnen ist das zweite Beispiel als Folge einer äußeren Gewalteinwirkung; das dritte Beispiel ist vermutlich Folge von Alkohol­abhängigkeitserkrankung, wobei das aktuelle Geschehen unklar bleibt. Das vierte Fallbeispiel stellt zunächst einen akuten Bewusstseinsverlust dar, darauf folgend chronisch veränderte psychische und neurologische Verfassung. In Frage kommt als Ursache ein ischaemisches Ereignis (unterbrochene Blutzufuhr), eventuell auch ein haemorrhagisches Ereignis (eine Gehirnblutung) nach extremer Sonneneinstrahlung. Was konnte der Schiffsarzt im Jahre 1850 oder im Jahre 1870 im Falle eines akuten Zustandsbildes von hirnorganischer Störung tun? Um ein solches Geschehen dürfte es sich in der Mehrzahl der als »Apoplexy« diagnostizierten Fälle gehandelt haben. Wir müssen wohl davon ausgehen, dass eine rein abwar

7 House of Commons 1853 (555) Navy (health): Stat. Rep. Part II für 1837–43, S. 84.

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tende Haltung meistens die einzig mögliche war. Die nach heutiger Kenntnis lebensrettende Senkung des Hirndruckes durch entsprechend tiefe medikamentöse Sedierung (»künstliches Koma«) stand zu jener Zeit in keiner Weise zur Verfügung, weder vom Krankheitsverständnis noch von den Behandlungsmöglichkeiten her. Die mit einer Hirnblutung oder auch mit einer akuten bakteriellen Meningitis manches Mal einhergehende Unruhe wurde durchaus als solche erkannt und therapiert, und zwar mit Opium. Dessen extrem sedierender Effekt konnte aber nie in dem angesprochenen gewünschten Effekt von Entlastung ausgenutzt werden, weil bei einer gewissen Dosis die zentrale Atemregulation so stark unterdrückt wird, dass dadurch eine neue Gefahr hervorgerufen wird. Die in der modernen Intensivtherapie mögliche tiefe Absenkung des Bewusstseinsgrades verlangt zwangsweise die Überwachung und aktive, künstliche Aufrechterhaltung der Basisfunktionen von Atmung und Kreislauf. Also konnten Schläfrigkeit, Verlangsamung in Sprache und Handlung, Verhaltensauffälligkeiten aller Art bis hin zum Vollbild einer (exogenen) Psychose und schließlich Bewusstseinsverlust nur beobachtet werden in der Hoffnung auf Besserung durch spontanes Verschwinden. Bei eintretender Somnolenz, der Bewusstseinstrübung, die jederzeit Vorbote des nahenden Todes sein konnte, wurden »reizende«, aufweckende Medikamente eingesetzt, zweifellos in der Vorstellung, die »Lebensgeister« zu aktivieren. Zeitpunkt und Ausmaß dieser Maßnahme hing von der Einstellung, der Erfahrung und Sicherheit des behandelnden Arztes ab.

5.1.2 »Cephalgia« Fünf Fälle mit der Diagnose »Cephalgia«, die auch immer wieder »Cephalalgia« geschrieben wird, finden sich in den Verlaufsbeschreibungen. Einer dieser Fälle, Case 2 der Pylades, stellt sich jedoch so eindeutig als eine Psychoseerkrankung heraus, dass er im Kapitel »Mania« als fünftes Fallbeispiel aufgenommen ist. Fallberichte 5. Fall: Case 1 der Cockatrice (1852) – »Cephalalgia and chronic Otitis«8 Beschreibung einer schweren und chronischen Entzündung des rechten Ohres mit Beteiligung des Felsenbeines. Der Patient wir in das Krankenhaus von Valparaiso verlegt.

8 Nihill, John, HM Sloop Cockatrice 1. Teil, 1.1.–14.9.1852, TNA, ADM 101/94/1A, lfd. Fallnr. 1.

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6. Fall: Case 68 und 77 der Euryalus (1862) – »Cephalalgia«9 Im Falle eines 37-jährigen Bootsmannes von »sanguinisch-nervösem Temperament« ist das Leitsymptom der Kopfschmerz. Er wird vom Schiffsarzt als »intervallartig auftretender, stechender, wühlender Schmerz« im Scheitelbereich beschrieben. Seit einer 14 Jahre zuvor erlittenen Kopfverletzung, durch die er seinem eigenen Bericht zufolge mehrere Wochen an das Bett gefesselt ge­ wesen war, leidet der Seemann unter diesen Beschwerden, ferner unter Taubheit in beiden Armen und schließlich unter »anfallsartiger Nervosität und Deprimiertheit«. (»He has been subject to occasional fits of nervousness and mental depression ever since.«) Seit Jahren ist er Abstinenzler von »stimulating drinks«, worunter in unseren Texten alkoholische Getränke zu verstehen sind. Entzündungshemmende, stimulierende und sedierende Medikamente werden versucht, jedoch ohne Erfolg. Nach einem knappen Monat schickt ihn der Schiffsarzt in das Hospital in Simon’s Town. Von dort kommt er zur großen Enttäuschung des Surgeon Lloyd Morgan in ähnlich schlechter Verfassung zurück. Er nimmt ihn erneut auf die Krankenliste auf. Nun schreibt er, in einem neuen Verlaufsbericht mit der Fallnummer 77, sehr deutlich, der Patient leide mehr unter geistiger als unter körperlicher Zerrüttung. (»And now looked upon the patient as labouring more under mental derangement than under physical.«) Man habe im Krankenhaus an Therapie wohl nicht mehr als Pause und Ruhe (»rest and quietude«) angewandt. Die Euryalus segelt nach ihrem Zwischenhalt am Kap der Guten Hoffnung inzwischen weiter über den Indischen Ozean. In Hongkong angekommen, kommt der Patient noch einmal in das dortige Hospital. Von hier aus wird er dann nicht mehr zurück auf die Euryalus, sondern auf die Princess Charlotte ausschließlich zum Dienst im Hafen beordert. 7. Fall: Case 4 (in den General Remarks) der Princess Charlotte (1868)  –­ »Headache, Delirium«10 Wir finden im Medical Journal der Princess Charlotte den Fall einer neurologischen und psychischen Störung aufgrund einer körperlichen, vermutlich nicht primär im Zentralnervensystem angesiedelten Erkrankung. Die Schluss­ diagnose bezieht sich auf die zentralnervöse Störung. Innerhalb von siebzehn Tagen führt ein »unklares Abdomen« (unklare, akute Baucherkrankung), wie es durch alle Zeiten dem Arzt begegnen konnte und kann, bei einem 26-jährigen Marinesoldaten zum Tode. Vier Tage nach Rückkehr vom Landurlaub auf sein Schiff, die Princess Charlotte, beginnt eine 9 Morgan, David HM Frigate Euryalus 23.1.–31.12.1862, TNA, ADM 101/174, lfd. Fallnr. 68 und 77. (S. auch 11. Fall »Delirium tremons“.) 10 Nelson, Robert, HM Frigate Princess Charlotte 1.1.–31.12.1868, TNA, ADM 101/181, lfd. Fallnr. 4.

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fieberhafte Erkrankung mit heftigem Kopfschmerz und allgemeiner Schwäche. Nach drei Tagen treten heftige nächtliche delirante Zustände und weiterhin starker Kopfschmerz auf. Auf den Arzt macht der Patient insgesamt den Eindruck eines Mannes, »der an Alkoholismus leidet«. Ab dem achten Tag ist der Schwerkranke im Hospital, weiterhin unter »Delirium und Taubheit« leidend. Das Abdomen ist gebläht und druckempfindlich. Am siebzehnten Tag heißt es nur noch »Koma, Krampfanfälle, Tod«. Die Obduktion schafft keine Klarheit. Das Gehirn und die Pia mater (der gefäßführende Teil der weichen Hirnhaut) sind »gestaut«, ein häufig festgehaltener, recht unspezifischer Befund. Auch die Lunge wird in ihren basalen Teilen als gestaut beschrieben. Die Milz ist vergrößert und bröckelig zerfallend, das Ende des Ileum (Dünndarm) und der erste Teil des Caecum (Dickdarm) sind gestaut, alle übrigen Darmteile und das Mesenterium (die Bindegewebebänder, die den Dünndarm an der hinteren Bauchwand befestigen) sind unauffällig. Rückschauend muss die Diagnose offen bleiben. Bei einer Meningitis hätte der Obduktionsbefund deutliche Hinweise ergeben. Ebenso sind die Befunde im Bauchraum allzu unspezifisch, um sichere Schlussfolgerungen zu erlauben. 8. Fall: Case 8 der Growler (1877) – »Cephalgia«11 Heftiger Kopfschmerz und Übelkeit mit Erbrechen bei einem als Kranken­ pfleger (Assistant Sick Berth Attendant) im Schiffslazarett angestellten 19-jährigen Matrosen. Beschrieben werden Symptome des »Chinismus« durch reichlich verordnetes Chinin.12 Auswertung Nur für die ersten statistisch erfassten Jahre 1830 bis 1836 finden wir eine eigenständige diagnostische Erfassung von Cephalgia (wörtlich: Kopfschmerz) unter der Rubrik Nervous Diseases.13 In den späteren Journals und Reports wird der Kopfschmerz nicht mehr als eigenständige Diagnose, sondern nur noch als Symptom aufgefasst. Die Begriffe Cephalgia und Headache wurden gleichwohl bei Bedarf, und dieses nicht selten, von den Schiffsärzten handschriftlich in die Tabellen hinzugefügt. Auch hier zeigt sich der besondere Wert der Fallanalyse, denn in ihren Verlaufsbeschreibungen sahen sich die Ärzte an Bord offensichtlich mit der Klage über Kopfschmerz so hartnäckig konfrontiert, dass sie sich 11 Cuffe, George M., HM Sloop Growler 18.2.–31.12.1877, TNA, ADM 101/198, lfd. Fallnr. 8. 12 Durch sehr hohe Dosen von Chinin kann ein buntes Symptombild einer Chinin­ vergiftung erzeugt werden. Die unerwünschten Wirkungen reichen von Schwindel und Übelkeit über Ohrensausen und Hörminderung sowie Sehstörungen durch Netzhautgefäßspasmen und Optikusschädigung bis zu Erregungszuständen und auch plötzlichen Herztod. 13 Entsprechend Cullen in: Kurzer Inbegriff der medicinischen Nosologie.

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gezwungen sahen, auf dieser Symptomebene zu arbeiten, bis eine ätiologische Klärung möglich wurde, oder auch ohne dass eine solche zustande kam. Im 5.  Fallbericht ist der Kopfschmerz dominierendes Symptom einer Infektion im Bereich des rechten Ohres. Der 6. Fall handelt von einem 14 Jahre dauernden, chronischen Kopfschmerz. Hier findet sich auch eine selten so deutlich ausgesprochene psychiatrische Diagnose im ärztlichen Journal, nämlich »Nervosität und Deprimiertheit«. Beschrieben ist der Kopfschmerz als eine Folge einer Kopfverletzung im Sinne einer organischen Störung mit Sensi­ bilitätsstörungen. Denkbar ist auch, dass es sich um eine nicht organische affektive Störung handelt, vielleicht als reaktives Bild, situations- und belastungsabhängig. Bemerkenswert ist, dass die 7. Fallgeschichte trotz ihres fatalen Ausganges unter der ersten Diagnose eines Kopfschmerzes geführt wird. Die zweite Diagnose »Delirium« steht sicherlich für die anfangs wechselnde, dann zunehmende Bewusstseinstrübung bis hin zum Todeskampf des Patienten. Auch der im Psychose-Kapitel dargestellte Fall wurde für die Statistik an Bord unter »Cephalgia« geführt, sogar ausschließlich unter dieser symptomatischen Beschreibung. Denkbar ist, dass diese Diagnose wissentlich zur Verdeckung der tatsächlich vorliegenden und unübersehbaren Psychose gestellt und aufrecht erhalten wurde. Im 8. Fall ist der Kopfschmerz vergesellschaftet mit Übelkeit und Erbrechen. Die Zusammenhänge bleiben unklar.

5.1.3 »Cerebral Disease« und ein Fall von »Atrophic Softening of Brain« Fallberichte 9. Fall: Case 25 der Rinaldo (1871) – »Cerebral disease«14 Ein durchweg unklar bleibender Fall mit der unspezifischen Diagnose »Gehirnkrankheit«. Bemerkenswert ist der vom Arzt gewählte Ausdruck »depressed look«. Der 21-jährige Vollmatrose erholt sich, soll sich aber »in dem Fall, dass der Kopfschmerz auch nur in geringstem Grade wiederkehrt,« sofort vorstellen. 10. Fall: Case 28 der Charybdis (1875) – »Atrophic Softening of Brain. Invalided«15 Bei dem 39-jährigen George B., einem Marinesoldaten an Bord der C ­ harybdis, sind verschiedene Faktoren eines komplexen Krankheitsgeschehens festge­ halten: Kopfschmerz nach extremer Sonnenexposition, Malariaverdacht und nicht zuletzt ein vom Schiffsarzt »von Zeit zu Zeit vermuteter Missbrauch von Opium«. Der Seemann zeigt »agitiertes Verhalten« und wird von Seh­ 14 Buckley, John, HM Sloop Rinaldo 1.1.–31.12.1871, TNA, ADM 101/185, lfd. Fallnr. 25. 15 Bickford, Thomas Leaman, HM Sloop Charybdis 2. Teil, 1.1.–31.12.1875, TNA, ADM 101/191/1B, lfd. Fallnr. 28.

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störungen, von Ohrgeräuschen (»Tinnitus aurium«), von »nächtlichen Illusionen« und angstvollen Träumen, von Kreislaufstörungen mit Pulsrasen und von Gangstörungen geplagt. Mit dem im Verlauf ebenfalls aufgezeichneten Symptom der schwammigen und blutenden Zahnfleischveränderung mit Lockerung der Zähne wird unsere Aufmerksamkeit auf die Erklärungsmöglichkeit einer Skorbut­erkrankung, also des Vitamin-C-Mangels gelenkt. Sichere Hinweise auf eine besonders lange vorausgegangene Seefahrt oder eine besonders ungünstige, ebenfalls längere Zeit vorausgegangene Ernährung ohne Frischprodukte finden sich in den Aufzeichnungen nicht. Der Mann wird mit Eisensulphat, Chinin und anfänglich mit Opium behandelt. Unter dem Verdacht des Opiummissbrauches stellt der Arzt die Verordnung dieses Medikamentes allerdings ein. Er hatte es zunächst in einer halben Flasche Porter aufgelöst gegeben. Es darf nicht wundern, dass er danach in einen vermutlich recht tiefen achtstündigen Schlaf fiel. Des weiteren bekommt der Patient mit Ale, Wein, Fleischbrühe und »in Wein gerührten Eiern« stärkende Ernährung. Eine gewisse Ratlosigkeit spricht durchaus aus den Protokollen des Schiffsarztes, der mit dem alten Soldaten offenbar mitfühlt, der »in nur vier Monaten 21 Dienstjahre vollenden würde, wobei eineinhalb Jahre seines Dienstes nicht zählen«. Denkbar, dass er ihm aus Pensionsgründen gerne zu vollen zwanzig Dienstjahren verholfen hätte. Er muss ihn aber wegen seines schlechten Gesundheitszustandes zur Invalidisierung vorschlagen. Am 3.  Februar 1875 wird er auf die Rückreise nach England geschickt. Auswertung Die schwere, bis zum Koma führende Symptomatik des jungen Matrosen im 9. Fallbericht wäre noch am ehesten mit einer bakteriellen Meningitis in Einklang zu bringen, der günstige Verlauf ohne jede antibiotische Behandlung dagegen weniger. So ist das Wort eines »silent mischief in the brain« eine treffende, zurückhaltende Beschreibung. Im 10. Fall erkennen wir ein ausgeprägtes Pschosyndrom, eine einigermaßen genaue ätiologische Einordnung ist aber mit dem Material des Verlaufsberichtes nicht möglich. Die von Surgeon Bickford gestellte Diagnose einer »atrophischen Erweichung des Gehirns« bleibt eine von ihm nicht näher begründete klinische Vermutung. Dass mit dem aus heutiger Sicht spezifischen Begriff der »Gehirnerweichung« das späte Stadium der Neurolues (bei Syphilis) gemeint sei, bestätigt sich aus der Beschreibung des Falles nicht. Die Symptomatik lässt auch an eine Skorbuterkrankung, also den Vitamin-C-Mangel, denken, für wahrscheinlich hielt dies der Schiffsarzt aber nicht.

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5.1.4 »Hydrophobia«: Tollwut, ein lebensbedrohliches zentralnervöses Geschehen Hier kann nur die Zusammenfassung eines Falles von Tollwut aus einem Jahresbericht wiedergegeben werden, weil das Medical Journal der Acorn, eines Kanononbootes der chinesischen Station, dessen Besatzungsmitglied die tödliche Virusinfektion betraf, nicht erhalten ist. Ein zweiter Hinweis auf diese lebensbedrohliche Krankheit findet sich im Journal der Juno in einem Bericht über die Stadt Shanghai. Dort wurden im Jahr 1875 und 1877 je ein Tollwutfall aktenkundig. Diese dramatischen Ereignisse wurden aufmerksam registriert.16 Fallbericht 11. Fall: Von Bord der Acorn (1859) – »Hydrophobia«17 Wir erfahren von einem 17-jährigen Jungen, der im Gebiet des JangtsekiangFlusses von einem Neufundländer-Hund in die Hand gebissen wurde. Die Wunde wurde gereinigt. Der Schiffsjunge, wenn auch von »furchtsamem, nervösen Wesen«, schrieb der Verletzung keine besondere Bedeutung zu. In der elften Woche nach der Bissverletzung verschlechtert sich seine Verfassung, und nach Aufnahme in das Hospital von Hongkong zeigen sich die typischen Symptome der Tollwut. Er wird hochgradig angstvoll und gespannt, erleidet Krämpfe und heftigste Schmerzen, kann nicht schlucken und hat dabei fürchterlichen Durst. Unter zunehmender Verkrampfung der Gesichts- und Rumpf­ muskulatur verstirbt er. »One death occurred at Hong Kong from hydrophobia; the patient, a lad about seventeen years of age, was bitten on the hand by a dog of the Newfoundland breed. The wound at first seemed but a mere abrasion of the cuticle; it was, however, immediately cleaned by ablution with warm water, and lunar caustic was freely applied to the abraded surface. The boy was of a timid, nervous temperament, but manifested no fear with respect to the injury. When bitten, the vessel, a gun-boat, was at the time far up the Yang-tse-Kiang above Nankin, where the weather was inclement, but soon afterwards she came down the river, and proceeded to Hong Kong, where the temperature was much milder. On the early part of the eleventh week after the receipt of the injury, the boy complained of general indisposition, but the nature of the disease was not suspected. On the 10th of March he was removed into the hospital ship at Hong Kong, where the true nature of the malady was first suspected, his countenance became anxious, his pupils dilated, his breathing difficult, and his pulse irregular. During the paroxysms or spasms the walls of the thorax were fixed, there was great difficulty in swallowing, with retching and spitting of tenacious saliva, extreme 16 Nelson, Robert, HM Ship Juno 1.10.1876–31.12.1877, TNA, ADM 101/197, Gen. Remarks. 17 House of Commons 1862 (199) Navy (health): Stat. Rep. für 1859, S. 133–134.

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thirst, convulsive pain in the precordia, and a sense of impending dissolution while the fit lasted. He was unable to swallow without inducing a train of most distressing symptoms. About two hours previous to his death, he made an attempt to get down a little water to relieve the intolerable feeling of thirst, but this brought on most severe spasm in the muscles of the face and trunk, which soon terminated his existence.«

Auswertung Hier ist ein besonderes, seit jeher gefürchtetes Krankheitsbild, dem die Medizin stets hilflos gegenüber stand, die Tollwut (»Rabies« oder »Lyssa«), beschrieben. Weil die dabei auftretende, unüberwindbare Schluckstörung durch Muskelspasmen so besonders auffiel (und in ihrer Genese als neurologische, zentral bedingte motorische Störung unerklärlich war), wurde die »Tollwut« auch als »Hydrophobie« (»hydrophobia«) bezeichnet, also als scheinbare Abneigung oder Angst, Wasser zu sich zu nehmen. Es handelt sich bei der Unfähigkeit zu trinken jedoch um reflektorisch einsetzende Krämpfe der Schlundmuskulatur, sobald diese gereizt wurde, und sei es auch nur durch einen kleinen Schluck Wasser. Da dadurch quälender Durst entstand, war es entsetzlich anschauen zu müssen, wie der Tollwutkranke in seinem lange dauernden Todeskampf verdurstete und gleichzeitig kein Wasser, das man ihm anbot, annahm. Ansteckungsquelle, zeitlicher und symptomatischer Verlauf sind hier in typischer Weise geschildert. Das Rhabdovirus, der Krankheitserreger, wurde und wird am häufigsten durch Hundebiss, seltener durch Bisse anderer Tiere, mit einer Inkubationszeit von drei bis acht Wochen übertragen. Auf dem Weg über die endoneuralen Lymphbahnen gelangen dabei die Viren in die graue Substanz des Zentralnervensystems. Wir kennen zwar heute eine wirksame Impfung; haben sich jedoch erst einmal klinische Symptome entwickelt, ist der Tod nach wie vor praktisch unvermeidbar.18

5.1.5 Tetanus als tödliche Wundinfektion Fallbericht 12. Fall: Shanghai (1862) – »Tetanus«19 Von einem recht typischen Fall dieser ebenfalls stets tödlich ausgehenden Infektion lesen wir im Jahresbericht 1862. Bei Kämpfen in der Nähe der Städte Shanghai und Ningpo kam es zu vielen Verletzungen. Ein Seemann starb nach Verwundung und während der Operation, einer Amputation, die nicht näher angegeben ist. 18 Dietel, Suttorp, Zeitz: Harrisons, S. 1244. 19 House of Commons 1865 (419) Navy (health): Stat. Rep. für 1862, S. 236–237.

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»A seaman who had been wounded in action, and had amputation performed on him in consequence, died of tetanus, which supervened on the operation.«

Auswertung Diese spezifische tödliche Folge von Verletzungen mit verschmutzten Waffen ist schon seit antiken Zeiten bekannt und gefürchtet. Bei jeder kleinen Verletzung können die Erreger, Bakterien des Stammes Clostridium tetani, in die Wunde gelangen, meist aus Verunreinigungen durch Erdmaterial. Nach einer Inkubationszeit von drei Tagen bis drei Wochen kommt es zu tonischen, anhaltenden Krämpfen zunächst der Zungen- und Kiefermuskulatur, dann auch der Rückenund Bauchmuskeln, typischerweise unter Aussparung der Extremitäten. Dabei wandert das Neurotoxin des Bakteriums entlang der Nervenbahnen in das Vorderhorn des Rückenmarks und in den Hirnstamm. Es gilt nach dem Botulinumtoxin (dem Toxin einer weiteren Clostridienart) als zweitstärkstes bakteriell entstandenes Gift überhaupt.20

5.1.6 Tod durch Biss einer Seeschlange Fallbericht 13. Fall: Madras (ohne Jahr) – Vergiftung21 Bei Friedel finden wir unter verschiedenen »pathologischen Vorkommnissen auf dieser so ausgedehnten Station«, der ostasiatischen nämlich, den Fall einer Bissverletzung durch eine Seeschlange, bei der er ein Exemplar der Gattung­ Hydrophis cyanocinctus Dauph. vermutet. Es heißt bei ihm: »Der Biss (im October auf der Rhede von Madras), in den Zeigefinger der rechten Hand, nadelstichartig, um ½ 8 Uhr Morgens beigebracht, wird nicht beachtet und Frühstück sorglos eingenommen. Um 10 Uhr Mittags plötzlich Erbrechen, dunkelbraun, caffeesatzartig, höchst widerlich riechend, dann Aussetzen des Herzschlages, Pupillen dilatirt, aber den Lichtreiz empfindend, linksseitige Facialis-Parese, sub­ sultus tendinum, kalter Schweiß, große Angst, in Empfindung und Ausdruck, Glottis- und Nackenmuskelkrampf mit erschwerter Respiration, dann erst leichte Geschwulst der Wunde; die rechte Gesichts- und Halsseite wird dunkelroth und dann livide fleckig von subcutanen Hämorrhagieen. Nach 20 Minuten dann ein heißes Bad Erleichterung bringend unter Nachlass der Schlundkrämpfe. Doch folgt bald neues Erbrechen dunkler, mit Gewebsfetzen vermischter Massen, neue Krämpfe, purpurne Verfärbung des ganzen Körpers, Auswerfen dunkelbräunlicher Massen in Striemenform aus den Luftwegen; 11 Uhr Coma, Pulslosigkeit, 11 Uhr 20 Minuten.«

20 Zur erheblichen Bedeutung der Tetanusinfektion an Bord bis einschließlich dem frühen 19. Jahrhundert siehe Schadewaldt: Schiffahrtsmedizin, S. 17–33. 21 Friedel, S. 158.

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Auswertung Friedels Vermutung, dass es sich bei dem betreffenden Tier um eine Schlange der Gattung Hydrophis cyanocinctus Dauph. handelt, könnte nach der Verlaufsschilderung gut zutreffen. Diese im Wasser lebende Giftnatter besitzt eines der stärksten tierischen Gifte. Das darin enthaltene Neurotoxin führt typischerweise zu der von Friedel zitierten Lähmung von Zungen-, Hals- und schließlich Brustmuskulatur bei vollem Bewusstsein, bis zum Erstickungstod. Auch der zeitliche Ablauf ist wie in dem Fall beschrieben. Es kommen bei recht sorglosem Umgang der Fischer mit diesen Tieren in Südostasien gegenwärtig recht häufige Bissverletzungen vor.22

5.1.7 Ein Fall von rätselhafter Vergiftung an Land Fallbericht 14. Fall: Case 3 der Acorn (1860) – »Coma«23 In dem Journal der Sloop Acorn finden wir unter dem Datum des 24.  März 1860 die ausführliche Verlaufsschilderung einer sehr rätselhaften, tödlich verlaufenden Erkrankung, die der Schiffsarzt als Folge einer in krimineller Absicht durchgeführten Vergiftung im Hafen von Amoy ansieht, dem heutigen Xiamen, an der südöstlichen chinesischen Küste gelegen. Der 27-jährige Bootsmannsmaat Daniel D. sei noch nie wesentlich krank gewesen und am Vormittag bei bester Gesundheit an Land gegangen. Sechs Stunden später sei er in einem Haus in einem komatösen Zustand gefunden worden ohne Anzeichen irgendeiner äußeren Verletzung. An Bord des Schiffes gebracht, stellt der Arzt bei dem bewusstlosen Mann weite, reaktionslose Pupillen, gepresste Atmung, steife Muskulatur und im weiteren Verlauf immer heftiger werdenden Husten und immer stärkere Atemnot fest. In den nächsten drei Wochen werden mehrfach Aderlässe vorgenommen, die im unmittelbaren Anschluss zwar die Atmung etwas erleichtern, im weiteren Verlauf dann aber keine anhaltende Besserung erbringen. Am 9.  April wird nach wie vor sehr behinderte Atmung und Sprache beschrieben. (»Dyspnoe very great. … can only express  a word at  a time in  a whispering tone.«) Bis Mitte April hustet der Patient blutiges Bindegewebe aus und leidet immer wieder unter qualvoller Atemnot. (»Nothing to be heard but bronchial breathing, with gurgling sounds in the trachea.«) Am 12. April stirbt 22 Vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Seeschlangen, 9.2.2011. Zur offenbar gleichbleibenden Häufigkeit von jährlich weltweit circa einer Million Schlangenbissen mit 30 000 bis 40 000 Toten siehe auch: Encyclopædia Britannica, Chicago 2007, Bd.  25, S.  926–927 und Bd. 26, S. 713–720. 23 O’Brien, William, HM Sloop Acorn 2. Teil, 1.1.–31.12.1860, TNA, ADM 101/171/1B, lfd. Fallnr. 3.

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der Patient »offenbar sowohl an Atemnot wie an Erschöpfung«. Bis zuletzt war die Körperwärme vorhanden. (»After this the breathing continued to get more difficult until 6.20 a.m. when he died quietly, apparently from both suffocation and exhaustion. Pulse firm and strong and the animal heat remaining until the last.«) Als therapeutische Maßnahmen sind zur Linderung der Atemnot und der Schmerzen beim Husten Gaben von »Morphia pills« und bei Pulsbeschleunigungen bis 120 Aktionen pro Minute Verabreichung von Digitalis und Hyoscyamus (Bilsenkraut) mit Kampher und Chinin vermerkt. Die Obduktion 24 Stunden nach dem Tod bringt als Hauptauffälligkeit blasse, auf ein Drittel verkleinerte Lungenflügel und einen rechtsseitigen Rippfell­erguss. Dieser ist bis zur Leber durchgebrochen, die ihrerseits stark vergrößert und von weicher Konsistenz ist. Alle anderen Organe einschließlich des Herzens werden in Ordnung gefunden. Der Untersucher vermutet, dass das Gift nur während des anfänglichen komatösen Zustandes wirksam gewesen sei, der Patient dann aber dem Durchbruch des Pleuraabszesses einerseits in die Leber, andererseits in die Lunge erlegen sei. Letztlich sieht er den durch Pleuraper­ foration (ein »Loch« im Rippfell) entstandenen Pneumothorax als Todesursache an. Wäre diese letztere Komplikation nicht aufgetreten, hätte der Patient »eine berechtigte Chance gehabt, dem Tod noch einmal zu entkommen«. (»The nar­cotic effects of poison passed off with the comatose symptoms. … had the abscess remained confined to the substance of the lunge without opening the pleural cavity, I think he would have a fair chance of escaping death.«) Auswertung Im Statistical Report des betreffenden Jahres 1860 enthält der kommentierende Teil keinerlei Hinweis auf dieses außergewöhnliche Geschehen. Auch in der Tabelle der in jenem Jahr zu Tode Gekommenen findet sich keine darauf hinweisende Eintragung. Offen bleiben muss, ob sich der Vergiftungsfall hinter drei an »Dysentery« verstorbenen Männern der Acorn verbirgt.24 Ängste vor Vergiftungen waren nicht ungewöhnlich. Gerade in China war diese Gefahr im Bewusstsein fremder Besucher verankert, da sie aus Sicht der Einheimischen in überwiegender Zahl als Eindringlinge, als zumindest un­ gebetene, oft genug feindlich gesinnte Besucher angesehen wurden.

24 House of Commons 1863 (133) Navy (health): Stat. Rep. für 1860, S. 174.

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5.1.8 Blitzunfälle: Drei Opfer eines Blitzeinschlages im Navy Hospital in Macao 1858 Die Royal Navy unterhielt in der Zeit des sogenannten zweiten Opium­k rieges ein Hospital im eingenommenen Fort von Kanton, ein Hospital auf der Insel Wang Tung im Gebiet Hongkongs sowie ein weiteres in der Stadt Macao25. In Kanton wurde eine Pagode als Hospitalgebäude genutzt. Für dieses Hospital führte man ein Journal mit demselben Aufbau wie für die Schiffe der Flotte. Vom 1. Oktober 1857 bis zum 16. August 1858 war der Assistant Surgeon Fred Piercy in diesem provisorischen Lazarett eingesetzt. Außerhalb dieser Kriegsjahre lag lediglich ein Hospitalschiff vor Macao. Fallberichte Unter dem 24. Juni 1858 sind als Fälle Nr. 31 bis 33 Opfer eines Blitzein­schlages in diese Pagode beschrieben. Dabei kam ein 22-jähriger Schiffskoch, der als Krankenpfleger eingesetzt war, durch direkte Blitzeinwirkung sofort um. Ein 17-jähriger Schiffsjunge, der wegen Fiebers im Hospital lag, erschrak sich über den lauten Knall des Blitzes so stark, dass er aus seinem Bett sprang, 30 Fuß tief in das darunter liegende Stockwerk fiel und dabei eine rechtsseitige Oberschenkelfraktur erlitt. Als dritter Fall wird von einem 23-jährigen Matrosen oder Soldaten berichtet, der durch die unmittelbare Nähe zu dem tödlich getroffenen Pfleger seinerseits so stark unter Schock geriet, dass ihn selbst hohe Dosen von Opium nicht beruhigen konnten. Die als »Delirium« bezeichnete psychische Ausnahmesituation ist als 2. Fall »Anpassungsstörungen« näher besprochen. 15. Fall: Case 31 der Forts in Canton River – »Accident«26

H. M. Macao Fort 24th June 1858 Chas M. æt 22, Midshipman’s Cook, doing duty as Sick Attendant, was killed by Lightening in the 2nd story of the Pagoda, which is used as a Hospital for the Fort. At the time of the occurrence, he was standing beneath a door way. The lightening entering at the roof of the Pagoda ran down each side of the building striking M. in its course, on the right side of the head splitting his clothes, and reaching the right side of his body. He never moved after. The walls were rent to their foundation, and the building was so much shaken, that it was considered unsafe for further use. At the time of the Accident three other men were in the room neither of which were directly struck by the electric fluid, but all felt the shock. 25 Kanton (englisch meist Canton), das heutige Guangzhou, Hongkong und Macao (oder Macau), das heutige Aomen, liegen im Delta des Perlflusses im Süden Chinas und waren neben Shanghai die wichtigsten Stützpunkte für die britische Handels- wie Kriegsflotte. 26 Piercy, Frederick, HM Forts in Canton River, 1.10.1857–16.8.1858, TNA, ADM 101/165, lfd. Fallnr.  31. 

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16. Fall: Case 32 der Forts in Canton River – »Fracture«27

H. M. Macao Fort 24th June 1858 Tho L., æt 17, Boy, was placed on the Sick-List on the 19th June for intermittend fever, from which he was recovering. This morning however, he was in his bed in the Pagoda at the time it was struck by Lightening, and the noise so terrified him that he threw himself to the lower story, a height of about thirty feet and fractured his right thigh at the junction of the middle and upper thirds. There was considerable shortening of the limb, and the upper fragment projected and overlapped the lower. As there was a deal of spasmodic action in the muscles, render it impossible to reduce the fracture, he was put under the influence of Chloroform, the fracture reduced, and the limb put in a long strait splint after which he was sent to Hong Kong for treatment in the Hercules.

17. Fall: Case 33 der Forts in Canton River – »Delirium«28

Delirium H. M. Macao Fort. Arthur L., 23, OS Was placed on the Sick-List on the 19 June 1858 for Intermittent Fever and being in the Pagoda at the time of the Accident on the 24th June. He was so shocked at seeing the sudden death of his companion M., that he became delirious. Pulse rapid and small. Limbs tremulous, countenance wild having also a seared appearance and his nights were sleepless. Opium was given in full doses, without effect so thinking a change would be beneficial I sent him to the Hercules at Hong Kong.

In den General Remarks, den Schlussbemerkungen des Journals, in denen ungewöhnliche Vorkommnisse häufig nochmals kommentiert werden, geht der für das Fort zuständige Arzt nicht mehr auf den Blitzunfall vom 24. Juni 1858 ein. Dieser Vorfall wird jedoch im Statistical Report für das Jahr 1858 mit Hervorhebung der Tatsache dargestellt, dass die Haut des Betroffenen unversehrt geblieben, die Kleidung aber in Stücke gerissen worden sei. (»There was no laceration of the skin, but his trousers were torn into fragments.«) Drei weitere im Raum befindliche Kranke seien dem Unglück entkommen. Auch wird die Beobachtung des Hospitalarztes wiedergegeben, dass »ein Blitzstrahl zunächst in den Dachfirst der Pagode einschlug und dabei Dachziegel in alle Richtungen wegschleuderte, um dann, zweigeteilt, auf gegenüberliegenden Seiten des Gebäudes im Boden zu verschwinden.«29

27 Ebd., lfd. Fallnr. 32. 28 Ebd., lfd. Fallnr. 33. 29 House of Commons 1861 (175) Navy (health): Stat. Rep. für 1858, S. 137.

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5.1.9 Blitzunfälle an Bord Fallberichte Drei weitere Fälle von Blitzschlag, und zwar auf dem Schiff Cruizer30, werden in dem genannten Statistical Report des Jahres 1858 festgehalten. In einem Gewittersturm erlitten drei Seeleute gleichzeitig schwere Schockzustände, konnten aber alle aus eigener Kraft von ihren jeweiligen Positionen hoch oben in der Takelage an Deck gelangen. Der erste verlor kurz darauf das Bewusstsein, kam bald wieder zu sich und hatte mehrere Tage lang ein Schwächegfühl und Schmerzen in der Lendengegend. Die beiden anderen erlitten einen leichteren Schock, offenbar ohne Bewusstseinsverlust. Bei allen dreien hatte der Blitz­ ableiter den Hauptstromfluss aufgenommen, und alle hatten keine Verbrennungen an Haut und Kleidung. 18. bis 20. Fall: Drei Fälle der Cruizer (1858) – »Electric Shock«31

Another case of electric shock, happily not attended with serious injury, occurred in the Cruizer. The man in this instance was struck while employed in the foretop during a thunderstorm. He managed to descend the rigging without assistance, but on reaching the deck fell, and lost all consciousness; he soon recovered, but was unable to perform any duty for several days, in consequence of debility and pain in the loins. No mark was perceptible either on his person or clothes. Two other men – one of whom was in the main-top the other in the mizen-top – sustained shocks at the same time, but slighter in degree. All these men were within a few inches of the lightning conductors, which were found to have been »started«, or separated from the masts at different places.

Zwar nicht in der ostindisch-chinesischen Station der Royal Navy, aber auf der West India Station ist in einem Medical Journal aus dem Jahre 1837 ein Blitzunfall beschrieben. Wieder ist es eine Cruizer. Dabei handelt es sich aber um das Vorgängerschiff desselben Namens.32 Wegen der Seltenheit seien hier diese Kasuistiken aus einer anderen Region und aus einer früheren Zeit als unserem eigentlichen Untersuchungszeitraum aufgenommen.

30 Das entsprechende Journal der Cruizer ist in den National Archives nicht vorhanden. Nach Colledge, James J.; Warlow, Ben: Ships of the Royal Navy, London 2003 handelt es sich um die 1852 gebaute Wood Screw Sloop. Sie war 160 Fuß lang und maß 960 Tonnen. Sie wurde 1912 verkauft. 31 House of Commons 1861 (175) Navy (health): Stat. Rep. für 1858, S. 137–138. 32 Nach dem Verzeichnis von Colledge: Ships muss es eine Brig-Sloop von 385 Tonnen sein. Sie wurde 1828 in Chatham gebaut und 1849 in Bombay als letzte ihrer Klasse verkauft.

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21. Fall: Case 12 der Cruizer (1837) – »Struck by Lightning inducing considerable nervous debility, and constitutional enervation, &ca«33 Am 20. April 1837 wird der Schiffsarzt um 4.10 Uhr dringend gerufen, um sich um mehrere Seeleute zu kümmern. Auf dem Weg von den Bermudas nach Halifax hatten mehrere Blitze das Schiff getroffen. (»At 4.10 am of this day was called suddenly to see several seamen amongst whom was this individual, who has been struck down and injured by lightning which at this hour struck the vessel from time to time.«) Der erste der Verletzten ist ein 46-jähriger Bootsmannsmaat, der zweite ein 19-jähriger Schiffsjunge. Der Boatswain’s Mate Peter K. wird vom Blitzschlag niedergeschmettert und schwer verletzt. Er hat Verbrennungen an der Körperseite, am Hinterhaupt bis zum Nacken und an Oberschenkel und Knie einer Seite. Die Kopfverbrennungen heilen recht gut ab. Die ersten Nächte hindurch ist der Patient sehr unruhig. Insgesamt eine Woche lang spürt er »erhebliche nervliche und körperliche Schwäche« und eine Taubheit im betroffenen Bein. Der ausführliche Verlaufsbericht endet am 4. Mai 1837 mit der konzisen Feststellung der schweren und anhaltenden nervlichen Störung durch den elektrischen Strom, die zunächst lebensgefährlich aussah, und der notwendigen Invalidisierung. (»From this time to the date of being invalided, May 4th, no improvement of his health evidenced sufficiently any prospects of his ever being capable of resuming his former duties, or of his services ever being available to His Majesty’s Service, and such appeared to be the general persons debility & constitutional enervation produced by the effects of the electric fluid, which at first almost destroyed life [as noted in his case] from the severe injury to the head & spine that he was considered a most further object for being invalided from His Majesty’s Service.«) 22. Fall: Case 12 der Cruizer (1837) – »Struck by Lightning, Inducing Ptosis, Loss of Vision, Lequal Partial Amaurosis«34 Der 19-jährige Boy of 1st Class verspürt nach dem Blitzschlag nur kurze Zeit Taubheit und Benommenheit, länger dauert jedoch eine Sehstörung des rechten Auges an. Der Matrose war direkt nach dem Blitzunfall wegen des extrem schlechten Wetters zunächst in seine Hängematte gelegt und drei Stunden später morgens um 7.20 Uhr vom Schiffsarzt untersucht worden. (»At this time it being rather dark, & the weather extremely bad, also but partially recovered, he was put to his hammock, where he gradually recovered his senses …«) Dieser beschreibt eine entzündliche Rötung des rechten Auges, Ptosis (gelähmtes, herabhängendes Oberlid des Auges) und extreme Lichtempfindlichkeit. Die Sehkraft ist so reduziert, dass er nicht einmal die Anzahl vorgehaltener Finger unter 33 Jewell, T. W., HM Sloop Cruizer 2. Teil, 1.7.1836–28.7.1837, TNA, ADM 101/95/3/1B, lfd. Fallnr.  12.  34 Ebd., lfd. Fallnr. 13. 

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scheiden kann. Etwa drei Wochen später wird vermerkt, dass das Auge äußerlich weitgehend geheilt sei. Seine Sehkraft reicht nun aus, Objekte im Bereich des Vordecks zu erkennen, ohne Personen unterscheiden zu können. (»It was on the 14th so far restored, as enabled him ro see objects, altho not to distinguish who the persons were, as far as the forecastle, and with a view to promoting its recovery more rapidly he was sent on day duty.«) Ab 14. Mai kann er wieder Dienst tun, allerdings nur für Wachen am Tage. Er wird am 30. Mai, als die Cruizer Order zur Rückkehr nach England hat, auf den Schoner Shipjack versetzt. An Behandlung wird für beide Fälle der Blitzopfer der Cruizer ein häufiger Wechsel der Kleidung, verbessertes Essen mit Wein und Portwein und wiederholt Verabreichung des beruhigenden Bilsenkrauts (Hyoscyamus) durchgeführt.

5.1.10 Weitere Blitzunfälle an Bord Ganz ähnlich stellt sich der Verlauf zweier Blitzunfälle nochmals dreißig Jahre früher, ebenfalls auf der Fahrt in die Karibik, auf der Fregatte Orpheus dar. Fallberichte 23. und 24. Fall: Cases (ohne Nummerierung) der Orpheus (1806) »Struck by lightening«35 Sowohl bei einem 22-jährigen Matrosen, als auch bei einem 50-jährigen Kanonier tritt nach einem Blitzunfall am 6. Oktober 1806 völliger Visusverlust, also Verlust der Sehfähigkeit, auf einem Auge auf. (»Saul G., Seaman Æt 22. On our passage to Jamaica. This Evening it thundered and lightened dreadfully, the patient was upon the mast and was struck with a flash of lightening which deprived him of sight and of the power of opening his eyelids. He complains of a burning pain in his eyes, when his eyelids are separated he is insensible to the strongest light.« »Michael M. Gunner. Æt 50. On our passage to Jamaica. About 10 p.m. was struck by lightening on the Quarter Deck, so as to fall down. When he had recovered a little it was found that he was deprived by it of Sight and hearing.«) Der jüngere Matrose erholt sich vollständig und wird vier Tage später wieder zum Dienst geschickt. Der ältere Mann behält eine Sehbehinderung auf dem linken Auge und außerdem eine Hörschädigung und wird elf Tage später invalidisiert.

35 Maybank, W., HM Frigate Orpheus 29.10.1805–29.10.1806, TNA, ADM 101/111/3, ohne Fallzählung.

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Auswertung Blitzunfälle an Bord von Schiffen waren keine ausgesprochene Seltenheit36, dagegen sind genaue Beschreibungen der Verletzungen, wie wir sie in unseren Fallberichten vorfinden, eine Rarität. Die Kasuistiken zeigen Verläufe vom akuten Tod (15. Fall), über Verbrennung der Haut (der 21. Fall), bis zu unterschiedlich lang anhaltenden neurologischen (die Fälle 18 bis 24) und psychischen Störungen (die Fälle 15 bis 17). Einen Sonderfall stellen die beiden Seeleute dar, die durch das Erlebnis des Blitzeinschlages in das Hospital, in welchem sie lagen, folgenreiche psychische Schockreaktionen erlitten, im 17. Fall im Sinne einer anhaltenden seelischen Veränderung, die wir heute als post­traumatische Belastungsstörung beschreiben würden. Die gesundheitlichen Folgen, denen wir hier begegnen, ergeben sich aus den beiden physikalischen Mechanismen des Blitzschlages, zum einen aus der Hitzeentwicklung in unmittelbarer Nähe des Strombündels eines Blitzes mit daraus resultierenden Verbrennungen, zum anderen aus der extrem kurzen, aber hohen elektrischen Spannung, die für die kardiologischen (vor allem die »elektrisch« arbeitende Erregungsleitung des Herzens betreffenden), neurolo­ gischen und psychopathologischen Ausfälle verantwortlich ist. Bald nach der Erfindung des Blitzableiters durch Benjamin Franklin Mitte des 18. Jahrhunderts wurde dieser technische Schutz auch auf Schiffen eingesetzt.

5.2 »Concussion of the Brain«, »Fracture of Skull«, »Traumatic Encephalitis«, »Killed by fall from aloft« – Durchgangssyndrome bei Schädel-Hirn-Traumata 18 Krankheitsfälle nach eindeutigen äußeren Verletzungen des Kopfes finden wir in den Medical Journals. Zwei Vergleichsbeispiele von Stürzen aus großer Höhe, die zwar mit Frakturen, nicht aber mit einem Schädel-Hirn-Trauma endeten, sind als 19. und 20. Fall hinzugenommen. Und schließlich ist als 21. Fall ein singuläres Beispiel einer durch Kampfhandlungen bedingten Schädelverletzung durch einen Gewehrschuss wegen der exakt beschriebenen Sprachstörung und ihrer Behandlung angefügt.

36 So wurde etwa der archäologisch bedeutsame Fund des größten Schiffes des 15. Jahrhunderts, der »Gracedieu«, im Hamble River bei Southhampton dadurch möglich, dass dieses Schiff nach einem Blitzeinschlag niederbrannte und in dem Flussbett liegengeblieben war. (Siehe Hill: History) Eine Zusammenstellung der von Preston in allen ­Medical Journals aufgefundenen Blitzunfälle findet sich in der Übersichtsarbeit von 1902. Die Details sind dort jedoch nicht dargestellt. Vgl.: House of Commons 1903 (301) Navy (­ health): Stat. Rep. für 1902, S. 145.

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Durchgangssyndrome bei Schädel-Hirn-Traumata

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Die meisten Unfälle sind Stürze aus der Takelage, der fall from aloft. Er er­ eignet sich in neun der 18 Fälle von Kopfverletzung (sowie in den beiden zusätzlich aufgeführten Stürzen mit Knochenbrüchen ohne Kopfverletzungen). Drei Mal stürzt ein Mann an Bord in das tiefer gelegene Deck, zwei Mal schlägt ein Block bzw. ein Ankerkettenglied gegen den Kopf, und einmal ist es eine Bagatellverletzung, die große Folgen hat. An Land ist ein Matrose in eine folgenreiche Schlägerei verwickelt, ein anderer stürzt betrunken auf seinem Landurlaub. Nicht nur bei diesem, sondern auch bei zwei der Männer, die ein Deck hinabstürzen, spielt der Alkoholrausch eine wesentliche Rolle. Bemerkenswert ist, dass in den Logbüchern der jeweiligen Schiffe über keinen der von den Schiffsärzten genau beschriebenen Unglücksfälle berichtet wurde. Offenbar galt das vom Medical Officer geführte Tagebuch als ausreichende Dokumentation für spätere Berichterstattung nicht nur über die an Bord vorkommenden Krankheiten, sondern auch über die Verletzungen und Unfälle einschließlich möglicher Verwundungen in Kampfhandlungen.

5.2.1 Fallberichte von Schädel-Hirn-Traumata mit Psychosyndrom 1. Fall: Case (ohne Nummerierung) der Raleigh (1857) – »Fracture«37 Von der Großmarsrah, und damit aus beträchtlicher Höhe, fällt am 19. März 1857 der 23-jährige Vollmatrose und erleidet eine offene rechtsseitige Oberschenkelfraktur. Die Wucht des Aufpralles ist so groß, dass das gebrochene Knochenende, welches Muskeln und Haut durchstößt, ein Inch (oder Zoll, also zweieinhalb Zentimeter), tief durch die Beplankung des Schiffsdecks dringt. Der Matrose erleidet zwar außerdem eine Prellung des Brustkorbes, der Arme und Hände einschließlich Fraktur eines Mittelhandknochens, er ist auch für eine halbe Stunde bewusstlos, aber zur spürbaren Überraschung des Schiffsarztes »erholen sich seine Sinne vollständig«, und es ist keinerlei Kopfverletzung auffindbar. Am Tag nach dem Unfall und sicherlich nach Reposition und Schienung von Bein und Hand wird der Mann in das Krankenhaus in Singapur gebracht. Da die Schlusstabellen des Journals zwar tödliche Verluste festhalten (das Schiff war an Kriegshandlungen auf dem »Fatchan Creek« mit vielen Opfern beteiligt), aber keiner von ihnen mit diesem Sturz in Verbindung gebracht werden kann und da andererseits ein Fall als Fracture mit sent to Hospital, aber ohne den Vermerk died zu finden ist, spricht vieles dafür, dass der Matrose diesen Sturz aus großer Höhe letztlich mit einer zweitgradigen Hirnquetschung (Contusio) überstanden hat. 37 Crawford, J. J., HM Frigate Raleigh 1856–57, TNA, ADM 101/161, ohne Fallnummer.

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Case [ohne Numerierung]: Fracture Mr. M. 23. AB. fell from Main Top Gallant Yard to the deck on the 19th March. He received a compound fracture of the middle of the right thigh bone, the upper fragment penetrating the deck to the extent of an inch. He was considerably contused about the chest, arms and hands, a metacarpal bone was also fractured. His respiration was laboured and painful. He was insensibly for half an hour after the fall, but recovered his senses perfectly. No injury of head discoverable. He was sent to Singapore Hospital the day after the accident.

2.Fall: Case 4 der Nimrod (1858) – »Fracture of Cranium«38 Eine innerhalb von Minuten zum Tode führende Schussverletzung im Kopfbereich während der Kämpfe im Peiho-Fluss am 20. Mai 1858. 3. Fall: Case 36 der Nimrod (1858) – »Concussion of Brain & Fracture of Skull & Thigh«39 Am 13.  Juli 1858, um halb zwei Uhr nachmittags, stürzt der 27-jährige Vollmatrose von einer (nicht näher angegebenen) Rah des Vormastes auf das Deck, ohne dass irgendein Teil der Takelage seinen Sturz aufgehalten oder abgebremst hätte. Er erleidet eine Fraktur des rechten Oberschenkels im unteren Drittel sowie eine ausgedehnte Wunde an der Oberkante der rechten Augenhöhle. Er blutet heftig aus Nase und Mund und bekommt (»aspiriert«) viel Blut in die Lunge. Der neurologische Befund wird von Assistant Surgeon William Roberts mit tiefer Bewusstlosigkeit, verlangsamter Atmung, und schlaffer Muskulatur bei fehlender Lichtreaktion der enggestellten Pupillen angegeben. Er reponiert die Fraktur und fixiert das Bein auf einer Schiene. Nach dieser Erstversorgung sucht er nochmals den Kopf nach knöchernen Verletzungen ab, kann aber keine entdecken. Abends wird der Verunglückte sehr unruhig, sein Puls wird hart und schnell und sein Gesicht heiß und rot. Der Arzt macht einen Aderlass von acht Unzen Blut (entsprechend 227 Milliliter), kühlt den Kopf mit Wasser und lagert ihn erhöht. Dies beruhigt den Patienten etwas. Das Bein beginnt jedoch so stark zu schwellen, dass der Verband gelockert werden muss. In der Nacht auf den 14. Juli um drei Uhr kehrt etwas Bewusstein zurück, der Mann kann aber nicht sprechen. Die Schwellung des Beines geht zurück, das Auge ist aber »eine einzige blutige Kugel«. Die Tage bis zum 17. Juli liegt der Patient ruhig und nimmt einmal die angebotene Medizin, die stärkende Pfeilwurz (arrowroot) und etwas Nahrung zu sich. Am 18. Juli geht es ihm mit einem Mal schlechter. Er wird tief bewusstlos, atmet sehr laut und hat einen immer schnelleren und 38 Roberts, William, HM Sloop Nimrod 1.Teil, 28.5.–20.9.1858, TNA, ADM 101/168/1A, lfd. Fallnr. 4. 39 Roberts, William, HM Sloop Nimrod 1.Teil, 28.5.–20.9.1858, TNA, ADM 101/168/1A, lfd. Fallnr. 36.

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schwächeren Puls. Er bleibt den ganzen Tag in diesem Zustand, sodass Surgeon Roberts abends um neun Uhr erwartet, dass der Mann die Nacht nicht überlebt. Die ungünstige Prognose trifft zu, der Patient stirbt eine halbe Stunde vor Mitternacht, ohne noch einmal das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Die am folgenden Tag durchgeführte Obduktion deckt eine große Blutung inner- und außerhalb der harten Hirnhaut (parietofrontale Epidural-und Subduralblutung) auf. Eine Bruchlinie durchzieht die Schädeldecke vom rechten Augenhöhlenrand bis zum linken Hinterhauptsbein. Weil »sehr heißes Wetter herrscht und weil er keine Assistenz hat«, verzichtet der Arzt auf eine Herausnahme und genauere Untersuchung des Gehirnes. James B. AB æt. 27. July 13th Died July 17th Gulf of Petcheli At half past one PM fell from the foreyard of this vessel to the deck his fall not being broken by the rigging, fractured his right femur between the lower and middle third and received a severe blow over the right eye just above the supra orbital ridge and extending from near the median line about an inch towards the outer angle of the eye. He bled a great deal from the nose and mouth and a quantity of fluid found its way into the trachea and bronchial tubes. He was perfectly insensible, his breathing slow, pupils insensible to light and contracted, and muscles relaxed. I reduced the fracture and placed the limb on a long splint and again examined the head for fracture, but could find no displacement of the bone anywhere. Towards evening reaction set in his pulse becomes fast and hard the patient being very restless and his head hot and face flushed. I then bled him into the extent of eight ounces, applied could water to the head also keeping it raised which rendered him much quieter and appeared to have relived him much. The limb began to swell a good deal and I had to keep loosening the bandages. About 3 am on the 14th he appeared conscious but could not speak, & he continued much the same all day; the swelling of the thigh however going down a great deal. 15th Has slept a good deal during last night and this morning he has managed to swallow some Arrowroot and made  a motion with his arm as if to assist himself. The swelling of the limb is much reduced, but the right eye is one globe of blood, and pulse frequent and somewhat hard. 16th Has been very quiet all night; readjusted the splints having become looser. Not so easily roused but still takes some arrowroot. Pulse increased slightly in rapidity. 17th Still very quiet but pulse slightly rose rapidity. Still takes a small quantity of food. 18th Rapidly getting worse. Stupor deep and cannot be roused since 9 am. Breathing very loud. Pulse rapid and becoming weaker. 9 pm. A change has not come over him and I did not expect him to live over the night: from this time his pulse gradually became weaker and at half past eleven p. m. he died being unconscious to the last. 19th Examined the head and found extravasation of blood between the bone and dura mater, a clot of about 2 inches square occupying the upper and anterior surface of the duramater and on opening the membranes found the surface and spaces between the convolutions covered with clotted blood. A fissure extended from the right supercilliary ridge over to the left and posterior part of the occipital bone. As the weather was very hot and I had no assistance I did not remove the Brain.

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4. Fall: Case 1 der Pylades (1859) – »Dislocation of atlas and dentate«40 Beim Reffen der Topsegel bei böigem Wind und in Dunkelheit und Nässe stürzt der 20-jährige Matrose am Abend des 21. Januar 1859 aus dem Rigg aus 66 Fuß Höhe kopfüber auf das Deck. Der Arzt stellt zunächst eine drei Zoll große Platzwunde über dem rechten Schläfenbein fest und meint, eine Impressionsfraktur rechts temporal (eingedrückte Stelle an der rechten Schläfe) zu ertasten. Der Patient ist tief bewusstlos. Zwei Stunden später legt der Arzt am nach wie vor komatösen Patienten mit dem im Bericht ausdrücklich genannten Ziel, den klinisch vermuteten Hirndruck durch eine Trepanation zu beseitigen, den Schädelknochen frei. Bei genauer Untersuchung stellt er jedoch fest, dass der Schädelknochen unverletzt ist, weshalb er den Knochen nicht mit der Trepanationssäge aufbohrt. Noch am Tag vor dem Tod kann der Surgeon die Bewusstseinslage prüfen. Er protokolliert wörtlich: »Mit schwacher, aber hörbarer Stimme kann der Verletzte befriedigende Antworten geben: Surgeon: Haben Sie irgendwelche Schmerzen in Ihrer Brust, im Bauch oder im Kopf? Patient: Keine, Sir. Surgeon: Haben Sie Hunger, O’C.? Patient: Nein, Sir, aber ich möchte etwas trinken.« (»In reply to questions I address him, he gives satisfactory expression in a weak but audible intonation. Surgeon: Have you any pain in your chest, belly or head? Patient: None, Sir Surgeon: Do you feel hungry, O’C.? Patient: No, Sir, but I can drink.«)

Den Verunglückten beschreibt der Arzt als »gut gebauten, muskulösen jungen Mann durchschnittlicher Größe, mit dunklem Haar und hellbraunen Augen, aus Dublin stammend«. (»Is  a muscular well formed young man of average height, with dark hair and light hazel eyes and comes from the City of Dublin.«) Nach fünf Tagen und nach vorübergehender, allerdings deutlicher Verbesserung des Zustandes stirbt der Mann abends 10.30 Uhr am 26. Januar des Jahres 1859. Unmittelbar nach seinem Tod sind seine mit ihm vertrauten Kameraden anscheinend misstrauisch, ob er wirklich tot ist. Dies ist Dr. Turner Caddy eine Notiz im Journal wert mit dem Hinweis, deshalb habe er den Leichnam besonders sorgfältig untersucht. (»Those about him at this period had their misgivings, whether O’C. was dead: on being acquainted, I inspected the corpse accordingly.«)

40 Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 2. Teil, 1.1.–31.12.1859, TNA, ADM 101/167, lfd. Fallnr. 1.

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Durchgangssyndrome bei Schädel-Hirn-Traumata

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Bei der Obduktion finden sich eine Fraktur des rechten Atlasbogens (des ersten Halswirbels) und eine Dislokation (Verschiebung) des Axis (des zweiten Halswirbels). Das Rückenmark erscheint dem untersuchenden Arzt nicht verletzt. Als Todesursache ist eine Blutung an der Schädelbasis mit Einbruch in die Ventrikel (die inneren Hirnwasserräume) anzunehmen. 5. Fall: Case 18 der Pylades (1860) – »Concussion of the Brain«41 Der ausdrücklich als Cockney, also als Londoner Bürger, ausgewiesene Clarke G., ein »robuster und sehniger junger Mann«, stürzt am 3.  Januar 1860 aus dem unteren Besansegel auf das Oberdeck, wobei Taue den Fall des 18-jährigen Schiffsjungen abbremsen. Er ist zunächst bewusstlos und blutet aus der Nase. Es finden sich aber keine knöchernen Verletzungen. »Das Gehirn ist das be­ einträchtigte Organ: Kopfschmerz und Hitze des Kopfes« (…, the brain was the suffering organ, …) benennt der Bericht klar das führende Krankheitsgeschehen. Behandelt wird deshalb innerlich mit Kalomel, Senna, Magnesiumsulphat und schweißtreibender Lösung, äußerlich mit Wärme über dem Magen und an den Fußsohlen sowie Kälte auf dem Kopf. Zweieinhalb Monate ziehen sich Beobachtung und Behandlung des Mannes hin. Er ist eine ganze Woche hindurch in allen seinen Reaktionen verlangsamt und behält noch lange darüber hinaus pochenden Schläfenkopfschmerz und Schwindelgefühl, sobald er sich aus liegender Position aufrichtet. Bemerkenswert ist die psychopathologische Beobachtung des Arztes, dass der Patient an ihn gestellte Fragen mürrisch-missmutig beantwortet. Er äußert überdies seine Überzeugung, dass die Erholung in nördlicheren Breitegraden (der Unfall geschah im Pazifik vor der mexikanischen Küste) rascher vonstatten gehen würde. Er behält seine kräftigende Therapie mit besonders guter Ernährung, aber auch morgendlichem kühlen Bad (vor der tropischen Hitze des Tages) unter der sicherlich zutreffenden Annahme bei, es handle sich um »einen Fall von beeinträchtigten cerebralen Funktionen«. (»The case was treated as one of impaired cerebral functions.«) Man wird nach der Verlaufsbeschreibung von einer Contusio, also einer Gehirnquetschung, verbunden mit kleinerer Blutung ausgehen müssen. Glücklicherweise erholt sich der junge Mann so gut, dass er am 25. März zu seinem Dienst zurückkehren kann, allerdings mit der Auflage, nicht in die Takelage zu steigen.

41 Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 3. Teil, 1.1.–31.12.1860, TNA, ADM 101/167, lfd. Fallnr. 18.

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6. Fall: Case 156 der Euryalus (1862) – »Compression«42 Ein 22-jähriger Ingenieurs-Steward stürzt kopfüber vom Hauptdeck in den Maschinenraum und verstirbt unmittelbar nach seinem Transport in die Krankenstation. Es ist eine tragische Unfallgeschichte, weil der Mann offenbar eine Leiter hinunter in das tiefere Deck nehmen wollte, die »unglücklicherweise weggenommen worden war«. 7. Fall: Case 13 der Euryalus (1863) – »Wound of scalp«43 Der 24-jährige Leichtmatrose William H. ist während seines Landurlaubes in Hongkong an einer Schlägerei beteiligt. Er bekommt dabei durch einen Chinesen »einen Schlag eines Hammers gegen seinen Kopf«. (»… a blow from a hammer by a chinaman during a scuffle whilst on shore on leave.«) Surgeon Morgan diagnostiziert eine stumpfe Kopfverletzung mit Zerstörung der Gewebsstrukturen bis auf die Knochenhaut und eine Impressionsfraktur am linken Scheitelbein. Erstaunlicherweise hat der Verletzte schon nach zwei Tagen keinen Kopfschmerz und »keine konstitutionellen Störungen« mehr zu beklagen. (»2nd Feels much better this morning; no pain in the head. Pulse full soft and regular [80]. 3rd The patient is now free from all constitutional disturbance.«) Nach 16 Tagen löst sich ohne weitere Komplikation ein großes Stück des Schädelknochens aus der Wunde. Schließlich wird der Patient nach seiner so guten Erholung von der lebensgefährlichen Verletzung wegen schwerer Diarrhoe, die er sich schon im nächsten Hafen zugezogen hat, doch noch invalidisiert und an Bord der Sphinx nach Hause geschickt. (»The Patient’s health having been broken down by diarrhoea contracted at Kuh ding he was this day invalided & sent home in »Sphynx.«) Es bleibt offen, ob der »break down«, vermeintlich nur durch die Diarrhoe, nicht doch in ursächlichem Zusammenhang mit der offenen Schädelfraktur zu sehen ist. 8. Fall: Case 26 der Euryalus (1863) – »Compression of the Brain«44 Der 38-jährige Musiker der Musikkapelle der Euryalus kommt nachmittags um sechs Uhr derart betrunken vom Landgang in Yokohama zurück auf das Schiff, dass er von einer Leiter stürzt und heftig auf den Hinterkopf fällt. (»The man came off from the shore in a state of inebriation a few minutes before the accident happened …«) Sofort nach dem Sturz stellt der Schiffsarzt bei dem komatösen Mann anhand fehlender Lichtreaktion der erweiterten Pupillen die Anzeichen einer schweren 42 Morgan, David Lloyd, HM Frigate Euryalus 23.1.–31.12.1862, TNA, ADM 101/174, lfd. Fallnr. 156. 43 Morgan, David Lloyd, HM Frigate Euryalus 1863, TNA, ADM 101/177, lfd. Fallnr. 13. 44 Ebd, lfd. Fallnr. 26.

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Durchgangssyndrome bei Schädel-Hirn-Traumata

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Gehirnverletzung fest. Erst fällt starker Geruch der Atemluft nach Sake, dem japanischen Reiswein, auf, dann scheinen sich auch in der »schaumigen Magenflüssigkeit« große Mengen von Sake zu befinden. Wir lesen hier von einer Magenspülung durch Schlauch und Pumpe. (»The stomach has been cleaned out by means of the pump. A quantity of dark frothy fluid with a strong alcoholic odour (sake) was evacuated.«) Croton-Öl auf die Zunge (als stark reizende, anregende Medizin) und Pflasteranwendungen auf die Magengegend und auf Fußsohlen und Waden werden versucht, jedoch ohne Erfolg. 13 Stunden nach dem Unfall stirbt der Mann. (»6 a.m. evidently sinking rapidly. 7 a.m. DD.«) Die Obduktion dreieinhalb Stunden nach dem Tod ergibt eine massive linksseitige Hirnblutung mit Abdrängung der linken Hemisphäre (Hirnhälfte) über die Mittellinie hinaus. Mit dieser starken Raumforderung durch die intra­ cranielle Blutung erklärt sich der rasche und fatale Verlauf. Dieser Unfall ist auch im Statistical Report der Royal Navy mit dem kurzen Satz wiedergegeben: »Ein Mann stürzte durch eine Ladeluke und zog sich eine tödliche Schädel­ fraktur zu.«45 (»A man fell down a hatchway, and sustained a fatal fracture of the skull.«) 9. Fall: Case 1 der Coromandel (1864) – »Climatic dyspepsia and cachexy«46 In dieser Beschreibung wird ein ursächlicher Zusammenhang mit einer alten Kopfverletzung und mit einem möglicherweise aufgetretenen »chronischen subduralen Haematom« (einer sehr langsamen Einblutung unter den Schädelknochen meist ohne akute Lebensgefahr) mit allmählicher Wesensänderung des Erkrankten angedeutet. Es handelt sich um einen 34-jährigen Rating Quartermaster, der schon fünf Jahre auf der chinesischen Station gedient hat. In dieser Zeit, an Bord der Im­ perieuse, erlitt er eine Kopfverletzung durch einen herunterfallenden »Block«, jenen typischen Unfall, der diesen zum Teil sehr großen und schweren Holzteilen der Takelage ihren Namen »Witwenmacher« gab. Es heißt hier, der Matrose habe seinen Intellekt verändert und sei extrem empfindlich für Sonne und für Alkohol geworden. Der geringste Genuss von Alkohol habe ihn in »verrückte Raserei« versetzt. (»While on board the Imperieuse he received a blow on the head from a falling block and this appears to have in some degree unsettled his intellect and to have made extremely susceptible to the sun and to drink a small quantity of nh latter throws him into a state of idiotic fury.«) Jetzt klagt der Patient über Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit, Schmerzen hinter dem Brustbein und im Magenbereich und in der rechten Schulter. Nach vorübergehender Besserung erbettelt er etwas Grog und wird sogleich sehr erregt (»Managed, to get some grog and became in consequence very excited and much worse in 45 House of Commons 1866 (458) Navy (health): Stat. Rep. für 1863, S. 242. 46 Dickins, F. V., HM Sloop Coromandel 1.1.–30.9.1864, TNA, ADM 101/178, lfd. Fallnr. 1.

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regard of his complaint.«), bekommt rasende Kopfschmerzen und gerät in sehr schlechte Verfassung. Er wird »dünner, spitzer, ängstlicher« (»thinner, ­sharper, more anxious«) beschrieben, während sich seine Verfassung zusehends verschlechtert. (»He became gradually worse but not without periods of apparent return to health«) Er bekommt an Essen, was er sich wünscht, auch ausdrücklich aus der Offiziersmesse, doch nichts hilft. Der Arzt stellt ihn nur noch für ganz ge­legentliche Dienste frei. Nach viermonatiger erfolgloser Therapie und ohne klare Diagnose wird er invalidisiert und mit der Hesper nach Hongkong gebracht, um dort auf seine Rückreise nach England zu warten. 10. Fall: Case 20 der Princess Charlotte (1868) – »Congestion of the Brain«47 Der 29-jährige Leutnant des Kanonenbootes Bouncer, Rodney Mac L., klagt am 6. April 1863 über Kopfschmerz und Übelkeit, nachdem er sich den Hinterkopf angestoßen hat. Zunächst behandelt ihn der vertretende Kollege Dr. McCarthy von der Algerine, weil der Schiffsarzt der Princess Charlotte, zu der das Kanonenboot gehört, seinerseits zur Erholung von Malaria auf dem japanischen Festland weilt. Beschrieben ist das Bild einer unkomplizierten Gehirnerschütterung (Commotio cerebri). Schon am Folgetag ist der Mann wieder dienstfähig. Zwei Wochen später meldet sich der Offizier erneut krank, wieder mit starkem Kopfschmerz. Jetzt stellt der Arzt enggestellte, aber seitengleiche Pupillen und eine Pulsverlangsamung auf 45 Schläge pro Minute fest. Weitere sechs Tage später erleidet der Patient einen acht Minuten dauernden tonischklonischen epileptischen Krampfanfall, von dem er sich rasch erholt und dem kein zweiter folgt. Er erhält in den nächsten Wochen verschiedene interne Medikamente wie Terebinth, Kalomel, Chinin, Eisensulphat, ferner kalte D ­ uschen auf den Kopf. Weil ihm die Medizin auf den Magen schlägt, wird deren ­Dosis halbiert. Für eine Weile wird der Patient auch an Land beurlaubt, um dort einen Freund zu besuchen. Als er zurückkommt, sind die Kopfschmerzen verschwunden und er hat eine »viel gesündere Gesichtsfarbe«. Er sagt auch von sich selbst, er sei wieder ganz in Ordnung. Die Therapie des vorher behandelnden Kollegen, soll dennoch fortgesetzt werden. (»I recommended him to continue Dr. Mc. Carthy’s treatment with the Plummers pill and could douche and also gave him the following mixture: Rp: Ferri: Sulph 1 scruple … Quina: Sulph 12 gr … Syrupi: ½ ounce … A sixth part twice daily before lunch and dinner.«) Nach fast zwei Monaten, inzwischen ist der zuständige Schiffsarzt von seiner Kur zurück an Bord, kann der Leutnant seinen Dienst wieder aufnehmen, soll allerdings nicht mehr auf eines der kleinen Kanonenboote, da der Dienst auf ihnen als zu anstrengend erachtet wird.

47 Nelson, Robert, HM Frigate Princess Charlotte 1.1.–31.12.1868, TNA, ADM 101/181, lfd. Fallnr. 20.

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Man muss bei diesem Verlauf wohl doch davon ausgehen, dass sich der Mann bei seinem Schlag gegen den Kopf eine Blutung im Kopf (Subduralhaematom) zugezogen hat, welche anfänglich den Kopfschmerz und als verzögertes Ereignis den epileptischen Anfall bewirkt hat. 11. Fall: Case 29 der Rinaldo (1870) – »Fracture of base of Skull«48 Der 19-jährige Leichtmatrose James C. fällt während des nachmittäglichen Sail Drill von der Vormarssahling in den Vortop (der Standfläche hoch oben am vorderen Mast), wo sein weiterer Sturz zwar von einem dort stehenden Mann aufgehalten wird, sein Kopf aber gegen eine scharfe Kante schlägt. Bei der Untersuchung klagt er über stärksten Kopfschmerz, ist dabei aber zum Erstaunen des Arztes bei klarem Bewusstsein. Dieser fürchtet das Schlimmste für seinen Patienten, denn er blutet heftig sowohl aus dem rechten als auch aus dem linken Ohr. (»On being brought into the Sick Bay, he was perfectly conscious, complaining very much of pain in his head, the pupils were sensible to light, contracting readily. He was bleeding profusely from the right ear being then lying on his right side, but on turning him over to ascertain the extent of injury, the blood welled profusely from the left ear. … The only favorable point in the prognosis of this case was the complete absence of Coma. His mind was perfectly clear after the accident and remained so when I visited him at the Sick-Quarters at 9 p.m. of the same day. He was very restless, tossing his head about on the pillow.«) Er wird noch am Unfalltag, dem 26. Oktober 1870, in das Hospital von Yokohama gebracht, dort aber weiter »sehr häufig« vom Schiffsarzt, der Rinaldo, John Buckley, besucht. Am 7. November tritt eine Schielfehlstellung (Strabismus divergens) des rechten Auges auf. Der weitere Verlauf ist ansonsten unerwartet günstig. Weitere schwerwiegende Komplikationen treten nicht auf, allerdings müssen sich Folgeschäden eingestellt haben. Denn in der Liste der Invalidisierungen am Ende dieses Medical Journal findet sich unter dem Datum des 25. Januar 1871 dieser Fall mit ausgefertigtem Pension Certificate mit der Notiz: »Fracture of base of skull, fell from aloft 26th Oct 1870 at Yokohama whilst engaged in sail drill.« 12. Fall: Case 5 der Magpie (1873) – »Fracture of the base of the skull. Death.«49 Der 20-jährige Leichtmatrose James H. stürzt am Abend des 31. Mai 1873 im Golf von Oman kurz vor sechs Uhr 25 Fuß tief auf das Deck. Während seiner Arbeit am Großmarssegel gibt sein Halt plötzlich nach. Der sofort hinzugeeilte Dr. Mulvany stellt eine starke Blutung aus dem rechten Ohr und dem rechten Nasenloch fest. Er ist sehr blass und ohne Muskeltonus. Der Arzt lagert ihn auf dem Deck mit leicht erhöhtem und zur rechten Seite geneigten Kopf, »damit das 48 Buckley, John, HM Sloop Rinaldo 10.5.–31.12.1870, TNA, ADM 101/182, lfd. Fallnr. 29.  49 Mulvany, John, HM Sloop Magpie 1.1.–31.12.1873, TNA, ADM 101/189, lfd. Fallnr. 5.

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Blut frei abfließen kann«, appliziert Wärme auf die Extremitäten, besprüht das Gesicht mit Wasser und verabreicht »stimulants«, kann aber nicht verhindern, dass der Matrose zehn Minuten nach dem Unfall stirbt. Die Obduktion elf Stunden nach dem Tod, also am nächsten Morgen um fünf Uhr, zeigt massive Blutungen in den Räumen zwischen den Hirnwindungen, aber keine Verlagerung oder sonstige Auffälligkeit des Gehirns. Das rechte Felsenbein durchzieht eine feine Bruchlinie. Damit ist für den Surgeon die Blutung aus dem rechten Ohr erklärt, nicht aber der rasche Tod. (»… but did not, in the absence of depression or extravasation explain the rapid and fatal termination of a case which therefore appears to be attributed to overwhelming degree of shock.«) Als Nachsatz ist in diesem Fall notiert, dass der Matrose am 1.  Juni vor der arabischen Küste des arabischen Golfes auf See bestattet wurde. (»He was­ burried at Sea June 1st off the ›Arab Coast Arabian gulf‹«.) Wie eingangs dargestellt, sind die Arbeitsunfälle in den Logbüchern der Schiffe nicht notiert, auch dieser tödlich endende Fall nicht. Laut Log lag die Magpie am 31. Mai 1873 morgens noch in der Bucht von Ras Hafun vor der arabischen Küste, fuhr nachmittags unter Dampf und mit Segeln ein Stück die Küste entlang, um am Abend wieder zu ankern. Die Soldaten mussten an jenem Tag Übungen an Deck durchführen, die Segelmacher reparierten Abdeckplanen des Vordecks, Kleidung wurde gewaschen und die Quartiere inspiziert. Am Vormittag wehte Wind der Stärke zwei bis fünf aus Süd-West, am Nachmittag drehte er bei gleicher Stärke auf Süd-Ost.50 13. Fall: Case 20 der Ringdove (1875) – »for Observation«51 Ein 19-jähriger Seemann wird vom Kommandanten zur Beobachtung in das Schiffslazarett befohlen, weil er über Schwindel klagte, wenn er in der Takelage beschäftigt war und deshalb in den Augen des Kapitäns nicht die seemännischen Pflichten erfüllen konnte. (»… he having stated that he felt giddy when aloft & consequently unable to perform the duties of a seaman.«) Dem Schiffsarzt Dr. Gorham ist bekannt, dass der Matrose drei Monate zuvor an Land in Amoy im Rausch mit dem Kopf auf einen Stein gestürzt war (»while drunk on shore at Amoy«) und sich eine Platzwunde zugezogen hatte. Er hatte ihn seinerzeit nach 13 Tagen der Beobachtung »perfectly cured«, völlig wiederhergestellt, in den Dienst entlassen. Jetzt wird doch an einen möglichen Zusammenhang des Schwindels mit dem Kopftrauma gedacht, denn die Papiere des Mannes sollen bei Ankunft des Schiffes in Point de Galle auf Ceylon an den Flottenarzt zur Entscheidung ein-

50 Ships’ Logs, Log of HM Ship Magpie 1872–73, TNA, ADM 53/10216. 51 Gorham, A., HM Sloop Ringdove 1. Teil: 1.1.–31.12.1875, TNA, ADM 101/192/1A, lfd. Fallnr. 20. Amoy: das heutige Xianmen, eine chinesische Hafenstadt.

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gereicht werden. Im Journal ist der Ausgang dieses Falles und die Beantwortung der Frage nicht vermerkt. 14. Fall: Case 17 der Juno (1876) – »Traumatic Encephalitis. Fracture of Skull«52 Ein 32-jähriger Supernumerary Quartermaster kommt »nicht so nüchtern wie er hätte sein sollen« (»… not as sober as he might have been«) von seinem wenige Stunden dauernden Landgang zurück, rutscht auf der Leiter zwischen Hauptund Zwischendeck aus und schlägt mit der Stirn gegen eine Kiste. Zunächst legt er sich ohne große Beschwerden in seine Hängematte, »he was not stunned in any way«, er hatte keinerlei Schock. Am nächsten Morgen, dem 4. April 1876, klagt er über Kopfschmerz, kommt in die Krankenabteilung, zeigt aber bei der Untersuchung neben einer leichten Schürfung an der Stirn keine neurologischen Auffälligkeiten. In den zwei Tagen bis zum 6.  April trübt er immer mehr ein und wird schließlich komatös. Der Arzt protokolliert Puls- und Atembeschleunigung und Temperaturerhöhung. Abführpillen und Kühlung des Kopfes mit Eiswasser sind die ersten Behandlungsmaßnahmen. Dann ist das Schiff, die Juno, auf See, und nun ist an Bord kein Eis mehr zur Kühlung des Kopfes vorhanden. Der Arzt wendet stattdessen leicht verdunstende Lösungen an. (»Head to be shaved and evaporating lotion to be constantly applied no ice being procurable as the ship is at sea.«) Der Patient soll möglichst ruhig gehalten werden. Zum Schutz vor Sonnenlicht wird über seinem Kopf ein Windsegel installiert, dann folgt ein Aderlass von zwölf Unzen Blut vom Nacken. Weitere Aderlässe werden nach einem Konsil mit Staff Surgeon Bradley verworfen. Hoch fiebernd, unter immer schnellerem Puls, gepresster Atmung, heftigsten Kopfschmerzen und zunehmender Eintrübung bis zum Koma in seinen letzten Stunden stirbt der Mann am 7. April morgens zehn Minuten nach sieben Uhr. Erst in der 6½ Stunden nach dem Tod durchgeführten »Necropsy« findet sich eine kleine Fraktur des Os frontale (des Stirnbeins) linksseitig mit Eröffnung und Einblutung in die Stirnhöhle. Die Furchen der Hirnoberfläche wie auch die Schädelbasis sind von einer Eiter-Blut-Masse angefüllt. Das Gehirngewebe beider Frontallappen ist »Drei-Penny-Stücke groß« bis zum Zerfallen erweicht und rot verfärbt. Als Seltenheit ist diesem Autopsiebericht eine 5 mal 5 cm große kolorierte Zeichnung der Anterior Lobes in 220-facher Mikroskopvergrößerung beigefügt.

52 Norbury, Henry, HM Frigate Juno 4.11.1875–7.7.1876, TNA, ADM 101/195, lfd. Fallnr. 17.

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15. Fall: Case 18 der Juno (1876) – »Wound Head«53 Am Weihnachtstag verursacht ein herabstürzendes Ankerkettenglied eine unkomplizierte Gehirnerschütterung. Nach »half diet, rice pudding and one pint of porter«, ist der Mann am 7. Januar 1876 wieder einsatzbereit. 16. Fall: Case 25 der Juno (1877) – »Fracture of Skull«54 Besonders unglücklich stürzt der mit seinen 23 Jahren sicherlich nicht unerfahrene Able Seaman, der Vollmatrose Arthur R., als er beim Losmachen des Schothorns des Hauptsegels den Halt verliert. Aus 50 Fuß Höhe fällt er gegen die Reelingstäbe der Kommandobrücke. Er wird tief bewusstlos in das Lazarett gebracht und verstirbt dort nach drei Stunden. Er hatte heftig aus dem linken Ohr geblutet, und es war aus dem linken Stirn- und Scheitelbereich Hirnmasse ausgetreten. Da die Todesursache so evident ist und das heiße Wetter des 8. Februar 1877 in Singapur eine rasche Bestattung erfordert, verzichtet der Schiffsarzt auf eine Obduktion. Er nennt seine Beweggründe für diese Entscheidung ausdrücklich. Hinsichtlich der Alkoholproblematik und der damit verbundenen Unfallgefahr ist der Schlusssatz dieses Fallberichtes bemerkenswert, der ausdrücklich betont, dass »dieser Mann zum Zeitpunkt des Unfalles nüchtern war«. (»This man was sober at the time of the accident.«) Arthur J. R. Aet 23. A. B. On the 8th February at Singapore (at 4 P. M.) the above mentioned able seamen was employed aloft and was in the act of unshackling the clew of the mainsail when he accidently lost his hold and fell  a depth of about fifty feet, striking the bridge rail (a strong brass rod) in his descent and landing upon the bridge. He was taken up in a state of complete insensibility with dilated pupils and stertorous breathing and died at 7 P. M. on the same day. He sustained a compound fracture of left parietal and frontal bones, there was much bleeding from the left ear from which a quantity of cerebral matter also passed. From the mobility and displacement of the fragments of the bones the cause of death was very evident and the heat of the weather and necessity of an early interment precluded any post-mortem examination being held. This man was sober at the time of the accident.

17. Fall: Case 6 der Daphne (1878) – »Killed by fall from aloft«55 Beim Einholen des Bramsegels des Großmastes fällt der 21-jährige Vollmatrose Charles B. 53 Fuß tief auf das Oberdeck. Er überlebt den Sturz nur um fünf Minuten, während denen er bewusstlos bleibt. Staff Surgeon Campbell beschreibt 53 Nelson, Robert, HM Ship Juno 1.10.1876–31.12.1877, TNA, ADM 101/197, lfd. Fallnr. 18. 54 Ebd., lfd. Fallnr. 25. 55 Campbell, G. A., HM Sloop Daphne 1.1.–31.12.1878, TNA, ADM 101/199, lfd. Fallnr.  6.

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Durchgangssyndrome bei Schädel-Hirn-Traumata

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einen an der Stirn zweieinhalb Zentimeter breit eingedrückten Knochen, der Skalp ist vom Schädelknochen abgeschoren. Frakturiert sind auch der rechte Kiefer und beide Handgelenke. Der Unfall ereignete sich im Golf von Bengalen auf neun Grad nördlicher Breite und 84 Grad östlicher Länge. Die genaue Angabe der geographischen Lage in dem Verlaufsbericht weist darauf hin, dass der Matrose dort, auf See, bestattet wurde. Ein im Medical Journal der Daphne eingeklebter Zettel macht mit der Aufschrift in blauer Tinte »death from fracture« zusätzlich auf den rasch zum Tode führenden Unfall aufmerksam. 18. Fall: Case 20 der Ruby (1880) – »Concussion of Brain«56 Der 17-jährige Schiffsjunge Edward P. fällt durch ein Missverständnis in der Zusammenarbeit mit einem anderen Matrosen, der sich gerade noch halten kann, von der Jakobsleiter an der Großbramstenge 107 Fuß tief. Zu seinem Glück wird sein Fall erst durch ein Tau, dann durch ein gebauschtes Segel gebremst, bis er in den im typischen Netz verstauten Hängematten landet, sodass der Arzt keine Frakturen und nur zwei kleine Schnittwunden am Hinterhaupt und am Oberschenkel findet. Allerdings ist er auffällig einsilbig und deutet nur schwer verständlich Schmerzen im Oberbauch an. Während der nächsten zwei Wochen fallen allgemeine Müdigkeit und Muskelschwäche auf. (»… he suffers from general weakness, particularly of the legs when attempting to stand.«) Ausdrücklich wird ein unauffälliger neurologischer Befund »im Speziellen wie Allgemeinen« vermerkt. (»There is no nervous lesion apparent either of special or general sense.«) Die Einsilbigkeit, die inzwischen als »träge Wahrnehmung« aufgefasst wird, geht vom Unfalltag am 6. November 1880 bis zum 21. November nach und nach zurück (»… and the dullness of apprehension is passing off«) und die Behandlung beschränkt sich auf »so viel physische und psychische Ruhe, wie es an Bord möglich ist, um nachfolgende nervliche Schädigungen zu vermeiden«. (»… to maintain as much physical and mental rest as is practicable on board … to avoid as far as possible the chance of subsequent nervous lesions becoming established.«) Mit derselben Absicht wird der junge Mann am 22. Dezember an Land geschickt, damit er sich bei »vollständiger Ruhe für mehrere Wochen oder Monate« erholen kann. Der von Surgeon Stone angestellte Vergleich der Schocksituation mit der bei Eisenbahnunglücken ist als 13. Fall »Anpassungsstörungen« besprochen. 19. Fall: Case 56 der Juno (1877) – »Fracture of Humerus«57 Als Beispiel eines sehr glimpflich verlaufenen Sturzes »from aloft« ohne Schädelverletzung und Psychosyndrom sei aus dem Journal der Juno aus dem Jahre 56 Stone, John N., HM Sloop Ruby 2.7.–31.12.1880, TNA, ADM 101/200, lfd. Fallnr. 20. 57 Nelson, Robert, HM Ship Juno 1.10.1876–31.12.1877, TNA, ADM 101/197, lfd. Fallnr. 56.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

1877 zitiert. Der Matrose von 19 Jahren bricht sich bei seinem glücklicherweise abgebremsten Fall über eine große Distanz vom Eselshaupt bis in den Großmars zwar den linken Oberarm, bleibt aber ansonsten unverletzt. Drei Wochen kommt sein Arm in eine feste Schiene, dann nochmals drei Wochen in eine gestärkte Bandage, dann ist er wieder diensttauglich. In der Verlaufsdarstellung errechnet Staff Surgeon Nelson als gesamte Behandlungsdauer sechs Wochen, im kurzen Rückblick der General Remarks kommt er auf sieben Wochen. 20. Fall: Case 8 der Daphne (1878) – »Fracture of left Humerus Simple«58 Wie in vielen weiteren Beispielen erleidet auch ein 25-jähriger Vollmatrose bei einem 14 Fuß tiefen Sturz auf das Deck (vor Port Blair auf den Andamanen) nur eine unkomplizierte Oberarmfraktur.

5.2.2 Ein Fall einer Verletzung des Sprachzentrums durch Schussverletzung Im Abschnitt 4.7 sind einige Aspekte des militärischen Auftrages der hier untersuchten Schiffe behandelt. Im Statistical Report des Jahres 1859 sind die großen Zahlen an Verlusten und Verwundungen jenes Kriegsjahres (im sogenannten Opiumkrieg in China) vermerkt. Insgesamt gab es laut Jahresbericht 92 Tote bei dem Angriff auf das Peiho Fort. Unter diesen Toten waren annähernd ebenso viele »Blue Jackets« (Matrosen) wie »Marines« (Marinesoldaten).59 Der folgende Fallbericht über eine Schussverletzung des Kopfes soll hier wegen seiner neuropsychologischen Symptomatik wiedergegeben werden. 21. Fall: Case 16 der Chesapeake (1859) – »Gun Shot wound of Head with loss of Speech«60 Der genau beobachtete und beschriebene Krankheitsverlauf betrifft einen 20-jährigen Vollmatrosen (Able Seaman) der Chesapeake. Er war von einer Kugel aus einem Gewehr oder einem Splitter am Kopf getroffen worden. Die Untersuchung ergab bei dem Mann, der 36 Stunden lang komatös war, lediglich eine kleine Schürfung an der linken Seite des Kopfes ohne tastbare knöcherne Verletzung. Nach dem Erwachen aus dem Koma ist der Patient in ängstlicher Verfassung und wehrt jede Annäherung ab. Nach einer Woche kehrt eine gewisse geistige Klarheit zurück, aber nun zeigt sich zwar Sprachverständnis für gehörte Wörter, aber (teilweise) Unfähigkeit, gedachte Wörter auch auszusprechen, mit 58 Campbell, G. A., HM Sloop Daphne 1.1.–31.12.1878, TNA, ADM 101/199, lfd. Fallnr. 8. 59 House of Commons 1862 (199) Navy (health): Stat. Rep. für 1859, S. 133. 60 Dickson, Walter, HM Frigate Chesapeake »Part Second«, 12.7.1858–30.6.1859, TNA, ADM 101/169, lfd. Fallnr.  16. 

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Durchgangssyndrome bei Schädel-Hirn-Traumata

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hin eine motorische Aphasie. Auch nach mehrmonatiger Er­holungsphase auf dem Schiff Assistance, auf die alle Schwerverwundeten gebracht worden waren, konnte er nur »ein paar undeutliche einsilbige Laute herausbringen«. (»He was still speechless, with the exception of emitting a few indistinct monosyllables, but his mental powers, so far as could be ascertained, seemed almost, if not quite, restored; and by means of writing and signs he could communicate readily with his fellows.«) Mit Schreiben und Zeichengeben konnte er notdürftig mit seinen Kameraden kommunizieren. Am 30. Oktober 1859 verlässt er an Bord der Canaan China und die Ostasien-Station in Richtung England. Ein Zertifikat zur Pen­ sionsberechtigung begleitet ihn.

5.2.3 Auswertung Eine Verletzung wird in der Fachsprache »Trauma« (Mehrzahl »Traumata« oder »Traumen«) genannt. Mit »Psychosyndrom« ist die vielgestaltige psychische Reaktion (neben der neurologischen, gleichsam körperlichen Reaktion) des Kranken oder Verletzten auf eine Schädigung des Gehirnes gemeint, und zwar durch jegliche körperliche Funktionsstörung, die das Gehirn in Mitleidenschaft zieht, oder durch direkte Verletzung des Kopfes. Ein »Durchgangssyndrom« ist ein eher kurzes, sich wieder gut zurückbildendes Psychosyndrom. Von »Syndrom« sprechen wir dabei generell wegen der chamäleonhaften wechselnden Buntheit dieser Störungsbilder. Innerhalb des modernen Begriffes des Schädelhirntraumas (SHT) unterscheiden wir drei Schweregrade. Der erste Grad (SHT I) bedeutet eine lediglich funktionelle, aber noch keine fassbare morphologische Störung des Gehirngewebes und wird »Gehirnerschütterung« oder »Commotio cerebri« genannt. Der zweite und dritte Grad sind solche mit Gewebeschädigung und bis zu einer Stunde (SHT II) oder über eine Stunde (SHT III) dauernder Bewusstlosigkeit, auch »Contusio cerebri« genannt. Ein Psychosyndrom (ein nicht scharf definiertes psychisches Störungsbild)  mit retrograder Amnesie (wenn die Sekunden und Minuten vor dem Trauma nicht erinnert werden), seltener auch mit anterograder Amnesie (mit Erinnerungslücke nach dem Trauma), ferner mit kognitiven (das Denken betreffenden) und affektiven (die Emotionen betreffenden) Störungen bis hin zu einer voll ausgebildeten Psychose mit Realitätsverkennung kann dabei in allen Formen und Intensitäten auftreten. Mit der international verbreiteten Glasgow-Coma-Scale kann das klinische Ausmaß der Ausfälle in einer einfachen Punkteskala festgehalten werden. Von Bedeutung sind auch die Spätfolgen des SHT, die sich als posttraumatische Epilepsien und Funktions­ störungen zeigen können. Unter den 21 in den Medical Journals vorgefundenen Krankheitsfällen kann dreimal die Diagnose Commotio gestellt werden, in einem Fall allerdings kom-

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pliziert durch einmaligen »symptomatischen« Krampfanfall. Alle erholen sich gut. Günstige Verläufe von Contusio cerebri nach Stürzen finden sich dreimal, weitere zweimal auch mit Fraktur des Schädelknochens. Fünf der Stürze aus den großen Höhen der Takelage enden tödlich. Zwei dieser fatalen Stürze geschahen unter Alkoholeinfluss. In einem Fall ist eine langsam sich entwickelnde Persönlichkeitsveränderung nach Einblutung anzunehmen. Die jeweils mit bildkräftigen Worten geschilderte psychopathologische Situation erlaubt uns eine recht sichere Einordnung der »organischen Psycho­ syndrome«, den modernen ICD-Kriterien entsprechend.61 Bis auf einen 38-jährigen Musiker der Bordkapelle und zwei Quartier­meister von 32 und 34 Jahren haben wir es mit jungen Leuten von 17 bis 29 Jahren zu tun. 14 von ihnen sind Leicht- oder Vollmatrosen, die beiden Jüngsten (17 bzw. 18 Jahre) sind Boys, also Schiffsjungen. Ein Steward und ein Offizier sind ebenfalls darunter. Nur drei der Verunfallten können zum Dienst zurückkehren, ebenfalls drei werden invalidisiert und nach England zurückgeschickt. Von zweien, die in das Hospital eingewiesen werden, und von dem Matrosen, der an Land auf seinen Kopf gestürzt ist, wissen wir den Ausgang nicht. Neun der 18 Unfallopfer versterben unterschiedlich rasch nach dem Geschehen. Schiffe waren und sind gefahrvolle Arbeitsplätze. Die Dringlichkeit von Verletzungen des Kopfes sticht unter den Unfällen auf Schiffen besonders hervor. Bei jeder Verletzung des Gehirnes kann es zur Blutung und zur Gewebeschwellung kommen und dadurch jederzeit ein psychisches Störungsbild entstehen, das praktisch alle psychopathologischen Formen und Färbungen annehmen kann. Es sind dies einerseits die quantitativen Bewusstseinsstörungen von leichter Benommenheit über Schläfrigkeit bis zum Koma, andererseits die qualitativen Bewusstseinsstörungen mit Symptomen von diffuser ängstlicher Unruhe über depressive Stimmungsstörungen bis zum Vollbild einer Psychose. Dabei gilt der Grundsatz, der jede Diagnose erschwert, dass nämlich die Art der Symptome keinen zuverlässigen Rückschluss auf die zugrundeliegenden organischen Ursachen zulässt. Wo in der modernen Medizin eine Wahlmöglichkeit besteht und eine stets schwierige Entscheidung zwischen einer abwartenden Haltung und einem neurochirurgischen Eingriff getroffen werden muss, stand über eine sehr lange Zeit praktisch nur die erstere Möglichkeit zur Verfügung. Die oft zitierte und in allen medialen Formen dargestellte, oft heroisch überhöhte Ausnahme war die Druckentlastung des Gehirnes durch die sogenannte Entlastungs-Tre-

61 Dilling, Freyberger: Taschenführer; Dilling, Horst: Lexikon zur ICD-10 Klassifikation psychischer Störungen, Bern 2009. Dilling, H.; Mombour, W.; Schmidt, M.: Internationale Klassifikation psychischer Störungen, Bern 2010.

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Überhitzung in der Maschine und durch die Sonne

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panation.62 Sie besteht darin, eine künstliche, relativ großflächige Öffnung der Schädeldecke zu schaffen, um dem Hirngewebe Platz zu geben und dadurch seine Einklemmung in die Durchtrittsöffnung des Gehirns an der Schädelbasis zu verhindern. Denn bei Druck auf diese tiefen Stammhirnbereiche besteht Lebensgefahr. Die Trepanation soll dies verhindern. In allen im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Medical Journals fand sich nur in einem Fall (dem 4. dieses Abschnittes) eine beabsichtigte Schädel­ trepanation. Der Arzt hatte den Schädelknochen freigelegt, dann aber von einer An­wendung der Knochensäge abgesehen, weil er keine Fraktur erkennen konnte.63

5.3 »Heat Stroke«, »Sun Stroke« – Überhitzung in der Maschine und durch die Sonne 17 Fälle von Überhitzung sind in den Medical Journals beschrieben. 13 davon sind Hitzschläge durch Sonneneinstrahlung, Sun Stroke, auch Insolatio oder mit der französischen Vokabel Coup de Soleil (»Schlag von der Sonne«) genannt, vier sind durch Überwärmung vor den Kesseln im Maschinenraum entstanden und als Heat Stroke bezeichnet. Als ein weiterer Fall ist auch das 16. Fallbeispiel des Abschnittes »Debility« zu betrachten. Der besonders lang hingezogene Verlauf veranlasst den Schiffsarzt, die »Schwäche«-Diagnose zu stellen, obschon der Beginn der akuten Erkrankung die kombinierte Wirkung der Sommerhitze und der Kohlefeuer ist.

62 Zur Geschichte der nach überwiegender Meinung zu magischen Zwecken durchgeführten Schädeltrepanationen, am ausgeprägtesten in der präkolumbianischen peruanischen Kultur, mit der Idee, Teufelsgeister aus dem Kopf zu befreien, aber auch Geistern Einlass in den Körper zu ermöglichen (und die mit nur zehn Prozent Letalität behaftet waren), siehe: Mora, George: Historical and Theoretical Trends in Psychiatry, in: Freedman, A. Kaplan H. (Hg.): Comprehensive Textbook of Psychiatry, Baltimore 1978, S. 4–98, S. 13. Zur Durchführung der Trepanation im Rahmen der Schiffschirurgie siehe: Schadewaldt: Schiffschirurgie, S.  1737. In einen größeren medizingeschichtlichen Zusammenhang stellt die Thematik: Wolf, Jörn Henning: Erkrankungen des zentralen Nervensystems: Gegenständliche Zeugnisse aus der Geschichte der Heilkunde, Kiel 1996. 63 Einerseits deutet die Auflistung zweier Trephines auf der Liste der von den Surgeons an Bord mitzubringenden Instrumenten klar auf die Absicht hin, diesen unter Umständen lebensrettenden Eingriff auf den Schiffen durchzuführen. Andererseits nimmt Schadewaldt als Hauptindikation hierfür die Entfernung von Knochenfragmenten nach Schädel­f rakturen durch Hiebwaffen an. (Schadewaldt, ebd.) Und auch die »Medicina nautica« von Thomas Trotter, eines der ersten Lehrbücher der Schiffsmedizin, enthält zwei Fallberichte von Trepanationen nach Schädelfrakturen. (Trotter, Thomas: Medicina nautica, Erfurt 1798) Trephine (engl.), Trépan (frz.) und Trepan (dt.) sind Synonyme für den zylin­drischen Kreisbohrer.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

Die Regulierung der Körperwärme ist eine Leistung des Gehirns, und ihre Entgleisung wirkt sich auf das Gehirn aus. Deshalb ist die Hyperthermie immer auch ein neuropsychiatrisches Geschehen.

5.3.1 Fallberichte 1. Fall: Case (ohne Nummerierung) der Pylades (1858) – »Coup de Soleil«64 Die Fregatte Pylades lag lange zum Kohlebunkern in Singapur und ist jetzt im malaiischen Archipel unterwegs. Dr. Caddy macht genaue Temperatur­angaben für den 19. Mai. Das Schiff läuft mit Kurs Süd-Süd-Ost 200 Meilen vor der Mündung des Flusses Menam.65 Es herrschen 87 Grad Fahrenheit, 30,6 Grad Celsius entsprechend, an Deck im Schatten eines ausgespannten Sonnensegels, und in der Kabine des Arztes ist die Hitze nur ein Grad Fahrenheit geringer. Im Schlafdeck der Schiffsmannschaft waren es am Vortag bei geöffneten Bullaugen 90 Grad Fahrenheit (32,2 Grad Celsius) und in den Räumen der Schiffs-Dampfmaschine gar 120 Grad Fahrenheit (48,8 Grad Celsius)! Unter diesen Bedingungen kommt es zu einem Kollaps des Rudergängers. Nach der Morgenvisite wird der Matrose in das Schiffslazarett gebracht. Blässe, flacher Puls und kalter Schweiß fallen auf. Vorerkrankungen, die zu dem Schockzustand hätten führen können, kann Dr. Caddy nicht feststellen, sodass allein die genannten klimatischen Bedingungen verantwortlich zu machen sind. Der Patient wird in seine Hängematte gelegt und erhält ein »stimulierendes Mittel«, ein Abführmittel und etwas Suppe. Der Arzt hält »Kopfschmerz im Stirnbereich« fest, was mit dem Hitzschlag in Einklang zu bringen ist, und schließt eine Durchfallerkrankung, die ebenfalls einen Kollaps verursachen könnte, aus. 2. Fall: Case (ohne Nummerierung) der Pylades (1858) – »Coup de Soleil«66 Von der Pylades wird ein weiterer Coup de Soleil durch »eine ungenügende Kopfbedeckung« berichtet. (»The Wardroom Steward had slight Coup de Soleil from wearing an imperfect head covering.«)

64 Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 1. Teil, 25.2.–31.12.1858, TNA, ADM 101/167, ohne Fallnr. 65 »Menam« oder »Menam Khong«, konventionell »Mekong«, mit seiner gigantischen Flussmündung an der vietnamesischen Küste. 66 Ebd., ohne Fallnr.

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3. Fall: Case 63 der Euryalus (1862) – »Heatstroke«67 Von der Euryalus sind drei Fälle von Hitzschlag berichtet. Das Schiff lief in Plymouth am 31. März 1862 aus und erreichte »nach langer und öder Fahrt, deren Eintönigkeit nur durch einige wenige Tage an der Küste Madeiras unterbrochen war«, am 12. Juni Simon’s Bay am Kap der Guten Hoffnung. Am 24. Juni ging es von dort weiter, bis am 12. August Hongkong erreicht wurde. Der erste der Fälle betrifft einen 26-jährigen Heizer am 1.  Mai 1862. Das Schiff befindet sich auf 2 Grad 46 Minuten nördlicher Breite und 23 Grad 29 Minuten westlicher Länge. Er wird bewusstlos um acht Uhr morgens aus dem Maschinenraum, wo zu diesem Zeitpunkt 130 Grad Fahrenheit, 54,4 Grad Celsius entsprechend, herrschen, zum Schiffsarzt gebracht. Seine Haut ist heiß und trocken, sein Gesicht fahl. Die Hals- und Schläfen-Arterien pulsieren heftig, der Puls ist flach und sehr rasch. (»William S., ætat 26 Stoker. Strong powerfully built man brought up from the stoke-hole in an insensible state May 1st about 8 a m. Face pallid; general surface hot and dry; throbbing of carotid and temporal arteries;…«) Die Pupillen sind stark verengt, die Konjunktiven gerötet. Der Patient ist motorisch sehr unruhig. Etwas später findet Surgeon Morgan die Symptomatik noch typischer für einen Hitzschlag: Der Patient übergibt sich, die Extremitäten sind völlig verkrampft, Augenlider und Oberlippe zittern unwillkürlich. (»… the symptoms usually seen in sunstroke were now evident: vomiting: twitchings or spasmodic action of the upper eye lid: upper lip; and forearms the hands being seriously clenched.«) Er wird mit kaltem Wasser übergossen und bekommt reinen Brandy, Terpentin-Injektion und Kalomel auf die Zunge. Am nächsten Morgen kommt der Patient langsam zu sich und kann jetzt auch ohne Schwierigkeiten den verabreichten Tee und Zitronensaft schlucken. Zwölf weitere Tage bekommt er ein mit Soda angemachtes sprudelndes Getränk, Kalomel und Brandy. Nach gut drei Wochen ist immer noch unzureichende Wiederherstellung mit Schwindelgefühl und Kopfschmerz protokolliert, weswegen der Mann während der Fahrtunterbrechung in Simon’s Bay am Kap der Guten Hoffnung wegen »partieller Lähmung« dienstunfähig geschrieben wird. 4. Fall: Case (ohne Numerierung) der Euryalus (1862) – »Heatstroke«68 Ein weiterer Heizer kann schon nach drei Tagen seinen Dienst aufnehmen. 5. Fall: Case (ohne Numerierung) der Euryalus (1862) – »Sunstroke«69 Das dritte Hitzschlag-Opfer der Euryalus auf ihrer Fahrt von England nach Ostasien erleidet einen Tag nach Ankunft in Hongkong am 13. August einen 67 Morgan, David Lloyd, HM Frigate Euryalus 23.1.–31.12.1862, TNA, ADM 101/174, lfd. Fallnr. 63. 68 Ebd., ohne Fallnr. 69 Ebd., ohne Fallnr.

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Sonnenstich. Das Thermometer zeigt über 90° Fahrenheit, als der Matrose in der Werft, in der das Schiff zur Überholung liegt, in der Sonne arbeitet. Gegen elf Uhr vormittags stürzt er bewusstlos zu Boden, »als ob ihn ein Blitz getroffen habe«. (»The man named Sylvanus A. ætat 21 OS was working in the Dockyard exposed to the sun about 11 a m when he suddenly fell down, insensible, as if struck by lightening.«) An Bord des Schiffes gebracht, setzt der Schiffsarzt sofort den stimulant plan of treatment, also »die übliche stimulierende Behandlung«, in Gang, bis das Bewusstsein zurückkehrt. Der »Schock auf das nervöse System« sei bei diesem Mann aber so groß gewesen («… the shock to the nervous system was so great in this case …«), dass er erst nach 18 Tagen Therapie in seinen Dienst zurück­ kehren konnte, schreibt Surgeon David Lloyd Morgan. 6. Fall: Case 35 der Rinaldo (1870) – »Heat Apoplexy«70 Ein 35-jähriger Heizer der Rinaldo wird am 26. Mai 1870 aus dem Kohlebunker in das Lazarett gebracht. Er war zum Zeitpunkt seines Hitzschlages mit Kohlentrimmen beschäftigt, also wohl dem Umschaufeln von Kohle zur Erhaltung der Stabilität des Schiffes. Noch eine dreiviertel Stunde im Lazarett ist er ohne Bewusstsein, bis er unter heftigem Schweißausbruch plötzlich erwacht. Er erhält anregende Medizin auf die Zunge, den stark reizenden Ammoniak unter die Nase und kalte Wasserduschen auf den Kopf. Über fünf Tage erstreckt sich die Fallbeschreibung. Das Besondere an dieser Fallbeschreibung sind die pathophysiologischen Überlegungen zum Hitzschlag und auch eine psychologische Bemerkung.­ Surgeon Buckley nimmt Zirkulationsprobleme in den Gehirngefäßen an, mit denen er die Symptomatik zu erklären versucht. Er geht davon aus, dass das Einatmen der trockenen, heißen Luft im Maschinenraum das Blutserum eindicke (»causes a condensation«). Dadurch fließe es langsamer durch die Gehirngefäße, wobei es gleichzeitig »durch Überreizung« (»overenertion«) verstärkt zum Gehirn dränge. Es komme zu einer »Blutvergiftung« (»blood-poisoning«), zwar nur vorübergehend, aber doch ausreichend, um eine Lähmung der zentralen Nervenkraft zu verursachen (»sufficient to cause a paralysis of the centre of nervous power«). Die Dauer bis zur Erholung eines Patienten zeige den Grad der Blutverdickung an. Im vorliegenden Fall schätzt er die Temperatur vor den Kesseln auf 140 Grad Fahrenheit, entsprechend 60 Grad Celsius. Aus diesen Überlegungen zieht er den Schluss, es sei entscheidend für die Therapie, den Kranken in eine feuchte, kühle, frei zirkulierende Luft zu bringen und ihn mit kaltem Wasser zu übergießen. So könne das Blut wieder Feuchtigkeit aus der umgebenden Luft absorbieren.

70 Buckley, John, HM Sloop Rinaldo 10.5.–31.12.1870, TNA, ADM 101/182, lfd. Fallnr. 35.

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Die psychologische Bemerkung entspringt der Beobachtung des Surgeon, dass der Patient entgegen der üblichen Art stark auf seine Rückkehr zur Arbeit gedrängt habe und vermutet, dass der Heizer seine ärztlich verordnete Verwendungseinschränkung und dadurch Verdienstverlust befürchtet habe. (»In this case quite contrary to my usual experience, there was manifested a strong inclination to return to Duty. I think he was afraid that I would recommend his removal from the heated atmosphere of the Stoke Hole, which would entail on him a pecuniary loss.«) Er lässt ihn wieder in die Maschine, allerdings mit der dringenden Empfehlung, sie bei aufkommendem Schwindel oder Verwirrtheit sofort zu verlassen. 7. Fall: Case 20 der Nimble (1871) – »Sunstroke«71 Zwei Fälle von echtem Sonnenstich an Bord der Nimble hält Assistant Surgeon George B. Murray für wichtig genug, um sie einschließlich der durch­geführten Behandlung ausführlich zu beschreiben. In beiden Fällen wurde sinnvollerweise vor allem kaltes Wasser angewandt. Eine dritte Überhitzung an Bord dieses Schiffes ist als 16. Fall »Debility« dargestellt. Ein 17-jähriger Schiffsjunge ist bei Reinigungsarbeiten außenbords größter Hitze und direkter Sonneneinwirkung ausgesetzt, während die Nimble am 26. Februar 1871 vor Aden an der arabischen Küste liegt. Vormittags hatte er gegenüber seinen Kameraden über Schwindel und Kopfschmerz geklagt, aber noch gedacht, es gehe von alleine vorbei. Nachmittags drei Uhr dann bricht er seine Arbeit ab und kommt auf das Schiffsdeck, zunächst schwankend und stolpernd, dann in einen halb bewusstlosen Zustand fallend. Surgeon Murray schreibt von unwillkürlichem Abgang von »nervösem Urin« und unterstreicht das Wort »nervös«. (»Passed involuntary a large quantity of nervous urine.«) Die Therapie besteht im Übergießen (wohl des ganzen Körpers) mit kaltem Wasser »in halb liegender Position« für die Dauer von 20 Minuten, bis das Bewusstsein zurückkehrt, sodann Verabreichung des stark reizenden Croton-Öls »auf die Zungenbasis« und Lagerung auf einem Feldbett an Deck. Dann erhält der Patient Wasser und »eine kleine Menge Claretwein« zu trinken. Trotz kühler Hauttemperatur bei schwachem Puls zeigt das Thermometer schwankende Körpertemperatur von 100 bis 104 Grad Fahrenheit (37,8 bis 40,0 Grad Celsius) an, auch noch am nächsten und übernächsten Tag. In insgesamt dreiwöchigem Verlauf werden zuletzt noch die psychopathologischen Symptome allgemeiner Schwäche und »ein dumpfer Gesichtsausdruck« beschrieben. Nach zwei Wochen kann der Matrose »leichte Arbeiten ohne Sonnenexposition«, nach drei Wochen aber alle gewöhnlichen Dienste auf dem Schiff leisten. (»He made  a complete recovery and is now doing the ordinary duties of the ship.«) 71 Murray, George B., HM Sloop Nimble 1.  Teil, 31.10.1870–31.12.1871, TNA, ADM 101/184/1A, lfd. Fallnr. 20.

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8. Fall: Case 28 der Nimble (1871) – »Sunstroke«72 Leichter verläuft die Hyperthermie bei einem Matrosen von 18 Jahren, der »Bootsarbeit, der Sonne ausgesetzt« verrichtet hat. 9. Fall: Case 2 der Nimble (1872) – »Vertigo«73 Ein 19-jähriger »Signalgast der 2. Klasse« (Signalman 2nd Class), also ein Matrose, der für die Ausführung von Flaggensignalen eingeteilt ist, ist in der Takelage beschäftigt, als ihm in der »übermäßig heißen Sonne« des Persischen Golfes vor Bahrain plötzlich schlecht wird, er Schwindel verspürt und sich nur mit großer Not an der Nock (dem äußersten Ende) einer Rah festhalten kann. Es werden in knapper Form die typischen Symptome einer Überhitzung beschrieben. Und wir finden hier erwähnt, dass die Messung der Körpertemperatur im Mund vorgenommen wird. Das Ergebnis zeigt mit 100 Grad Fahrenheit die normale Körpertemperatur (von der dieser Normpunkt »100« abgeleitet ist, während »0« wie bei der Celsius-Skala der Gefrierpunkt von Wasser ist). Die Therapie wird wie in mehreren Fallberichten beschrieben durchgeführt: Der Kranke wird in eine Wanne gelegt und ein kalter Wasserstrahl auf seinen Kopf und seine Schultern geleitet. Alle vier Stunden wird Chinin verabreicht, ferner »Milch-Diät« gegeben. Nach Temperaturminderung um ein Grad Fahrenheit fühlt sich der Patient sehr viel besser. Dienstfähig ist er wieder nach nur zwei Tagen. E. Arthur æt 19 Signalman 2 Class admitted to the Sick list May 15th at Bahrain P. Gulf. History Stated that when working aloft he suddenly felt faint and with difficulty could hold on to the yard, sun was excessively hot at the time. Symptoms hot burning skin, full pulse, not compressible eyes staring and injected great desire to micturate, urine pale. Temp in Mouth 100°. Treatment was placed in a tub and a stream of cold water poured over his head and shoulders, this lowered the temperature to 99° and he felt much better, Hydrarch Subchlorid 5 gr was also given and followed by Quinine 5 gr any four hours. May 16th Feels much better, skin perspiring freely, Temp 99°, Continued Quinine, Milk Diet. 17th Discharged to duty.

10. Fall: Case 3 der Nimble (1872) – »Vertigo«74 Ein weiterer Signalgast, 22-jährig, ist in der Hitze des selben Tages ebenfalls in der Takelage der Nimble beschäftigt, als er plötzlich heftigen Schwindel fühlt, und Hilfe braucht, um von den Masten herunter klettern zu können. Mor 72 Ebd, lfd. Fallnr. 28. 73 Murray, George B., HM Sloop Nimble 2. Teil, 1.1.–31.12.1872, TNA, ADM 101/184/1B, lfd. Fallnr. 2. 74 Ebd, lfd. Fallnr. 3.

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gens hatte er sich noch wohl gefühlt. Wir sehen hier ähnliche Symptomatik wie im vorausgehenden Fall vor uns, jedoch zusätzlich mit Herzrhythmusstörung, schwankendem Gang sowie unwillkürlichen Muskelzuckungen der linken Gesichtshälfte. (»… rapid and tumultuous action of the heart and staggering gait, slight twitchings of the muscles on left side of face.«) Es folgt Anwendung der gleichen Therapie wie im vorigen Fall, jetzt erweitert um Tinctura Digitalis, ein wirksames Herzmedikament. Der Seemann ist nach drei Tagen wieder im Dienst. Diese beiden Fälle von bedrohlicher Überwärmung stehen für viele weitere, die sich im Zusammenhang mit der Psychoseerkrankung des Kommandeurs der Nimble in den Tagen des Mai 1872 ereigneten. Der unter paranoiden Denkinhalten leidende oberste Mann an Bord hatte die Leute mit seinen realitätsfernen Befehlen unter anderem dadurch gefährdet, dass er sie in sengender Sonne exerzieren ließ. Der äußerst prekäre Verlauf seiner Krankheit ist im Abschnitt »Mania« als 7. Fall dargestellt. Zu diesen Zusammenhängen und zu der diagnostischen und therapeutischen Einschätzung der Hyperthermie schreibt Assistant Surgeon Murray, er bedauere sagen zu müssen, dass die vielen, nämlich achtzehn Fälle von Hitzschlag an Bord seines Schiffes auf die Befehle des Kommandeurs zurückzuführen seien, dessen Krankengeschichte er im Journal protokolliert habe. Er habe das Schiff zum Auslaufen fertigmachen lassen, ohne dass sich die Männer ausreichend vor der Sonne schützen konnten. 15 von den 18 Fällen habe er nur in der Diagnosentabelle als »Schwindel« (Vertigo) dokumentiert, da sie für eigentliche Hitzschlagfälle zu leicht gewesen seien. Seine psycho­dynamischen Überlegungen zu Angstreaktionen dieser von der Hitzeeinwirkung Betroffenen sind als 17. Fall »Anpassungsstörungen« dargestellt. 11. Fall: Case (ohne Nummerierung) der Rinaldo (1872) – »Vertigo«75 Als Spätfolgen von mehreren Hitzschlägen »in früheren Jahren« sind neben Kopfschmerzen »verwirrte Gedanken« (»confusion of thought«) vermerkt. Der Schiffsarzt zieht die Schlussfolgerung, dass Schwerhörigkeit und Kopfschmerz Vorboten von ernsten organischen Hirnerkrankungen seien. (»It may be that the deafness and headache are but the precursors of serious organic disease of the brain.«) 12. Fall: Case 22 der Magpie (1873) – »Insolatio«76 Der als Insolatio bezeichnete Hitzschlag des 25-jährigen Private Marine John J. kam zustande, indem er an Bord der Magpie vor Ceylon auf dem Oberdeck liegend in praller Nachmittagssonne einschlief!

75 Buckley, John, HM Sloop Rinaldo 1.1.–31.12.1872, TNA, ADM 101/188, ohne Fallnr. 76 Mulvany, John, HM Sloop Magpie 1.1.–31.12.1873, TNA, ADM 101/189, lfd. Fallnr. 22.

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Bei der Untersuchung am nächsten Morgen fällt eine leichte Form von Meningismus (Hirnhautreizung) auf: Der Schmerz wird beim Bücken besonders schlimm. Nur äußerst langsam kann sich der Patient aufrichten. Der Betroffene fasst dabei seinen Unterkiefer mit beiden Händen und hebt seinen Kopf »in der vorsichtigsten und eigenartigsten Art und Weise« an. (»… in order to raise his head again with as little movement as possible, he props up his lower jaw with a hand each side and raises it in a very gingerly & rather singular manner.«) Staff Surgeon Mulvany, der das Verhalten sehr seltsam findet, ordnet an, dass der Mann drei Mal täglich »unter der Pumpe« platziert wird und für fünf Minuten Wasser auf Hinterkopf und Nacken gegossen wird. Bis auf die Tatsache, dass »er noch schlecht schläft«, ist der Marinesoldat nach drei Tagen »well to Duty«. Vielleicht bemühte er sich unter den Bedingungen dieser Rosskur, möglichst rasch wieder dienstfähig zu sein. Er klagt noch über leichten Schläfenkopfschmerz, kann sich aber wieder bücken. 13. Fall: Case 22 der Thetis (1873) – »Heat Apoplexy«77 Bei »erdrückender Hitze« fällt der 43-jährige Zimmermannsmaat George T. in mittäglicher Pause ohne Vorboten zu Boden. In ungewöhnlich per­sönlichem Ton fügt der Arzt die Überlegung an, er denke, der 43-jährige habe »das beste Alter hinter sich«. (»As this patient was past the prime of life …«) Der Patient leide unter den Anstrengungen des tropischen Klimas, und deshalb habe er eine Kommission einberufen, die noch am selben Tag seine Invalidisierung beschlossen habe. Die Gelegenheit wurde genutzt, ihn mit dem nächsten Postdampfer, der Sphynx, nach Hause zu schicken. 14. Fall: Case 8 der Fly (1875) – »Sunstroke«78 Wegen einer Lücke im wohlweislich aufgespannten Sonnensegel wird der 19-jährige Ordinary Seaman Henry D., ein Leichtmatrose der Fly, bei Exerzierübungen mit dem Entermesser (Cutlass Drill) im Hafen von Singapur in der Sonnenhitze ohnmächtig. Bei typischer Symptomatik des Hitzschlages lesen wir von einer »considerable nervous depression«. Ein weiteres Detail ist bemerkenswert: Die Körpertemperatur kann nur geschätzt als »nearly normal« angegeben werden, weil das Thermometer »versehentlich zerbrochen« war. Offensichtlich besaß der Schiffsarzt in der Ausstattung seiner Krankenstation nur eines davon. Der Matrose ist nach zwei Wochen wieder dienstfähig, aber »entschuldigt für jede Bootsarbeit sowie für jede Arbeit unter direkter Sonneneinstrahlung«.

77 Magill, Martin, HM Screw Corvette Thetis 1873, TNA, ADM 101/190, lfd. Fallnr. 22. 78 Lloyd, Edward T., HM Gun Vessel Fly 1.1.–31.12.1875, TNA, ADM 101/193, lfd. Fallnr. 8.

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Überhitzung in der Maschine und durch die Sonne

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15. Fall: Case 11 der Ringdove (1875) – »Heat Apoplexy«79 Alle Zeichen einer Hyperthermie sind bei einem Matrosen vorhanden, der im Dock in Hongkong lediglich mit einem Strohhut vor der brennenden Sonne geschützt einen ganzen Tag lang mit Proviantladen beschäftigt war. (»Aug. 5th Drawing stores exposed to a powerfull sun the head covering being a service white strawhat (a most inadequate protection.«) Mäßiger Schockzustand und Überhitzung beschreibt der Arzt, als er ihn um acht Uhr abends erstmals sieht. Nach Behandlung mit kaltem Wasser auf Rücken und Kopf tritt zunächst eine deutliche Besserung ein. Der Mann verbringt die Nacht in seiner Hängematte. Am Abend des Folgetages tritt ohne erneute Sonnenexposition plötzlich dieselbe Symptomatik auf. Wieder wird durch Kaltwasser-Duschen »aus ge­ ringer Höhe«, wie hier besonders vermerkt wird, eine Besserung erreicht. Als am dritten Tag erneut die Zeichen des Hitzschlages, jetzt aber mit ausgeprägter Benommenheit, Verwirrtheit und Gangstörung, auftreten, wird er sofort in das Hospital von Hongkong gebracht. 16. Fall: Case 38 der Juno (1877) – »Vertigo«80 Seit einer am 21. Mai 1876 durchgemachten Hyperthermie durch Sonnenhitze während seiner Wache ist der 20-jährige Seemann Joseph M. psychisch auf­ fällig: Er klagt über »Kopfschmerz in aufrechter Haltung« und einen Gedächtnisverlust, der ihn außerstande setzt, einen eben erhaltenen Befehl auszu­f ühren. Er wirkt einfältig, hat einen ausdruckslosen Blick und kann nur stockend sprechen. Drei Monate ist er auf der Krankenliste, im Anschluss aber wieder im leichten Dienst an Deck eingesetzt, ohne in die Masten steigen zu dürfen. Von seinen Kameraden wird er während der ganzen Zeit seit seinem »Sonnenstich« als »weak minded man«, »wie ein Schwachsinniger«, behandelt. Am 18.  Mai 1877 invalidisiert ihn die Kommission an Bord und schickt ihn auf dem Schiff Tamar nach England. Vielleicht haben wir hier einen Fall von vorbestehend minderbegabter Persönlichkeit vor uns, die durch ein akutes cerebrales Ereignis vorübergehend dekompensierte. Gleichzeitig ist anzunehmen, dass sich seine Auffälligkeiten als Reaktion auf die kränkende, ausgrenzende Behandlung durch seine Kameraden verstärkten. Joseph M. Aet 20. Ord. This patient’s history shows that on the 21st May 1877 he was exposed to unusual fatigue and influence of the sun for a prolonged period whilst performing the duty of

79 Gorham, A., HM Sloop Ringdove 1. Teil: 1.1.–31.12.1875, TNA, ADM 101/192/1A, lfd. Fallnr. 11. 80 Nelson, Robert, HM Ship Juno 1.10.1876–31.12.1877, TNA, ADM 101/197, lfd. Fallnr. 38. Siehe auch 11. Fall »Overanxiety«.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

a sentry. Since that time – when he was entered on the Sick List as suffering from Coup de Soleil – he has almost constantly complained of headache, loss of memory and vertigo. Since the 4th Febry he has been under treatment for upwards of three months on the sick list and light duty list. He complains of constant vertical headache, loss of memory and forgetfulness of even the duties upon which he is immediately engaged. His manner is stupid and stare vacant, with hesitating speech and dilated pupils. He has not been trusted to go aloft since the original attack and amongst his messmates he is treated as a weak minded man. 18th May. Being considered unfit for further service patient was submitted to medical survey and invalided. Discharged to HMS »Tamar« for passage to England.

17. Fall: Case 44 der Juno (1876) – »Sunstroke and Rupture of Spleen«81 Hier haben wir es mit einer der merkwürdigsten Geschichten der Journale zu tun. Surgeon Nelson diagnostiziert bei dem 18-jährigen Matrosen Charles  C. einen Hitzschlag sowie eine Milzruptur, ohne dass er zunächst eine entsprechende massive Sonneneinwirkung schildert. Dies holt er am Ende des Berichtes nach. Die Temperatur im Schatten war offenbar 84 Grad Fahrenheit (29 Grad Celsius), entsprechend heißer wird es in der Sonne gewesen sein, als der Matrose in der Takelage des Schiffes beschäftigt war. Zunächst kommt er mit Kopfschmerz, Durchfall und allgemeiner Schwäche auf die Krankenstation, fällt aber offensichtlich gleich zu Beginn durch einen erregten, »wilden« Ausdruck auf. Kurz darauf verfällt er in einen halb koma­ tösen Zustand, erleidet abends mehrere Krampfanfälle und wird bei unverän­ deter Verfassung am nächsten Tag in das allgemeine Krankenhaus in S­ hanghai gebracht. Von dort wird dem Arzt berichtet, oder er beobachtet es selbst, dass der Patient weitere epileptische Anfälle hat und so starke Erregungszustände bekommt, dass er festgebunden werden muss. (»…followed by maniacal excite­ ment requiring much restraint«) Am dritten Tag nach dem akuten Ereignis wird der Patient plötzlich pulslos, beschrieben wird ein komplettes Schockbild, der Tod tritt nach wenigen Minuten ein. (»At 4 A. M. on the 24th he became suddenly collapsed, cold and pulseless and in  a few minutes afterwards, he died.«) Nun vermerkt die Fallgeschichte, dass mehrere kleine Wunden am Kopf und an den Füßen des Patienten auffallen, was für Surgeon Nelson auf Selbst­ verletzung des Patienten während seiner Erregungszustände hindeutet. Eine chinesische Krankenschwester berichtet dem Arzt außerdem, der Patient habe versucht, sich über das Geländer des Treppenhauses zu werfen. (»It was evident from several small bleeding wounds on the head and also from recent abrasions on the feet that he had severely injured himself during his excitement and one of the Chinese nurses stated that the patient had attempted to throw himself over the

81 Ebd., lfd. Fallnr. 44.

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Überhitzung in der Maschine und durch die Sonne

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bannisters of a staircase.«) Die Obduktion deckt eine für den Schiffsarzt offensichtlich sehr überraschende Milzruptur auf. Aus einem fünf Zentimeter langen und einen Zentimeter tiefen Riss des Organes seien zwei Liter (»four pints«) Blut in die Bauchhöhle geflossen. Diese Fallgeschichte lässt in ihrer unklaren Verknüpfung der Hyperthermie, der Milzruptur, der Krampfanfälle, des psychotischen Durchgangssyndromes und der fraglichen Suizidalität des Patienten alle Fragen offen. In ihrem letalen Ausgang ist sie tragisch.

5.3.2 Auswertung In den 17 Fallberichten ist die Auswirkung erhöhter Körpertemperatur dargestellt. Nach ihren unterschiedlichen Enstehungsbedingungen wurden sie in den Journalen Heat Stroke und Sun Stroke genannt. Heute wissen wir, dass der Kern des äußerst komplexen Krankheitsgeschehens eine Gerinnungsstörung und in der Folge eine Durchblutungsstörung ist, die zur Bewusstseinstrübung (bis zum Koma) und der Bewusstseinsveränderung (bis zum Vollbild einer Psychose) führen kann. Die berichtenden Ärzte auf den Schiffen fassten das Geschehen im weiteren Sinne durchaus zutreffend als »Irritation of the Brain«, oder als »Inflamation of the Brain«, also als eine Entzündung auf. Ein Fall verlief letal, bei zweien wurde aus diesem Krankheitsbild heraus die Invalidisierung beschlossen. Ein Mann wurde in ein Hospital verlegt. Als leichte, unkomplizierte Verläufe wurden fünf der 17 Fälle eingeordnet. Alle auf einem Schiff vertretenen Altersgruppen traf dieses gefährliche Krankheitsgeschehen, vom 17-jährigen Schiffsjungen bis zum 43-jährigen Schiffszimmermann. Insgesamt waren es zehn Matrosen, vier Heizer, ein Zimmermann, ein Steward und ein Seesoldat. Dieses hochakute Geschehen zwischen Erkrankung und Unfall wurde in den Logbüchern, die gewöhnlich vom Ersten Offizier geführt wurden, nie festgehalten. Bei Durchsicht sämtlicher Logbücher der hier aufgeführten Schiffe fand sich keine einzige Eintragung eines solchen Hyperthermie-Opfers. Offensichtlich wurde das Geschehen als eine Erkrankung angesehen, die nur die Tätigkeit des Schiffsarztes betraf, nicht aber den allgemeinen Ablauf an Bord. Auch dieses Störungsbild ist in den Statistiken und schon im Tabellenteil der Medical Journals nur ungenau erfasst. Teils finden wir die Begriffe Heat Stroke, Heat Apoplexy, Sun Stroke, Insolatio und Coup de Soleil unter der Rubrik Diseases of the Brain, Nerves, &c., teils sind die Fälle unter dem Leitsymptom »Schwindel« und teils als »Apoplexie« erfasst. Der technischen Entwicklung folgend war die sonnenbedingte Überhitzung in allen äquatornahen Einsatzgebieten bei gleichzeitiger schwerer körperlicher Arbeit immer schon eine Gefahr für die Seefahrer, während die Überhitzung

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

in den Maschinenräumen unter Deck erst im Laufe des 19. Jahrhunderts hinzukam.82 Am Ende des Jahrhunderts war das Heizer- und Kohlenzieher­personal zehn- bis zwanzigmal so häufig Opfer der Überhitzung wie das Decks­personal. Schon in zeitgenössischen Untersuchungen des 19. Jahrhunderts wurde auf die Hitzebelastung vor den Feuerstellen der Dampfschiffe hingewiesen.83 Temperaturen bis 70 Grad Celsius wurden damals gemessen. Tropische Klimata mit hoher Luftfeuchtigkeit konnten sich zu der durch die Dampfmaschine erzeugten Wärme addieren. Zwar waren die Maschinen mit einigen hundert bis wenigen tausend Pferdestärken noch relativ klein, aber es musste noch viel Arbeit rund um die Maschine mit Muskelkraft erledigt werden. Auf die sogenannten »Heizer-Suizide« gehe ich im Abschnitt 5.6 »Debility, Suizidalität« und im Abschnitt 4.3 »Die Maschine« ein. Die Abhängigkeit der Überwärmungsgefahr von der geographischen Region war natürlich bekannt. Die meisten Fälle gab es an der arabischen Küste. Als Sonnenschutz wurden »Sonnensegel« (awnings, Ersatzsegel oder heruntergenommene Segel) über den Schiffsdecks aufgespannt. Unter diesen Sonnen­ segeln wurde exerziert und verrichteten die Zimmerleute, Segelmacher, vielleicht auch die Köche einen Teil ihrer Arbeit. Zusätzlich konnten und sollten die Matrosen Mützen oder Kappen aufsetzen, die sie vor direkter Sonneneinstrahlung schützten. Im 2. Fall werden bei Arbeiten im Dock Strohhüte erwähnt, allerdings als ungenügender Schutz charakterisiert. Der Schiffsarzt musste nicht nur mit der Unerfahrenheit, sondern auch mit der Unvernunft seiner überwiegend jungen Mannschaft rechnen. Unzweideutig schreibt Dr. Gorham, Arzt der Ringdove, von dem leichtsinnigen Umgang der »Blaujacken«: »Six cases of headache were added, half of which occured in Perah, all the result of incautious exposure to a hot sun. The remainder at Hong Kong, it is almost impossible even with the most stringent regulations, to prevent bluejacket from reckless exposure with­out the slightest regard to ulterior consequence.«84 Auch noch Mitte des 20. Jahrhunderts spielte die Überhitzung an Bord eine große Rolle. Otterland stellt in seinem großen Zahlenmaterial aus den Jahren 1945–1954 eine Letalität der Hyperthermie von zehn Prozent fest.85 Und noch auf modernen, klimatisierten Schiffen des 21. Jahrhunderts zeigt sich die Hitze-

82 Als Ausnahme kann man auch einmal auf einen Bericht von einem Sonnenstich während eines Ausrittes zu Pferde stoßen, z. B. im extrem heißen Klima der Hafenstadt Bushir am Persischen Golf, seit 1780 wichtiger Sützpunkt der East India Company, dann auch der Royal Navy. Vgl.: House of Commons 1866 (458) Navy (health): Stat. Rep. für 1863, S. 211. 83 Le Roy Méricourt, A. de: Die Fortschritte der Schiffshygiene, Pola 1876; Fonssagrives, Jean-Baptiste: Traité d’hygiene navale, Paris 1877. 84 Gorham, A., HM Sloop Ringdove 1.  Teil: 1.1.–31.12.1875, TNA, ADM 101/192/1A,­ General Remarks. 85 Otterland, S. 140–142.

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Alkoholmissbrauch an Bord

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belastung als ein wesentlicherStressfaktor. Dabei spielen nach wie vor der heiße Maschinenraum und das tropische Klima die Hauptrolle.86

5.4 »Delirium tremens« – Alkoholmissbrauch an Bord Fünfzehn sicher der Alkoholproblematik zuzuschreibende Fallgeschichten können in den Medical Journals der East-India-Station identifiziert werden. Hinter der stets gleichen Diagnose Delirium tremens verbergen sich verschiedene Aspekte der Abhängigkeitserkrankung. Zweimal liegt akute Alkoholvergiftung vor, viermal ein Entzugssyndrom mit und ohne Delirsymptomatik. Zwei Fälle beschreiben den tödlichen Ausgang solcher Entzugsdelire, bei drei Fällen stehen die somatischen Organschäden chronischen Alkoholmissbrauches im Vordergrund. Mehrfach ist auf die psychische Gewöhnung der betroffenen Seeleute abgehoben, und neben der ständigen verborgenen Unfallgefahr durch Alkoholkonsum stellt ein Fallbeispiel Alkoholrausch als die entscheidende Ursache für einen Knochenbruch heraus. Ein Fall, als slight case, also als leichter Fall eingestuft, ist nicht genauer bestimmbar. So lassen sich sieben verschiedene Aspekte des Delirium tremens herausarbeiten und anhand von Fallberichten darstellen. Viele Details zum Umgang mit Alkohol an Bord sind im Abschnitt 4.13.7 aufgeführt. Auch wenn vor 100 und 200 Jahren die Alkoholproblematik allgemein nicht als psychische Erkrankung anerkannt war, handelten die Schiffsärzte doch ganz aus dieser Haltung heraus. Es kann gezeigt werden, dass es ihnen gelang, sich auf ihre Patienten empathisch einzulassen und ihnen ohne moralische Wertung gegenüberzutreten.

5.4.1 Akute Alkoholintoxikation Eine erste Form der Alkoholkrankheit begegnet uns in den Verlaufsberichten in Form der akuten Vergiftung (Intoxikation) mit Alkohol.

86 Vgl.: Oldenburg, Marcus; Jensen, Hans-Joachim; Baur, Xaver: Sefaring stressors aboard merchant and passenger ships, Internat. J. Publ. Health 54 (2009), S. 96–105.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

Fallberichte 1. Fall: Case 7 Der Nimrod (1857) – »Delirium (e potu)«87 Der 21-jährige Vollmatrose Frances C. hat während seiner Arbeit an Land große Mengen der chinesischen Spirituose Shamsoo88 getrunken. Er wird in einem Zustand von »Vergiftung und rasendem Delirium« zurück an Bord gebracht. Trotz Therapie mit Brechmitteln, kalten Aufgüssen und Senfpflastern gerät der Patient in einen so »apoplektischen und offensichtlich hoffnungslosen Zustand«, dass der Schiffsarzt um sein Überleben fürchtet. Eher zu seiner Überraschung erholt sich der Matrose und ist nach sechs Tagen wieder voll dienstfähig. Case 7: Delirium (e potu) Francis C., æt 21, A.B was brought on board at Hong-Kong on the 19th July, 1857, in a state of intoxication and raving delirium having drunk when on shore on duty a large quantity of Shamsoo. Emetics, cold affusion and sinapisms to extremities was the treatment adopted. From the immense quantity of poison in the system, he was at one time in an apoplectic and apparently hopeless state, but he eventually recovered, and was discharged to duty on the 25th July, 57.

2. Fall: Case 1 der Coromandel (1864) – »Climatic Dyspepsia and Cachexy«89 Auch wenn dieser Fall viele Unklarheiten birgt, kann aus ihm doch die toxische Wirkung schon kleiner Mengen Alkohol im Sinne eines »pathologischen R ­ ausches« herausgearbeitet werden. Eine hirnorganische Vorschädigung könnte die Grundlage für diese besondere Reaktion liefern. Auch ein ungeklärtes psychotisches Geschehen ist zu bedenken. (S. auch 9. Fall »SHT«) Es wird vom 34-jährigen Quartiermeister der Mannschaft (Rating Quartermaster) der Coromandel berichtet. Fünf Jahre früher, in seiner Zeit an Bord der Imperieuse, hatte er eine Kopfverletzung durch einen herunterfallenden Holzblock erlitten, jenen typischen Unfall, dem diese großen und schweren Teile der Takelage ihren Namen »Witwenmacher« verdanken. In dem Bericht ist zu lesen, der Quartiermeister habe seither sein Wesen verändert, und er sei extrem empfindlich für Sonne und für Alkohol geworden. Der geringste Genuss von Alkohol versetze ihn in »verrückte Raserei«. (»… to drink a small quantity of that throws him into a state of idiotic fury.«)

87 Rose, John, HM Sloop Nimrod 1. Teil, 24.3.1857–24.3.1858, TNA, ADM 101/164/1A, lfd. Fallnr. 7. 88 Shamsoo ist ein aus vergorenem Soja destillierter Schnaps. Er taucht in jedem der ärztlichen Berichtsbücher auf. Vermutlich war er eine der ersten Waren, die von den an den Schiffen festmachenden Bumboats angepriesen wurde. Friedel schreibt ihn »Samshu« und nennt ihn »den chinesischen Arrak« Vgl.: Friedel, S. 156. 89 Dickins, F. V., HM Sloop Coromandel 1.1.–30.9.1864, TNA, ADM 101/178, lfd. Fallnr. 1. 

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Alkoholmissbrauch an Bord

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Seit September 1863 klagt der Patient über Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit und Schmerzen hinter dem Brustbein, im Magenbereich und ab und zu in der Schulter. Als er schließlich etwas Grog erbettelt und diesen erhält, wird er sehr erregt, (»very excitated«). Trotz fortgesetzter Behandlung mit Enzianessenz, Abführmitteln und Diät wird seine Verfassung schlechter und schlechter, »but not without periods of appearent return to health«. Er bekommt an Essen, was er will, auch ausdrücklich aus der Offiziersmesse, und dazu regelmäßig PorterBier. (»Porter was ordered for him and his dinner was from the wardroom mess or anything that he fancied and I could purchase for him was allowed.«) Nichts hilft. Seine Erscheinung wird »thinner, sharper, more anxious«, also dünner, spitzer und ängstlicher. Er wird vom Arzt nur noch für ganz gelegentliche Dienste von der Krankenliste genommen. Schließlich wird er am 23.  August 1864 nach viermonatiger erfolgloser Therapie, und wohl auch ohne klare Diagnose, invalidisiert und auf der Hesper nach Hongkong gebracht, um dort auf seine Rückreise nach England zu warten. (»But he gained no strength, no flesh, no permanent benefit of any kind and latterly I ceased to trouble him with any physic beyond an occasional paye.«) Ergänzungen Im 13. Fallbeispiel des Abschnittes »Debility« ist eine Alkoholintoxikation des Patienten beschrieben, auf die der Schiffsarzt nicht weiter eingeht, vielmehr die klimatischen Belastungen des vierjährigen Dienstes in der fernöstlichen Flotte als Ursache der allgemeinen Schwäche ansieht. Auch die Verführung zu massivem Konsum von Spirituosen an Land war den Beteiligten klar. In einem Statistical Report wird offen von dem billig angebotenen Shamsoo berichtet, der in so großen Mengen gekauft wurde, dass es den Autor wundert, dass das Alkoholproblem nicht noch größer ist: »When, however, it is considered that large detachments were every now and then landed in the Chinese towns and villages, where intoxicating liquors, particularly that called sham-soo, may be obtained for the merest trifle, it is rather surprising that the cases of this deplorable malady were not more numerous; particularly as the native population, when they observed the men suffering from heat and exhaustion, were sometimes in the habit of gratuitously offering them spirituous liquors – whether from a good or bad motive seems to be doubtful.«90 Ein Beispiel einer akuten Alkoholintoxikation mit, letztlich ungeklärtem, tödlichem Ausgang schildert derselbe Report. Betroffen ist die Cameleon. Einer ihrer Seeleute trank »in einem Zug« eine große Menge Gin, legte sich auf dem Strand hin und starb innerhalb der nächsten zwei Stunden. (»One death occu-

90 House of Commons 1853 (555) Navy (health): Stat. Rep. für 1837–43, S 92.

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red in the Cameleon, apparently from excessive drinking; the person, a seaman, having swallowed at one draught a large quantity of gin, lay down on shore, and died in the course of two hours.«)91

5.4.2 Alkoholentzugsdelir Sechsmal sind Zustände mit Bewusstseins- und Orientierungsstörungen beschrieben, die als Alkoholentzugsdelir eingeordnet werden können. Dafür typische Situationen sind das An-Bord-Kommen vor Auslaufen des Schiffes oder die Rückkehr vom Landurlaub, den es bei Aufenthalten unterwegs, während der Reise zum Einsatzort, ebenso reichlich gab wie am Einsatzort selbst, der­ »Station Ostasien«. An Land war jeweils Gelegenheit für besonders hohen Alkoholkonsum, der, zurück an Bord, unter Umständen unerwartet rasch, eventuell auch ungeplant und unbedacht beendet wurde. Die daraus entstehende psychische und körperliche Reaktion nennen wir Alkoholentzugssyndrom. Das rasche Absinken der Blutalkoholkonzentration kann zur Senkung der Krampfschwelle und damit zu epileptischen Anfällen führen. Und jederzeit kann es zu einem lebensbedrohlichen Multiorganversagen kommen. Fallberichte 3. Fall: Case 11 der Niger (1858) – »Delirium Tremens in an old Topor«92 Der Schiffsarzt der Niger berichtet 1858 von einem 38-jährigen Master. Er ist nach seiner Einschätzung nicht nur »ein für seinen Dienstgrad recht alter Seemann«, sondern auch ein »alter Trinker« und eine »schändliche Erscheinung«. Die längste Zeit seiner Laufbahn hatte er in der Handelsmarine gedient. Dieser Mann nun hat bei seinem zweitägigen Landgang in Auckland auf Neuseeland so sehr seiner »Leidenschaft gefrönt«, dass er, zurück an Bord, in ein Entzugsdelir gerät. Zunächst wird er in seinem Denken und Reden unzusammenhängend, dann entwickelt er die wahnhafte Angst, seine Kameraden würden ihn entsetzlicher Verbrechen beschuldigen. Der Schiffsarzt verabreicht zunächst große Dosen Opium. Da diese wirkungslos bleiben, wird die Opium­ tinktur zusammen mit der »vollen Tagesration Schnaps« verordnet. (»The medicine was prescribed with a full allowance of spirits, …«) Weil auch diese Behandlung wirkungslos bleibt, verlegt ihn der Arzt in das Militärhospital, wo er nach 18-tägigem Aufenthalt gut wiederhergestellt zurückkehrt. Die Krankenhauseinweisung wird von Surgeon William Patrick am Ende des Berichtes mit 91 Ebd., S. 83. 92 Patrick, William, HM Sloop Niger 2. Teil, 1.7.1857–30.6.1858, TNA, ADM 101/160, lfd. Fallnr. 11.

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der durchaus empathischen Überlegung begründet, es sei wohl besser, wenn der Patient von seinen Kameraden, die ihn in seiner wahnhaften Verkennung so ängstigten und beunruhigten, entfernt werde. Im Hospital war der Patient noch einen guten Teil der Zeit in psychotischer deliranter Verfassung (»still labouring under delusions«) geblieben. Case 11: Delirium Tremens in an old Topor Alfred J. P. æt 38. 2nd Master. Taken ill at Auckland on the 30th of January.– History.– This patient was a man of advanced years proportionate to his rank in the Service, most of his time was passed in the mercantile service. He is bloted in appearance and a perpetual topor, after some 48 hours on shore, overindulging his propensities, he came on board when his allowance was limited and after remaining so a day in the ship on the 29th he grew incoherent, on the 30th he became delirious, pursued by imaginary terrors, and very restless: he thought his messmates were accusing him of horrible crimes. Treatment. – Large dosis of opium were prescribed, first-singly, and that failing, the medicine was prescribed with a full allowance of Spirits, and that also failing to tranquilize or procure sleep, a difficulty which the continual presence of his messmates seemed to aggravate, and being void of any means of separating him from them on board; I had him removed to Hospital. NB. This patient remained in the Military Hospital some 18 days. The greater part of that time still laboring under delusions, he got over that eventually and returned quite well again.

4. Fall: Case 1 der Nankin (1858) – »Delirium Tremens«93 Ein besonders langer und schwerer Verlauf eines Alkoholentzugsdelires ereignet sich 1858 an Bord der Nankin. Der 42-jährige Gentleman Mr. David H. W. war als Master während seiner Wachen, als das Schiff im »Canton ­R iver« nahe der chinesischen Küste lag, sehr leicht an Brandy und Bier gekommen und hatte »seine übliche Menge überschritten«. Drei Tage und Nächte schläft der Patient nicht. Er entwickelt eine Delirsymptomatik mit akustischen Halluzinationen und angstvollen wahnhaften Verkennungen der Umgebung, wie etwa der, dass die Leute über ihn redeten, oder dass die verabreichte Medizin Gift sei. (»Is not so restless today, but still very suspicious, imagining his medicine is poison, and refusing to take it, although by a little persuasion he is induced to swallow it; …«) Es zeigen sich massive Ich-Störungen, wenn er wahnhaft überzeugt ist, dass seine Kameraden »magnetische Leitungen angebracht hätten, um Leute dazu zu bringen, seinen Charakter zu zerstören« (»He told ideas fancying the Midshipmen had magnetic wires attached to bring people endeavouring to ruin his character &cc.«) und dass man »Briefe an seinen Charakter« schreiben könne. Der Patient versucht, sich den vermeintlichen Gefahren zu entziehen. Er 93 Telfer, William, HM Frigate Nankin 3. Teil, 1.1.1858–18.2.1859, TNA, ADM 101/162, lfd. Fallnr. 1.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

schluckt keine Medizin mehr. Er versucht, vor den Leuten, die es »so auf ihn abgesehen haben«, wegzulaufen und glaubt nur noch an die Wirkung seiner Bibel. (»… but obstinately refuses to take his draught, persisting in having his Bible, saying it is the »only medicine for a man«, and calling in the Clergyman to pray with him at intervals.«) Mit viel gutem Zureden, immer wieder durchgeführten Abführmaßnahmen, mit großen Mengen von »Opium in Brandy« und von Opium in Pillenform in der enormen Menge von zwei grains Opium94 alle zwei Stunden, zeitweise auch durch Verordnung von Chloroform als internes Medikament, geht der Fall nach drei langen Wochen gut aus. Surgeon Telfer diskutiert, ob er wohl die Erkrankung hätte verkürzen können, wenn er noch früher hohe Dosen von Opium gegeben hätte. Die insgesamt große Menge Opium verteidigt der Schiffsarzt eigens mit der besonderen Schwere des Falles. Immerhin sei dadurch eine körperliche Bewegungs­einschränkung mittels Fixierung vermieden worden. 5. Fall: Case 70 der Euryalus (1862) – »Delirium Tremens«95 Ein 26-jähriger Leutnant der Euryalus kommt am 31. Mai 1862 auf die Krankenliste, weil er sich eine Erkältung während seiner Wache zugezogen hat. Er war nass geworden und hatte seine Kleidung nicht gewechselt. Am 1. Juni stellen sich mit Oberbauchbeschwerden und Erbrechen, am 2. Juni mit psychomotorischer Unruhe und heftiger Erregung die typischen Alkoholentzugssymptome ein. Am 3. Juni kommen schließlich optische Illusionen hinzu. Für den Schiffsarzt David Lloyd Morgan sind dies die »voll entwickelten üblichen Symptome des Delirium tremens«. (»7 a.m. Has had no sleep. The usual symptoms of delirium tremens are now well developed; optical illusions; … 6 p m. Delirium more violent; makes continual efforts to jump out of bed; shouts at imaginary objects and individuals; skin hot and perspiring; pulse frequent and bounding, ordered T. opii 40 gtt quoque hora. Brandy one ounce every three hours. Head to be shaved and a spirit lotion applied.«) Der Patient erhält eine Mischung aus Ammoniak, Branntwein und Wein in vierstündlicher Verabreichung und teilweise in erfrischende Getränke gemischt, und immer wieder Laudanum, also Opiumlösung, aufgelöst in einer Unze Brandy. Abgeführt wird mit Rizinus und Magnesiumcarbonat, eine wegen der stark verstopfenden Wirkung des Opiums sinnvolle, vermutlich notwendige Maßnahme. Der Patient ist auch am 12. Juni noch in deutlich geschwächter Gesamtverfassung. Der Arzt unternimmt einen Versuch, die andauernde Ver­

94 Ein Apothecaries’ grain ist der 480ste Teil  einer Unze (Apothecaries’ ounce), mithin etwa ein sechstel Gramm. 95 Morgan, David Lloyd, HM Frigate Euryalus 23.1.–31.12.1862, TNA, ADM 101/174, lfd. Fallnr. 70.

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abreichung von Opium durch »Gregory’s Trank«96 zu ersetzen, beschließt dann aber die Verlegung des Patienten in das Navy Hospital in Simon’s Town bei Kapstadt, das inzwischen auf der Rückreise von China nach England erreicht worden war. (»12th being still in  a weak and debilitated state he has been this day discharged to the Royal Naval Hospl. at Simon’s Town.«) 6. Fall: Case 72 der Euryalus (1862) – »Delirium Tremens«97 Der 46-jährige Admiral’s Steward kommt in der Nacht auf den 23. Juni 1862 zu seinem Schiff, der Euryalus zurück, nachdem er an Land, am Kap der Guten Hoffnung, für mehrere Tage verschwunden war. Er ist »mit den recht ausgeprägten üblichen Symptomen« in einem heftigen Delir. Surgeon Morgan verabreicht ihm eine Drachme Opiumtinktur und überweist ihn sofort in das Militärhospital der Marinebasis in Simon’s Town. Dorthin hatte er erst vor wenigen Tagen auch den deliranten Leutnant verlegt. Case 72: Delirium Tremens G. Alexander ætat 46 Admiral’s steward came off to the ship last night after having been dissipating on shore for some days to now (June 23rd 7 a m.) in a state of violent delirium with the usual symptoms of the complaint well marked. Ordered Ti Opii one drachm to be taken immediately. Patient conveyed at once to the Hospital at Simon’s Town.

Ergänzungen Der 20. Fall »Debility« beschreibt ebenfalls mit einiger Wahrscheinlichkeit ein Alkoholentzugssyndrom. Ein 34-jähriger Marinesoldat der Glasgow hatte vermutlich mit der Abfahrt aus Aden zu trinken aufgehört. Für seine vegeta­ tiven Herzbeschwerden erhält er vom Schiffsarzt Ammoniak und Chloroform verordnet.

5.4.3 Letalität des »Delirium tremens« Was als Delirium tremens diagnostiziert wurde, konnte letalen Ausgang nehmen, und tat es auch, wie in der Auswertung gezeigt werden wird, in 5 % der Fälle. Viele Mechanismen sind dabei denkbar, vom cerebralen Krampfanfall über Dehydratation bis zum Multiorganversagen.

96 Das von Dr. James Gregory (1753–1821) entwickelte Pulver aus Rhabarber, Ingwer und Magnesiumoxid als Antacidum (Magenmittel) und Laxantium (Abführmittel) in einem. 97 Morgan, David Lloyd, HM Frigate Euryalus 23.1.–31.12.1862, TNA, ADM 101/174, lfd. Fallnr. 72.

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Fallberichte 7. Fall: Case 14 der Ringdove (1875) – »Delirium Tremens«98 Auf der Ringdove ereignet sich im Jahre 1876 ein letales Delirium tremens. Ein 26-jähriger Leutnant kommt wegen einer beginnenden Syphiliserkrankung auf die Krankenliste, während das Schiff auf See auf dem Weg von Singapur nach Hongkong ist. Um vier Uhr morgens findet Dr. Gorham einen verwirrten Mann mit völlig ungewöhnlichem Verhalten vor. Er diagnostiziert ein »Delirium tremens«, verordnet eine besondere Diät (»nach Carnisrall«)99 und ordnet seine Beobachtung in seiner Kabine an. Im Laufe des Tages verhält sich der Patient recht unauffällig, wenn er etwa in der Offiziersmesse unter seinen Kollegen ist. In der darauffolgenden Nacht tritt psychotische Symptomatik auf. Der Offizier ist von den starken schlingernden und stampfenden Schiffsbewegungen in größte Angst versetzt. (»The rolling, heaving and pitching of the ship together with the occasional heavy lurches, prevented his enjoying the necessary sleep. When inclined for a little repose some extra motion of the ship would make him start up fearing all sorts of things, shaking violently and very confused.«) Mit Opium­ tinktur findet er nur wenig Schlaf. In den nächsten beiden Nächten wiederholt sich die Symptomatik. Alle Geräusche an Bord werden angstvoll fehlgedeutet. Der Patient wähnt, er müsse Segel setzen und schreit mit äußerst lauter Stimme die notwendigen Befehle, ohne dass ihn jemand beruhigen könnte. (»The creaking of the Vessel & the varied employments of the crew tended to disturb him very much. At one time he fancied he was making sail and gave the necessary orders in an exceedingly loud tone of voice which nothing could pacify.«) Jedes Geräusch, das tatsächlich von Deck zu vernehmen ist, versetzt ihn aufs Neue in seine Wahnwelt. Dabei werden die Befehle an Bord mit Rücksicht auf das dramatische Geschehen im Lazarett schon so leise wie möglich gegeben. Nichts an Bemühung fruchtet. Der Patient bekommt gehaltvolle Nahrung und nimmt diese auch zu sich. Er bekommt »a small stimulant«, also kleine Mengen Alkohol. Man versucht es mit »Gin, Sherry, Porter &c.« Der Schiffsarzt geht offensichtlich nach wie vor von einem Alkoholdelir aus. Ein beschleunigter Puls könnte dies bestätigen, ist jedoch allzu unspezifisch. Weiterhin ist der Patient in wachen Momenten heftig delirant und wähnt sich bei der Arbeit, Segel zu setzten und das Schiff zu führen. Kaum einmal kommt er zur Ruhe. Spürbar ratlos schildert Dr. Gorham den raschen Verfall des Kranken, der sich zuletzt jeder Behandlung, ja jeder Annäherung irgendeiner Person widersetzt. In den letzten vier Stunden ist er ohne Bewusstsein. Er stirbt um zwei Uhr in der Nacht auf den 26. Juni 1875. (»Countenance staring & at 2.10 pm he died 98 Gorham, A., HM Sloop Ringdove 2. Teil: 1.1.–31.12.1876, TNA, ADM 101/192/1B, lfd. Fallnr. 14. 99 Es gelang leider nicht, diese Diätform »nach Carnisrall« (im Manuskript eindeutig lesbar) aufzuklären.

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calmly without a struggle never having once been conscious for four hours previous to his death.«) Wir haben hier ein ausgeprägtes Bild einer Psychose vor uns, deren nähere Einordnung aber offen bleiben muss. Am ehesten wird man von einer symptomatischen Psychose, mithin von einer Reaktion auf eine begleitende schwere Erkrankung, sprechen können. Für ein Alkoholentzugsdelir fehlt die entsprechende Anamnese. Für eine schizophrene Psychose wäre der letale Verlauf unerklärlich, wenn man nicht von einer Katatonie (einer Komplikation bei Schizophrenie) ausgeht, die wiederum im Verlaufsbericht gewiss anders beschrieben worden wäre. 8. Fall Case 39 der Modeste (1876) – »Apoplexy«100 Epileptische Anfälle und plötzlicher Tod sind im Journal der Modeste des Jahres 1876 beschrieben. Der 43-jährige Schiffs-Steward wird am Morgen des 18. Juni 1876 an seinem »üblichen Schlafplatz«, in seiner »gut mit frischer Luft versorgten Kabine«, in delirantem Zustand mit Tremor der Hände, kaltem Schweiß, schwachem Puls und mit einem zusammenhangslosen Rededrang vorgefunden. Er weist zwar keinen Zungenbiss, aber Schaum vor dem Mund auf. Sein Atem riecht dezidiert nach Alkohol. In der Sick-Bay erhält er »Ammon. Aromat.« und kühlende Umschläge auf die Stirn. Nach einer Dreiviertelstunde treten zwei weitere Krampfanfälle auf. Dabei wird zwischen den beiden Anfällen eine unruhige, ratlose Verfassung beschrieben, in der der Patient sagt, er »wisse nicht, was los sei«. (»… then appeared to lose consciousness stared about him wildly, tried to get away, pulse very weak and small, face pale. Took a little Ether and Ammoniac and lay down saying distinctly he »couldn’t make out what was the matter.«) Jetzt wird ein schon recht ratlos wirkender Therapieversuch mit teelöffelweise Brandy und mit Wärmflaschen an den Füßen unternommen. Nach dem letzten Anfall kommt es zu einem rapiden Kreislaufzusammenbruch, bis Atemversagen und Pulslosigkeit eintritt. Acht Minuten nach dem Anfall stirbt der Steward. Die Obduktion liefert für den Schiffsarzt R. R. Siccama keine Erklärung für das Geschehen. Er findet keine Blutung und sonstige Auffälligkeit im Gehirn, doch fügt er in seinem Bericht an, dass der Mann an Gicht und Rheuma gelitten habe, das heiße Wetter in der Malakkastraße nicht vertragen habe und bekanntermaßen und trotz strenger Warnungen seine »ungemäßigten Gewohnheiten« nicht abgelegt habe (»being much addicted to intemperate habits«). Zweimal hatte er an Bord der Modeste versucht, abstinent zu werden, aber ohne Erfolg. (»After severe warnings from his superiors he had attempted total abstinence without success.«)

100 Siccama, R. R., HM Sloop Modeste 1.1.–31.12.1876, TNA, ADM 101/196, lfd. Fallnr. 39.

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Ergänzungen Das Beispiel einer akuten Alkoholintoxikation mit tödlichem Ausgang aus dem Report für das Jahr 1842 wurde bereits oben als Intoxikationsfall zitiert. Oft wurde der tödliche Ausgang, nicht ganz unberechtigt, als »Apoplexie« aufgefasst und dann auch diagnostisch so festgehalten. Für das Jahr 1856 sind unter vier Todesfällen »of an apoplectic nature« nur einer als »true apoplexy« mit halbseitiger Lähmung und Todesfolge vermerkt. Von den anderen heißt es: »… but three of these were the direct result of excessive drinking while on shore on leave.«101 Ebenso finden sich 1858 unter der Diagnose Apoplexy drei als »from excessive drinking« verursacht beschrieben.102 Zwölf Delirtote insgesamt waren es in diesem Jahr in der Ostindien-Station. Acht von ihnen kamen allein unter den in Kanton stationierten Marinesoldaten nach der Einnahme der chinesischen Festung vor.103 In Kombination mit Fiebererkrankungen konnte Alkoholintoxikation besonders fatale Folgen haben, sobald die in bestimmten Gehirnarealen gesteuerte Temperaturregelung zusammenbrach. 1856 waren viele Matrosen nach Landkontakt an der Küste Ceylons fieberkrank geworden. Im März waren dadurch auf der Nankin 49 Mann auf der Krankenliste. Zwei von ihnen starben. Von ihnen heißt es: »Einer von ihnen trank bis zum Exzess mehrere Tage hindurch, während er im Dock beschäftigt war, und zeigte, als ich ihn erstmals sah, bereits die charakteristischen Symptome des Delirium tremens; der andere hatte ebenfalls an Land getrunken und dann im Dschungel geschlafen.« (»Two of the more severe cases, contracted at Trincomalee, after lingering long under treatment, terminated in death. […] One drank to excess for several days while employed on shore in the dockyard, and shewed when first seized all the characteristic symptoms of delirium tremens; the other had also been drinking on shore, and slept in the jungle.«)104 Wenn exzessiver Alkoholkonsum mit Kontrollverlust und riskantem Verhalten einhergeht, können hinzutretende Krankheiten unter Umständen einen tödlichen Verlauf nehmen. So z. B. die von der Chesapeake berichteten CholeraFälle: »There were also several cases [sechs laut Tabelle], accompanied as usual, by an eruption of choleraic diarrhea, in the Chesapeake in March; they occurred principally amongst men who had gone on shore on leave at Aden, were they mixed with the population, and drank to excess. One died on board, and another on shore in hospital.«105 101 House of Commons 1858 (473) Navy (health): Stat. Rep. für 1856, S. 148. 102 House of Commons 1861 (175) Navy (health): Stat. Rep. für 1858, S. 126. 103 Ebd. 104 House of Commons 1858 (473) Navy (health): Stat. Rep. für 1856, S. 139–140. 105 House of Commons 1862 (199) Navy (health): Stat. Rep. für 1859, S. 128. Erwähnt sei an dieser Stelle eine Fallbeschreibung, die zwar vor unserer Untersuchungszeit liegt, aber an sehr prominenter Stelle dokumentiert ist. Es handelt sich um den Schiffs-

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5.4.4 Unfallgefahr durch Alkoholmissbrauch Der schlagendste Beweis für die Gefährlichkeit des Rausches für den Seemann ist wohl die Möglichkeit, betrunken ins Meer zu fallen und zu ertrinken. Tatsächlich wird dies unter den Ertrinkens-Unfällen nicht selten berichtet. So heißt es im Bericht für 1859: »Eighteen men, namely fourteen blue-jackets and four marines, lost their lives by drowning; of these, ten fell over board into the sea, two fell out of boats while inebriated, two sank in deep water while bathing, and four were drowned in some way not mentioned.«106 Für zwei war es demnach offensichtlich, dass sie inebriated, also betrunken waren. Man kann sich vorstellen, dass auch unter den beiden Badenden, nicht unwahrscheinlich auch unter den vier not mentioned, den aus gewissen Gründen nicht erwähnten Ursachen, betrunkene Seeleute waren. Und vielleicht sogar unter den zehn bei der Arbeit oder in ihrer Freiwache über Bord Gefallenen. Fallbericht 9. Fall: Case 12 der Dido (1852) – »Fractura«107 Der Seesoldat Daniel I. der Dido hatte sich (im englischen Heimathafen Devon­ port) in der Nacht auf den 15.  November 1852 im Vollrausch so heftig gegen seine Kameraden gewehrt, dass er sich mehrere Blutergüsse zuzog. Sie hatten versucht, ihn auf das Hauptdeck des nachbarlichen Schiffes Argo und dann zuarzt der Bounty, jenes wegen der auf ihr erfolgten Meuterei mit nachträglicher gerichtlicher Verfolgung berühmten und vielfach untersuchten Schiffes aus den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts. In den Aufzeichnungen des Kapitänes William Bligh heißt es: »Der Schiffsarzt Dr. Huggin lag schon lange Zeit an einer Krankheit darnieder, die eine Folge seiner Unmäßigkeit und Trägheit war. Die letzte Zeit rührte er sich nicht aus seiner Kajüte, obgleich niemand vermutete, daß es sehr übel um ihn stehe. An diesem Abend schien er sich jedoch viel schlechter als sonst zu fühlen, so daß wir glaubten, ihn an einen luftigeren Ort bringen zu müssen. Diese Fürsorge war jedoch vergeblich, denn eine Stunde später verschied er. Der Unglückliche liebte den Trunk übermäßig und war jeder Bewegung so abgeneigt, daß man ihn während der ganzen Reise nie hatte bereden können, ein halbes Dutzend Mal hintereinander das Deck entlangzugehen.« Die Hinweise sind eindeutig: Mit »Unmäßigkeit« und der »übermäßigen Liebe zum Trunk« ist eine Alkoholabhängigkeit beschrieben. Auf physischer Seite könnte ein fortschreitendes Leberversagen abgelaufen sein, das seine Ursache neben möglichen weiteren Schädigungen der Leberzellen im Alkoholmissbrauch hatte. Die völlige Antriebslosigkeit, ja Apathie, könnte Ausdruck einer organischen affektiven Störung in Folge der Stoffwech­ selentgleisung gewesen sein. Zit. n.: Bligh, William; Homann, Hermann (Hrg ).: Meuterei auf der Bounty berichtet von Capt. William Bligh, Stuttgart 1983. 106 House of Commons 1862 (199) Navy (health): Stat. Rep. für 1859, S. 133. 107 Evans, Evan, HM Sloop Dido 12.9.1851–15.12.1852, TNA, ADM 101/96/4, lfd. Fallnr. 12.

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rück zu seinem eigenen Schiff zu bringen. Um sich schlagend wehrte er sich gegen jede Hilfe und stürzte dabei die von Deck zu Deck führende Leiter hinab. Dabei geschah die Beinfraktur. Durch seine Alkoholintoxikation ist er bei der ärztlichen Untersuchung, die schließlich an Bord der Dido vorgenommen wird, so exzitiert und uneinsichtig, dass keine Schienung des Bruches vorgenommen werden kann. Erst am darauffolgenden Morgen gelingt dies. Ausgeprägte Schwellung, Knochenreiben und Entzündungszeichen veranlassen den Arzt, den Patienten in das nahegelegene Stonehouse-Hospital zu überweisen. Ergänzungen Ähnlich gelagert ist ein Vorkommnis im Marinekrankenhaus von Hongkong, wo sich ein Marinesoldat der Rinaldo (31. Fall »Syphilis«) eine Sprungelenksverletzung zuzieht. Er sei »zu diesem Zeitpunkt nicht vollkommen nüchtern« gewesen. Mindestens einer der im Abschnitt über die Schädel-Hirn-Verletzungen dargestellten Fälle (8. Fall) ist als weitere Kasuistik im Sinne einer direkten Folge von Betrunkenheit zu sehen. Compression of the Brain ist die Diagnose nach dem tödlich ausgegangenen Sturz vom Ober- auf das Hauptdeck. Der 38-jährige Musiker der Bordkapelle war derart betrunken von seinem Landgang zurückgekehrt, dass er die Leiter hinabstürzte. Einen indirekten Hinweis finden wir bei dem ebenfalls tödlichen Sturz eines Matrosen aus der Takelage mit offener Schädelfraktur. (16. Fall) Zu diesem Unfall notiert der Schiffsarzt am Ende seines Berichtes eigens, dass »dieser Mann zum Zeitpunkt des Unfalles nüchtern« gewesen sei. Ein Unfalltod, der einen besonders typischen Zusammenhang mit Alkohol­ intoxikation darstellt und den auch die moderne Notfallmedizin kennt, ist von Bord der Blenheim für das Jahr 1842 beschrieben. Ein schwer betrunkener Seemann kommt nach seinem Landurlaub an Bord und wird in der Annahme, dass er sich ausschlafen will, nach unten in sein Quartier geschickt. Laut singend entfernt er sich. Eine halbe Stunde später wird er an Deck liegend tot aufgefunden. Es stellt sich heraus, dass ihm beim Erbrechen ein Stück unverdautes Fleisch so unglücklich vor die Luftröhre geraten war, dass er erstickte. Nach seinem Tod erfolgt eine sehr genaue Obduktion, da man zunächst Gift in dem von ihm während seines Urlaubs getrunkenen Schnaps vermutete. (»A seaman returned from leave of absence in a state of helpless intoxication; he was seen by Assistent Surgeon, but as he appeared only to require rest, he was sent below to his mess, were he commensed singing. Half an hour afterwards he was discovered lying on the deck quite dead. Supposing the liquor he had taken while on shore might have been poisoned, the body, on the following day, was carefully examined, when it was found, that in the act of inspiration the patient, while vomiting, had drawn

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into the rima glottidis a piece of half-masticated beef, where it remained fixed, and completely prevented the air passing into the lungs.«)108 Ein ähnlicher Fall ist zehn Jahre später von der Centaur berichtet: (»A man who had gone to his hammock in a state of intoxication was found dead in the morn­ ing, it is supposed from the impaction of some vomited matters in the larynx.« )109 Schließlich mag auch die verborgene Beschaffung von Alkoholika eine Unfallgefahr darstellen. So erfahren wir von einem tödlich endenden Vergiftungsfall im Jahre 1840 an Bord der Wellesley an der chinesischen Küste: (»One man belonging to the Wellesley appears to have been killed or poisoned by drinking at a draught about a quart of ardent spirits, which he procured surreptitiously when on shore on duty.«)110

5.4.5 Suizidalität bei Alkoholmissbrauch Suizidalität ist ein weiteres Moment des Alkoholmissbrauches. Verminderte Impuls­ kontrolle und unmittelbar damit zusammenhängende verminderte Handlungssteuerung ist eines der Hauptprobleme des Alkoholmissbrauches, oft auch schon des gar nicht so exzessiven Alkoholkonsums. Das Entzugsdelir kann, wie in den Fallberichten gezeigt, das Vollbild einer Psychose mit Sinnestäuschungen, Wahnvorstellungen und Todesängsten beinhalten. Diese wiederum können abrupte Suizidhandlungen auslösen.111 Im Abschnitt 5.6 »Debility, Suizidalität« ist bei drei von vier vollendeten Suiziden Alkoholmissbrauch als ein wesentliches Moment festgestellt. Fallberichte In den Statistical Reports, die aus den tausenden nach London gelangten Journalen zitieren, sind zu diesem Thema ausgesprochen kurz gehaltene, knappe Kommentare zu entdecken. Die Journale dieser Schiffe sind leider nicht erhalten. Ein erstes Beispiel findet sich in dem Report für 1842. Darin werden zwei Todesfälle 108 House of Commons 1853 (555) Navy (health): Stat. Rep. für 1837–43, S 54. 109 House of Commons 1865 (419) Navy (health): Stat. Rep. für 1862, S. 237. 110 House of Commons 1853 (555) Navy (health): Stat. Rep. für 1837–43, S 32. 111 Stuhldreier schildert als eines der wenigen in der medizingeschichtlichen Literatur belegten Beispiele eine suizidale Krise eines Matrosen der Modeste, ebenfalls eines NavySchiffes. Der Mann geriet in seinem Alkoholentzug in einen so massiven Angst- und Erregungszustand, dass er über Bord sprang. Er »glaubte, vor einem Kriegsgericht zu stehen und fürchtete, seine Kameraden brächten ihn um.« Da das Schiff ruhig im Hafen lag, konnte der Mann aus dem Wasser gezogen werden. Vom Schiffsarzt in das britische Militärhospital auf der Insel Korfu eingewiesen, kehrte er nach einer Woche zurück, um während der weiteren Reise ohne Zwischenfälle seinen Dienst zu tun. Stuhldreier, S. 129.

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unter sieben Fällen von Delirium tremens festgehalten und hinzugefügt: »Ein Offizier der North Star sprang über Bord, während er an dieser Krankheit litt, und ertrank.« (»But besides these, an officer belonging to the North Star jumped over board while suffering from this disease, and was drowned«)112 1856 ereignete sich ein ähnlicher Fall. Diesmal ist es eine suizidale Handlung auf der Sampson, die unter der Rubrik »Unfälle« notiert ist: »Zehn Mann ertranken durch Unfall, und einer, indem er in einem Anfall von Delirium in Suizidabsicht über Bord sprang.« (»There were ten men accidentally drowned, and one by suicidally jumping over board in a fit of delirium.«)113 Im selben Jahr kam es auf einem weiteren Schiff, der drittgrößten Fregatte der Station, der Nankin mit 420 Mann Besatzung und 50 Kanonen, zu der Meldung: »Zwei Fälle von Delirium tremens traten auf: Einer der beiden Patienten, der sich an Land betrunken hatte, versuchte, sich mit Durchschneiden seiner Kehle das Leben zu nehmen, fügte sich jedoch nur oberflächliche Verletzungen zu, die rasch heilten.« (»There were two cases of delirium tremens: one of these patients, who had been drinking on shore, attempted to commit suicide, by cutting his throat, but he only inflicted a superficial wound, which soon healed.«)114

5.4.6 Somatische Folgeschäden des Alkoholmissbrauches Die somatischen Folgeschäden der Alkoholabhängigkeit waren schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Blickfeld der Medizin, wie die frühen medizinischen und auch spezifisch schiffsmedizinischen Lehrbücher und Aufsätze von Trotter, Pearson, Sutton und Blake zeigen.115 Wir finden in den Medical Journals Beschreibungen von Dyspepsia, hinter der sich ein Magengeschwür verbergen konnte, und von allen Stadien der Lebererkrankung von der Fettleber bis zur Leberzirrhose mit Aszites (Bauch­ fellerguss), wie auch der akuten und chronischen Pankreatitis. Auch Polyneuro­ pathie (Nervenbahnschädigung), Demenz und Epilepsie werden beschrieben, jedoch nicht regelhaft und explizit in kausaler Verknüpfung mit der Alkoholkrankheit gesehen.

112 House of Commons 1853 (555) Navy (health): Stat. Rep. für 1837–43, S 54. 113 House of Commons 1858 (473) Navy (health): Stat. Rep. für 1856, S. 151. 114 Ebd., S. 148. 115 Trotter, Thomas: Medicina nautica, Erfurt 1798; Pearson, Samuel: Observations on the brain fever; delirium tremens, Medical and Surgical Journal 9 (1813), S. 326–332; Sutton, Thomas: Tractson on delirium tremens, on peritonitis and on some other inflammatory infections, and on gout, London 1818; Blake, Andrew: On delirium ebriositatis, Medical and Surgical Journal 14 (1823), S. 497–506.

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Fallberichte 10. Fall. Case 7 der Raleigh (1857) – »Ascites«116 Ausgeprägte Leberfunktionsstörung mit Aszites (freiem Wasser in der Bauchhöhle), Beinödemen und schwerer Allgemeinbeeinträchtigung wird vom 39-jährigen Kapitän Donald McD. berichtet. Diesen Befund erhebt Surgeon Crawford am 31. Januar 1857 auf See, wobei er die Leber nicht vergrößert findet. In der Anamnese fällt ein zehn Jahre zurückliegender »schwerer Anfall von rheumatischem Fieber« auf. Der Patient gesteht dem Arzt gegenüber ein, »dass er sich sehr an den Gebrauch von scharfen Spirituosen gewöhnt« habe. Er könne sich aber die aktuelle Erkrankung »in keiner Weise erklären.« (»Admits that he has been addicted to the use of ardent spirits. He cannot account in any way for this attack.«) Mit Digitalis- und Scilla-Tropfen wird herzkräftigend behandelt. Wie stets werden die verschiedensten Abführmaßnahmen versucht. Crawford hat aber offenbar auch die Suchterkrankung im Blick, wenn er ihm »Wein nach seinem Wunsch« erlaubt und vermerkt, dass der Patient »nach Grog verlangt«. (»Feb 11th. No change for the better. Omit the wine by his own desire … Feb 14th … Cannot take wine. Desires his Grog. Purgat.«). Am 16. Februar 1857 heißt es lakonisch: »Der Grog bekommt ihm nicht.« Mag sein, dass für den Schiffsarzt ein gewisser Stand der Hilflosigkeit erreicht war, es mag aber auch sein, dass er seinen Vorgesetzten mit dieser prekären Problematik ungern weiterbehandeln wollte. Sobald das Schiff die asiatische Küste erreicht, überweist er den Patienten in das Krankenhaus in Singapur. Dort soll er auf seinen Rücktransport nach England warten, mit »sehr wenig Hoffnung auf seine Genesung«. 11. Fall: Case 68 und 77 der Euryalus (1862) – »Cephalalgia«117 In diesem Fall eines 37-jährigen Bootsmannes von »sanguinisch-nervösem Temperament« ist Kopfschmerz das Leitsymptom. Er wird beschrieben als »intervallartig auftretender, stechender, wühlender Schmerz im Scheitelbereich.« Seit einer vor 14 Jahren erlittenen Kopfverletzung, durch die er seinem eigenen Bericht zufolge mehrere Wochen an das Bett gefesselt war, leidet der Seemann unter diesen Beschwerden, ferner unter Taubheit in beiden Armen und schließlich unter »anfallsartiger Nervosität und Deprimiertheit.« (»He has been subject to occasional fits of nervousness and mental depression ever since.«) Seit Jahren ist er Abstinenzler von stimulating drinks. Entzündungshemmende, stimulierende und sedierende Medikamente werden versucht, jedoch ohne Erfolg. Nach einem knappen Monat kommt er in das Hospital in Simon’s Town, wird aber zur großen Enttäuschung des Surgeon Lloyd Morgan in ähnlich schlechter Verfassung entlassen. Er nimmt ihn erneut 116 Crawford, J. J., HM Frigate Raleigh 4.9.1856–25.8.57, TNA, ADM 101/161, lfd. Fallnr. 7. 117 Morgan, David Lloyd, HM Frigate Euryalus 23.1.–31.12.1862, TNA, ADM 101/174, lfd. Fallnr. 68 und 77. (S. auch 6. Fall »Apoplexy, Cephalgia«.)

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auf die Krankenliste. Nun schreibt er sehr deutlich, der Patient leide mehr unter geistiger als unter körperlicher Zerrüttung. (»And now looked upon the patient as labouring more under mental derangement than under physical.«) Man habe an Therapie im Krankenhaus wohl nicht mehr als Erholung und Ruhe (»rest and quietude«) angewandt. Die Euryalus segelt nach ihrem Zwischenhalt am Kap der Guten Hoffnung inzwischen weiter über den Indischen Ozean. In Hongkong wird der Patient noch einmal in das dortige Hospital eingeliefert. Von hier aus wird er dann nicht mehr zurück auf die Euryalus, sondern auf die Princess Charlotte ausschließlich zum Dienst im Hafen beordert. 12. Fall: Case 30 der Princess Charlotte (1868) – »Dyspepsia e potu«118 Eine chronische Gastritis, hier als Dyspepsia  e potu, als »Magenstörung aus Trunksucht« wird bei dem 22-jährigen Assistant Paymaster, dem Zahlmeister der Princess Charlotte diagnostiziert. Der Offizier hatte wegen Magenbeschwerden drei Tage lang keine Nahrung mehr zu sich genommen, und deshalb trank er vermutlich auch keinen Alkohol mehr, mit der Folge dass sich alle typischen vegetativen Entzugszeichen entwickelten. Vom 3. bis 9. November 1868 versucht der Arzt eine Behandlung mit Rizinusöl, Kampfer, Opiumtinktur und Pflastern auf dem Oberbauch. Der Patient erhält auch Fleischbrühe und Wein als Zusatznahrung. Zittern, Schmerz und Berührempfindlichkeit über dem Magen, Verdauungsbeschwerden und Schlafstörung werden jedoch nicht besser. Unter der Annahme, dass die Grunderkrankung ein »offensichtlicher Missbrauch von Stimu­lantien« ist, überweist Surgeon Robert Nelson den Patienten in das Hospital in Hongkong. Ergänzungen Der Berichterstatter für den Statistical Report 1858 resümiert im Zusammenhang mit der Einnahme und Besetzung Kantons, es seien »viele direkte und indirekte Folgen dieses unwürdigen Lasters« zu bedenken, da der Alkoholmissbrauch eine große Anzahl klimatisch bedingter Krankheiten verschlimmerte. (»… the actual loss due to the effects of this debasing vice, for, either directly or indirectly, …«)119 Ein solches Beispiel könnte eine Notiz aus dem Jahre 1840 sein: Ein Matrose der Childers legte sich, als das Schiff auf Reede oder im Hafen von Bombay lag, an Deck schlafen. Alkoholrausch, nächtlicher Tau und grassierende Cholera 118 Nelson, Robert, HM Frigate Princess Charlotte 1.1.–31.12.1868, TNA, ADM 101/181, lfd. Fallnr. 30. 119 House of Commons 1861 (175) Navy (health): Stat. Rep. für 1858, S. 126–127.

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bewirkten zusammen eine tödlich verlaufende Erkrankung: (»One fatal case occurred in the Childers at Bombay; the attack was supposed to have been brought on by intemperance and exposure to the night-air about the 21st of April. The patient, in fact, after drinking freely, had slept on deck. The disease [die weiter oben besprochene Asiatic Cholera] was at the same time prevailing on shore, and amongst the seamen of the merchant shipping.«)120 Eine Komplikation des raschen Alkoholentzuges ist das Auftreten von epileptischen Anfällen. Sie sind in ihrer Auffälligkeit besonders zuverlässig zu diagnostizieren. In jeder Diagnose Epilepsy kann ein Hinweis auf Alkoholabhängigkeit mit aktueller Entzugsproblematik verborgen sein. Auf solche Überlegungen stoßen wir in zwei der elf Fallberichte des Abschnittes über Epilepsie. Diese Komplikation entsprang dem häufigen und intensiven Wechsel des Alkoholkonsumes in den Zeiten an Bord und an Land. Gegen eine allzu große Häufigkeit spricht allerdings das niedrige Alter der meisten Seeleute, mit denen wir es in unseren Quellen zu tun haben. Für einen entzugsbedingten epileptischen Anfall ist, nicht ohne Ausnahmen, eine gewisse Dauer des Alkohol­ konsumes vorauszusetzen. Auch mit Leberschädigungen müssen wir rechnen. Freilich bleibt die erste Phase dieser Folgeerkrankung, die Leberverfettung, klinisch meist unbemerkt, für den Ungeschulten praktisch symptomlos. Umso mehr aber werden die nächsten Folgeschäden Beschwerden verursacht haben: Die Leberzirrhose kann Appetit- und Verdauungsstörungen, neurologische Krankheitsbilder und schließlich auch psychische Störungen von Müdigkeit über Verstimmung bis zur Antriebs- und Energielosigkeit verursachen. Diesen Symptomen begegnen wir in den in allen Medical Journals häufig diagnostizierten Beschwerdebildern Dyspepsia, Cachexia und Debility.121

5.4.7 Alkoholabhängigkeit als psychische Abhängigkeitserkrankung Unter allen Aspekten der Alkoholproblematik wird in den Journals die Dy­ namik der eigentlichen somatopsychischen Abhängigkeitsentwicklung, das basale Konzept unseres heutigen Verständnisses, am wenigsten reflektiert. Aber es gibt durchaus Fallbeschreibungen, die den zentralen Vorgang der Abhängigkeitserkrankung darstellen. Es sind rein intuitive Schilderungen, die teils klare Position beziehen, teils vage bleiben. Nicht selten wird die Wahrnehmung einer Suchterkrankung durch eine andere, rein symptomatische, organische Diagnose überlagert und verdrängt. 120 House of Commons 1853 (555) Navy (health): Stat. Rep. für 1837–43, S 31. 121 Besonders berücksichtigt im Bericht für 1856: House of Commons 1858 (473) Navy (health): Stat. Rep. für 1856, S. 136.

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Fallberichte 13. Fall: Case 5 der Princess Charlotte (1868) – »Dyspepsia and Debility«122 Der 27-jährige Assistant Paymaster Mr. Edward D’I. gibt freimütig an, dass er viel getrunken habe. (»… has been drinking very freely of laté (chiefly of brandy).«) Dem Schiffsarzt erscheint er in sehr zittriger, wackeliger Verfassung, an der Grenze zum Delirium tremens. (»… and appears to be in a very nervous and »shakey« condition indeed bordering upon delirium tremens.«) Schon mehrfach habe er diese Symptome gezeigt, wenn auch noch nie so ausgeprägt. Er stellt Schwindel, Schwäche und Schlafstörung fest. Der Befund von Druckempfindlichkeit über dem Epigastrium (Rippenwinkel), symptomatisch für eine akute Gastritis, erlaubt in diesem Fall die Diagnose Dyspepsia and Debility, wie sie in dem Journal auch benutzt ist, verdeckt aber doch auch die Diagnose der Grunderkrankung, nämlich der Alkoholabhängigkeit. Nach Therapie mit Ammoniak, Morphium und Gallwein und deutlicher Besserung traut der Arzt seinem Patienten jedoch keine anhaltende Abstinenz zu, hat dieser doch seine eigene Kabine, in der er außer Beobachtung ist. Ferner heißt es in dem Bericht, man könne einem Offizier nun einmal »keine Diät etcetera« vorschreiben. Da der Arzt Grund zur Annahme eines bereits lange andauernden Alkoholmissbrauches hat (»the long continued abuse of stimulants«), wird der Offizier bezüglich seiner Dienstfähigkeit untersucht und invalidisiert. Vielleicht will der Schiffsarzt dem Offizier eine Brücke bauen, wenn er als offizielle Begründung der Überprüfung seiner Dienstfähigkeit angibt, der Patient könne sich auf dieser Station wohl nicht gut erholen und er werde auch unter dem herannahenden heißen Sommer sehr leiden. Noch zwei Monate bleibt er auf der Princess Charlotte als Invalide und ohne sich wesentlich weiter zu erholen, bis er am 26. April mit dem Truppentransporter Tamar nach England segelt. 14. Fall: Case 5 der Ruby (1880) – »Dyspepsia e potu«123 Dies ist eine recht eindeutige Beschreibung eines unkompliziert verlaufenden Alkoholentzugssyndromes. Der Schiffsarzt John Stone ist sich der langjährigen Alkoholabhängigkeit bei dem 46-jährigen Zimmermann der Ruby sicher, auch wenn dieser einen solchen Missbrauch verneint. (»Though patient denies having drank to excess, there can be no question of his condition having been brought about by too free indulgence in stimulants.«) In Behandlung kommt er am 14. Juli 1880 wegen Appetitverlust, Verstopfung und Schlafstörung. Er verspürt ein Zittern am ganzen Körper. Die vegetativen Zeichen verschwinden unter interner Behandlung innerhalb von sechs Tagen. Der Arzt setzt Bromsalz und eine Re-

122 Nelson, Robert, HM Frigate Princess Charlotte 1868, TNA, ADM 101/181, lfd. Fallnr. 5. 123 Stone, John N., HM Sloop Ruby 2.7.–31.12.1880, TNA, ADM 101/200, lfd. Fallnr. 5.

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zeptur aus Soda, Ammoniakgeist und Enzianaufguss ein. Als Diät bekommt der Patient »etwas Suppe mit einer reichlichen Portion Cayennepfeffer«. Nach neun Tagen kann der Arzt seinen Bericht abschließen mit der Feststellung, die Verfassung des Patienten habe sich kontinuierlich verbessert. Er habe seinen vollen Appetit und auch seinen gewohnten Schlaf wiedergefunden und der Tremor sei vollständig verschwunden. Am 22. Juli 1880 wird er, noch in Genesung befindlich, in den Dienst entlassen. 15. Fall: Case (ohne Numerierung) der Glasgow (1872) – »Delirium Tremens«124 Von einem Admiral’s Steward wird, ohne Altersangabe, lediglich berichtet, es handele sich um einen »leichten Fall von Delirium tremens«. Er ist nur für fünf Tage auf der Krankenliste, wird aber als so chronisch erkrankt eingeschätzt, dass er in Port Galle auf Ceylon den Dienst quittieren und auf einem der nächsten Schiffe nach England zurückreisen muss. Ergänzungen Über die beiden Fallbeispiele hinaus haben wir in den kritischen Bemerkungen etwa der »ungemäßigten Gewohnheiten« (»being much addicted to intemperate habits«) (8. Fall) oder des »Verlangens nach Grog« (10. Fall) Hinweise auf einen sensiblen Blick und die nötige Aufmerksamkeit der Schiffsärzte vor uns, damit sie eine Suchterkrankung in ihre Überlegungen einbeziehen konnten. Ebenso weist die Diagnose eines Deliriums »in an old Topor« (3. Fall), die Notiz »offensichtlichen Missbrauches von Stimulantien« (12. Fall), andererseits auch der Vermerk »jahrelanger totaler Abstinenz von Schnaps« (stimulating drinks) (11. Fall) auf eine eindeutige Einschätzung des Arztes hin. In einem Beispiel aus der großen Gruppe der Debility-Fälle (10. Fall) sind die Überlegungen des Schiffsarztes dokumentiert, ob eine Alkoholkrankheit in Frage kommen könnte. Die »sehr nervöse Verfassung« des Mannes und Anzeichen eines nahenden Entzugsdelires lassen ihn daran denken. Er verwirft aber diese Hypothese nach Befragung des Patienten. Da er ihn in das Hospital überweist, erfahren wir leider nichts über den Ausgang und die abschließende Diagnose.125 124 Loney, W., HM Sloop Glasgow 1872, TNA, ADM 101/186, ohne Fallnr. 125 Auch in einem Journal lange vor dem hier untersuchten Zeitraum, nämlich im noch in ganz freier Form geführten ärztlichen Tagebuch der La Virgine aus dem Jahre 1800 (Birkett, H. B., HM Ship La Virginie 1796–1799 (1800), TNA, ADM 101/126/1, ohne Fallnr.) konnte mehrfach die explizite Formulierung »an gelegentliches Trinken gewöhnt« ­(»addicted to occasional drunkeness«) und »an das Trinken gewöhnt« (»addicted to drinking«) gefunden werden. Von Symptomen, die an einen Alkoholmissbrauch denken lassen, werden dort »languor«, »universal debility« und »considerable thirst«, also Schläfrigkeit, allgemeine Schwäche und erheblicher Durst beschrieben. Surgeon Birkett beschreibt seine Patienten in diesem frühen Journal auch im Hinblick darauf, ob sie etwa ein Irishman oder Englishman

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Auswertung Von manifester Alkoholkrankheit betroffen waren alle Gruppen an Bord. Ihr Alter liegt zu gleichen Teilen im dritten, vierten und fünften Lebensjahrzehnt. Damit sind die Über-Vierzig-Jährigen in dieser Krankheitsgruppe gegenüber der Altersverteilung der gesamten Mannschaft überrepräsentiert. Zwei der angeführten fünfzehn Fälle sind Matrosen (ein Vollmatrose und ein Bootsmann), einer ist Schiffszimmermann. Fünf der Patienten, und damit auffällig viele, sind Zahlmeister (Paymaster), also jene Offiziere, deren Aufgabe es war, Gelder und Waren an Bord zu verwalten und zu verteilen. Zu diesen Waren zählten auch die Getränke, und unter diesen die alkoholhaltigen. Hier wird ein wichtiger Faktor des stofflichen Missbrauches erkennbar, nämlich der leichtere oder schwerere Zugang zum Suchtstoff. Ähnlich leichten, privilegierten Zugang hatten die Stewards, die dreimal betroffen sind. Drei weitere Betroffene sind Leutnants, einer im Rang eines Kapitäns. Ein Patient findet sich unter den Marinesoldaten. Aus der jeweils beschriebenen, akuten Krankheitsphase heraus wurden drei der 15 Männer invalidisiert. Zwei der Delirkranken verstarben innerhalb der jeweils kurzen Beobachtungszeit von wenigen Tagen. Vier wurden in Marinekrankenhäuser verlegt (in Auckland, Neuseeland, in Hongkong, zwei in Simon’s Town, Südafrika). Zu Beginn der regelmäßigen Aufzeichnungen wurde die Alkoholproblematik unterschiedslos als »Delirium« bezeichnet, etwa in der Formulierung: »Mental diseases: derangement of mind, from whatever cause, including the delirium of drunkards«.126 Während im ersten Sieben-Jahres-Bericht nur acht Fälle von Delirium tremens festgehalten und bei 13 000 Mann Besatzung »keiner an einer Krankheit, die vom Missbrauch von Schnaps herrührt«, gestorben ist,127 weist der Zeitraum 1837 bis 1843 38 Fälle in der East India Station auf, von denen zehn tödlich verliefen. Dies entspricht einer Inzidenz von 1,4 ‰ beziehungsweise 0,4 ‰.128 Im letzteren Bericht gibt es eine eigene Kategorie »Died from excessive drinking«.129 In den seit 1856 jährlich verfassten statistischen Berichten bleibt bis 1880 Delirium tremens eine eigenständige Diagnose, und stets sind besonders drastische Fälle und Todesopfer zu berichten.130 In den 1870er Jahren sind, und ob sie eine fair complexion oder eine dark complexion haben, was sowohl den HautTeint als auch die Gesinnung bedeuten kann; ferner, ob sie brown hair, black hair oder etwa light hair hatten. Die freiere Form erlaubte offenkundig eine freiere Wahl der Aspekte. 126 House of Commons 1841 (53) Navy (health): Stat. Rep. für 1830–36, S. 106. 127 Ebd., S. 111. 128 House of Commons 1853 (555) Navy (health): Stat. Rep. für 1837–43, S 84. 129 Ebd., S 85. Inzidenz: Messzahl für Erkrankungshäufigkeit. 130 Etwa im Bericht House of Commons 1861 (175) Navy (health): Stat. Rep. für 1858, S.  126. Friedel vermutet eine Zunahme der Alkoholproblematik in den Jahren der »Opiumkriege« und belegt dies mit 3,7 ‰ »an Delirium tremens Erkrankten gegenüber 1,3 ‰ im Durchschnitt«. Vgl.: Friedel, S. 156.

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gibt es eine Kategorie Poisons, teils für Bleivergiftung (By Lead), teils für das »Gift« Alkohol verwendet.131 Wie für die Häufigkeit ist auch für die Sterblichkeit Vorsicht geboten bei der Interpretation des »Delirium tremens«. Marjot, der eine Sterblichkeit von 5 % aller »Delir«-Fälle findet, geht von einem »Seemann jener Tage« aus, der einen »hohen, aber regulierten Konsum auf See« und »kurze Episoden schweren Trinkens« an Land hatte.132 Bereits in einer Arbeit eigens zur Alkoholproblematik an Bord konnte ich zeigen, dass erst mit kasuistischen vergleichenden Studien Licht hinter den unscharfen Begriff des »Delirium tremens« gebracht werden kann.133 Während in den Medical Journals keine explizite Diskussion über die Gründe der Alkoholkrankheit geführt wird, finden wir in den Statistical Reports Re­ flexionen über die Versuchungs- und Verführungssituationen der verschiedenen Mannschaftsteile. So heißt es in dem Bericht für 1858: »Es scheint, dass diese (acht) Männer sich in besorgniserregendem Ausmaß dem Gebrauch, oder eher dem Missbrauch des chinesischen Schnapses Samshu hingaben.« (»Of twelve deaths from delirium tremens, eight or two-thirds of the number occured amongst the marines at Canton. It appears that these men indulged to a fearful extent in the use, or rather in the abuse, of the Chinese liquor samshu.«)134 Der Berichterstatter weist auf die »großzügige Versorgung der Soldaten und Matrosen mit Schnaps durch die Chinesen, in guter oder böser Absicht« hin und fährt fort, es seien zwar Mannschaft und Offiziere dem gleichen, gesundheitsschädigenden Klima ausgesetzt, die Offiziere profitierten aber von ihrer besseren Verpflegung und hielten eher Abstand von den »giftigen Destillaten« der Chinesen. (»The officers, who were as much exposed to the ordinary climatic causes affecting health as the men, suffered but little in comparison, owing perhaps to their having a better diet, and to their abstaining from the poisonous distillations of the Chinese.«)135 Auch miasmatische Theorien, die spezifische Krankheitsstoffe in der Atmosphäre postulierten und klimatische Einflüsse wurden diskutiert.136

131 House of Commons 1874 (303) Navy (health): Stat. Rep. für 1873, S. 296. 132 Marjot, D. H.: Delirium Tremens in the Royal Navy and British Army in the 19th Century, J. Stud. Alc. 38 (1977), S. 1613–1623, Zitat auf S. 1618. 133 Reger, Karl-Heinz: Die Problematik des »Delirium tremens« an Bord von Schiffen – Ein Blick in die Geschichte, Suchttherapie 13 (2012), S. 40–45. 134 House of Commons 1861 (175) Navy (health): Stat. Rep. für 1858, S. 126. 135 Ebd., S. 114. 136 Friedel sieht im Klima überhaupt die »entscheidende Ursache«. Vgl.: Friedel, S. 156–157. Das Alkoholproblem an Bord blieb während des ganzen 20. Jahrhunderts ein großes Problem und ist es bis heute. Untersuchungen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts wie auch aus neuester Zeit zeigen hohe Raten von manifester Alkoholabhängigkeit und riskantem Alkoholmissbrauch. Zahlen aus der britischen Kriegsmarine, aber auch solche aus der französischen Handelsschifffahrt belegen dies, teilweise zu ergänzen um Drogenkonsum. Nach wie vor gilt:

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

5.5 »Mania«, »Insanity«, »Lunacy« – Der schizophrene Formenkreis Acht Fälle akuter psychotischer Symptomatik finden sich in den Journals der ostindisch-chinesischen Station. Weil die Fallzahlen für Mania so gering sind, soll eine Fallgeschichte der Home Station, nämlich eines Schiffes, das in Portsmouth lag, hinzugefügt werden. Fünfmal finden wir die Diagnose Mania, zweimal Insanity, zweimal wird ein psychotisches Zustandsbild nur mit dem Symptom des Kopfschmerzes als Headache beschrieben. Einmal heißt das Krankheitsbild Nervous Irritability and Aberrations of Intellect, und einmal kommt die Untersuchungskommission zur Diagnose »momentane Geisteskrankheit« (Temporary Insanity) bei einer Suizidhandlung.

5.5.1 Fallberichte 1. Fall: Case 43 der Victory (1853) – »Mania«137 Dieser Fall wird wegen seiner besonders interessanten Schilderung aufgenommen, auch wenn er sich nicht in der ostindischen Flotte, sondern in der HomeStation, also dem an den Küsten Englands eingesetzten Flottenteil ereignet hat. Ein erst 14-jähriger Auszubildender, über dessen Ausbildungsart nichts vermerkt ist, und über den es »bis zum Morgen des 24. Mai nichts Besonderes zu berichten gab«, fällt durch plötzliches, dann aber anhaltendes, lautes Schreien auf. Es setzt sich am nächsten Tag mit weiteren solchen »Anfällen« fort, die nun auch »mentale Verwirrung« (»mental aberration«) genannt werden. Abführmittel und Schmerzmittel werden gegeben, ohne erkennbare Wirkung. Der Junge wird in das Asylum, also die psychiatrische Abteilung des in unmittelbarer Nähe gelegenen Navy Hospital Haslar, eingeliefert. Eine Störung der Realitäts-

Konsumiert wird häufiger und intensiver an Land als an Bord und häufiger in den freien als in den Dienstschichten. Vgl.: Otterland; Henderson, Arthur; Langston, Victoria; Greenberg, Neil: Alcohol misuse in the Royal Navy, Occup. Med. 59 (2009), S. 25–31; Fort, E.; Massardier-Pilonchéry, A.; Bergeret, A.: Alcohol and nicotine dependence in French seafarers, Internat. Marit. Health 60 (2009), S. 18–28; Wodarg, Wolfgang: Psychische Krankheiten der Seeleute, Rehburg-Loccum 1979. Fort, E.; Massardier-Pilonchéry, A.; Bergeret, A.: Psychoactive substances consumption in French fishermen and merchant seamen, Internat. Arch. Occup. Environ. Health 83 (2010), S. 497–509; dieselben: Alcohol and nicotine dependence in French seafarers, Internat. Marit. Health 60 (2009), S. 18–28. 137 Guland, William, HM Ship of the Line Victory 1.1.–20.7.1853, TNA, ADM 101/125/2, lfd. Fallnr. 43.

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anpassung von psychotischer Qualität ist rein phänomenologisch festzustellen. Vermutet werden kann ein massiver Angstzustand, dessen Hintergrund allerdings unklar bleibt. Case 43: Mania James C., Aet 14. School Apprentice, was taken ill on the 24th of May, and on the 26th sent to Haslar Asylum. Nothing very particular had been remarked about this Boy till the morning the 24th of May when he was seized with a violent fit of crying, without an adequate cause and offered no reason soon[?] a dislike to join the Roller Tender. On the following day the fits of crying returned with decided mental aberration. Active purgatives were administered followed up by Anodynes but no improvement taking place he was sent to the Asylum.

2. Fall: Case 15 der Nankin (1857)  – »Nervous Irritability and Aberrations of Intellect«138 Ein 42-jähriger Master hatte im Dezember 1856 und im Januar 1857 zwei Attacken von Delirium tremens, die letztere verbunden mit »monomanischen religiösen Phantasien«. Rückblickend wird dem Schiffsarzt sein seit der zweiten Attacke auffällig »nervöses und gereiztes Verhalten« deutlich. Im März 1857, die mit 44 Kanonen bewaffnete, 185 Fuß lange Nankin liegt im Hafen von Hongkong, bricht bei jenem Master nach einer Woche ohne Schlaf eine hoch­ psychotische Symptomatik aus: Der Master, ein Besatzungsmitglied im Offiziersrang, schickt seine Kameraden gebieterisch in ihre Kajüten, damit sie dort ihre Sünden bereuten, und kniet sich seinerseits in der Offiziersmesse in Gebetshaltung hin. Er ist überzeugt, vom Himmel gesandt worden zu sein, um Sünder zu retten. Noch am selben Tag wird er vom hinzugerufenen Inspector (vermutlich dem Flottenarzt des chinesischen Kommandos) untersucht und nach Begutachtung schon am nächsten Tag, dem 17. März 1857, invalidisiert. Im Anschluss und unter genauer Beobachtung gibt er zwar immer wieder beleidigende Äußerungen von sich, ist ansonsten jedoch »harmlos«. Irgendeine Medizin einzunehmen, verweigert er strikt. Schon am 19. März 1857, also nach zwei Tagen, wird er an Bord der Imperator gebracht, auf der er zurück nach England segelt. Surgeon Telfer vermerkt, der Offizier sei viele Jahre ein »Lebemann« gewesen, habe seit der Krise im Januar sehr freizügig Bier getrunken und sei ein »äußerst hartnäckiger Raucher«. Von diesem aufsehenerregenden Fall ist im Logbuch vom 17.  bis 19.  März 1857 nichts notiert. An diesen Tagen wurden an Bord vielerlei Reparatur­ arbeiten durchgeführt: Die Zimmerleute, die Schwarzschmiede, die Segel­

138 Sommerville, T., Telfer, William, HM Frigate Nankin 1.  Teil, 1.10.1856–22.9.1857, TNA, ADM 101/162, lfd. Fallnr. 15.

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macher waren zugange. Wasser wurde an Bord genommen und die Vorräte mit 900 Pfund Frischfleisch und 450 Pfund Gemüse aufgefüllt.139 Case 15: Nervous Irritability and Aberrations of Intellect Mr. David H. W., æt 42 Master 17th March. Hong Kong This gentleman had an attack of Delirium Tremens in December 1856, and again in January of this year. The latter was a severe one, and attended with considerable nervous excitement and monomaniacal religious fancies. For some time past he has been much depressed in spirits and latterly he has become nervous and irritable in his manner, and he complains that he has not slept for several nights. Yesterday morning he suddenly became highly excited, ordering his messmates in an imperious manner to return to their cabins and beg pardon of God for their sins, and occasionally kneeling in an attitude of prayer in the ward room. I called in the Inspector who recommended his being brought forward for survey, and he was invalided today. He is still in an excited state, at times rational enough, but more generally ordering and exhorting his messmates to repent of their sins, on those occasions he is peculiarly devout, and he labours under the impression that he is sent by Heaven to save sinners. He has been a hard liver for many years and since his attack in January last has indulged very freely in Beer, he eats largely and is a most inveterate smoker. His appetite and general health are good, the pulse is of good volume, bowels regular, face and hands covered with perspirations; there is also slight tremor of his hands. He has obstinately refused to take any medicine, and nothing has been done beyond watching him closely. He is perfectly harmless altho at times very abusive. Invalided 17th march. He is discharged today 19th into the »Imperator« for passage to England.

3. Fall: Case 34 der Nankin (1857) – »Mania«140 Mr. William Telfer, Surgeon an Bord der Nankin, liefert eine weitere sehr anschauliche Beschreibung eines akut psychotischen Bildes. Ende 1857 liegt die Nankin im Fluss Kanton, an der südchinesischen Küste nahe Hongkong. Der 45-jährige Koch des Kapitäns, Laurence P., ein Mann »von gesunder Gesichtsfarbe« sei bisher geistig und körperlich gesund gewesen. Am Vormittag des 21. Dezember beginnt er plötzlich, unzusammenhängend zu reden und verzweifelt über das Schiff zu klagen (oder zu trauern). Weil er sich »mit einer Gabel in der Hand auf dem Achterdeck zu schaffen machte«, wird er eingesperrt und eine Wache für ihn aufgestellt. (Anzunehmen ist, dass es sich bei der Gabel um eine große Fleischgabel handelte, mit der ein Koch zu hantieren hatte.) Dadurch beruhigt er sich einerseits, andererseits zeigt er »exzentrisches Verhalten«, indem er sich auf Hände und Füße fallen lässt, sich selbst Jesus Christus 139 Ships’ Logs, Log of HM Ship Nankin 1856–57, TNA, ADM 53/6194. 140 Telfer, William, HM Frigate Nankin 2. Teil, 23.9.1857–31.12.1857, TNA, ADM 101/162, lfd. Fallnr. 34.

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nennt und von sich sagt, er sei blind. Er wechselt zwischen »Schimpfen und Fluchen« und »inbrünstigem Beten«. Im Weiteren wird er aggressiv gespannt und gewalttätig, weswegen ihm in der folgenden Nacht die Hände auf dem Rücken zusammengebunden werden. Da der Schiffsarzt außer der üblichen Thera­pie in Form eines abführenden Medikamentes keine Behandlungsmöglichkeit an Bord sieht, verlegt er den Patienten auf das Hospitalschiff Hercules im Hafen von Hongkong. In den Schlusstabellen des Medical Journals ist der Fall unter der Diagnose Mania mit Datum verzeichnet. Im Logbuch findet sich jedoch keine Aufzeichnung.141 Der Verlauf war kurz und der Schiffsarzt handelte schnell genug, um größere Komplikationen an Bord zu verhindern. Case 34: Mania Laurence P. æt 45, Capts. Cook. 21st December Canton River. 23rd December to Hospital. A man of colour, having previously been apparently in a sound state of mind, and in the enjoyments of good health. Symptoms of aberration of mind suddenly shewed themselves yesterday forenoon by his talking incoherently, mourning frantically about the ship and working on the quarter deck with a fork in his hand, for which he had to be put under restraint with a sentry over him. After this he became quieter, but maniacal symptoms still shew themselves by various excentricities, such as jumping about on his hands and knees, calling himself Jesus Christ saying he is blind &cc; then cursing and swearing and then again praying fervently. He is very violent and last night his arms had to be secured behind his back; as his bowels were confined he had a smart cathartic which operated freely. There being no accommodation for him on board I have deemed it expedient to send him to the »Hercules« at Hong Kong. [Aus der Sick List H. M. S. Nankin China Station 1857:] Dec. 21st Laurence Peters aged 45 – Capt. Cook – Mania – Dec. 23rd – HMS Hercules

4. Fall: Case 16 des Hospitals der Forts in Canton River (1857) – »Mania«142 Wir erfahren von einem 22-jährigen Royal Marine, der an Bord der Adeliade auf der Fahrt von Sydney nach Hongkong auffällig wird und mit der Diagnose Mania am 7. Dezember 1857 in das im Fort befindliche Hospital eingeliefert wird. Sein Verhalten dort wird als »unanständig« bezeichnet. Er zerreißt seine Kleidung und scheint über sorgenvollen Gedanken über die Insel (auf der das Fort liegt) zu brüten. Er führt Selbstgespräche und läuft wiederholt weg, »als ob er sich einbildet, von etwas verfolgt zu werden«. Sicher im Wahnerleben, verfolgt und bedroht zu sein, kommt es am 1. Januar so weit, dass er sich ein Gewehr besorgt und es »in Richtung seines Vorgesetzten und auch in Richtung der Unter 141 Ships’ Logs, Log of HM Ship Nankin 1856–57, TNA, ADM 53/6194. 142 Piercy, Frederick, HM Forts in Canton River, 1.10.1857–16.8.1858, TNA, ADM 101/165, lfd. Fallnr. 16.

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kunft des Surgeons« abfeuert. Zweifellos eine lebensbedrohliche Situation, die aber ohne Blutvergießen bleibt. Am 18. Januar 1858 wird er auf die Calcutta und dann für den Heimtransport nach England auf die Sybille gebracht. Case 16: Mania Luke O., æt 22, RM, was sent from the Adeliade on the 7th of Dec. 1857 with Mania, General health good. If spoken with the answers are rational. His habits are dirty and he tears his clothes, and wanders about the island. Talking to himself and at times runs as if he fancied something were following him. On the 1st of January he seized a rifle and discharged it in the direction of Lieut. Willkinson and my quarters. His appetite is good and he sleeps well during the night. He was discharged to the Calcutta on the 18th of January/58 for passage to England by the Sybille.

5. Fall: Case 2 der Pylades (1858) – »Cephalalgia« und »Chronic Irritation of the Brain«143 Eine eindeutig beschriebene Psychose wird in den Tabellen der Pylades als­ Cephalalgia geführt, womit ein einzelnes, hervorstechendes Symptom zur Bezeichnung des ganzen Falles dient. In der Verlaufsbeschreibung und im Bericht für die Invalidisierungs-Kommission spricht Surgeon Dr. Caddy zeittypisch von einer »chronischen Irritation des Gehirns«. Der psychopathologischen Symptomatik geht ein Unfall voraus. Im November 1857 erleidet der Steuermann (Coxswain) Thomas H. eine Quetschung des linken Kniegelenkes, indem sein Bein durch eine zurückschlagende Kanone gegen die Schiffswand gepresst wird. Es kommt innerhalb der nächsten vier Wochen zur Wiederherstellung bis auf muskuläre Schwäche des linken Beines (nach langer Immobilisierung) und Beugehemmung des linken Kniegelenkes. Am 7. Februar 1858 stellt sich der 26-jährige Seemann dem Surgeon wegen heftigen, anfallsweisen Kopfschmerzen vor. Er klagt auch über Appetit- und Schlaflosigkeit und »schwimmende, fließende Empfindungen über der Stirn« und »gelegentliche Geräusche in den Ohren«, die zunächst noch nicht als Halluzination und Wahnerleben interpretiert werden. (»He had also  a swimming sensation across his forehead, with occasional noise in his ears and at times observed black spots resembling strings of beads (Museae Volitantes) floating before his eyes.«) »Vor den Augen schwimmende schwarze Punkte, ähnlich einer Perlenkette« werden mit dem häufiger auftauchenden Terminus Museae Volitantes versehen.144 Dem Schiffsarzt erscheint er »wild und verstört«, dem Pfleger der Krankenstation erzählt er von den »Sorgen der Welt«, die in nicht allzu ferner Zukunft zugrunde gehen werde. (»His appearance soon became very wild and his mind 143 Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 1. Teil, 25.2.–31.12.1858, TNA, ADM 101/167, lfd. Fallnr. 2. 144 Zur Erläuterung siehe Anm. 6 zum 4. Fall »Apoplexy«.

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troubled. On several occasions he talked much to the Sick berth attendant about the troubles of this world, and its coming to an end at no remote period.«) Sehr beeinträchtigt ihn sein Gefühl, »von allen angestarrt zu werden«. (»He tells me, he feels very miserable, that every one stares at him.«) Bislang war er ein »umgänglicher, freundlicher Mann, verheiratet, von gutem Charakter«. (»The man’s manner is retiring who had hitherto been communicative and cheerful. He is a married man and his character is very good.«) Dr. Caddy versucht an medikamentöser Therapie den Einsatz von »Calocynth, Antimonio Potassio Tartrate of antimony with tincture of hyoscyamus and aromatics spirits of ammonia« zweimal täglich. Wie fast stets, wird auch reichlich Abführmittel (Blue Pill) verabreicht und die ganze Therapie über längere Zeit fortgesetzt. (»These medicines were continued for some time.«) Der Arzt fragt sich, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Unfall vom vergangenen November und dem psychischen Geschehen gibt, verwirft aber eine solche ursächliche Verbindung. Er diagnos­ tiziert eine Chronic Irritation of the Brain und leitet eine Untersuchung zur Invalidisierung ein, die am 8. März 1858 ausgesprochen wird. Der Seemann wird nach England gebracht. Im Logbuch der Pylades findet sich keine Eintragung zu dem doch sehr auffälligen Verhalten des Steuermannes. Er war vermutlich außerhalb des Schiffslazaretts nicht besonders in Erscheinung getreten.145 6. Fall: Case (ohne Nummerierung) der Acorn (1860) – »Managed to throw himself out of the quarterport«146 Ganz offen bleibt die diagnostische Einordnung eines suizidalen Geschehens, das einerseits als vollendeter Suizid in die Dokumente des Schiffes Acorn von 1860 einging (42. Fall »Debility«), andererseits von der Untersuchungskommission als »momentane Geisteskrankheit« interpretiert wurde. Diese wurde wiederum mit Alkoholkrankheit in Verbindung gebracht. (»Temporary Insanity the result of intoxication …«) Nicht ausgeschlossen ist in der Tat ein akut psychotisches Geschehen, das den 25-jährigen Marinesoldaten in den Tod trieb. Es sind allerdings keine symptomatologischen Beobachtungen festgehalten, mit denen diese Annahme überprüft werden könnte. So bleibt die Annahme einer rein psychoreaktiven Verzweiflungstat genauso wahrscheinlich. Diesen tragischen Tod durch Ertrinken, (deshalb ist dieser Bericht auch als 8. Fall der »Unfälle durch Ertrinken« aufgezählt), berichtet Surgeon William E. O’Brien nicht unter den Cases, den Verlaufsbeschreibungen, vielmehr nur im allgemeinen Berichtsteil seines Journals. Es könnte ihm schwergefallen sein, einen Tod durch

145 Ships’ Logs, Log of HM Steam Vessel Pylades 1857–58, TNA, ADM 53/6882. 146 O’Brien, William E., HM Sloop Acorn 2. Teil, 1.1.–31.12.1860, TNA, ADM 101/171, General Remarks.

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Suizid und gleichzeitig einen hochproblematischen Kontext darstellen zu müssen. Vorgefallen war Folgendes: Der 25-jährige Marinesoldat George C. war wegen Diebstahls zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Am 7. Oktober 1860 wurde er »in Eisen gelegt«. Die darauffolgende Nacht sollte er in einer Art Zelle verbringen. Diese war an Deck aus Segeltuch gebildet worden, eine oft ausgeführte und in den Statuten vorgesehene Art des Freiheitsentzuges. Der Betroffene »schaffte es jedoch, durch die Heckluke über Bord zu springen«, wörtlich, »sich in die See zu werfen«. Er ertrinkt. Zwei Tage später taucht seine Leiche auf. Eine Untersuchungskommission konstatiert daraufhin im Bericht an die Admiralität, dass »zeitweise Geisteskrankheit als Folge einer Vergiftung« vorgelegen habe. Die Adressaten des Berichtes in der Admiralität werden unter »Vergiftung« (intoxication) sehr wahrscheinlich eine Alkoholintoxikation verstanden haben. Case [ohne Nummerierung] in den General Remarks: Managed to throw himself out of the quarterport. Two deaths have occurred on board during the year. The first the result of Poison, the particulars of which are detailed in the Journal No. 3. The Second Case was one of Suicide under the following circumstances. George C., aged 25. A Private in the Royal Marines, was placed in Irons on the 7th of October on a charge of theft. During the night he was kept under a screen on the Quarter deck, and managed to throw himself out of the quarterport. His body was recovered two days after and an inquest held, when a Verdict of Temporary Insanity the result of intoxication was returned. [Vermerk in]: The daily Sick List: 7 – George C. – 25 – Marine – Drowned – Oct 7th

7. Fall: Case 4 der Nimble (1872) – »Mania«147 Einer besonderen Situation begegnen wir in der folgenden Darstellung eines Falles von Mania, denn der Betroffene ist der kommandierende Kapitän, also der höchste Befehlshaber an Bord. Entsprechend ausführlich und genau schildert Assistant Surgeon Murray denn auch die Krankengeschichte des 34-jährigen Kommandeurs mit einem deutlich abgrenzbaren Prodromalstadium und einer hochakuten Psychose. Commander Mac D. war Ende März 1872 aus England im Arabischen Golf angekommen und hatte am 1.  April das Kommando an Bord der Nimble zu übernehmen. Eine seiner ersten Anweisungen ist die an alle Besatzungsmitglieder gerichtete Aufforderung, die er in merkwürdiger Haltung, mit zum Himmel gestreckten Händen gibt, ihm jegliche Beschwerden mitzuteilen. Er wolle 147 Murray, George B., HM Sloop Nimble 2. Teil, 1.1.–31.12.1872, TNA, ADM 101/184/1B, lfd. Fallnr. 4. Dieser Case 4 umfasst zu viele Seiten, als dass das Transkript in Gänze abgedruckt werden kann. Einige Auszüge sollen den Sprachduktus des engagierten, vermutlich recht jungen Surgeon wiedergeben.

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das Schiff glücklich sehen, er merke, dass »irgendwo eine Schraube locker« sei, die Leute würden ihm »so trostlos« erscheinen. (»Shortly after this he turned the hands up and said he noticed there was a screw loose somewhere (to use his own expression) anyone appeared so gloomy. He said he wished to see the ship happy and comfortable and if anyone had any grievances to make he would give them an opportunity of making them known to him next day.«) Danach geschieht zunächst nichts weiter Auffälliges. Mit der Ankunft der Lynx aus England, die Proviant zur Nimble bringen soll, beginnt Mitte Mai jedoch ein dramatisches Geschehen. Der Kommandeur kommt von einem Besuch auf der Lynx erregt zurück. Er hat dort die Annahme der für sein Schiff vorgesehenen Fracht abgelehnt. Es entwickelt sich ein maniformes Bild voller gereizter Spannung, Antriebssteigerung und Schlaflosigkeit. Die paranoide Idee, das Schiff kampfbereit halten zu müssen, lässt ihn die Mannschaft der extremen Hitze vor Bahrain aussetzen, trotz aller Warnungen des Schiffsarztes. (»Slept none all night and in the morning was excited and his conduct peculiar. He ordered everything to be got ready for sea. The men were kept working aloft, …«) (Im Abschnitt über Hitzschläge finden sich mehrere Fälle wieder, die aus dieser Situation an Bord der Nimble resultieren.) Als er am 16. Mai seinen Revolver, der allerdings nicht geladen ist, auf den Kopf eines Offizieres der Lynx, der an Bord gekommen war, richtet, wird er auf Befehl des Kommandeurs der Lynx unter Arrest gesetzt. In seinen Kapitänsräumen, dort ist er arrestiert, »wandert er herum, in absurdester und wildester Weise brüllend und gestikulierend, bedrohliche Reden führend«. Assis­ tant Surgeon George Murray versucht, mit beruhigenden Geprächen auf ihn einzuwirken und gleichzeitig Anlässe für neue Ausbrüche von ihm fernzuhalten. (»I deemed it my duty to visit him with a view to try and pacify him and if possible withdraw his mind from the subject of disputes and his irritating situa­ tion. I found him pacing his cabin, gesticulating and nociferating in  a most ridiculous and boisterous manner, using many threatening language. Had a wild excited look, eyes staring and bright, …«) In den nächsten Tagen entwickelt der Patient die Wahnidee, Gottes Sohn zu sein, der den Lauf der Sonne anhalten könne, wenn der Schiffsarzt dies nur wünsche. (»Conversed rationally with me for a time but soon began to wander and talk disconnectedly among other delu­ sions, asking me if I should like to see the sun stand still he having the power being the Son of God.«) Religiöser Wahn zeigt sich auch im andauernden Sprechen und Singen von Psalmen und Hymnen. Die nächsten drei Tage bringen etwas Änderung, sehr wahrscheinlich unter dem Einfluss von Morphium und Chloral, beides mit der Absicht sedierender Wirkung eingesetzt. (»Gave Sol Morph Hydrocl 65 minims.… Gave Syrup Chloral 3 drachms.«) Er kann an Deck gehen, um aus der unerträglichen Hitze seiner Kabine zu kommen. Sein Bett wird nach oben gebracht und ein Sonnensegel aufgespannt. Plötzliche zerstörerische Wutaus-

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brüche, im Wechsel mit Nahrungsverweigerung und Erschöpfungszuständen lassen den Arzt um das Leben seines Patienten fürchten. (»Sept 17th. Slept none, spent the night wildly talking and pacing his cabin, rushed on deck and ordered the Boatswains Mate to clear for action … he again became very noisy, manner excited and exceedingly mischievous tearing down and destroying whatever came in his way. Still refused food. … at times singing Psalms and Hymns alternately with Songs.«) Die beiden eingesetzten Medikamente, Morphium und Chloraldurat, vermögen zwar etwas Entspannung und Schlaf zu erzeugen, zeigen sich aber, wie nicht anders zu erwarten, gegen die spezifisch psychotische Symptomatik als unwirksam. (Erst 100 Jahre später werden wirksame Substanzen entdeckt.) Die Situation an Bord bleibt dadurch prekär, dass der Kommandant einerseits offensichtlich nicht Herr seiner Entscheidungen und Handlungen ist, er andererseits bis zu seiner regulären Invalidisierung das Kommando innehat. Es muss also vermieden werden, dass er Befehle gibt, deren Befolgung fatal, deren Verweigerung aber höchst schwierig gewesen wäre. Gefährlich ist die Situation mit dem hochpsychotischen Kapitän nicht nur deshalb, sondern auch durch seinen nach wie vor möglichen Umgang mit seinem Dienstrevolver, und auch zum Beispiel mit einem Messer, das er für sein Dinner benutzt. Man möchte und kann ihm diese Gegenstände nicht wegnehmen. Der Arzt scheint ihn indirekt sehr gut lenken zu können. Er bespricht sich hierfür immer wieder mit den anderen Offizieren an Bord. In diesem Fallbericht wird explizit, dass mindestens zwei Schiffsärzte notwendig waren, um einen Ausschuss (Board) zu bilden, der die dauernde Dienstunfähigkeit eines Besatzungsmitgliedes feststellen und damit seine Invalidisierung begründen konnte. Auf dem in der Nähe befindlichen Schiff Lynx befand sich aus irgendeinem Grund kein Surgeon. So musste die Nimble mit ihrem psychisch kranken Kommandeur erst nach Muscat fahren, wo die Briton lag. Sie hatte einen Arzt an Bord, nun konnte ein Board gebildet werden. Am 8. Juni 1872 wurde Commander Mac D. außer Dienst gesetzt, »zum Schutze seines Lebens«, (»for the preservation of his life«), wie es im Protokoll heißt. Bevor er in Muscat auf ein Dampfschiff zur Rückreise nach England gebracht werden kann, muss er noch zwölf Tage an Bord zubringen. In dieser Zeit geht das Chloral zur Neige. Erneute Schlafstörung ist die Folge »dieses Entzuges von Chloral«, wie der Arzt feststellt. Am Ende ist er glücklicherweise »noch sehr gesprächig, aber nicht mehr laut, schläft besser und nimmt wieder Essen zu sich.« Resümierend geht Surgeon Murray von einer »Prädisposition zur Geisteskrankheit« aus. Der Kapitän sei während seines früheren Dienstes bei den westindischen Inseln sehr krank gewesen und auch im Haslar Hospital wegen Vertigo behandelt worden. Der Disput mit dem Kommandeur der Lynx habe bei seinem »hochgradig neurotischen Temperament und seiner geschwächten Konstitution« die Krankheit ausgelöst. Von allen, die seine Familie kannten, sei aber

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»kein erhärtender Beweis« für die von ihm vermutete Prädisposition zu erhalten gewesen. (»I believe the exciting Causes of this attack were the excitment and irritation, produced by the dispute with Commander Keats operating upon a person of a highly neurotic temperament and a constitution debilitated by previous disease. … Probably there may have been a predisposition to insanity, but from people, who know his family no corroborative testimony can be obtained.«) Dieses herausragende Ereignis ist erwartungsgemäß im Logbuch der Nimble wiederzufinden. Das ganze Geschehen betrifft zwei Bände des Ship’s Log, deren erster für die Zeit vom 26.10.1870 bis zum 7.4.1872 auf dem letzten Blatt noch mit »S. Mac D. Commander« unterzeichnet ist und deren zweiter ebenfalls noch mit seinem Namen als »Commanded by:…« beginnt. Noch am 15. Mai ist ein langer Signalwechsel (vermutlich mit Hilfe von Flaggensignalen) zwischen dem eigenen Schiff und der in Bahrain angekommenen Lynx notiert, die Übergabe von Proviant betreffend. Erst mit dem 16. Mai, dem Tag, an dem der Kapitän auf die Krankenliste genommen wird, beginnen die ihn betreffenden Notizen. Am Morgen des 16. Mai ist erstmals festgehalten, dass der Kommandeur unter Arrest gesetzt wird, und zwar unter Ausführung eines Befehles des Kommandeurs der Lynx, Kapitän Keats. Befehlshabender Offizier an Bord der Nimble ist jetzt Leutnant Lang. Die Lynx sticht in See. Am Abend desselben Tages gibt der seiner Befehlsgewalt enthobene Commander zwar noch einen Einsatzbefehl für das Achterdeck, dieser wird aber offenbar nicht ausgeführt. Vielmehr wird er selbst in seine Kabine befohlen. Nur nach sehr deutlichem Druck durch die Wache begibt er sich auch dorthin. Am nächsten Tag wird ihm erlaubt, auf der Steuerbordseite des Achterdecks umherzugehen, »wenn er dies wünscht«. Die nächste Eintragung im Logbuch, diese akute Erkrankung betreffend, ist die Ankunft der Briton. Die Nimble macht längsseits an dem Schiff fest. Auf der Briton wird die Untersuchung durchgeführt, deren Ergebnis die Invalidisierung von Kapitän Mac D. ist. Am 20. Juni wird er auf den Postdampfer Cashmere gebracht, unmittelbar nach dessen Ankunft in Bahrain. Noch am selben Tag geht das Dampfschiff ab mit Kurs England.148 8. Fall: Case 13 der Thetis (1873) – »Headache (Insanity)«149 Unter der Diagnose Headache (Insanity) findet sich die eindrucksvolle Schilderung einer hochakut beginnenden paranoid-halluzinatorischen Psychose bei einem 18-jährigen Schiffsjungen. Er war Anfang Mai 1873 eine Woche lang wegen »Hitzefieber« (Heat Fever) in Behandlung, das er sich durch sehr starke Sonneneinstrahlung während eines Landganges auf Malta zugezogen hatte. Wegen 148 Ships’ Logs, Log of HM Ship Nimble 26.10.1870–7.4.1872, TNA, ADM 53/10212. Log of HM Ship Nimble 8.4.1872–18.8.1873, TNA, ADM 53/10213. 149 Magill, Martin, HM Screw Corvette Thetis 1.2.–31.12.1873, TNA, ADM 101/190, lfd. Fallnr. 13.

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Schwindelgefühls stieg er seither nicht mehr in die Takelage. Am 14. Juni, wenige Tage vor Erreichen des Hafens Point de Galle auf Ceylon klagt er »wegen der drückenden Hitze an Bord« über Kopfschmerzen. Als er am 23. Juni auf die Krankenstation gebracht wird, trifft der Schiffsarzt auf einen laut schreienden und weinenden Patienten, der sich die Hände vor die Augen hält, um den »toten, blutüberströmten Körper seines Vaters« nicht mehr sehen zu müssen. Diese akute Phase mit »cerebraler Stauung« klingt unter Behandlung mit kaltem Wasser und Verabreichung von Kaliumbromid rasch ab, der Junge bleibt aber für seine Vorgesetzten und Kameraden in seinem Verhalten auffällig und »in einem gewissen Grade verrückt« (»in a certain degree cracked«). Er wird als »für seine Worte und Handlungen« kaum zurechnungsfähig eingeschätzt. Sein Vater habe sich »by cutting his own throat« das Leben genommen, und »oft hat er sich in einer Weise geäußert, als ob er für sich dasselbe plane«. Mehrmals war er dabei beobachtet worden, wie er mit dem Befestigungsstrick seiner Hängematte hantierte, wie wenn er sich daran erhängen wollte. Eines Abends schließlich wird er aufgefunden, »ein Tau um seinen Hals gebunden und so fest zugezogen wie er nur konnte«. Schnittverletzungen am Hals werden entdeckt, nach Einschätzung des Arztes vom Patienten selbst zugefügt. Die ganze Nacht verharrt er in einem vollkommen »trüben, düsteren Zustand«, jede Kommunikation verweigernd. Nur mit einem Zucken reagiert er, wenn »kaltes Wasser in sein Gesicht geschüttet« oder ihm Ammoniak unter die Nase gehalten wird. Schiffsarzt Magill erkennt die Grenzen seiner Möglichkeiten und überweist den Patienten in das Hospital in Hongkong. Dort wird er am 1. August 1873 wegen Insanity invalidisiert und mit dem nächsten Postdampfer nach England zurückgebracht. In dem dazugehörigen Logbuch finden wir lediglich den kurzen Eintrag unter dem Datum 30. Juli 1873: »Sent Alfred W. (boy) to Hospital.« An dem mit 84° Grad Fahrenheit (29° Grad Celsius) sehr heißen Tag darf die Schiffsmannschaft im Hafen von Hongkong morgens um 5.40 Uhr und abends um 6.10 Uhr baden. Auch werden 70 Beutel Brot an Bord genommen150. Case 13: Headache (Insanity) Alfred W., 18, Boy. Copy of the case sent with this boy to Hong Kong Hospital dated 29th July 1873. This boy was on the sick-list from the 6th to the 13th of May with Heat Fever contracted at Malta from exposure to the direct heat of the sun while on shore on leave. Since that time he has been unable to the duty aloft from giddiness. He was again on the list from 14th to the 23rd of June with headache from the oppressiveness of the heat on board a few days before arriving at Point de Galle. On this occasion when he was brought to the Sick Bay he was crying bitterly, saying he saw the dead body of his father with blood streaming from it and holding his hands before his eyes to keep the sight away.

150 Ships’ Logs, Log of HM Ship Thetis 1.1.1873–19.6.1874, TNA, ADM 53/10729.

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After the cold douche had been kept to his head a short time this hallucination passed off, and under the influence of Pot. Bromide the Cerebral Congestion was reduced and the headache relieved. But ever since then both the officers and men on duty with him considered him in a certain degree »cracked«. He was very irritable, easily excited and on these occasions he was considered scarcely responsible for his words or actions. His father committed suicide by cutting his own throat and this boy has often talked as if he intended to do the same. He has been noticed sometimes to arrange the lashing of his hammock as if he intended to hang himself by it. On last evening he was in one of his excited moods and was found in the »Head« with a cord round his neck as tight as he could pull it, and there were some scratches on his neck bleeding as if he had tempted to cut it. He remained sulky all night and would not speak or move for anyone. He winced when cold water was thrown in his face or ammonia held to his nose, pulse 90. Skin natural. They have to recommend him for observation in Hospital. Signed Martin Magill The boy named in the above case was invalided at Hong Kong Hospital on the 1st of August 1873 for Insanity and sent home by first Mail Steamer after that date.

9. Fall: Case 5 der Juno 1877 –»Mania (acuta, Epileptica?)«151 Wir erfahren von einem 22-jährigen Ordinary Seaman, der nach einem Streit mit einem Kameraden in einen Zustand heftigster Wut gerät und dabei solche Bärenkräfte entwickelt und sich und die Umgebenden gefährdet, dass er in seiner Hängematte festgebunden wird. Fünf Stunden dauert dieser Erregungszustand an, der anfänglich »wie ein epileptischer Anfall« wirkt. Während er sich schließlich beruhigt, fällt Staff Surgeon Robert Nelson auf, dass der Patient unter zwei Wahneinfällen leidet. Der Seemann glaubt ertrinken zu müssen, und er wähnt sich auf einem Pferd über Hindernisse springend. Nur kurz äußert er diese Gedanken, dann fällt er in einen tiefen Schlaf, der immer wieder unter­brochen ist von kurzen Wachphasen mit unzusammenhängendem Reden, hauptsächlich »über den Gegenstand Pferde«. (»… the delusions presented themselves, one that he was drowning, the other that he was riding a­ steeple-chase, but these shortly ceased and he sank into a deep sleep, only broken occasionally by some incoherent talking chiefly on »horsey subjects.«) 51 Tage ist er in dieser wechselnden Verfassung in der Krankenstation, wird dann aber weitgehend wiederhergestellt zum Dienst entlassen, allerdings ohne Tätigkeit in den Masten. Einen Monat später erleidet der Matrose einen »leichten epileptischen Anfall«, ohne vollständigen Bewusstseinsverlust, der auf die starke Sonne zurückgeführt wird. Der Arzt beobachtet ihn drei Tage lang auf der Krankenstation. 151 Nelson, Robert, HM Ship Juno 1.10.1876–31.12.1877, TNA, ADM 101/197, lfd. Fallnr. 5. Auch dieses detaillierte Transkript kann aus Platzgründen hier nicht abgedruckt werden.

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Fünf Monate später wiederholt sich der Erregungszustand »nicht epileptischer Art« nochmals. Er ist diesmal so heftig, dass der Patient, der »alles andere als ein starker Mann« ist, nur von vier der stärksten Männer in seinem Um-sichSchlagen kontrolliert werden kann. Übergießen von Kopf und Brust mit eimerweise kaltem Wasser unterbricht die Erregung für eine Stunde. Dann versucht er erneut, »alle um ihn herum zu schlagen und zu verletzen«, weshalb er wieder in seiner Hängematte so fixiert wird, dass sein Brustkorb frei beweglich bleibt. (»I then had him carefully »lashed« up in his hammock seeing that full play was given to the chest &c.«) Nun erhält der Kranke auch eine sedierende Medizin, die ihm etwas Ruhe bringt. Nach sieben Stunden kann er aus seiner Fixierung befreit werden. Er bleibt durch Rückzugsneigung und mürrische Gereiztheit auffällig. Der Surgeon erfährt im Nachhinein, dass der Mann immer schon durch seinen »einfachen Intellekt« und sein »leicht erregbares Temperament« aufgefallen sei und oft ein Butt, das heißt Zielscheibe des Spotts gewesen sei. Erst nach dieser dritten Wiederholung der Maniacal Fits wird der Verbleib des Seemannes an Bord als gefährlich eingeschätzt und eine Kommission einberufen, die seine Invalidisierung und seine Rückreise nach England beschließt. Der Schiffsarzt der Juno formuliert im Anschluss an den Fallbericht Ge­ danken hinsichtlich der Gefahr, dass ein an Acute Mania Erkrankter wie dieser Matrose vor Gericht käme, wenn er etwa in seinem Erregungszustand einen Kameraden töten würde, bevor ein Schiffsarzt seinen Krankheitszustand erkannt hätte: Man hätte ihn »ohne Zweifel gehängt.« Surgeon Nelson zitiert einen 1877 erschienenen Artikel aus dem Medical Jurisprudence University College London zur Schuldunfähigkeit bei »epileptischer Neurose«, womit solche plötzlichen, regelrecht anfallsartigen Aggressionsausbrüche gemeint waren, wie in diesem Fall dargestellt. Er regt an, eine Zwangsjacke in die Ausrüstung eines Schiffes aufzunehmen, um das improvisierte Festbinden in der Hängematte überflüssig zu machen. Ohne akkurate Aufsicht durch einen Schiffsarzt sei nämlich diese Methode nicht ohne Gefahr. Die Atmung könne beim Festbinden beeinträchtigt werden. Manche kalte Wasserdusche sei früher zu lange fortgesetzt und manche Betroffenen »halb ertränkt« worden. Nelson erinnert sich an einen Fall von Erregungszustand auf demselben Schiff, als während einer Überfahrt eine solche Zwangsjacke vierzehn Tage lang notwendig gewesen sei. Der Patient, »a British subject«, sei nach der Ankunft in Shanghai in eine Zelle des dortigen Gefängnisses gebracht und von der Jacke befreit worden und habe sich in »dämonischer Wildheit« so sehr verletzt und erschöpft, dass er nach wenigen Tagen gestorben sei. Zu diesem Patienten, der wahrhaftig für einige Tage den Schiffsalltag be­ eindruckt haben wird, ist im entsprechenden Logbuch und in der betreffenden Zeit dennoch kein Eintrag zu finden.152 152 Ships’ Logs, Log of HM Ship Juno 1.1.1877–31.12.1877, TNA, ADM 53/11116.

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5.5.2 Auswertung Wir finden in den Medical Journals fünfmal die Diagnose Mania, einschließlich dem vierzehnjährigen Schiffsjungen in der heimatlichen Flotte. Einmal (8. Fallbeispiel) wurde zunächst die Diagnose Headache anhand des zu Beginn der Erkrankung dominierenden Symptomes des Kopfschmerzes, dann aber die Diagnose Insanity verwendet, was der damaligen Beschreibung von extremer psychischer Auffälligkeit im Sinne von »Verrücktheit« am nächsten kommt. In einem weiteren Fall (5. Fall) von anfänglichem Kopfschmerz wurde diese Diagnose während des gesamten Verlaufes beibehalten, obwohl eindeutig eine akute Psychose beschrieben ist. Ein Patient (2. Fall) wurde sowohl beschreibend als auch erklärend als Nervous Irritability and Aberrations of Intellect eingeordnet. Im Fall des Suizides (6. Fall) während der Arreststrafe hält der Abschlussbericht der Untersuchungskommission eine Temporary Insanity fest. Ein akut psychotisches Geschehen kommt hier ebenso in Betracht wie ein rein reaktives Geschehen vor dem Hintergrund einer Haftstrafe an Bord. Alle Fallbeschreibungen sind so anschaulich, konkret und ausführlich, dass mit einiger Sicherheit siebenmal eine Erkrankung des schizophrenen Formenkreises rekonstruiert werden kann. Wir finden ausgeprägte Wahnideen und anhaltende wahnhafte Überzeugungen, komplexes Beeinflussungserleben, aber auch sogenannte negative Symptome wie Antriebs- und Aufmerksamkeits­ minderung und Rückzugsneigung. Bemerkenswert ist, dass nur in einem der Fälle von akustischen Halluzinationen berichtet wird. Im achten Fallbericht wird man die »Vision« des Patienten, seinen durch Suizid umgekommenen Vater blutüberströmt vor sich zu sehen, eher als eine Wahnwahrnehmung denn als eine optische Halluzination auffassen müssen. Formale Denkstörungen sind zwar nicht ausdrücklich benannt, werden aber mit großer Wahrscheinlichkeit hinter den genau beschriebenen zerfahrenen, sprunghaften Äußerungen der Betroffenen gestanden haben. Eine Erklärung dafür, dass keine akustischen Halluzinationen, die doch häufig zu erwarten wären, und keine formalen Denkstörungen beschrieben sind, dürfte sein, dass den psychiatrisch unerfahrenen Schiffsärzten für diese beiden Phänomenbereiche die nötige Erfahrung fehlte, um aktiv nach solchen Auffälligkeiten zu fragen und unter den mehr oder weniger verwirrten Gedanken und Äußerungen und in der allgemeinen Erregung und oft aggressiven Spannung der Patienten auf solche Phänomene zu achten. In den aufgefundenen Fällen können mehrere Wahnthemen unterschieden werden. Drei Patienten produzierten religiösen Wahn. Sie waren von Gott gesandte Mahner, konnten in göttlicher Allmacht die Sonne anhalten oder fühlten sich durch plötzliche Eingebung zum demonstrativen und missionarischen Beten aufgerufen. Zwei der Seeleute erlebten paranoide Ängste bezogen auf ihre Schiffskameraden. Man starrte sie an. Man verfolgte sie in bösartiger Absicht.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

Ein Patient fühlte sich von den Menschen seiner Umgebung derart intrusiv und bedrohlich verfolgt, dass er eine Gewehrladung auf sie abfeuerte, um sich dieser vermeintlichen Gefahr zu erwehren. Von früheren Lebenserfahrungen im Umgang mit Pferden mag die Umdeutung der Schiffsbewegungen herrühren, wenn ein Matrose unkorrigierbar wähnte, er reite auf einem Pferd. Die Situation auf hoher See wurde in einem Fall in die unmittelbare Angst umgesetzt, der Betroffene müsse augenblicklich ertrinken. Ein erlebnisreaktiver Anteil ist zweifellos auch bei dem erst 18-jährigen Schiffsjungen in der entsetzlich angstvoll erlebten Wiederkehr des durch Suizid verstorbenen Vaters zu erkennen. Diese Erinnerung wurde für ihn selbst zu einer apodiktisch eingegebenen Aufforderung zur Selbstvernichtung, dem er durch entsprechende Suizidhandlungen Folge leisten zu müssen glaubte. Im Fall des 14-jährigen Schiffsjungen sind in seiner ungerichteten Erregung ebenso wenig konkrete Wahninhalte auszumachen wie bei dem inhaftierten Marinesoldaten, der sich das Leben nahm. Bemerkenswert ist das krankheitstypische Alter der Patienten in dieser kleinen Gruppe von neun Fällen, denn Psychosen des schizophrenen Formenkreises sind Erkrankungen des jungen Erwachsenenalters. Sieben von neun der Betroffenen sind zwischen 18 und 34 Jahre alt. Der Schiffsjunge in Portsmouth war erst vierzehnjährig. Offen bleiben muss, ob die älteren Patienten mit ihren 42 bzw. 45 Jahren bereits in jüngerem Lebensalter eine Erkrankungsphase durchgemacht hatten. Alle acht Patienten wurden invalidisiert. Sie sollten rasch von Bord kommen. Nur im neunten Fallbeispiel wurde fünf Monate lang beobachtet, zweimal wird der Mann wieder zum Dienst beordert, bis er schließlich in einer dritten Krise als nicht mehr dienstfähig angesehen wird. Größte Mühe machte die Entscheidung über die Dienstfähigkeit eines Kommandanten, der als höchster Dienstrang an Bord die oberste Entscheidungsmacht hatte. Auch verstrich einige Zeit, da abgewartet werden musste, bis der Schiffsarzt eines anderen Kriegsschiffes zur Verfügung stand. Dies war erforderlich, um zusammen mit dem Schiffsarzt des eigenen Schiffes eine entsprechende Kommission bilden zu können, wie dies für jedes Besatzungsmitglied, gleich welchen Ranges, vorgeschrieben war. Beim Versuch der nachträglichen diagnostischen Einordnung darf neben der Tatsache der nur unvollständig abgebildeten Symptomvielfalt nicht vergessen werden, dass wir keine langfristige Verlaufsbeobachtung haben. So kann in jedem der geschilderten Fälle durchaus ein einmaliges Ereignis im Sinne einer »akuten vorübergehenden psychotischen Störung« vorgelegen haben, die nach heutigen Gesichtspunkten keine eigentliche schizophrene Psychose bedeutet. Wie bildete sich diese Krankheitsgruppe in den statistischen Berichten der Flotte, den Statistical Reports on the Health of the Royal Navy, ab? In den ersten sieben Berichtsjahren sind akut psychotische Krankheitsbilder noch nicht als Mania und ebensowenig als Insanity, vielmehr in der Gruppe der ­Nervous Diseases und darin in der Untergruppe Mental diseases; derangement of mind,

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Der schizophrene Formenkreis

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from whatever cause, including the delirium of drunkards erfasst. In dieser bunt gemischten Untergruppe sind in den Berichtsjahren von 1830 bis 1836 insgesamt 32 Fälle gezählt, mit der erheblichen Schwankungsbreite von einem Fall für 1830 bis acht Fällen für 1835.153 Keiner dieser Fälle wird erläutert, weder in den Kommentaren zu den einzelnen Kalenderjahren, noch in dem SiebenJahres-Überblick. Wir wissen lediglich, dass 15 der 32 Betroffenen invalidisiert worden sind und einer von ihnen starb. Es ist mit einiger Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass zu der Gruppe der Invalidisierten alle an Psychose Erkrankten gehörten, denn unsere Fallberichte konnten zeigen, dass die Verantwortlichen an Bord diese Besatzungsmitglieder stets nicht nur aus der Schiffsmannschaft, sondern aus dem ganzen Marinedienst herausnahmen. Allerdings erfolgte ein solcher Schritt erst nach ärztlicher Diagnosestellung und nicht schon bei ersten eindeutig psychotischen oder gar Vorläufersymptomen. Im Vergleich hierzu wurden etwa Delir-Patienten in wesentlich geringerer Zahl für dienstunfähig erklärt. Im Statistical Report über den Zeitraum von 1837 bis 1843 sind 17 Fälle explizit als Amentia erfasst (ein mit Mania in etwa synonymer diagnostischer Begriff), ferner sieben Fälle als Melancholia und ein Fall als Nervous Excitement. Zu den Amentia-Fällen wird kommentiert, dass fünf invalidisiert und zwei gestorben seien. Vier in ein Hospital an Land gebrachte Seeleute aus dieser Gruppe sind wahrscheinlich ebenfalls nicht zu ihrem Dienst zurückgekehrt.154 Unter Melancholia müssen wir uns schwere Depressionen vorstellen, unserer heutigen Diagnose einer psychotischen, wahnhaft depressiven Episode entsprechend. Von den sieben Melancholia-Patienten sind drei in ein Hospital gekommen, und drei wurden sogleich an Bord invalidisiert. Auch der an Nervous Excitement Erkrankte wurde invalidisiert. Dieser Letztere könnte ein Klient gewesen sein wie der im ersten Fallbeispiel beschriebene Schiffsjunge. Mit den 1856 einsetzenden jährlichen Reports wird der diagnostische Begriff Insanity innerhalb der Gruppe Apoplexy, Epilepsy, Insanity, Delirium Tremens, Paralysis besser fassbar. Im Jahr 1858 etwa dürfte die Zahl von sechs InsanityFällen neben zum Beispiel 29 Epilepsie- und 42 Delir-Diagnosen recht gut die Relation der Häufigkeiten wiederspiegeln.155 Die Diagnose Insanity wird dann konstant bis 1880 verwendet und ist somit auch in den neu geordneten Zähltabellen am Ende der Medical Journals anzutreffen. Es sind stets kleine Zahlen, z. B. je zwei Fälle in der East India- und in der China Station für 1873.156 In anderen Jahren kann mit fünf bis zehn Betroffenen auf 7 000 bis 10 000 Mann gerechnet werden. Die Zahl für die gesamte britische Flotte liegt für das Jahr 1873 153 House of Commons 1841 (53) Navy (health): Stat. Rep. für 1830–36, S. 106. 154 House of Commons 1853 (555) Navy (health): Stat. Rep. für 1837–43, S 92. 155 House of Commons 1861 (175) Navy (health): Stat. Rep. für 1858, S. 140. 156 House of Commons 1874 (303) Navy (health): Stat. Rep. für 1873, S. 263.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

bei 46 Fällen in sämtlichen Flottenteilen der Royal Navy weltweit, entsprechend 1,0 Promille der 45 440 Mann Besatzung.157 Diese sehr kleine Prävalenz von 1 ‰ bis 2 ‰ ist um den Faktor 10 geringer als die durch aktuelle Forschung epidemiologisch vielfach verifizierte Rate schizophrener Psychosen von 2 %, womit die Frage nach den Gründen für eine so geringe Häufigkeit aufgeworfen ist.158 Wir gehen in erster Linie davon aus, dass an Bord von Schiffen, ohne Unterschied zwischen Handels- und Kriegsmarine, nur akute und in ihrer Symptomatik sehr auffällige psychische Störungsbilder als medizinisch relevante Fälle wahrgenommen und registriert wurden. Der Erklärungsansatz, dass die Schiffsbesatzung eine eher gesunde, robuste, psychisch stabile Gruppe von relativ jungen Menschen darstellt, muss, wenn man die Ausführungen im Kapitel über den Alltag und die Frage bedenkt, wer zur See fuhr, fallengelassen werden. Die verhältnismäßig hohe Rate an Invalidisierungen ist plausibel: Wenn erst einmal diese auffällige, verunsichernd und bedrohlich wirkende psychische Erkrankung aufgetreten war, wurde meistens die dauernde Dienstunfähigkeit festgestellt. In den Jahren 1830 bis 1861 gab es aufgrund von »Manie« oder »Geisteskrankheit« (auf der ostindisch-chinesischen Station) 0,1 ‰ bis 1,9 ‰ Invalidisierungen, im Mittel über alle Jahre 0,7 ‰.159 Ebenso plausibel ist die niedrige Mortalität, solange nicht suizidale Handlungen in der akuten Erkrankungsphase vorkamen. Nur in den drei Jahren 1834, 1840 und 1843 kam es zu Toten unter den »Maniefällen«, in Relativzahlen zwischen 0,25 ‰ und 0,5 ‰.160 Über alle Jahre gerechnet wären dies nur 0,05 ‰, wobei diese Zahl bei den kleinen Absolutzahlen natürlich mit großer Ungenauigkeit behaftet ist. Bei einer hohen Fallzahl und genauer Beschreibung wäre noch ein geringer Anteil von jener tödlich verlaufenden Psychose-Erkrankung zu erwarten, die wir heute als katatone oder perniziöse Verlaufsform der Schizophrenie bezeichnen.161 Nur 157 Ebd. 158 In einer der ersten epidemiologischen Arbeiten zur Prävalenz psychischer Störungen, erstellt von Bernhard Georg Eschenburg in Lübeck im Jahre 1858 fand ich die gleiche Größenordnung von ungefähr 2 ‰ schwer psychotisch Kranker bei insgesamt 3 ‰ »Geistes­ kranken« in dem Stadtstaat. Für jene »Irrenstatistik des Lübeckischen Staates« muss noch deutlicher als für die Erfassung durch die Schiffsärzte auf den groben, mehr einer Schätzung denn einer Zählung entsprechenden Charakter der Erhebung hingewiesen werden. Doch erkennen wir immerhin die gleiche Größenordnung für den gleichen Zeitraum. Vgl.: Reger, Dilling: Geschichte. 159 Friedel, S. 162. 160 Ebd. 161 Seidel gibt einen Suizid an Bord des russischen Expeditionsschiffes »Nadeshda« wieder, der sehr wahrscheinlich nicht, wie von Seidel vermutet, im Rahmen einer »endogenen Depression«, sondern einer paranoiden schizophrenen Psychose geschah. Verfolgungs- und Vergiftungsängste und paranoide Umdeutungen führten in der Enge und Unausweichlichkeit des Schiffes zu der raptusartigen Verzweiflungstat, wobei die Hemmschwelle durch den Einsatz von Alkohol gesenkt war. Vgl.: Seidel: Medizinische Beobachtungen.

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Depression und Suizidproblematik

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in einem Fall eines an Amentia erkrankten Matrosen von Bord der Pelican ist erwähnt, dass er in die psychiatrische Abteilung (Lunatic Asylum) des NavyKrankenhauses in Haslar gekommen und dort auch verstorben sei.162 Zur Behandlung der akuten psychotischen Krankheitsbilder wurde ein vergleichsweise kleines Spektrum sedierender Medikamente eingesetzt. Besonders im 7.  Fallbericht wird deutlich, dass Mittel wie Morphium und Chloraldurat zwar etwas Entspannung und Schlaf zu erzeugen vermögen, gegen die psychotische Symptomatik aber unwirksam sind. Spezifisch wirksame Substanzen wurden erst 100 Jahre später entdeckt. Im Abschnitt über die Therapie sind alle an Bord verwendeten sedierenden Arzneien erläutert. Wie wir im 9. Fall­beispiel erfahren, war eine »Zwangsjacke« nicht Teil der Standardausrüstung, sondern wurde vom Surgeon erst angemahnt. Üblicherweise behalf man sich mit der Kraft der zur Verfügung stehenden Seeleute, um einen erregten, sich und andere gefährdenden Patienten zu bändigen. Wenn beruhigende Medikamente nicht schnell genug wirkten, musste man ihn irgendwie festbinden, und sei es, wie beschrieben, in seiner eigenen Hängematte. Dass diese Methode die Ängste des psychisch Kranken in der Regel nicht verringerte, sondern in der ohnmächtigen Situation noch vermehren konnte, ist eine der unangenehmen Konsequenzen, die dabei in Kauf genommen wurden.

5.6 »Debility«, »Nervous Debility«, »Dyspepsia« – Depression und Suizidproblematik 5.6.1 »Debility« 35 Fälle von Debility fanden sich in den Medical Journals. Das Wort »Debility« hat die nicht scharf festgelegte Bedeutung von »Schwäche« und beschreibt Zustände von reduziertem Allgemeinzustand aus den unterschiedlichsten Gründen. Diese Debility wurde als eine rein beschreibende, auf Symptomebene belassene Krankheits-Einheit erfasst. In 15 Fällen sind darin sichere, in weiteren sechs wahrscheinliche Depressionen im heutigen Sinne zu erkennen. In elf Fällen wird die depressive Symptomatik zusammen mit körperlichen Erkrankungen beschrieben, bei zweien mit Alkoholabhängigkeit. Ein Fall lässt sich keiner psychiatrischen Erkrankung zuordnen. Alle Altersgruppen und alle Berufs 162 House of Commons 1853 (555) Navy (health): Stat. Rep. für 1837–43, S 74. Das Medical Journal dieses Schiffes ist leider nicht erhalten. Im britischen Nationalarchiv wurden Aufnahmelisten dieser Institution durchgesehen und dabei festgestellt, dass die wenigen Namen der in diesem Abschnitt beschriebenen Betroffenen in diesen Verzeichnissen nicht auf­ tauchen. Ihr weiteres Schicksal irgendwo in ihrer englischen, schottischen oder irischen Heimat bleibt uns verborgen.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

gruppen und Dienstgrade sind betroffen. Knapp die Hälfte der Patienten wird in das nächstgelegene Hospital eingewiesen, ebenfalls knapp die Hälfte wird invalidisiert. Fallberichte 1. Fall: Case 4 der Dido (1851) – »Debility«163 Diese Kasuistik ist als seltenes Beispiel für die Seekrankheit im Abschnitt »Overanxiety« (als 18. Fall) dargestellt. 2. Fall: Case 122 der Sanspareil (1858) – »Debility«164 Der mit 58 Jahren schon ungewöhnlich betagte Vollmatrose James T. ist schon seit einiger Zeit nicht mehr in seiner alten, ursprünglich guten Verfassung, als er am 1. Februar auf die Krankenliste kommt. Er sei vollkommen erschöpft und verbraucht (»He was completely worn out and used up, …«). Er wirke »wie ein Mann zwischen 70 und 80 Jahre alt«, klage dabei aber nur über Schwäche und Appetitlosigkeit. Allerdings, und dies ist besonders klar und deutlich in dem kurzen Bericht beschrieben, war der Seemann bereits einige Zeit keinerlei Arbeit mehr nachgekommen und hatte sich vollkommen passiv »in irgendwelche Ecken« von jedem Kontakt zurückgezogen. Bedauernd stellt Surgeon Mason fest, dass der Mann deshalb seiner Aufmerksamkeit entgangen sei. Er kann nur »einen allgemeinen Verfall« feststellen und gibt ihm anregende Medikamente sowie Porterbier und Wein und denkt an eine rasche Überprüfung der Dienstfähigkeit. Weil das Bild genereller Schwäche immer mehr zunimmt und gleichzeitig keine Aussicht auf eine baldige Untersuchung zur Klärung einer möglichen Invalidisierung besteht, lässt er ihn am 6.  März auf das Hospitalschiff Hercules (im Hafen von Hongkong) bringen. Case 122: Debility James T. AB, ætat: 58. was put on the Sick List on the 21st of Febr but had not been in his usual health for some time previous. He was completely worn out and used up, but from his being employed in the storeroom had never come within my notice. It appeared, however, that he had not been doing any duty for some time, but had been in the habit of lying about in some corner out of every bodys way. His appearance was that of a man of between seventy and eighty years of age. He complained only of weakness and want of appetite; the bowels acted regularly once or three in the twenty four hours; tongue clean. As the case appeared to be one simply of general decay, he was given tonics with wine or porter, and reported as fit subject for survey. As the debility increased, and as there was no prospect of an early opportunity of his being surveyed, he was sent to the Hercules hospital on the 6th of march. 163 Evans, Evan, HM Sloop Dido 12.9.1851–15.12.1852, TNA, ADM 101/96/4, lfd. Fallnr. 4. 164 Mason, Richard, HM Ship of the Line Sanspareil 1.1.1858–15.2.1859, TNA, ADM 101/166/1A, lfd. Fallnr.  122.

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3. Fall: Case 6 der Shannon (1858) – »Debility«165 Die Fregatte Shannon hatte Marinesoldaten der Naval Brigade India nach Einsätzen an Land, sehr wahrscheinlich im Rahmen der Indian Mutinies, zu ver­ sorgen. Einer von ihnen war der 23-jährige Commander Nonell S., der fieberkrank auf das in Kalkutta liegende Schiff zurückkehrte. Allgemeine Schwäche, die Assistant Surgeon Flanagan mit einer »Leberstauung und Fieberanfällen« erklärt, veranlassen ihn, den Kommandeur unverzüglich in das Krankenquartier, vermutlich das in Kalkutta, zu überweisen. Völlige Ruhe und saubere Luft seien das einzig Notwendige. Er sei kein Fall für eine Behandlung an Bord. Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist das hier beschriebene Schwächegefühl direkter Ausdruck einer schweren Malariaerkrankung. Vielleicht steckt hinter der Formulierung »… his case being such as not to allow of his remaining on board for treatment« aber auch eine gewisse Vorsicht, den Commander nicht unbedingt als Patient an Bord haben zu wollen und entsprechend die ganze Verantwortung tragen zu müssen. 4. Fall: Case 28 der Shannon (1858) – »Debility«166 Auch ein 15-jähriger Seekadett wird fieberkrank in das Hospital an Land verlegt, von wo er gesund zurückkehrt. 5. Fall: Case 30 der Shannon (1858) – »Debility«167 Auch der Pfarrer (Chaplain) der Shannon kommt mit »entzündlichem Fieber« von einem Einsatz auf dem indischen Festland zurück. Der Mann ist sehr geschwächt, appetitlos und hat viel Gewicht verloren. Vielleicht weist die Beobachtung einer »sehr niedrigen allgemeinen Spannung« (»… & general tone very low …«) auf die psychische Verfassung des Patienten hin. In feinstem Englisch heißt es, Krankenhausbehandlung sei »das beste Heilmittel«. (»His case being as which Hospital treatment would best remedy I at once transferred him.«) Auch er kehrt ge­sundet zurück. 6. Fall: Case 36 der Shannon (1858) – »Debility«168 Viele Fieberattacken haben den 25-jährigen Vollmatrosen so schwach gemacht, dass nur noch Invalidisierung bleibt.

165 Flanagan, T., HM Frigate Shannon 1.  Teil: 15.7.–18.9.1858, TNA, ADM 101/170, lfd. Fallnr. 6. 166 Ebd., lfd. Fallnr. 28. 167 Ebd., lfd. Fallnr. 30. 168 Ebd., lfd. Fallnr. 36.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

7. Fall: Case 2 der Acorn (1859) – »Debility«169 Unter der Diagnose »General Debility« kommt ein Matrose der Acorn mit der Absicht der Invalidisierung in das Hospital in Hongkong. Als »P. S.« findet sich dann aber die Notiz »Died in Hospital« und die präzisierte, aber nicht erläuterte Diagnose »Nervous Debility«. 8. Fall: Case 15 der Nimrod (1859) – »Debility«170 Die »Wirkungen seiner Arbeit (eines 33-jährigen Heizers) und das Klima im Golf von Pechili« macht Assistant Surgeon Roberts explizit für die »allgemeine Schwäche, verbunden mit Appetitlosigkeit und Abmagerung, aber ohne irgendein Schmerzerleben« verantwortlich. 9. Fall: Case 29 der Pearl (1862) – »Debility«171 Allgemeine Abwehrschwäche kennzeichnet diesen Fall. Hinter der »sehr schwachen und ausgezehrten« Verfassung eines 21-jährigen Ordinary Seaman der Pearl, die 1862 in Kämpfen an der Küste Chinas eingesetzt ist, könnte sich eine Lungentuberkulose verbergen. Er wird »zum Luftwechsel« (»to give him change of air«) in das Hospital in Shanghai geschickt. 10. Fall: Case 59 der Perseus (1867) – »Debility etc.«172 Ein Fall von Debility auf der Perseus stellt sich als schwer beeinträchtigter Allgemeinzustand bei Lungenentzündung heraus. Der Bericht fällt durch psychologische Überlegungen des Schiffsarztes Messer zu der Persönlichkeit des Seemannes auf. Dieser, ein 35-jähriger Zimmermann im Offiziersrang, klagt, er könne seinen Dienst nicht länger ausüben. Er sei sehr schwach, appetitlos und müde. Er leide unter nächtlichem schmerzhaften Husten mit beträchtlichem Auswurf und etwas Durchfall. Surgeon Messer stellt eine druckempfindliche Leber und Milz, schnellen, schwachen Puls von 150 Aktionen je Minute, heiße Hautoberfläche und Zittern der Hände fest. Die ganze Erscheinung sei ängstlich, sein Verhalten erregt und nervös. Daher glaubt der Arzt zunächst, ein Alkoholdelir her­ annahen zu sehen. Vermehrter Alkoholkonsum wird jedoch von dem Offizier weit von sich gewiesen. (»He presented much the appearance of approaching Delirium Tremens, but denied having exceeded the most moderate use of stimulants.«) Allerdings sei er in letzter Zeit viel Ärger und Aufregung ausgesetzt gewesen, 169 O’Brien, William E., HM Sloop Acorn 1. Teil, 16.11.1858–31.12.1859, TNA, ADM 101/ 171/1A, lfd. Fallnr.  2. 170 Roberts, William O., HM Sloop Nimrod 2.  Teil., 21.9.1858–30.9.1859, TNA, ADM 101/168/1B, lfd. Fallnr.  15. Der Golf von Pechili ist eine Bucht an der chinesichen Küste, gebildet vom »Gelben Fluss«. 171 Smart, H. S., HM Frigate Pearl 1.1.–31.12.1862, TNA, ADM 101/175, lfd. Fallnr. 29. 172 Messer, A. B., HM Sloop Perseus 1.1.–11.10.1867, TNA, ADM 101/179, lfd. Fallnr. 59.

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und auf diese Belastung führt der Arzt die »sehr nervöse Verfassung« des Mannes zurück. Weil er »äußerst krank« erscheint und weil das Schiff bald auslaufen soll, wodurch bereits »die Lautstärke und das Durcheinander an Bord sehr groß« sind (»The noise and confusion on board at this time being very great«), schickt der Schiffsarzt den Patienten in das Hospital (von Yokohama), wo eine ausgedehnte rechtsseitige Lungenentzündung entdeckt wird. Der Arzt wundert sich nach dieser Diagnosestellung, dass der Mann nicht schon früher über Beschwerden geklagt hat. Er kommt zu dem Schluss, die übereifrige Pflicht­ auffassung des Offiziers hätte ihn bewogen, nichts zu sagen, um unbedingt seinen Dienst tun zu können. (»As this must have existed for some time, it is surprising he did not complain sooner, but a desire to do his duty he said prevented him doing so.«) 11. Fall: Case 9 der Rinaldo (1870) – »Debility«173 Wir erkennen in der Beschreibung eines schneidenden Schmerzes in der linken Brustseite unschwer eine typische, zunächst trockene Pleuritis (eine Rippfellentzündung), die nach Bildung eines Ergusses zu einer »feuchten Rippfellentzündung« und damit schmerzfrei wird.174 Bemerkenswert ist nicht nur die Erwähnung eines Stethoskopes in der Feststellung eines »leisen, reibenden Geräusches über der Gegend des Schmerzes« (»On stethoscopic examination there was a slight friction over the seat of pain.«), sondern auch die »deprimierte Verfassung« (»depressed condition«) des Patienten nach körperlicher Erholung, die trotz Therapie mit Eisen, Chinin, Wein und besonders gutem Essen nicht abklingen will. Er hat er ein »fahles, ungesundes Aussehen«, als er in das Krankenquartier nach Yokohama gebracht wird. 12. Fall: Case 15 der Rinaldo (1870) – »Debility«175 Eine typische »Tertiana-Malaria« (mit dreitägigem Fieberverlauf) schwächt den 23-jährigen Acting Lieutnant derart, dass er schon bei geringster Anstrengung erschöpft ist. Er wird mit hohen Dosen von Chinin und Eisencitrat behandelt und entwickelt »Chinismus«, womit die nicht selten beobachtete Überdosierung mit Chinin gemeint ist, die sich unter anderem in Angst und Erregungszuständen zeigt. (»Quinine was administered in 5 grain dosis three times a day producing Cinchonism on the 4th day. The system was completely under the influence of the drug …«) Diesen Patienten schickt Surgeon Buckley in der Hoffnung auf heilsame Luftveränderung auf Urlaub an Land bei einem Freund. Von 173 Buckley, John., HM Sloop Rinaldo 10.5.–31.12.1870, TNA, ADM 101/182, lfd. Fallnr. 9. 174 Als übliches Fiebermittel erhielt er Barley-Water, eine Abkochung von Perlgraupen (Graupen: englisch Barley). Für einen besseren Geschmack konnte etwas Zucker hinzugefügt sein. 175 Buckley, John., HM Sloop Rinaldo 10.5.–31.12.1870, TNA, ADM 101/182, lfd. Fallnr. 15.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

dort kommt er allerdings unverändert zurück. (»I recommended him for a short period of sick leave in a friend’s house on the bluff for change of air. But he re­ turned no wise improved in general health or appearance.«) Deshalb weist er ihn schließlich in das Krankenquartier von Yokohama ein. 13. Fall: Case 24 der Rinaldo (1871) – »Debility«176 Vermutlich verschlimmert sich die chronische Gastritis des 25-jährigen Zimmermanns nach massivem Alkoholkonsum während des Landurlaubes. Nach vierjährigem Dienst in chinesischen Gewässern wird bei erfolglosem Therapieversuch seine Invalidisierung und Rückreise angeordnet. 14. Fall: Case 25 der Thistle (1871) – »Debility«177 Assistant Surgeon Edward Mulcahy beschreibt einen ihm offensichtlich un­ klaren Fall von allgemeiner Schwäche bei dem 32-jährigen Private der Royal Marines, William S. Er sei ein kräftiger, tauglicher Mann, der aber seit Ankunft der Thistle in Hongkong am 1. Juni 1871 in schlechter Allgemeinverfassung sei. Zwar ist der Patient Ende Juni wegen Diarrhoe behandelt worden, und der Arzt führt die Schwäche auf sie und auf die Folgen des Klimas zurück, in der Darstellung des Falles steht aber die Beschreibung seiner Appetitlosigkeit und seiner Verfassung als »teilnahmslos, energielos, jeder Energie beraubt« im Zentrum. (»He is now in a very listless state, deprived of all energy, appetite bad and capricious.«) Die Behandlung besteht wie in anderen derartigen Fällen aus »tonics«, nahrhafter Diät und Wein. Er wird am 10. August 1871 in das Royal Navy Hospital in Hongkong verlegt. Sehr gut ist diese Falldarstellung mit der Diagnose einer depressiven Episode in Einklang zu bringen. Beschrieben wird eine eindeutige Stimmungs- und Antriebsstörung. Die Diarrhoe tritt nach Beginn dieser psychopathologischen Symptomatik auf, und das tropische Klima scheint dem »ablebodied«, dem seetauglichen Mariner bislang nichts ausgemacht zu haben. Die eingesetzten anregenden, »tonisierenden« Medikamente und die gute Ernährung sind völlig unspezifische Maßnahmen, von denen keine sichere Verkürzung der depressiven Phase erwartet werden darf. Dementsprechend beobachtet der Schiffsarzt keine rechte Befundbesserung, kann sich diese auch nicht mit einer (somatischen) Krankheit erklären und gibt den Patienten folgerichtig zur Beobachtung in das Hospital. Case 25: Debility William S.  ætat 32 Pt RMTJ placed on sick list August 5th at Canton, with debility, consequent on diarrhoea and the effects of climate. This man although strong 176 Buckley, John., HM Sloop Rinaldo 1.1.–31.12.1871, TNA, ADM 101/185, lfd. Fallnr. 24. 177 Mulcahy, Edward, HM Gun Vessel Thistle 25.10.1870–31.12.71, TNA, ADM 101/183, lfd. Fallnr. 25.

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and ablebodied has not enjoyed good health since June 1st the date of the ships arrival in Hong Kong. Was in the Melville Hospital ship from June 23rd to July 4th with diarrhœa. Since his return has had a couple of attacks. He is now in a very listless state, deprived of all Energy, appetite bad and capricious. Treatment tonics, nourishing diet and wine. Sent to R. N. Hospital Hong Kong August 10. 1871.

15. Fall: Case 32 der Nimble (1871) – »Debility and Nervousness«178 Unter der Diagnose Debility and Nervousness, im weiteren Verlauf unter­ Climatic Debility, wird ausführlich und anschaulich der Krankheitsverlauf des 41-jährigen Kommandeurs des Schiffes beschrieben, in dem man unschwer ein ausgeprägtes depressives Syndrom mit somatischen Symptomen erkennen kann. Wir erfahren von Appetitlosigkeit, Darmträgheit, Engegefühl in der Brust und mit »depressed spirits« auch von explizit deprimierter Verfassung und »extremer Nervosität«. Der Schiffsarzt vermerkt, es grenze fast an »Hypochondrie«. (»Spirits at times much depressed and almost verging on Hypochondria, extreme nervousness.«) Die Krankheitsphase hatte im Mai 1870 mit einer als »Lichen tropicus« bezeichneten Hauterkrankung mit Blasenbildung begonnen. Das Schiff kreuzte damals vor der ostafrikanischen Küste. Sobald das Schiff am 8. Juni 1870 bei Aden im Arabischen Golf vor Anker liegt, begibt sich der Kapitän auf Empfehlung des Arztes hin an Land und kann sich dort auch »in Gesellschaft und bei veränderter Ernährung etwas erholen«, klagt jedoch, zurück an Bord, über die gleiche Symptomatik. (»I recommended his going on shore and to take as much exercise as possible. He somewhat improved which I attribute to the Society and exercise combined with a change of diet.«) Nun komplizieren heftige Hämorrhoidalblutungen den Verlauf, die jedoch gut behandelt werden können. Sicherlich spielen hier die dauernden Abführmaßnahmen bei nahezu jeder Therapie und die gleichzeitige Verwendung von Opium, welches sehr stark verstopfend wirkt, eine wesentliche Rolle. Die Verfassung des Kommandeurs bessert sich auch nach Überwindung dieser neuen Beschwerden nicht und die übliche »stimulierende« Behandlung an Bord bleibt erfolglos. Vielmehr kommen heftige Kopfschmerzen hinzu. Die Nervosität und die zu diesem Zeitpunkt erstmals genannte Schlaflosigkeit dauern an. (»… he did not gain strength, the headache nervousness and insomnia continued.«) Auf die Krankenliste wird der Patient erst am 6. November 1871 gesetzt, sicherlich wegen seines Status als oberster Dienstrang an Bord. Der Arzt sieht in der tropischen Hitze das entscheidende Hemmnis für eine Gesundung des Kapitäns (deshalb wohl die Diagnosestellung Climatic Debility), der im Übrigen schon seit acht Jahren auf der chinesischen Station eingesetzt ist. Offensichtlich nur mit einiger Überredungskunst erlangt der Schiffsarzt nun die Zustim 178 Murray, George B., HM Sloop Nimble 1.  Teil, 31.10.1870–31.12.1871, TNA, ADM 101/184/1A, lfd. Fallnr. 32.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

mung des Kommandeurs (»These, my opinions, I communicated to him, …), sich dem Untersuchungsausschuss an Bord der Iron Duke zu stellen, die in der Nähe seines eigenen Schiffes, der Nimble liegt. Am nächsten Tag, dem 7. November, wird er denn auch »zur Wiederherstellung seiner Gesundheit nach England invalidisiert«. Vier Tage später geht er an Bord des Dampfers Sumatra, um seine Rückreise anzutreten. 16. Fall: Case 6 der Nimble (1872) – »Debility«179 Wegen des verzögerten Verlaufes stellt der Schiffsarzt der Nimble die Diagnose Debility bei einem Heizer, der in der Sommerhitze des 3. Juli 1872 auf See während seiner Arbeit in der Maschine ohnmächtig wird. Unmittelbar zu dem bewusstlosen Seemann gekommen, hält er ihm eine Lösung von Ammoniak in Kampferwasser vor die Nase, um ihn wach zu bekommen. Er verordnet ­Chinin, Diät und Wein und hält ihn einige Tage lang von der extremen Hitze vor den Kohlefeuern und von der durch die stinkende Bilge verdorbenen Luft dort unten fern. Acht Tage lang, bis zum 12.  Juli, bestehen gestörte Kreislaufverhältnisse mit raschem, flachen Puls weiter. In dieser Zeit sind mit »teilnahmslosem und stumpfsinnigem Ausdruck« (»…, looks listless and stupid«) auch psychische Veränderungen des Patienten festgehalten. Der Heizer kann gut erholt am 12. Juli seinen Dienst wieder aufnehmen. 17. Fall: Case 9 der Glasgow (1872) – »Debility«180 Bei dem mit 48 Jahren schon recht altgedienten Private Marine der Glasgow, John T., kann Surgeon Loney offenbar beim besten Willen keine spezifische Krankheit diagnostizieren. »I cannot detect any disease«, schreibt er in seinem Journal. Der Mann war dreimal im Sommer und Herbst 1872 während des ­Dienstes der Glasgow im Indischen Ozean wegen »extremer Schwäche, Schmerzen in Hüften und Leisten sowie Appetitlosigkeit« auf der Sick List. Er sieht dabei durchaus gesund aus. Die Behandlung beschränkt sich auf Chiningabe und »großzügige Diät«. Der Soldat sagt, dass er sich dadurch besser, aber weiterhin schwach und dienstunfähig (»still weak and unfit for duty«) fühlt. Da der Marinesoldat annähernd seine volle Zeit für eine Pensionsberechtigung in der Navy abgeleistet hat, aber auch mit Blick auf den ungehinderten Betriebsablauf an Bord, empfiehlt der Surgeon schließlich im Januar 1872 der Kommission, den Marinesoldat zu invalidisieren und ihn an Bord der Ocean nach England zu schicken. 179 Murray, George B., HM Sloop Nimble 2. Teil, 1.1.–31.12.1872, TNA, ADM 101/184/1B, lfd. Fallnr. 6. 180 Loney, William, HM Sloop Glasgow 1.1.–10.11.1872, TNA, ADM 101/186, lfd. Fallnr. 9.

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Depression und Suizidproblematik

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Diese nach somatischen Kriterien unerklärliche, aber im subjektiven Empfinden anhaltende und schwer ausgeprägte allgemeine Schwäche ist in ihrer affektiven Herabstimmung und Antriebs- und Energieminderung mit der Dia­ gnosestellung einer depressiven Episode gut vereinbar. 18. Fall: Case 13 der Glasgow (1872) – »Debility«181 Der mit 46 Jahren ebenfalls altgediente Zimmermann William N. ist so oft »off the list«, also ohne förmliche Krankschreibung, behandelt worden, dass eine schlechte Prognose gestellt wird. Auch bei diesem Patienten stellt der Arzt fest, dass er »keinerlei Krankheit entdecken kann«. 19. Fall: Case 20 der Glasgow (1872) – »Debility«182 Den 44-jährigen Schiffskoch John W. nimmt der Surgeon nur zur Überprüfung einer möglichen Invalidisierung auf die Sick-List der Glasgow. Er beschreibt ihn als einen »sehr schlampigen, dabei gesund ausschauenden, kräftigen Mann«, der unter der Hitze leide und wiederholt Arbeitserleichterungen erhalten habe. Man habe ihn in England für »genau so dienstfähig wie jeden anderen Mann an Bord« gehalten. Da er aber bereits seine volle Zeit für die Pensionsberechtigung abgeleistet habe, sei es nach seiner Erfahrung töricht zu erwarten, dass solch ein Mann seine Arbeit als Koch in den Tropen über längere Zeit leisten würde. Der Schiffsarzt lässt sich zu der Bemerkung hinreißen, er würde so jemanden nicht als Schiffskoch einstellen. (»I would not enter any such for Cooks’ duty.«) Die zugestandenen Arbeitserleichterungen wird man sowohl als einen primären, bewusst wahrgenommenen, als auch als einen sekundären, unbewusst Entlastung schaffenden Krankheitsgewinn beschreiben. Case 20: Debility W. John, aged 44, Ship’s Cook 9 March. Placed on the list at Bombay, for Survey. This is a very slovenly man and although his name does not appear on my list hitherto, he has repeatedly complained of heat, and, treated for disordered function off the list, has been allowed extra assistance from time to time. He is a strong built man, healthy looking, and in England appeared as capable of work as any man in the ship. He is a full serviced pensioner, and my experience of such men is that it is folly to expect they will do the duty of Ships Cook for any length of time in the Tropics. I would not enter any such for Cooks’ duty.

181 Ebd., lfd. Fallnr. 13. 182 Ebd., lfd. Fallnr. 20.

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20. Fall: Case 22 der Glasgow (1872) – »Debility«183 In der Hitze des Indischen Ozeans wird ein Symptombild wie bei einer Durchblutungsstörung des Herzens, einer Angina pectoris, oder aber die vegetative Symptomatik bei Alkoholentzug beschrieben. 21. Fall: Case 27 der Glasgow (1872) – »Debility«184 Der am 19. Januar 1871 in Kalkutta als Kaplan an Bord der Glasgow ge­kommene 32-jährigen Reverend Andrew R. war physisch der Belastung der tropischen Region von Beginn an nicht gewachsen. (»… that period (it may be said) he showed  a physical unfitness for the duties of his station.«) Zwar spricht Surgeon Loney von »konstitutioneller Schwäche« gibt aber keine Hinweise auf psychische Überforderung. Im Juli 1872, während der Fahrt nach Mauritius, begibt sich der Kaplan in Behandlung, da sein Körper vollständig übersät ist von kleinen, schmerzhaften Karbunkeln. Er kann seinen Dienst als Geistlicher nicht mehr ausüben und wird am 13. Juli nach Ankunft auf Mauritius invalidisiert. 22. Fall: Case 19 der Magpie (1873) – »Debility«185 Die Differenz des Beinumfanges (an der Wade) von 1⅜ Zoll links weniger als rechts lässt an eine früher abgelaufene Poliomyelitis (Kinderlähmung) denken.186 Die Natur des geschwächten Allgemeinzustandes des 26-jährigen Heizers George H. bleibt unklar. 23. Fall: Case 13 der Ringdove (1875) »Nervous Debility«187 Diese als 10. Fall »Overanxiety« besprochene Kasuistik ist ein Beispiel hoher Aufmerksamkeit für psychosomatische Zusammenhänge. Ein Bootsmann gerät durch seine Überängstlichkeit in einen »nervlichen Schwächezustand« hinein. 24. Fall: Case 11 der Thalia (1875) – »Debility«188 Ein Bild ausgeprägter somatischer und psychischer Schwäche führt zur Überweisung in das Hospital, sobald die Thalia in Hongkong ankommt.

183 Ebd., lfd. Fallnr. 22. 184 Loney, William, HM Sloop Glasgow 1872, TNA, ADM 101/186, lfd. Fallnr. 27. 185 Mulvany, John., HM Sloop Magpie 1.1.–31.12.1873, TNA, ADM 101/189, lfd. Fallnr. 19. 186 Poliomyelitis (spinale Lähmung, Kinderlähmung, infantile Paralyse) war im 19. Jahrhundert endemisch. Sie wurde von Jakob Heine und Karl Oskar Medin beschrieben und ihr infektiöser Charakter aufgeklärt. Daher rührt ihr Eponym »Heine-Medin-Krankheit«. Der Erreger, ein RNA-Virus, wurde 1908 durch Erwin Popper und Karl Landsteiner entdeckt, ein Impfstoff 1954 von Jonas Salk und 1961 von Albert Sabin entwickelt. 187 Gorham, A., HM Sloop Ringdove 1. Teil: 1.1.–31.12.1875, TNA, ADM 101/192/1A, lfd. Fallnr. 13. 188 Head, Richard L. B., HM Frigate Thalia 1. Teil, 1.1.–31.12.1875, TNA, ADM 101/194, lfd. Fallnr. 11.

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Depression und Suizidproblematik

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25. Fall: Case 34 der Thalia (1875) – »Debility«189 Der Marinesoldat John P. wird ausdrücklich als »sehr tüchtig und wohlerzogen« beschrieben. Jetzt zeigt er einen »ängstlichen Ausdruck«, er leidet unter Husten und Luftnot im Liegen und hat Lymphknotenschwellungen, ohne dass seine Krankheitsgeschichte Syphilis aufweist. Nach einer Weile stellen sich Gewichtsverlust, Kräfteverfall und bedrückte Verfassung (»… had become much depressed in spirits«), Schlaflosigkeit und Appetitmangel ein. (»… sleepless nights; with some sweating; the appetite failed and altogether he was out of health; …«) Surgeon Stead teilt seinen Auskultationsbefund der Lungen mit. Basale Dämpfung und kaum hörbare Herztöne sprechen für einen Pleuraerguss und könnten neben einer vielleicht atypischen Pneumonie die Beschwerden des Patienten erklären. Er behandelt ihn mit Dorschleber und Schwefelsäure. (»Cod liver was prescribed with sulphuric acid at bed time.«) Weil der Surgeon überzeugt ist, dass die »Malarialuft« vor Shanghai negative Wirkung auf den Mann ausübt, schickt er ihn bei nächster Gelegenheit mit der HMS Audacious nach Hongkong zur »Luftveränderung als dem einzigen wirklichen Hilfsmittel«. (»No doubt the malarious influence of this locality (Shanghai) had its effects on this man’s cons­ titution and change of air was the only real remedy.«) In den General Remarks betont der Schiffsarzt die grundsätzliche Notwendigkeit von Luftveränderung und besserer Verpflegung für die von Erkrankungen geschwächten Patienten. 26. Fall: Case 14 der Juno (1876) – »Debility«190 Die Debility des 30-jährigen Zimmermanns-Maats bleibt mit diffusen Bauchbeschwerden und Schwindelgefühl unklar. Auf Malta kommt er in das Navy Hospital. 27. Fall: Case 20 der Juno (1876) – »Debility«191 Der erkrankte Matrose ist ein »sehr zart gebautes, hageres Individuum«, dessen Untersuchungsbefund an einen Herzklappenfehler denken läst. Der Arzt denkt an eine Störung der Blutzusammensetzung, verordnet neben »guter Diät mit Wein« Eisenchlorid, Chinin und Citrat mit Chloroform und überweist ihn in das Royal Navy Hospital in Hongkong.

189 Head, Richard L. B., HM Frigate Thalia 1875–76, 1. Teil: 1.1.–31.12.1875, TNA, ADM 101/194, lfd. Fallnr. 34. 190 Norbury, Henry, HM Frigate Juno 4.11.1875–7.7.1876, TNA, ADM 101/195, lfd. Fallnr. 14. 191 Ebd., lfd. Fallnr. 20.

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28. Fall: Case 24 der Juno (1876) – »Debility«192 Der 29-jährige Armourer, Waffenmeister, an Bord der Juno, William B. wird nach zweimaliger erfolgloser Behandlung im Frühjahr 1876 in das Navy Hospital in Hongkong überwiesen, »principally for change of Air and Scene«, hauptsächlich also für einen Luft- und Umgebungswechsel. Seine Symptomatik wird als »eine reine Schwäche« aufgefasst (»As ­symptoms were purely those of Debility«) und ist nach heutiger Kenntnis ein typisches depressives Syndrom: Anhaltende Schwäche, fahle Erscheinung, schwache, erschlaffte Muskulatur, ein Gefühl der Energielosigkeit, und allgemeine Erschöpfung. (»… he had  a pallid appearance, small flaccid muscles, complained of Lassitude, Mental Depression, and general Feeling of Exhaustion …«) An körperlichen Zeichen findet der Schiffsarzt Muskelzittern und »eine Tendenz ohnmächtig zu werden« (»… there were Muscular Tremors and  a Tendency to Syncope.«), ansonsten jedoch Normalbefunde. Die Formulierung »mentale Depression« drückt ein psychisches Verständnis aus. 29. und 30. Fall: Case 23 und 25 der Thalia (1876) – »Debility«193 Surgeon Stead hat einen 22-jährigen Koch und einen 38-jährigen Heizer nach England zu bringen. Der Koch leidet nicht nur unter Gelenkschmerzen und unter der Hitze während der Fahrt durch das Rote Meer, sondern nach seinem Eindruck »an Mangel an Spannkraft mehr als an irgendeiner bestimmten Krankheit«. Damit ist deutlich eine psychologische Sichtweise des Schiffsarztes ausgesprochen. Die körperlichen Symptome lassen an ein Spätstadium von syphilitischer Infektion und an rheumatisches Fieber denken. Dem Heizer macht eine Lungenentzündung oder Tuberkulose (»Phthisis«) vor allem in der Hitze des Roten Meeres sehr zu schaffen. 31. bis 33 Fall: Case 40, 47 und 53 der Modeste (1876) – »Debility«194 Verlust der meisten Zähne des Oberkiefers, anhaltende Diarrhoe und Lungen­ tuberkulose kommen als Grund für physische und psychische Schwäche in Frage. 34. Fall: Case 5 der Daphne (1878) – »Debility«195 Mit nur einem Satz protokolliert der als Staff Surgeon höherrangige 41-jährige Schiffsarzt George Campbell den Umstand, dass er selbst wegen Debility untersucht und am 1. April 1878 für sechs Wochen Erholung von Bord und nach 192 Ebd., lfd. Fallnr. 24. 193 Head, Richard L. B., HM Frigate Thalia 1875–76, 2. Teil: 1.1.–10.8.1876, TNA, ADM 101/194, lfd. Fallnr. 23 und 25. 194 Siccama, R. R., HM Sloop Modeste 1.1.–31.12.1876, TNA, ADM 101/196, lfd. Fallnr. 40, 47 und 53. 195 Campbell, G. A., HM Sloop Daphne 1.1.–31.12.1878, TNA, ADM 101/199, lfd. Fallnr. 5.

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Depression und Suizidproblematik

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Matheran196 geschickt worden sei. Ob mit »was surveyed« eine rein diagnostische ärztliche Untersuchung oder aber eine förmliche Vorstellung bei der Untersuchungskommission zur Frage der Dienstfähigkeit gemeint ist, erschließt sich aus der kurzen Notiz nicht. Er kommt den weiteren Journaleintragungen zufolge nach den geplanten sechs Wochen pünktlich zurück und nimmt seinen Dienst wieder auf. 35. Fall: Case 7 der Daphne (1878) – »Debility«197 Mister William Joseph H., ein Offizier der Maschine an Bord der Daphne, leidet seit dem Jahr 1875 wiederholt unter »völliger Erschöpfung«. Im Mai 1878 kommt er mit Ohrenschmerz, allgemeiner Erschöpfung, Blässe und Schwäche erneut auf die Sick List. Sein Puls ist »klein und schwach«. Als weitere Symptomatik werden Beschwerden geschildert, wie wir sie als Ausdruck einer somatisierten Depression gut kennen, nämlich »fast ständigen Kopfschmerz oder das Gefühl eines Gewichtes, das auf dem Kopf lastet«. (»He stated that latterly he had suffered from almost constant headache or a feeling of weight on the top of his head.«) Der Patient wird für drei Wochen in das Krankenquartier nach Trincomalee auf Ceylon geschickt, ohne Erfolg. Er kehrt »wenig oder um nichts gesünder« auf die Daphne zurück und wird schließlich im nächsten Hafen, Port Blair auf den Andaman-Inseln im Indischen Ozean, invalidisiert. An Arzneien erhielt er »Podophyllin-Pillen«, »Blue-Pills«, eine Pille aus »Rhabarber-Mischung« und gelegentlich Chinin-Wein »gegen die Schwäche«. Auswertung Wer über die Situation an Bord eines Segelschiffes vergangener Jahrhunderte nachdenkt und sich die Lebensbedingungen, die Entbehrungen und Gefahren, die Enge, den Zwang und die lange Abwesenheit von der Heimat vorstellt, wird als psychisches Störungsbild am ehesten die Depression erwarten. Wir treffen sie in unseren Quellen auch an. Mit der Depression stellt sich aber sogleich das Problem der diagnostischen Erfassung in den verwendeten Quellen. Der Begriff »Depression« ist in den Jahren 1830 bis 1880 noch nicht gebräuchlich, weder in der Umgangssprache, noch in der Fachterminologie. Bei Durchsicht der Originalhandschriften der Medical Journals wurde klar, dass die häufig verwendete Diagnose Debility auch für jene Krankheitsbilder verwendet wurde, die wir heute als Depression einstufen würden. Man nahm also eines der Symptome, nämlich die Schwäche, englisch Debility, für das ganze psychopatholo­ gische Störungsbild. 196 Matheran ist eine der »hill stations«, ein kleiner, aufgrund seiner Höhenlage von 700 Metern klimatisch angenehmer Bergort unweit von Mumbai (Bombay). 197 Campbell, G. A., HM Sloop Daphne 1.1.–31.12.1878, TNA, ADM 101/199, lfd. Fallnr. 7.

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35 Mal finden sich in den Verlaufsberichten Fallbeschreibungen von Debility. Bei aufmerksamer Lektüre dieser vergleichsweise eher kurzen Schilderungen ist in einem Viertel der Fälle mit einiger Sicherheit ein typisches Bild einer affektiven Störung zu erkennen, das wir heute als leichte, mittlere oder schwere depressive Episode bzw. bei mehrfachem Auftreten als rezidivierende depressive Störung von unterschiedlichem Schweregrad bezeichnen würden. Bei einem weiteren Viertel ist nicht so eindeutig, aber doch mit einiger Wahrscheinlichkeit ein depressives Zustandsbild beschrieben. In acht der 35 Fälle finden sich Hinweise auf organische Erkrankungen als mögliche oder wahrscheinliche Ursachen der Depression. Die acht Patienten leiden, soweit die knappen Darstellungen dies erkennen lassen, unter schwerer Malaria-Anaemie, unter Colitis ulcerosa, unter Hyperthermie durch die Arbeit vor den Kohlefeuern der Dampfmaschine und unter Phthisis, womit wohl Lungen­tuberkulose gemeint ist. In zwei Fällen ist die Stimmungsstörung mit Alkoholkrankheit verknüpft. Nicht näher auszumachen ist der Anteil unter den Debility-Fällen, dem ein Vitaminmangel-Syndrom zu Grunde liegt. »Vitamin« war freilich in unserem Untersuchungszeitraum noch kein Begriff. Für die Krankheiten, die eine gewisse Spezifität in der Seefahrt haben, sind drei der Vitamine von Belang. Der Vitamin-C-Mangel ist für den Skorbut verantwortlich, der Vitamin-A-Mangel für die Hemeralopie (»Nachtblindheit«) und der Vitamin-B1-Mangel für die Beriberi-Krankheit.198 Alle diese Avitaminosen können sich in Allgemeinbeeinträchtigung, Antriebslosigkeit, Mattigkeit und unterschiedlichster psychischer Befindlichkeitsstörung auswirken. In keinem Fall ist die Diagnose einer bipolaren affektiven Störung zu rekonstruieren. Den Wechsel von depressiver Bedrückung zu manischer Hochstimmung wird es mit Sicherheit auch unter den Patienten der Royal-Navy-Schiffe gegeben haben, jedoch war die Beobachtungsphase zu kurz, um einen solchen Verlauf erkennen zu können. Zu früh wurden erheblich auffällige Besatzungsmitglieder von Bord gebracht, in Krankenhäuser oder gleich auf den Rücktransport nach England und in die Invalidität geschickt. Die manische Störung wurde noch nicht vom Erregungszustand einer schizophrenen Psychose unterschieden. Weiterer medizingeschichtlicher Forschung bleibt es vorbehalten, einzelne Fälle von bipolaren affektiven Störungen aufzufinden, bei denen also beide Phasen, sowohl eine depressive, als auch eine manische und eventuell auch der Umschlag von der einen in die andere beobachtet und beschrieben sind. 198 Erstmals 1912 verwendete Casimir Funk (1884–1967) den Begriff »Vitamin«, worauf er rasch international üblich wurde. Einen Überblick über die Avitaminosen auf Schiffen geben Harvie, David: Limeys, Gloucestershire 2002; Schadewaldt: Vitaminmangelkrankheiten, S. 33–46; Carpenter, Kenneth: The Hisory of Scurvy and Vitamin C, Cambridge 1986; Hess, Alfred: Scurvy Past and Present, New York 1982; Stewart, C. P.; Guthrie, Douglas (Hg.): Lind’s Treatise on Scurvy, Edinburgh 1953; Nocht: Vorlesungen.

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Depression und Suizidproblematik

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Einigen Fällen aus den Medical Journals kann keine sichere psychiatrische Diagnose zugeordnet werden. In jedem Fall von Debility ist aber neben den somatischen Befunden ein psychopathologisch auffälliges Bild beschrieben. Nie ist Debility ausschließlich als körperlicher Schwächezustand dargestellt. Daraus lässt sich schließen, dass er von den Schiffsärzten nicht rein körperlich aufgefasst worden ist und dass er auch von den betroffenen Seeleuten nicht nur körperlich erlebt wurde, mögen sie sich auch noch so wenig in psychologischen Begrifflichkeiten ausgedrückt haben. Der vorläufige Ausgang der Debility-Fälle ist zum größeren Anteil die Überweisung in das nächste erreichbare Hospital (22 Mal) und die Invalidisierung (13 Mal), teils im Krankenhaus (viermal), teils direkt an Bord (neunmal). Drei der Patienten kehren zu ihrem Dienst zurück. Ein Patient verstirbt im Hospital, in das er verlegt worden ist. Einmal fehlen Angaben zum weiteren Verlauf. Das Alter der Betroffenen verteilt sich gleichmäßig auf die verschiedenen Altersabschnitte und ist, verglichen mit anderen Erkrankungsgruppen, eher etwas nach oben verschoben. Zwei der Patienten waren unter 20 Jahre. 13 von ihnen waren bis 30 Jahre alt, zwölf waren bis 40 Jahre alt, und immerhin fünf waren zwischen 41 und 58 Jahre alt, ein für die Besatzung eines Schiffes damaliger Zeit hohes Alter. Zweimal fehlt die Altersangabe. 17 der Patienten gehören der »einfachen« Mannschaft, fünf den Offiziersrängen an. Fünf weitere waren Heizer und fünf der Patienten Marinesoldaten. Einmal fehlt die Angabe zum Dienstposten an Bord. Die Diagnose Debility findet sich in den Statistiken stets relativ häufig und mit eher geringer Rate an Invalidisierung (379 Fälle mit zehn Invalidisierungen z. B. im ersten Bericht 1830–1836).199 Sie konnte in der Gruppe der Nervous Diseases, Various oder Unclassed, aber auch unter Dyspepsia &c aufgelistet sein. Nur im Statistical Report für 1837 bis 1843 taucht die Bezeichnung Melancholia mit sieben Fällen auf.200 Die Debility und damit die Depressionsdiagnose zeigt beispielhaft die Problematik der Verwendung aufbereiteter, statistischer Quellen auf, deren Ver­ zerrungen wir nicht aus ihnen selbst herausrechnen können.

5.6.2 »Dyspepsia«, »Cachexia«, »Anasarca« – Fallberichte depressiver Bilder bei schweren Allgemeinerkrankungen Jede schwere körperliche Erkrankung kann bei ausbleibender Heilung oder zögerlicher Besserung mit einer Störung der psychischen Verfassung bis hin zu schwerer Beeinträchtigung einhergehen. Unterschiedlichste psychische Reak­ 199 House of Commons 1841 (53) Navy (health): Stat. Rep. für 1830–36, S. 106. 200 House of Commons 1853 (555) Navy (health): Stat. Rep. für 1837–43, S 84.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

tionen sind denkbar, denn es gilt die Nicht-Spezifität: Jedes psychische Symptom kann mit jeder Ursache verknüpft sein. Ein Teil dieser Beeinträchtigungen ist in den 35 vorangehenden Fallberichten mit der Diagnose Debility bereits erfasst. Die folgenden sechs Beispielfälle, die lediglich eine somatische Diagnose tragen, zeigen, dass psychische Störungen, auch wenn sie diagnostisch verborgen blieben, genau beobachtet und mitfühlend geschildert wurden. Fallberichte 36. Fall: Case 48 der Pylades (1858) – »Dyspepsia«201 Der 28-jährige Ingenieurs-Assistent wird im Hafen von Kalkutta zur Weiter­ behandlung in ein Krankenhaus an Land überwiesen. Ein Brief an den Kollegen beschreibt die zunächst behandelte Störung des Magen-Darm-Traktes (»­dyspepsia associated with some diarrhoea«), die aber mittlerweile von Stirnkopfschmerz, Appetitmangel und allgemeiner Schwäche überlagert sei. Ansonsten sei der Patient ein »stabil aussehender junger Mann, etwas blass, mit blauen Augen und hellbraunem Haar«. (»Mr. J. when in health is that of a stout looking young man, a little sallow with blue eyes and light brown hair.«) Offensichtlich gab es in Kalkutta eine Institution zur stationären Behandlung mit der Adresse Establishment No. 1, Little Rupell Street, und auch die Möglichkeit, Patienten in das Hindoo College zur Behandlung zu schicken. Entschuldigend schreibt Dr. Caddy, er habe unter dem Druck vieler Arbeit nur einen hastigen Bericht schreiben können und schließt mit der von den Schiffsärzten häufig benutzten, sehr höflichen Formel: »… under pressure of much duty this hasty report is written. I am, Sir, Your obedient Servant John Turner Caddy M. D. Surgeon«. 37. Fall: Case 45 der Sanspareil (1858) – »Cachexia«202 »Vollkommen frei von körperlicher Krankheit und dennoch appetitlos, Körpergewicht verlierend, das System ausgezehrt« (»Perfectly free from organic disease … loss of appetite and other symptoms accompanying a cachectic state of the system.«), so beschreibt Surgeon Mason den 20-jährigen Captain’s Steward, der im Übrigen von »zarter und skrofulöser Konstitution« (»of delicate and scrofulouse constitution«) ist. Alle Medikamente helfen nicht. Es scheint das Klima zu sein, denn bislang war er bei guter Gesundheit. Wir finden ein depressiv-antriebsloses Bild mit ausgeprägten somatischen Symptomen, ohne dass der berichterstattende Arzt die psychopathologische

201 Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 1. Teil, 25.2.–31.12.1858, TNA, ADM 101/167, lfd. Fallnr. 48. 202 Mason, Richard, HM Ship of the Line Sanspareil 1.1.1858–15.2.1859, TNA, ADM 101/ 166/1A, lfd. Fallnr. 45.

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Ebene, die er gut beschreibt, ausdrücklich nennt. Vielmehr ist Auszehrungszustand, »Kachexie«, die Diagnose. 38. Fall: Case 620 der Sanspareil (1858) – »Anasarca«203 Eine tödliche Krankheit ereilt einen 36-jährigen Vollmatrosen der Sanspareil, beginnend mit Ikterus (»Gelbsucht«) und in zunehmendes Kreislaufversagen mündend. Hauptsymptom, das zur Gesamtdiagnose Anasarca führt, ist die (lagerungsabhängige) massive Wasseransammlung im ganzen Körper. Dabei wird explizit die psychische Verfassung des Schwerkranken festgehalten, wie sie bei progredienter Bewusstseinstrübung im Leber- und Nierenversagen zu beobachten ist: Immer schläfriger wird der Patient, bis er in ständigem Halbschlaf liegt. (»He became also very drowsy and lethargic, lying generally in a state of half sleep, from which, however, he was readily roused.«) Nach 3-wöchiger Behandlung verstirbt er am 16.  Oktober 1858 unter großer Atemnot, da aufgestaute Aszites­ flüssigkeit im Bauchraum die Zwerchfellatmung behindert. 39. Fall: Case 9 der Sphinx (1862) – »Palpitatio«204 Hauptbefund des 24-jährigen schottischen Leutnants John M. ist eine Herz­ muskelschwäche. Herzstolpern und Herzklopfen gibt dem Fall die Diagnose Palpitatio. Die psychische Verfassung wird als »great mental depression« beschrieben. 40. Fall: Case 3 der Coromandel (1864) – »Morbus Cordis«205 Der 36-jährige John S. wird von Surgeon Dickens bildkräftig so beschrieben: »A well grown lymphatic man, with clear skin, blue eyes, masses of hair, and a countenance expressive of a certain melancholy or want of spirits.« Mit diffusen Beschwerden in der Brust, andauernder Müdigkeit, Alpträumen (»unpleasant dreams«), Atemnot und allgemeiner Schwäche bei jedem etwas anstrengenderen Dienst ist der Heizer 131 Tage auf der Krankenliste. Sein Ausdruck wird, während er immer weiter abnimmt, »ängstlich und spitz«. Ein richtungsweisender Befund könnte ein pathologisches Geräusch über der Herzbasis und eine Arrhythmie sein. Am 23. August 1864 wird er nach seiner ungewöhnlich langen Behandlung invalidisiert und mit der Hesper nach Hongkong geschickt, um auf seinen Rücktransport nach England zu warten. Der Schiffsarzt hat vermutlich nicht nur seine Leser im Blick, sondern drückt wahrscheinlich auch seine Ratlosigkeit über die immer gleichen, unklaren Symptome aus, wenn er schreibt: »It would be tedious to give daily symptoms etc 203 Ebd., lfd. Fallnr. 620. 204 King, Gilbert L., HM Sloop Sphinx 1.10.1861–1.10.1862, TNA, ADM 101/173, lfd. Fallnr. 9. 205 Dickins, F. V., HM Sloop Coromandel 1.1.–30.9.1864, TNA, ADM 101/178, lfd. Fallnr. 3.

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of such a case. I therefore write down only a brief resumé.« Auch wenn die Diagnose Morbus Cordis im Sinne einer Herzerkrankung durchaus wahrscheinlich ist, ist die psychoreaktive Seite des Geschehens ebenso evident. Unter der Vorstellung eines gehemmt-depressiven Syndromes ergeben die aufgezählten anhaltenden und auf die üblichen medikamentösen Behandlungen nicht reagierenden Symptome einen plausiblen Zusammenhang. 41. Fall: Case 21 und 25 der Rinaldo (1872) – »Dyspepsia & Debility«206 Hier könnte eine rachitische Wachstumsstörung (»He presents an imperfect development of chest and his whole appearence is quite the opposite of what is re­ quired for entry.«) und eine Hepatic Disturbance, eine Leberfunktiosstörung (die zu Schwindel, Müdigkeit, Kraft- und Lustlosigkeit führt) beschrieben sein, die unaufgeklärt zur Dienstunfähigkeit führt. Auswertung In den dargestellten sechs Fällen von depressiver Symptomatik bei körperlicher Grundkrankheit ist zweimal das Herz das erkrankte Organ, zweimal sind es unklare Abdominal- also Baucherkrankungen, einmal mit Durchfall, einmal mit einer Leberfunktionsstörung, und einmal ist es ein unklares Bild von »Auszehrung«. Betroffen sind ein Offizier und fünf Männer der Schiffsmannschaft. Ihr Alter liegt zwischen 20 und 36 Jahren.207

5.6.3 »… and threw himself into the sea« – Suizidalität an Bord Vier Fallberichte von Suizidalität fanden sich in den archivierten Journalen und Jahresberichten unseres Untersuchungszeitraumes. In drei Fällen geschah der Suizid durch Ertrinken. Dreimal ist der Suizid im Zusammenhang mit akuter psychotischer Erlebnisweise zu sehen, zweimal scheint panische Furcht vor Bestrafung Auslöser zu sein. In drei Fällen spielt Alkoholmissbrauch eine zentrale Rolle. Ausführlich wird eine tödliche Schussverletzung des Kopfes geschildert, die sich nach eingehenden Überlegungen als Unfall darstellt, aber auch die Frage nach einem Suizid aufwirft. Die im Abschnitt 5.11 »Ertrinken« vorgestellten Unfälle könnten zu jenem Teil auch hier behandelt werden, zu dem sie gar keine Unfälle, sondern absichtlich herbeigeführte Selbsttötungen waren. Jedoch 206 Buckley, John., HM Sloop Rinaldo 1.1.–31.12.1872, TNA, ADM 101/188, lfd. Fallnr.  21 und 25. 207 Die beiden in der Schifffahrt bedeutsamen Krankheiten Malaria und Beriberi können nicht nur allgemeine Schwäche, sondern auch ein buntes Bild psychischer und neuro­ logischer Symptome hervorrufen. Im 19. Jahrhundert war der Vitamin-B1-Mangel als Grund für die Beriberi noch unbekannt.

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Depression und Suizidproblematik

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ließ es sich damals und lässt es sich im Nachhinein nicht mit Bestimmtheit sagen, in welchem Falle eine solche Motivation mit im Spiel war. An vielen weiteren Stellen unseres Quellenmaterials finden sich Hinweise auf Suizidalität. Fallberichte 42. Fall: Case (ohne Nummerierung) der Acorn (1860)  – »Managed to throw himself out of the quarterport«208 In den General Remarks der Acorn berichtet Surgeon O’Brien von einem besonders tragischen Tod durch Ertrinken. Er muss den Tod durch Suizid in einem problematischen Kontext erklären. Ein 25-jähriger Marinesoldat war wegen Diebstahles zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Er wurde am 7. Oktober 1860 »in Eisen gelegt«. Die darauffolgende Nacht sollte er in einer Art Zelle ver­ bringen. Diese war an Deck aus Segeltuch gebildet worden, eine oft ausgeführte und in den Statuten vorgesehene Art des Freiheitsentzuges. O’Brien schreibt, der Betroffene habe es »geschafft, sich durch die Heckluke in die See zu werfen«. (»Managed to throw himself out of the quarterport.«) Er ertrinkt. Zwei Tage später taucht seine Leiche an der Wasseroberfläche auf. Eine Untersuchungs­ kommission konstatiert daraufhin im Bericht an die Admiralität »zeitweise Geisteskrankheit als Folge einer Vergiftung«, worunter die Leser in der Londoner Administration sicherlich Alkoholmissbrauch verstanden haben. Die Kasuistik ist auch in den Abschnitten »Mania« (6. Fall, mit Transkript) bespochen. Im statistischen Bericht für das Jahr 1860 wird dieser Fall neben einem weiteren Suizid (an Bord der Odin) durch Verschlucken von Tabak aus Furcht vor Bestrafung erwähnt209: »Two men committed suicide for the fear of punishment; one, a marine, threw himself into the sea; the other, a stoker poisoned himself by swallowing tobacco.« 43. Fall: Case 7 der Princess Charlotte (1868) – »Drowning«210 Schiffsarzt Robert Nelson von der Princess Charlotte hat sich um einen Suizid an Bord des Kanonenbootes Bouncer zu kümmern. Er berichtet, dass, während das Boot auf See war, der 26-jährige Seemann am Nachmittag des 4. Mai 1868 über Bord gesprungen sei. Angenommen wurde, dass der Mann kurz vor seiner Suizidhandlung massiv getrunken hatte und dass er sowohl an den Folgen dieses Trinkexzesses, als auch unter der Androhung einer Strafe litt. Bestrafung drohte ihm, weil er während seiner Wache schlafend vorgefunden worden war. 208 O’Brien, William E., HM Sloop Acorn 2. Teil, 1.1.–31.12.1860, TNA, ADM 101/171, General Remarks. 209 House of Commons 1863 (133) Navy (health): Stat. Rep. für 1860, S. 167. 210 Nelson, Robert, HM Frigate Princess Charlotte 1.1.–31.12.1868, TNA, ADM 101/181, lfd. Fallnr. 7.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

Oft schon habe er, Nelson, den Mann unter Beobachtung gehabt, ohne dabei Anlass zu der Annahme gehabt zu haben, dieser sei geistig nicht gesund. Es war bekannt, dass der betroffene Matrose Timothy H. nicht schwimmen konnte. Seine Leiche wurde nicht gefunden. Case 7: Drowning H. Timothy aet 26, Pt.R. M. L. I. Wolwich, Division. For service in tender Gunboat »Bouncer«. Committed Suicide on the afternoon of the 4th May by jumping over board from his gunboat whilst at sea. It appears that he had recently been drinking heavily and was at the time suffering from the effects of a debauch and smarting under punishment for having been found asleep on his watch. He could not swim and body was not recovered. I have had this man frequently under personal observation and had no reason to think him of unsound mind. Case reported in a letter to the Director-General dated 29th May.

44. Fall: Case (aus dem Statistical Report) der Childers (1842) – »… threw himself into the sea.«211 Eine lakonische Schilderung finden wir im Jahresbericht für 1842. Unter 34 ertrunkenen Matrosen werden drei sicher als Selbsttötung identifiziert. Einer von ihnen ist als raptusartiger, dabei konsequent durchgeführter Fall einer Suizidhandlung geschildert. Ein Offizier, offenbar unter dem Eindruck eines voll entwickelten oder bereits ausklingenden Alkoholentzugsdelires stehend, wird in seiner Kabine an Bord der Childers bewacht. Vielleicht hatte er schon Suizidgedanken geäußert, vielleicht war er psychomotorisch sehr unruhig gewesen. Der Mann, der ihn beobachten soll, verlässt für einen Moment die Offizierskabine. Daraufhin verschließt der in diesem Augenblick unbeobachtete Patient seine Kabinentür von innen, öffnet das Bullauge seiner Kammer und wirft sich in die See. Die Schilderung, so knapp sie in dem Report gehalten ist, vermittelt den Eindruck, dass alles blitzschnell abgelaufen ist. »Thirty-four deaths occured by drowning, but of these three were suicidal. As to the causes which led to these acts, there is nothing stated in the medical returns respecting two of them, beyond the facts that the men jumped overboard. With respect to the third, it is mentioned that the patient, an officer, was or had been suffering from delirium tremens, and that when the man who had charge of him went out of the cabin for a moment, he started up bolted the door and opening the sash of the port, threw himself into the sea.«

211 House of Commons 1853 (555) Navy (health): Stat. Rep. für 1837–43, S 61.

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Depression und Suizidproblematik

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45. Fall: Case 44 der Juno (1876) – »Sunstroke and Rupture of Spleen« Zu verweisen ist an dieser Stelle auf den oben dargestellten 17. Fall von Hitzschlag unter Sonneneinwirkung an Bord der Juno 1876. Bei einem 18-jährigen Matrosen war es nach Sonnenexposition zu Symptomen einer Hyperthermie gekommen, dann zu einem Erregungszustand im Sinne eines Durchgangssyndromes, schließlich zu einem komatösen Zustand mit Krampfanfällen, die allerdings auch reinen Erregungszuständen entsprechen könnten. Er stirbt im Hospital von Shanghai. Post mortem wird eine Milzruptur als wahrscheinliche Todesursache festgestellt. Mehrere Wunden werden vom obduzierenden Arzt als absichtlich zugefügte Selbstverletzung gedeutet. Eine Krankenschwester des Hospitals hatte beobachtet, wie der Patient versucht hatte, sich über das Ge­ länder des Treppenhauses in den Tod zu stürzen. Der ganze Fall bleibt in seiner wechselseitigen Bedingtheit dem Schiffsarzt wie auch dem heutigen Leser dieses Verlaufsberichtes rätselhaft, noch dazu in seinem tragischen Ausgang. 46. Fall: Case 14 der Ruby (1880) – »Gunshot wound head«212 In der Mittagsstunde des 12. August 1880 wird Staff Surgeon Stone in die Kabine eines Leutnants gerufen, wo er ihn mit schwerster Zerstörung des Kopfes auf seinem Stuhl sitzend vorfindet, noch atmend. Sein Kopf lehnt gegen eine Kommode, seine rechte Hand hält die Läufe einer Vogelflinte (»fowling piece«), die linke hängt seitlich herunter. Das Gewehr steht mit dem Kolben auf dem Boden, die Mündung lehnt gegen sein rechtes Auge. Vom Schuss zerstört ist der rechte obere Rand der Augenhöhle und ein Teil der Stirn und des Gehirns. Der Schiffsarzt versucht noch, durch Druck auf die rechte Halsschlagader eine pulsierende Blutung zu verringern, aber nach kurzer Zeit verstirbt der Mann. Eine Kommission, bestehend aus dem Kapitän und dem Flottenarzt der Euryalus, sowie dem Zahlmeister und dem Arzt der Ruby versucht, den Hergang in der Annahme eines Suizides durch Überlegung und Nachstellen zu rekonstruieren und kommt dabei zu dem Schluss, dass der Verstorbene den Abzug an seinem Gewehr nicht selbst mit seiner freien linken Hand hat betätigen können. Auch war kein Seilmechanismus in Verbindung mit dem Abzug des leergeschossenen Laufes zu sehen, und selbst die Überlegung, ob er es mit einer Zehe getan haben könnte, wird angestellt und verworfen, da er seine Stiefel trug. Schließlich findet sich auch kein Brief mit irgendeinem Bezug auf das Geschehen. Vielmehr hatte sich der Leutnant noch zwanzig Minuten vor dem Ereignis mit mehreren Personen unterhalten und dabei lebhaftes Interesse an Details, die das Schiff betrafen, gezeigt. An Gesundheitsproblemen waren Staff Surgeon Stone nur Obstipationsbeschwerden bekannt, die er mit mangelnder Bewegung des Betreffenden seit dem Auslaufen in England erklärt und die durch 212 Stone, John N., HM Sloop Ruby 2.7.–31.12.1880, TNA, ADM 101/200, lfd. Fallnr. 14.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

mehrere Ausritte seit Erreichen von Sansibar abgeklungen seien. Der Verstorbene sei »in guter physischer Verfassung« gewesen und habe »kein Zeichen irgend einer geistigen Schwäche gezeigt«. So stellt die Kommission letztendlich fest, dass sich versehentlich ein Schuss aus dem Gewehr gelöst haben muss, mit dem der Offizier von seinem Kabinenfenster aus Vögel schießen wollte, mithin ein Unfall vorliege. (»It was therefore considered that the deceased … had met with his death by the accidental discharge of his gun which he had probably loaded with a view to shooting birds from his cabin window.«) Nicht angesprochen ist die Frage, ob irgendetwas auf Fremdverschuldung hinweist. Auswertung Suizidversuch und vollendeter Suizid sind als Problematik wie in jedem gesellschaftlichen Subsystem, so auch an Bord von Schiffen zu bedenken. Suizida­ lität an Bord war und ist ein ebenso oder noch stärker tabuisiertes Thema als in der Alltagswelt an Land. Andererseits ist es an Bord, in dieser besonderen, abgeschlossenen, den Elementen ausgelieferten Welt, unterschwellig, fast mystisch präsent. Schon der Kapitän, der mit seinem Schiff untergehen »will«, kann suizidal handeln. Joseph Conrad hat dies beschrieben.213 Auch der »Fliegende Holländer« wünscht sich eher den Tod, als weiterhin über die Meere ziehen zu müssen. Die Häufigkeit von Suizidhandlungen ist vor dem Hintergrund der extremen Belastung an Bord, in tropischem Klima und unter unvorstellbar beengten und einfachen Verhältnissen zu sehen. Alle Zahlen bezüglich der Suizidalität sind mit Vorsicht zu interpretieren, da die große Zahl unaufgeklärter Unfälle, besonders die Ertrinkensfälle auf eine hohe Dunkelziffer hinweisen. Gedanken zu den belastenden und zu den hilfreichen Aspekten der Bordsituation sind im Ergebnis-Kapitel unter 7.2.6 ausgeführt. Einen größeren Überblick, wenn auch keine systematische und vollständige Erfassung, liefern uns die Statistical Reports, die mit einer längeren Unter­ brechung seit 1830 erstellt wurden. Der erste dieser Reports, die Jahre 1830 bis 1836 umfassend, weist 224 Todesfälle bei 1600 bis 2200 Mann Besatzung aus. Darunter waren 28 Unfälle und erstaunlicherweise kein Suizid.214 (»No case of suicide was traced.«) Im Bericht für 1837 bis 1843 sind bei 109 Ertrunkenen fünf als sicher suizidale Handlung vermerkt. Zur Relation sei angeführt: Die ostindische Station hatte bei einer durchschnittlichen Mannschaftsstärke von knapp 4000 Mann insgesamt 1232 Tote zu beklagen, das sind 44,7 ‰ der Gesamtzahl. An Krank 213 Besonders wäre an die Erzählungen »Das Ende vom Lied«, »Der geheime Teilhaber« und »Die Geschichte« zu denken. Vgl.: Conrad, Joseph: Geschichten vom Hörensagen, Frankfurt am Main 1959, S. 136–267, 322–353, 616–632. 214 House of Commons 1841 (53) Navy (health): Stat. Rep. für 1830–36, S. 111.

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heiten verstarben 943 (34,2 ‰), durch Unfall 228 Seeleute (8,3 ‰). Die Differenz von 61 Toten sind die in militärischen Einsätzen Gefallenen. Unter den 228 Unfallopfern findet sich die erhebliche Zahl von 107 Todesfällen, deren Ursache laut Report nicht geklärt war.215 Unter dieser großen Rate von fast 50 % der Unfälle und gegen 10 % der Gesamtzahl Verstorbener muss eine eine nicht näher bestimmbare, aber wahrscheinlich nicht unbeträchtliche Zahl von Suizidhandlungen angenommen werden. Für das Berichtsjahr 1856 finden wir in den entsprechenden Tabellen einen Suizid (durch Ertrinken »im Delirium«, auf dem Schiff Sampson) sowie einen Suizidversuch im akuten Alkoholrausch, ferner weitere zehn Ertrunkene und einen ungeklärten Todesfall.216 Der zeitgenössische Berichterstatter von 1866, Friedel, übergeht das Thema innerhalb seiner ansonsten akribischen Arbeit so vollständig, dass der Eindruck entsteht, er habe die Problematik für seinen Auftraggeber, die Admiralität in Berlin, die sich an die britische Marine anlehnen wollte, komplett ausgeblendet. Eine Tabelle soll über die Größenordnung der statistisch erfassten Suizidfälle in den Jahren 1830 bis 1880 jeweils in der East India and China Station unterrichten. Tabelle 6: Suizidfälle in den Jahresberichten der Royal Navy Todesursache (Absolutzahlen) ungeklärt

ertrunken

Suizid

Unfall

Besatzung

Krankheit

Jahr

1830–36

1 900

224

28

?

?

1837–43

4 000

937

295

107

104

1856

bei 3 400

91

25

1

11

1 »jumping over board«

1857

7 100

243

85

3

29

2 »suicidal wounds«

1858

11 300

606

100

15

49

3 »by strangling«

1859

6 600

206

116

?

18

1 »by shooting himsf.«

1862

3 750

204

33

6

17

1 »drowned«

1863

5 000

116

51

10

10

2 »one while insane by drowning himself and the other by shooting himself through the heart«

»no case« 5 »drowned«

215 House of Commons 1853 (555) Navy (health): Stat. Rep. für 1837–43, S 84–86. 216 House of Commons 1858 (473) Navy (health): Stat. Rep. für 1856, S. 148, 151 und 153.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

Die unterschiedlichsten Weisen des Suizides sind beschrieben. Die zahlenmäßig bedeutendste Suizidhandlung war das Über-Bord-Springen. Der Suicide by Drowning oder die Bezeichnung Jumped over board ist teilweise als eigene Kategorie erfasst.217 Unsere Fallberichte Nr. 42 bis 44 dokumentieren absichtlich herbeigeführtes Ertrinken. Viele Suizide an Bord geschahen aber auch mit den Waffen der Marinesoldaten und mit den Werkzeugen der Matrosen. Für 1857 sind unter Wounds zwei Suizide vermerkt (auf der Nankin und der Acorn) und knapp mit dem Satz kommentiert: »Thirteen deaths occurred from accidental injuries, two from suicidal wounds, and twenty-nine from drowning.«218 Die Reports von 1858 und 1859 berichten vom Gebrauch einer Schusswaffe: »A Private of the Royal Marines, while s­ erving on police duty at Canton, committed suicide discharging the contents of a revolver through his brain.«219 Und für 1859: »One man was killed in action with a piratical force, four by accidental injuries, and one committed suicide by shooting himself.«220Auf die Verwendung eines Messers oder einer Waffe deutet eine Notiz im Report 1870–71 für die chinesische Station mit »Wound of artery, suicidal« an.221 Unser 42. Fallbericht erwähnt eine absichtliche Tabakvergiftung. 1858 ist ein Tod durch Erhängen vermerkt, ergänzt um die Angabe, der Mann habe unter »vorübergehender Geisteskrankheit« gelitten: »A Seamen in the Chesapeake, committed suicide by strangling himself with a cord while labouring under temporary insanity.«222 Auch im 8. Fall »Mania« sind Suizidversuche eines Matrosen durch Strangulieren berichtet. Auf die erhöhte Suizidgefahr bei Alkoholmissbrauch wurde bereits im Kapitel »Delirium tremens« hingewiesen. Plötzliche Stimmungsschwankungen und verringerte Selbstkontrolle können jederzeit in Suizidimpulse münden.223 217 Erstere in: House of Commons 1853 (555) Navy (health): Stat. Rep. für 1837–43, S 85, letztere in: House of Commons 1861 (175) Navy (health): Stat. Rep. für 1858, S. 61. 218 House of Commons 1858 (473) Navy (health): Stat. Rep. für 1856, S. 118. 219 House of Commons 1861 (175) Navy (health): Stat. Rep. für 1858, S. 138. 220 House of Commons 1862 (199) Navy (health): Stat. Rep. für 1859, S. 133. 221 House of Commons 1872 (458) Navy (health): Stat. Rep. für 1870–71, S. 92. Nach Schadewaldt bestand der Anlass für eine erstmals dokumentierte operative Unterbindung der Arteria carotis communis (der Halsschlagader) im Jahre 1803 in einer Suizidhandlung durch Schnittverletzung an der Kehle. (Schadewaldt: Schiffschirurgie, S. 1737). 222 House of Commons 1858 (473) Navy (health): Stat. Rep. für 1856, S. 138. 223 Ein Beispiel für einen Suizid an Bord im Rahmen einer paranoiden schizophrenen Psychose finden wir im Bericht der Krusenstern-Expedition. Ein Leutnant der »Nadeshda« litt unter Verfolgungs- und Vergiftungsängsten, die ihn in der Enge und Unausweichlichkeit des Schiffes zu der Verzweiflungstat trieben, sich mit seiner Waffe zu erschießen, nachdem er »den Morgen eine ganze Bouteille Liqueur ausgetrunken hatte«. Vgl.: Seidel, S. 40. Er macht dort die Quellenangabe »Bd. 3 der »Reise um die Welt«, 1810–1812 St. Petersburg, S.  225. Noch deutlicher ist das Krankheitsbild in der Primärquelle der Krusenstern-Expedition beschrieben. (Krusenstern, Ivan Fedorovich: Reise um die Welt in den Jahren 1803–1806 auf den Schiffen Nadeshda und Newa, Bremen 2009, S. 416, 2. Bd.) Ein weiteres Fallbeispiel ent-

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Depression und Suizidproblematik

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Die Bedeutung der Suizidalität drückt sich auch darin aus, dass es im wichtigsten medizinischen Anleitungsbuch für die Handelsschifffahrt ein Stichwort »Hanging« gibt.224 Die in der Literatur immer wieder behandelte Häufung von Suizidhandlungen bei Heizern der Dampfschiffe ist in dem hier untersuchten Quellenmaterial nicht zu finden.225 Es handelte sich dabei um ein Phänomen in einer bestimmten Zeit der Dampferfahrt Ende des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Nach Nocht hatte das Maschinenpersonal eine fünffache, die Gruppe der Kohlenzieher gar eine 20-fache Suizidrate, verglichen mit der gleichaltrigen männlichen Landbevölkerung.226 Da »die meisten Selbstmorde dort vorkommen, wo es am heißesten ist«, fordert er eine Schonung der Erschöpften sowie sorgfältige Auswahl und ausreichende Zahl des Heizerpersonales. Diese Verhältnisse seien auf den Kriegsschiffen genügend berücksichtigt. Die Suizide seien dort sehr viel seltener als in der Handelsflotte »und bleiben innerhalb der allgemeinen für die gleichalterige Bevölkerung am Lande geltenden Zahlen«.227 Eine Untersuchung der deutschen Kriegsmarine für die Jahrzehnte 1870 bis 1900 weist allerdings auch auf die Suizidgefahr auf ihren Schiffen hin. Besonders die erstmals in die Tropen fahrenden Heizer, die die Vorboten der Erkrankung aus Unkenntnis nicht beachteten, seien gefährdet. Es sei »auffallend, dass die nach Hitzschlag auftretenden Psychosen oft unter dem Bilde einer Melancholie verlaufen und eine starke Neigung zu Angriffen auf das eigene Leben zeigen.«228 Auch die Seekrankheit gehört zu den Bedingungen, unter denen Suizidgedanken aufkommen können. Immer wieder liest man von dem bei schwerer Seekrankheit erlebten Wunsch, lieber zu sterben als weiter die heftigste Übelkeit und das durch Mark und Bein gehende Unwohlsein zu ertragen. Es wird auch auf den hier untersuchten Schiffen schwer seekranke Besatzungsmitglieder gegeben haben. Von Suizidgedanken in diesem Zusammenhang finden wir in den untersuchten Journalen jedoch nicht die geringste Andeutung. Derlei Impulse hält dieser Expeditionsbericht: Das russische Schiff hatte die an sich ehrenvolle Aufgabe, fünf aus dem Meer gefischte japanische Schiffbrüchige in ihre Heimat zurückzubringen. Einer dieser Seeleute fürchtete sich jedoch so vor seiner Rückkehr (vielleicht aus Schamgefühlen über sein durchgemachtes Unglück?), dass er sich an Bord der »Nadeshda« sein Rasiermesser in den Rachen stieß. Da er dabei kein größeres arterielles Gefäß verletzte, überlebte er. Vgl.: Langsdorff 1812, 1. Bd., S. 249, zit. n. Seidel: Medizinische Beobachtungen. 224 Spencer Wells: The Scale of Medicines, S. 119–122 und 141. Die Handlungsanweisung lautet auf kalte Wasserduschen auf Kopf und Brust, Einreiben der Brust mit Senf oder Terpentin (zwei der als anregend geltende Arzneien) und, wenn möglich Aderlass vom Arm. 225 Vergleiche die Arbeiten von Gerdau, S. 56–58; Kiupel, S. 139–174; Frohberg: Gesundheitsschäden der Heizer; ders.: Über die Hitzebelastung; Rath: Heizer und Trimmer; ders.: Lebens- und Arbeitsbedingungen. 226 Nocht: Vorlesungen, S. 39. 227 Ebd., S. 39–41 228 Podestà: Häufigkeit und Ursachen, S. 678.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

drangen unter der Disziplin an Bord nicht bis an das Ohr des Schiffsarztes. Ein Fallbericht und zeitgenössische Literaturangaben zur Seekrankheit sind im Abschnitt 5.7.3 »Anpassungsstörungen« wiedergegeben. Ebenso im Verborgenen bleibt das rätselhafte Phänomen der »Calenture«. Es handelt sich dabei um einen zwanghaft erlebten Impuls, über Bord zu springen. Beschreibungen Betroffener betonen durchgängig, handlungsbestimmend sei die Phantasie, man könne über das Meer in ein Paradies schweben, und es werde der unkontrollierbare Wunsch erlebt, sich mit dem Zuhause (und damit dem vermeintlichen Land)  zu vereinigen. Als begünstigende Faktoren werden allgemein Fahrt auf hoher See, heißes, ruhiges Wetter, leerer Horizont und physische Erschöpfung, mithin durchaus typische Umgebungsbedingungen des Seemannes angenommen. Einzig von Macleod, der als Schiffsarzt die Crew eines großen Schiffes befragt hat, gibt es eine wissenschaftliche Veröffentlichung zu diesem Thema.229 Darin diskutiert er das »ozeanische Gefühl« (als Begriff Sigmund Freuds) und den »primären Narzissmus« (als Begriff Otto Fenichels) als möglicherweise erklärenden psychodynamischen Vorgang. Jeder Zweite in der von Macleod befragten Crew hatte irgendwann einmal den Impuls, über Bord zu springen, erlebt. Im engeren Sinne handelt es sich bei der »Calenture« wohl nicht um ein suizidales Geschehen, jedoch ist bei ansonsten fehlender manifester psychotischer Erkrankung phänomenologisch doch von einem aktiv herbeigeführten Tod zu sprechen, der in einem narzisstisch motivierten Rauschzustand herbeigeführt wird. Solche der eigenen Kontrolle entgleitenden Phantasien spielen bei vielen Suizidkrisen eine wesentliche Rolle. Betrachtet man Forschungsergebnisse zur gegenwärtigen Suizidproblematik im maritimen Bereich, so lässt sich feststellen, dass die auslösenden Konflikte

229 Macleod, A. D.: Calenture – missing at sea?, Brit. J. Med. Psychol. (1983), S. 347–350. Für mündliche Berichte aufgrund eigener Beobachtungen bei Schiffsbesatzungen danke ich dem Schiffsmechaniker und Nautikstudenten Malte Pertiet, Schleswig. Nutzt man die entsprechende Suchfunktion bei Google, taucht der Begriff »Calenture« immerhin in so prominenten Werken wie denen von Swift und Dickens auf, zweier Autoren, deren Fähigkeit, Themen ihrer Zeit aufzugreifen, unbestritten ist. »I had several men who died in my ship of calentures, so that I was forced to get recruits out of Barbadoes and the Leeward Islands, where I touched, by the direction of the merchants who employed me; which I had soon too much cause to repent: for I found afterwards, that most of them had been buccaneers.« (Zitat aus: Jonathan Swift: Guliver’s Travels, Ausgabe London 1826, Band 1, S. 97) (http://books.google. de/books?id=ta1uaL7RF5gC&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r& cad=0#v=onepage&q&f=false, 17.03.2012). »A mild fit of calenture seizes him, in which he deems that the ground so far below, is on a level with the tower, and would as lief walk off the tower into the air as not.« (Charles Dickens: The Mystery of Edwin Drood, Ausgabe Cambridge 1871, S.  171) (http://books. google.de/books?id=YGUVAAAAYAAJ&printsec=frontcover&hl=de#v=onepage&q&f= false, 17.03.2012).

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Verschiedene Formen von Anpassungsstörungen

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im 19. und im 20. Jahrhundert im wesentlichen dieselben geblieben sind.230 Arbeitsbezogene Konflikte an Bord, aber auch familiäre Konflikte, bekannte psychische Störungen, extrem lange Reisen und kriegsbezogene Gefahren und Ängste korrelieren mit der Häufigkeit. 80 % der Suizide in der Handelsschifffahrt erfolgen auch heute durch Sprung in das Meer, im militärischen Bereich sind Schusswaffen und Erhängen dominierend.

5.7 »Overanxiety«, »Nervous Shock«, »Sea Sickness«, »Deafness«, »Hemeralopia«, »Amaurosis« – Verschiedene Formen von Anpassungsstörungen Dreizehn Fallgeschichten psychischer Störungsbilder als Reaktion auf eine Extrembelastung konnten identifiziert werden. Von der Schockreaktion eines Matrosen, der seinen Kameraden vom Blitzschlag getötet sieht, wurde bereits im Kapitel 5.1.8 »Blitzunfälle« berichtet. Nach einem Hitzschlag und bei zwei Fällen mit Herz- bzw. Lungenproblemen ist deutliche Angst und depressive Re­ aktion beschrieben. Ein blinder Zufall fügt einem schlafenden Schiffsjungen eine Kopfverletzung zu, einem in einer Hafenkneipe im Rausch eingeschlafenen Matrosen wird ein Ohr abgeschnitten, und schließlich geht ein scherzhaft gemeintes Versteckspiel für den Spaßvogel höchst fatal aus. Einmal sind die Auswirkungen eines Hitzschlages nicht zu trennen von der Wirkung der Hänselei der Schiffsgefährten gegenüber dem minder­begabten, einfachen Mann. Ähnlich wechselseitig verknüpft ist die Geschichte eines Schiffsjungen, der seine Minderbegabung zwar durch besonders eifrige Pflichterfüllung auszugleichen versucht, aber doch nur von Schiff zu Schiff »weitergereicht« wird. Eine Form von außergewöhnlich sthenischer Haltung begegnet uns in der Behandlung eines durchgebrochenen Magengeschwürs durch den Surgeon der Juno: Der Magenpatient ist der Surgeon selbst. Drei Fallberichte erwähnen offenkundige Angst wörtlich, teils die der Matrosen selbst, teils die 230 Publikationen hierzu sind im Kapitel »Forschungsliteratur zum 20. und 21. Jahrhundert« gesammelt. Stander stellt 2004 für die (U. S.-amerikanische) Kriegsmarine fest, dass die Mehrzahl der Suizidversuche nicht auf dem militärischen Posten, sondern in der freien Zeit in der eigenen Wohnung ausgeübt werden und ein Drittel der Betroffenen sich vor der Tat betrinken. Nur 34 % hatten innerhalb der letzten dreißig Tage eines der vielen Hilfsangebote für Marineangehörige wahrgenommen, innerhalb des letzten Jahres vor der Suizidhandlung waren dies aber 60 % bis 70 %, die bis zu acht verschiedene Stellen aufgesucht hatten. Vgl.: Stander: Surveillance of Completed Suicide in the Department of the Navy, S. 301–306. Die Ergebnisse unterscheiden sich kaum von Untersuchungen aus den 1970er Jahren. Dennet findet niedrigere Suizidraten unter den Marinesoldaten und noch geringere unter den Marine­ matrosen als in der U. S.-Gesamtbevölkerung. Bei Stander ist diese Differenz nicht mehr erkennbar. Vgl.: Dennet: Suicide in the Naval Service, S. 21–28.

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des Schiffsarztes. Wegen der extremen Seltenheit, mit der das Wort »Angst«, »Anxiety«, überhaupt vorkommt, sind die Stellen hier aufgenommen. Nur ein einziger Fallbericht beschreibt das Bild der Seekrankheit, allerdings unter der Diagnose Debility. Nur in diesem einen Fall taucht der Begriff Seekrankheit (Sea Sickness) überhaupt auf. Fünf Fälle, die mit Deafness bezeichnet sind, finden sich in den Journalen. Der Begriff Deafness meint im Englischen sowohl Taubheit als auch Schwerhörigkeit. Einmal wird vom behandelnden Schiffsarzt ein deutlicher Verdacht auf Aggravation, also absichtlich verstärkte Beschwerdedarstellung durch den Patienten, ausgesprochen. Ferner gibt es zwei ausführlich beschriebene Fälle von Amaurosis, d. h. vom Verlust der Sehkraft, die sich jeweils über Monate hinweg entwickeln. In einem Fall ist eine Augenverletzung in der Vorgeschichte relevant, im zweiten Fall wird die für einen Vitaminmangel typische nächtliche Verschlechterung der Sehkraft beschrieben. Diese Krankheiten der Sinnesorgane sind in ihrer Entstehung, Verarbeitung und Erklärung unmittelbar mit der psychischen Dimension verbunden.

5.7.1 »Overanxiety«, »Nervous Shock« Fallberichte 1. Fall: Case 27 der Forts in Canton River (1857) – »Wound«231 Einen abenteuerlichen Fall einer scharfen Messerverletzung hat der Assistenzarzt Fred Piercy am späten Abend des 22.  Dezembers 1857 zu versorgen. Der Steward und der Koch der Offiziersmesse hatten abends zusammen auf einen Spaziergang das Fort verlassen, beide bewaffnet mit ihren Entermessern. (»… were taking a walk, each armed with a cutlass.«) Der Steward war nun dem Koch davongelaufen, um sich in einer Schießscharte des Forts zu verbergen, denn er wollte seinem Begleiter einen Schreck einjagen, wenn dieser die Stelle seines Versteckes erreichte. Die Überraschung gelang. Weil die Nacht vollkommen finster war, der verborgene Steward also nicht auszumachen war, hielt der arme Koch die Person, die ihn so erschreckte, für einen Chinesen und versetzte ihm einen Hieb mit seinem Messer. (»But the night being exceedingly dark, R. mistook him for a Chinaman and struck at him with his cutlass, producing a most severe wound on the right cheek ….«) Blutüberströmt kommt der Steward beim Surgeon an, der eine tiefe Wunde vom rechten Ohr über die Wange bis hinab zum Mundwinkel feststellt. Das Gewebe ist bis auf die Knochen durchtrennt. Er prüft zunächst, ob eine Arterie unterbunden werden müsste, was nicht der Fall ist, stillt die Blutung »durch Kälte und Druck« und bringt die Wundränder mit Nähten und Pflastern so nah wie 231 Piercy, Frederick, HM Forts in Canton River, 1.10.1857–16.8.1858, TNA, ADM 101/165, lfd. Fallnr. 27.

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möglich aufeinander. Drei Tage später geht die so versorgte Wunde im mittleren Teil auf und sondert klare Flüssigkeit ab, die der Arzt als Speichelflüssigkeit identifiziert, heilt ansonsten aber wie gewünscht »primär«. Am 17. Januar 1858, nach vier Wochen, wird der Steward dem Flaggschiff übergeben, um dann an Bord der Sybille nach England zu reisen. Die Wunde ist »zu diesem Zeitpunkt annähernd geschlossen«. Vielleicht war der Rückreisebefehl eine disziplinarische Maßnahme. 2. Fall: Case 33 der Forts in Canton River (1858) – »Delirium«232 In einer Pagode der Stadt Macao war das Hospital für die Besatzungstruppen eingerichtet. Am 24. Juni 1858 schlug ein Blitz in diese Pagode ein, tötete einen Matrosen und verletzte andere. (Die Blitzunfälle selbst sind im Abschnitt »Apoplexy« als Fälle 15 bis 17 dargestellt.) Ein 23-jähriger Seemann, der sich seit dem 19. Juni wegen »Intermittent Fever« in diesem provisorischen Hospital befand, war offensichtlich unmittelbar mit dem Tod dieses Kameraden durch den Blitzschlag konfrontiert. Der zuständige Arzt Fred Piercy beobachtet ein durch den Schock ausgelöstes »Delirium« mit »Herzrasen, Zittern in sämtlichen Gliedern und einem wild rasenden Verhalten« und bringt dies in ursächlichen Zusammenhang mit dem Erlebnis. Beruhigung dieses sehr auffälligen Verhaltens und der zudem aufgetretenen Schlaflosigkeit durch Opium gelingt nicht, weshalb der Matrose auf das Hospitalschiff Hercules nach Hongkong verlegt wird. Case 33: Delirium H. M. Macao Fort. Arthur L., 23, OS Was placed on the sick-List on the 19 June 1858 for Intermittent Fever and being in the Pagoda at the time of the Accident on the 24th June. He was so shocked at seeing the sudden death of his companion M., that he became delirious. Pulse rapid and small. Limbs tremulous, countenance wild raving also a seared appearance and this nights were sleepless. Opium was given in full doses, without effect so thinking a change would be beneficial I sent him to the Hercules at Hong Kong.

3. Fall: Case 5 der Sphinx (1861) – »Climatic Cachexia«233 Fast ein Jahr nach einem Coup de Soleil, einem Hitzschlag, diagnostiziert der Arzt der Sphinx im August und September 1861 zwei Anfälle eines »semi­ epileptic type«. Die Anfälle selbst werden zwar nicht näher beschrieben, die Schilderung des Verlaufes stellt aber explizit psychogene Momente in den Vordergrund: Nach dem ersten solchen Ausnahmezustand sei der Patient in einem »Zustand großer nervlicher Schwäche« geblieben, und er sieht den zweiten Anfall »offensichtlich verursacht durch die Aufregung wegen der für den Folgetag 232 Ebd. Lfd. Fallnr. 33. 233 King, Gilbert L., HM Sloop Sphinx 1.10.1861–1.10.1862, TNA, ADM 101/173, lfd. Fallnr. 5.

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geplanten Evakuierung Kantons«. (»He continued improving but still was in  a state of great nervous debility.«) Bei dem Patienten handelte es sich um keinen Geringeren als den Kommandeur (vermutlich der Sphinx selbst). Zwar scheint er seine organisatorische Aufgabe Ende September bewältigt zu haben, er bleibt aber psychisch sehr labil. »Schon die kleinsten Aufregungen erzeugen solche Anfälle«, heißt es weiter in dem Verlaufsbericht. Deshalb wird er nach Ankunft in Hongkong am 29. Oktober auf seine Dienstfähigkeit untersucht und für dienstunfähig befunden. 4. Fall: Case 60 der Perseus (1867) – »Palpitation«234 Deutlicher als im 39. Fall »Debility« ist die emotionale Reaktion des 51-jährigen Heizers auf seine »Attacken von Herzstolpern« Grund, ihn nach 30 Dienst­ jahren zu pensionieren. 5. Fall: Case 27 der Princess Charlotte (1868) – »Wound«235 Einen wahrhaft ungewöhnlichen, bemerkenswerten Fall von »heilender Kraft der Natur« (»the ›vis‹ medicatrix of nature«) beschreibt Staff-Surgeon Robert Nelson unter dem Datum des 19.  Oktober 1868. Ein 25-jähriger Vollmatrose des Kanonenbootes Bouncer hatte sich während seines Landurlaubes (in Hongkong?) nächtens in einer Kneipe hingelegt, worauf ein amerikanischer Seemann sein Messer zückte und ihm seine komplette linke Ohrmuschel abschnitt. So kurz und bündig wie die anschließend beschriebene Reaktion der Beteiligten ist auch der Bericht im Journal: Patient und Ohr wurden sofort in das Zivilkrankenhaus gebracht, wo der diensthabende Arzt Dr. Cochrane das abgetrennte Ohr wusch und es mit vier Silberfäden an der zugehörigen Stelle annähte. Erst am Folgetag sieht der Schiffsarzt den Matrosen und findet das Ohr mit etwas erhöhter Temperatur, aber gut durchblutet vor, überweist den Patienten dennoch sofort weiter zum Navy Hospital. Das Messer des Amerikaners muss sehr sauber, um nicht zu sagen steril gewesen sein und die Nahttechnik des Dr. Cochrane exzellent, denn nach 10 Tagen kann der Patient völlig dienstfähig aus dem Krankenhaus entlassen werden, mit offensichtlich bestens verheiltem Ohr. Nur eine sehr geringe Narbe behält der Mann von seiner Verletzung zurück (»… he was discharged cured and only a very slight cicatrix remaining«). Case 27: Wound The following is a somewhat rare case exemplifying the »vis« medicatrix nature in a marked degree. I., Charles æt 25. A. B. For service in gunboat »Bouncer« tender 234 Messer, A. B., HM Sloop Perseus 1.1.–11.10.1867, TNA, ADM 101/179, lfd. Fallnr. 60. 235 Nelson, Robert, HM Frigate Princess Charlotte 1.1.–31.12.1868, TNA, ADM 101/181, lfd. Fallnr. 27.

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19th October. last night whilst on shore and lying down in a public house an American Sailer took his knife and cut off patient left ear, completely severing the »pinna« from its attachments. Patient and his ear were immediately removed to the Civil hospital were the resident Surgeon (Dr. Cochrane)  after washing the ear replaced it »in situ« with four silver sutures. When I saw him this morning the lobe of the ear was quite warm (somewhat increased in temperature) and the attachment apparently complete. He was taken to the Naval Hospital where he remained about ten days when he was discharged cured and only a very slight cicatrix remaining. Discharged to Hospital 19th October.

6. Fall: Case 5 der Nimble (1870) – »Wound«236 Ein 19-jähriger Boy wird Opfer eines seltsamen Zufalles, als er sich an Deck schlafen legt und ihn ein von einer Rah herabfallendes Zimmermannsmesser am rechten Ohr trifft. Die tiefe Wunde heilt gut. Ob eine Untersuchung zur Aufklärung folgte, ist nicht vermerkt. 7. Fall: Case 35 der Glasgow (1872) – »Weak of intellect«237 Ein 18-jähriger Boy gibt dem Surgeon der Glasgow, William Loney, Rätsel auf: Er hat einen minderbegabten jungen Mann vor sich, der auffällig häufig und rasch von einem Schiff zum anderen versetzt wurde, und zwar von dessen Eintritt in die Royal Navy im Januar 1869 bis zum Berichtszeitpunkt Juli 1872. Der Schiffsjunge beantwortet zwar an ihn gerichtete Fragen korrekt, ja überkorrekt (»He gave answers to questions very readily and very correctly …«), scheint aber den Sinn von Instruktionen nicht zu verstehen. Nachdem er von Schiff zu Schiff »weitergereicht« worden war, wird er nun auf der Glasgow als für den Dienst nicht einsetzbar eingestuft und aus dem Navy-Dienst entlassen. (»… finding him perfect useless and incapable for receiving instruction.«) Surgeon Loney diagnostiziert bei ihm Weak of intellect, schreibt aber auch, er meine, im Gesicht des Jungen den Ausdruck wie bei Patienten mit progressiver Paralyse zu erkennen. (»… a marked likeness to the expression of the face indicating of progression paralysis.«) Dies würde bedeuten, dass er an Intelligenzminderung im Spätstadium der Syphilis dachte, wenngleich ihm klar sein musste, dass er dafür einen viel zu jungen Patienten vor sich hatte. Es könnte auch nur als Vergleich gemeint sein.

236 Murray, George B., HM Sloop Nimble 1. Teil, 31.10.1870–31.12.1871, TNA, ADM 101/ 184/1A, lfd. Fallnr. 5. 237 Loney, William, HM Sloop Glasgow 1.1.–10.11.1872, TNA, ADM 101/186, lfd. Fallnr. 35.

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8. Fall: Case 15 der Thetis (1873) – »Nervous shock«238 Dr. Martin Magill hatte einen 27-jährigen Heizer vom Hospital Hongkong an Bord genommen, um ihn nach Shanghai in ein etwas kühleres Klima zu bringen. Moses C., so der Name des Heizers, hatte ein Jahr zuvor an Bord der Frolic auf der Fahrt von England nach China vor Aden einen Sonnenstich er­ litten. Seither leidet er unter Schwindel, Kopfschmerz und »nervösem Herzklopfen«. (»Since then he has suffered more or less from giddiness and headache and nervous palpitations of the heart.«) Mit Dienstantritt auf der Thetis kann die Symptomatik genauer beschrieben werden: Er verspürt Schwindel beim Aufstehen und bei plötzlichen Kopfbewegungen und kann seine Aufgabe, Kohle zu schaufeln, nicht mehr erfüllen. Schaufel und Kohlen drehen sich um ihn, und er droht dann, über seine eigene Schaufel zu stolpern. (»On standing up from the lying position as getting out of his hammock he would almost faint if he did not sit down, and when he stooped down, as to shovel coal, the shovel and the coal would appear to go round, or that he would be uncertain of their position, and would be liable to fall forward on them.«) Er leidet unter Kopfschmerz, der von der Stirn zum Hinterhaupt zieht und nur in der Mittagshitze vorhanden ist, und es fällt dem Arzt auf, dass er »sehr nervös« ist und »bei jedem unerwarteten Geräusch« heftig erschrickt. Unter medikamentöser Therapie mit Bromsalz und einer Mixtur aus Digitalis und Kampfer bessert sich sein Zustand. Der Kopfschmerz verschwindet ganz. Die anfänglich ausgeprägte Tachykardie, d. h. sein bis 120 Aktionen pro Minute beschleunigter Puls, geht zurück. Seine körperlichen Kräfte sind während der ganzen Zeit nicht wesentlich beeinträchtigt. »Für einen oberflächlichen Beobachter hätte er als gesunder, starker Mann gelten können.« Dr. Magill drückt seine Überzeugung aus, dass auch bei bester physischer Erscheinung stets eine »ernsthafte funktionelle nervliche Störung« möglich sei. (»… but such a condition of bodily appearance is far from being incompatible with any serious functional nervous derangements.«) Er geht abschließend von einem »Schock des nervlichen Systems« während des Hitzschlages vor Aden aus, der noch nicht abgeklungen sei. Der Heizer verlässt das Schiff in Shanghai und steigt auf die Rinaldo um, die zu nördlich gelegenen Häfen und damit in kühleres Klima aufbricht. Davon verspricht sich der Arzt eine weitere gesundheitliche Verbesserung seines Patienten.

238 Magill, Martin, HM Screw Corvette Thetis 1.2.–31.12.1873, TNA, ADM 101/190, lfd. Fallnr. 15.

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9. Fall: Case 9 der Juno (1875) – »Disease of the Heart. The most Early Symptom of Rapid Phthisis«239 Einmal mehr scheint eine Lungentuberkulose beschrieben zu sein, diesmal unter Betonung einer »nervlichen Reizung des Herzens durch die Lungenerkrankung«. Mit dieser seiner Theorie ist Surgeon Norbury bereits einmal im Statistical Report zitiert worden, wofür er sich in den Remarks zum hier dargestellten Fall bedankt. Seine Auffassung von neurovegetativer Störung würden wir heute »psychosomatisch« nennen. 10. Fall: Case 13 der Ringdove (1875) – »Nervous Debility«240 Bei dem 34-jährigen Bootsmann der Ringdove, John F., diagnostiziert Dr. Gorham eine Nervous Debility. In diesen Zustand sei der Mann durch seine Überängstlichkeit (»by overanxiety«) und seine unablässige Beanspruchung beim Überholen des Schiffes im Hafen von Hongkong während der letzten zehn Tage hineingeraten. Allerdings sei er von Natur aus von »extrem nervösem Temperament und empfindsam«. Mit diesen Eigenschaften hatte sich der Offizier offensichtlich in seiner Pflichterfüllung überfordert. So »sorgfältig, arbeitseifrig und enthaltsam«, wie dieser Mann in den Augen des Arztes war, schien völlige Entfernung von der Arbeit die einzige Möglichkeit, ihn wieder zu Kräften zu bringen. Deshalb schickt er ihn für 19 Tage in das Hospital an Land. Diese Kasuistik (gleichzeitig 23. Fall »Debility«) ist ein guter Beleg für die Annahme, dass sich hinter mancher physisch verstandenen »Schwäche«-Diagnose psychische Störungen verbergen. Dass Dr. Gorham hier die »nervöse« Schwäche so deutlich zum Ausdruck bringt, stellt eine Ausnahme dar und weist auf seine besondere Aufmerksamkeit hin. Case 13: Nervous Debility Mr. John F. 34 Boatswain was placed on the sick-list July 22 suffering from Nervous Debility while the ship lay at Hong Kong. This attack was brought on by overanxiety and unremitting attention to his Duties of refitting ship for the past ten days. Being naturally of an extreme nervous temperament and of a sensitive disposition, his constitution gave way under the above exciting causes. Nothing but change of scene and removal from his labours would to him the slightest good. This Officer is most abstemious, hard working and painstaking in his Duties. His treatment consisted of Quinine in gr v (five grains) doses. He was 19 days in Hospital.

239 Norbury, Henry, HM Frigate Juno 4.11.1875–7.7.1876, TNA, ADM 101/195, lfd. Fallnr. 9. 240 Gorham, A., HM Sloop Ringdove 1. Teil: 1.1.–31.12.1875, TNA, ADM 101/192/1A, lfd. Fallnr. 13.

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11. Fall: Case 38 der Juno (1877) – »Vertigo«241 Seit einem am 21. Mai 1876 durchgemachten Hitzschlag (Coup de Soleil) ist der 20-jährige Matrose Joseph M. psychisch auffällig: Er klagt über »Kopfschmerz in aufrechter Haltung« und über Gedächtnisverlust, der ihn außerstande setzt, einen eben erhaltenen Befehl auszuführen. Er wirkt einfältig, hat einen ausdruckslosen Blick und spricht stockend-gehemmt. (»He complains of constant vertical headache, loss of memory and forgetfulness of even the duties upon which he is immediately engaged. His manner is stupid and stare vacant, with hesitating speech and dilated pupils.«) Von seinen Kameraden wird er seit seinem »Sonnenstich« als weak minded man, wie ein Dummkopf oder Schwachsinniger behandelt. Am 18. Mai 1877 invalidisiert ihn die Kommission an Bord und schickt ihn auf dem Schiff Tamar nach England. Vielleicht haben wir hier einen Fall von vorbestehend minderbegabter Persönlichkeit vor uns, die durch eine akute Schädigung des Gehirns aus dem Gleichgewicht gerät. Das vollständige englische Transkript ist als 16. Fall »Heat Stroke« wiedergegeben. Hier ist die Möglichkeit zu betonen, dass sich seine vorbestehenden Auffälligkeiten als Reaktion auf die kränkende, ausgrenzende Behandlung durch seine Kameraden verstärkten. 12. Fall: Case 50 der Juno (1877) – »Ulcer of Stomach, Haematemesis«242 Bei rein somatisch aufgefasster Erkrankung ist dieser Fall als Beispiel un­ gewöhnlicher Selbstwahrnehmung hochinteressant: Der Patient ist der Schiffsarzt höchstpersönlich. Staff-Surgeon Robert Nelson berichtet von seiner eigenen Person in völlig neutraler Beschreibung wie von jedem anderen Patienten an Bord, wenn er schreibt: »Ein Fall von sehr ernstem Charakter betraf die Person eines Offizieres. Alter 38«. (»One case of a serious character occurred in the person of an Officer, Aet 38. In many points it is  a most instructive case.«) In Shanghai waren während des Sommers viele Besatzungsmitglieder der Juno fieberkrank (»… with intermittend and other malarious fevers«), und darunter auch der Surgeon selbst. Vom 10. Juli bis zum 10. August war er im General Hospital von Shanghai zur Behandlung und konnte danach »bei robuster Gesundheit« seinen Dienst bis zum 10. Oktober ausführen. Mit heftigem Bluterbrechen (Haematemesis) setzt er sich selbst am 14. Oktober 1877 erneut auf die Krankenliste. Neben dem Bluterbrechen zeigen Schwindelattacken und Seh­störungen erhebliche Blutverluste an. Er diagnostiziert bei sich selbst ein blutendes Magengeschwür und behandelt sich mit »Ergotin«, strenger Bettruhe und genauer Diät. Am 26.  November heißt es »Discharged to Duty«. Der Doktor an Bord nimmt seine Arbeit wieder auf. 241 Nelson, Robert, HM Ship Juno 1.10.1876–31.12.1877, TNA, ADM 101/197, lfd. Fallnr. 38. 242 Ebd., lfd. Fallnr. 50.

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Rückblickend sieht er als wichtigste Ursache für die akute Erkrankung seine »sitzende Lebensweise«, die zu einer »Stauung der Leber und zu einer Verstopfung der Verdauungsorgane« geführt hätten, verstärkt durch die körperliche Belastung des tropischen Klimas, Bedingungen, unter denen er ein ganzes Jahr lang tätig gewesen ist. 13. Fall: Case 20 der Ruby (1880) – »Concussion of Brain«243 Hier sei nochmals auf das 18. Fallbeispiel des Abschnittes »Schädel-Hirn-Traumen« eingegangen, da sich darin dezidierte psychologische Überlegungen zur emotionalen Verarbeitung des Unfalles finden. Ein 17-jähriger Schiffsjunge der Ruby war 107 Fuß tief auf das Deck gestürzt. Durch ein kleines Wunder kam er ohne Knochenbruch davon. Während der nächsten zwei Wochen zeigen sich psychische und neurologische Auffällig­ keiten in langsam nachlassender Intensität. Das Bemerkenswerte ist der von Staff Surgeon Stone angestellte Vergleich mit Schockerlebnissen nach Eisenbahnunglücken. (»The principles laid down by surgical writers for treatment of cases of nervous shaking from railway accident seem peculiarly applicable here, and patient was sent to hospital at the first opportunity.«) Um eine Verarbeitung des psychisch traumatischen Ereignisses bei »vollständiger Ruhe für mehrere Wochen oder Monate« zu ermöglichen, schickt er den jungen Mann bei Erreichen des nächsten Hospitals am 22. Dezember an Land.

5.7.2 Behandlung des Themas »Angst« Fallberichte 14. Fall: General Remarks der Pylades (1858) – »There was no manifest panic …«244 Der Arzt der Pylades beobachtet Angst in der Schiffsmannschaft, als die Fregatte im Sommer 1858 lange Zeit im Hafen von Kalkutta im Trockendock liegt. Man machte sich Sorgen wegen des langen Aufenthaltes, da in der Stadt die Cholera grassierte. Immerhin sei trotz dieser prekären Situation »in der Mannschaft keine Panik ausgebrochen.« (»There was no manifest panic among the men.«) Wie eine merkwürdige Unglücksserie wirkt der weitere Bericht, der zwei schwere Erdbeben erwähnt, die zeitgleich mit dem Erscheinen »des Kometen« in der Region des Golfes von Bengalen die Erde und das Meer erschütterten. Einer dieser Erdbebenstöße ereignete sich, als die Pylades gerade im Trockendock aufgebockt war. Sie sei »fast bis zu ihren Decksbalken« auf die Seite geschleudert worden, schreibt Dr. Caddy und fährt fort: »Der Zweck, wozu das 243 Stone, John N., HM Sloop Ruby 2.7.–31.12.1880, TNA, ADM 101/200, lfd. Fallnr. 20. 244 Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 1. Teil, 25.2.–31.12.1858, TNA, ADM 101/167, General Remarks.

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Schiff in das Dock gekommen war, war beinahe zunichte gemacht«. Anlässlich dieser dramatischen meteorologischen Ereignisse wird das Wort »Angst« vermieden, sicherlich der gewöhnliche Duktus der schiffsärztlichen Berichterstattung. (»In the month of September at its latter part, the comet appeared and the severe shock of an earthquake was experienced, another too when the Pylades was in dry dock, nearly throwing the ship on her beam ends, or I should say nearly sufficient to disengage the means by which the vessel was propped up in dock.«) 15. Fall: Cases 49 und 55 der Pylades (1858) – »Ulcer«245 Eine alltägliche Angst hat Dr. Caddy im Sinn, wenn er von sieben Matrosen seines Schiffes berichtet, die gesundheitliche Probleme gezielt verschwiegen und verbargen, um die Ausnutzung der ganzen erlaubten Zeit des ersehnten Landganges nicht zu gefährden. Es sind die Wochen vor den oben geschilderten Ereignissen, die Pylades ist nach einem langen und harten Seetörn im Juli 1858 in Kalkutta angekommen. Erst nach ihrem Landgang stellen sich sieben Mann der Besatzung mit massiven Hautgeschwüren bei ihrem Arzt an Bord vor. Er behandelt sie »a couple of days«, sieht aber eine zu große Infektionsgefahr der Männer, weil Fieber- »und gelegentliche Cholerafälle« an Bord sind, und schickt sie mit einem Verlegungsschreiben in deutlich schuldbewusstem Ton in das Military Hospital Calcutta. Er habe, schreibt er, »nicht mit diesem Manöver der Leute gerechnet.« (»Many men concealed their ulcers until their leave had expired. This maneuver was not suspected by me.«) 16. Fall: Case 22 der Pearl (1862) – »Gun Shot Wound«246 Als Ausnahme sei eine militärische Situation angeführt. Bei der Versorgung von 41 Verletzten spricht Assistant Surgeon Smart von »großer Angst«: »At first great anxiety was felt that he might die from loss of blood …«. Es ging ihm aber nach einem Monat so gut, wie man nur habe erhoffen können. 17. Fall: Cases 2 und 3 der Nimble (1872) – »Sunstroke and Vertigo«247 Im 9. und 10. Fall »Heat Stroke« sind Komplikationen beschrieben, die die akute Psychose des Kommandeurs der Nimble verursachte. Der Schiffsarzt vermutet, dass alle 18 Fälle von Sonnenstich »der Sonnenexposition und der Erschöpfung, verbunden mit Angst zuzuschreiben« seien. Als Assistant Surgeon, der vielleicht nicht über die größte Erfahrung verfügte, ist die pschodynamische Bedeutung der Angst klar angesprochen. Man darf annehmen, dass er aus seinem eigenen Erleben im Umgang mit dem psy 245 Ebd., lfd. Fallnr. 49–55. 246 Smart, H. S., HM Frigate Pearl 1.1.–31.12.1862, TNA, ADM 101/175, lfd. Fallnr. 22. 247 Murray, George B., HM Sloop Nimble 2. Teil, 1.1.–31.12.1872, TNA, ADM 101/184/1B, lfd. Fallnr. 2 und 3. 

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chotisch kranken Kommandeur die Anspannung und Angst nachvollziehen konnte, die die Mannschaft befallen haben mag.

5.7.3 Seekrankheit Fallbericht Unter der Diagnose Debility (1. Fall »Debility«) finden wir im Journal der Dido das recht eindeutige Bild von Seekrankheit (Kinetose), dieser bis heute unaufgeklärten Befindlichkeitsstörung, die von leichter Übelkeit bis zu schwerster Allgemeinbeeinträchtigung reichen kann. Nur in diesem einzigen Fall der schiffsärztlichen Berichte wird vom berichterstattenden Arzt der Begriff Seekrankheit (Sea Sickness) verwendet.248 18. Fall: Case 4 der Dido (1851) – »Debility«249 Ein 22-jähriger Zimmermann wird am 25. Oktober 1851 in Plymouth an Bord der Dido genommen. Er war zuvor auf einem anderen Schiff von Sheerness nach Plymouth gelangt und bereits auf diesem Teil  der Fahrt seekrank geworden. Knapp kommentiert der Schiffsarzt: »Er war das erste Mal auf See«. (»Never at sea before.«) Surgeon Evans kann bei dem »sehr dünnen, undurchsichtigen jungen Mann« keine anderen Krankheitszeichen feststellen als die typischen Zeichen der Seekrankheit: Schwindel, Erbrechen und heftiges allgemeines Krankheitsgefühl »in Folge der Schiffsbewegungen«. (»On the passage round from Sheerness to Plymouth he appeared to suffer from Sea Sickness and on the 25th October he complained of being very ill – but nothing further than the nausea and vomiting effects of the ships’ motion, could be found the matter with him.«) Der Mann wird vier Tage später, wohl noch im Hafen von Plymouth, dienstfähig geschrieben. Am 31. Oktober, das Schiff ist den ersten Tag auf See, klagt der Mann erneut über »Seekrankheit und Schwäche« und dass er nicht im Stande sei, seine Arbeit zu verrichten. Siebzehn Tage braucht er keinen Dienst zu tun und bekommt »Ruhe, anregende Mittel und nahrhafte Diät«, mit gutem Erfolg, sodass er am 16.  November wieder dienstfähig ist. Bereits am folgenden Tag kommen die­ 248 Unter den verschiedensten Theorien und Maßnahmen formuliert Brommy die um die Mitte des 19.  Jahrhunderts am ehesten anerkannte Hypothese zur Seekrankheit: »Die einzige gängige Theorie bleibt die Annahme, dass durch das Heben und Senken des Schiffes, beim Rollen sowohl wie beim Stampfen, momentane Anämie (Blutleere)  und Hyperämie (Blutandrang) entstehen.« Doch auch psychologische Momente waren im Blick: »Dass Phan­tasie und Angst einen bedeutenden Einfluss haben und das Leiden befördern, unterliegt wohl keinem Zweifel – am deutlichsten beweist dies das Eintreten einer wirklichen Gefahr an Bord,…« Vgl.: Brommy: Die Marine, S. 209–226, Zitate S. 218 und 222. 249 Evans, Evan, HM Sloop Dido 12.9.1851–15.12.1852, TNA, ADM 101/96/4, lfd. Fallnr. 4.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

selben Klagen, und dieselbe Therapie wird durchgeführt. Der Arzt ist ratlos: »After the most careful examination no seat of disease can be detected.« So geht die Reise weiter mit Diät, Enzianaufguss und Chinin, bis das Schiff im Dezember Rio de Janeiro erreicht. Die ganze Zeit bleibt der Patient in seiner Hängematte. (»He persists in remaining in his hammock.«) Zwischenzeitlich aufgetretene Kopfschmerzen und Bauchschmerzen sind zwar wieder verschwunden, der Zimmermann hat jedoch deutlich an Gewicht verloren und fühlt sich völlig kraftlos und krank. Er wird schließlich am 9. Dezember 1851 im Hafen von Rio von der zuständigen Kommission für »untauglich zum Dienst in der Königlichen Marine« erklärt und am 13. Dezember an Bord der Gorgon nach England zurückgeschickt. Die Diagnose der Seekrankheit kann nur aus den subjektiven Angaben des Betroffenen gestellt werden. In welchem Maße dieser Neuling auf See eine psychische Anpassungsstörung durchmachte, muss offen bleiben, eine Wechselwirkung emotionaler Vorgänge mit den Phänomenen der Seekrankheit wird aber deutlich.

5.7.4 Taubheit und Schwerhörigkeit Fünf Fälle, sämtlich mit Deafness bezeichnet, finden sich in den Journals in unterschiedlichen Kontexten. In einem Fall ist eine alte Schädelverletzung von Bedeutung, zweimal wird Trommelfellperforation festgestellt, in einem Fall gingen Schalltraumen durch Kanonendonner voraus, ein Fall bleibt in seiner­ raschen Verschlimmerung rätselhaft. Der Begriff Deafness meint im Englischen sowohl Taubheit als auch Schwerhörigkeit. Taubheit kann auch durch die Vokabeln Deafness und Numbness, Schwerhörigkeit durch Hardness of Hearing ausgedrückt sein. Fallberichte 19. Fall: Case 8 der Rinaldo (1870) – »Deafness«250 Ein 28-jähriger Leading Seaman der Rinaldo meldet sich beim Arzt und klagt über Taubheit beider Ohren und Ohrengeräusch (»Tinitus aurium«) im rechten Ohr. Er gibt an, er könne nur hören, wenn er sehr laut und von sehr nah angesprochen würde, was mit seinem Dienst nicht vereinbar sei. Der Matrose bringt seine Schwerhörigkeit in Zusammenhang mit Kanonendonner, dem er ein Jahr zuvor auf der Excellent ausgesetzt war. Dem Schiffsarzt war er allerdings schon vor einiger Zeit aufgefallen, als er sich wegen leichten Durchfalls krank meldete, genau zu dem Zeitpunkt, als er Probleme mit seinen Vorgesetz 250 Buckley, John., HM Sloop Rinaldo 10.5.–31.12.1870, TNA, ADM 101/182, lfd. Fallnr. 8.

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ten hatte. (»Presented himself on the 6th July at Yokohama, complaining of slight attacks of Diarrhoea at time when he got into trouble with the authorities«) Surgeon John Buckley schreibt offen, er könne den Schilderungen des Mannes nicht voll vertrauen. Er überweist ihn, da das Schiff im Hafen von Yokohama liegt, am 11. Juli 1870 an das dortige Krankenquartier zur weiteren Therapie und besseren Beobachtung. (»… for further treatment and more perfect supervision.«) 20. Fall: Case 7 der Fly (1875) – »Deafness«251 Ein ebenso unaufgeklärter wie klinisch klarer Fall von Schwerhörigkeit ist bei einem 30-jährigen Bootsmannsmaat der Fly beschrieben, der innerhalb eines Monats auf beiden Ohren schlechter zu hören begann, anfänglich mit seiner eigenen Beobachtung, das Ticken einer Uhr nicht mehr wahrzunehmen. Am Ende des Monats stellt der Arzt fest, der Mann müsse aus nächster Nähe angesprochen, ja angeschrien werden, damit er überhaupt etwas verstehe. Rachenund Ohrenuntersuchung, wobei die Verwendung eines Ohrenspiegels erwähnt wird, (»Examined ears with a otoscope nothing can be detected.«) ergeben nichts Auffälliges. Das Trommelfell ist intakt. Angewandt werden Ohrspülungen mit lauwarmem Wasser zweimal täglich, jedoch ohne Erfolg. Nachdem er ihn zwei Monate lang unter ständiger Beobachtung hatte, ist sich Surgeon Lloyd sicher, dass der Mann nicht simuliert. (»I had no reason to believe that this man was attempting to malinger and as I had him under close observation for two months I could form a decided opinion on that point.«) Er wird am 30. April invalidisiert und nach England geschickt. 21. Fall: Case 4 der Juno (1877) – »Deafness«252 Gleich zu Beginn seiner Fallbeschreibung einer totalen Taubheit beider Ohren schreibt Surgeon Robert Nelson, der 21-jährige Leichtmatrose habe »einen guten Charakter« und liefere ihm wie auch »vertrauenswürdigen Unteroffizieren« keinen Grund zur Annahme, er simuliere. Der Arzt zitiert ausführlich aus einer schriftlichen Selbstdarstellung des Patienten. Demnach sei der Matrose im Februar 1873 an Bord der Excellent gewesen, als dort mit einer Six-Pounder Brass Gun gefeuert wurde. Danach habe er auf dem rechten Ohr nichts mehr gehört, dies aber auf eine Erkältung geschoben, unter der er gleichzeitig gelitten habe. Nach einer weiteren Übung an einer kleineren Kanone habe er beidseits nicht mehr hören können. Seither leide er unter Kopfschmerz, unscharfem Sehen, Berührempfindlichkeit seines Kopfes und einem Brummgeräusch im Kopf. Auf den Arzt wirkt der Patient jetzt, im Jahr 1877, »wie dumm von Schwindel, Tinitus und Angst, irgendetwas könnte seinen Kopf berühren.« (»This patient 251 Lloyd, Edward T., HM Gun Vessel Fly 1.1.–31.12.1875, TNA, ADM 101/193, lfd. Fallnr. 7. 252 Nelson, Robert, HM Ship Juno 1.10.1876–31.12.1877, TNA, ADM 101/197, lfd. Fallnr. 4.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

appeared, at times, quite stupid from giddiness, tinnitus aurium and fear of anything touching his head.«) Bei ausbleibender Besserung wird der Matrose am 22. Dezember 1877 invalidisiert und am nächsten Tag auf der Immortalite nach England gebracht. Diesem Fall fügt Robert Nelson eine exzellente, kurz gefasste Abhandlung über somatogene und psychogene Taubheit und über die Unterrichtsmethode, Sprache von den Lippen abzulesen, an und bezieht sich dabei auf einen aktuellen Lancet-Artikel.253 Zunächst berichtet er, dass ein Krankenpfleger zwei Monate lang »mit vollem Erfolg« mit dem betroffenen Matrosen geübt habe, Worte von seinen Lippen abzulesen, die er ihm, ohne einen Laut zu produzieren, vorgemacht habe. Er verweist anerkennend auf diesbezügliche Fortschritte in Deutschland und wirbt für einen breiten Einsatz in England.254 Sodann unterscheidet er psychisch bedingte Taubheit (»emotional deafness«) von einer durch Knallschädigung entstandene und beschreibt bei der ersteren eine klassisch tiefenpsychologische, konversionsneurotische Entstehung von Taubheit. Es sei eine Störung der »sensorischen Teile des Gehirns selbst«, völlig unabhängig vom Gehörapparat. Er stimmt dem Lancet-Autor zu, wonach »Rechtsanwälte, Ärzte und Männer der Literatur und der Geschäftswelt« anfällig seien. Die andere Art von Taubheit entstehe durch die »unaufhörlich Lärm erzeugenden, weil aus Eisenplatten bestehenden örtlichen Verhältnisse eines Schiffes« und durch einzelne Explosionen oder plötzliche Geräusche, vor allem dann, wenn sie unerwartet auf das Ohr träfen. Soldaten und Matrosen wüssten, dass vor allem unerwartete Kanonenschüsse, und nochmals besonders die von Messingkanonen (wie eben der Brass Gun in diesem Fall) irreparable Schäden des Gehörs verursachten. Auch bei der Erklärung dieser Knalltraumata wolle er sich dem LancetArtikel anschließen, der von einer winzigen Gefäßruptur im Labyrinth ausgehe und diesen Schaden als einen Apoplex betrachte. 22. Fall: Case 15 der Growler (1877) – »Deafness«255 »Neuralgischer Ohrschmerz« und Schwerhörigkeit bei einem 21-jährigen Marine­ soldat erklärt sich durch schwere Trommelfellschäden auf beiden Seiten. Wegen fehlender Aussicht auf Besserung wird er invalidisiert. 253 W. B. Dalby publizierte im Lancet in jenem Jahr in Vol. 109 vom 24.3.1877, S. 418–419 einen Beitrag mit dem Titel »On the Oral Instruction of the Deaf and Dumb« und in Vol. 110 vom 11.8.1877, S. 219–220 den Beitrag »Contributions to Aural Surgery«, den Nelson in seiner Randnotiz mit »See Lancet 11. Aug. 1877« zitiert. Vgl.: Dalby, W. B.: On the Oral Instruction of the Deaf and Dumb, The Lancet 55 (1877), S. 418–419; ders., Contributions to Aural Surgery, The Lancet 55 (1877), S. 219–220. 254 Er beruft sich damit auf: Knight, Charles (Hg.): The English Encyclopedia, London 1868. 255 Cuffe, George M., HM Sloop Growler 18.2.–31.12.1877, TNA, ADM 101/198, lfd. Fallnr. 15.

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23. Fall: Case 17 der Ruby (1880) – »Deafness«256 Der Fall eines 17-jährigen Schiffsjungen mit einseitiger Taubheit liefert aufschlussreiche Informationen über die disziplinarische Auffassung an Bord und die Bedeutung des Arztes für eine angemessene Einschätzung. Der junge Mann hatte eine Bestrafung zu gewärtigen, weil er beim Morgenappell nicht an Deck erschienen war. Da er bei ausgezeichneter Gesundheit war, hatten ihm seine Vorgesetzten Nachlässigkeit unterstellt. (»… the omission was naturally attributed to negligence as the boy seemed to be in excellent health and made no complaint.«) Surgeon Stone erfährt nun von dem Patienten, dass er auf dem linken Ohr überhaupt nicht höre und sich normalerweise so schlafen lege, dass sein gesundes rechtes Ohr frei sei. In der letzten Nacht sei er anscheinend auf dem rechten Ohr gelegen und habe deshalb das morgendliche Pfeifen zum Appell nicht gehört. Die Untersuchung ergibt eine Störung auf der Ebene des Innenohres, nicht der Schallleitung im Mittelohr. Eine vor zehn Jahren erlittene Verletzung der linken Gesichtshälfte durch einen Pferdetritt, eine Störung des Tränenflusses des linken Auges sowie eine leichte Facialis-Lähmung257 deutet der Arzt als eine damalige Felsenbeinfraktur. Weil der Junge mit seinem gesunden Ohr an Deck sehr gut hören konnte, würde seine Berufung auf Taubheit bei seinem militärischen Vorgesetzten nicht akzeptiert werden (… his plea of deafness didn’t find favor with the executive authorities …«), stellt Surgeon Stone in seinem Bericht fest, und deshalb sei in solchen Fällen zur Feststellung der tatsächlichen Gegebenheiten eine genaue ärztliche Untersuchung erforderlich. Solch feine Auffälligkeiten wie die teilweise Gesichtsnervenlähmung würden durchaus nicht allgemein Aufmerksamkeit erregen. (»… were not sufficiently marked to attract ordinary attention.«) Der junge Mann wird, da er auf der Ruby überzählig ist, auf die Euryalus versetzt, bevor über seine Invalidisierung entschieden werden kann. Der Surgeon informiert indessen den leitenden Arzt der Flotte über diesen Fall.

5.7.5 »Hemeralopia«, Nachtblindheit In zwei Medical Journals aus den Jahren 1856 und 1858 finden sich ausführlich beschriebene Fälle von Sehstörung, die sich jeweils über Monate entwickelten und sich trotz Einsatzes verschiedener Medikamente nicht verbesserten. Im ersten Fall ist eine Augenverletzung in der Vorgeschichte relevant, im zweiten Fall wird die für einen Vitaminmangel typische nächtliche Verschlechterung der Sehkraft beschrieben. 256 Stone, John N., HM Sloop Ruby 2.7.–31.12.1880, TNA, ADM 101/200, lfd. Fallnr. 17. 257 Nervus facialis: Der 7. Hirnnerv mit motorischen und sensiblen Funktionen im Gesichtsbereich, dem Ohr und Anteilen des Geschmackssinns.

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Fallberichte 24. Fall: Case (ohne Nummerierung) der Pique (1856) – »Amaurosis«258 Der 26-jährige Vollmatrose John T. meldet sich am 20. März 1856 beim Schiffsarzt. Im Verlauf der letzten zwei Wochen könne er mit dem rechten Auge immer weniger und inzwischen nahezu nichts mehr sehen. Der Matrose hatte »durch eine Kugel bei Petropaulski« eine Schussverletzung unterhalb des rechten Auges erlitten.259 Die Gewehrkugel war operativ entfernt worden, und die Sehkraft hatte zunächst nicht darunter gelitten. Erst jetzt waren Stirnkopfschmerzen und Sehschwäche aufgetreten. Bis Mai verliert das rechte Auge seine Sehkraft vollständig, das linke Auge ist sehr lichtempfindlich. Im Juni erfolgt die Invalidisierung. 25. Fall: Case 87 der Sanspareil, (1858) – »Amaurosis«260 Der 25-jährige Leichtmatrose der Sanspareil, William P., gibt an, er habe fünf Jahre zuvor in England Fieberattacken gehabt, und seither seien seine Augen schwach, sodass er »nichts lesen und sie nicht für längere Zeit nutzen« könne. Nun bestünden seit drei Monaten »Schleier oder Trübheit« vor seinen Augen, so dass er feine Arbeiten als Helfer des Zimmermanns nicht erledigen könne. (»Three months since he felt a mist or dizziness of vision which has been gradually increasing, so that at present he is unable to read ordinary print or to do any nice work [he does duty as one of the carpenter’s crew] correctly, and at night he can scarcely see anything.«) Nachts und bei trübem Wetter könne er nahezu nichts sehen. Von Surgeon Mason als »hagere Erscheinung von schwacher Verfassung« beschrieben, klagt der Patient selbst über allgemeine Schwäche und mäßigen Appetit. Wie im vorigen Fall besteht die Behandlung in Aderlässen, Anwendung von Pflastern am Nacken und an den Schläfen sowie in der Verabreichung von ­Tonics, Chinin, Eisen und Blue Pills261. Zwar wird seine Sehkraft bei allgemeiner Stärkung etwas besser, bleibt aber besonders auf dem linken Auge ungenügend. Auch die Pupillenreaktion bleibt seitendifferent, wobei die linke Iris rascher reagiert als die rechte. Nach knapp einem Monat beschließt der Arzt an-

258 Nelson, Thomas, HM Frigate Pique 1.Teil, 1.4.1856–31.3.1857, TNA, ADM 101/159, ohne Fallnr. 259 Diese Angabe bezieht sich gewiss auf die Landungsversuche britischer und franzö­ sischer Schiffe bei der Festung Petropaulski (auch: Petropawlowsk) auf der russischen Halbinsel Kamtschatka im August 1856. Diese Kämpfe waren Teil des Orientkrieges oder auch Krimkrieges von 1854 bis 1856, dessen Schauplätze nicht nur das Schwarzes Meer, sondern auch Ostsee und Pazifik waren. 260 Mason, Richard, HM Ship of the Line Sanspareil 1.1.1858–15.2.1859, TNA, ADM 101/166/1A, lfd. Fallnr. 87. 261 Blue Pills: Eine Quecksilberzubereitung. Sie sind im Kapitel »Therapie« beschrieben.

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gesichts dieser unbefriedigenden Situation die Verlegung in das Hospital von Kanton am 26. Februar 1858. Die Sanspareil segelt kurz danach mit Kurs Hongkong ab.

5.7.6 Auswertung In den frühen Medical Journals und den ersten Statistical Reports finden wir nur punktuell diagnostische Begriffe, die psychoreaktive Störungsbilder eigens erfassen oder auch nur auf sie rückschließen lassen. Daraus ergibt sich einmal mehr die Notwendigkeit, die Verlaufsbeschreibungen vollständig zu bearbeiten und zu reinterpretieren. Einzig der Begriff Hysteria wird im Statistical ­Report der Jahre 1837 bis 1843 unter der Restkategorie »sonstige Krankheiten« und vereinzelt in den ärztlichen Tagebüchern verwendet.262 Im Journal der R ­ aleigh wird einmal »Hysteria« erwähnt, die mit »stimmulierender Behandlung« leicht habe behoben werden können. (»Hysteria: This was a well marked case. The subject of it was a Bandsman, aged 22, of delicate constitution. It yielded in a few days to unic[?] and stimulant treatment.«)263 Im Journal der Pique ist es nur ein von Hand hinzugefügter Eintrag Hysteria in der Diagnosen-Tabelle III, der »Discharged to Duty« ausging. Der Mann zwischen 15 und 25 Jahren war zwei Tage auf der Krankenliste. Näher ist dieser Fall nicht beschrieben.264 Hör- und Sehstörungen sind als »lokale Krankheiten« erfasst. 1830 bis 1836 waren es in der East India Station 30 Fälle mit 13 Invalidisierungen.265 In den nächsten sieben Jahren sind es 15 Fälle von Amaurosis, 37 von Hemeralopia und über 300 entzündliche Augenerkrankungen sowie sechsmal Taubheit.266 In den späteren Berichten sind Amaurosis and Cataract und Otitis and Deafness eigenständige Krankheitsformen, die in ihrer stets kleinen Anzahl recht zuverlässig diagnostiziert sein dürften. Die Ohrenerkrankungen sind dabei um den Faktor fünf bis zehn häufiger als die Augenerkrankungen. Meistens werden sie infektiöser Natur gewesen sein. In der vorantibiotischen Zeit waren schwere Folgezustände mit Ertaubung und Erblindung zu fürchten.267 Bei allen Fällen von Sinnesstörungen haben wir es mit schwer objektivier­ baren Leiden zu tun. Immer ist es ein reaktives Geschehen, sei es in der emotio 262 House of Commons 1853 (555) Navy (health): Stat. Rep. für 1837–43, S 84–85. 263 Crawford, J. J., HM Frigate Raleigh 4.9.1856–25.8.57, TNA, ADM 101/161, General Remarks. 264 Nelson, Thomas, HM Frigate Pique 1856–59, TNA, ADM 101/159. 265 House of Commons 1841 (53) Navy (health): Stat. Rep. für 1830–36, S. 106. 266 House of Commons 1853 (555) Navy (health): Stat. Rep. für 1837–43, S 85. 267 Von massenhafter Augenentzündung auf den Schiffen in japanischen Gewässern lesen wir zum Beispiel 1863: House of Commons 1866 (458) Navy (health): Stat. Rep. für 1863, S. 242.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

nalen Mitverursachung, sei es in der unterschiedlichen emotionalen Verarbeitung. Es konnte zu Fehlinterpretationen kommen (wie im 23. Fall), es konnte Anlass zur Leugnung oder zur Aggravation (wie im 18. Fall vermutet) geben. Die Problematik von Suizid und Suizidversuch ist schon unter »Debility« behandelt. Man erwartet auch Heimweh als ein Belastungsmoment, jedoch ist in den hier untersuchten Quellen nichts darüber berichtet. In der Sekundärliteratur finden sich an der einen oder anderen Stelle Hinweise.268 Die vielfältigen psychologischen Momente, die in den wiedergegebenen Fallberichten als Bedingungsfaktoren anklingen, sind im ersten Teil der Arbeit über die Alltagsbedingungen an Bord beschrieben. Ein großer Teil dieser Belastungen haben die Jahrzehnte, ja Jahrhunderte überdauert und werfen noch in der modernen Schifffahrt Fragen auf.269

5.8 »Paralysis«, »Partial Paralysis«, »Chorea« – Die Diagnose »Paralysis« In den untersuchten Medical Journals konnte ich drei Fälle von Paralysis ausfindig machen. Bei zweien sind es Lähmungen des Unterarmes, bei einem ist es eine zentral bedingte Lähmung im Spätstadium von Syphilis. Ein viertes Fallbeispiel wird als Chorea diagnostiziert, was sich als ein Fall von »Chorea minor Sydenham« bestätigen lässt. Deutlich wird, dass jede neurologische Störung von einer psychischen Reaktion begleitet ist.

268 Etwa im »Manuale d’Igiene« von Guatallo 1861, wo gegen »Heimweh und hypochondrische Melancholie« alkoholische Getränke empfohlen werden. Vgl.: Pollmann, Berit: Schiffsmedizinisches aus der italienischen Literatur, Düsseldorf 1989, S. 22–23 und ­78–80. Krusenstern erwähnt einen Matrosen, der seine Teilnahme an der Expedition bereute und »in tiefe Melancholie verfiel, weil er sich nicht für so lange Zeit von seiner Frau trennen wollte.« Vgl.: Seidel: Medizinische Beobachtungen. 269 Nicht erst mit der im Frühjahr 2010 einsetzenden öffentlichen Debatte um das Segelschulschiff »Gorch Fock«, sondern auf Grund vieler vorheriger Anlässe hat die deutsche Marine »umfangreiche Maßnahmen zur Prävention, Therapie und Nachsorge für die Soldaten und ihre Familien« entwickelt, die vom Schiffahrtsmedizinischen Institut der Marine in Kiel-Kronshagen koordiniert werden. (Vgl.: Kowalski, Jens: Psychische Störungen in der Schiffahrtsmedizin unter besonderer Berücksichtigung von Traumafolgestörungen, Arbeitsmed. Sozialmed. Umweltmed. 43 (2008), S. 200.) Es wird davon ausgegangen, dass gerade die spezifische Situation an Bord eines Schiffes mit Trennung von der Familie und dem heimischen Umfeld das Risiko einer Störungsmanifestation erhöht. Zur sozialen Isolation an Bord siehe: Sampson, Helen; Thomas, Michelle: Lonely Lives? Social Isolation and Seafarers, in: 6th Int. Sympos. Maritime Health, Manila 2001, S. 194–206.

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Die Diagnose »Paralysis«

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5.8.1 Fallberichte 1. Fall: Case 4 der Albatross (1849) – »Paralysis«270 Der Zahl- und Proviantmeister der Albatross war fünf Monate lang auf der Krankenliste wegen Blasenbildung der Haut unter Sonneneinfluss (»from sunshine crops of boils«). Kurz nach seiner Gesundung von dieser Hautproblematik bemerkt er in der Nacht auf den 5. April 1849 eine komplette Lähmung der rechten Unterarmstrecker- und Beugermuskeln. Am Abend zuvor hatte er nach dem Essen ein warmes Bad genommen. Für die nächsten zwei Tage liegen keine weiteren Befunde vor, dann fröstelt es den Patienten und er fühlt sich deutlich krank. Sein rechter Handrücken und sein rechtes Handgelenk sind angeschwollen. Jetzt sucht er den Schiffsarzt auf. Er behandelt mit durchblutungsfördernden Einreibungen und verordnet Colchicum (Arznei aus der Herbstzeitlosen). Dann wird im Hospital von Kanton »a number of magnetico-galvanic-shocks«, Strombehandlung des Unterarmes durchgeführt, und zwar mit großem Erfolg. Leider, so schreibt Dr. Livesay, stach das Schiff in See, und so konnte die elektrische Behandlung nicht fortgeführt werden. Der Zahlmeister wird jedoch am 4.  Mai bei wiedergewonnener Kraft und Beweglichkeit dienstfähig geschrieben. Eigenartigerweise ist dieser Fall nicht in der Nosological Synopsis, der Diagnosen­auflistung zum Schluss des Journals, aufgeführt. In dieser Falldarstellung fällt die Symptom-Trias aus Hautreaktion auf Sonne, Allgemeinbeeinträchtigung und Lähmungserscheinungen auf. Differentialdiagnostisch wäre dabei an eine Zoster-Infektion (Gürtelrose), mit geringerer Wahrscheinlichkeit auch an eine Bleivergiftung und an Borreliose (nach Zeckenbiss) zu denken. Gegen eine reine Druckparese (eine Nervenschädigung durch länger anhaltenden äußeren Druck) des Armes sprechen das allgemeine Krankheitsgefühl und die Hauterscheinungen. Die größte Übereinstimmung der Aufzeichnungen findet sich mit der Diagnose einer Porphyrie.271 Alter des Patienten, Hauterscheinungen, diffuses Krankheitsgefühl und schließlich

270 Livesay, Salter, HM Sloop Albatros 1.1.–31.12.1849, TNA, ADM 101/82/1, lfd. Fallnr. 4. 271 Bei den Porphyrien handelt es sich um eine Gruppe von angeborenen oder erworbenen Störungen in der Bildung des Blutfarbstoffes. Es kommt zu Überempfindlichkeit gegen UV-Licht mit Hautrötung und Blasenbildung (erythropoetische Porphyrien) oder zum plötzlichen Auftreten neurologischer Symptome (hepatische Porphyrien), schließlich zu Mischformen. In Übereinstimmung mit unserem Fallbeispiel beginnen sie stets nach dem Jugendalter. Von den möglichen Auslösefaktoren kommen im Fallbeispiel die intensive Sonneneinstrahlung und Alkoholkonsum in Frage, während verschiedene Medikamente, deren Auslösewirkung wir heute kennen, noch keine Rolle spielen konnten. Eine sicher objektivierbare Diagnose ist erst der modernsten Medizin möglich durch Enzymmessung und molekulargenetische Differenzierung. Vgl.: Dietel, Suttorp, Zeitz: Harrisons, S. 2477–2483; Patten, J.; Glauner, F.: Neurologische Differentialdiagnose, Berlin 1998, S. 370–372.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

die Lähmungen, asymmetrisch, über mehrere Tage anhaltend, aber immer rück­bildungsfähig, sprechen dafür, wenn auch keine psychopatholo­gischen Symptome und Krampfanfälle beschrieben sind. Insgesamt lässt sich das hier beschriebene Krankheitsbild als die erbliche, autosomal-dominante VariegataForm einer akuten Porphyrie einordnen. 2. Fall: Case 36 der Rinaldo (1870) – »Partial Paralysis (Extensors)«272 Der 32-jährige Steward Edwin B. meldet sich am Nachmittag des 26. Juni 1870 mit einer Lähmung des linken Arms, die er am Morgen bemerkt hat und die er sich in keiner Weise erklären kann. Die Untersuchung durch Surgeon John Buckley ergibt einen Ausfall der Unterarmstrecker, seinen Arm insgesamt kann der Patient anheben, ferner Missempfindungen in den Fingerspitzen, ansonsten aber gute Gesundheit. Bemerkenswert ist der ausdrückliche Hinweis des Arztes, es bestehe keine geistige Beeinträchtigung (»no confusion of intellect«). Aller­dings ist der Patient angstvoll und psychomotorisch unruhig (»a restless and uneasy appearance«). Der Arzt erklärt sich die Lähmung mit einer Druckschädigung über Nacht, nachdem der Patient offensichtlich auf seinem linken Arm gelegen hat. Schon am nächsten Tag zeigt sich deutliche Besserung des Befundes, es folgen Verordnung von Bewegung sowie wiederholte Einreibung mit »stimulierender Salbe« und sedierende Tropfen zur Nacht, die mit nach wie vor bestehender Angst und Unruhe des Patienten (»… a sedative draught at night, the patient being anxious and restless«) begründet werden. Der Schiffsarzt erwägt als Ursache der Lähmung auch eine Bleivergiftung, bekommt aber vom Patienten die Auskunft, dass er nicht in der Nähe von Farbtöpfen geschlafen habe und auch seine Kabine in letzter Zeit nicht angemalt worden sei. Zwei Tage später wird er bei weiterer Verbesserung, wenngleich noch nicht ganz geheilt, zu leichtem Dienst beordert. (»I suspected that this was a case of Lead Poisoning, but he stated that he did not sleep near any paint pots nor had his cabin been recently painted. On the following day, flexion was complete, extension only partial. He continued to improve to the 28th June when he was discharged to light duty.«) Wir werden diesen Fall nicht wesentlich genauer bestimmen können, als dies durch den Schiffsarzt bereits geschehen ist. Wir erfahren nur von einer Parese der »Handstrecker«, die wir als Ausfall entweder schon des Trizepsmuskels oder aber nur der weiter distal gelegenen Streckermuskeln des Handgelenkes und der Finger deuten können. Die letztere Lokalisation der Schädigung ist ein gar nicht so seltenes Phänomen auch in heutiger Zeit und zum einen als »Parkbank-Lähmung« oder auch »Samstagnacht-Radialislähmung« bekannt. Dies meint die Nervenschädigung »bei Patienten, die betrunken oder stark sediert sind und einschlafen, während ihr Arm über eine Stuhllehne oder die Bettkante

272 Buckley, John., HM Sloop Rinaldo 10.5.–31.12.1870, TNA, ADM 101/182, lfd. Fallnr. 36.

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Die Diagnose »Paralysis«

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hängt.«273 Dass so mancher Matrose in der vollkommen engen, ja zusammengedrückten Lage in seiner Hängematte den einen oder andern Arm irgendwie schief und ungeschickt unter sich begraben haben wird, ist sehr gut vorstellbar. Gegen eine zentrale, also im Gehirn verursachte, Lähmung spricht die rasche Besserung des Befundes und das Fehlen weiterer Symptome. Ebenso würde eine Bleivergiftung, an die der Schiffsarzt denkt, mit ihrer Demyelinisierung (Entmarkung) der Nervenbahnen lange oder für immer anhaltende, auf keinen Fall aber nach drei Tagen verschwindende Schädigungen verursachen. Aus heutiger Sicht wäre auch an ein autosomal dominant vererbtes Leiden, die hereditäre Neuropathie, zu denken, bei der der Betroffene besonders leicht Nervendruckschädigungen erleidet. Dafür wäre aber in der Fallbeschreibung ein Hinweis auf bereits mehrere solcher Lähmungen des Stewards zu fordern. 3. Fall: Case 30 der Modeste (1876) – »Paralysis«274 Ein 26-jähriger Vollmatrose war im Januar 1876 zweimal in der Krankenstation gewesen wegen entzündeter und mit Geschwüren übersäter Haut, vermutlich eine Folge unzähliger Moskitostiche. Er war mit dem entzündungshemmenden Silbernitrat als Lösung und als Umschlag behandelt worden. Einen Monat später stellt er sich wieder vor und klagt jetzt über heftige nächtliche Kopfschmerzen und Muskelsteifigkeit. Chinin verbessert die Symptomatik nicht. Der Patient beginnt in dieser Zeit, »strahlend gesund aber dümmlich« auszusehen (»About this time he began to appear very bonny and stupid, …«), und jetzt erst wird dem Schiffsarzt eine Syphiliserkrankung in der Anamnese bekannt, die der Patient »ziemlich vergessen« hat. Er bekommt Kaliumjodid dreimal täglich, offensichtlich in der Annahme, dass es Hauterscheinungen der Syphilis sind. Tatsächlich tritt zunächst rasche Heilung der Hautulcerationen und auch der Schlafstörung ein. Am 15.  März, nach etwa drei Wochen, klagt er plötzlich, er könne den rechten Arm nicht mehr anheben und nicht mehr sicher auf dem rechten Bein stehen. Er ist nicht in der Lage, »seinen Knoten zu binden« (vermutlich seinen Haar-Knoten). Dem Arzt fällt darüber hinaus eine klosige Sprache auf, und er beschreibt das Verhalten des Patienten als »ziemlich frech«. (»March 15th when he complained for the first time of partial loss of power in the right arm and leg, he could not lift the former nor stand on the leg without staggering. His articulation was difficult and thick, there was no headache or vertigo, no twisting of the featines, tongue protracted quite straight, countenance rather sallow, … managed to dress himself very slowly, could not tye his knot.«) Bei dieser unklaren Symptomatik verlegt Surgeon Siccama den Patienten in das 273 Patten: Neurol. Differentialdiagnose, S.  314. Auch in den engen Betten von Wohnwagen und, für uns von besonderem Interesse, in engen Kojen von Segeljachten wird diese Druckschädigung beobachtet. 274 Siccama, R. R., HM Sloop Modeste 1.1.–31.12.1876, TNA, ADM 101/196, lfd. Fallnr. 30.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

Hospital von Singapur. Dort tritt unter Fortsetzung der Therapie mit Queck­ silber und Pottasche so wenig Besserung ein, dass der Matrose am 2. Mai 1876 invalidisiert wird. Hier hören wir also von einem motorischen Hemisyndrom (teilweise Lähmung des rechten Armes und Beines), einer Sprachstörung, von einem Psychosyndrom (auffälliges Verhalten) und einer einige Jahre zurückliegenden Syphilisansteckung. Alle drei neuropsychiatrischen Symptome deuten auf eine zentrale, sich im Gehirn abspielende Störung hin, die klosige Sprache weist auf eine sogenannte bulbäre Beteiligung hin, also eine Schädigung der moto­ rischen Hirnnervenkerne der Medulla oblongata (verlängertes Mark, Myelencephalon), wenn auch nicht von typischerweise hinzutretenden Schluckstörungen berichtet wird. Verbinden wir diese Anzeichen mit der Syphilis, so ist eine meningovaskuläre Phase der Neurosyphilis eine sehr wahrscheinliche Erklärung. In einem Zeitraum von bis zu fünfjähriger Latenz nach erster Infektion treten durch die Immunreaktion diffuse Entzündung der Hirnhäute und Verengungen an unterschiedlichen Hirngefäßen auf, die zu fokalen, umschriebenen ischämischen Insulten, also Schlaganfällen bei den relativ jungen Betroffenen führen. Besonders typisch ist dabei der Umstand, dass diese SchlaganfallsSymptomatik nicht so plötzlich wie der Apoplex bei größeren Gefäßverschlüssen auftritt, sondern subakut, stufenweise, eher allmählich und verbunden mit psychischen Auffälligkeiten.275 Genau so ist unser Fallbeispiel beschrieben, und der Umstand, dass der Matrose seine Syphilis »ziemlich vergessen« hatte, ist mit einigen inzwischen vergangenen Jahren durchaus in Einklang zu bringen. Die Bedeutung der vorausgegangenen entzündeten Moskitostiche bleibt dagegen offen. Am wahrscheinlichsten handelt es sich um ein ganz unabhängiges Geschehen, denn syphilitische Hauterscheinungen gehören nicht zu dem neurologisch-sympto­ matischen Spätstadium dieser Erkrankung. 4. Fall: Case 2 der Princess Charlotte (1868) – »Chorea »276 Ein 25-jähriger Offizier, Captain Main Lt., kommt am 16.  Januar 1868 auf die Krankenliste und klagt bei früher stets guter Gesundheit über ein merk­ würdiges Zucken in der willkürlichen Muskulatur. Nach Erholung von einer Fiebererkrankung habe er diese Zuckungen zuerst an den Nasenflügeln und der Oberlippe bemerkt, die sich dann auf die rechte Schulter und den rechten Arm ausgebreitet hätten. Der Offizier wird als ungewöhnlich intelligent beschrieben, wobei er sich selbst immer schon von »nervöser Disposition« kennt. Dem Schiffsarzt fällt im Gespräch mit dem Patienten sofort eine merkwürdige Be­ 275 Dietel, Suttorp, Zeitz: Harrisons, S. 1055. 276 Nelson, Robert, HM Frigate Princess Charlotte 1.1.–31.12.1868, TNA, ADM 101/181, lfd. Fallnr. 2.

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Die Diagnose »Paralysis«

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wegung von Nase, Mund und Kinn auf, und stellt fest, dass der Patient nicht in der Lage ist, seinen rechten Arm auszustrecken, ohne dabei ruckartige Bewegungen auszuführen. Auch kann er nicht sicher gehen, im rechten Bein sind gering ausgeprägte Zuckungen sichtbar und der Patient scheint sich »nicht im Klaren über die Standkraft seines rechten Beines« zu sein. Weil er sich nicht helfen lassen wolle, gehe er etwas lahm. Die Anamnese ist bezüglich Rheumatismus, Herzerkrankung und Kopfschmerz unauffällig. Innerhalb von vier Tagen wird weitere rasche Verschlimmerung der ganzen Symptomatik festgestellt. Der Mann kann mit seiner rechten Hand nur mit Mühe Nahrung zum Mund führen. So wird er am 20. Januar 1868 in das Hospital verlegt. Als Therapie an Bord wurde Zinksulphat, Chinin und Rizinusöl versucht. Bei der Chorea-Diagnose des Schiffsarztes sofort auf das klassische Krankheitsbild der »Chorea major Huntington« zurückzuschließen, wäre übereilt.277 Der hier beschriebene Patient ist dafür eher zu jung, der dargestellte Verlauf auf jeden Fall zu rasch. Die Bewegungsstörungen des Patienten sind auch weniger wie die typischen ausladenden, werfenden Bewegungen und das typische Grimassieren der Huntington-Patienten, sondern eher im Sinne von myoklonischen Zuckungen beschrieben. Myoklonien (kurze, ruckartige Bewegungen einzelner Muskeln von einer Dauer unter 100 Millisekunden) sind ein sehr unspezifisches Zeichen einer Vielzahl von toxischen, entzündlichen und stoffwechselbedingten Grunderkrankungen.278 Sie sind auch mit der nächstwichtigen Chorea-Form vereinbar, der »Chorea minor Sydenham«.279 Auf diese Erkrankung verweist das vorausgegangene Fieber, wenn wir es im Zusammenhang mit einem Streptokokken-Infekt (mit betahämolysierenden Streptokokken der Gruppe A) und damit als rheumatisches Fieber auffassen. Daran dachte der Schiffsarzt, wenn er schreibt, dass sein Patient noch nie Rheuma gehabt habe. Es war in vorantibiotischer Zeit ein nicht seltenes, oft schweres und komplikationsreiches Krankheitsgeschehen. Der rasche Verlauf, das Fieber, das Alter und die Symptomatik lassen die Diagnose einer Chorea minor Sydenham als die wahrscheinlichste erscheinen.

277 Dieses Eponym bezieht sich auf den bedeutenden US-amerikanischen Arzt George Huntington (1851–1916), Erstbeschreiber des Krankheitsbildes. 278 Dietel, Suttorp, Zeitz: Harrisons, S. 149; Patten: Neurol. Differentialdiagnose, S. 413. 279 Das Eponym dieser Choreaform verweist auf den großen englischen Arzt und Erstbeschreiber der Chorea nach Infektionskrankheit, Thomas Sydenham (1624–1689).

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

5.8.2 Auswertung In zwei der drei dargestellten Fälle von Paralysis handelt es sich um periphere motorische Läsionen, im einen Fall des rechten, im anderen Fall des linken Unterarmes. Im ersten Fallbeispiel steckt eine komplexe vererbbare Stoffwechselerkrankung hinter den flüchtigen Lähmungserscheinungen, im zweiten Fall ist eine harmlose Druckläsion durch entsprechende Liegeposition während des Schlafens in der Hängematte anzunehmen. Behandelt wurde innerlich durch unspezifische Medikamente und durch äußere Anwendung von »stimulierenden Salben«. Die im ersten Fall erwähnte Gleichstrombehandlung wird im Abschnitt 6.1.5 näher beschrieben. Im zweiten Fall ist die Überlegung des Schiffsarztes interessant, ob eine Bleivergiftung durch bleihaltige Farben in Frage komme. Beide Patienten genesen. Der dritte Patient dürfte das symptomatisch bunte Bild einer Neurolues aufweisen. Das vierte Fallbeispiel weist in Richtung einer »Chorea minor Sydenham«, einer früher häufigen, heute selten gewordenen cerebralen Komplikation nach rheumatischem Fieber.280 In den Medical Journals ist jede Form von motorischem und sensiblem Ausfall als Paralysis bezeichnet, in die Statistiken ist er jedoch erst seit 1837 aufgenommen. Paralysis ist nie häufig, 1837 bis 1843 sind es z. B. nur 17 Fälle in der East-India-Station.281 Nicht zu verwechseln ist die Paralysis unserer Quellen mit der erst später aufkommenden »progressiven Paralyse« (General Paralyse of the Insane) für die Neurosyphilis im Spätstadium der Syphiliserkrankung.

5.9 »Epilepsy« – Die neurologische und psychopathologische Seite der Epilepsie Zehn Fälle von Epilepsy, die in den schiffsärztlichen Tagebüchern gefunden wurden, sollen als Fallberichte folgen. Eine genaue Fallschilderung aus dem statistischen Jahresbericht 1863 ist hinzugefügt. Achtmal sind primär genera­lisierende grand-mal-Epilepsien geschildert, dreimal sind fokale, symptomatische Anfälle beschrieben. Epileptische Anfälle wurden (und werden heute noch) von der Umgebung als psychische Ausnahmesituation verstörend erlebt. Die Betroffenen selbst mussten mit dem unberechenbaren Geschehen um­gehen und werden je nach Persönlichkeit verschieden stark psychisch beeinträchtigt gewesen sein. 280 Für wertvolle, kritische Diskussion der Fallberichte dieses und des nächsten Abschnittes danke ich dem neurologisch überaus versierten Kollegen Dr. med. Bernd Heuer, Schleswig und Uetersen. 281 House of Commons 1853 (555) Navy (health): Stat. Rep. für 1837–43, S 84. Bis 1880 bleibt die Zahl mit 5 bis 10 Fällen pro Jahr für das ostindische Flottenkommando so klein.

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Die neurologische und psychopathologische Seite der Epilepsie

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5.9.1 Fallberichte 1. Fall: Case 5 der Raleigh (1857) – »Epilepsy«282 Von dem 21-jährigen Private Marine Laughlan R. wird berichtet, dass er schon mehrfach wegen geringfügiger Beschwerden auf der Krankenliste gestanden habe. Innerhalb eines Monates um die Jahreswende 1856/57 erleidet er zwei epileptische Anfälle, deren Heftigkeit und Dauer besonders betont wird. Der Patient gibt bei der Untersuchung an, dass er vor der Abfahrt des Schiffes in der Kaserne »mehrere kleine Anfälle« gehabt habe. Während des Auf­ enthaltes im Marinehafen von Simon’s Town in Südafrika im Januar 1857 wird er invalidisiert. Wir haben es vermutlich mit einer typischerweise im Erwachsenenalter beginnenden grand-mal-Epilepsie (d. h. Krampfgeschehen mit Bewusstseinsverlust) zu tun, der mit einiger Wahrscheinlichkeit in der Jugend Absencen vorausgingen, was wiederum deren typisches Manifestationsalter ist. Beide Formen zählen zu den primär generalisierenden, kryptogenen, also in ihrer Entstehung unaufgeklärten und auch mit dem Wissen des beginnenden 21.  Jahrhunderts unaufklärbaren Epilepsiearten. Case 5: Epilepsy Laughlan R., aetat 21. P. M. Jan: 3rd 1857. Invalided Since joining the Ship he has been several times on the Sick List, with trifling ailments. Within the last month he has had two Epileptic fits of considerable violence and duration, accompanied by violent convulsions of the extremities. He states that before leaving England he had had several minor fits in Barracks. He was brought forward for Survey and Invalided at Simons’ Bay on the 21st January 1857.

2. Fall: Case 2 der Nimrod (1857) – »Epilepsy«283 Noch bevor die Nimrod, die schon die Sailing Orders hat, im März 1857 aus Portsmouth ausläuft, wird der 24-jährige Artillerie-Soldat (Chief Gunner’s Mate) Charles S. zur Beobachtung und Therapie in das in unmittelbarer Nähe gelegene Haslar Hospital eingewiesen. Er hatte während einer der letzten Landgänge vor der Abreise des Schiffes einen epileptischen Anfall erlitten und klagt nun über Schmerzen in Kopf und Rücken. Die Anamnese ergibt Anfälle bereits während seines Dienstes auf der Flying Fish, auf der Agora und auf der Excellent. 18 Monaten vor dem jetzigen Ereignis war er schon einmal im Haslar Hospital, dem Krankenhaus der Royal Navy, wegen seiner Epilepsie behandelt worden. 282 Crawford, J. J., HM Frigate Raleigh 4.9.1856–25.8.57, TNA, ADM 101/161, lfd. Fallnr. 5. 283 Rose, John, HM Sloop Nimrod 1. Teil, 24.3.1857–24.3.1858, TNA, ADM 101/164/1A, lfd. Fallnr. 2.

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Auch hier denken wir an einen ersten grand-mal-Anfall. Da nicht beschrieben ist, ob er heftig gestürzt ist, bleibt offen, ob seine Schmerzen in Kopf und Rücken von entsprechenden Prellungen herrühren, oder aber Folge der massiven Muskelanspannungen sind, die während eines tonisch-klonischen Krampfanfalles auftreten können und die durch die extreme Kraftentwicklung während der Muskelzuckungen sogar zu Knochenfrakturen führen können. Der Kopfschmerz ist in jedem Falle eine häufige Folgeerscheinung eines solchen Anfalles. 3. Fall: Case 77 der Nankin (1859) – »Epilepsy«284 Der 22-jährige Cooks Mate, also eine dem Koch zugeordnete Hilfskraft, hat schon »eine ganze Zeit lang« alle zwei Tage einen eindeutigen epileptischen Anfall (»a well marked attack of epilepsy«). Deren Häufigkeit und Stärke ging zwar nach einer Chinin-Kur zurück auf eine Frequenz von nur noch einem Anfall alle zwei Wochen, dennoch stellt die Kommission, die nach einem neuerlichen schweren Anfall während des Aufenthaltes in Singapur zusammenkommt, fest, dass der Mann nicht mehr dienstfähig ist. Seine Invalidisierung wird am 12. Februar 1859 ausgesprochen. Zur Therapie vermerkt Schiffsarzt Telfer, er achte besonders »auf die Verdauung und auf die Lenden« und richtet danach die Medikamente aus. Während der Anfälle habe er regelmäßig Chloroform verabreicht, und zwar »mit den besten Ergebnissen«. Die beschriebene Anfalls-Serie spricht gegen eine generalisierende ­Epilepsie. Sie wäre viel eher bei einer sekundären Form zu erwarten, jedoch haben wir keinen Hinweis auf begleitende oder vorausgehende neurologische Symptomatik. Deshalb ist unbedingt auch ein dissoziativer Zustand zu erwägen mit rein psychogenen Anfällen auf dem Boden eines psychoreaktiven Geschehens. Wenn wir davon ausgehen, dass Chinin wie auch das eingesetzte Chloroform die Krampfschwelle senkt, spricht die Besserung des Anfallsleidens für eine organische Ursache. Wenn wir dagegen von einem durchaus möglichen gegen­teiligen Effekt des Chinins, nämlich der Anhebung der Krampfschwelle ausgehen, wird ein psychogenes Geschehen wahrscheinlicher. Eine definitive Entscheidung ist mit den vorhandenen Informationen nicht möglich. Case 77: Epilepsy Alfred J., æt 22, Cooks Mate 3rd October – Singapore This man was admitted to the list labouring under a well marked attack of epilepsy. The attacks continued to recur every alternate day for some time, but ultimately yielded somewhat after he had undergone a course of Quinine.

284 Telfer, William, HM Frigate Nankin 3. Teil, 1.1.1858–18.2.1859, TNA, ADM 101/162, lfd. Fallnr. 77.

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He is still subject to these attacks about once a fortnight but they are milder in their character. Attention to the bowels, and loins confine the chief remedies prescribed. Chloroform was continuously administered during the fits and with the best result. He was surveyed today and found unserviceable. 12th February 1859. Invalided.

4. Fall: Case 45 der Euryalus (1862) – »Epilepsy«285 Nur eine kurze kasuistische Notiz findet sich zu dem 17-jährigen »Schiffsjungen 1. Klasse« James R., bei dem sich einige Tage zuvor »alle Symptome eines epileptischen Anfalles in ziemlich schwerer Form« gezeigt hatten. Er wird von einem Board of Medical Officers am 27. März 1862 als dienstuntauglich eingestuft. Auch hier haben wir es mit einem offenbar vom Arzt sicher erkannten grandmal-Anfall zu tun, der sich in seinem typischen Erstmanifestationsalter, nämlich dem jungen Erwachsenenalter, ereignet. 5. Fall: Case 157 der Euryalus (1862) – »Epilepsy«286 Ein erster epileptischer Anfall wird bei dem 29-jährigen Ingenieur-Assistenten, Robert M., in der Nacht auf den 22. Dezember 1862 beobachtet, während die Euryalus im Hafen von Hongkong liegt. Surgeon Morgan führt seine »schwache und anämische« Verfassung auf die schlechte, »faule« Luft unter Deck zurück, und verlegt ihn auf das Lazarettschiff Melville, das in Hongkong stationiert ist. Dort wird er schon am darauffolgenden Tag, dem 23. Dezember 1862, invalidisiert. Es ist leider nicht erwähnt, ob der Betroffene jenen ersten nächtlichen Krampfanfall auf Wache, auf Freiwache müßig oder im Schlaf in seiner Hängematte erlitt. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit wäre der aktive Wachdienst anzunehmen, denn Schlafentzug gehört zu den wichtigsten Triggern, also Auslösemechanismen eines epileptischen Anfalles. Möglich wäre auch ein Anfall, während der Mann in der Hängematte lag. Eine gewisse Einschränkung stellt die Tatsache dar, dass der besonders typische Zeitpunkt für ein grandmal der frühe Morgen, das Aufwachen ist, allerdings mit einem zweiten Gipfel am Abend, beim Zur-Ruhe-Kommen. Schließlich ist noch an eine weitere Möglichkeit zu denken, wenn wir die Beschreibung des Patienten als »schwach und blass« berücksichtigen wollen, ebenso wie die Wirkung der »faulen Luft« im Unterdeck. Dann kommt nämlich auch eine eher harmlose vago-vasale Synkope, eine Kreislaufkrise mit Blutdruckabfall, in Frage, die mitunter mit zuckenden

285 Morgan, David Lloyd, HM Frigate Euryalus 23.1.–31.12.1862, TNA, ADM 101/174, lfd. Fallnr. 45. 286 Ebd., lfd. Fallnr. 157.

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und krampfartigen Bewegungen einhergeht. Im diesem Falle dürfte der Patient wiederum kaum in seiner Hängematte gelegen haben. Case 157: Epilepsy Robert M. aetat 29 Asst. Engineer admitted on the sick list on the 22nd of December, at Hong Kong having been suddenly seized with an epileptic fit on the previous night. Being in a weak and anaemic state from breathing foul air below he was discharged to HM Hospl. ship Melville at Hong Kong (since invalided) on the 23rd.

6. Fall: Case 33 der Nimble (1870) – »Epilepsy«287 Der 22-jährige »Signalmann 2. Klasse« Joseph C. erleidet vor Bahrain am Abend des 22. Dezember 1870 einen ersten »schweren Anfall ohne jedes Warnzeichen«, dem bis Mittag des Folgetages in zweistündigen Abständen weitere sechs Anfälle folgen. Beschrieben werden eindeutig grands maux, also tonisch-klonische Krämpfe mit vollständigem Bewusstseinsverlust und Urinabgang. Fest zusammengepresste Kiefer, zur Faust geschlossene Hände, die die Daumen umschließen, enggestellte Pupillen, livide Gesichtsverfärbung und gestaute Halsvenen vervollständigen die Beobachtung des Schiffsarztes. Als erstes Medikament wird Croton-Öl in sehr geringer Menge (zwei minims, das sind 0,12 Milliliter) auf Zucker verabreicht, dann der Kopf mit Wasser gekühlt, frische Luft verschafft und ein Stück Holz zwischen die Zähne geschoben (um Zungenbisse zu vermeiden). Wie stets wird auch bei diesem Krankheitsbild für dras­ tische Darmentleerung gesorgt. Zwei Stunden nach der Croton-Öl-Gabe tritt heftige Darmaktivität und Reduzierung der Krampfbewegungen ein. (»Bowels very freely purged in about two hours from the giving of the oil and after that the convulsions grew less and less severe.«) Assistent Surgeon George B. Murray zeigt sich überzeugt, dass die Epilepsie von der schon sechs Tage dauernden Obstipation des Patienten herrühre und sieht sie daher als einen Fall einer »reflex or excentric epilepsy«. Er verneint ausdrücklich Syphilis in der Vorgeschichte. Fünf Tage bleibt der Patient auf der Krankenliste zur Beobachtung. Dann darf er wieder zum Dienst, jedoch ohne Tätigkeit in der Höhe der Takelage, und am 27. Februar 1871 wird rückblickend »exzellente Gesundheit und kerngesunde Verfassung« festgestellt. Wir haben hier die Beschreibung einer klassischen symptomatischen Epilepsie, die der Schiffsarzt auf der Höhe damaliger Theorie im Sinne eines Reflexbogens von Verdauungssystem und Gehirn eine »Reflex- oder auch exzentrische Epilepsie« nennt. Er hatte eine eindeutige Ursache im Blick, die sechstägige Obstipation, und er wandte dementsprechend eine Therapie zur Beseitigung der Ursache an. Da er sich in dieser seiner Annahme bestätigt fand, konnte er 287 Murray, George B., HM Sloop Nimble 1.  Teil, 31.10.1870–31.12.1871, TNA, ADM 101/184/1A, lfd. Fallnr. 33.

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den Signalmann konsequenterweise wieder zum Dienst schicken. Er konnte die Epilepsie für geheilt ansehen. Zwar werden wir in der Verdauungsstörung nicht mehr die Ursache der epileptischen Anfälle sehen, doch können auch wir in der Serie von grands maux eine symptomatische Epilepsie erkennen. Die Frage ist dann allerdings, welcher Vorgang die Krampfschwelle so gesenkt hat, dass es zu den synchronen Entladungen kommen konnte. Von Fieber lesen wir nichts. An eine nächste Ursache von nicht geringer Wahrscheinlichkeit wäre zu denken, nämlich an die Absenkung des Blutalkoholspiegels im Falle einer Alkoholabhängigkeit. Einen Hinweis in dieser Richtung finden wir in der kurzen Darstellung aber nicht. Case 33: Epilepsy Joseph C., aet 22, Signalman 2nd Class. Put on the Sick-List Dec. 15th at Bahrein. On the evening of the 15th he was seized without any warning, with a severe epileptic convulsion. Was immediately seen and found struggling most violently, teeth clenched, thumbs turned in upon palms of hands, pupils contracted, face livid. Jugulars distended. Passed urine involuntary. Administered Ol Croton mii (two minims) on sugar, cold douche to head free exposure to the air, applied a piece of wood between the teeth. The fits occurred every two hours until twelve, during which time he had in all six. Bowels were freely purged in about two hours from the giving of the oil and after that the convulsions grew less and less severe. I attribute this attack to constipation his bowels not having acted for six days, and in my opinion it is a case of reflex or excentric epilepsy. There was no history of syphilis and this was the first attack. He remained on the sick list until Dec. 27th when he was discharged to duty, but not to go aloft. No return of the disease had occurred and he felt and looked perfectly well. February 27th. No signs of any return of the disease. His health being excellent and feels quite robust.

7. Fall: Case 7 der Magpie (1873) – »Epilepsy«288 Der 19-jährige Vollmatrose William C. stürzt am 26.  März 1873 bei seiner Wachübergabe um zwei Uhr nachts rückwärts zu Boden und schlägt sich dabei den Kopf nur leicht an. Er ist bewusstlos, zeigt aber keine Krämpfe und Zuckungen. Surgeon Mulvany vermerkt anhaltendes Stöhnen des Patienten, jedoch keinen Schaum vor dem Mund, stark erweiterte Pupillen, ferner tonische Streckung seiner Beine, die aber passiv überwindbar ist. Die Arme sind in den Ellbogen gebeugt. Eine Viertelstunde dauert dieser Anfall. Wieder bei Bewusstsein, gibt der Matrose an, dass er vor dem Anfall eine »merkwürdige Empfindung vom Magen zum Kopf aufsteigend« (»a peculiar sensation passing upwards from his stomach to his head«) gehabt habe, vom Schiffsarzt richtiger Weise als »an aura« bezeichnet. Tags darauf folgt ein ähnlicher Anfall von einer ¾ Stunde Dauer, einen Monat später noch ein weiterer. Danach folgt kein weiterer Anfall. Der Matrose berichtet, vor drei Jahren an 288 Mulvany, John., HM Sloop Magpie 1.1.–31.12.1873, TNA, ADM 101/189, lfd. Fallnr. 7.

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Bord der Boscawen einen ähnlichen Anfall erlitten zu haben. Keiner seiner Familienangehörigen hätte allerdings je unter Epilepsie gelitten. (»He states that none of his relatives ever suffered from Epilepsy.«) Am 10. April tritt »ein weiterer Anfall ziemlich ähnlich wie der erste« auf, dem drei Tage Schwindel und Benommenheit folgen. Am 4. Mai wird er schließlich »quite well«, bei guter Verfassung, zum Dienst an Deck (»well to Duty on Deck alone«) ohne Aufentern in die Takelage geschickt. Die Behandlung mit »Zinc oxid in forma pilules ter die«, also Zinkoxid enthaltenden Pillen, dreimal täglich, wird beim ersten Anfall begonnen und noch zehn Tage über den Wiedereintritt der Dienstfähigkeit hinaus fortgeführt. Wir erhalten mit dieser Fallschilderung eine außerordentlich anschauliche Beschreibung eines fokalen Anfallsleidens. Für eine sogenannte Temporallappen-Epilepsie spricht nicht nur die gering ausgeprägte motorische Störung in seinen Gliedmaßen, sondern auch die sehr typisch geschilderte epigastrische Aura, jenes aus dem Bauchraum aufsteigende, merkwürdige Gefühl, das einen Anfall ankündigt. Aber auch die leere Familienanamnese entspricht dieser zwar fokalen, also symptomatischen, aber bei fehlender sonstiger Herdsymptomatik doch »kryptogenen«, also unerklärten Epilepsieform. Der Schiffsarzt erkennt die Anfälle als weniger schwer als die ihm sicherlich bekannten grand-malAnfälle. Deshalb, und vielleicht auch weil der Matrose durch seine Auren ein Warnzeichen hat, entlässt er ihn wieder in den eingeschränkten Dienst. 8. Fall: Case 6 der Fly (1875) – »Epilepsy«289 Der 27-jährige Zweite Kapitän des Vordecks der Fly, Mr. Edward P., erleidet am 3. April 1875 einen oder zwei epileptische Anfälle, und in den drei Folge­ tagen drei weitere Anfälle von »ein paar Minuten Dauer«. Wir erfahren nicht ein­deutig, ob der Offizier schon wegen eines Anfalles auf die Krankenliste gekommen ist, jedoch ist eher davon auszugehen, da keinerlei andere Begründung gegeben wird. Der vermutlich zweite Anfall hatte sich 15 Minuten vorher mit Kälte- und Schwächegefühl angekündigt. Die Anfälle werden von Surgeon Lloyd jeweils ohne nähere Beschreibung als »epileptisch« bezeichnet. Er kann keine Ursache für die Attacken finden. (»Can trace no direct cause for epileptic attacks, ordered quinina mixture.«) Sie seien nicht sehr schwer gewesen und mit »der üblichen Medizin«, nämlich mit Quinine Mixture, also Chinin, be­handelt worden. Nach dem ersten Anfall hieß die Anordnung allerdings nur »etwas Brandy und Hinlegen!«. Jeweils einige Zeit nach den Krampfanfällen klagt der Patient noch über Kopfschmerzen und Mattigkeit. Bis zum 12. April lässt der Surgeon den Patienten aus Furcht vor einem Herausstürzen bei einem neuerlichen Anfall nicht in der Hängematte, sondern an Deck schlafen. Erstaun 289 Lloyd, Edward T., HM Gun Vessel Fly 1.1.–31.12.1875, TNA, ADM 101/193, lfd. Fallnr. 6.

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licherweise scheint der Seemann vom Rang eines Zweiten Kapitänes seinen Schlafplatz in einer Hängematte gehabt zu haben. (»I have made him sleep on the deck for fear of his falling out of his hammock.«) Obwohl nach dem dritten Ereignis am 7. April kein weiteres mehr auftritt, wird der Seemann im Kapitänsrang, weil er nach Einschätzung des Arztes nicht mehr in die Masten steigen darf und seine Verwendbarkeit dadurch sehr begrenzt ist (»as he was therefore of little use on board«), der Kommssion zur Diensttauglichkeitsuntersuchung (for Survey) vorgestellt. Diese befindet ihn als nicht mehr diensttauglich und empfiehlt seine Rückreise nach England. Am 1.  Mai desselben Jahres besteigt er einen Postdampfer mit Ziel England. Die betonte Beschreibung der Anfälle als nicht besonders schwere und auch das Phänomen des Fröstelgefühles (mit vegetativer Reaktion der Körperhaare) sprechen für eine Temporallappenepilepsie (mit Epilepsieherd im Schläfenlappen des Gehirns). Es bleibt offen, ob die Anfälle sekundär generalisieren. Offen bleibt auch, ob der Patient motorische Entäußerungen gezeigt hat, wobei ein diesbezüglicher Hinweis sein könnte, dass der Arzt fürchtet, der Mann könne in einem Anfall aus seiner Hängematte stürzen. 9. Fall: Case 39 der Modeste (1876) – »Apoplexy«290 Ein sehr wahrscheinlich symptomatischer epileptischer Anfall ist im J­ournal der Modeste für das Jahr 1876 beschrieben. Der 43-jährige Schiffs-Steward John G. wird am Morgen des 18.  Juni 1876 an seinem »üblichen Schlafplatz« in seinem Arbeitsraum, einer gut mit frischer Luft versorgten Kabine, in delirantem Zustand mit Tremor der Hände, kaltem Schweiß, schwachem Puls und mit einem zusammenhangslosen Rededrang vorgefunden. Er weist zwar keinen Zungenbiss, aber Schaum vor dem Mund auf. Sein Atem riecht dezidiert nach Alkohol. In der Sick-Bay erhält er Ammoniaktropfen und verhält sich ruhig, bis nach einer Dreiviertelstunde zwei weitere Krampfanfälle auftreten. Dabei wird zwischen den beiden Anfällen eine unruhige, ratlose Verfassung beschrieben, in der der Patient sagt, er »wisse nicht, was los sei«. (»Took  a little Ether and Ammoniac and lay down saying distinctly he »couldn’t make out what was the matter.««) Auf den zweiten Anfall folgt ein rapide zunehmender Kreislauf­ zusammenbruch bis Atemversagen und Pulslosigkeit eintreten. Acht Minuten nach dem zweiten Anfall stirbt er. Die Obduktion liefert für den Schiffsarzt R. R. Siccama keine Erklärung für das Geschehen. Er findet keine Blutung und sonstige Auffälligkeit im Gehirn, doch fügt er in seinem Bericht an, dass der »stämmig und lebhaft, aber auch verwahrlost aussehende« Mann an Gicht und Rheuma gelitten habe und von dem heißen und kräftezehrenden Wetter in der Malakka-Straße »deprimiert« gewesen sei. (»… and also had been much depressed by our recent stay in the hot 290 Siccama, R. R., HM Sloop Modeste 1.1.–31.12.1876, TNA, ADM 101/196, lfd. Fallnr. 39.

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and debilitating weather of the straits of Malacca.«) Bekanntermaßen und trotz strenger Warnungen habe er seine »ungemäßigten Gewohnheiten« nicht abgelegt. (»He had also latterly lost condition very much being much addicted to intemperate habits, …«) Mit diesen »Gewohnheiten« war ganz offenbar ein manifester Alkoholmissbrauch des Stewards gemeint, den er nach Ermahnungen seiner Vorgesetzten schon zwei Mal mit Abstinenz habe unterbrechen wollen, immer ohne Erfolg. (»after severe warnings from his superiors he had attempted total abstinence without success.«) Die psychopathologischen Auffälligkeiten zwischen den Anfällen können einerseits als postiktaler Dämmerzustand bei einem Status epilepticus, andererseits als Psychose bei schwerem Alkoholentzugsdelir gedeutet werden. Einiges spricht für eine ausgeprägte psychische und physische Abhängigkeit von Alkohol. 10. Fall: Case 10 der Daphne (1878) – »Epilepsy«291 Diese Kasuistik von Bord der Daphne beschreibt einen lediglich »epileptiformen Charakter« eines Anfalles ohne vollständigen Bewusstseinsverlust. Der 24-jährige Matrose Henry H.  gibt während seines in der Nacht auftretenden, eine Stunde dauernden Anfalles ein lautes Stöhnen von sich und bleibt dabei durch laute Stimme ansprechbar, verliert also sein Bewusstsein nicht vollständig. (»September 26. Last night had a fit of an epileptiform character, during which he made a loud groaning noise, but did not entire lose all consciousness, as he could be made to understand by speaking to him in a loud voice.«) Anschließend klagt er über heftige Schmerzen in Kopf und Armen. Eine ähnliche Symptomatik wiederholt sich am darauffolgenden Tag, nachdem er morgens noch wie üblich seinen Dienst ausgeführt hat. Er wird in seiner Messe laut schreiend vorgefunden und setzt dieses Schreien auch noch im Schiffslazarett fort, ohne einen Grund für sein befremdendes Verhalten angeben zu können. Wieder spürt er den Kopfschmerz, jetzt aber zusätzlich eine Kraftlosigkeit in beiden Armen, obwohl er sie frei bewegen kann. Temperatur und Puls sind normal. Therapiert wird mit Abführmittel. In den nächsten beiden Tagen hat der Patient den Eindruck, die Dinge würden »um ihn herum kreisen«. Er hat noch Kopfschmerz und einen »schweren Kopf«, wenn er ein paar Schritte geht. (»September 27. Still complains of headache and things appear to be »going round«. When he walks head feels heavy.«) Die Arme sind jetzt schmerzfrei, die Hände aber noch steif. Eine Woche nach Beginn des rätselhaften epileptischen Krankheitsbildes ist der Mann wieder uneingeschränkt dienstfähig und fühlt sich gut. (»Duty, says he feels all right.«) Eine grand-mal-Epilepsie scheidet aufgrund des erhalten gebliebenen Bewusstseins des Patienten aus. Für eine fokale Epilepsie wäre die Dauer einer 291 Campbell, G. A., HM Sloop Daphne 1.1.–31.12.1878, TNA, ADM 101/199, lfd. Fallnr. 10.

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ganzen Stunde wiederum sehr ungewöhnlich, ebenso die motorische Störung in beiden und nicht nur in einem Arm. Wenn es auch für eine Fokalepilepsie ein merkwürdig monomorphes Bild wäre, ist eine solche doch nicht ganz auszuschließen. Angesichts des bunten Bildes kommt auch eine dissoziative, psychogene Störung in Betracht. Man spürt, wie auch der Schiffsarzt unsicher in der Zuordnung ist. Er legt sich nicht fest, sieht keinen Grund zur schnellen Invalidisierung und lässt den Steward wieder seinen Dienst tun. 11. Fall: Ein weiterer Fall aus dem Statistical Report für 1863292 Ein weiterer Fall sei aus dem Statistical Report des Jahres 1863 angefügt. Das Medical Journal des Schiffes Scout ist leider nicht in den Archivbeständen vorhanden. Eindeutiger als in den vorhergehenden Fällen können wir hier eine symptomatische Epilepsie diagnostizieren, nicht zuletzt, da der Obduktionsbericht wörtlich zitiert ist. Zunächst ist eine klassische Jackson-Epilepsie mit motorischen Ausfällen beschrieben, von denen sich der Patient ganz erholt. In einer zweiten Erkrankungsphase mit Bildung eines Abszesses im Schädelinneren ist mit den epileptiform convulsions zweifellos ein komplex-fokales epileptisches Geschehen beschrieben. Es kommt sowohl zu motorischen als auch zu Bewusstseinsstörungen, die dem Arzt als ausgesprochen merkwürdig auffallen. (»They were somewhat peculiar in their character, being accompanied with paralytic shaking of the left arm and leg. The attack was generally preceded by giddiness, but sometimes occurred when he was asleep, and it was never preceded by the cry so characteristic of the true epileptic seizure.«) Auch dass sie nachts auftreten und der Initialschrei fehlt, spricht für diese Einordnung. Während er, bereits invalidisiert, auf seine Rückreise nach England wartet, erleidet er weitere Anfälle, an deren letztem er verstirbt. Der berichtende Surgeon der Scout lässt in seinem Verlaufs- wie auch Obduktionsbericht einen Zusammenhang mit einem im Jahr zuvor durchgemachten Hitzschlag offen, während er einen solchen mit einer im Kampf erlittenen Gesichtsverletzung mit Frakturen als wahrscheinlich annimmt. Gefunden wurden in der Obduktion narbige Veränderungen der Dura mater (eine der bindegewebigen Hüllen zwischen Hirngewebe und Schädelknochen) und vermutlich organisierte, aber auch bakteriell infizierte Blutgerinnsel, die als epileptogene Herde angesehen werden müssen. Wir können den tödlichen Ausgang durch die Vereiterung der Hirnhaut erklären nach Infektion über die Eintrittspforte einer »in einem Kampf« erlittenen offenen Gesichtsschädelfraktur. Aus unbekannten Gründen entwickelte sich die Infektion aber erst mit einer Latenz von Monaten.

292 House of Commons 1866 (458) Navy (health): Stat. Rep. für 1863, S. 212–213.

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5.9.2 Auswertung In sieben der elf Fälle von Epilepsy handelt es sich um eindeutige grands maux, um große Anfälle mit Bewusstseinsverlust. Mehrfach häufen sich solche Anfälle in der kurzen Zeit von mehreren Tagen. Kleine oder fokale Anfälle ohne Bewusstseinsverlust sind in vier der Fallberichte beschrieben. Der 9. und 11. Fall ist recht sicher, der 6. Fall eventuell als symptomatische Epilepsie bei Alkoholkrankheit einzuordnen. Ob es sich dabei eher um ein Entzugsdelir oder um ein Anfallsgeschehen unter Alkoholintoxikation handelt, ist den Beschreibungen nicht sicher zu entnehmen. Psychogene Anteile sind im 3. und 10. Fallbeispiel zu diskutieren. Die beiden Patienten mit symptomatischer Epilepsie, einmal bei Alkoholkrankheit und einmal bei Gehirnabszess, versterben im epileptischen Anfall. Von den anderen Patienten werden fünf invalidisiert, ein Offizier kommt in das Hospital, drei der Betroffenen werden an Bord gesundgeschrieben und kehren zum Dienst zurück. Dass ein Ingenieur gleich nach dem ersten Anfall invalidisiert wird, könnte gut mit der Gefahreneinschätzung durch den Arzt zusammenhängen, wonach der Ingenieur bei jedem Anfall in der Schiffsmaschine großer Gefahr ausgesetzt ist. Ebenso wird bei einem Kapitän des Vordecks auf die Notwendigkeit hingewiesen, dass er in die Takelage muss klettern können. Die dienstliche Beschränkung, nicht in der Höhe zu arbeiten, war die regelhafte Schlussfolgerung bei jedem Epilepsiepatienten. Es sind bis auf den 43-jährigen alkoholkranken Steward alle Betroffenen dieser Krankheitsgruppe sehr junge Leute. Sieben sind zwischen 17 und 24 Jahre, einer ist 27, ein weiterer 29 Jahre alt. Einmal fehlt die Altersangabe. Wie spiegelt sich die Anfallskrankheit in den Statistical Reports? Da die eplileptischen Anfälle im ersten Berichtszeitraum 1830 bis 1836 dem Cullen-System folgend mit allen »krampfartigen Krankheiten« bis hin zur Cholera zusammengezählt werden, lässt sich keine verlässliche Angabe machen.293 In allen späteren Berichten ist Epilepsy neben den Diagnosen Apoplexy und Paralysis als eigenständige neurologische Entität aufgeführt. Die Relativzahlen sind stets gering. Für 1837 bis 1843 sind es absolut 85 Fälle Epilepsy in der ostindischen Station, bei knapp 4000 Mann also 3,1 ‰. Im Vergleich zur Gesamtzahl aller in den Sick Lists geführten Krankheitsfälle von 53 021 nehmen sich die 85 Fälle verschwindend gering aus. Es muss erstaunen, dass rund zwei Drittel der Anfallskranken nicht dienstunfähig geschrieben wurden.294 Die Epilepsie war ein eindeutiges, gut erkennbares Leiden durch sein augenfälliges Symptom, dem Krampfanfall. Aber auch die Vielzahl fokaler Anfälle, 293 House of Commons 1841 (53) Navy (health): Stat. Rep. für 1830–36, S. 108–111. 294 House of Commons 1853 (555) Navy (health): Stat. Rep. für 1837–43, S 84.

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die »Absencen« und viele weitere Unterformen sind dem diagnostischen Blick der Schiffsärzte des 19. Jahrhunderts nicht ganz entgangen. Manches Anfalls­ äquivalent wird eher als sonderbares Verhalten, als geistige Abwesenheit oder Unaufmerksamkeit aufgefasst worden sein. Evident ist die Gefahr, die jeder Krampfanfall für den Seemann darstellte: Die des Sturzes von aloft, aus der Höhe der Takelage, aber auch die des Sturzes an Deck oder im Bauch des Schiffes in eines der tieferen Decks und schließlich auch die Sturzmöglichkeit über Bord. Die andere Gefahrenquelle war die beengte Situation unter Deck in der Dampfmaschine.

5.9.3 Einige Bemerkungen zur Geschichte der Epilepsie im 19. Jahrhundert. Mit dem hier gewählten Untersuchungszeitraum der Jahre von 1830 bis 1880 haben wir gleichzeitig die Entstehungszeit der modernen Epileptologie vor uns.295 Die Jahre um 1830 standen noch ganz unter dem Eindruck der ersten neuen Entdeckungen durch Jean Etienne Esquirol (1772–1840), Louis Calmeil (1798– 1895), Moritz H. von Romberg (1795–1873), James Cowles Prichard (1786–1848) und anderer. Sie benannten die verschiedenen beobachteten Anfallsformen mit »grand mal« und »petit mal« (Esquirol), mit »abscence« (Calmeil) und »état de mal« (status epilepticus) (Calmeil) und beschrieben die »aura epileptica« (Prichard, Romberg). Samuel Auguste Tissot (1728–1797) hatte die »idiopathische« Epilepsie (unserer heutigen symptomatischen entsprechend), die »sympathische« Epilepsie (deren Konvulsionen von der Körperperipherie zentripetal zum Gehirn voranschreiten sollten) und die »essentielle« Epilepsie, über deren Verursachung man nichts wisse (unserer heutigen idiopathischen Epilepsie entsprechend), unterschieden. Seine Systematik war lange Zeit und bis in das erste Drittel des 19. Jahrhunderts hinein die dominierende pathophysiologische Epilepsie-Lehre. Die Jahre 1830 bis 1860 werden von den meisten medizinhistorischen Autoren mit der »Reflextheorie« von Charles Bell (1774–1842) und den Namen von Marshall Hall (1790–1857), Charles Brown-Séquard (1817–1894) und Friedrich Henle (1809–1885) verbunden.296 Unter Rückbezug auf die Prinzipien Albrecht von Hallers (1708–1777) von »Sensibilität« (der empfindsamen Fasern) und 295 Übersichten liefern Schneble, Hansjörg: Heillos, heilig, heilbar, Berlin 2003; ders.: Historie der Epilepsie in 4000 Jahren, Anfallskrankheiten aus interdisziplinärer Sicht, Bern 1993, S.  15–23; Schneble, H.; Matthes, A.: Krankheit der ungezählten Namen, Bern 1989; Temkin, Owsei: The falling sickness, Baltimore 1994; Peters, Uwe: Zur Psychopathologie der Epilepsie, in: Nissen, Gerhardt (Hg.): Anfallskrankheiten aus interdisziplinärer Sicht, Bern 1993, S. 133–138; Heintel, Helmut: Quellen zur Geschichte der Epilepsie, Bern 1975. 296 Siehe besonders: Temkin, ebd., S. 278–302.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

»Irritabilität« (der kontraktilen Muskelfasern) entsteht ein neues Denkmodell von einem »centric origin«, einem zentralnervösen Ursprung des epileptischen Anfalles und einem »excentric cause of the reflex function«, einem Reflex im peripheren (vegetativen) Nervensystem, der die Konvulsionen bedingt. So wurde aus der »sympathetischen Epilepsie« die »Reflex-Epilepsie«. Diese Auffassung entdecken wir im sechsten der folgenden Fallberichte im Begriff einer »reflex or excentric epilepsy«. In John Hughlings-Jackson (1835–1911) sehen wir heute unbestritten den Vater der modernen Epileptologie. Seit 1862 am Londoner National Hospital for Paralysed and Epileptic tätig, fand Hughlings-Jackson in seinen Arbeiten zu der Definition des epileptischen Anfalles als einer »durchaus lokalen, exzessiven Entladung von Teilen des Gehirnes«, die wiederum durch »abnorme Ernährung« zu solchen instabilen Gleichgewichtszuständen mit hoher Spannung neigten.297 So wird der Krampfanfall aufgefasst als »an occasional, an excessive, and a disorderly discharge of nerve tissue on muscles«, also »eine gelegentliche, übermäßige und ungeordnete Entladung des Nervengewebes auf Muskeln«.298 Auch therapeutisch konnte im 19.  Jahrhundert mit den Bromsalzen (Natriumbromid, Kaliumbromid) ein entscheidender Schritt zu einer anfallsunterdrückenden Behandlung getan werden. Als Entdecker der Pharmakotherapie mit Bromide of Potassium werden Sir Charles Locock (1709–1875) und Edward Sieveking (1816–1904) angesehen. Jodide of Potassium wurde schon früher in der Syphilistherapie breit verwendet.299 Der »Bromismus« als Ausdruck von chronischer Intoxikation mit Müdigkeitsgefühl, Konzentrationsschwächung, Gangstörung und der typischen Brom-Akne wurde dabei in Kauf genommen. Phenobarbital (1912) und gar Phenytoin (1938) ließen noch Jahrzehnte auf sich warten. Parallel zu diesen pharmakologischen Fortschritten wurden unter der weiter bestehenden pathophysiologischen Vorstellung von »exzentrischen Epilepsieherden« alle erdenklichen somatischen Eingriffe versucht, so unter anderem Hautirritationen mit Hitze und ätzenden Mitteln, Arterienligaturen, Aderlässe, Tracheotomien, Induktion von Fieber. Nichts davon half nachhaltig, aber vieles davon kurzfristig. Weil euphorisch schnell publiziert, wurde jeder Scheinerfolg rasch bekannt.300 Während wir von der Anwendung der Bromidsalze in den Berichten der Schiffsärzte hören, sind die anderen spekulativen Methoden nicht erwähnt, und man darf annehmen, dass sie auch nicht an Bord der Schiffe der Royal Navy versucht worden sind. 297 Zum Eponym der Jackson-Anfälle siehe Heintel, S. 87–95 . 298 Hughlings-Jackson 1870, zitiert nach Schneble: Heillos, heilig, heilbar, S. 113. 299 Hierzu besonders: Schneble: Historie der Epilepsie; ders. u. Matthes: Krankheit der ungezählten Namen. 300 Hierzu besonders: Temkin: The falling sickness.

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Psychopathologische Auffälligkeiten im Rahmen einer Epilepsie sind zwar schon immer beobachtet worden, widersetzen sich aber einer systematischen Erfassung und noch mehr einer konsistenten Erklärung so sehr, dass sie immer wieder Gegenstand spekulativer Ideen wurden, die sich dann im Laufe der Geschichte wieder verloren haben. Man suchte nach einer spezifischen »epileptischen Wesensveränderung«, nach einer eigenen »epileptischen Psychose« und nach der »Hystero-Epilepsie« mit der phantasierten Affinität zur Sexua­ lität. Im 20. Jahrhundert sind sie nahezu ganz aus dem Blickfeld der Forschung gerückt.301

5.10 »Syphilis«, »Syphilitic Cachexia«, »Periostitis«, »Bubo«, »Gonorrhoea« – Die mentale Seite der venerischen Infektionen und die neuropsychiatrische Symptomatik der Syphilis Venerische Infektionen und Syphilis In dieser Diagnosengruppe wurde nur eine kleine Auswahl der in den Medical Journals der Ostasien-Station gefundenen Verläufe aufgenommen, um beispielhaft die vielfältigen psychischen Auswirkungen und Rückwirkungen darzustellen. Eine venerologische Analyse und Würdigung der bunten Krankheitsbilder ist dagegen nicht Ziel dieser Arbeit.

5.10.1 Fallberichte 1. und 2.  Fall: Case 9 und 10 der Cockatrice (1852)  – »Gonorrhoea«; 33. Fall: Case 6 der Juno (1875) – »Gonorrhoea«302 Anhand zweier unkomplizierter Fälle von Gonorrhoe stellt der Schiffsarzt den Nutzen eines Behandlungsschemas mit Silbernitrat-Einspritzungen (15 grains auf eine Unze Wasser) in die Harnröhre heraus. Diese Therapie ist als durchaus wirksam anzuerkennen. In einem späteren Journal (der Juno) wird auf eine psychosomatische Komponente hingewiesen, wenn es heißt, es gebe »keine lokale Erkrankung, deren Phänomene und deren Dauer mehr von der Kon­ stitution und der Lebensenergie des Patienten abhängt« als eben die Gonorrhoe. (»… for there is no local disease the phenomena and duration of which depend more on the constitution and vital power of the patient.«) 301 Peters, S. 133–138. 302 Nihill, John, HM Sloop Cockatrice 1. Teil, 1.1.–14.9.1852, TNA, ADM 101/94/1A, lfd. Fallnr. 9 und 10; Norbury, Henry, HM Frigate Juno 4.11.1875–7.7.1876, TNA, ADM 101/195, lfd. Fallnr. 6.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

3. Fall: Case (ohne Nummerierung) der Pique (1856) – »Secondary Syphilis followed by Meningitis«303 Anfang April 1856 kommt ein 26-jähriger Vollmatrose zum dritten Mal mit syphilitischen Geschwüren an beiden Armen und Handgelenken in Behandlung. Nach einem Monat fällt auffälliges, exzentrisches Verhalten auf. Er verweigert Antworten, wenn er angesprochen wird, und reagiert »mit einem seltsamen, nichtssagenden Lächeln«. Seinen Messmates, also den anderen Matrosen, die mit ihm eine »Messe« bilden, kennen sein seltsames Verhalten seit einer Woche. Zu diesen psychopathologischen Phänomenen gesellen sich Muskel­schwäche in beiden Armen und Beinen und Harninkontinenz. Surgeon Thomas ­Nelson versucht verschiedene Rezepturen zum Abführen, wendet Pflaster an und setzt wiederholt zwölf Blutegel an beide Schläfen. Der Patient wird zunehmend unfähig zu sprechen, wobei er seine Umgebung aufmerksam zu beobachten scheint. Er liegt meist ruhig auf dem Rücken, nestelt höchstens an seiner Kleidung. In den Tagen bis zum 15. Mai kehrt etwas Kommunikationsfähigkeit zurück. Er wünscht ein Ei zum Frühstück zu essen. Teils wirkt er ängstlich, die meiste Zeit fällt dem Arzt aber eher eine indifferente, unbeteiligte Gefühlsverfassung des Schwerkranken auf. Unter weiterer Anwendung von oraler Medizin, Pflastern und immer wieder Einläufen tritt in der Nacht auf den 16. Mai erneut massive Unruhe ein. Er zerreißt mit den Zähnen seine Bettdecke und zerrt sich seinen Verband, der die Pflaster fixieren soll, vom Kopf. Die Bewusstseinslage wechselt jetzt zwischen Schläfrigkeit mit bedingter Ansprechbarkeit und tief komatösem Zustand. Bis zum 19. Mai vertieft sich das Koma immer mehr, bis um 2 Uhr 30 nachmittags der Tod eintritt, auf See. Die Obduktion ergibt massive Verdickungen und Verwachsungen aller Hirnhäute, Verbreiterung der Hirnventrikel und eitrig-entzündliche Veränderungen der Lymphe, insgesamt einer Meningo-Enzephalitis entsprechend. Ein ischämischer Insult der Arteria cerebri media, also ein Schlaganfall der großen mittleren Hirnarterie, war in der vorantibiotischen Ära eine typische, gefürchtete, stets lebensbedrohende Komplikation dieser Erkrankung. Somit ist die Diagnose einer sekundären Syphilis mit nachfolgender Meningitis durch den Schiffsarzt zutreffend gestellt. Case (ohne Nummerierung): Secondary Syphilis followed by Meningitis Samuel J., aged 26 AB. Entered on sick-list 3rd April at Sea. Died on 19th May. Was for the third time placed on the sick-list for a syphilitic eruption of a condylomatous character over both arms and wrists. He complained of pain in right arm and inability to use the right wrist. There was no febrile excitement. And his general appearance was unhealthy haggard and thin. The bowels were acted open by a calomel purgative, and six grains of potass hydrarg twice daily in extract of sarsapa 303 Nelson, Thomas, HM Frigate Pique 1.Teil, 1.4.1856–31.3.1857, TNA, ADM 101/159, ohne Fallnr.

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rilla were ordered, and the patient placed upon the sick mess list for fresh soup and generous diet. Under this treatment nothing happened worthy of special remark, until the 26th of April, when patient complained of a pain which for some nights previously had been felt in the right side of the head, shortly after getting into his hammock. … May 7th Last night having been removed from the mess on the lower deck in consequence of certain peculiarities of conduct, refused to answer any questions put to him, and merely smiled unmeaningly when spoken to. Upon enquiry, his messmates say that for several days past his demeanor amongst them has been silent and excentric, exhibiting a degree of restlessness such as buttering and unbuttering his clothes, playing with the messtrups which is not usual with him. This morning-after having slept all night, displays the same stolid indifference as last evening, refusing to answer any question put to him except by an unmeaning smile. When desired, however, to show his tongue he does so readily. …  …Smiles indecently. Is apparently unable to move the left arm, which lies listlessly across his chest. He twice passed water without giving any warning, and continues to sigh deeply. Moves both legs readily when asked. Pupils unnaturally dilated. The pulse 60 soft. Skin perspiring, bowels not yet moved. … May 11th Last night at 8 P. M. the pulse ran to 120 and became small, and the bleeding from the leech bites was further with stopped. … May 12th Is sensible and composed this morning, and answers readily when interrogated. He also prejects his tongue freely when desired and it is noticed as clean. Moves both arms and legs-the latter feebly. Took an egg to breakfast, and expressed liking for it. … May 18th. Have continued comatose since last report; the coma gradually increasing in profoundness. … May 19th. Still remains comatose. Respiration 40 Per minute P 140. Not having taken any sustenance for two days, had an enema of essence of beef administered per rect. Repet idem. Alert PM. Expired at 2 ½ P. M. Post mortem Examination 14 hours after death. Dura mater strongly adherent to the calvarium. The vessels of the Dura mater itself much congested, and its outer surface principally on the right side, and along the mesial line presented several rough patches of organized lymph, which had been caused by the strongly adherence to the skull. On cutting through the Dura mater and removing it, the arachnoid, and pia mater presented evidences of inflammation-the latter being much congested. More particularly on the right side, where it was of an uniform bright red colour. Upon cutting into the substance of the brain, its vessels were found to be much broaded, as evidenced by the numerous red points dotting its surface. In the right lateral ventricle there was a small quantity of turbid serum, in which some flakes of effused lymph were found floating. The right anterior and middle lobes were found adherent could not be separated without force. After the removal of the brain from the cranium, about two ounces of serum was taken from its base.

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4. – 6. und 8. -10. Fall: Case 1, 3 und 4 der Nimrod (1857) – »Syphilis«; 28. Fall: Case 5 der Thetis (1873) – »Bubo«304 Mehrere Syphilis-Patienten betreffen eine Entscheidung, wie sie von den Schiffsärzten immer wieder gefällt wird: Sie werden noch am Tag der Diagnosestellung in ein Marinekrankenhaus, oft im Heimathafen, eingewiesen, teils unter Verweis auf die eingegangene Segel-Order mit Ziel Ostasien und einen zu erwartenden langwierigen Verlauf. 7. Fall: Case 5 der Nimrod (1857) – »Syphilis«305 Am 13. April ist die Nimrod schon nahe Madeira auf See, als der 25-jährige Marinesoldat Thomas B. mit »syphilitischen Geschwüren in der Schamgegend« und »Bubo in der linken Leiste«, also Schwellungen der Lymphknoten, den Arzt aufsucht. Die Behandlung mit Zinkchlorid-Umschlägen, Einpinselungen mit ätzendem Silbernitrat und Quecksilber sowie innere Anwendung von Pottasche und zweimal täglich ein halbes Gran (Grain) (ein dreißigstel Gramm) Opiumpulver zieht sich über sechs Wochen hin. Die zwischenzeitlich offenen Geschwüre in der Leiste schließen sich ab Anfang Mai, allerdings erst als »das Zahnfleisch von dem vielen Quecksilber angegriffen war«. Das heiße Klima, so schätzt der Arzt, hat die Heilung so verzögert, dass der Mann erst am 27. Mai zum Dienst zurückkehren kann. Wegen der starken Beteiligung der Leistenlymphknoten lässt dieser Fall neben einer Syphilis auch an eine andere wichtige, weit verbreitete Geschlechtskrankheit, das »Ulcus molle« (»weicher Schanker«, eine Infektion mit dem gramnegativen Stäbchenbakterium Haemophilus Ducreyi) denken. Die beschriebene Entzündung der Mundschleimhaut (»Stomatitis«) war ein häufiges, absichtlich herbeigeführtes Phänomen unter Quecksilberbehandlung. Man hielt es für ein Anzeichen wirksamer Behandlung mit diesem potenten Arzneimittel, nicht ahnend, dass eine vielschichtige, je nach Dauer akute oder chronische Queckilbervergiftung vor sich ging, deren Pathomechanismus auf einer Störung der »Zellatmung« (der Energiebereitstellung durch Verstoffwechselung von Kohlenhydraten in der Zelle) beruht. Da Quecksilber unter anderem im Gehirngewebe angereichert wird, müssen wir bei den mit Quecksilber therapierten Patienten immer mit neurologischen und psychopathologischen Symptomen rechnen.

304 Rose, John, HM Sloop Nimrod 1. Teil, 24.3.1857–24.3.1858, TNA, ADM 101/164/1A, lfd. Fallnr. 1, 3, 4, 8, 24 und 2. Teil, 24.3.–28.5.1858, TNA, ADM 101/164/1B, lfd. Fallnr. 19 und 23; Magill, Martin, HM Screw Corvette Thetis 1.2.–31.12.1873, TNA, ADM 101/190, lfd. Fallnr. 5. 305 Rose, John, HM Sloop Nimrod 1. Teil, 24.3.1857–24.3.1858, TNA, ADM 101/164/1A, lfd. Fallnr. 5.

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11. Fall: Case 3 der Pylades (1858) – »Syphilis (Primary)«306 Im Journal der Pylades finden wir ein schönes Beispiel eines Überweisungsschreibens für ein Besatzungsmitglied anlässlich seiner Einweisung in ein Hospital an Land. Zunächst kennzeichnet Dr. Caddy den 26-jährigen Heizer als »muskulösen Mann, mit pockennarbigem Gesicht, hellen Haaren und blauen Augen, ein bisschen schwerhörig, aus der Nähe der Stadt Glasgow stammend«. Dann folgt die Schilderung eines Behandlungsversuches, der bei diesem Patienten erfolglos geblieben sei, weil »sein System nicht dafür geeignet war«. Der Verlegungsbericht an den Leitenden Sanitätsoffizier des Allgemeinen Krankenhauses in Kalkutta fasst den Verlauf in prägnanten Worten zusammen: Sir, James C. aet 24. Stoker. Was placed on the sick list at 28th of February with a Chancre; as he says of 14 days growth. The specific treatment has been adopted, his system not being equal to it. Soothing applications to the ulcer, conjoined with Sulphate of Zinc and Nitric Acid have been applied. Mild aperients and Quinine have been given and an opiate at night. The sore has extended, and on dividing the prepuce this morning, there came to view an extensive slough. As running states H. M. Ship Pylades is going to sea, he is sent for treatment in hospital. I am Sir Your obedient Servant John Turner Caddy M. D. Surgeon (To the Principal Medical Officer of the General Hospital. Calcutta)

12. Fall: Case 130 der Pylades (1858) – »Syphilis Tertiary«307 Eine »tertiäre Syphilis« wird im August 1858 bei einem 28-jährigen Marine­ soldaten diagnostiziert. Zu »Infektion und Ersterkrankung in England« folgt keine zeitliche Angabe. Sowohl an Bord auf See, als auch im Hospital in Kalkutta stellt sich keine Besserung der ausgezehrten Verfassung des Patienten ein. Nach insgesamt dreimonatiger Behandlung wird er am 18. Oktober invalidisiert. Der Schiffsarzt Dr. Caddy sieht die sicherste Behandlung in der Entfernung des Betroffenen aus dem tropischen Klima Indiens und der Rückkehr nach Europa, da sich der »syphilitische Giftstoff im System einiger Europäer verstärke.« (»This case is an illustration how the syphilitic poison forces itself in the system of some Europeans. This man had full diet the usual means employed on board and in Hospital but with no curative results. The safest measure in all such cases is where practicable an exit from the climate of India to Europe. … The climate has been much against this man. ») Ohne schon einen solchen Begiff zur 306 Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 1. Teil, 25.2.–31.12.1858, TNA, ADM 101/167, lfd. Fallnr. 3. 307 Ebd., lfd. Fallnr. 130.

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Verfügung zu haben, ist von dem Arzt die immunologische Seite des Krankheitsverlaufes angesprochen. Klimatische Belastung verändert die Immunantwort des Organismus. Im Tertiärstadium, der heute »Spätsyphilis« genannten Phase, sind nicht mehr die Krankheitserreger selbst entscheidend, sondern körpereigene Gewebsreaktionen. 13. bis 15. Fall: Case 12, 13 und 14 der Shannon (1858) – »Syphilis« und 20. Fall: Case 12 der Euryalus (1863) »Syphilis«; 29.  und 30. Fall: Case 12 und 16 der Thetis (1873)  – »Secondary Syphilis«308; 31. Fall: Case 14 der Magpie (1873)  – »Secondary Syphilis« Auch am Einsatzort werden viele Patienten in die örtlichen Marinekranken­ häuser eingewiesen, da die körperliche Schwäche aus Erfahrung gut auf die kräftigende oder zumindest schonende Hospitalbehandlung ansprach. 16. Fall: Case 77 der Sanspareil (1859) – »Syphilis«; 18. Fall: Case 27 der Pearl (1862)  – »Periostitis«; 21. Fall: Case 52 der Euryalus (1863) »Syphilitic Cachexia«; 22. Fall: Case 4 der Princess Charlotte (1868) – »Syphilis« 34. Fall: Case 18 der Thalia (1875) – »Syphilis; 35. Fall: Case 12 der Ringdove (1875) – »Syphilitic Cachexia and Climatic Debility«309 Oft sind nur die kompliziertesten von vielen Syphilis-Fällen in einem Verlaufsbericht dokumentiert, während die Mehrzahl (17 auf der Sanspareil) nur in den Schlusstabellen aufgezählt sind. Eine Komplikation kann im Befall von Knochen und Knochenhaut (»Periost«) bestehen, sodass die Schlussdiagnose der S­ yphilis »Periostitis« lauten kann. (Case 27 der Pearl) Eine gleichzeitig vorhandene Lungentuberkulose könnte die ungenügende Immunantwort und völlige Entkräftung eines erst 20-jährigen Vollmatrosen bedingen. (Case 52 der ­Euryalus) Die moderne Nomenklatur nennt solche »bösartige« Verlaufsformen »Lues maligna«. In geringerer Ausprägung gilt dies auch für die Malaria eines Midshipman der Princess Charlotte. Er erlebt eine »rapide Verbesserung« während seiner Weiterreise nach Japan, nach Überzeugung des Schiffsarztes aufgrund der klimatischen Veränderung in den nördlicheren Breitengraden. 308 Flanagan, T., HM Frigate Shannon 1.  Teil: 15.7.–18.9.1858, TNA, ADM 101/170, lfd. Fallnr.  12, 13.  und 14; Morgan, David Lloyd, HM Frigate Euryalus 1.1.–31.12.1863, TNA, ADM 101/177, lfd. Fallnr.  12; Magill, Martin, HM Screw Corvette Thetis 1.2.–31.12.1873, TNA, ADM 101/190, lfd. Fallnr. 12 und 16; Mulvany, John., HM Sloop Magpie 1.1.–31.12.1873, TNA, ADM 101/189, lfd. Fallnr. 14. 309 Mason, Richard, HM Ship of the Line Sanspareil 1.1.1858–15.2.1859, TNA, ADM 101/166/1A, lfd. Fallnr.  77; Smart, H. S., HM Frigate Pearl 1.1.–31.12.1862, TNA, ADM 101/175, lfd. Fallnr.  27; Morgan, David Lloyd, HM Frigate Euryalus 1.1.–31.12.1863, TNA, ADM 101/177, lfd. Fallnr. 52; Nelson, Robert, HM Frigate Princess Charlotte 1.1.–31.12.1868, TNA, ADM 101/181, lfd. Fallnr.  4; Head, Richard L. B., HM Frigate Thalia 1.  Teil, 1.1.– 31.12.1875, TNA, ADM 101/194, lfd. Fallnr. 18; Gorham, A., HM Sloop Ringdove 1. Teil: 1.1.– 31.12.1875, TNA, ADM 101/192/1A, lfd. Fallnr. 12.

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Eine andere typische Komplikation der Syphilis, die Regenbogenhautentzündung, ist von der Thalia berichtet. Staff Surgeon Richard Stead beschreibt eine Iritis, also eine Entzündung der Regenbogenhaut, mit Irisentrundung, Überempfindlichkeit gegen Licht, dabei jedoch nur geringe Schwächung der Sehkraft. Der Betroffene ist von Licht rasch geblendet. Als große Ausnahme finden wir in der Beschreibung eines ausgezehrten, kraftlosen und krankheitsanfälligen Syphilis­patienten (von der Ringdove) eine Angabe zu einer Brechungsanomalie der Augen, also zur Weit- und Kurzsichtigkeit. Der Schiffsarzt bemerkt, der Mann sei extrem kurzsichtig und stolpere über jeden herumstehenden Eimer. (»The man was exceedingly myopic and stumbling over buckets etc.«) An keiner Stelle fand sich in unseren Quellen, von Fernrohren abgesehen, eine Brille, ein Monokel oder eine andere Sehhilfe erwähnt. 17. Fall: Case 1 der Pylades (1860) – »Syphilis Tertiary«310 Im Journal der Pylades erstreckt sich der Krankheitsverlauf des 28-jährigen Ingenieurassistenten über anderthalb Jahre, räumlich von Kalkutta (Oktober 1858) über Sri Lanka (Ceylon) (November 1858), Singapur (Dezember 1858), Vancouver Island (Februar 1859) und Panama (Februar 1860) bis zurück nach England. Dr. Caddy erklärt am Ende seines Berichtes, dass er noch nie einen solch langen Verlauf mit offenen Geschwüren, verbunden mit Kontrakturen der Knie­ gelenke, »nervösem Tremor« der Beine und Schmerzen in den Extremitäten erlebt und auch noch nie davon gehört oder gelesen habe. Er habe in den zwei Jahren Therapie nicht viel für den Patienten tun können und rät dringend, Seeleute nicht zur asiatischen Station mitzunehmen, wenn die sekundären rasch auf die primären Symptome gefolgt seien, da dann im Falle des dritten Stadiums mit Auszehrung gerechnet werden müsse. Zweifellos hatte er einen Patienten mit Neurosyphilis und damit im tertiären Stadium an Bord. 19. Fall: Case 31 der Pearl (1862) – »Sec.y Syphilis«311 In dieser Krankengeschichte hören wir von dem Versuch des Betroffenen, seine Syphilisansteckung zu verheimlichen. Ein 40-jähriger Ship’s Corporal erzählt dem Schiffsarzt bei sich hinziehender Behandlung wegen Diarrhoea & Rheumatism »erst eines Tages« von einem Geschwür am Penis, das er schon lange Zeit selbst zu behandeln versucht habe (»… he told me one day that he had a large chancre on his penis & that for a long time he had been trying to cure it himself«).

310 Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 3. Teil, 1.1.–31.12.1860, TNA, ADM 101/167, lfd. Fallnr. 1. 311 E Smart, H. S., HM Frigate Pearl 1.1.–31.12.1862, TNA, ADM 101/175, lfd. Fallnr. 31.

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23. Fall: Case 28 der Princess Charlotte (1868) – »Syphilis and Syph: Cachexia«312 Die Krankengeschichte eines 30-jährigen Korporals verdeutlicht die zeitliche Dimension, die sich bei einer »Syphilis in verschiedenen Formen« über viele Jahre erstrecken kann. Die stets drohende Wiederkehr von Beschwerden stellt eine erhebliche emotionale Belastung dar. In solch wechselnden Phasen von Symptomatik und von Ruhe oder »Latenz« verläuft die Syphilis typischerweise vom ersten bis zum dritten Stadium. In diesem Falle ist nach sieben Jahren im November 1868 der Zeitpunkt der Invalidisierung bei schwacher, abgemagerter Verfassung »in a generally cachetic condition« gekommen. 24. Fall: Case 33 der Rinaldo (1870) – »Secondary Syphilis«313 Nach 14-monatigem Verlauf und nach allen erdenklichen Therapieversuchen, darunter eine Quecksilberkur (»mercurial course«), ferner Eisen, Chinin, Opium und Bleilösung und obwohl es dem Patienten nach und nach besser geht, wird der 33-jährige Kapitän des Vordecks wegen seiner fortdauernden Lymph­ knotenschwellungen am 8. November in das Krankenquartier von Yokohama verlegt. Mit Syphilis infiziert hatte er sich seines Wissens direkt vor Dienstantritt auf der Rinaldo in England. Surgeon John Buckly verwendet den Begriff »konstitutionelle Syphilis« im Wechsel mit »sekundärer Syphilis«. Beide Begriffe tauchen in unseren Quellen in gleichbedeutendem Sinne auf. 25. Fall: Case 37 der Rinaldo (1870) – »Primary Syphilis«314 Nicht weniger langwierig ist die Therapie bei dem 25-jährigen Marinesoldaten der Rinaldo, Henry W. Er gibt als Ansteckungsquelle einen erst zwei Wochen zurückliegenden Besuch im »Yoshi-Wara«, dem Vergnügungsviertel von Yoko­ hama, an. Vom Surgeon wird er schonungslos als »a man of dirty habits« bezeichnet. Er lässt sich durch seinen ersten unangenehmen Eindruck nicht negativ beeinflussen und behandelt den Patienten vom 26.  Juli an insgesamt 110 Tage lang unter anderem mit Silbernitrat, Karbolsäure, Zinklösung und Black Wash, bis er ihn am 13. November »vollständig geheilt« von der Krankenliste entlassen kann. 26. Fall: Case 23 der Rinaldo (1871) – »Syphilis (Secondary)«315 Während eines Landurlaubes hat sich ein 26-jähriger Marinesoldat in »nicht perfekt nüchternem Zustand«, wie es in dem Bericht heißt (»not being perfectly sober at the time«), eine Sprungelenkszerrung zugezogen. Nach seiner Entlas 312 Nelson, Robert, HM Frigate Princess Charlotte 1.1.–31.12.1868, TNA, ADM 101/181, lfd. Fallnr. 28. 313 Buckley, John., HM Sloop Rinaldo 10.5.–31.12.1870, TNA, ADM 101/182, lfd. Fallnr. 33. 314 Ebd., lfd. Fallnr. 37. 315 Buckley, John., HM Sloop Rinaldo 10.5.–31.12.1870, TNA, ADM 101/182, lfd. Fallnr. 23.

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sung stellen sich Bänderlockerung, Knotenbildung der Knochenhaut und Instabilität des Gelenkes durch die syphilitische Entzündung heraus, die ihn so wenig einsatzfähig für »Waffenübungen an Land, Landungsmanöver und Wachdienst« erscheinen lassen, dass er im März 1871 dienstunfähig geschrieben wird. Nur in diesem Fallbeispiel finden wir in Verbindung mit venerischen Krankheiten eine Alkoholproblematik erwähnt. 27. Fall: Case 1 der Thetis (1873) – »Bubo«316 Bei einem 22-jährigen Unteroffizier (Arthur D. aged 22 Sub. Lieut.) vermerkt der Arzt, dass der Patient auf zügige Behandlung drängt und sehr ängstlich darum besorgt ist, vor seiner nächsten Anmusterung geheilt zu sein. (»… and he is very anxious to get cured before joining a ship again.«) So werden Pflaster und ätzende Lösungen versucht. (»Blisters and P. Jodide and Corrosive Solutions had been used alternately.«) Seine Lymphknotenschwellung geht jedoch nicht zurück, wird vielmehr immer stärker, eitert und ist äußerst schmerzhaft. Nicht nur ein, sondern zwei Pints Porterbier erhält der nicht nur schmächtig gebaute, sondern auch blasse und ausgemergelte Patient täglich. (»The patient was of slight build, and was pale and cachetic in appearence. He was allowed two pints of porter daily and full diet in his own mess.«) Zwar kann er seinen Dienst wie erhofft antreten, vom 24.  März bis zum 28. April. Wenige Tage später, das Schiff ist inzwischen von Portsmouth nach Malta gesegelt, wiederholt sich jedoch dieselbe Therapieprozedur bei iden­ tischen Beschwerden. Nun wird er vom Surgeon wegen seiner nach wie vor ausgezehrten gesundheitlichen Verfassung (»from his previous history and the­ cachectic state of his health«) nicht für geeignet angesehen, »ihn mit uns nach China mitzunehmen«. Er weist ihn deshalb in das Hospital auf Malta ein. 32. Fall: Case 2 der Juno (1875) – »Syphilitic Neuralgia«317 Bei einem 23-jährigen Matrosen der Juno wird mit der Diagnose Syphilitic Neural­gia eine explizit neurologische Symptomatik beschrieben und eine Erklärung versucht. Der Seemann leidet schon vor der Abfahrt aus dem englischen Hafen Sheerness im November 1875 unter Schmerzen (Neuralgia) in der linken Stirn-, Schläfen-, und Hinterhauptsregion. Seit Juni ist eine »primäre Syphilis« diagnostiziert. Jetzt fällt ein »dumpfer Ausdruck und allgemeine Schwäche« sowie in der linken Kopfhälfte »hochgradige Berührempfindlichkeit und heftig einschießende Schmerzen« auf. (»… severe shooting pains about

316 Magill, Martin, HM Screw Corvette Thetis 1.2.–31.12.1873, TNA, ADM 101/190, lfd. Fallnr. 1. 317 Norbury, Henry, HM Frigate Juno 4.11.1875–7.7.1876, TNA, ADM 101/195, lfd. Fallnr. 2.

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the ­Cranium but especially on the left side.«) Durch Therapie mit Jodkalium, Chinin, Pflaster hinter den Ohren und subkutaner Injektion von Morphium kommt es nur zu vorübergehender Besserung, weshalb der Patient am 14. Dezember 1875 in das Haslar Hospital eingeliefert wird, sobald das Schiff Portsmouth erreicht hat. Staff Surgeon Norbury stellt Überlegungen zum sekundären Syphilisstadium an, zu dem typischerweise neurologische Symptome gehören. Norbury erklärt sich diese Symptome durch »Einengungen in den Durchtrittsöffnungen der Nerven in der Schädelbasis durch »Absonderung und Ablagerung von Substanzen in den Nervenhüllen«, stärker bei den engen Durchtritten der Augen­ höhlen und des Hinterhauptes, geringer beim Durchtritt des Nervus facialis (des Hauptgesichtsnerves). Dementsprechend sei der Schmerz in den beiden erstgenannten Nervenregionen stärker ausgeprägt. Durch hinter den Ohren angebrachte Blasenpflaster könnten die einschießenden Schmerzen der Schläfenregion sowie der Tinnitus gut beseitigt werden. Bekannt sei die Häufigkeit von solchen periostalen, knöchernen Komplikationen bei Syphilis und ebenso bekannt sei die Wirksamkeit von »Caco-plastik and other Effusions«. Unser Autor beschreibt hier ganz zutreffend Funktionsstörungen des Facialisnerves und der verschiedenen Äste des Trigeminusnerves, die bei entsprechenden Irritationen sehr starke Schmerzzustände verursachen können. 36. Fall: Case 23 der Juno (1876) – »Tertiary Syphilis«318 Zehn Jahre zurück reicht die »schwere Primärerkrankung« des 41-jährigen Achterdeck-Kapitäns der Juno. Sein Zahnfleisch ist von »schmutzig dunkelroter Farbe« und vielfach ulzeriert, wund. Er klagt über Kopfschmerzen. Jetzt, zum Zeitpunkt April 1876, kommt der Kapitän in Behandlung, weil sich seine sämtlichen, »nekrotisch schwarz verfärbten« Zähne so gelockert haben, dass er Nahrung nur noch »sehr unvollständig« kauen kann, »on account of the way they moved about.« Wir finden eine genaue Auflistung der in der Behandlung dieses Falles verwendeten Arzneien. Täglich wird Silbernitratlösung auf seine ulzerierte Mundschleimhaut aufgebracht und mit Myrrhentinktur, Kaliumchlorat, Alaun, Tannin und »Brandy etcetera« gespült. Hinzu kommt die innerliche Verabreichung von Pottasche, Sarsaparilla und zu späterem Zeitpunkt Eisen­ citrat und Ammoniak. All dies fruchtet aber nur wenig. (»He improved however but little …«) Am 3. Mai, und damit bereits nach sechs Tagen der Behandlung an Bord, verlegt der Arzt den Patienten in das Hospital von Hongkong. Nur selten wird das tertiäre Stadium der Syphilis diagnostiziert. Hier sprechen die Schwellungen am Kopf und der schlimme Zustand der ganzen Mund-

318 Norbury, Henry, HM Frigate Juno 4.11.1875–7.7.1876, TNA, ADM 101/195, lfd. Fallnr. 23.

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höhle neben dem langen Krankheitsverlauf für die Einordnung in das dritte Krankheitsstadium. 37. Fall: Case 62 der Modeste (1876) – »Vertigo«319 »Nur mit Mühe« kann der Arzt der Modeste die Anamnese einer Syphiliserkrankung erheben, denn das Gedächtnis des Betroffenen, eines Vollmatrosen von 33 Jahren, »scheint schlecht zu sein«. (»His memory seemed bad, but a history of Syphilis was got at with some difficulty.«) Mit den Beschwerden von Schwindel und Stirnkopfschmerz kommt der Mann »von schlaffem Körperbau und schwerer und gebrochener Verfassung« am 2. November 1876 in Behandlung. Neben der plötzlichen Befindlichkeitsverschlechterung und seiner »erschwerten aber einigermaßen zusammenhängenden Redeweise« fällt eine Knochenhautentzün­ dung am Schienbein auf. Unter der Verdachtsdiagnose einer Syphiliserkrankung wird er mit Kaliumjodid behandelt und hierfür auch zwischenzeitlich in das Hospital von Yokohama eingewiesen. Nach sechswöchigem Verlauf wird der Matrose ab dem 16. Dezember wieder für »leichten Dienst« eingesetzt und bleibt dabei »unter Beobachtung«. (»He returned to his ship Dec. 16th and was employed on some light duty, and remains at this date under observation.«) Es ist durchaus nachvollziehbar, die Symptomatik mit einer cerebralen Be­ teiligung einer fortgeschrittenen Syphilis in Zusammenhang zu bringen. Als Diagnose, die in die Statistik der Modeste eingeht, ist denn auch das neurolo­ gische Symptom »Schwindel« festgehalten. Ergänzungen Dass ab und zu an eine Neurolues gedacht wurde, belegt das 7.  Fallbeispiel »Minderbegabung« (»Weak of intellect«) des Abschnittes »Anpassungsstörungen«. Surgeon Loney diagnostiziert bei diesem Patienten eine »Schwäche des Intellekts« (»weak of intellect«) und schreibt, er meine, im Gesicht des Jungen »den Ausdruck wie bei Patienten mit progressiver Paralyse« zu erkennen. (»… a marked likeness to the expression of the face indicating of progression para­lysis.«) Dies lässt sich dahingehend deuten, dass er an die Verursachung der Intelligenzminderung durch das Spätstadium der Syphilis denkt, wenngleich ihm klar sein musste, dass er für diese Pathogenese einen viel zu jungen Patienten vor sich hatte. 38. Fall: Ein Fall aus dem Statistical Report (1862) – »Syphilitic Cachexia«320 Dieses Fallbeispiel von Bord der Scout, deren Journal nicht erhalten ist, soll aus dem Jahresbericht für 1862 zitiert werden, weil wir hier von dem vermutlich 319 Siccama, R. R., HM Sloop Modeste 1.1.–31.12.1876, TNA, ADM 101/196, lfd. Fallnr. 62. 320 House of Commons 1865 (419) Navy (health): Stat. Rep. für 1862, S. 236.

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nicht so seltenen Vorgang der schamhaften Verleugnung einer Syphiliserkrankung und dadurch bedingten Verzögerung der ärztlichen Therapie erfahren. Ein Unteroffizier (First Class Petty Officer) hatte sich fünf Monate vor Kenntnisnahme durch den Schiffsarzt infiziert und war aus Scham zu einem Chinesen gegangen, der ihm versprochen hatte, die Syphilis zu heilen (»… and being ashamed to report himself, had gone for assistance to a Chinaman who professed to cure syphilis«). Dort sei, so versicherte der Patient später, Quecksilber nicht zum Einsatz gekommen. Erst als sich sein allgemeiner Gesundheitszustand deutlich verschlechterte und er, vor allem nachts, unter Gelenkschmerzen zu leiden begann, stellte er sich dem Arzt seines Schiffes vor. (»His general ­health did not suffer until about a fortnight before he came on the sick list, when he began to feel generally unwell and to suffer from pains in the joints, especially at night.«) Dieser findet an mehreren Stellen komplett zerstörtes Haut- und Knochen­gewebe. Der Patient verliert rasch an Gewicht und wird mit der Diagnose einer »syphilitischen Auszehrung« in das Seaman’s Hospital at Singapore verlegt. 39. Fall: Ein Fall aus dem Statistical Report (1863) – »Softening of the Brain«321 Auch das Journal der Severn befindet sich nicht in den Beständen der National Archives. Von Bord dieses Schiffes zitiert der Jahresbericht für 1863 einen mit dem Tode endenden Fall, der mit einer Neurolues, also dem dritten oder Spätstadium, in Einklang gebracht werden kann. Es wird berichtet, dass ein Offizier der Scharfschützen der Severn schon lange Zeit unter »nervöser Reizbarkeit und zunehmender Antriebsschwäche« litt. Dem Bericht zufolge war seine Sehkraft wechselnd beeinträchtigt, und die letzten Tage vor seinem Tod erlitt er gar einen völligen Visusverlust. Laut und wirr redend lag er in seinem Bett, bis er schließlich starb. Der Report vermerkt, leider sei kein Obduktionsbericht vorhanden und es sei unklar, ob überhaupt eine Obduktion durchgeführt worden sei. Letzteres wäre in der Tat ungewöhnlich, und die Diagnose »Soften­ ing of the Brain« deutet darauf hin, dass es einen entsprechenden Befund ge­ geben hat .

5.10.2 Auswertung 36 der 41 ausgewerteten Fallberichte (Der 33. Fall besteht aus drei Fall­berichten) tragen die Diagnose »Syphilis«, fünf die Diagnose »Gonorrhoe«. Zehnmal wird »Syphilis« ohne nähere Angabe, dreimal als »primäre Syphilis«, zehnmal als »sekundäre Syphilis« und dreimal als »tertiäre Syphilis« diagnostiziert.

321 House of Commons 1866 (458) Navy (health): Stat. Rep. für 1863, S. 212.

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Zweimal wird mit »Bubo« das Leitsymptom der Lymphknotenschwellung in der Leistengegend benannt. Dreimal ist Kachexie (Auszehrung) benannt, einmal zusammen mit Malaria, einmal mit Alkoholmissbrauch. Neurologische Symptomatik, wie wir sie heute als Neurosyphilis bezeichnen, ist in zwei Fällen mit Atrophic Softening of the Brain, beziehungsweise Softening of the Brain, in einem anderen Fall als Syphilitic Neuralgia und in einem dritten als Vertigo, also als Schwindelsymptomatik festgehalten. Aus den Zahlenverhältnissen wird deutlich, dass von den beiden großen Gruppen venerischer Erkrankungen in psychologischer Hinsicht die Syphilis die Hauptaufmerksamkeit verdient. Wie verliefen diese Krankheiten? Ein Patient verstarb unter der Behandlung der zum wiederholten Male aufgetretenen Syphilis. Der Obduktionsbefund ergab eine eitrige Meningoenzephalitis. Einer der Patienten mit »Gehirnerweichung« verstarb, ohne dass die Diagnose durch Obduktion gesichert wurde. Am häufigsten kamen die Patienten in ein Krankenhaus (19 der Syphilis- und drei der Gonorrhoe-Patienten), sobald ein solches erreichbar war. Zwei von ihnen wurden auf der Reise Richtung Ostasien beim Zwischenhalt auf Malta in das dortige Navy-Hospital gebracht, während die Mehrzahl erst am Ziel in Ostasien in die Krankenhäuser in Hongkong (fünf Fälle), Kalkutta und Yokohama (je zwei Fälle) oder auf eines der Hospitalschiffe verlegt wurde. Auch wurden Besatzungsmitglieder noch vor Auslaufen des Schiffes aus einem der englischen Häfen in ein Hospital an Land gebracht, wenn der Surgeon einen »langwierigen« Verlauf der venerischen Erkrankung prognostizierte. Elf Invalidisierungen sind festgehalten, teilweise durch eine Kommission an Bord, teilweise erst während der Krankenhausbehandlung ausgesprochen. Einige weitere der in Hospitäler verlegten Männer werden für dienstunfähig erklärt worden sein, ohne dass dies in den Medical Journals namentlich festgehalten ist. Die Altersverteilung in dieser Krankheitsgruppe entspricht der Altersstruktur der ganzen Mannschaft. Fünf Betroffene waren unter 20 Jahre alt, 25 ­waren im dritten Lebensjahrzehnt, fünf im vierten und einmal wird das Alter von 41 Jahren genannt. Von fünf Patienten fehlt eine Altersangabe. Alle Dienst- und Berufsgruppen waren betroffen. Die 41 Fälle verteilen sich auf sechs Leichtmatrosen (Ordinary Seaman), acht Vollmatrosen (Able Seaman), vier Heizer und acht Marinesoldaten (Marine), ferner einen Schmied. Zwei waren Unteroffiziere, zwölf waren Offiziere, sowohl des nautischen als auch des technischen Bereiches. Zwei der Offiziere sind als Ingenieure, zwei als Kor­ porale und vier als Kapitäns-Ränge dokumentiert. Worum handelt es sich bei den venerischen Infektionskrankheiten? Die weltweit verbreitete Syphilis, synonym auch Lues genannt, wird am häufigsten durch Geschlechtskontakt verbreitet, verläuft unbehandelt über Jahrzehnte, kann aber auch spontan heilen. Wir unterscheiden heute noch, wie in unse-

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

ren Quellen vorgefunden, drei Stadien und heben die Neurosyphilis zusätzlich heraus.322 Drei Wochen nach Ansteckung mit Bakterien der Art »Treponema pallidum« zeigt sich das »Primärstadium« als schmerzloses Hautgeschwür, »Primäraffekt« genannt. Es heilt meist innerhalb von sechs Wochen unter Hinterlassung einer Narbe ab. Ab der neunten Woche nach Infektion zeigt das »Sekundärstadium« die Auseinandersetzung des gesamten Organismus mit dem Erreger an. In diesem Stadium treten unterschiedliche Hauterscheinungen, Punkte, Flecken, Bläschen, Knoten usw., am ganzen Körper auf, die in schwächer werdenden Schüben innerhalb von zwei Jahren narbenlos abheilen. Hinzu kommen in der Hälfte der Fälle schmerzlose Lymphknotenschwellungen, die sich innerhalb einiger Monate zurückbilden. Allgemeinerscheinungen können ganz fehlen, oder aber in Form von Abgeschlagenheit, Appetitlosigkeit, fahler Gesichtsfarbe, Muskel-, Gelenk- und Knochenschmerzen (durch Knochenhautentzündung) auffallen. In jedem zweiten Fall kommt eine Hirnhautentzündung hinzu, aber nur ein kleiner Teil  hat davon Beschwerden, z. B. Kopfschmerz und Schwindelgefühl. Die ersten beiden Stadien zusammen bilden die »Frühsyphilis«. Während nun für die Mehrzahl die Immunabwehr für eine lebenslange Symptomfreiheit sorgt, tritt ein Drittel der Infizierten in das »Tertiärstadium« ein, das wir »Spätsyphilis« nennen. Wieder treffen wir ein buntes Bild an Hauterscheinungen an, zusätzlich nun aber gummiartig sich anfühlende Knoten in sämtlichen Körperteilen. Diese »Gummen« können schmerzhaft sein, sich zersetzen und dadurch Organe deformieren. Infektiös ist der Syphiliskranke nur in den ersten beiden Stadien, nicht mehr in diesem Tertiärstadium. Ein »Quartärstadium« wird nur von manchen Autoren anerkannt, von der Mehrzahl aber dem dritten Stadium zugerechnet. Diese erst nach vier bis sieben Jahren auftretende Phase der »Neurosyphilis« zeichnet sich durch schwer­ wiegende neurologische und psychische Symptome aus. Gummen, die im Gehirn auftreten, können alle Symptome eines Gehirntumors und eines Schlaganfalles auslösen. In 10 % der Fälle kommt es zu einer chronischen Menin­gitis mit überaus heftigem Kopfschmerz und Schwindel, ferner zu emotionaler Labilität und Persönlichkeitsveränderung. Die bis zu 25 Jahren später auftetende »Tabes dorsalis«, ein bis heute ungeklärter Nervengewebsuntergang in bestimmten Rückenmarksbahnen, zeigt sich in plötzlich einschießenden, brennenden Schmerzen im ganzen Körper und in Gangstörungen. Wenn sich dieser 322 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf das dermatologische Standardwerk: Braun-Falco, Burgdorf, Landthaler: Dermatologie und das internistische Standardwerk, den »Harrison«. Vgl.: Dietel, Suttorp, Zeitz: Harrisons, S.  918–924, 1052–1063, 1090–1097. Für wertvolle, kritische Diskussion der Fallberichte dieses Abschnittes danke ich dem dermatologisch überaus versierten Kollegen Dr. med. Bernhard Wiedenhofer, Schleswig.

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Venerische Infektionen und Syphilis

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Nervenzellverlust im Frontalhirn abspielt, sprechen wir von der »progressiven Paralyse«, die vielfältige Persönlichkeitsveränderungen nach sich zieht. Wenn wir in unseren Quellen auf die Bezeichnung »Bubo« stoßen, kann sie Lymphknotenschwellungen im Rahmen der Sekundärsyphilis anzeigen, aber auch eine Infektionskrankheit, deren eigenständige Natur im 19. Jahrhundert noch nicht bekannt war, das Lymphogranuloma venereum, auch Nicolas-­ Durand-Favre-Krankheit. Diese sexuell übertragene Erkrankung durch den Erreger Chlamydia trachomatis war und ist in der tropisch-subtropischen Welt verbreitet. Auch an das heute an Zahl die Syphilis übertreffende Ulcus molle, wörtlich übersetzt »weicher Schanker«, ist zu denken. Die durch HaemophilusBakterien ausgelösten Hautgeschwüre sind im Gegensatz zum Syphilis-Primäraffekt weich und schmerzend. Schließlich ist die Gonorrhoe, der »Tripper«, zu nennen, die durch NeisseriaGonokokken sexuell übertragene, nicht an tropische Klimata gebundene Infektionskrankheit. Die Entzündung bleibt zumeist örtlich, oft ist sie symptomlos und nur selten erfasst sie den ganzen Organismus mit Fieberschüben, Hauterscheinungen und Gelenkentzündungen. Im 19. Jahrhundert stellte sich die Entstehung der Syphilis noch als eine »in große Dunkelheit gehüllte Frage« dar.323 Man klassifizierte die Formen der Hauterscheinungen, kannte eine weitgehend mit dem Sekundärstadium über­ einstimmende Constitutional Syphilis und das Tertiärstadium als Syphilis in its Ultimate Form, often named Tertiary Form und auch die intrauterin erworbene Erkrankung, die jedoch als »vererbt«, als Hereditary Syphilis verstanden wurde, eine gut nachvollziehbare Schlussfolgerung in jener Zeit, als die Frage einer durch Keime übertragene Krankheit zwar diskutiert wurde, aber keine Möglichkeit eines sicheren Nachweises existierte. Anerkannte Therapiemaßnahmen waren das Quecksilber, das Iodide, am effektivsten in der Form von Jodkalium (Iodide of Potassium), das pflanzliche Sarsaparilla, sowie Guajak und der in Indien verwendete Wurzelextrakt Muddar.324 Auf die toxische Wirkung des Quecksilbers mit neurologischer und psychopathologischer Symptomatik wurde in den Falldarstellungen schon hingewiesen. Wie bildeten sich die venerischen Erkrankungen in den statistischen Berichten der Flotte ab? In den von der Admiralität veröffentlichten Statistiken wurde nur unsystematisch zwischen den Syphilis-Stadien unterschieden. Er-

323 Ein anschauliches zeitgenössisches Bild liefert uns der offizielle »Bericht der Untersuchungskommission der Armee und der Navy zur Pathologie und Therapie der venerischen Erkrankungen« von 1867. Vgl.: Committee Venereal Disease (Hg.): Report of the Committee Appointed to Enquire into the Pathology and Treatment of the Venereal Disease, with the View to Diminuish its Injurious Effects on the Men of the Army and Navy, London 1867. Zit. S. VI. 324 Ebd., S. XV–XXIII.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

fasst wurde regelmäßig, wie die Verläufe ausgingen und welche Komplikationen auftraten, ob es z. B. zu narbigen Verengungen der Harnwege (Stricture) oder zu Hodenentzündungen (Orchitis) kam. Immer wieder wird hervorgehoben, dass die East India Station (neben der Mittelmeerflotte) mit einer Prävalenz von 62 % die höchste Rate an venerischen Infektionen hatte.325 Beispielhaft folgen die Zahlen des Statistical Report für 1837 bis 1843:326 Tabelle 7: Häufigkeit und Ausgang venerischer Infektionen in der East India Station in den Jahren 1837 bis 1843 Diagnose

Anzahl

Häufigkeit (‰)

»Sent to hospital«

Verstorben

Invalidisiert

Syhilis

867

31,4

46

5

19

Gonorrhoe

453

16,4

6

0

0

Stricture

101

3,7

6

1

2

Orchitis

123

4,5

1

1

1

Im kommentierenden Teil der Reports geht es immer wieder um die Frage, ob die Wahrscheinlichkeit der venerischen Infektion auf bestimmten Schiffstypen, nämlich den kleineren Kanonenbooten, in bestimmten Hafenstädten und Küstenregionen besonders groß sei.327 Auch bezüglich des Ausmaßes an »Aggressivität« der Syphilis wurde nach Unterschieden gesucht.328 Der Berichterstatter eines Statistical Reports konnte einen Surgeon in aller Öffentlichkeit tadeln. Im Fall der Esk hatte er das Experiment unternommen, eine Gruppe von frisch mit Syphilis infizierten Männern seiner Mannschaft ohne, eine Gruppe, die sich einige Monate später im selben Hafen Hongkong angesteckt hatte, dagegen mit

325 Ebd. 326 House of Commons 1853 (555) Navy (health): Stat. Rep. für 1837–43, S 84. 327 Z. B. in: Ebd., S 93. Der Report für 1856 stellt fest: »Die Marines, die in Kanton (nach dessen Besetzung) stationiert waren, litten wenig unter Syphilis, die Männer von den GunBoats, die im Fluss lagen, betraf sie besonders häufig.« Vgl.: House of Commons 1858 (473) Navy (health): Stat. Rep. für 1856, S. 136. Friedel, S. 148 erklärt: »Die Mannschaften kleinerer Fahrzeuge, die bei ihrem geringerem Tiefgang sich näher an die grossen Städte legen können und somit mehr Gelegenheit haben, ans Land zu kommen, leiden mehr darunter, als die grösseren.« Andererseits waren die kleinen Boote statistisch die gesünderen Schiffe. Bryson führt eine psychologische Erklärung ins Feld: »Die Matrosen wollten offenbar ihren Einsatz auf einem kleinen Boot nicht durch Krankheit riskieren.« Vgl.: House of Commons 1862 (199) Navy (health): Stat. Rep. für 1859, S. 120. 328 Z. B. in: House of Commons 1858 (473) Navy (health): Stat. Rep. für 1856, S. 149.

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Venerische Infektionen und Syphilis

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Quecksilber zu behandeln. Gefährlich und ohne Ergebnis und daher »sinnlos« seien »derartige Experimente«. (»Experiments of this kind, however – if they may be called experiments – are inconclusive, and even dangerous in a practical point of view; for unless the patients were to remain under strict medical surveillance for many consecutive years afterwards, the result of the treatment could never be satisfactory ascertained.«329 Die Bedeutung der venerischen Erkrankungen lag nicht in akuter Lebensgefahr und aus Sicht der Marine auch nicht in ihren Spätfolgen (die während der Dienstzeit selten zu erkennen waren), sondern in den vielen dadurch bedingten Krankheitstagen. Laut Bericht z. B. für 1859 hatten die venerischen Infektionen die zweithöchste Rate an Dienstunfähigkeit.330 In der ganzen Royal Navy waren 1880 5,5 ‰ der Seeleute wegen Syphilis und 4,5 ‰ wegen Gonorrhoe auf der Krankenliste. Auf 100 Mann Besatzung war also ein Mann wegen einer vene­ rischen Infektionskrankheiten nicht dienstfähig. Keine andere Erkrankung übertraf diese Ausfallrate. Die beiden nächst häufigen Gründe für Dienstunfähigkeit in der Gesamtflotte waren Hautprobleme (Ulcers, »Geschwüre« durch die vielen infizierten Wunden nach Bagatellverletzungen) und Verletzungen durch Unfälle.331 Leicht lässt sich die Altersverteilung venerischer Infektionen in der gesamten Flotte ermitteln. Im Jahresbericht für 1880, in dem zwischen »primärer« und »sekundärer« Syphilis unterschieden wird, findet sich unter den insgesamt 44 700 Mann eine kontinuierliche Abnahme der Häufigkeit mit höherem Alter (Tabelle 8). Dies lässt sich unschwer als Ausdruck der Tatsache deuten, dass die jüngste Altersgruppe der Soldaten und Matrosen am häufigsten die Bordelle der Hafenstädte besuchten und sich infizierten.332

329 Ebd., S. 136. 330 Ebd., S. 121. Es waren in diesem Jahr in der East India Station 18‰ für die Dysenterie und 16,2 ‰ für die Syphilis. 331 House of Commons 1881 (407) Navy (health): Stat. Rep. für 1880, S. 46 und S. 2 und 52, Appendix. Für das ganze achte Jahrzehnt ergab sich in der gesamten Flotte für die Syphilis eine Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) von 55 ‰, für die der Gonorrhoe von 63 ‰. Für beide Krankheiten war die Invalidisierungsquote mit je 1,6 ‰ sehr gering und es wurde nur ein Todesfall im Zusammenhang mit Syphilis auf einem in England stationierten Schiff registriert. Wir habe als Vergleichszahl für die Häufigkeit von venerischen Infektionen die Statistiken des preußischen und bayerischen Heeres aus den Jahren 1867 bis 1904 zur Verfügung. Danach nahm die Rate der Geschlechtskrankheiten von 54 ‰ zu Beginn dieses Zeitraumes auf 40 ‰ um 1880 und 20 ‰ um 1904 ab. Vgl.: Sauerteig, Lutz: Krankheit, Sexualität, Gesellschaft, Stuttgart 1999. Zu bedenken ist dabei auch, dass die Syphilis während der ganzen ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an der deutschen Nord- und Ostseeküste endemisch (also ständig in gleichbleibender eher niedriger Häufigkeit) vor­handen war. 332 Ebd., S. 8, Appendix.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

Tabelle 8: Syphilis-Fälle in der gesamten Royal Navy nach Altersgruppen für das Jahr 1880 Alter in Jahren

15–25

Besatzungsstärke Primary Syphilis absol. Fälle auf 1 000 Secondary Syphilis absol. Fälle auf 1 000

25–35

35–45

über 45

23 790

14 410

5 450

1 120

1 560

556

50

3

66

38

8

524

215

25

22

15

5

2,6 1 0,9

Aufschlussreiche Zahlen zur Größenordnung liefern aus anderer Perspektive Lloyd und Coulter333. 74 % der im Jahre 1865 im Hospital von Plymouth aufgenommenen Patienten hatten venerische Erkrankungen. Andererseits war der Anteil der Einweisungen ausdrücklich wegen Geschlechtskrankheiten in den Hospitälern der Landarmee mit 29 % mehr als doppelt so hoch wie in den Hospitälern der Flotte mit 12,5 %.334 Die Gesetze zur Kontrolle der venerischen Erkrankungen in den 1860er Jahren (Contagious Diseases Acts) hatten einen guten, wenn auch vorübergehenden Effekt, wie die Zahlen der folgenden Tabelle belegen.335 Tabelle 9: Häufigkeit aller venerischen Fälle in den Marinekrankenhäusern von Plymouth und Haslar Jahr

Fälle auf 1 000 Marineangehörige

1850

70

1856

168

1862

125

1868

53

1874

48

Wie wurde therapiert? Die Vielzahl eingesetzter Arzneien für die Geschlechtskrankheiten wird im Abschnitt 6.2.9 zusammenfassend dargestellt. Aus heu 333 Lloyd, Coulter, Medicine. Vol. IV; Friedel: Die Krankheiten, bringt in seiner Analyse keine neuen Gesichtspunkte. 334 Ebd., S. 200. 335 Ebd.

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Venerische Infektionen und Syphilis

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tiger Sicht können wir die Anwendung von Silbernitrat ebenso wie von Zinkchlorid als wirksame Therapie der Gonorrhoe erkennen. (1. und 2. Fallbeispiel) Beide Substanzen sind aufgrund ihrer ätzenden Wirkung geeignet, die oberste Zellschicht der Haut zu zerstören und dadurch die in eben diesen Epithelzellen festsitzenden Gonokokken zu entfernen. Die Behandlungsversuche der Syphilis sind kritischer zu sehen. Die breite Anwendung von Quecksilber wurde bereits erwähnt. Der häufig günstige Spontanverlauf dürfte einen Teil der scheinbaren Therapieeffekte ausgemacht haben. Es ist jedoch zu bedenken, dass alles, was den Patienten physisch und psychisch stabilisierte, seiner Immunabwehr zugute kam. Umgekehrt konnten komplizierte Verläufe durch begleitende kräftezehrende Erkrankungen wie Malaria, andere tropische Infektionskrankheiten, Vitaminmangelzustände, aber auch psychische Störungen bedingt sein. Beispielhaft scheint die therapeutische Praxis des Arztes der Euryalus, Dr.  Morgan336, gewesen zu sein, denn er wird ausführlich im Statistical Report für das Jahr 1863 zitiert. Er setzte Quecksilber zwar im Vertrauen auf dessen Wirkung in den meisten Fällen ein (»Having implicit faith in mercury, I have used it in the majority of the causes, …«), sah aber nicht den geringsten Einfluss auf den Fortgang der Erkrankung (»… but finding that it had not the slightest influence on the progress of the disease, …«). Er benutzte Jodide und Bichloride innerlich, um »Bindegewebsstörungen« und die »syphilitische Iritis« zu behandeln. Erfolgreich seien auch »Inunction and Fumigation«, also Salbung und die Anwendung von Rauch.337 Zum Ende des »langen 19. Jahrhunderts« im Jahre 1910 fanden Paul Ehrlich und Sahachiro Hata mit dem synthetisierten Arsphenamin, als Salvarsan bekannt, ein gegen die Syphiliserreger spezifisch wirksames Medikament, das nach Jahrzehnten vom Penicillin abgelöst wurde. Wie stand es um die Vorbeugung? Zwar waren schon seit dem 17. Jahrhundert Kondome bekannt, die, aus Lamm-Därmen hergestellt und mit Öl weich gehalten, zum Gebrauch mit Bändern festgehalten wurden. Aber es ist »unmöglich, sich vorzustellen, dass ein altes Rauhbein von Seemann so etwas benutzt hat, selbst wenn er von seiner Existenz gewusst hat.«338 Als »Sekundärprophylaxe« bezeichnen wir die seit Beginn des 19. Jahrhunderts angewandte nachträgliche Reinigung mit Alaun (Kalium-Aluminium-Sulfat, Doppelsalz der Schwefelsäure), Zinksulfat, Soda (Kohlensäurewasser) und Essig.339 Eine wirksame Prophylaxe-Maßnahme wäre die Senkung der Durchseuchung unter den Prostituierten in den Hafenstädten gewesen, aber sofern dies überhaupt versucht 336 Morgan, David Lloyd, HM Frigate Euryalus 1863, TNA, ADM 101/177. 337 House of Commons 1866 (458) Navy (health): Stat. Rep. für 1863, S. 239. Nach Lloyd und Coulter entspricht dies der in der ganzen Navy gebräuchlichen Praxis. Vgl.: Lloyd, Coulter: Medicine, Vol. IV, S. 201. 338 Stark: Female tars, S. 33. 339 Knowlton 1834, zitiert in Stark, ebd., S. 33 u. 176.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

wurde, war es wohl eine Sisyphusarbeit. Im Abschnitt 4.17 über den Alltag an Bord ist der mühsame Kampf um entsprechende Kontrollen in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Behörden an Land dargestellt. Abhängig von bis heute nicht aufgeklärten individuellen immunologischen Prozessen blieb, wenn alle Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft waren, oft nur die Invalidisierung und Rückreise übrig. Ohne Kenntnis einer Wissenschaft der Immunologie spricht der Arzt der Pylades ihre Bedeutung als ein »systemisches« Problem »einiger Europäer« an. (»This case is an illustration how the syphilitic poison forces itself in the system of some Europeans. This man had full diet the usual means employed on board and in Hospital but with no curative results. The safest measure in all such cases is where practicable an exit from the climate of India to Europe.«)340 Die Häufigkeit von Dienstunfähigkeit hing auch von der Dauer des Einsatzes ab. 1862 etwa waren Invalidisierungen wesentlich häufiger als im Vorjahr, da die Schiffe länger als vorgesehen in Ostasien blieben. Im Jahr zuvor waren Invalidisierungen verschoben worden, weil viele Schiffe Segelorder zur Rückreise hatten. (»… many of the ships were on the point of leaving the station, and con­ sequently took their men with them.«)341

5.11 »Drowned«, »Drowned, not stated how«, »Immersion«, »Submersio« – Das Phänomen des Ertrinkens 21 Fälle ertrunkener und in zwei Fällen beinahe ertrunkener Besatzungsmitglieder fanden sich den Medical Journals dokumentiert. Vier von ihnen sind allerdings nur in den Schlusstabellen, den Nosological Synopsis der Journale aufgeführt, ohne dass der Surgeon des betreffenden Schiffes die Unfälle in seinem Journal als Cases näher beschrieben hat. Dieser Abschnitt ist hier aufgenommen, weil das Ertrinken die allgegenwärtige Gefahr par excellence an Bord war. Niemand war bei Arbeiten in der Takelage mit Gurten gesichert, die Matrosen gingen barfuß auf den Rahen entlang, die Rettungsmöglichkeiten waren im Falle von »Mann über Bord« noch schlechter als sie es heute noch sind. Jeder solche Unfall muss auf die ganze Mannschaft zurückgewirkt haben, und auch das Thema Suizid schwang zweifelsohne bei so manchem dieser Unglücke mit.

340 Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 1858–60, TNA, ADM 101/167. 341 House of Commons 1865 (419) Navy (health): Stat. Rep. für 1862, S.  235. Hinsichtlich der Situation auf Handelsschiffen finden wir einen annähernd zeitgenössischen Berichterstatter in Bernhard Nocht. Seinen »schiffsärztlichen Vorlesungen« zufolge waren die Geschlechtskrankheiten »außerordentlich verbreitet unter den Besatzungen der Kauffahrteischiffe«, darunter »viele vernachlässigte und unzweckmäßig behandelte Fälle«. Nocht: Vorlesungen, S. 42–43.

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Das Phänomen des Ertrinkens

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5.11.1 Fallberichte 1. und 2. Fall: 2 Cases (ohne Nummerierung) der Albatross (1849) – »Submersio«342 Das älteste im Archiv aufbewahrte Journal der East India Station, das der Albatross aus dem Jahre 1849, führt zwar in der Nosolocical Synopsis of the Sick Book, also der Aufzählung aller Krankheitsfälle, zweimal »Submersio« als letzte, handschriftlich zusätzlich eingetragene Diagnose auf und zählt diese beiden Fälle auch zwei Spalten weiter als »Died on board«; in den anderen Teilen des Journals findet sich jedoch kein weiterer Hinweis auf diese beiden Unglücksfälle, die sich zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember 1849 ereignet haben müssen. 3. Fall: Case 2 der Raleigh (1856) – »Immersion«343 Eine geglückte Rettung ist von der Fregatte Raleigh aus dem Jahre 1856 beschrieben. Der Marinesoldat Thomas B., 19 Jahre alt, fällt am 23.  Dezember morgens um zehn Uhr auf hoher See über Bord. Das Schiff war am 14. November von einem englischen Hafen mit Kurs China ausgelaufen, könnte sich also Mitte Dezember in den kalten Gewässern des Südatlantiks befunden haben. Weil er nicht schwimmen kann, »taucht er erheblich unter, bevor Hilfe bei ihm ist«, wie Surgeon Crawford schreibt. An Deck gebracht, ist »flache Atmung, kalte Hautoberfläche und kaum tastbarer Puls« der Befund des Arztes. Der beinahe Ertrunkene wird von seiner nassen Kleidung befreit, in Bettlaken gepackt, darin kräftig abgerieben und an verschiedenen Körperstellen mit erhitzten Flaschen aufgewärmt. Atmung, Puls und Temperatur erholen sich unter dieser Behandlung. Dann erbricht er erhebliche Mengen von Meerwasser. Nun wird der Puls schnell, die Atmung gepresst, der Patient klagt über Schmerzen im Brustbereich. Er erhält Abführmittel, zuerst Kalomel, dann Magnesiumsulphat. Fieber entwickelt sich nicht. Offenbar war weder im Meer noch während des heftigen Erbrechens in wesentlichem Umfang Aspiration aufgetreten. Mit der »Aspiration«, dem Hineingelangen von Magensäure in Luftröhre und Bronchien, ist stets die Gefahr einer Pneumonie und eines toxischen Lungenödems verbunden. Es war damals und ist noch heute lebensbedrohlich, Vier Tage nach seinem Sturz in den Ozean ist der Private Marine am 27. Dezember 1856 wieder im Dienst.

342 Livesay, Salter, HM Sloop Albatros 1.1.–31.12.1849, TNA, ADM 101/82/1, ohne Fallnr. 343 Crawford, J. J., HM Frigate Raleigh 4.9.1856–25.8.57, TNA, ADM 101/161, lfd. Fallnr. 2.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

Case 2: Immersion Thomas B. aetat: 19 P. M. Decr. 23rd 1856 at Sea. Duty Fell overboard from the fore chains at 10 P. M. as he could not swim he was considerably immersed, before assistance was afforded. On being brought on board, respiration was feeble, the surface cold, and the Pulse scarcely perceptible. After removal of his wet clothes, he was placed between blankets and active friction, and heated bottles to various parts employed. Under this treatment the respiration soon improved, the warmth returned to the surface, and the Pulse gradually assumed its usual standard. Then vomited copiously. The contents of his stomach and a quantity of water he swallowed during his struggles. Reaction soon after set in with violence. Rapid full Pulse. Hot skin. Headache. Oppression of breathing, accompanied by pain in mammary regions. Was ordered Cal: gr x. Soon after this he felt relieved and had some sleep. Decr. 24th. Complains of pain in chest. No fever, tongue free. Ordered Mag Sulph one ounce. Decr. 27th. Discharged to Duty.

4. Fall: Case (ohne Nummerierung) der Niger (1856–1859) – »Drowned«344 Im Journal der Niger für die Jahre 1856 bis 1859 ist in dessen 3. Teil über den Zeitraum 1858/59 wieder nur in der Schlusstabelle III als reine Zählung vermerkt, dass zwei Matrosen ertrunken (»Drowned«) sind. In den kommentierenden Berichtsteilen wird auf diese beiden Todesfälle nicht eingegangen. 5. Fall: Case 60 der Nankin (1857) – »Drowned«345 Ein 22-jähriger Marinesoldat (Private Marine)  ertrinkt am 28.  Juli 1857 im Hafen von Hongkong, als er auf der »Koolon-Seite« der Stadt im Bereich des Hafens im Meer badet. Er verlor den Boden unter seinen Füßen, wie es in dem Bericht heißt. (»… got out of his depth and was drowned.«) Es ist nicht vermerkt, ob er schwimmen konnte. Seine Leiche fand man erst etliche Stunden später. Unter den Ereignissen an Bord wurde das Ertrinken eines Besatzungs­ mitgliedes, neben den schweren Unfällen, noch am ehesten im Logbuch, das hauptsächlich nautischen, seemännischen Vermerken dient, festgehalten. Dennoch sind keineswegs alle Unglücksfälle, in denen ein Mann ertrank, unter dem jeweils entsprechenden Datum zu finden. So sind etwa in diesem Fall des Marine­soldaten, der im Hafen von Hongkong beim Baden unterging, die verschiedenen Tagesaktivitäten des 28. Juli 1857 an Bord aufgeführt, nicht jedoch die Tatsache dieses tödlichen Unfalles.346

344 Patrick, William, HM Sloop Niger 3.  Teil, 1.7.1858–30.6.1859, TNA, ADM 101/160, ohne Fallnr. 345 Telfer, William, HM Frigate Nankin 1. Teil, 1.10.1856–22.9.1857, TNA, ADM 101/162, lfd. Fallnr. 60. 346 Ships’ Logs, Log of HM Ship Nankin 27.2.1856–31.8.1857, TNA, ADM 53/6194.

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Das Phänomen des Ertrinkens

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Case 60: Drowned James D. aet 22, P. Marine. 28th July Hong Kong This man while bathing on the Koolon side of the Harbour got out of his depth and was drowned. The body recovered several hours after.

6. und 7. Fall: 2 Cases (ohne Nummerierung) der Pylades (1858) – »Drowned accidentally«347 Nur eine kurze Notiz findet sich in der Liste der verstorbenen Besatzungs­ mitglieder der Pylades des Jahres 1858. Demnach sind zwei Männer, deren Alter zwar mit 20 und 25 Jahren, nicht aber deren Aufgabe und Rang angegeben ist, am 4. August 1858 im Fluss Hoogley348 durch Sturz über Bord ertrunken. Dem Medical Journal ist zu entnehmen, dass sich das Schiff schon längere Zeit im Golf von Bengalen befunden hatte. 2 Cases [ohne Nummerierung] Drowned accidentally Medico-geographical sketch – H. M. S. Pylades, 21 guns From 25th Feb to 31st Dec 1858 Deaths from the 1st of July to the 31st of December No. 64–66: S. Alfred, Age 20 Drowned accidentally 4th August in River Hoogley by falling overboard. R. Henry, Age 25 Drowned accidentally 4th August in River Hoogley by falling overboard.

8. Fall: Case (ohne Nummerierung) der Acorn (1860) – »Managed to throw himself out of the quarterport«349 Dieser Fall von Ertrinken eines Besatzungsmitgliedes der Acorn war ein offensichtlicher Suizid, weshalb er als 42. Fallbeispiel des Abschnittes »Debility« beschrieben ist. Von der Untersuchungskommission wurde sein Handlungsimpuls auf der Grundlage einer »momentanen Geisteskrankheit« (»Temporary Insanity the result of intoxication«) interpretiert, weshalb er auch als Beispiel für eine »Mania« (6. Fallbeispiel) aufgeführt ist. Diesen tragischen Tod durch Ertrinken berichtet Surgeon William O’Brien nicht unter den Cases, den Verlaufsbeschreibungen, sondern nur im allgemeinen Berichtsteil seines Journals. Es könnte ihm schwergefallen sein, einen Tod durch Suizid und gleichzeitig einen 347 Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 1. Teil, 25.2.–31.12.1858, TNA, ADM 101/167, ohne Fallnr. 348 Der »Hoogley« ist einer der Mündungsarme des Ganges, der in den Golf von Bengalen mündet. An seinem Ufer liegt Kalkutta. 349 O’Brien, William E., HM Sloop Acorn 2. Teil, 1.1.–31.12.1860, TNA, ADM 101/171, General Remarks.

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hochproblematischen Kontext darstellen zu müssen. Der Vorfall ist im Abschnitt »Mania« so genau, wie es die Quelleangaben erlauben, dargestellt. 9. Fall: Case 96 der Euryalus (1862) – »Drowning«350 Der 34-jährige Kapitän der Back, also des Aufbaues auf dem Vordeck, wird am 26.  August 1862 ertrunken im Hafen von Hongkong aufgefunden. Er war in der Stadt auf Urlaub. Surgeon Morgan nimmt an, dass er auf dem Rückweg zum Schiff in das Wasser gestürzt war. Mehr schreibt er nicht. Im Logbuch351 der Euryalus findet sich aber ein bestätigender Hinweis. Dort heißt es unter dem 28. August 1862: »Die Leiche des David J., des Zweiten Kapitäns der Back, wurde von der Wasserpolizei im Hafenwasser treibend entdeckt.  – Ertrunken während des Landurlaubes.« An jenem Tag, einem Montag, war ein Teil  der Besatzung in der Werft von Hongkong gewesen. Die ­Euryalus hatte sieben Tons Wasser an Bord genommen. Ein Postdampfer aus­ Shanghai und ein spanischer Schraubendampfer aus Manila waren in den Hafen eingelaufen. Case 96: Drowning David J. Aet. 34 Capt. Forecastle found drowned in Hong Kong Harbour on the 28th of Aug. The man was on leave and is supposed to have fallen accidentally into the water whilst coming off to the ship.

10. Fall: Case 97 der Euryalus (1862) – »Drowning«352 Schon wenige Tage später gibt es ein weiteres Mal diese Unglücksmeldung auf der Euryalus, die Hongkong Richtung Norden verlässt. Während der Durchfahrt durch die Straße von Formosa am Morgen des 2.  September wird der 19-jährige Leichtmatrose Arthur S. vermisst gemeldet. Es wird angenommen, dass er während der mittleren (nächtlichen) Wache unglücklicherweise (»accidentally«) über Bord gefallen ist. In diesem Journal sind beide Fälle durchgängig erfasst. Sie finden sich in der summarischen Diagnosen-Tabelle III des Journals als Drowned mit der Gesamtzahl »2« als »hinzugekommene Fälle« (»since added to the list«) und ebenso in der Spalte Dead aufgeführt. Im Logbuch353 ist erst am nächsten Tag, dem 3. September, als erste Meldung des Tages eingetragen: »Vermisst während der Nacht mit der Vermutung, dass er über Bord gefallen ist – Arthur S., Ord 2 Class-.« (»Missing during the night and supposed to have fallen overboard. Arthur S. Ord. 2 Class.«) Um 5 Uhr 45 350 Morgan, David Lloyd, HM Frigate Euryalus 23.1.–31.12.1862, TNA, ADM 101/174, lfd. Fallnr. 96. 351 Ships’ Logs, Log of HM Ship Euryalus 24.1.1862–4.9.1862, TNA, ADM 53/8352. 352 Morgan, David Lloyd, HM Frigate Euryalus 23.1.–31.12.1862, TNA, ADM 101/174, lfd. Fallnr. 97. 353 Ships’ Logs, Log of HM Ship Euryalus 24.1.1862–4.9.1862, TNA, ADM 53/8352.

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Das Phänomen des Ertrinkens

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ist Tagesanbruch vermerkt. An Backbord ist Land in Sicht. Um 7 Uhr 45 wird die Bestrafung des Mannes Henry B. »laut Befehl durch 36 Peitschenhiebe« durchgeführt. Zu diesem Zeitpunkt sind sechs Schiffe in Sicht. Case 97: Drowning Arthur S. Aet. 19 OS found missing on the morning of the 2nd of September whilst the ship was promoting to the north through the straits of Formosa; Supposed to have fallen over board accidentally during the middle watch.

11. Fall: Case 65 der Perseus (1867) – »Drowned«354 Das zweite der Gigs, als Beiboote mitgeführte, leichte, schnelle Ruderboote der Perseus, kentert in der Brandung vor der Nordostküste Japans bei Coodanasower, Nambu. Dabei ertrinkt der 18-jährige Leichtmatrose William N. Seine Leiche wird nicht gefunden. Mehr als der Vermerk, dass der Vorfall vom 26. September 1867 mit Brief vom 7. Oktober 1867 an die Admiralität gemeldet wird, findet sich nicht. Im Logbuch des 185 Fuß langen Schiffes, das gerade ein Jahr in Dienst war und noch bis 1931 auf den Meeren unterwegs sein sollte, ist für den 26. September eine recht dramatisch anmutende Beschreibung von Walfängern zu finden, die offenbar in unmittelbarer Nähe des Kriegsschiffes in der Brandung in Gefahr geraten waren. Ort des Geschehens sind dem Logbuch zufolge die Küstengewässer der Insel Hakodadi. Wenn es auch wahrscheinlich ist, wird doch nicht ganz klar, ob Rettungsboote losgeschickt wurden, weil eines der Walfangschiffe gekentert ist. Eingeklebt ist in dem Logbuch eine Liste mit der Überschrift »Über Bord gegangen durch Kentern eines Walfängers in der Brandung am 26.  September 1867«. (»Lost overboard by Whaler capsizing in Surf 26th September 1867.«) Die Liste führt eine Vielzahl von Teilen auf, die zu einem Schiff gehören, vom Hauptmast über Konstruktionsteile aus Eisen bis zu allerlei Tauwerk. Von dem Tod des jungen Besatzungsmitgliedes, der im Medical Journal festgehalten ist, wird im Log nicht berichtet.355 Case 65: Drowned« N., William aet. 18, Ord. The 2nd Gig belonging to H. M. S. »Perseus« was capsized in the surf at Coodanasower on the NE coast of Nambu, Japan, when this lad, who formed one of the crews was unfortunately drowned; his body was not recovered. Sept. 26. 1867, reported, letter of Oct. 7/67

354 Messer, A. B., HM Sloop Perseus 1.1.–11.10.1867, TNA, ADM 101/179, lfd. Fallnr. 66. 355 Ships’ Logs, Log of HM Ship Perseus 1.1.1867–31.12.1867, TNA, ADM 53/9464.

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12. Fall: Case 26 der Glasgow (1872) – »Drowning«356 Weil es eine spezifische Art von Unfall war, vielleicht auch, weil jeweils der Unfallort zwangläufig der Ort der Bestattung war, sind in diesem wie in vielen anderen Fällen von Ertrinkungstod im Medical Journal die Längen- und Breitengrade der Seebestattung angegeben. Im Falle des 25-jährigen Marinesoldaten (P. M., Private Marine) war es der geographische Ort nahe des Äquators in 4° 37’ südlicher Breite und in 84° 11’ östlicher Länge, an dem der Mann »unabsichtlich«, wie das englische »accidentally« wohl im angemessenen Sinne zu übertragen ist, über Bord fiel und ertrank. Es war der 21.  Juni 1872. Das »unabsichtliche Unglück« ist mit einiger Wahrscheinlichkeit etwas genauer bekannt: Denn es wurde zwar nicht direkt der Sturz ins Meer beobachtet, in dem Zeitraum seines Verschwindens war der Mann aber wie mehrere andere Matrosen mit dem Waschen seiner Kleidung beschäftigt. Man nahm also an, dass er beim Aufhängen derselben zum Trocknen in der Takelage, ein gebräuchliches Verfahren an Bord aller Schiffe, das Gleichgewicht verloren hatte und in das Meer gestürzt war. In das Wasser gefallen, wurde er sogleich entdeckt, und auch ein Rettungsring rasch in das Wasser geworfen. Auch sprang ihm ein Signalmann von der Poop (dem hintersten Schiffsaufbau) hinterher in das Wasser. Aber weder konnte der Ertrinkende den Rettungsring, noch der Retter den Ertrinkenden erreichen, bevor dieser rasch in den Fluten versank. Es war bekannt, dass er nicht schwimmen konnte. Erstaunlicherweise findet sich keinerlei Eintragung im Logbuch der Glasgow, die sich am 21. September 1872 genau auf der Position befindet, die der Schiffsarzt angibt.357 Das Schiff lief an diesem Tag zunächst unter Royalsegeln, den allerobersten Segeln an den Masten, was auf gutes Wetter und guten Wind schließen lässt. Später musste jedoch bei Flaute und gegen starke Meeresströmung unter Dampf weitergefahren werden. Auch am nächsten Tag findet sich keine Eintragung zu dem Todesfall. Der Grund könnte sein, dass an diesem Tag, dem 22. Juni, der Starboard After Coal Bunker, also der achtere, hintere Kohlenbunker steuerbords, in Flammen stand und dramatische Löscharbeiten im Bunker selbst, aber auch das Herausschaufeln der heißen, noch nicht brennenden Kohlen aus den Bunkern auf das Deck, Stoppen der Dampfmaschine, Kursänderung und Verlangsamung der Fahrt nötig wurden. Nach diesem Einsatz ist im Log protokolliert: »Issued extra allowance of Spirits to Ship’s Company.« Eine Extraration Rum wird an die Mannschaft ausgeteilt.

356 Loney, William, HM Sloop Glasgow 1.1.–10.11.1872, TNA, ADM 101/186, lfd. Fallnr. 26. 357 Ships’ Logs, Log of HM Ship Glasgow 24.5.1871–1.10.1872, TNA, ADM 53/10384.

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Das Phänomen des Ertrinkens

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Case 26: Drowning L. John, aged 25, M. 21. June. Latitude 4.37 S. Longitude 84.11 E. This man fell overboard accidentally and was drowned. The falling overboard was not observed but as the men were washing clothes at the time it was thought he must have fallen while hanging up his clothes to dry. The lifebuoy was lowered in good time to save him if he had been able to swim. Ever so little, but apparently he could not and he sank before a signalman who jumped overboard from the poop, could reach him.

13. Fall: Case (ohne Nummerierung) des Marine Battalion Japan (1872)  – »Drowning«358 Der zeitlich nächstfolgende Fall betrifft keines der Schiffe der Royal Navy, jedoch ihr in Yokohama stationiertes Bataillon der Marinesoldaten. Im General Record dieses Marine Battalion Japan für 1872 findet sich folgender besonders unglückliche Ablauf, letztlich ein weiterer Fall von Drowning. Kurz nach Mitternacht stürzt der 39-jährige Private William T., also ein Marinesoldat, auf dem Weg von einem Trinklokal zurück zur Kaserne bei einer Brücke, die über einen der vielen Kanäle der Hafenstadt führt, in das Wasser. Trotz rasch zu Hilfe geholter Leute ertrinkt er. Ein japanischer Polizist hatte das Aufplatschen im Wasser gehört und »den Mann im Kanal kämpfen, nicht schwimmen, sehen«. (»… saw a man struggling not swimming – in the water.«) Er eilt sofort los, um Hilfe zu holen, kommt aber nach zwölf bis fünfzehn Minuten viel zu spät zurück. Der Seemann ist bereits untergegangen. Die Helfer suchen das Wasser ab und finden die Leiche, »das Leben war freilich ausgelöscht«. Seine Kameraden hatten ihn am Abend zuvor ungefähr um sieben Uhr in eines der Trinklokale in Yoshinara, dem Vergnügungsviertel von Yokohama, gehen sehen. Surgeon Putsey hält es für wahrscheinlich, dass der Mann so viel getrunken und sich in einem der Häuser hingelegt hat und eingeschlafen ist. Er vermutet weiter, dass er, erwacht, in Unkenntnis der verbleibenden Zeit bis zu seiner Rückkehr zum Zapfenstreich in der Kaserne, in seiner Hast die Brücke verfehlt hat und seitlich an ihr vorbei versehentlich in den Kanal gelaufen ist. Die Nacht sei sehr dunkel gewesen und es habe sintflutartig geregnet, setzt der Berichterstatter hinzu. (»The night was very dark and rain was falling in torrents.«) Zudem konnte der Mann bekanntermaßen nicht schwimmen. Weil in den letzten beiden Jahren mehrere solcher Unglücksfälle vorgekommen waren, habe man bereits beim Bürgermeister von Yokohama die Unzulänglichkeit dieser Brücken über die Kanäle beklagt, allein vergeblich.

358 Putsey, William Henry, HM Marine Battalion Japan 1.1.–31.12.1872, TNA, ADM 101/187, ohne Fallnr.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

Case (ohne Nummerierung) Drowning William T., aet: 39 Private was brought into camp at two o clock AM July 1st quite dead. An inquest was held in the afternoon of the same day HMs consul acting as coroner; from the evidence then given it appeared, he was seen by several people to enter a house in the Yoshinara; this was about 7 o clock on the previous evening. About midnight he was again seen by  a Yapanese policeman walking quickly towards  a bridge which crosses one of the canal near the Yoshinara. Shortly afterwards the ­Policeman heard a splash in the water and on running to the side of the canal; saw a man struggling – not swimming – in the water. He had once run off to procure assistance but by the time he reappeared on the scene some twelve or fifteen minutes must have elapsed, and the man had sunk. The water was dragged and the body recovered life of course being extinct. There were no marks of violence on the body; and a verdict of death by drowning was returned. It is very probable that the deceased had been drinking in one of the houses of the Yoshinara; that he had fallen asleep there and on awaking, having no means of ascertaining the time, had got up in a hurry so as to be in time for tattoo; and in his haste instead of going over the bridge had walked on one side of it and into the canal; and being unable to swim had perished there. The night was very dark and rain was falling in torrents. Several deaths have occurred in this way during the last two years; and complaints have been made to the municipal director about the insufficiency of the bridge.

14. Fall: Case 17 der Thetis (1873) – »Submersio«359 Der 23-jährige Steuermann eines Beibootes der Thetis, Daniel B., ist am Morgen des 6. September 1873 beim Festmachen im Hafen von Shanghai beschäftigt. Er hat an Bord eines Leichters das richtige Abrollen der Trosse, eines schweren, dicken Taues, zu überwachen und wird durch einen plötzlichen Ruck dieses Taues über die Bordwand geschleudert. Im Bericht des Schiffsarztes heißt es lakonisch: »He never rose to the surface.« »Er tauchte nicht mehr auf.« Erst nach 14 Tagen, am 20. September, wird seine Leiche gefunden und auf dem örtlichen Friedhof beigesetzt. Der Verunglückte war als guter Schwimmer bekannt. Dr. Magill weiß, dass im Shanghai-River die Gezeitenströmung extrem stark ist und allein im vorigen Jahr unter den Todesmeldungen des Hafens Shanghai zwölf ähnliche Fälle von Ertrinken berichtet wurden. Wer hier in das Wasser fällt, hat geringe Chancen, dem Ertrinkungstod zu entkommen, ist sich der Schiffsarzt sicher. (»This man was said to be a good swimmer. But the tide runs so rapidly here that I am told far escape drowning who fall accidentally into the water.«) Dieser Unfall ist im Logbuch kurz und präzise notiert:360 Eine Gruppe ist zum Vertäuen des Schiffes beordert. (»Party away laying down moorings.«) Der

359 Magill, Martin, HM Screw Corvette Thetis 1.2.–31.12.1873, TNA, ADM 101/190, lfd. Fallnr. 17. 360 Ships’ Logs, Log of HM Ship Thetis 1.2.1873–19.6.1874, TNA, ADM 53/10729.

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Das Phänomen des Ertrinkens

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Steuermann der Pinasse (Coxwain of the Pinnace), Mr. B., wird »trotz aller Vorsicht von einer Schlaufe der Trosse über Bord geschleudert und ertrinkt«. Der Wind weht an jenem Tag aus West bis Nord-West mit Stärke 2, der Himmel ist bedeckt, die Lufttemperatur beträgt 27 Grad Celsius. 15. Fall: Case 23 der Thetis (1873) – »Submersio«361 Der 24-jährige Schiffszimmermann William H. war am Abend des 30. Oktober 1873 zusammen mit einem Schiffskameraden auf Landurlaub. (»Went on shore on leave at Shanghai on the evening of the 30th of October. A shipmate and he came to the riverside about 10 oC. P. M. to take a shore boat to come off to the ship.«) Das Schiff lag noch immer im Hafen von Shanghai. Abends zehn Uhr wollen beide ein »Hafenboot« zurück zur Thetis nehmen. »Die Nacht war finster und beide Männer hatten getrunken«, schreibt Dr. Magill in seinem Journal. Der ungenannte Gefährte des Verunglückten sagt bei der nachfolgenden Untersuchung, er sei an der Pier ein Stück voraus gegangen und habe, als er auf seinen Begleiter wartete, ein Klatschen gehört, »wie wenn etwas ins Wasser fällt.« Dieser Begleiter des abendlichen Ausfluges, Zimmermann der Thetis, »war nicht mehr lebend gesehen.« (»H. was never seen again alive.«) Seine Leiche wird eine Woche später, am Morgen des 6. Novembers 1873, »im Fluss«, womit sicher der Shanghai-River gemeint ist, gefunden und am selben Abend auf dem »Friedhof in Sutung«, beigesetzt. Auch das Logbuch vermerkt im nachmittäglichen Eintrag des 6. Novembers 1873, dass die Leiche des Schiffszimmermannes Mr. H. entdeckt worden sei.362 Staff Surgeon Dr. Magill und Surgeon Naih hätten den Leichnam untersucht; nichts lasse annehmen, dass der Tod auf eine andere Ursache als das Ertrinken zurückzuführen sei. (»… inspected the body and nothing was observed to lead them to suppose, that death was caused otherwise than by drowning.«) Am Abend desselben Tages folgt dann die kurze Meldung, dass der Leichnam des »verstorbenen Mr. H.« (wie die des Steuermannes Daniel B.) auf dem »Poosung Friedhof«363 beerdigt worden sei. 16. Fall: Case 13 der Fly (1875) – »Drowning«364 Der 27-jährige Ingenieur-Assistent Erster Klasse Frederick C. R. wollte zusammen mit seinem leitenden Ingenieur Mr. B. im Hafen in Singapur ein Boot zum

361 Magill, Martin, HM Screw Corvette Thetis 1.2.–31.12.1873, TNA, ADM 101/190, lfd. Fallnr. 23. 362 Ships’ Logs, Log of HM Ship Thetis 1.2.1873–19.6.1874, TNA, ADM 53/10729. 363 Sowohl der Name des Friedhofes, als auch der des verunglückten William H. wird im Medical Journal und Logbuch der Thetis in wechselnder Schreibweise wiedergegeben. 364 Lloyd, Edward T., HM Gun Vessel Fly 1.1.–31.12.1875, TNA, ADM 101/193, lfd. Fallnr. 13.

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Die Krankheitsbilder – Fallberichte aus den Medical Journals

Schiff zurück benutzen. Beim Besteigen des Bootes von der Pier365 aus gleitet er aus und fällt in das Wasser. Er kann zwar von seinem Begleiter in das Boot ge­ zogen werden, ist aber bereits geschätzte zwei bis drei Minuten unter Wasser gewesen. Sein Vorgesetzter rudert nun zu ihrem Schiff, der Fly zurück, braucht dafür aber lange 20 Minuten. Er hat den Verunglückten, der »Lebenszeichen zeigte, aber sehr erschöpft wirkte«, auf den Boden des Ruderbootes gelegt. An Bord des Schiffes wird sofort Surgeon Edward T. Lloyd gerufen, der keine Herzaktion und auch keine Spontanatmung feststellen kann. Eineinhalb Stunden lang führt er »ohne Unterbrechung künstliche Beatmung« durch und setzt »alle Medikamente« ein, die er in dem Bericht allerdings nicht einzeln nennt. All sein Bemühen, den Mann wiederzubeleben, bleibt indessen erfolglos. Das Untersuchungskomitee (coroners inquest) trifft am folgenden Tag die Fest­ stellung eines »Ertrinkens durch Unfall«. Im Logbuch ist der Unglücksfall verzeichnet .366 Am Samstag, dem 10. April 1875 liegt die Fly auf Reede vor Singapur. Der Wind weht am Abend aus WestSüd-West mit nur einer Windstärke, das Meer liegt ruhig, die Lufttemperatur beträgt 84 Grad Fahrenheit, 29 Grad Celsius entsprechend. Die Eintragung um 10 Uhr 45 p.m. lautet: »Es schied aus diesem Leben Mr. F. C. R., Ingenieur-Assistent Erster Klasse, Alter 26 Jahre, ertrunken durch Sturz in das Wasser, als er in ein Boot an der Dalhousie Pier steigen wollte.« Case 13: Drowning Mr. Frederick C. R.. aged 27. 1st Class Assist. Eng. At 10.15 PM on April 10th when at Singapore this officer was about to return on board from leave in company with Mr. Bremner Engineer in charge of this ship but on trying to get into a boat at the pier his foot slipped and he fell into the water. Mr. Bremner succeeded in pulling him into the boat after he had been immersed (as well as he could judge) between two and three minutes and laid him in the bottom of the boat. Mr. R. then showed signs of live though much exhausted. Mr. Bremner then pulled for the ship which it took him about twenty minutes to reach. I was immediately called and at once proceeded use all the usual remedies but the hearts action had entirely ceased and there was no respiration effort from the time I first saw him. I kept up artificial respiration for nearly an hour and a half unremittingly and did everything possible to resuscitate him but with no result. A coroners inquest was held next day and the verdict returned was »accidentally drowning«. Log of H. M. S. Fly: Saturday 10th of April 1875. At Singapore Roads. 365 Das Fremdwörterlexikon gibt uns Auskunft darüber, dass es der Pier heißt, in der Seemannssprache jedoch die Pier. Gemeint ist in jedem Falle der Hafendamm ebenso wie die Landungsbrücke. Vgl.: Duden. Das große Fremdwörterbuch, Mannheim 2007. Das englische Wort ist identisch »the pier«, synonym mit »the quay«. Vgl.: Smyth, Wordbook. 366 Ships’ Logs, Log of HM Ship Fly 25.6.1874–30.6.1875, TNA, ADM 53/10839. Die »Dalhousie-Pier« in Singapur ist nach Lord James Andrew Dalhousie benannt, dem britischen General-Gouverneur Indiens von 1847 bis 1856, Siehe: Encycl. Britt., Bd.3, S. 856–857.

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10.45 P. M. Departed this life Mr. F. C. R. Assist. Engineer 1st Class aged 26 years, having been drowned through falling into the Water, while getting into a boat from the Dalhousie Pier.

17. Fall: Case 1 der Juno (1876) – »Drowning«367 Eine besonders anrührende Geschichte über einen 18-jährigen Leichtmatrosen ist im Medical Journal der Juno zu lesen: In der Nacht zum 1. Oktober 1876 war er dabei, ein Boot zu besteigen, das ihn, vermutlich mit weiteren Matrosen, vom Landgang in Singapur zurück an Bord seines Schiffes bringen sollte. Wie er in das Boot steigen will, weht ihm der Wind den Hut vom Kopf. Er springt ihm nach in das Wasser, um ihn sich wiederzuholen. Zunächst können ihn die anderen noch als guten Schwimmer, der er ist, beobachten, aber plötzlich entschwindet er den Blicken und wird nicht mehr lebend gesehen. Seine Leiche muss gefunden worden sein, denn es gibt einen Obduktionsbefund. Er besagt, dass es keine Hinweise auf Gewalteinwirkung gab. Eine Gutachtenrunde, die Coroner’s jury, legt als Todesursache »Ertrinken durch Unfall« fest. Staff Surgeon Robert Nelson, in dessen Medical Journal die besondere Sorgfalt und Genauigkeit seiner Beobachtungen auffallen, bemerkt ausdrücklich, dass er an Land zwar (Alkohol) getrunken habe, aber zum Zeitpunkt der Rückfahrt nicht als betrunken aufgefallen sei. Das Logbuch368 hält das Unglück mit dem Satz fest: »George P., Leichtmatrose, durch Unfall am Johnston Pier ertrunken.« Der Tag des Eintrages ist der Sonntag, der 1. Oktober 1876. Am späten Vormittag hatte ein Gottesdienst an Bord stattgefunden. Das Log bestätigt auch, dass der Ertrunkene aufgefunden wurde, und zwar am Folgetag, dem 2. Oktober. Unter diesem Datum heißt es: »Die Polizei fand die Leiche des verstorbenen George P., Ord.« Case 1: Drowning George P.. Aet 18. Ord. was accidentally drowned at Singapore when returning from leave on the night of the 1st of October. It appears that his hat was blown into the water when he was about to enter a boat to return to the ship, he jumped in after it and was seen at first to swim well, but in a short time he suddenly disappeared and was not seen again alive. A post-mortem examination was held upon the body, which exhibited no external marks of violence, and a Coroner’s jury returned a verdict of »Drowning by accident«. The subject of this accident was said to have been drinking on shore, but was not actually drunk at the time of its occurrence. Log of H. M. S. Juno: Sunday, 1st of October 1876. At Singapore Roads. George P. ord. seaman accidentally drowned at Johnston Pier. Monday, 2nd of October 1876. Police found the body of the late George P. ord.

367 Nelson, Robert, HM Ship Juno 1.10.1876–31.12.1877, TNA, ADM 101/197, lfd. Fallnr. 1. 368 Ships’ Logs, Log of HM Ship Juno 4.11.1875–31.12.1876, TNA, ADM 53/11115.

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18. Fall: Case 28 der Modeste (1876) – »Contusion &c.«369 Staff Surgeon Siccama beginnt seinen ausführlichen Fallbericht mit der Charakterisierung, dies sei ein sehr seltener und fast einzigartiger Fall. Es geht um ein Unfallgeschehen, das etwas über die Lust der Matrosen auf Zeitvertreib und Vergnügen an Land verrät, und das beinahe mit einer grauenhaften Art und Weise des Ertrinkens geendet hätte. Der Schiffsarzt schickt vorweg, dass ein oder zwei Meilen von Penang370 entfernt ein bei den Seeleuten beliebtes Ausflugsziel mit einer Taverne und Bädern in der Nachbarschaft eines Wasserfalles lag. Dieser floss in einen Teich, aus dem wiederum mit eisernen Röhren Wasser zur Versorgung der Stadt Penang entnommen wurde. Diese Leitung entnahm mit einem vertikal endenden Rohrstück Wasser aus dem Teich. Diese Rohröffnung lag, gut sichtbar, ein paar Fuß unter der Wasseroberfläche. Obwohl es nach Kenntnis des Schiffsarztes offiziell verboten war, in diesem Teich zu baden, unterließen es die Besucher des Resorts nicht, und erst 18 Monaten vor dem Bericht war ein Mann in diesem Teich ertrunken, indem er vom Sog des Wassers an die Rohröffnung gezogen worden war, sich von dort nicht mehr lösen konnte und mit dem Kopf nicht mehr über die Wasseroberfläche gelangte. Keine Hilfe rettete ihn, ja der tödliche Unfall wurde nur dadurch bemerkt, dass die Rohrleitung kein Wasser mehr lieferte, da schließlich der Körper in der Rohröffnung steckte. Der Leading Seaman John D., 32 Jahre alt, also ein ausgesprochen erfah­ rener Matrose, war nun im März 1876 mit anderen Matrosen der Modeste dabei, in diesem Tümpel baden. Wie er sich mit seinem Rücken, wohl dem unteren Teil desselben, gegen das Rohr lehnt, sieht er sich plötzlich mit großer Kraft von dem sofort entstehenden Unterdruck in die Rohrmündung gezogen. Zwar versuchen seine Kameraden, ihn fortzuziehen, der Berichterstatter hält es aber für vollkommen offen, wie der Fall ausgegangen wäre, wenn nicht der geistesgegenwärtige Chef-Ingenieur des Schiffes (kurioserweise mit dem Namen Waterfield) zufällig vorbeigekommen wäre, die Lage erkannt, sich einen Hammer von einem Steinbrucharbeiter genommen und ein Stück der Wasserleitung, etwas vom Teich entfernt, eingeschlagen hätte. Sofort lässt der Sog nach und der Mann kommt frei. Er ist völlig erschöpft, sein Hinterteil ist hochrot und geschwollen und blutet an mehreren Stellen. Er wird auf einem Karren in das Militärhospital von Penang gebracht und dort behandelt. Mit noch granulierender Wunde kommt er am 27.  März auf das Schiff zurück. Surgeon Siccama findet ihn aber so beeinträchtigt, dass er ihn mit einem anderen Kriegsschiff von Singapur nach Hongkong transportieren lässt, um dort weiter im Royal Navy 369 Siccama, R. R., HM Sloop Modeste 1.1.–31.12.1876, TNA, ADM 101/196, lfd. Fallnr. 28. 370 Penang: Die Insel Penang liegt an der Westküste Malaysias. Der wichtigste und größte Ort ist George Town. Vermutlich ist mit dem Ortsnamen »Penang« diese Stadt gemeint.

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Hospital behandelt zu werden. Dort wird er schließlich invalidisiert und nach England zurückgeschickt. Trocken bemerkt Mr. Siccama, dass die dafür zuständige Behörde, obwohl es bereits einmal zu einem solchen fatalen Ereignis gekommen war, kein Gitter über der Mündung der Wasserleitung hat anbringen lassen. Und er fügt in den allgemeinen Bemerkungen des Journals ebenso knapp hinzu: »The case is curious.« 19. Fall: Case 35 der Modeste (1876) – »Submersion«371 Dem Tod durch Ertrinken kam auch der 27-jährige Leading Seaman William S.  gerade noch einmal davon. Er hatte sich, wie der Schiffsarzt vermutet, ein kleines Wettrudern mit einem Bootsmann geliefert, als beide im Hafen von Singapur zurück zu ihrem Schiff, der Modeste, wollten. Dabei war er bald nach dem Start aus seinem Boot gefallen. Glücklicherweise wurde er von der Polizei aufgefischt und in das Zivilkrankenhaus gebracht. (»… whilst starting to come off to his ship in the cruise of which he fell overboard and was taken by the police to the Civil Hospital there, … He returned to the ship in a day or two and went to duty.«) Außer in der Form einiger Blessuren mit Hämatomen hatte er sich nicht verletzt. Drei Tage nach dem Ereignis, am 8. Mai 1876, kann er zum Dienst auf sein Schiff zurückkehren. Beachtenwert ist, dass Surgeon Siccama mit der Diagnose Submersion für diesen Vorfall denselben Begriff des »Untertauchens« nimmt, wie er auch für die traurig endenden tödlichen Ertrinkensunfälle üblich ist. Es nimmt nicht Wunder, dass dieser so glimpflich ausgegangene Fall im Log des Schiffes372 von der Hand des »Ersten« und des Kommandeurs keine Beachtung findet, zumindest »besser« nicht auch noch an dieser Stelle öffentlich gemacht wurde. 20. und 21. Fall: Case 15 und 16 der Ruby (1880) – »Drowning«373 Auf der Passage zur ostindischen Station geschah es vor der Westküste von Madagaskar nahe der Stadt Maintyrano, dass ein Ruderboot mit einem Offizier und neun Matrosen an Bord auf einer Sandbank vor einer der Flussmündungen kenterte. Acht von ihnen können sich schwimmend ans Ufer retten, wobei sie sich an die hölzernen Ruder, leere Kisten und andere schwimmfähige Teile klammern und mit der Flut innerhalb einer halben Stunde ans Ufer getrieben werden. Ein 23-jähriger Vollmatrose höheren Ranges ertrinkt jedoch, obwohl er schwimmen kann. Ein 27-jähriger Marinesoldat, der nicht schwimmen kann, 371 Siccama, R. R., HM Sloop Modeste 1.1.–31.12.1876, TNA, ADM 101/196, lfd. Fallnr. 35. 372 Ships’ Logs, Log of HM Ship Modeste 1.1.1876–31.12.1876, TNA, ADM 53/10761. 373 Stone, John N., HM Sloop Ruby 2.7.–31.12.1880, TNA, ADM 101/200, lfd. Fallnr. 15 und 16.

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versinkt sofort. Der Schwimmer unter den beiden Opfern, so wird anschließend vermutet, ging vor Erschöpfung in den Wellen unter. Das Boot war eines von dreien, die zur Beobachtung von Sklavenhandel abgeordnet worden waren. Unglücklicherweise war zum Zeitpunkt des Unglückes keines der anderen beiden Boote der Ruby in der Nähe um zu helfen. (»The boat was detached with three others from the ship for slave cruizing at the time, none of the other boats, however, were at hand on the occasion. Deceased could swim but probably sank from exhaustion.«) Erstaunlicherweise findet sich zu diesem schweren Unglück, das leicht auch mehr als die beiden Todesopfer hätte kosten können, keinerlei Eintrag in dem Schiffs-Logbuch der Ruby,374 weder an dem Unglückstag selbst, noch an einem der darauffolgenden Kalendertage.

5.11.2 Auswertung Fast alle der vorgefundenen 21 Fallberichte sind kurz bis sehr kurz, teils ganz lakonisch. Das verwundert nicht, gab es doch für den Arzt nicht viel mehr als die traurige Pflicht der »Registrierung« eines Todes unter den Leuten seiner Mannschaft. Oftmals fehlten ihm nähere Informationen zu den Umständen des Geschehens, und auch dies liegt in der Natur der Sache. Ein Ausrutschen, ein Stolpern, ein einziger Fehlgriff in der Takelage konnte genügen. Auch im Sturm von Bord gerissen zu werden, ist eine Sache von Sekunden. In einem Fall (10. Fallbeispiel) war der Matrose nach seiner nächtlichen Wache schlichtweg verschwunden, nicht mehr an Bord am Ende dieser Wache. Er muss ertrunken sein. Niemand wusste Genaueres, oder berichtete es nicht. In solchen völlig rätselhaften Fällen ist neben einer verbrecherischen Handlung ein selbst herbeigeführtes Ertrinken nicht auszuschließen, ja mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit verknüpft, die allerdings in keiner Weise quantifizierbar ist, es sei denn, es gab vorherige Andeutungen seitens des Mannes. Eine Geschichte solcher Andeutungen findet sich jedoch in keinem der Journale. Wie geschahen die Unfälle des Ertrinkens? Sechs der 21 Männer stürzten von auf dem Meer fahrenden Schiffen. In vier Fällen handelte es sich um geruderte Beiboote, die in der Brandung vor der Westküste Madagaskars und vor der Nordküste Japans gekentert waren. Eines der Schiffe, über deren Bordwand jemand stürzte, lag im Hafen. (14. Fall) Hier war es ein reiner Arbeitsunfall. Gefährlich war der Rückweg vom Landurlaub zum Schiff. Hier spielt der Alkoholmissbrauch mit seiner eigenen Unfallträchtigkeit eine große Rolle. Nicht weniger als vier der 21 Männer ertranken auf dem kurzen Weg zum Schiff, den sie in einem Ruderboot zurücklegten, rutschten an der Pier beim Besteigen des Bootes 374 Ships’ Logs, Log of HM Ship Ruby 2.7.1880–27.9.1881, TNA, ADM 53/11679.

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aus oder fielen einfach von der Kaimauer, die an ihrer Wasserkante nun einmal nicht bewehrt ist, in das Wasser. Ein Ertrunkener verlor ausdrücklich beim Baden den Boden unter seinen Füßen. Und ein immerhin 39-jähriger Private, ein Seesoldat, verfehlte in Dunkelheit, Regen und kopfloser Hast eine Brücke über einen der Kanäle Yokohamas. (13. Fall) Man könnte sagen, er ertrank an Land. Diese Kanalbrücken Yokohamas haben, so heißt es in dem Bericht, schon vielen Seeleuten das Leben gekostet. Es dürfte noch von Interesse sein, was über die Fertigkeit des Schwimmens bei den Opfern des nassen Todes bekannt ist. Mehrfach findet sich in den Unglücksberichten eine Notiz zu dieser Frage. Vier von den 21 sind als Schwimmer, einer davon sogar als »guter Schwimmer« festgehalten, vier ausdrücklich als Nichtschwimmer. Bei dem Fall des Badeunfalles ist eher ein weiterer Nichtschwimmer zu vermuten. Dreizehnmal sind keine diesbezüglichen Angaben zu finden. Wahrscheinlich wusste man es an Bord oft einfach nicht. In den Statistical Reports bildet sich das Geschehen des Ertrinkens im ersten Sieben-Jahres-Zeitraum von 1830 bis 1836 erstaunlicherweise überhaupt nicht ab. Weder in den Diagnosentabellen, noch in den Kommentaren wird Drowning aufgeführt. Eine unbekannte Zahl an Ertrunkenen wird sich in der Gesamtzahl von 2 511 »Wunden und Unfällen« jener Jahre verbergen.375 Anders ist es im Bericht über die nächsten sieben Jahre. 104 Tote durch Ertrinken sind unter der letzten Rubrik, der der Diseases, &c. not classified or specified in the above arrangement gezählt.376 (»One hundred and nine deaths occurred by drowning, five of which were suicidal; and 104 from causes which have not been ascertained …«)377 Die Zahlen variieren stark: 1837 sind nur drei Ertrinkensfälle gezählt,378 1842 sind es 31, und zusätzlich sind drei in suizidaler Absicht Ertrunkene festgehalten.379 (»Thirty four cases occurred by drowning; but of these, three were suicidal. As to the causes which led to these acts, there is nothing stated …«)380 Begrifflich wird 1840 zwischen den 20 Accidentally drowned und dem einen Todesfall durch Suicide by drowning unterschieden.381 In all den seit 1856 jährlich erscheinenden statistischen Berichten wird die Zahl Ertrunkener festgehalten, im tabellarischen Teil  aber nicht mehr der besondere Fall des Suizides durch Über-Bord-Springen herausgelöst. Wie dominant das Ereignis des Ertrinkens unter den Unfällen an Bord war, geht auch aus der Tabelle 4 im Abschnitt 4.7 »Krieg« hervor.

375 House of Commons 1841 (53) Navy (health): Stat. Rep. für 1830–36, S. 111. 376 House of Commons 1853 (555) Navy (health): Stat. Rep. für 1837–43, S 85. 377 Ebd., S 94. 378 Ebd., S 5. 379 Ebd., S 45. 380 Ebd., S 61. 381 Ebd., S 33.

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Wie wurden Beinahe-Ertrunkene medizinisch versorgt? Müller382 stellt die lange und wenig einfallsreiche Geschichte der Wiederbelebungsmaßnahmen von Ertrunkenen dar. Die künstliche Beatmung war in unserem Untersuchungszeitraum bekannt, aber noch war die Vorstellung verbreitet, dass ausgeatmete Luft ihre »Lebensnahrung« gänzlich eingebüßt habe, und deshalb die »Insufflation« dieser wertlosen Luft nichts nützen könne. Man konstruierte Maschinen, die durch Saug- und Druckblasebalg frische, noch »dephlogisierte« Luft, die noch nicht das Verbrennungsgas »Phlogiston« enthielt, in den leblosen Körper bringen sollten. In unserem 16. Fallbeispiel finden wir die Artificial Respiration durch den Schiffsarzt selbst ausdrücklich genannt, wobei wir uns hier bereits im Jahre 1875 befinden. Inzwischen hatte Henry Robert Silvester seine »Method of Resuscitating« veröffentlicht.383 Eine von Müller384 ebenfalls beschriebene, über lange Zeit diskutierte und angewandte Methode, die Verabreichung von Tabakrauch in die Gedärme mittels eines Klistieres, taucht in den hier untersuchten Quellen nicht auf, wohl aber der Versuch, mit reizenden, anregend gedachten Arzneien (hippokratischen Vorstellungen entsprechend) das Pneuma zu befreien und so die Lebenskräfte zu wecken. (3. Fall) Für diesen Zweck wurden seit jeher allerlei Mittel wie Zwiebel- und Meerrettichsaft, Essig und Salmiakgeist eingesetzt. Bei Brommy und von Littrow lesen wir von eingeübten Abläufen. Im Fall des »Mann über Bord« sollte »schon beim ersten Unglücksrufe die am Heck hängende Rettungsboje fallen gelassen« werden. Sie »treibt hinten aus«, das Schiff »dreht in den Wind und wird im Lauf gehemmt; die Grossraa wird back gebrasst und hält das Schiff so, dass es fast nur seitwärts wegtreibt. Kühn springt die bestimmte Mannschaft in das an der Leeseite hängende Boot, wirft die dasselbe haltenden Taue los und, eine augenblickliche Stille in Lee benutzend, wird es vorsichtig an den Taljen hinabgelassen und gleich abgestossen, um nicht an der Seite des Schiffes von den Wellen zerschmettert zu werden. Matrosen ­eilen in die Wanten und Marsen, um dem Boote die nöthige Richtung anzudeuten, nach der es zu steuern hat.«385 Die weitere Darstellung verschweigt weder die 382 Vgl.: Müller: Arzneimittelversorgung. Hamilton-Patersen weist auf archaische Bilder und innere Widerstände im Umgang mit dem nassen Tod hin. Sie scheinen in unserer modernen Welt schon viel länger überwunden, als sie es tatsächlich sind. »Die Vorstellung, einem Sturmgott ein Menschenopfer zu bringen, war zweifellos uralt. Bemerkenswert ist, dass der Brauch sich so lange gehalten hat, abgewandelt in die passive Form der Weigerung, Er­trinkende zu retten oder Ertrunkene anzufassen.« Vgl.: Hamilton-Paterson, S.  164. Von solcher Furcht erzählt auch eindrucksvoll Rudyard Kipling (2007) in »Über Bord«. Siehe Kipling, Rudyard; Haefs, Gisbert: Über Bord, Hamburg 2007. 383 Silvester, Henry Robert: A new method of resuscitating still-born children, and for­ restoring persons apparently drowned or dead. British Medical Journal 19 (1858), S. 576–579, S. 576–579 . 384 Müller: Arzneimittelversorgung, S. 201–203. 385 Brommy: Die Marine, S. 423–424.

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Mühe, in den Wellen die Rettungsboje auszumachen, ganz zu schweigen von dem im Meer treibenden Mann, noch diejenige, mit dem kleinen Ruderboot zurück zum Schiff und heil an Bord zu kommen, wenn die See stürmisch ist. Derartige komplexe Manöver sind in den hier untersuchten Quellen nicht aufgefunden worden, werden aber hier und da abgelaufen sein. Was bei Sturm wirklich machbar ist, und dass der Kapitän unter Umständen das Wohl des Schiffes mit seiner gesamten Mannschaft gegenüber einem Rettungsversuch abwägen muss, wird immer wieder betont. Vom Einsatz einer Rettungsweste, die dem über Bord Gegangenen hinterhergeworfen wird, erfahren wir im 12. Fallbeispiel, und leider auch von der Vergeblichkeit dieser einfachen Rettungsmethode. Solche Rettungsringe (Life Buoy, Life Belt) tauchen erstmals 1726 in historischen Quellen auf.386 Dass ein Mann in einer nächtlichen Wache unbemerkt von Bord in das Meer stürzen konnte (wie im 10. Fallbeispiel beschrieben), war uraltes Wissen der Schiffsmannschaften. Damit erklärt Schmidt den Brauch, wonach sich bei Wachwechsel beide Wachen an Deck versammelten und der jeweils wachälteste Matrose oder ein Seemann mit einer besonderen Autorität seine Leute durchzählte, um dann seinem Steuermann oder Wachoffizier zu melden: »Backbord all hier. Steuerbord all hier«. Er schreibt: »Damit war die Gewißheit gegeben, daß von der neuen Wache alle hoch waren, keiner mehr in der Koje ›herum­ gammelte‹, und daß andererseits von der alten Wache auch alle Mann zur Stelle waren. Denn in dunkler Nacht war es auf einem Windjammer wohl denkbar, daß ein Mann verschwand, ohne daß die anderen es gewahr wurden.«387 Erst in den Jahrzehten unseres Untersuchungszeitraumes kamen junge Besatzungsmitglieder mit systematisch absolviertem Schwimmunterricht an Bord der Marineschiffe, sofern sie die einjährige Ausbildung durchlaufen hatten, die seit 1834 auf stationär in den Häfen von Portsmouth, Plymouth, Cork und Chatham (an der englischen Südküste) oder Leith in Schottland für angehende Schiffsjungen durchgeführt wurde. Lavery konstatiert, »die Einstellung zum

386 Flensburger Schiffahrtsmuseum: Alltag an Bord. In der Geschichte der Navy gab es eine kurze Periode, in der an jedem der Rettungsringe ein Beutel mit einem Gill Brandy befestigt war. Die Versuchung, sich dieses Rettungsmittels zu bedienen, auch ohne über Bord gefallen zu sein, stellte sich aber als so groß heraus, dass das technische Detail wieder fallengelassen wurde. Vgl.: Kemp: Oxford companion. Zur Rettung Beinah-Ertrunkener sind die beiden entscheidenden Faktoren die Auskühlung und die Ateminsuffizienz durch aspiriertes Wasser sowie die mit diesem Wasser in die Bronchien gelangten Bakterien. Der (Zucker-) Stoffwechsel, der Herzrhythmus und die Gehirnfunktion stehen heute im Zentrum jeder Wiederbelebungs- und weiteren Therapiemaßnahme. Dass es das »trockene Ertrinken« ohne Aspiration von Wasser gibt, bezweifeln Moon und Long. Vgl.: Bierens, J.; Knape, J.; Gelissen, H.: Drowning, Curr. Opinion Critical Care 8 (2002), S. 578–586; Moon, R.; Long, R.: Drowning and near-drowning, Emergency Medicine 14 (2002), S. 377–386. 387 Schmidt: Von den Bräuchen, S. 55.

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Schwimmunterrricht begann sich zu verändern, seitdem das Desertieren ein viel geringeres Problem war«.388 Das »alte Vorurteil, wonach der Seemann, der sich bei einem Schiffsunglück durch Schwimmen zu retten versucht, schlechtere Überlebenschancen hat als der, der auf dem Wrack ausharrt, »entbehrt auch der geringsten Grundlage gesicherter Fakten.«389 »Schwimmen wurde in den neuen Schulungsschiffen für wichtig angesehen«, schließt Lavery.390

388 Lavery: Royal tars, S. 336. 389 Hall, Basil: Fragments of voyages and travels, Edinburgh 1833, zit. in Lavery: Royal tars, S. 336. 390 Lavery, ebd., S. 337.

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6. Therapie an Bord

Wie wurden Krankheiten an Bord der Schiffe zu jener Zeit und unter den vorgegebenen räumlichen, sozialen und organisatorischen Bedingungen behandelt? Auch in diesem Abschnitt liegt das Augenmerk ganz auf den psychischen Störungen, sowohl als eigenständige Krankheitsbilder wie auch als Reaktion auf somatische Krankheitsbilder. Um einen Überblick über die in den Manuskriptseiten zerstreut erwähnten therapeutischen Maßnahmen zu bekommen, sei hier zwischen Behandlungsmaßnahmen mit und ohne Einsatz von Medikamenten unterschieden.

6.1 Allgemeine Maßnahmen Unter den sehr häufig eingesetzten allgemeinen Maßnahmen sind zu nennen:

6.1.1 Abführmaßnahmen Der Eintrag »Bowels acting freely.« wirkt in vielen der Verlaufsbeschreibungen wie eine Erfolgsmeldung per se. Nie wurde diese Notiz oder der gegenteilige Vermerk »Bowels not acting« in der Beschreibung des Kranken ausgelassen und oft täglich und bei jeder Zustandseintragung wiederholt. Verschiedene Abführmittel (»Laxantien«), die im speziellen Teil  aufgezählt sind, wurden unter der Vorstellung verwendet, dass Obstipation auf jeden Fall vermieden und Giftstoffe ausgeführt werden sollten. Bemerkenswert ist der 18. Fall »Concussion of the Brain«: Der Schiffsarzt verzichtet auf Abführmittel, weil er auch noch einen Tag nach dem Sturz aus großer Höhe innere Bauch­ verletzungen für möglich hält. (»Bowels not opened yet, considered it advisable not to give any opening medicine in view of possibility of intestinal injury, as he still complains of pain in Epigastric region.«) Neben einer »orthograden« Darmentleerung, die durch abführende Arznei angeregt wird, kam auch die »retrograde« Reinigungsform reichlich zum Einsatz. Hierzu dienten das »Klistier« (irrigation) mit einer Spritze und der »Einlauf« (enema). Auch die Blasenentleerung wurde beachtet, vor allem in Fällen von Bewusstseinstrübungen, etwa nach Kopfverletzungen. Bei einem aus der Takelage gestürzten Matrosen kam ein »Blasen-Katheter der Größe Nummer 8« zum Einsatz. (4. Fall »Concussion of the Brain«)

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Therapie an Bord

6.1.2 Aderlass In der Bezeichnung »Congestion of the Brain« für Bewusstseinsstörungen spiegelt sich die Vorstellung eines Stauungsgeschehens im Kopf. Durch eine Verringerung des Blutvolumens hoffte man diese Stauung beseitigen zu können. Hierfür wurden Aderlässe (bleeding, phlebotomy) an der Schläfe und im Nacken vorgenommen. Auch wenn im mittleren und ausgehenden 19. Jahrhundert die Zeit der exzessiven und so manches Mal schädlichen Aderlässe zu Ende geht, findet sich dieser Eingriff doch noch recht häufig. Das dafür nötige Instrument, der Scarificator, mit einem oder mehreren feinen Messerchen zur Perforierung von Haut und Venenwand, das viele technische Verfeinerungen und Verbesserungen erlebte, gehörte zur schiffsärztlichen Grundausstattung.1 Bei weniger akuten Geschehen wurden Blutegel (leeches) eingesetzt, die in einem Gefäß an Bord mitgeführt wurden. Die Verordnung lautete: »Leeches behind the Ears.« Im 21. Fall »Concussion of the Brain« ist die zoologische Bezeichnung der Blutegel, »Hirudines«, verwendet. Zwölf Egel werden an der linken Schläfe angesetzt, die am nächsten Tag »eine beträchtliche Menge Blut gesaugt haben«.

6.1.3 Magenspülung Im 8.  Fall der Schädel-Hirntraumen wird von einer Entleerung des Magens durch eine Pumpe berichtet. Ein nach einem Sturz bewusstloser Mann roch so stark nach dem japanischen Reiswein Sake, dass der behandelnde Surgeon eine Magenspülung für erforderlich hielt. Es wird nicht beschrieben, wie er vorging, jedoch ist anzunehmen, dass ein biegsamer Schlauch über die Speiseröhre ein-

1 In den Medical Instructions von 1825 ist es als »Cupping Apparatus, consisting of One Scarificator and Six Glasses« aufgeführt. In den Gläsern wurde das abgelassene Blut aufgefangen und die Menge gemessen. Manche Volumenminderung konnte schädlich sein. 1842 erfahren wir bei einem Hitzschlag-Opfer von einem Aderlass von zwei Mal 20 Unzen, insgesamt also 1136 Milliliter, ein Blutvolumen, das auch bei Gesunden nicht ohne negativen Kreislauf-Effekt entnommen werden kann. Vgl.: House of Commons 1853 (555) Navy (health): Stat. Rep. für 1837–43, S. 54. Spencer Wells empfiehlt in seinem verbreiteten Werk als Menge ein Pint (568 Milliliter) bei »Entzündung des Gehirns«, warnt aber vor dem Aderlass beim »Trinker-Delirium«. Vgl.: Spencer Wells: The Scale of Medicines, S. 145. Heute werden beim Blutspenden nicht mehr als 500 Milliliter Vollblut entnommen, worauf 56 Tage bis zu einer nächsten Entnahme gewartet wird. In dieser Zwischenzeit werden vom Organismus für gewöhnlich alle Blutbestandteile ersetzt. Therapeutisch wird in der modernen Medizin nur noch bei Polyglobulie, einer übermäßigen Produktion roter Blutkörperchen, und bei der Hämochromatose, einer Eisenspeicherkrankheit, ein Aderlass durchgeführt.

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Allgemeine Maßnahmen

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geführt wurde. (»The stomach has been cleaned out by means of the pump. A quantity of dark frothy fluid with a strong alcoholic odour (sake) was evacuated.«)

6.1.4 Kühlung des Organismus Bei Hitzschlag war die regelmäßig durchgeführte und tatsächlich wichtigste Maßnahme die Senkung der Körpertemperatur durch kaltes Wasser. Der Kopf wurde mit Wasser übergossen (»water poured on the head«), auch beschrieben als »kalte Dusche« (»cold douche«) oder als »am Kopf angewandte Kälte« (»cold applied to the head«). Die Fokussierung auf die Kühlung des Kopfes weist auf die damalige Deutung des Krankheitsgeschehens eines (rein) zentralnervösen Vorganges, also einer Erkrankung des Gehirnes, hin. Dies ist zwar nicht falsch, aber auch nicht vollständig richtig. Die anderen, wesentlichen Mechanismen der lebensbedrohlichen Hyperthermie, die Störung des Gerinnungssystems und der Zusammenbruch zentraler Steuerungsvorgänge der Organdurchblutung, kannte die damalige Zeit noch nicht als Krankheitsgeschehen. Dennoch war jede Absenkung der Körpertemperatur ein Schritt in die richtige Richtung.

6.1.5 Elektrische Behandlung Nur im Journal der Albatross aus dem Jahre 1849 (1. Fall »Paralysis«) erfahren wir von der Anwendung elektrischen Stromes. Diese »Elektrotherapie« hatte sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts nach den Entdeckungen Luigi Galvanis (1737–1798) und Allesandro Voltas (1745–1827) sowie Michael Faradays (1791–1867) entwickelt, denen es auf unterschiedliche Weise gelungen war, Gleichstrom zu erzeugen. Seit 1859 wurde diese neue Therapiemethode im französischen Militär als »Galvanotherapie« und etwa zur selben Zeit in der britischen Armee und Marine als »galvanoelektrische Therapie mit der Pulvermacher’schen Kette« für Schmerz- und Lähmungszustände angewandt.2

2 Siehe: Stuhldreier, S.  132–149; Müller bezweifelt die Wirkung des Stromes in dieser technischen Anordnung und geht eher von einer positiven Wirkung der mit diesen Pulvermacherschen Ketten verbundenen Säurewirkung aus. Vgl.: Müller: Das Schiff als mediz. Experimentierfeld. Einen Überblick über die technischen Entwicklungswege der Anwendung von Strom findet sich bei Wolf, J. H.: Erkrankungen des zentralen Nervensystems.

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6.1.6 Diät Ein wirksammer Teil der Therapie war die Verordnung und Anpassung der Ernährung des kranken Matrosen, weniger des Offiziers, denn dieser hatte schon im Normalfall bessere Verpflegung und die Möglichkeit, Wünsche bezüglich des Essens anzumelden, und er konnte von seinem medizinischen Offizierskollegen auch gar nicht etwas »verordnet« bekommen. Bei Alkoholkrankheit bedeutete dies, dass es dem Schiffsarzt nicht möglich war, an sich wünschenswerte Restriktionen einem Offizier gegenüber durchzusetzen. Für die Mannschaft, die Rating, wurde im Krankenquartier oft Half Diet oder Full Diet ausgegeben. Bei schlechtem Ernährungszustand durch eine kraftzehrende Erkrankung, und hier wurde nicht zwischen physischen und psychischen Ursachen unterschieden, konnte eine Nourishing Diet die Grundlage für eine Besserung oder Gesundung sein. Im 9.  Fall »Concussion of the Brain« überspringt der Arzt die Grenze derer »vor dem Mast« und derer »hinter dem Mast«, als er einem herzkranken (und offenkundig depressiv kranken) Heizer das bessere Essen der Offiziersmesse an sein Krankenbett kommen lässt. Häufig wurde als kräftigende Diät Beef Tea, also Rindfleischsuppe, Wein und Porter (»Porterbier«) und »Bier und Pudding« gegeben.3 Auch ein Ei konnte als Diätverordnung etwas Besonderes sein. (»Ale Wine Beef-Tea and Eggs.« »Eggs given him beaten up in wine.«) Auch außerhalb der eigentlichen Krankenbehandlung konnten vom Schiffsarzt Empfehlungen ausgesprochen werden. (»…an allowance of spirits and lemon juice as  a sanitary precaution.«) Die Begründung war dabei immer eine medizinische.

6.1.7 Luftveränderung Wiederholt finden wir die Hoffnung ausgedrückt, eine Änderung der unmittelbaren Umgebung habe einen heilsamen Effekt auf den Patienten. Der Grundgedanke der Luftveränderung ist vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatte über die Bedeutung guter, und dies hieß zunächst kühler Luft in den Tropen zu sehen. Die Handelsgesellschaften und die Armee unterhielten z. B. über ganz Indien verteilt, von den Western Ghats an der Süd-West-Küste bis Kaschmir und Assam an den Hängen des Himalaya, sogenannte Hill Stations.

3 Porter: Ein Synonym für dunkles Starkbier, unter diesem Namen in England bekannt seit dem mittleren 18. Jahrhundert. Sein Name war assoziiert mit den Trägern (Porter oder Bearer) in Londons Straßen.

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Allgemeine Maßnahmen

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Sie lagen in ausreichender Höhe mit entsprechend angenehmem Klima und ohne Malariagefahr.4 Ein Soldat der Thalia wird wegen der »Malarialuft« vor Shanghai nach Hongkong zur »Luftveränderung als dem einzigen wirklichen Hilfsmittel« geschickt. Einem 23-jährigen Acting Lieutnant der Rinaldo ermöglicht der zuständige Surgeon einen Urlaub an Land bei einem Freund, in der Hoffnung auf heilsame Luftveränderung. (25. und 12. Fall »Debility«) Eine psychologische Dimension scheint der Arzt der Juno im Sinn zu haben, der einen 29-jährigen Waffenmeister an Land schickt. (»As the long voyage from England had probably tended to produce this condition, he was transferred to Hospital principally for change of Air and Scene.«) Dasselbe gilt für die Emp­ fehlung eines Schiffsarztes für seinen Kommandeur, der möglichst viel an Land gehen soll, um viel in Gesellschaft zu sein. (28. und 15. Fall »Debility«) Auch der Umgang mit frischer und verbrauchter Luft an Bord konnte Gegenstand ärztlicher Entscheidung sein: Als im Oktober 1857 auf der Sanspareil, die vor Kalkutta lag, Cholera an Bord ausbrach, wurden die Luken an der dem Land zugewandten Seite nachts dichtgemacht und geschlossen gehalten. Man fürchtete »Malaria-Einfluss« aus dem flachen, sumpfigen Wasser der Bucht. Aus dem gleichen Grund wurde das Schiff drei Tage später 150 Yards weiter seewärts vor Anker gelegt, also nochmals weiter entfernt von den verdächtigen, sumpfigen Ausdünstungen.5

6.1.8 Hängematte und Feldbett im Schiffslazarett Teil der ärztlichen Behandlung war die Entscheidung, den erkrankten Seemann, anstatt ihn in der Hängematte schlafen zu lassen, in ein Cot zu legen, womit sowohl ein einfaches, niedriges Feldbett wie ein an der Decke aufgehängtes Bett mit Seitenwänden aus Segeltuch gemeint sein kann. Es ging darum, ein Herausstürzen aus der Hängematte und damit aus beträchtlicher Höhe zu vermeiden. Auf einigen Krankenstationen an Bord gab es fest montierte, hölzerne Betten, vermutlich aber auch Platz für Hängematten. Von der Sanspareil erfahren wir (Kapitel »Alltag«, Abschnitt »Krieg«) von der Nutzung von 24 Cots für die Schwerstkranken unter 89 Patienten. Die übrigen 65 Männer lagen in Hängematten auf der Steuerbordseite des Zwischendecks. Die Bedeutung einer reizarmen Umgebung für Schwerkranke, die alles um sich her verändert und ängs-

4 Crawford, D. G.: A History of the Indian Medical Service 1600–1913, London 1914; Arnold: The tropics. 5 House of Commons 1859 (138-Sess. 2) Navy (health): Stat. Rep. für 1857, S. 113.

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Therapie an Bord

tigend wahrnehmen können, war bekannt. Im 7.  Fall »Delirium tremens« werden die Segelkommandos an Deck »so leise wie nur möglich gegeben«, um den halluzinierenden und wahnhaft umdeutenden Patienten im Lazarett von akustischen Reizen zu verschonen.

6.1.9 Zwangsbehandlung und Bewegungseinschränkung Auf dreierlei Art und Weise wurde auf Erregung und Aggressivität reagiert. Als erste Zwangsmaßnahme ist die Wasserdusche auf Kopf und Brust zu nennen. Ihr lag die Vorstellung zu Grunde, man müsse und könne einen augenscheinlich um seinen Verstand Gekommenen sprichwörtlich »zur Vernunft bringen«, und zwar durch starke, überraschende, ja erschreckende Reize im Sinne des Aufweckens aus einer irgendwie gearteten Trance. Das Übergießen mit Wasser war solch ein starker, dabei körperlich ungefährlicher Reiz. Nötig werden konnte die Bewegungseinschränkung durch Festhalten oder Festbinden. So erschreckend es für Umstehende gewirkt haben wird und so sehr es Angst und Aggression des betroffenen psychotisch Kranken noch steigern konnte, so notwendig konnte es doch sein, die Eigen- und Fremdgefährdung des »Rasenden« (»fury«) zu verhindern. Man konnte nicht abwarten, bis die Erregung spontan abklang, und es gab keinen direkten und gezielten Einfluss auf sie. Nirgends an Bord gab es einen Rückzugsort, aber es gab viele Gefahren, allen voran das Meer ringsum. An Bord der Juno wurden vier der stärksten Personen zum Festhalten des einen akut psychotisch kranken Menschen aufgeboten. Weil die motorische Erregung lange anhielt, wurde der Betroffene in seine Hängematte gebunden. Aus diesem Anlass schlägt der Surgeon für jedes Schiff eine entsprechend konstruierte Zwangsjacke (strait jacket) vor. (9. Fall »Mania«) Schließlich waren zwar antipsychotisch wirksame Substanzen noch unbekannt, zur Beruhigung und Entspannung wurden jedoch verschiedene Arzneien, die eine allgemeine Sedierung bewirkten, eingesetzt. Sie werden im folgenden Abschnitt unter den Beruhigungs- und Schmerzmitteln beschrieben.

6.1.10 Aktivitäten Im Abschnitt zur Alltagssituation »Freie Zeit, Baden« erfahren wir, dass sportliche Übungen, Baden im Meer und Singen von manchen Schiffsärzten in enthusiatischen Zusammenhang des »mens sana in corpore sano« gebracht wurden. Viel weiter geht der Surgeon der Inflexible, wenn er der »angespannten Erwartungshaltung« vor einer bevorstehenden Bootsexpedition in den­ »Fatchan Creek« (mit zweifellos militärischem Zweck) einen »höchst günstigen

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Effekt« zuschreibt, indem sie »die für Grippeerkrankungen so charakteristische Nachlässigkeit und Abneigung gegen Anstrengung« zurückdränge.6

6.1.11 Versorgung Schwerverletzter »Er stürzte schließlich zu Boden, und sofort wurde ich hinzugerufen« ist eine typische Notiz in den Medical Journals. Der Schiffsarzt war in ständiger Rufbereitschaft und eilte im Notfall, jede andere Tätigkeit unterbrechend, zum Ort des Geschehens. Darin liegt ein nicht zu unterschätzender atmosphärischer Beitrag zur Angstminderung an Bord. Die Ärzte waren sich dessen bewusst und vermerkten dementsprechend diese ihre Vorgehensweise immer wieder explizit. Ebenso beschrieben sie die fachgerechte Lagerung des Verunglückten, vor allem im Fall von Bewusstlosigkeit, etwa nach einer Kopfverletzung oder auch im »postiktalen Schlaf« nach einem epileptischen Anfall. Die Lagerung des Kranken mit etwas angehobenem, abgepolsterten Oberkörper war zur Vorbeugung bei stets drohendem Erbrechen und dabei möglicher Aspiration mit nachfolgender Pneumonie eine höchst relevante Maßnahme. Akkurate Lagerung mit kunstgerechter Stabilisierung war überhaupt die entscheidende ärztliche Behandlung bei Knochenbrüchen. Eine andere Frakturbehandlung als die Schienung und Bandagierung stand nicht zur Verfügung. Die Fixierung eines Beines oder Armes mit in Gips getränkten Binden wird in den späteren Jahren unseres Untersuchungszeitraumes wahrscheinlich auch an Bord angewandt worden sein, ist jedoch in den wenigen hier berücksichtigten Fällen von Frakturen nicht erwähnt.7 Bei offenen Frakturen wurde die optimale Reposition der Knochenenden und die schonende Entfernung von zerstörtem Gewebe angestrebt. Die anschließende genaueste Beobachtung, ob sich eine lebensbedrohliche Infektion, der »Wundbrand«, einstellte, war aber genauso wichtig. Wenn diese sich zu einer Gangrän (typischerweise bei anaerobem Bakterienbefall) weiterentwickelte, war die Amputation von Arm oder Bein oder Teilen davon der einzige Ausweg. In allen diesen Fällen war eine ausreichende schmerzstillende medikamentöse Behandlung wichtig. Schließlich musste, wenn es sich um Kriegsschiffe handelte, typische Kriegschirurgie angewandt werden. Neben der Arm- oder Beinamputation waren es alle Arten von Wundversorgung, Wundreinigung, Schienung und Geschossoder Splitterentfernung, die nötig wurden. In den Medical Journals wird davon stets in knapper, zusammenfassender Weise berichtet, ebenso in den jähr 6 Ebd., S. 112. 7 Von Mathijsen und van de Loo Mitte des 19. Jahrhunderts ersonnen und rasch verbreitet. Siehe Schadewaldt: Schiffschirurgie, S. 1738.

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lichen statistischen Berichten. Natürlich war auch bei all diesen Verletzungen die Gefahr der lebensbedrohlichen Wundinfektion gegeben. Schwerwiegende Verwundungen bedingten in aller Regel den Rücktransport des Verletzten nach England, Beendigung des Militärdienstes und je nach Situation die Anerkennung eines Invalidenstatus und einer Pensionszahlung. Mit großer Wahrscheinlichkeit war die Existenz eines guten Surgeon, in diesem Falle eines gut ausgebildeten und möglichst erfahrenen Chirurgen, für die psychische Verfassung der Matrosen wie der Soldaten von größter Bedeutung.8 Dieser Bereich der schiffsärztlichen Tätigkeit dominiert das Bild von der Medizin an Bord in vielen schifffahrtsgeschichtlichen Publikationen. Wenn wir die Zahl von Verletzungen durch militärische Aktionen neben der vielfach überwiegenden Anzahl von Krankheiten an Bord sehen, erkennen wir, dass dies eine verzerrte Sichtweise ist.

6.1.12 Trepanation Wie im Abschnitt zu den Durchgangssyndromen bei Kopfverletzungen dargestellt, fand sich in allen im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Medical Journals kein Fall einer durchgeführten, allerdings ein Fall (4. Fall) einer beabsichtigten Schädeltrepanation, obschon viele Schädel-Hirn-Traumata beschrieben sind. Auch kann nicht genauer geklärt werden, wie systematisch und eingehend die angehenden Schiffsärzte in ihrer Ausbildung mit der Technik der Schädeltrepanation vertraut gemacht worden sind, wenngleich die entsprechende Unterweisung anzunehmen ist. Denn die Nennung zweier Trephines, kleiner hierfür erforderlicher Knochenkreissägen, in der Instrumentenliste der Surgeons, deutet auf die Bereitschaft zu diesem lebensrettenden Eingriff hin.

6.1.13 Anaesthesie In den Navy-Krankenhäusern wurde seit 1847 die Äther-Narkose (sulphuric ether) und seit 1852 die Chloroform-Narkose bei Fingeramputationen, Zahnextraktionen und Abszesseröffnungen angewandt. Früh zeigten sich dabei Unsicherheiten in der Dosierung bei Alkoholkranken und starken Rauchern.9 Jahrzehnte und Jahrhunderte hindurch wurden Eingriffe aller Art, von der 8 Das Ausmaß dieser psychologischen Bedeutung wurde beispielhaft im russisch-japanischen Krieg von 1905 deutlich, als die japanischen Truppen eine besonders gute, die russischen dagegen eine besonders schlechte ärztliche Versorgung hatten. N. N.: Sanitätsdienst im russisch-japanischen Krieg, Internat. Rev. ges. Armeen u. Flotten (1911). 9 McLean: Surgeons, S. 76; Lloyd, Coulter: Medicine, Vol. IV.

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Knochenbruch-Versorgung bis zur Amputation durchgeführt, indem man den Patienten mit Alkohol berauschte, ihn festhielt und ihn im größten Schmerz auf ein Holz- oder Lederstück beißen ließ. Nun tropfte man Chloroform und Chloric Ether (Chloroform mit drei Teilen Alkoholdestillat von Wein gemischt) auf ein auf das Gesicht des Patienten gelegtes Tuch. (16. Fall »Apoplexy«)10 An Bauchoperationen konnte man sich nicht wagen, fehlte es doch an Mitteln zur unabdingbar erforderlichen Entspannung der Bauchmuskulatur und Unterstützung der Atmung. Zur Schmerzstillung war Opium die bedeutendste Arznei.

6.1.14 Reanimation Konnte ein in das Meer gestürzter Seemann rasch wieder geborgen werden, wurden Maßnahmen zur Wiederbelebung durchgeführt. Im Falle eines Maschineningenieurs der Fly ist zwar die »künstliche Beatmung« über eineinhalb Stunden, nicht aber die Herzdruckmassage festgehalten, die für den Erfolg der Wiederbelebungsmaßnahme nahezu unentbehrlich ist. Leider hat der Schiffsarzt auch nicht niedergeschrieben, welche »üblichen Medikamente« er sofort eingesetzt hat. Zu vermuten sind »stimulierende Mittel«. (16. Fall »Ertrinken«) Aus einem anderen Protokoll erfahren wir, wie nach dem Sturz eines Matrosen ins Meer vorgegangen wurde. Ein Rettungsring und auch ein Seemann, der sofort vom Heck des segelnden Schiffes in das Meer gesprungen war, wären die Rettung gewesen, wenn der 25-jährige Marinesoldat hätte schwimmen können. So versank er aber in kurzer Zeit in den Wellen. (12. Fall »Ertrinken«).

6.1.15 Krankschreibung wegen Dienstunfähigkeit Angesichts der eisernen Disziplin an Bord bewirkte es viel, den erkrankten Matrosen aus den Dienstpflichten herauszunehmen. In schweren Krankheitsfällen war die Notwendigkeit keine Frage. In vielen anderen, leichteren Fällen mit Klagen, die nicht mit sicher erkennbaren Erkrankungszeichen einhergingen, wird es hingegen eine schwierige Aufgabe des Schiffsarztes gewesen sein, über die Feststellung von »Krankenstand« zu entscheiden. 10 Spencer Wells: The Scale of Medicines, S. 189–190. Chloroform, chemisch Trichlormethan, ist eine bei 61° Celsius siedende Flüssigkeit. Der erlaubte Konzentrationsbereich in der eingeatmeten Luft ist außerordentlich schmal, die »narkotische Breite« also gering, weshalb die Anwendung ein schwer zu kontrollierender Grenzgang zwischen Anaesthesie, Narkose und Schädigung von Atemzentrum, Herz und Leber darstellte. Besser zu handhaben und deshalb länger in Gebrauch war die Narkose mit Äther, chemisch Diäthyläther. Sein Siedepunkt liegt bei nur 35° Celsius. Das Äther-Luft-Gemisch ist explosibel.

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Die Häufigkeit und Dauer konnte anhand der fünf Tabellen am Ende jedes Medical Journals, die der Arzt zum Schluss eines Berichtsjahres akribisch ausfüllte, leicht überprüft werden. Und auch schon im laufenden Betrieb musste der Surgeon seine Krankenliste (Sick List) führen und wurden die Tage jedes Besatzungsmitgliedes »on the list« gezählt. Denkbar, dass es manches Gespräch zwischen Kommandant und Arzt über die Ausfälle gegeben hat. Mit einiger Verzögerung gab es positive und negative Kommentierung des Krankenstandes: In den Statistical Reports der Admiralität wurden Jahr für Jahr all die nach London tranportierten Medical Journals ausgewertet. In diesen amtlichen Berichten konnten nun durchaus wertende Hervorhebungen unter Verwendung von Formulierungen wie »gesundes Schiff« auftauchen oder auffällige Krankheits­ häufungen auf einzelnen Schiffen benannt werden. Solche Kommentare wird man innerhalb der Gruppe der Offiziere und besonders der Kommandeure aufmerksam wahrgenommen, diskutiert und auch kolportiert haben. Auf der Krankenliste zu stehen, hieß nicht nur, keine seemännischen oder soldatischen Pflichten erfüllen zu müssen und auf diese Weise wenigstens vorübergehend in einem Schonraum zu leben, es bedeutete auch in positiver Hinsicht, versorgt zu werden und emotionale Zuwendung zu erhalten, wie es sie sonst an Bord eines Schiffes nicht ohne weiteres gab. Die Versorgung mit Nahrung, sogar besonderer Nahrung, kann im Sinne einer oralen, die tiefsten Bedürfnisse jedes Menschen stillenden Handlung in ihrer Bedeutung gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Schwerkranke, denken wir etwa an Patienten mit Cholera und Typhus oder durch heftigstes Malariafieber ausgemergelte Patienten, profitierten auch von bloßer Ruhe. Allerdings war es nicht immer ruhig im Schiffslazarett, zum Beispiel, wenn an Deck lautstark exerziert wurde.11 Von dem langen »Eingesperrtsein im Schiffslazarett« konnte ein Patient »einige Kraft verlieren« und »ziemlich anämisch aussehen«. (34. Fall »Syphilis«) Es gab auch Formen der eingeschränkten, nicht völlig aufgehobenen Dienstfähigkeit. So konnte ein Matrose Dienst tun, ohne in die Takelage, in die Masten, Rahen und Segel hinaufsteigen zu müssen. Das »going aloft«, also das Indie-Höhe-Klettern war dann ärztlicherseits verboten. Auch gab es eine »light duty list«, wenn diese auch sehr selten erwähnt ist. Solchen leichten Dienst sollte zum Beispiel ein Matrose nach Sonnenstich tun, weil er noch längere Zeit unter Schwindelgefühl litt und den Eindruck einer veränderten Persönlichkeit machte. (16. Fall »Heat Stroke«) Selten führte ein Schiffsarzt eine Behandlung »off the list« durch, ohne ihn als Kranken auf seiner Liste zu führen. In zwei Fällen von »Debility« im Zusammenhang mit großer Hitze wird dies berichtet. Vermutlich bestand die Therapie dann von vornherein nur in einer teil 11 Guland, William, HM Ship of the Line Victory 1.1.–20.7.1853, TNA, ADM 101/125/2, General Remarks.

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weisen Befreiung von Dienstpflichten. (18. und 19. Fall »Debility«) Krankheitsbedingte Beurlaubungen an Land scheinen ein Privileg der Offiziere gewesen zu sein. Damit sollte eine Invalidierung aufgeschoben oder verhindert werden. (12., 15. und 34. Fall »Debility«) Schließlich war die Verlegung des Patienten auf eines der Lazarett-Schiffe der Royal Navy oder in ein Hospital an Land eine Möglichkeit der Intensivierung der Therapie und der entschiedenen Veränderung der Rahmenbedingungen, manchmal auch gegen den Wunsch des Betroffenen, der lieber auf dem Schiff bleiben und weiterreisen wollte. (27. Fall »Syphilis«) Wir finden in den Journalen nicht nur Verlegungs- und Entlassungsberichte in bzw. aus Navy Hospitals, sondern auch anderer Institutionen, die offenbar kollegial genutzt wurden, so zum Beispiel das Civil Hospital in Shanghai und Singapur, das Railway Hospital und das Hindoo College in Kalkutta und das Military Hospital in der Stadt Suez. Ein Beispiel für eine besonders gründliche Abwägung finden wir von Bord der Cockatrice, wo zwei Kollegen in die Überlegungen einbezogen werden, ob der an schwersten Kopfschmerzen erkrankte Master in das Hospital von Valparaiso verlegt werden soll. (5. Fall »Apoplexy«)

6.1.16 Dauerhafte Dienstunfähigkeit, Invalidisierung Die Schiffsärzte konnten Besatzungsmitglieder zur Invalidisierung vorschlagen, wenn sie keine Aussicht auf Heilung sahen oder dauernde Behinderung an­nehmen mussten. Einer Erläuterung aus dem Tabellenteil der Journals können wir die Kriterien der Diensttunfähigkeit entnehmen: »Teilweise oder völlige Verhinderung am Dienst in der Navy oder anschließende Hinderung, gleich welcher Art, sich den Lebensunterhalt zu verdienen«. (»… either partly or wholly, disqualify them for the Public Service or subsequently in any way interfere with their earning a livelihood.«) Dies ist eine brauchbare und respektvolle Definition. Jede Invalidisierung fußte auf der Entscheidung eines Gremiums von mindestens zwei Ärzten von Bord zweier verschiedener Schiffe oder eines Schiffes und eines Hospitales. Diese Kommission (Survey Board oder Invaliding Board) wurde vom Kapitän einberufen, nachdem ihm der Surgeon seinen Patienten, den er für dauerhaft außer Stande sah, auf dem Schiff zu fahren, gemeldet hatte. Das bedeutete praktisch, bis zur Ankunft in einem nächsten Hafen zu warten, um dort einen Kollegen von einem in der Nähe liegenden Schiff der Royal Navy an Bord zu holen. Wie solch eine Konsultation im Einzelnen ablief, ist in den ärztlichen Aufzeichnungen nicht festgehalten, lediglich das Ergebnis und ab und zu auch die Namen der beteiligten Ärzte. Der betroffene Seemann hatte wohl kein Mitspracherecht. Aus den Aufzeichnungen geht aber hervor, dass der Arzt für die Leute seines Schiffes in der Wahl

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des Zeitpunktes die persönliche Situation des Betroffenen einfließen ließ. Und in mancher Darstellung ist mitfühlendes Bedauern zu spüren, wenn es für einen sehr jungen Mann nach Krankheit oder Unfall »waiting for passage to England« oder »sent home to England« hieß. Für die einfachen Matrosen hieß dieser Schritt, wenn keine lange Dienstzeit vorgewiesen werden konnte, krank und ohne Auskommen zu sein, für die Offiziere bedeutete es »half pay« und zumeist das Ende einer erhofften Karriere.

6.2 Medikamentöse Therapie an Bord Die Apothekerzeichen der Originalmanuskripte sind in den Transkriptionen in ausgeschriebener Form wiedergegeben, also: ounce – , drachm – , scruple –  , grain – gr und minim – . Sind dagegen im Originalmanuskript selbst die Abkürzungen in lateinischen Buchstaben oz, dr, scr und gr verwendet, was deutlich seltener der Fall ist, werden diese mit eben diesen Buchstaben transkribiert. Für das kleinste Apothekergewicht, das Minim, fallen Zeichen und Buchstaben mit »m« zusammen. Die Zahlangaben der Manuskripte in arabischer und römischer Schreibweise werden in der Transkription unverändert übernommen. Tabelle 10 dient der Umrechnung der Apothekermaße in das metrische System. Tabelle 10: Apothekermaße und -zeichen Gewichtsmaß

Raummaß

Apothekerzeichen

1 grain: 0,0648 g

1 minim: 0,059 ml

gr/

1 scruple: 1,296 g

1 fluid scruple: 1,184 ml

1 drachm: 3,888 g

1 fluid drachm: 3,552 ml

1 ounce: 31,103 g

1 fluid ounce: 24,412 ml

Die Behandlung mit Arzneien geschah selbstverständlich auf der Grundlage damaligen Kankheitsverständnisses und damit weitgehend unter symptomatischen Gesichtspunkten. Bei »Wechselfieber« (meistens Malaria entsprechend) oder bei Syphilis, wirkten Chinin und Quecksilber nur auf die Symptome, also z. B. auf das Fieber und die Hautgeschwüre. Auf tieferer Ebene konnte der Pathomechanismus nicht beeinflusst werden. Weder die Plasmodien der Malaria noch die Spirochäten der Syphilis waren als Erreger der Symptomatik bekannt. Die in unseren Quellen genannten Arzneien sollen im Folgenden kurz beschrieben werden. Die für alle Schiffe der Royal Navy verbindlichen Regulati-

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ons and Instructions for the Medical Officers of His Majesty’s Fleet von 182512 listet 73 Medikamente in alphabetischer Reihenfolge auf. Die späteren Queen’s Regulations and the Admiralty Instructions for the Government of Her Majesty’s Naval Service von 186213 nennen nur noch die Anzahl der an Bord vorgehaltenen, von den Lieferanten an Land fertig zusammengestellten Arzneikisten, nicht mehr deren Inhalt. Da eine alphabetische Ordnung keine inhaltliche Orientierung bietet, werde ich sie nach Anwendungsgebieten in Gruppen zusammenfassen. In Anlehnung an die für die zivile Schifffahrt verfasste »Scale of Medicines« von 1851 von Spencer Wells, einem Buch, das auf britischen Schiffen größte Verbreitung fand, werden im Folgenden dreizehn Gruppen von Zielsymptomen unterschieden.14 Die Indikationen, das heißt die Zuordnung bestimmter Arzneien zu bestimmten Krankheiten oder Symptomen, wurden von den behandelnden Schiffsärzten nicht streng eingehalten, vielmehr begegnen wir vielen Medikamenten in verschiedenen Absichten, was teils in ihrer rein symptomatischen Wirkung begründet ist, teils der oft mitschwingenden diagnostischen und therapeutischen Unsicherheit entspricht. Die in den ausgewerteten Medical Journals erwähnten Arzneien lassen sich mit wenigen Ausnahmen mit Hilfe historisch-pharmazeutischer Fachliteratur identifizieren.15 Der größte Teil der in der erwähnten offiziellen Liste auf 12 In den National Archives in Kew, London, unter der Signatur ADM 7/221 archiviert. 13 In der Bibliothek der National Archives unter der Signatur 359.6 REG. Über die Schiffsarzneikisten informiert akribisch Müller. Sämtliche 31 in den Museen weltweit vorhandenen Arzneikisten, zum größten Teil solche aus dem 19. Jahrhundert, sind darin hinsichtlich ihrer Maße und ihrer Ausstattung beschrieben. Auch sind in dieser Arbeit nicht weniger als 1301 verschiedene Arzneimittel aufgelistet (allerdings kaum erläutert), die in den Arzneikisten auf Schiffen vom Beginn der Entdeckungsreisen an bis zur Einführung der Dampfschifffahrt verwendet wurden. Vgl.: Müller: Arzneimittelversorgung. Auf Handels- wie auf Kriegsschiffen war der Aufbewahrungsort, sofern es kein Schiffslazarett gab, nicht festgelegt. Im Falle der Schiffe der Royal Navy waren sie im Schiffslazarett deponiert, dort, wo der Schiffsarzt die Medikamente benötigte, und wo er aus den einzelnen Bestandteilen seine Arzneien herstellte. Im Falle zweier Schiffe, von denen wir Grundrisse besitzen, ist als abgetrennter Raum eine eigene Dispensary eingezeichnet, in einem weiteren Fall wird als Abtrennung lediglich ein Vorhang beschrieben. Nach Volbehr waren lediglich auf Lazarettschiffen eigens Apotheker an Bord, die den Äzten die Zubereitung von Arzneien abnahmen. Vgl.: Volbehr: Gesundheit. 14 Spencer Wells: The Scale of Medicines. Seine Medikamentengruppen sind: Purgatives, Sedatives, Salines, Astringents, Carminatives, Emetics, Antidots for Poisons, Specifics, Externals, Deodorizer and Disinfectant. 15 Benutzt wurden: Schneider, Wolfgang: Lexikon zur Arzneimittelgeschichte: Sach­ wörterbuch zur Geschichte der pharmazeutischen Botanik, Chemie, Mineralogie, Pharmakologie, Zoologie, Frankfurt am Main 1968; Fischer, Bernhard; Frerichs, Georg; Awe, Walther: Lehrbuch der Chemie für Pharmazeuten, Lebensmittel-Chemiker, Mediziner und Biologen, Stuttgart 1964; Moritz, Otto: Einführung in die allgemeine Pharmakognosie: pharmazeutische Biologie, Jena 1962; Jaretzky, Robert: Lehrbuch der Pharmakognosie, Berlin 1937; Hager, Hermann: Manuale pharmaceuticum [seu promptuarium quoet praecepta nota-

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geführten Arzneien finden sich in den Rezepturen der ausgewerteten Journale. Es zeigt sich, dass sie auch weitgehend mit den in den Anleitungsbüchern für die Handelsschifffahrt vorgestellten Medikamenten übereinstimmen. Diese Handbücher (Guides), wie das von Spencer Wells, waren zusammen mit den Arzneikisten in unzähligen Exemplaren auf den Schiffen unterwegs, und mit diesen Anleitungen zu den in den Kisten vorfindlichen Arzneien mussten die Kapitäne, Erste Offiziere und Steuerleute auskommen, wenn eine Arzneibehandlung notwendig erschien. Erfahrungsberichten zufolge soll es aber, vermutlich aus Unkenntnis und Resignation vor den recht differenzierten Anleitungsbüchern, auf vielen Schiffen für alle Beschwerden die immer gleiche Medizin gegeben haben.16

6.2.1 Abführmittel (Purgatives, Laxatives, Purges) Calomel, Chloride of Mercury (Kalomel) Das Quecksilber-I-Chlorid kommt in der Natur in kristalliner Form als Quecksilberhornerz vor. Es wurde wegen seiner stark abführenden Wirkung bei den verschiedensten Gelegenheiten gegeben. Zwei bis fünf Gran (0,1 bis 0,3 Gramm) mit Zucker ohne Wasser (da es darin unlöslich ist) mussten geschluckt werden. (»Was now put in a cot and a Calomel purge administered.«) Konnte der Patient nicht schlucken, wurden »ten grains of calomel put upon his tongue« gegeben. tii digna pharmacopoearum variarum et ea, quaead paranda medicamenta in pharmacopocas asistalas non recepta sunt, atque etiam complura adjumenta et subsidia operis pharmaceutica continentur], Lipsiae 1892; Hennig: Hennig’s Commentar und Wörterbuch zu allen Pharmakopöen, Dresden o. J.. Vergleiche konnten angestellt werden mit Medikamentenlisten in den medizingeschichtlichen Arbeiten von Linke, Ute: Beobachtungen von Schiffsärzten der Royal Navy über die häufigsten Erkrankungen zur See, dargestellt an ausgewählten Bordjournalen des beginnenden 19.  Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1987, S.  41–69 und Hinrichs, Wiebke: Medizinische Beobachtungen und Erkenntnisse während einer Mittelmeerreise an Bord der H. M. S. St. Jean d’Acre (1859–1860), Frankfurt, Main 2007, S. 82–92. Herrn Apotheker Gerd Stange, Kiel, bin ich für seine vielfältige pharmaziehistorische Hilfestellung dankbar. 16 Ein weiteres viel verwendetes Handbuch war »The Seaman’s Medical Guide« von 1863 und weiteren Auflagen, London 1863 und auf deutschen Schiffen die »Anleitung zur Gesundheitspflege an Bord von Kauffahrteischiffen«. Kaiserliches Gesundheitsamt (Hg.): Anleitung zur Gesundheitspflege an Bord von Kauffahrteischiffen, Berlin 1888. 1898 wurde (für deutsche Schiffe) erstmals festgelegt, dass auf Auswandererschiffen ein Arzt an Bord zu sein hatte. Dies galt auch für Handelsschiffe, sobald über 50 Passagiere oder über 100 Besatzungsmitglieder an Bord waren. In der modernen Seefahrt ist verbindlich geregelt, dass die Aufstellung der Schiffsapotheke bzw. des Arzneischrankes aus Hygienegründen im Krankenraum verboten ist, also ein eigener Raum dafür zur Verfügung stehen muss. In Schränken mit normiertem Inhalt haben alle Medikamente eine feste Nummer, anhand derer durch eine Einsatzleitstelle eine medikamentöse Therapie über Funk verordnet werden kann.

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Da es ein Quecksilber-Präparat ist, war es auch als Diuretikum wirksam und schließlich auch in Salben für Hautgeschwüre bei Syphilis. Castor-Oil (Rizinus-Öl) Wenn man bedenkt, dass Spencer Wells das Castor Oil als »mildest and safest of the purgatives« einstuft, wird deutlich, wie drastisch die anderen Abführmittel gewesen sein müssen, denn man wird Rizinusöl aus heutiger Perspektive als sehr starkes Laxans einstufen. Das Öl wird aus den Samen des Wunderstrauches, eines Wolfsmilchgewächses, gewonnen. Ein bis drei Esslöffel in einem Glas Pfefferminzwasser oder Weißwein war die übliche Menge. Das unraffinierte (nicht erhitzte) Öl beziehungsweise die rohen Samenkapseln sind extrem giftig. Black Draught, Black Wash (Lotio nigra) Bei Spencer Wells lautet die Rezeptur für die »schwarze Medizin« Lotio nigra oder Black Draught: »Gieße einen halben Pint kochendes Wasser auf eine halbe Unze Sennablätter, eine Unze Bittersalz und einige Prisen Ingwerpulver, lasse es eine Stunde stehen und gieße die Flüssigkeit ab.«17 Alle zwei bis drei Stunden sollte ein Weinglas voll getrunken werden, bis die abführende Wirkung einsetzte, die von der Sennapflanze und dem Bittersalz zuverlässig zu erwarten sind. Auch den Zusatz von Rhabarbertinktur empfiehlt er. Nach Müller wird in der britischen Pharmakopoe von 1885 die Lotio nigra definiert als »Mistura Sennae compos.«, bestehend aus Magnesiumsulfat, Süßholzwurzelextrakt, Cardamomextrakt und Abkochung von Sennablättern.18 Powder of Jalap (Jalap-Pulver, Radix Scammoniae) Dieses als Pulver, aber auch in Pillenform als Resina Jalapae verwendete Abführmittel wird aus den Wurzelknollen eines im mexikanischen Hochland wild wachsenden, in verschiedenen Gebieten kultivierten Baumes (Exogonium purga Bentham) gewonnen. 20 bis 30 Gran (ein bis zwei Gramm) sollten, wegen des stark kratzenden Geschmackes am besten mit Pfefferminz versetzt, ein­genommen werden. Es wurde als wirksam gegen Schwindel angesehen und deshalb bei epileptischen Anfällen, bei Seekrankheit und auch bei »Delirium tremens« eingesetzt. Epsom Salt (Bittersalz) Magnesiumsulphat kommt im Meerwasser, in Mineralquellen (»Bitterwässern«) und als das Mineral Kieserit vor, aus dem es nach langem Kochen in Wasser durch anschließendes Abkühlen als weißes, feines Pulver auskristallisiert. Als 17 Spencer Wells: The Scale of Medicines, S. 178. 18 Müller: Arzneimittelversorgung.

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Magnesium sulfuricum oder Bittersalz ist es ein lange bekanntes Abführmittel. Für Spencer Wells ist es »das bekannteste Abführmittel der Seeleute, und es ist wirksam und im Großen und Ganzen sicher«.19 Er empfiehlt eine Unze in einer großen Schüssel warmen Tees.

6.2.2 Brechmittel (Emetics) Mustard (Senfkörner) Ein Teelöffel voll (gemahlener) Senfkörner in einem Viertelliter Wasser war neben bloßem Salzwasser das »beste Brechmittel bei Trunkenheit und Vergiftung«. (Spencer Wells) Im Übrigen wurden mit Senf Breiumschläge hergestellt, die über ihre stark hautreizende Wirkung ein Wärmegefühl erzeugten. Ipecacuanha (Brechwurzel) Dieses noch heute gebräuchliche Mittel zur Erzeugung von Erbrechen ist eine Droge aus den Nebenwurzeln des in Brasilien heimischen Strauches Uragoga ipecacuanha Baill., die die Alkaloide Emetin, Cephaelin und Psychotrin enthält. Nach Einnahme von ein bis zwei Gramm der Wurzel setzt mit einer Verzögerung von etwa einer Stunde Erbrechen ein. In geringer Dosierung unterhalb der emetischen (brechreizerzeugenden) Wirkung wurde es auch als Hustenmittel verwendet. Antimony (Antimon, Stibium) Antimon (Stibium) kommt als metallisches Element in verschiedenen Spießglanz-Erzen vor. Aus dem Grauspießglanz (Antimon-Schwefel) gewinnt man seit dem Mittelalter den »Brechweinstein« und nutzt ihn auch als Abführmittel. Am Antimon hatte sich in der frühen Neuzeit eine intensive Debatte zwischen den Humoralpathologen in der Tradition Galens und den Iatrochemisten im Gefolge Paracelsus’ entzündet. Erstere sahen in Antimon ein Gift, letztere eine reinigende Arznei. Im späten 19. Jahrhundert wurde es in der Bekämpfung der Kala-Azar-Tropenkrankheit (eine durch die Sandmücke übertragene Leish­ manien-Infektion, früher: »Orient-, Nil- oder Aleppobeule«) nochmals bedeutsam und ist dies bis heute. Colchicum, Mixtura Colchici (Herbstzeitlose) Colchicum autumnale Linné, die giftige Herbstzeitlose, ist schon in der arabischen antiken Medizin als Abführmittel (und Aphrodisiakum) bekannt gewesen. Im 19. Jahrhundert gehörte der Extrakt dieser Pflanze zu den narkotischen Mitteln. Man nutzte sie zur Induktion von Erbrechen ebenso wie als Abführ 19 Spencer Wells: The Scale of Medicines, S. 179.

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mittel, kannte ihre pulsverlangsamende Wirkung und ihre spezifische Wirkung bei Gicht und Rheumatismus. Verwendet wurden alkoholische und wässrige Auszüge aus Knollen und Samen.

6.2.3 Schweißtreibende Mittel (Sudorifics, Diaphoretics) Aconite (Aconitum, Gift- oder Mönchshut) Aconite, ein Auszug aus der Pflanze Aconitum napellus wird als »Powerful Sudorific« als »wirkkräftiges schweißtreibendes Mittel« beschrieben. (10. Fall »Heat Stroke«) In Überdosierung sind intensive neuropsychiatrische Symptome zu erwarten, was sich aus der Substanzgruppe der Parasympathomimetika ableiten lässt, die nicht nur die Schweißproduktion anregt, sondern auch im Zentralnervensystem erregend wirkt, im weitesten Sinne mit der Fliegenpilzvergiftung zu vergleichen. Wir lesen auch von einer »schweißtreibenden Mixtur« (Diaphoric Mixture), die an Bord angefertigt und verabreicht wurde. (8.  Fall »Heat Stroke«) Balsam of Copaiba (Kopaivabalsam) Der Arzneistoff ist das Harz südamerikanischer Copaifera-Bäume. Die in dem Balsam enthaltenen Harzsäuren wirken, extern angewandt, sekretionsfördernd bei Bronchitis. Die lokal adstringierende (verdichtende, juckreizstillende) Wirkung wurde für Hautgeschwüre bei Gonorrhoe genutzt. Die wichtigsten Handelsnamen der nach Herkunft verschiedenen Balsame waren Maracaibo-, Venezuela- und Parabalsam. Spencer Wells empfiehlt die Einnahme eines Teelöffels Copaibabalsam mit sechsstündlicher Wiederholung auch als Abführmaßnahme.

6.2.4 Fiebermittel Cinchona Bark (Chinarinde), Quinine, Sulphate of Quinine (Chinin) Die »Chinarinde« kann als eine der »Pflanzen, die die Welt veränderten«, bezeichnet werden.20 Seit dem frühen 17. Jahrhundert in Europa bekannt, wurde sie erst um 1800 regelmäßig in der Schiffsapotheke mitgeführt. Der auch für die Skorbutprophylaxe so bedeutende James Lind hatte sie zur Vorbeugung und Behandlung der Malaria empfohlen, woraufhin sie systematisch zunächst in der Mittelmeer- und in der westindischen Flotte, später auf allen Schiffen an südlichen Küsten an die Seeleute ausgegeben wurde. Nelson legte 1803 ihre Verabreichung an alle diejenigen fest, die an Land zum Holzschlagen und Wasser-

20 Hobhouse, Henry: Fünf Pflanzen verändern die Welt, München 1996.

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beschaffen (»wooding and watering their vessels«) eingesetzt wurden.21 Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Chinarinde als Droge aus der getrockneten Rinde des in Südamerika heimischen Baumes Cinchona pubescens nach und nach ersetzt durch den inzwischen dargestellten Hauptwirkstoff, das Alkaloid Chinin. Es war das erste und lange Zeit einzige wirksame Malariamittel, wobei es nur jene Malaria-Erreger zerstört, die sich in den roten Blutkörperchen in ihrem Teilungsstadium der »Schizonten« befinden und die das Fieber auslösen. Rückfälle in neue Fieberschübe kann es nicht verhindern. Noch heute ist es bei Resistenz gegen modernere Mittel eine Option. Chinin wurde nicht nur bei Intermittent Fever oder Ague, sondern auch bei vielen anderen Krankheiten eingesetzt. Bei Überdosierung zeigen sich unter anderem Angst- und Erregungszustände. (12. Fall »Debility«) Von der Nebenwirkung bei Hochdosierung geleitet, wurde das Medikament auch beim Hitzschlag eingesetzt, als Nervine Tonic, also als Mittel zur Verbesserung der »Nervenspannung«. Dafür wurden besonders hohe, im Grunde schon toxische Dosen von bis zu 20 Gran alle drei Stunden, 1,3 Gramm entsprechend, gegeben. Die gemahlene Rinde wie auch das extrahierte Chinin bekamen die Patienten in Pillenform, als Sirup oder als Pulver in jeder Art Flüssigkeit, einschließlich der täglichen Portion Rum.

6.2.5 Stärkungsmittel (Carminatives) und Erfrischungsgetränke (Salines) Barley Water Eine Abkochung von Perlgraupen (Barley) ist in den »Scales« von Spencer Wells als »exzellente Medizin gegen Fieber, Bauchbeschwerden und Gonorrhoe« beschrieben. Für den Geschmack könne man etwas Zucker hinzufügen. Von der Verordnung von »Barley Water« und gleichzeitig einem Terpentin-Bad lesen wir von Bord der Nimble. (11. Fall »Debility«) Blue Pill, Mercurial Pill, Pillula Hydrargyri Mit diesem Quecksilberpräparat, das mit einer blauen Pflanzenmasse in Pillenform gebracht wurde, wurde einerseits der speichelfördernde und magenirritierende Effekt ausgenutzt, andererseits im Wissen um den Wirkstoff Quecksilber Syphilistherapie durchgeführt. Dosiert wurde bis zum Wundwerden der Mundschleimhaut. Die abführende Wirkung im Verdauungssystem wurde als anregend-stärkend interpretiert. Für diese Indikation bekam der Patient abends je eine Pille, verbunden mit verschiedenen Abführmitteln. Diese Ross 21 Allison: Sea Diseases, S. 199; House of Commons 1903 (301) Navy (health): Stat. Rep. für 1902, S. 131.

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kur wird laut »The Seaman’s Medical Guide« glücklicherweise nur »zwei oder drei Abende« oder »drei Mal die Woche, insgesamt sechs Mal« empfohlen.22 Podophyllin Pills Podophyllin ist ein aus der Wurzel des Maiapfels (Podophyllum, eine Berbe­ ritzen-Art) gewonnenes Pulver, das wegen seiner stark sekretorischen Wirkung auf die Leber- und Gallenblasenfunktion eingesetzt wurde. Als »Mitosehemmstoff« bewirkt es eine Zellteilungshemmung. Deshalb ist seine stark toxische Wirkung zu bedenken, nach neueren Erkenntnissen (denn es wird noch immer oder wieder in der Kräutermedizin verwendet) hat es auch eine depressionsauslösende Wirkung. Powder of Rhubarb (Rhabarber), Dr. Gregory’s Powder Rhabarberwurzeln sind wegen ihrer abführenden Wirkung schon in der Antike verwendet worden. Das Pulver aus getrockneter Wurzel wurde im 19. Jahrhundert gemischt mit Magnesia (Magnesiumoxid)  als Purge und zusammen mit Ingwer als anregendes Mittel angewandt. Letzteres war als »Dr. Gregory’s Powder« als Hausmittel weit verbreitet. Ein Beispiel für Polypragmasie als dem Versuch, alle Hilfen zusammenzunehmen und auf die Kombination zu vertrauen, ist die Rezeptur im Fall eines Schwächezustandes an Bord der Daphne, wo der Ingenieur die drei zuletzt genannten Pillen in eine große Pille zu­ sammengeknetet bekommt. Der Erfolg war mit »zeitweiser Besserung« nicht überzeugend. (35. Fall »Debility«) Arrowroot (Pfeilwurz) Die Pfeilwurz (Maranta arundinacea Linné) ist eine Kulturpflanze Südamerikas, aus deren Wurzeln die »Marantastärke« gewonnen wird. Auf der Pylades soll sie den Geschmack des Essens verbessern. (»I have purchased for them sheep, vegetables, arrowroot and other addenda to render their meals palatable.«)23 Im Falle eines schwer Verletzten nach Sturz aus der Takelage ist »arrowroot« das einzige, was er zu sich nehmen kann. Dieses Faktum ist plausibel, wenn man bedenkt, dass die Marantastärke beim Zubereiten in heißem Wasser rascher (schon bei 66 Grad Celsius) und gründlicher als jede andere Stärke weich wird. (3. Fall »Concussion of the Brain«) Bismuth (Wismut) Das Wismut (Bismutum) ist schon seit dem frühesten Mittelalter als gediegenes Erz bekannt. Viele chemische Verbindungen werden verwendet, unter anderem 22 O. A.: The Seaman’s Medical Guide, London 1863. 23 Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 1. Teil, 25.2.–31.12.1858, TNA, ADM 101/167, General Remarks.

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als weiße Schminke, als Bleichmittel gegen Sommersprossen und in neuerer Zeit als Röntgenkontrastmittel. Pharmazeutisch wurde es mit ähnlicher Wirkung wie Quecksilber bei Syphilis eingesetzt, seine Oxidverbindungen auch als »desinfizierendes« Antidiarrhoikum. Bei Überdosierung ist es hochtoxisch. Ein Matrose mit der Diagnose »Debility, Diarrhoea &c« bekommt Wismuth, Opium und Chinin. Gegen die Diarrhoe wirkte das Opium zusammen mit dem Wismut. (32. Fall »Debility«) Tinctura Scillae (Meerzwiebel), Digitalis (Fingerhut) Schon in der Antike kam die Meerzwiebel (Scilla maritima Linné) bei Wassersucht, Husten und vielem mehr zum Einsatz. Diese ausgesprochen breite Verwendung setzte sich bis in das 19.  Jahrhundert fort, als ihre diuretische, ent­ wässernde Wirkung langsam vom Fingerhut (Digitalis) verdrängt wurde. Es gab Teeaufgüsse und alkoholische Tinkturen. Bei einem Patienten mit schweren Folgestörungen einer Alkoholkrankheit wurde ganz im Sinne einer doppelten Wirkung parallel Tinctura Scillae und Mist. Digital verordnet, eine sicher wirksame Maßnahme zur Verbesserung der Flüssigkeitsausscheidung bei bereits vorliegendem Aszites (»Anasarca«). (10. Fall »Delirium tremens«) Tartaric Acid (Weinstein und Weinsäure) Aus »twenty-five grains of carbonate of soda … and twenty grains of tartaric acid … in one or two wineglassfuls of water« wurde ein »pleasant cooling drink in feverish cases« hergestellt. Der Weinstein (chemisch Kaliumhydrogentartrat) als das Salz der Weinsäure, die in Trauben und anderen Beeren natürlicherweise enthalten ist, fällt in Wein leicht aus und wurde seit Urzeiten als Säuerungsmittel eingesetzt. Als Lebensmittelzusatzstoff E 334 wird es dafür noch heute verwendet. Da auf den Schiffen der Royal Navy stets Zitronensaft vorgehalten wurde, taucht in unseren Quellen die Zitronensäure (Citric or Lemon Acid) nicht auf. Mit dem Zitrat-Pulver (als Salz der Zitronensäure) war vor allem auf Schiffen der Handelsmarine versucht worden, den Zitronensaft zu ersetzen, vergeblich hinsichtlich der Skorbutvorbeugung, wie im Laufe der Jahrzehnte deutlich wurde. Nicht die Zitronensäure, sondern die Ascorbinsäure ist das biochemisch wirksame Substrat der Zitrone.

6.2.6 Anregende, belebende Mittel (Stimulants) Wie wir im Abschnitt »Apoplexy« gesehen haben, war der Arzt zu weitgehend abwartender Haltung gezwungen. Bewusstseinstrübung konnte er ebenso wenig wie Erregungszustände ursächlich bekämpfen. Ihm blieb lediglich der Versuch einer gewissen Sedierung durch dämpfende und einer Aktivierung durch »reizende«, aufweckende Medikamente.

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Claret (Claretwein) Nur bei Hennig24 fand sich die pharmazeutische Erklärung des Begriffes »Clare­ tum« als »abgeklärten Würzwein« oder auch »Claretwein«, womit »ein guter Bordeauxwein« gemeint ist. »Claret« ist heute ein im Englischen nahezu synonym gebrauchtes Wort für Rotwein aus dem Bordeauxgebiet. Im Fall eines Hitzschlages auf der Nimble erhielt der Patient neben den üblichen kühlenden Maßnahmen zwei Tropfen Croton Oil auf die Zunge sowie etwas Claret und Sulph. Quina, also Chinin. Schließlich sollte er reichlich Wasser trinken. In einem weiteren, ähnlichen Falle auf demselben Schiff folgt noch Calomel als Abführmittel. (7. Fall »Heat Stroke«) Essence of Peppermint (Pfefferminze), Powder of Ginger (Ingwer) Zur Förderung von Appetit und Verdauungstätigkeit empfiehlt Spencer Wells fünf bis zehn Tropfen Pfefferminzessenz auf einem Stück Zucker und zehn bis zwanzig Gran Ingwerpulver, einzunehmen in etwas Wasser oder »thrown into hot negus« (ein nach einem englischen Offizier benanntes punschartiges Getränk).25 Croton Oil (Croton-Öl) Dieses aus den Kernen des Tiglium-Baumes (Croton tiglium, eine Euphor­ biacee) gewonnene Öl (Oleum Crotonis) war eines der stärksten Abführmittel, bekannt seit dem Altertum und aus Indien und Persien über die arabische in die europäische Medizin eingeführt. Auf die Haut gerieben, erzeugt es brennenden Schmerz, Röte und Blasenbildung. Auch über die Haut resorbiert, kann es die Darmtätigkeit anregen. Bei Überdosierung kommt es zu Erbrechen und tödlicher Intoxikation. Terebinth, Turpentine (Terpentin) Der »Balsamum Teribinthina«, heute eher bekannt als »Terpentin«, ist das aus verschiedenen Pinien-Arten (Koniferen-Bäume) gewonnene Harz. Daraus wird ätherisches Öl »Oleum Terebinthinae« destilliert, welches auf der Haut Brennen und Rötung und bei längerer Einwirkung Blasenbildung bis hin zur Nekrose bewirkt. Über die Haut aufgenommen, löst es starke Bronchialsekretion aus. Volkstümlich wurde es früher auch als Diuretikum (mit recht riskanter Gefährdung der Nieren), als Wurmmittel, als gallentreibendes Mittel und als Carminativum (gegen Blähungen) benutzt. Die hautreizende Anwendung kann als »Counter Irritant« vor dem theoretischen Hintergrund der »Lehre der Gegenreize« verstanden werden.26 Der bewusst »irritierende« Effekt wurde von 24 Hennig, wie Anm. 405, S. 185. 25 Spencer Wells: The Scale of Medicines, S. 184. 26 Giovanni Rasori (1766–1837) propagierte diese Lehre als Zuspitzung des Brownianismus und nannte die Arzneien zur gegensätzlichen Reizüberflutung »controstimuli«. Vgl.: Hinrichs, S. 93.

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den Schiffsärzten immer wieder direkt so benannt. Auf der Euryalus wird einem bewusstlosen Heizer als Erstes eine »terpentine-injection« gegeben (vermutlich mit einer Spritze in den Mund) und nach Kaltwasserduschen »teelöffelweise purer Brandy«, später noch »ten grains of Calomel« auf die Zunge. (3. Fall »Heat Stroke«) Bei unerträglichen Bauchschmerzen wendet Surgeon Buckly von der Rinaldo ein Terpentin-Bad an. (41. Fall »Debility«) Nitro-Muriatic-Acid (Königswasser) Acidum nitricum muriaticum dilutum (Nitro-Muriatic-Acid)  ist die als »Königswasser« bekannte Mischung aus Salz- und Schwefelsäure, die einzige Flüssigkeit, in der Gold und Platin löslich sind. In zweifellos erheblicher Ver­ dünnung galt sie als durchblutungsfördernd und, für uns besonders interessant, als nervenerregende Substanz. Daneben war sie selbstverständlich hautreizend. Auch einzeln wurden die Salzsäure (Acidum hydrochloricum, Muriatic Acid), die Salpetersäure (Acidum nitricum, Nitric Acid) und die Schwefelsäure­ (Acidum sulphuricum, Sulphuric Acid) mit den verschiedensten Indikationen (Verdauungsträgheit, Gelbfieber, Hautgeschwüre) verwendet. Colocynth (Koloquinte) Der aus dem Mark der Koloquinte (einer kürbisähnlichen Frucht, Cucumis Colocyntis Linné, aus Syrien stammend), hergestellte harzige Extrakt von bitterem Geschmack wurde als magenanregende, fiebersenkende Arznei eingesetzt. Diese Arznei wurde von den Schiffsärzten in Pillenform auch bei Syphilis verwendet. Weder in den »Scales« von Spencer Wells noch im »Seaman’s Medical Guide« ist diese Arzneimittelform erwähnt. Ammon (Ammoniak) Die Stickstoff-Wasserstoff-Verbindung (in Wasser gelöst Salmiakgeist genannt) findet sich im Milchsaft einer im nördlichen Persien einheimischen Pflanze (Dorema ammoniacum Linné). Der zu Kuchen oder Körnern eingedickte Saft strömt den heftig stechenden Ammoniak-Geruch aus, der zweifellos stark stimulierend ist, in Überdosierung allerdings auch toxisch auf die Zellatmung wirkt. »I have invariably used Ammonia internally and externally to stimulate the patient«, schreibt der Arzt der Nimble rückblickend über mehrere Fälle von Hitzschlag.27 Stimulants (Alkohol) Nicht unerwähnt bleiben darf Alkohol in Form hochprozentiger Destillate, die in den schiffsärztlichen Berichten sowohl in arzneilicher Verwendung wie auch 27 Murray, George B., HM Sloop Nimble 2. Teil, 1.1.–31.12.1872, TNA, ADM 101/184/1B, General Remarks.

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als Genussmittel als Stimulants bezeichnet werden. Diese Anschauung als an­ regendes Mittel ist die Grundlage der über Jahrhunderte andauernden Wertschätzung von Brandy und Rum und das Phänomen der Queen’s Allowance, dieses verbrieften Anrechtes auf einen Becher Schnaps täglich. Alkoholische Getränke begegnen uns auch in Form von Porterbier und Wein. Einmal erfahren wir, dass »jeder Mann morgens acht Uhr sein Chinin in einem Becher mit einem halben Gil [6 dl] Rum und der gleichen Menge Wasser« erhalten sollte, ein andermal wird betont, dass während eines Jahres 40 Flaschen Weißwein für die Patienten verwendet wurden.28

6.2.7 Beruhigungs- und Schmerzmittel (Sedatives) Ammonium carbonicum (Hirschhornsalz) Der Anwendungsbereich dieses heute nur noch als Backtriebmittel bekannten Pulvers reichte von der äußeren Anwendung bei Hautgeschwüren über das Intermittent Fever bis zum Delirium tremens. Das Pulver war ursprünglich zerriebenes Tierhorn. Die pharmakologisch wirksame Substanz darin ist das Ammoniaksalz. Hyoscyamus (Bilsenkraut) Das Bilsenkraut (Hyoscyamus albus, H. niger, H. muticus Linné), aus welchem der wirksame Extrakt gewonnen wird, ist eine der ältesten in Europa bekannten Heilpflanzen. Es bewirkt Schmerzlinderung und zentralnervöse Entspannung und Beruhigung bis zu tiefem Schlaf. Hierfür wurde es ähnlich wie Opium und Belladonna (Tollkirsche)  eingesetzt. Es wurde eingenommen, in Umschlägen und Pflastern verwendet und auch als Rauch inhaliert. Ein Patient der Juno, der nicht schlucken konnte, erhielt eine Mischung aus Opiumtinktur und Hyoscyamus in Kampherwasser, also gleich ein dreifach sedierend wirksames Mittel eingeflößt. (14. Fall »Apoplexy«) Camphora (Kampher) In der Pharmazie wird unter Kampher das ätherische Öl des bis zu 40 Meter hohen und fünf Meter dicken knorrigen Baumes Cinnamomum camphora bezeichnet. Die meisten dieser Bäume der ganzen Erde wachsen auf Formosa. Aus dem gespaltenen, zerrissenen und zerklopften Stammholz wird durch Wasserdampfdestillation das Kampheröl gewonnen. Der wirksame Bestandteil ist ein Keton von starkem Geruch und bitterem Geschmack. Als Arznei wurde 28 Caddy, John Turner, HM Frigate Pylades 1. Teil, 25.2.–31.12.1858, TNA, ADM 101/167 und: Evans, Evan, HM Sloop Dido 12.9.1851–15.12.1852, TNA, ADM 101/96/4, General Remarks.

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es stimulierend sowohl für das Nervensystem als auch für das Herz verwendet, ebenso bei Lungenentzündung und zur Wundheilung. Die Haut wird gereizt, die glatte Muskulatur der inneren Organe dagegen entspannt. Wir kennen heute den Geruch von Kampher am ehesten von seiner Verwendung als Mottenschutzmittel. Tinctura Opii, Laudanum (Opium) Die Indikationen für Laudanum (synonym Opium) war Sedierung bis zum Schlaf und Schmerzstillung. Die zentralnervöse Erregung des Brechzentrums und die hemmende Wirkung auf das Atemzentrum bis zum Atemstillstand waren als Gefahren gut bekannt. Opium Pills, wie sie in den Schiffs-Arzneikisten vorgehalten wurden, enthielten ein Gran, also 65 Milligramm Opium und waren damit so dosiert, dass sie 20 Tropfen Laudanum entsprachen. In den Pillen war das Opium (getrockneter, eventuell pulverisierter Milchsaft des Schlafmohns, Papaver somniferum Linné) mit Seife vermengt, um die Kügelchen weich zu halten und die vollständige Resorption des Wirkstoffes im Magen sicherzustellen. Opiate sind sehr obstipierend. Sie können den Verdauungstrakt regelrecht lähmen. Verdauungsträgheit war nach den Vorstellungen der damaligen Medizin ein schlechtes Zeichen. So kam es oft zu drastischen Abführmaßnahmen während oder nach einer Behandlung mit Opium. Dass auch das Suchtpotential des als Rauch-Droge verwendeten Opiums zumindest kritischen Geistern klar war, zeigt etwa der Bericht von Dr. Rose in seinem Journal von der Nimrod, wo er von Opiumrauchern als »wandelnden Skeletten, zittrig in jeder ihrer Bewegungen« spricht. (»Opium smoking does fearfull work among whole classes. Walking skeletons, tremolous in all their movements ….«)29 Morphin, das Hauptalkaloid unter insgesamt 40 im Opium enthaltenen Alka­ loiden, war erstmals um 1804 von dem Apotheker Sertürner (1783–1841) isoliert worden. Gegenwärtig enthält das offizinelle, nach dem amtlichen Arznei­buch (»Pharmakopöe«) hergestellte Opium zehn Prozent und die Tinctura Opii ein Prozent Morphin. Die schlafinduzierende Wirkung der bereits 1863 von Adolf Baeyer (1835–1917) synthetisierten Barbitursäure, die das Opium gut hätte ersetzen können, war im 19. Jahrhundert noch nicht erkannt worden.30 Bromide of Potass (Bromsalz) Die Kalium- und Natriumsalze der Bromwasserstoffsäure begegnen uns in der Therapie der Epilepsie, der Syphilis und wegen ihrer deutlich sedierenden, schlaffördernden Wirksamkeit bei Anspannungs- und Erregungszu­ständen, zum Beispiel bei »Delirium tremens«. Bei Überdosierung kann »Bromismus« 29 Rose, John, HM Sloop Nimrod 2. Teil, 24.3.–28.5.1858, TNA, ADM 101/164/1B, General Remarks. 30 Wolf: Erkrankungen des zentralen Nervensystems, S. 42.

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auftreten mit neuropsychiatrischen Symptomen von Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen bis zu Verwirrtheit und Halluzination. Hydrat Chloral (Chloralhydrat) Im Fallbericht einer »Acute Mania« lesen wir von der Verabreichung von drei Drachmen »Hydrat Chloral« mit guter schlaffördernder Wirkung »ohne Kopfschmerzen am Morgen«. (7. Fall »Mania«) Die Menge von umgerechnet rund zwölf Gramm ist im Vergleich zu heutigen Dosierungsempfehlungen um das Zehnfache zu hoch. Glücklicherweise hat die Substanz (ein halogeniertes Alkoholderivat) eine große therapeutische Breite und ein geringes Risiko für Katersymptome. Die Wirksamkeit nimmt allerdings bei täglicher Einnahme nach und nach ab. 1869 war es als schlaffördernde Substanz entdeckt worden. Die Verwendung in dem genannten Fall von »Mania« im Jahr 1872 kann als Beleg für die rasche Aufnahme von Neuerungen in die therapeutische Praxis an Bord der Schiffe der Royal Navy gewertet werden. Dover’s Powder (Doversches Pulver, Stopfpulver) Thomas Dover (1662–1742) wurde mit seiner Mischung aus Ipecacuanha und Opium sehr bekannt (wie im Übrigen auch durch seinen Rücktransport des auf der Südseeinsel Juan Fernandez verschollenen englischen Seemannes Alexander Selkirk, dem Vorbild der literarischen Figur »Robinson Crusoe«).31 Spencer Wells nennt das Pulver ein »Sedativum wie Laudanum«, jedoch »mit erfrischenderem Schlaf und weniger Kopfschmerz«. Fünf bis Fünfzehn Gran, für einen Erwachsenen durchschnittlich zehn Gran (0,65 Gramm), ist die empfohlene Dosis für »Husten, Erkältung und Rheumatismus«.32 Die Wirkung bei Husten erklärt sich aus dem Anteil an Codein im Opium, einem noch heute genutzten (synthetisierten) Alkaloid. Die Dosis an Ipecacuanha, einem starken Brech­mittel, kann nicht hoch gewesen sein, sonst wäre die Medizin nie im Magen geblieben. Anlässlich einer Cholera-Epidemie an Bord der Euryalus wird seine obstipierende Wirkung genutzt.33 Und auch bei Knochen- und Gelenk­ beteiligung (»Periostitis«) der Syphilis kam es zum Einsatz. (18. Fall »Syphilis«) In der »Anleitung zur Gesundheitspflege an Bord« von 1888 ist es immer noch aufgeführt, jetzt als »Stopfpulver«.34

31 Müller: Arzneimittelversorgung; Schadewaldt: Geschichte der Schiffahrtsmedizin, S. 46. 32 Spencer Wells: The Scale of Medicines, S. 181. 33 Morgan, David Lloyd, HM Frigate Euryalus 23.1.–31.12.1862, TNA, ADM 101/174, Gen. Remarks. 34 Kaiserliches Gesundheitsamt (Hg.): Anleitung zur Gesundheitspflege an Bord von Kauffahrteischiffen, Berlin 1888, S. 158.

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6.2.8 Mittel gegen Lähmung Strychnos (Strychnin) Aus der arabischen Medizin kommend wurde der Extrakt der Brechnuss (Nux vomica Linné) als beruhigendes Arzneimittel eingesetzt. In höherer Dosierung führt das Alkaloid zur Blockade hemmender Synapsen und damit zur Reflexsteigerung (»Trismus«) und Krampfanfällen. In toxischer Dosis wurde und wird es in Schädlingsbekämpfungsmitteln verwendet. An Bord wurde es bei Wurmbefall und Durchfallerkrankungen, bei »Wassersucht«, aber auch bei Bronchialasthma, »Neuralgien« und »Lähmungen« eingesetzt. Camphora (Kampher) Im 1. Fall »Paralysis« bei Lähmung eines Armes wird intern mit einer »reini­ genden entzündungshemmenden Verordnung« (darunter Colchicin) behandelt, äußerlich mit Einreibung mit Kampher. (»Rp. pil. Cathartica. Antiphlogistic regimen. Camphorat. Liniment well rubbed over affected part. Cont. foment. and liniment. T colchici gtt xxx ter in die.«)

6.2.9 Mittel gegen Syphilis und Gonorrhoe In den zahlreichen Fallbescheibungen von venerischen Erkrankungen finden sich im Grunde sämtliche an Bord verfügbaren Medikamente wieder. Nichts wurde ungenutzt gelassen, was angesichts der Hilflosigkeit vor dem nach unbekannten Gesetzen abklingenden, oder aber über Jahre unbemerkt fortschreitenden immunologischen Prozess nicht verwundert. Erkenntnisse über die Behandlung der späten Stadien der Syphilis zu gewinnen, wäre mit Blick auf die ausgeprägte neuropsychiatrische Symptomatik von großem Interesse, kann hier jedoch nicht geleistet werden, da praktisch nur die frühen Stadien vorkamen. Dies liegt am niedrigen Alter der meisten Besatzungsmitglieder und an der Tatsache, dass sie bei ausgeprägter Beeinträchtigung nicht mehr an Bord blieben. Einen Einblick in die (vernünftige) therapeutische Auffassung aus der Zeit des mittleren 19. Jahrhunderts verschafft uns die Schlussbemerkung aus dem Journal der Euryalus von 1863. Quecksilber war das Mittel der ersten Wahl, half auch symptomatisch, konnte aber den Verlauf der Krankheit nicht beein­f lussen. (»Having implicit faith in mercury, I have used it in the majority of the cases, but finding that it has not the slightest influence on the progress of the disease, I have latterly not administered it until the secondary stage has set in. The prepara­tions that I have used have been the iodide and bichloride internally; I have al­though employed inunction and fumigation extensively. … I have found the iodide of

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potassium in scruple doses to be of great service, which I have no doubt in large quantities causes absorption of the effused lymph, …«)35 Ein Beispiel für die Polypragmasie ist der 36. Fall »Syphilis«: Auf die ulzerierte Mundschleimhaut wird täglich Silbernitratlösung aufgebracht und mit Myrrhentinktur, Kaliumchlorat, Alaun, Tannin und »Brandy etcetera« gespült. Hinzu kommt die innerliche Verabreichung von Pottasche, Sarsaparilla und zu späterem Zeitpunkt Eisenzitrat und Ammoniak. Knoten in der Haut wurden mit Quecksilbersalbe eingeschmiert und zum Schutz gegen schmerzhafte Berührung dick verbunden. (30. Fall »Syphilis«) In einem Fall von »Nervenschmerzen« (Syphilitic Neuralgia), Ohrgeräuschen (Tinnnitus aurium), hochgradiger Berührempfindlichkeit und heftig einschießenden Schmerzen in der linken Kopfhälfte wird Morphium subcutan injiziert. (32. Fall »Syphilis«) Örtlich wurde mit ätzenden Substanzen behandelt, die in Form des Ätzstiftes (Blue­ stone, Caustic) von manchen Ärzten sehr freizügig, von anderen zurückhaltend eingesetzt wurden. Die Technik beschreibt Surgeon Dickins von der Coromandel: »… from time to time rubbed over with bluestone or the edges ligthly t­ ouched with  a feather dipped in  a moderately strong solution of nitrate of silver. I de­ preciate the routine application of caustic to an established chancre.«36 Nitrate of Silver (Silbernitrat), Zinci Chloridi (Zinkchlorid) An der Wirksamkeit äußerlicher Behandlung der gonorrhoischen Entzündung mit Silbernitrat muss nicht gezweifelt werden. Die oberflächliche Hautschicht konnte in einer oder mehreren Anwendungen von den Krankheitserregern, den Gonokokken, befreit werden. Von Bord der Cockatrice ist die lokale Injektion in die Harnröhre zur Behandlung des typischen gonorrhoischen Ausflusses aufgeführt. (1. und 2. Fall »Syphilis«) Auch Zinkchlorid sowie Zinkoxid (»Zinkweiß, Schneeweiß, ­Nihilum album«) wurden als Ätzmittel zur örtlichen Therapie verwendet. Beide Zinkverbindungen hatten auch ihren Platz als Desinfekionsmittel im technischen Rahmen. Auf die trocknende Wirkung von Copaibabalsam wurde unter den schweißtreibenden Arzneien hingewiesen. Als Mittel zur Wunddesinfektion nach dem Biss eines tollwütigen Hundes (»mad dog«) oder einer Giftschlange (»venomous reptile«) wurde ebenfalls Silbernitrat empfohlen.37 Wir finden einen Fall von Tollwut in den Fallberichten des Abschnittes »Apoplexy« und sehen dort, dass die Verwendung dieses äußerlichen Mittels keine Rettung bringen konnte, wenn es erst zu einer Infektion ge-

35 Zitiert in: House of Commons 1866 (458) Navy (health): Stat. Rep. für 1863, S. 239. 36 Dickins, F. V., HM Sloop Coromandel 1.1.–30.9.1864, TNA, ADM 101/178, General Remarks. 37 Spencer Wells: The Scale of Medicines, S. 185.

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kommen war. Dasselbe muss von den Schlangengiften gesagt werden, wovon es im genannten Abschnitt ebenfalls ein Beispiel gibt. Potass Jodide (Pottasche, Jodkalium) Verschiedene Kalium- und Natriumsalze der Elemente Jod, Chlor und Brom fanden in der Medizin Verwendung. Antiseptisch wirksam sind die HalogenIonen, die aus den Lösungen freigesetzt werden. An dieser Stelle sei auch auf die adstringierende und desinfizierende Wirkung des häufig eingesetzten Kalium­ permanganat und Wasserstoffperoxid hingewiesen, die zur äußerlichen Behandlung verwendet wurden. Alum (Alaun) Alumen oder Alaun (Aluminium-Kalium-Sulphat, ein farbloses, kristallines Pulver, welches in Wasser gelöst Schwefelsäure bildet) wurde hauptsächlich im technischen Bereich der Färberei und Druckerei verwendet, jedoch auch in der Medizin wegen seiner adstringierenden Wirkung lokal und als Bad genutzt. Der »Alaunstift« diente auch als »Styptikum« zur örtlichen Blutstillung. Ferrum sesquichloratum (Eisensublimat) Als weitere ätzende Lösung zur Behandlung von Geschwüren ist in den Rezepturen häufig das »Ferrum sesquichl.« anzutreffen, eine Eisen-Chlor-Verbindung, die in trocken-kristallinem Zustand leuchtend rot, in wässriger Lösung aber tief gelb ist. Die Ätzbehandlungen offener Hautstellen wird zumindest zum Teil erhebliche Schmerzen ausgelöst haben. Darauf deutet die gleichzeitige Gabe von Opiumtropfen beim Verband eines tiefen Geschwüres mit Eisensublimat hin. (6. Fall »Syphilis«) Mercury, Hydrargum (Quecksilber) Unter allen Heilmitteln für Syphilis begegnen wir dem Quecksilber am häufigsten. Zur äußerlichen Anwendung wurde das Ätzsublimat (Merkuri­chlorid, Hydrargyrum bichloratum) seit dem frühen Mittelalter zur örtlichen Behandlung von Ulcera (Hautgeschwüren) eingesetzt. Für Bakterien und andere niedere Lebenswesen ist Quecksilberchlorid schon in sehr geringen Mengen ein tödliches Gift, weshalb es auch im technischen Bereich zur Imprägnierung (»Kyanisierung«, nach dem Erfinder des Verfahrens, John Kyan) von Holz gegen Schwamm und Fäulnis verwendet wurde. Wesentlich häufiger als von der äußerlichen Verwendung erfahren wir von innerlich verordnetem Quecksilber. Die in unseren Quellen dokumentierten Dosierungen waren mit großer Wahrscheinlichkeit bei dem einen oder anderen Patienten schädlich im Sinne einer chronischen Vergiftung, die sich in psychopathologischen und neurologischen Symptomen, vor allem Zittern (»Tremor mercurialis«) zeigt. Eine subakute Intoxi­kation wurde gar angestrebt, indem die Dosierung des Quecksilbers

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so titriert, also eine Obergrenze angestrebt wurde, dass die »Stomatitis mercurialis« sichtbar wurde, das Wundwerden der Mundschleimhaut mit verstärktem Speichelfluss. Zellschädigungen in Darm und Nieren, die dabei auftreten, wurden nicht bemerkt, waren aber sicher regelmäßig vorhanden. Wir sehen bei diesen Nebenwirkungen auch die vielen Seeleute mit unklarer »Debility«Diagnose mit Schwäche, Abmagerung und diffusen neuropsychiatrischen Symptomen vor uns. Blue Pills Dem »Seaman’s Medical Guide« zufolge handelte es sich dabei um eine Quecksilberzubereitung, die bei Gallenbeschwerden und, dreimal pro Woche abends eingenommen, bei venerischen Infektionen hilfreich sein sollte. Extra vermerkt ist die Einnahme bei offenen Geschwüren und Lymphknotenschwellungen, bis die Mundschleimhaut wund wird. Sarsaparilla (Radix Sarsaparillae, Sarsaparillawurzel) Von der Wurzel der Honduras-Sarsaparille, einem kletternden Strauch aus Mittelamerika, wurden Abkochungen hergestellt, die über Jahrhunderte als gutes Antisyphilitikum galten. Dabei scheint es sich nicht um eine spezifische Wirkung auf die Erreger gehandelt zu haben, vielmehr um eine Stoffwechselanregung durch die in der Wurzel enthaltenen Saponine. Aus diesem Grunde kann auch eine gewisse Wirkung bei Rheumatismus beobachtet und sein Einsatz als Diuretikum und Diaphoretikum (Urin- und Schweißförderung) angenommen werden. Im deutschen Arzneibuch war stets nur die HondurasSarsaparilla zugelassen, in anderen Pharmakopöen auch die Extrakte aus anderen Herkunftsländern. Plummer’s Pills Eine von dem schottischen Arzt Andrew Plummer (1697–1756) entwickelte Mischung aus Kalomel, Antimon und Guajak zur Behandlung von Hauterkrankungen, darunter auch der Syphilis. Nur bei einem Fall von Hirnblutung an Bord der Princess Charlotte wird dieses kombinierte Präparat genannt, wobei die Plummer’s Pills neben Kalomel, Chinin, Eisensulphat und Terpentin zum Einsatz kommen. Denkbar, dass die abführende Wirkung der an sich anti­ syphilitischen Arzneimischung als gewisser Erfolg angesehen wurde. (10. Fall »Concussion of the Brain«) Cod Liver Oil (Lebertran) Lebertran wird aus gallefreien Lebern von Dorsch, Kabeljau, Schellfisch und Heilbutt gewonnen, indem man das Öl durch Druck ausfließen lässt oder (nach den gegenwärtigen Arzneibüchern) durch Dampf ausschmilzt. Der Tran ist sehr Vitamin-A- und Vitamin-D-haltig, weswegen sein Haupteinsatzgebiet die Be-

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kämpfung von Rachitis war. Surgeon Nelson wird eine allgemein kräftigende Wirkung für seinen ausgezehrten Syphilispatienten erhofft haben, wenn er ihm Dorschleberöl (Cod Liver Oil«) verordnete. (23. Fall »Syphilis«)

6.2.10 Pflaster (Plaster, Blister) Plaster, Poultice (Pflaster und Packungen) Häufig fanden Pflaster (Plaster, Emplastrum) und Packungen (Poultice) Anwendung. Dies war nicht nur eine traditionelle Weise der Verabreichung eines Medikamentes über die Haut, sondern auch eine auf »Reizung« und »Umleitung« zielende Methode der Schmerzlinderung und Entspannung. Diese Pflaster enthielten Bleisalze der in Fetten, Öl, Wachs und Harz vorkommenden Fettsäuren. Die Haut wurde vor dem Aufbringen mit Olivenöl eingerieben, um eine Schädigung beim Ablösen zu verhindern. Packungen wurden als feuchter Verband sowohl warm als auch kalt angewandt. Wärmende Breiumschläge, zum Beispiel mit Leinsamen (Linseed), waren gebräuchlich bei Bauchbeschwerden, vor allem bei den sehr häufig vorkommenden Leistenbrüchen, die bei Einklemmung lebensbedrohlich sein konnten und auf Wärme entspannend ansprachen. Diese Art Pflaster darf nicht mit Adhesive Plasters zur Fixierung von Wundrändern verwechselt werden. Sinapism, Cataplasm of Mustard (Senfumschlag) Kataplasma (Cataplasma) ist ein weiterer, älterer Ausdruck für Umschläge. Mit stark reizendem Senf bestrichen waren solche Pflaster der Versuch der Wiederbelebung von bewusstseinsgetrübten Patienten mit »Apoplexy« oder »Coma«, aber auch im »Delirium tremens«. Blister, Blistering Plasters (Blasenpflaster) Mit Blasenpflastern wurde eine Blasenbildung der Haut erzeugt. Das »Emplastrum cantharidum« enthielt ein besonders stark hautreizendes Substrat aus der sogenannten Spanischen Fliege, auch Kantharide (eigentlich eine Käferart,­ Cantharis vesicatoria Linné), für das der komplette Käfer zerstoßen und mit Wachs, Terpentin und Öl zu einer Masse verarbeitet wurde, die im mittleren Teil eines weichen, an der Haut gut haftenden Pflasters aufgebracht wurde. Unter diesem Pflaster entstand innerhalb einiger Stunden eine Blase. Das Pflaster wurde entfernt, die Blase aufgeschnitten und die Stelle mit einem neutralen Verband bedeckt. Ein anderes verbreitetes Pflaster war das »Emplastrum cerae«, das »gelbe Pflaster« mit Euphorbiensaft und Bienenwachs. Der Ort dieser Prozedur richtete sich nach dem Krankheitsgeschehen, in das reinigend, die Krankheitsstoffe »herausziehend«, eingegriffen werden sollte. Man hoffte, auf diesem Wege tief sitzende Schmerzursachen indirekt zu er­

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reichen. Im Falle eines fiebrigen, hustenden Patienten mit Symptomen einer Bronchitis konnte die Anordnung »Blister to chest« lauten. In den hier analysierten Fallgeschichten war die Stelle der Anwendung am häufigsten der Kopf, weswegen wir häufig von »Blister behind the ear« lesen und eine Erfolgsmeldung von einer »gut entwickelten Blase« handeln konnte (»Blisters applied on both sides of head have risen well.«) (3. Fall »Syphilis«)38

6.2.11 Salben Ointment, Liniment Eine Vielzahl kühlender, schmerzstillender, heilungsfördernder Salben waren in Gebrauch, die zum Beispiel Wachs (Cerate), Seife (Soap), Kampfer (Camphor), Basilikum (Basilicon), Kamille (Chamomile) und häufig auch Queck­silber enthielten.

6.2.12 Vokskundliche Heilmittel Eine eigene »Schiffs- und Seemannsheilkunde« nennt Bankhofer seine volksheilkundliche Sammlung von unterschiedlichsten Rezepten, Speiseplänen und Verhaltensanweisungen, die von bekannten, offizinellen Kräuteranwendungen bis zum schieren Aberglauben reichen. Er zählt an Beschwerden auch emo­ tionale Störungen wie Heimweh, Nervosität, und Angstzustände auf. Solchen Beschwerden begegnen wir in den ärztlichen Berichten wohl, nicht jedoch den volkstümlichen Rezepturen und Ernährungsempfehlungen wie Schafgarbe, Mistel, Knoblauch, Wacholderbeeren. Bei Heimweh, sicher eine große Not für manchen Schiffsjungen und vielleicht auch für den einen oder anderen erfahreneren Seebären, empfahl man sich gegenseitig Honig, Melissen- und Baldriantee, aber auch das Kauen von Nüssen, Datteln und Pfefferminzblättern.39

6.2.13 Desinfektion Mehrfach lesen wir davon, dass ein Schiff »ausgeräuchert« worden sei. Dies geschah, indem kleine, an Schnüren oder Ketten befestigte Behälter mit brennender Holzkohle, die Schiffsräume durchschreitend, hin- und hergeschwenkt wurden. Auch Rauch aus der Dampfmaschine wurde dafür genutzt. Da dies eng 38 Herstellung und Handhabung der Pflaster beschreibt: Druett: Rough medicine, S. 67. 39 Bankhofer: Schiffs- und Seemannsheilkunde, S.  122. Im Abschnitt »Sexualität an Bord« sind ferner Mittel aus dieser Rubrik gegen Potenzprobleme und -ängste aufgeführt,

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mit miasmatischen Krankheitsvorstellungen verknüpft war, das heißt mit der Annahme, in der Luft schwebten Krankheitsstoffe, die vertrieben werden müssten, trat diese Methode im selben Maße in den Hintergrund, wie sich Vorstellungen von korpuskulär aufgefassten »Keimen« durchsetzten. Carbolic Acid (Karbolsäure) Am häufigsten begegnen wir dem Desinfektionsmittel Carbolic Acid. Es handelt sich dabei um Hydroxybenzol, auch Phenol oder Phenolum, ein Destillationsprodukt aus Steinkohle, das nach heutiger Kenntnis als hoch toxisch und kanzerogen eingestuft wird. Der Surgeon der Nimble versuchte (vergeblich), mit Karbolsäure gegen den Bilge-Gestank anzukommen. Zufrieden äußert er sich aber über deren Anwendung als »perfekter Deodoriser für die Latrinen«. Er beschreibt auch lokale Desinfektion, indem er Baumwolltücher mit Karbolsäure tränkte und sie so als Verbandskompressen verwendete.40 Chlorine Gas (Salz- und Schwefelsäure) Im Abschnitt über das Lazarett hören wir vom Gebrauch von Chlorinegas zur Desinfektion der Räume nach einer Epidemie von »Cynanche« (Rachen­ infektion), die einen großen Teiles der Besatzung erfasst hatte. Man konnte die extrem toxische Eigenschaft des Chlorgases, das mit Hilfe von Salzsäure gewonnen wurde, nutzen. Dieses Verfahren nennt der Schiffsarzt die »Methode nach Faraday«. Ähnlich wurde auch Schwefelsäure eingesetzt. Zinci Chloridi (Zinkchlorid) Wie die Karbolsäure wurden auch Zinksalze zur Desinfektion von Kleidung und Räumen, aber auch zur bloßen Luftverbesserung (Deodorising) im Krankenquartier und in der Bilge verwendet. Sir William Burnett, erster Chef des Medical Deparment, hatte schon in den 1830er Jahren die Verwendung von Zinkchlorid als Deodoriser und Desinfectant eingeführt.

6.3 Untersuchungsinstrumente Neben der Angabe von Pulsfrequenz und Pulsqualität, für die es keine Hilfs­ mittel braucht, ist der häufigste somatische Befund die Körpertemperatur. Seit 1811 wurde ein Thermometer eingesetzt. Ein Schiffsarzt (der Alphoea) maß »neben der Zunge des Patienten«, ein anderer (an Bord der Cerberus) in der 40 Murray, George B., HM Sloop Nimble 1.  Teil, 31.10.1870–31.12.1871, TNA, ADM 101/184/1A, General Remarks. Joseph Lister, der als einer der Pioniere der Asepsis gilt, hatte 1867 die lokale Desinfektion mit Karbolsäure (Carbolic Spray) bei chirurgischen Eingriffen eingeführt.

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Untersuchungsinstrumente

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Axilla41 (Achselhöhle), im 9. Fall »Heat Stroke« ist eine Temperaturmessung im Mund festgehalten. Nur an wenigen Stellen wird das Stethoskop ausdrücklich genannt. Ein­ Surgeon beklagt, der Schiffsbetrieb mache so viele Störgeräusche, dass ihm die Verwendung eines Stethoskopes nahezu unmöglich sei. In mehreren Fallbeschreibungen sind aber Auskultationsbefunde des Herzens mit Unter­ scheidung und Beschreibung der Herztöne und differenzierte Auskultationsbefunde der Lunge so genau festgehalten, dass die regelmäßige Verwendung eines – sicherlich noch hölzernen, steifen – Stethoskopes anzunehmen ist. 1822, mithin nur drei Jahre nach Beschreibung der Methode durch Laennec,42 hatte William Burnett, späterer Leiter des Medical Departments, die Verwendung des Stethoskopes an Bord der Navy-Schiffe eingeführt.43 Seltsamerweise ist es in der Instrumentenliste der Medical Instructions von 1825, im Gegensatz zum Fahrenheit’s Thermometer, nicht aufgeführt.44 Ein Otoskop (Ohrenspiegel) ist anlässlich einer Untersuchung eines Bootsmannes der Fly im Jahre 1875 erwähnt. Dieser Mann litt unter einer rasch fortschreitenden Schwerhörigkeit beider Ohren. (»Examined ears with the otoscope nothing can be detected to account for the symptoms.«) (20. Fall »Overanxiety«) Von Mikroskopen lesen wir an verschiedenen Stellen, sei es anlässlich der Untersuchung, welche Mikroorganismen sich im Bilgenwasser tummeln, sei es zur Diagnosestellung der Gonorrhoe oder zur Leuko­zyten- und Erythrozyten-(Blutkörperchen-) Zählung. Auf einen Reflexhammer zur Auslösung der Muskeleigenreflexe, eine der basalen und sehr aussagekräftigen neurologischen Untersuchungsmethoden, stoßen wir in den Journalen ebenso wenig wie auf die Verwendung desselben Gerätes im Sinne eines Perkussionshammers, um abnorme Luft- oder Wasseransammlungen im Köperinneren festzustellen. Da der Reflexhammer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Gebrauch kam,45 wird er auf den Schiffen verwendet worden sein. Auch das Ophthalmoskop oder der Augenspiegel ist nicht erwähnt. Die Erfindung Hermann Helmholtz’ (1821–1894) aus dem Jahre 1850, die einen direkten Blick auf den Augenhintergrund erlaubt, hätte die von 41 House of Commons 1903 (301) Navy (health): Stat. Rep. für 1902, S. 132. Ebenso die Angabe »Temperature in axilla, 105°Fah.« im 17. Fallbericht des Abschnittes »Heat Stroke«. 42 Das Stethoskop war erstmals 1819 von René Laennec (1781–1826) in seinem Werk über die »mittelbare Auskultation« beschrieben worden und stellte eine entscheidende Ver­ besserung gegenüber dem schon in der Antike angewandten Anlegen des Ohres an den Körper des Kranken dar. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam in Großbritannien das mit einem Schlauch versehene, nunmehr flexible Stethoskop auf, nochmals rund 50 Jahre später wurde es mit zwei Schläuchen versehen, so, wie wir es heute kennen. Vgl.: Wolf: Erkrankungen des zentralen Nervensystems. 43 Lloyd, Coulter: Medicine, Vol. IV. 44 Appendix No. 3 in Regulations and Instructions, for the Medical Officers of His­ Majesty’s Fleet. 45 Wolf: Erkrankungen des zentralen Nervensystems.

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Therapie an Bord

den Schiffsärzten regelmäßig durchgeführte Prüfung der Pupillenreaktion um eine wesentlich genauere Diagnostik des Funktionszustandes des Gehirnes ergänzen können. Mehrfach ist aber bei Augenuntersuchungen die Verwendung einer »Lichtquelle« genannt, die nicht näher beschrieben ist. Eine solche wurde zur Feststellung der Pupillenreaktion gebraucht, deren Bedeutung für die Einschätzung einer Gehirnverletzung bekannt war. Vermutlich war die Lichtquelle eine Kerze oder eine Öllampe. Man darf davon ausgehen, dass die Augen auch mit Lupen untersucht wurden, denn Fälle von Konjunktivitis und Iritis (Bindehaut- und Regenbogenhautentzündung) waren keine Seltenheit. Nur ein einziger Hinweis fand sich zur Sehkraft der Männer an Bord. Im Falle eines Heizers der Ringdove ist festgehalten, er sei extrem kurzsichtig und stolpere über jeden herumstehenden Eimer. (35. Fall »Syphilis«)

6.4 Todesfeststellung Eine bestimmte, operationalisierte Kriterienliste für die Todesfeststellung ist in keinem der Medical Journals zu finden. Während der Behandlungen wurde die Pupillenreaktion, die Pulsfrequenz und Pulsqualität sowie die Atmung der Patienten regelmäßig dokumentiert. Mit dem Ausfall dieser Funktionen stehen die sogenannten unsicheren Todeszeichen zur Beurteilung zur Verfügung. Nur selten ist die Totenstarre (»Rigor mortis«) als sicheres Todeszeichen festgehalten. Wir finden in den Verlaufsberichten den Todeszeitpunkt mit Datum und Uhrzeit (Ortszeit) und bei Seebestattungen die Ortsangabe in Längen- und Breitengraden vermerkt. Stets wurde eine Obduktion durchgeführt. Jede Ausnahme wird begründet.46 In einem Fall waren »so viele Invalide an Bord«, dass keine »examination of the body« durchgeführt wurde (38. Fall »Debility«), in einem anderen Fall wird die tropische Hitze und Schwüle als Grund einer unterlassenen oder unvollständig durchgeführten Obduktion angegeben. (3. Fall »Concussion of the Brain«) Schließlich war offenbar bei tödlichen Verwundungen im Kampf eine vollständige Untersuchung der Leiche nicht zwingend vorgeschrieben.

46 Auf die herausragende Bedeutung der Obduktion, förmlich ein Paradigma der Medizin des 19. Jahrhunderts nicht nur in Europa, sondern im ganzen britischen Empire weist Arnold hin. Seine Monographie widmet sich der gar nicht hoch genug zu veranschlagenden, oberflächlich zunächst verborgenen, kulturell aber zutiefst determinierten Bedeutung des Umganges mit der menschlichen Leiche. Vgl.: Arnold: Colonizing the body.

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7. Ergebnisse

7.1 Alltagssituation Wie stellte sich die Alltagssituation in psychologischer Hinsicht dar? Um eine bloße Aufzählung von Phänomenen mit der Gefahr der Unübersichtlichkeit und dem Eindruck der Zufälligkeit zu vermeiden, soll eine sinnvolle psychologische Systematisierung anhand der an Bord auftretenden Ängste versucht werden.

7.1.1 Vier Grundängste Eine solche systematische Unterteilung soll nach der Form der Ängste vorgenommen werden, die die spezifische Situation an Bord in den Menschen wachruft und auf die mit verschiedenen Abwehr- und Schutzreaktionen ge­ antwortet wird. In Anlehnung an die vier »Grundformen« der Angst, wie sie Riemann1 herausgearbeitet hat, können die vorgefundenen Phänomene folgendermaßen dargestellt werden: Die Angst vor Ich-Verlust und Abhängigkeit: Die Unentrinnbarkeit mit fehlenden Rückzugsmöglichkeiten an Bord stellt eine Belastung für den Wunsch nach Selbstbestimmung und Abgrenzung dar. Allein die für die hier untersuchten Schiffe der Kriegsmarine dargestellte erzwungene Nähe untereinander, der eine nicht viel geringere Enge in den Quartieren der Handelsschiffe entsprach, die unbedingte vertragliche Bindung an das Schiff, solange die Reise oder das militärische Kommando andauerte, bedeutete starke Fremdbestimmung und geringe Möglichkeit zur selbstbestimmten Grenz­ziehung zwischen fremder und eigener Willensäußerung. Besondere Bedeutung wird diese psychische Konstellation bei denjenigen bekommen haben, deren Motivation, an Bord zu gehen, gerade dem Wunsch entsprang, sich aus 1 Riemann, Fritz: Grundformen der Angst, Darmstadt 2009. Dem Grundgedanken folgend, »die Geschichte der Menschheit lasse immer neue Versuche erkennen, Angst zu bewältigen, zu vermeiden, zu überwinden oder zu binden« (ebd., S. 19), legt Riemann ein Modell vor, in dem er die unendliche Vielfalt von Ängsten in vier Grundformen einteilt. Das Buch des Psychoanalytikers erschien erstmals 1961.

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Abhängigkeiten ihrer Lebenssituation an Land zu befreien. Die Bedingungen der Enge und des Eingeschlossenseins zeigen sich im bloßen Faktum des AnBord-Seins, in der beengten Unterkunft, der schlechten Luft, den mangelnden hygienischen Möglichkeiten und an einigen weiteren Details. Die Angst vor Ungeborgenheit und Isolierung: Die durchgängige, strenge Erwartung jedem einzelnen gegenüber in Bezug auf seine Funktion für den Arbeitsablauf an Bord, die Reduzierung auf den zu­ geteilten Dienstposten, teilweise mit buchstäblicher Identifizierung einer Person mit einer Nummer, stellt eine Belastung für den Wunsch nach Geborgenheit in der Gruppe dar. Allein die Entfernung von der Heimat, die räumlich und zeitlich nirgends größer war als in der Seefahrt, war eine solche Belastung. Das Fehlen von Frauen an Bord stand für das Fehlen einer mütterlichen Position, die solche Geborgenheit vermitteln könnte, nicht nur, aber besonders für die mit zwölf bis sechzehn Jahren mitten in der Pubertätsphase an Bord kommenden jüngsten Besatzungsmitglieder. Aber auch die Ohnmacht angesichts der Situation auf hoher See mit den Gefahren des Schiffbruches und des Ertrinkens in der unendlichen Wasserwüste mobilisierte diese Seite der Angst. Die Angst vor Unsicherheit: Das ständige Ausgeliefertsein an Gefahren und die Ungewissheit, wie die Reise verlaufen wird, stellt eine Belastung für den Wunsch nach Sicherheit und Ordnung dar. Die Ungewissheit der Fahrtroute und der Fahrtdauer ergab sich aus der technologischen Situation des Segelschiffes, weil der Wind die große, unberechenbare Unbekannte war. Bei der Kriegsmarine kam die Ungewissheit militärischer Aufgaben hinzu. Die grundlegende Angst bezog sich aber auf die Frage, ob man überhaupt lebend zurückkommen würde. Zwar nahm die Mortalitätsrate gerade in den hier untersuchten Jahrzehnten entschieden ab, die Zeit mit einer Sterblichkeit von fünf Prozent während der Verpflichtung auf einem Schiff der Royal Navy lag aber erst so kurz zurück, dass sie im gemeinsamen Gedächtnis noch eine erhebliche Rolle gespielt haben wird. Dabei machten nicht Kriegshandlungen das Gros der Todesfälle aus, sondern Krankheit und Unfall. Und aus banalen Krankheiten und Bagatellverletzungen konnten sich jederzeit lebensbedrohliche Situationen entwickeln. Dies war dem im 19. Jahrhundert bestehenden medizinischen Standard geschuldet.

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Die Angst vor Unfreiheit Die allgegenwärtige Kontrolle an Bord durch die hierarchischen Strukturen ebenso wie durch die Rollenerwartungen innerhalb einer hierarchischen Ebene stellt eine Belastung für den Wunsch nach Freiheit und Grenzüberschreitung dar. Alles an Bord stand unter gegenseitiger Beobachtung, Kontrolle und Normierung, nicht nur durch die offen geübte Disziplin und die damit verbundene Sanktionierung, sondern auch durch die vielen verborgenen, impliziten Regeln, Abmachungen und Mechanismen. Sie konnten unausgesprochen bleiben und waren doch omnipräsent.

7.1.2 Bewältigungsmechanismen Welche Bewältigungsmechanismen standen zur Verfügung? Der Richtung der angesprochenen Ängste entsprechend sind folgende Verhaltensweisen als Bewältigungsversuche anzusehen: Innere und äußere Distanz Gegen die Angst vor Vereinnahmung und verlorengehender Selbstbestimmung gab es immer dann, wenn das Schiff im Hafen lag, die Möglichkeit zu ent­laufen, zu desertieren, wie es im militärischen, später auch im zivilen Bereich genannt wurde. Dies war eine hochriskante Handlungsweise, die gleichwohl so häufig ausgeführt wurde, dass sie über Jahrzehnte hinweg viele Gegenmaßnahmen auf den Plan rief. In den Köpfen vieler Männer an Bord, vor allem der nicht freiwillig an Bord Gekommenen, hatte der Gedanke an das Desertieren eine große Rolle gespielt. In den hier untersuchten mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war diese Problematik als Massenproblem zwar de facto überwunden, es war damit aber noch nicht aus dem Bewusstsein der Seeleute gelöscht. Vor dem Schritt der Desertion ist als Bewältigungsmechanismus die an Bord untereinander aufrechterhaltene Distanz anzusehen. Die Gruppe der Offiziere pflegte einen höflich distanzierten Umgang in Sprache und Verhalten, und man blieb in aller Regel beim »Sie« und beim Familiennamen. Doch auch die Mannschaft, für die das »Du« und der Vorname selbstverständlich war, konnte sich fremd und unbekannt bleiben, wenn nicht ein Freundschaftsverhältnis besondere Nähe ermöglichte. Schon die bürgerlichen Namen blieben häufig hinter fiktiven, aus der Rolle, dem Aussehen oder einer Eigenart sich ergebenden Rufnamen allen an Bord verborgen, und es war nicht selten, dass die Biographie des Einzelnen eine unbekannte Größe war und blieb.

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Gruppenkohäsion Gegen die Angst vor dem Mangel an Geborgenheit und dem Vereinsamen wirkte die hohe Gruppenkohäsion, das Eingebundensein in die »Wache« als der wichtigsten Einheit an Bord. Mit den fünf, sechs oder höchstens zehn anderen Männern einer Wache teilte man sich den Suppen- und Fleischtopf, den Tagesrhythmus der Arbeit, den Einsatzort in Form eines bestimmten Mastes, eines bestimmten Segels, eines bestimmten Bootes und Ruders. War man zu Beginn der Reise durch Wahl des Kapitänes und Ersten Steuermannes oder Offizieres einer der zumeist zwei, seltener drei Wachen zugeteilt, blieb man während der ganzen Reise in dieser Wache. Auch auf den Kriegsschiffen mit einer größeren Anzahl funktionaler Untergruppen gab es stets solche feststehenden Zuordnungen. Der Gruppe der Offiziere stand dieses intensive Angebot an Gruppenkohäsion nicht in demselben Maße zur Verfügung, allein schon wegen ihrer viel geringeren Anzahl. Für begrenzte Zeit konnte die Krankenstation an Bord ein Ort der Geborgenheit innerhalb des Funktionssystemes des Schiffes darstellen. Härte und selbstloser Einsatz Vor der Angst vor Unsicherheit und damit vor Kontrollverlust über die eigene Situation und über das Geschehen auf dem Schiff schützte das Selbstbild betonter Härte und Konsequenz und die Haltung des selbstlosen Einsatzes. Man dachte sozusagen nicht an sich, man dachte an das Schiff. Faktum und Illusion der möglichen Kontrolle können dabei verschwimmen. An äußeren Bekundungen von Sicherheit und Ordnung fehlte es an Bord eines Schiffes, zumal eines Kriegsschiffes, nicht, gab es doch neben der lückenlos aufrechterhaltenen Disziplin eine Vielzahl von Sanktionen für Normüberschreitungen einschließlich der Sanktionen innerhalb der hierarchischen Gruppe, teilweise im Sinne der von den Offizieren geduldeten Selbstjustiz innerhalb der Mannschaft. Die große Freiheit an Land Gegen die Angst vor allzu großer Einengung und Festlegung wirkten die über längere Strecken seltenen, aber doch regelmäßig wiederkehrenden Möglichkeiten, sich außerhalb der sozialen Kontrolle auszuleben, ja regelrecht auszutoben. Hierunter sind nicht nur die kleinen Freuden des Plauderns, Singens und sportlicher Wettkämpfe zu verstehen, sondern auch die in allen Quellen beschriebenen Exzesse während des Landurlaubes in Form von Alkoholkonsum, prostituierter Sexualität und anderen riskanten Verhaltensweisen. Zumeist wird dieser Ausgleichsmechanismus in unauffälligeren Formen vor sich gegangen sein, blieb aber doch »stilbildend« für das Bild des Seemannes an Land und grundlegend für die Tatsache, dass es den einfachen Seeleuten in der Regel nicht gelang, sich ein nennenswertes Guthaben zu erarbeiten.

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7.1.3 Coping-Strategien Als wichtigste Coping-Strategien, worunter wir Verhaltensmuster zur Bewäl­ tigung von Krisensituationen bei psychischer und physischer Bedrohung, Verletzung und Erkrankung verstehen, finden wir: Identifikation mit dem Schiff Die Identifikation mit der Mannschaft eines Schiffes, oft ausgedrückt als Iden­ tifikation mit dem Schiff selbst: Die gegenseitige Abhängigkeit, bedingt dadurch, dass man wortwörtlich im selben Boot saß, erzeugte ein wirkmächtiges »Wir-Gefühl«. Dieses ließ Strapazen aushalten, und dieses wurde auch befördert, zum Beispiel in der stark appelativen, manchmal beschwörenden Ansprache des Kapitäns zu Beginn der Seereise. Frustrationstoleranz Die Fähigkeit zur Frustrationstoleranz: In der konkreten seemännischen Arbeit konnte es erforderlich sein, Hunger, Kälte und Nässe so lange zu ertragen, bis ein Gefahrenpunkt überwunden oder ein bestimmter Abschnitt der Fahrt zu Ende war. Dieselbe Toleranz war auch bei lange unmöglichem oder unmöglich gemachtem Landgang und bei Vorenthalten der Heuer aus den unterschiedlichsten Gründen notwendig, wenn es keine Abhilfe gab. Triebaufschub Die Fähigkeit zum Triebaufschub: Viele Bedürfnisse wurden klar wahrgenommen, konnten aber, was genauso klar war, nicht befriedigt werden. Nicht für alle solche Dissonanzen standen Ausweichmöglichkeiten zur Verfügung, weder bewusste Ersatzbefriedigungen, noch unbewusste Verschiebungen. Dann war die Fähigkeit gefordert, das gefühlte Bedürfnis selbst auszuhalten und aufzuschieben, bis der Zeitpunkt gekommen war, ihm Erfüllung zu geben. Wir finden solche aufgeschobenen und keineswegs vergessenen Impulse für den Bereich der Sexualität, der körperlichen Auseinandersetzung oder auch des Alkohol­ konsumes. Gewartet wurde im Kleinen auf das Ende eines schwierigen Segelmanövers oder eines schweren Wetters, auf einen nächsten ruhigen Tag oder auch auf eine Gelegenheit für eine Revanche in guter oder böser Absicht, im Großen auf den nächsten Hafen mit dem ersehnten Landgang.

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7.1.4 Coping durch Verdrängung Zu Hilfe kam den Menschen an Bord neben den bewussten und absichtlichen Handlungsweisen auch die Verdrängung seelischer Inhalte in das Unbewusste. Unter den verschiedenen Arten der Verdrängung lassen sich folgende mit Befunden aus der Studie belegen: Die Verleugnung Die Verleugnung: Das Negieren und Ungeschehenmachen ist offenkundig die Abwehrleistung, wenn wir bedenken, wie unerschrocken und scheinbar angstfrei die »Toppgasten« in den hohen und höchsten Teilen der Takelage zugange waren und dort oben nicht nur ihre Arbeit erledigten, sondern auch noch übermütige Kunststücke vorführten. Immer wieder wurden die wahrhaft heroischen Bilder dieser Männer und oft genug dieser Jugendlichen auf den Rahen im Sturm beschrieben. Da bei dieser Arbeit Unfälle nicht selten waren, ist die Bereitschaft, weiterhin und auch unmittelbar nach einem Unfall in die Höhe zu klettern, mit einer solchen Fähigkeit der Verleugnung des tatsächlichen Risikos in Verbindung zu bringen. Die Projektion Die Projektion: Mancher Konflikt, der der Arbeit auf einem Schiff innewohnt, wurde durch Verlagerung der gesamten Verantwortung auf den Kapitän als obersten Vorgesetzten an Bord einseitig »gelöst«. Die mit einer solchen Projektion eigener Anteile in eine andere Person einhergehende Entlastung der eigenen emotionalen Auseinandersetzung bleibt der betreffenden Person unbewusst. Sie »merkt« diese Entlastung der eigenen Psyche auf Kosten eines anderen nicht, wenn wir im vollgültigen Sinne von »Projektion« sprechen. Auch der »schmutzige« Ruf des Kochs oder die Sündenbockrolle eines neu an Bord gekommenen jungen und unerfahrenen Besatzungsmitgliedes können Beispiele dafür sein, wenngleich manches Mal ein Übergang zu sehr wohl bewussten Vorgängen im Sinne guter und schlechter Rituale angenommen werden muss. Auch die neben echter Frömmigkeit weit verbreitete abergläubische Haltung des Seemannes ist als Bewältigungsstrategie durch Projektion unbekannter und un­ berechenbarer Gefahrenmomente auf Nebensächliches, primär nicht emotional Aufgeladenes zu verstehen. Das Abergläubische verkörpert nicht das Transzendente, die Erfahrbarkeit Übersteigende, sondern ist »nur« Projektion auf etwas anderes Erfahrbares.

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Die Verschiebung Die Verschiebung: Hier sind die Rituale zu nennen, sofern sie nicht nur die explizit gemachten sozialen Funktionen erfüllten, sondern auch halfen, emo­ tionale Spannung, Angst, Furcht, Wut, Trauer und weitere schmerzliche Gefühle auf ganz andere Bereiche zu verschieben. Die auffällig große Bedeutung des Alkohols und des Tabaks, ja auch des ganzen Essens und Trinkens geht weit über rational nachvollziehbare Begründungen hinaus und kann zumindest zu einem wesentlichen Teil als Ort solcher Verdrängung durch Verschiebung aufgefasst und erklärt werden. Die Abspaltung Zwischenmenschliche Konflikte bilden sich intrapsychisch, im Inneren eines einzelnen Menschen vollständig ab. In manchen Fällen spüren wir widersprüchliche Strebungen, gerade wenn es eine unlösbare Pattsituation ist. Um die daraus resultierende Spannung auf ein erträgliches Maß zu reduzieren, steht uns der Verdrängungsmechanismus der Abspaltung eines Teiles des schuld­ beladenen Wunsches, der quälenden Angst oder des zwiespältigen Impulses zur Verfügung. Diesen Vorgang können wir in dem in der Literatur häufig recht pejorativ kommentierten Männlichkeitsbild des Seemannes erkennen. Der diesem Bild zufolge harte, selbstlose, angstfreie und untreue, eben männliche Seemann sah sich in dieser Weise unter Abspaltung seiner weichen, egoistischen, angstvollen und einsamen Anteile, und er konnte dieses Bild von sich abgeben, da ihm ein vollständigeres nicht zur Verfügung stand. »Vollständig« war er natürlich sehr wohl, aber er wusste es nicht. In absichtlichen, vor allem aber unabsichtlichen Handlungsweisen konnten diese verdrängten Persönlichkeitsanteile zum Vorschein kommen und dann ihrerseits Konflikte auslösen. Die projektive Identifikation Die projektive Identifikation: Auch diesem etwas komplizierteren Verdrängungsmechanismus, der die Hineinverlagerung des eigenen Selbst in einen Anderen meint mit dem Zweck, diesen Anderen zu kontrollieren, zu besitzen oder ihm zu schaden, begegnen wir an Bord. Zu denken ist vor allem an die vielfach berichtete Bereitschaft zu körperlicher Auseinandersetzung, die sich in der auf britischen Schiffen üblichen, festen Formel des »Do you want a fight?« besonders prägnant ausdrückt.

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7.2 Die psychopathologischen Störungsbilder Was lässt sich über die psychopathologischen Störungsbilder aussagen? Wie bereits im Einleitungskapitel sei nochmals betont, dass die Begriffe »Störungsbild« und »Krankheit« respektive »Erkrankung« gleichbedeutend gesehen, synonym verwendet und keiner von beiden mit einer moralischen Wertung verbunden wird. Am häufigsten verwende ich den Begriff »Störungsbild«, da es im international angestrengten Bemühen um Entstigmatisierung von psychischer Krankheit die politisch korrektere Ausdrucksweise geworden ist.

7.2.1 Beschreibung und Diagnostik In der überwiegenden Zahl kann von einer recht hohen Zuverlässigkeit der diagnostischen Einordnung nach den Originalschilderungen im historischen Zusammenhang ausgegangen werden. Insbesondere gilt dies für die Störungsbilder mit einer stark somatisch-neurologischen Beteiligung, wie den Kopf­ verletzungen, den Lähmungen und den verschiedenen Formen der Epilepsie, während bei den »Debility« genannten Schwächzuständen und den eher bunten Erscheinungsformen der Anpassungsstörungen eine nachträgliche diagnostische Einordnung mit größerer Ungenauigkeit behaftet bleibt. Entsprechende mehrfache Lesarten und Interpretationsmöglichkeiten wie auch offenbleibende Zweifelsfälle werden in der Auswertung der Fallabschnitte ausdrücklich genannt. Meine Studie hatte die Erfassung aller in den Quellen beschriebenen psychopathologischen Störungsbilder zum Ziel. Hierfür durfte ich mich nicht nur auf die von den Schiffsärzten des 19.  Jahrhunderts gestellten Diagnosen stützen, sondern hatte ohne vorherige diagnostische Festlegung die Beschreibung der Phänomene auszuwerten, wie sie in den Verlaufsdarstellungen als Anfangssymptomatik, als Entwicklung des Krankheitsbildes, als verbleibende Symp­ tomatik bei Ende des Beobachtungszeitraumes und schließlich bei letalem Ausgang als Befunde der Leichenobduktion dargestellt sind. Nimmt man diese Phänomenologie zur Kenntnis, finden wir einen vollständigen Kanon von psychopathologischen Störungsbildern vor, wenn wir unser modernes diagnostisches Verständnis auf die in alten Begrifflichkeiten gegebenen Schilderungen einschließlich der seinerzeit gestellten Diagnosen anwenden. In den Listen der durch die Schiffsärzte gestellten Schlussdiagnosen bildet sich eine geringere Zahl psychopathologische Störungsbilder ab als wir heute aus den Beschreibungen rekonstruieren können, denn für viele heute klar abgegrenzte Krankheiten (»nosologische Einheiten«) gab es zu jener Zeit noch keinen eigenen Begriff. Beobachtet wurden zwar »Depression«, »Angst«,

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»Furcht«, »Panik«, »Suizidalität«, »wahnhafte Überzeugung«, genannt wurde es aber »Schwäche«, »Erregung« und oft nur »Ungehorsam«. Vieles war anderen Krankheitsbegriffen untergeordnet. Die Benennung der Störungsbilder entsprach der damals geltenden medizinischen Lehre von Ursache, Entstehung und Anlass von Krankheit. Die somatischen Zusammenhänge wurden gerade im 19. Jahrhundert in raschem Fortschritt immer besser verstanden. Das Verständnis ihrer sozialen und psychologischen Faktoren war jedoch erst im Entstehen begriffen. Die damalige Vorstellungswelt weicht erheblich von unseren heutigen Überzeugungen und Denkgewohnheiten ab. Wenn wir uns der theoriegeleiteten Herangehensweise der Vergangenheit ebenso bewusst werden wie der unserer eigenen Urteilsbildung und die Beschreibungen selbst wahrnehmen und auf uns wirken lassen, sehen wir in den historischen Dokumenten eine beeindruckend sichere phänomenologische Erfassung all der individuellen Leiden, der Erkrankungs- und Genesungsverläufe und bleibenden Einschränkungen. Wenn wir also feststellen, dass wir einen vollständigen Kanon psychia­ trischer Krankheiten vorfinden, sollten wir uns dessen bewusst sein, dass auch unsere gegenwärtige nosologische Einteilung, die uns die »vollständige« Liste von Krankheiten liefert, kontextabhängig ist. Was im Kontext des beginnenden 21. Jahrhunderts klar und wohlunterschieden als »Element« gilt, wird sich in einem späteren und veränderten Kontext anders darstellen, teils als eine neue Einheit von bislang Getrenntem, teils als Auffächerung von bisher gemeinsam Gedachtem. Nicht nur gehört es zur Natur psychischer Störungen, dass wir mit rein subjektiv erlebten Phänomenen des Betroffenen umgehen müssen, sondern auch, dass selbst die beobachtbaren Phänomene, die es durchaus auch gibt, interpretationsbedürftig sind. Im Falle der psychischen Erkrankungen ist ferner zu bedenken, dass die jeder Beobachtung zugrunde liegende Theorie von besonders großer Bedeutung ist, da an der Unspezifität psychischer Symptome hinsichtlich ihrer Verursachung nicht vorbeizukommen ist. All unser Zugewinn an Erkenntnissen hat nichts an dieser Einschätzung verändern können. Wir finden mit immer besser werdenden Untersuchungsinstrumenten immer mehr kausale Zusammenhänge, aber dies sind keine monokausalen Zusammenhänge, sondern stets rekursiv wirkende Verknüpfungen. Durch die sich ausdifferen­ zierende Detailkenntnis und Theoriebildung wird die Komplexität des jeweiligen Sachverhaltes größer. Für den Einzelfall erhalten wir durch Wissenszuwachs bei weitem nicht immer eine Eindeutigkeit und oft keine Einengung, sondern eine Erweiterung an möglichen Erklärungen.

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7.2.2 Somatische gegenüber psychischen Auffälligkeiten Psychiatrische Diagnosen und psychologische (Problem-)Beschreibungen aus der Feder der Schiffsärzte sind innerhalb der regelmäßig und umfangreich erstellten Berichte nicht häufig zu finden. Sie sind, wenn wir die Diagnosetabellen zum Schluss der Medical Journals heranziehen, 400- bis 100fach seltener als somatische Diagnosen, am seltensten in den frühen Berichten. Eine relativ große Untergruppe stellen die venerischen Erkrankungen mit fünf bis zehn Prozent aller erfassten Krankheitsfälle dar, wobei neuropsychiatrische Symptomatik nur in einem kleinen Teil dieser Fälle festgehalten ist. Größer wird die Relation, wenn wir nicht die Schlussdiagnosen, sondern die in den Verlaufsdarstellungen beschriebenen, bei weitem nicht immer als psychische Problematik aufgefassten psychopathologischen Syndrome betrachten. Hier kommt bei grober Schätzung auf 50 bis 100 somatische Krankheiten ein neuropsychiatrisches Störungsbild, gleichmäßig schwankend verteilt über alle Jahre. Mehrere Faktoren sind für dieses Ungleichgewicht verantwortlich: Die seltenere Manifestierung von durchaus vorhandener psychischer Spannung, von gestörtem inneren Gleichgewicht und von subjektivem Leiden; die seltenere Kommunikation solcher Zustände als problematisch und veränderungsfähig; die Unterdrückung der Konsequenzen über kürzere oder längere Zeit durch disziplinarische Regeln; und schließlich die individuell variierende Sensibilität des protokollierenden Arztes an Bord. Schrieb er es nicht nieder, tat es bis auf die wenigen Ausnahmen von Tagebüchern oder literarischer Produktion durch Seeleute niemand. Eine vermehrte Wahrnehmung und häufigere Dokumentation psychischer Aspekte im Laufe der untersuchten fünf Jahrzehnte deutet sich zwar in den genannten Zahlen an, von einer allgemeinen oder durchgehenden Haltungsänderung wird man jedoch nicht sprechen wollen. Der interindividuelle Unterschied von Arzt zu Arzt in Verbindung mit unterschiedlicher Ein­ stellung der Schiffsführung überwiegt gegenüber einer allgemeinen Entwicklung, die bis 1880 noch unterschwellig blieb. Erst für die Jahrhundertwende um 1900 ist mit der »Entdeckung« der Psychologie zu rechnen, aber bis zum heutigen Tag bleibt der Befund einer erheblichen Verleugnung psychischer Problematik besonders an Bord von Schiffen bestehen.

7.2.3 Diagnostische Intuition Besonders was die psychiatrische und neurologische Symptomatik betrifft, diagnostizierten und therapierten die Ärzte an Bord intuitiv und nach ganz persönlicher Abwägung. Aus den untersuchten Manuskripten spricht eine von Arzt zu Arzt unterschiedliche Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsfähigkeit

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für psychopathologische Phänomene. Die Genauigkeit der Fallbeschreibungen ist dementsprechend verschieden ausgeprägt. Ein weiterer bemerkenswerter Befund ergibt sich aus der gesamten Lektüre der schiffsärztlichen Berichte: Die Abwesenheit jeglicher moralisierender Haltung. Dies wird besonders deutlich in den kasuistischen Abschnitten zur Alkoholproblematik und zur Suizidproblematik. Selbst dort, wo offen von gesundheitsschädlichem Verhalten auf Landgang gesprochen wird, formulieren die Surgeons beklagenswerte Zustände, ohne dabei anzuklagen.

7.2.4 Diagnostische Mühe Durchgängig ist in den Aufzeichnungen der Medical Journals erkennbar, dass sich die Schiffsärzte um präzise Diagnosen bemühten. Die Klarheit und Stringenz der Berichte von den anamnestischen Angaben über die Symptombeschreibung bis zur diagnostischen Beurteilung und therapeutischen Schlussfolgerung beeindruckt den Leser auch aus 150-jähriger Distanz. Nie steht ein bloßes »Verdacht auf …«, und selbst in den Begleitberichten zur Verlegung eines Patienten in ein Hospital an Land oder auf ein Lazarettschiff wird bei allen offenen Fragen eine als wahrscheinlich gehaltene Diagnose angegeben und begründet. Einmal findet sich die ausdrückliche, um Entschuldigung ersuchende Bemerkung, dass wegen des unmittelbar bevorstehenden Auslaufens des Schiffes »keine akkurate Diagnose« habe gestellt werden können. (10. Fall »Debility«) Zeitbedingt finden wir nur selten psychologische und psychosomatische Begriffe (nach heutigem Verständnis), die zur Beschreibung und Erklärung herangezogen wurden. Am ehesten wurden sie in den Verlaufsberichten zu den »Debility«, also »Schwäche«, genannten Krankheitsbildern verwendet, die zu einem gewissen Teil  depressiven Verstimmungszuständen mit körperlicher Begleiterkrankung entsprachen und wohl als besonders rätselhafte Leiden empfunden wurden.

7.2.5 Diagnostische Breite Die Feststellung wurde bereits getroffen, dass wir in den von den Schiffsärzten in freier Form verfassten Verlaufsberichten alle Krankheitsbilder antreffen, die wir auch in modernen Klassifikationen erfassen. Hier zeigt sich die Bedeutung der für die vorliegende Arbeit gewählten Art der Quellen, die individuell verfassten Journale der behandelnden Ärzte. Denn in den schematischen Diagnosetabellen am Schluss der ärztlichen Journale erscheinen viele der sicher einzuordnenden Krankheitsbilder nicht, da sie zwar im beschreibenden Teil des Journals erfasst, im abstrakt diagnostizierenden Teil aber nicht als eigen­

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ständige pathologische Einheit aufgeführt wurden. Sie waren in der frühen Zeit von Psychiatrie und Psychologie noch nicht als solche Krankheitseinheiten erkannt, definiert und benannt. Wenn wir als Referenz die gegenwärtig geltende, in der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verbindliche 10.  Revision der Internationalen Klassifikation von Krankheiten (International Classification of Diseases, ICD) heranziehen, können wir die in unseren Quellen dargestellten Störungsbilder in den Bereichen »organische Störungen« (Unterkapitel F  0 der ICD), »Störungen durch psychotrope Substanzen« (F 1) und »schizophrene Störungen« (F 2) unschwer einordnen. Die »affektiven Störungen« (F 3), sowie die »Belastungs(F 4) und Verhaltensstörungen« (F 5 und F 6) sind hauptsächlich in somatischen Krankheitsbeschreibungen verborgen, offenbaren sich aber dem kundigen Leser der Handschriften durch ihre akkurate Darstellung. Ein kleinerer Teil ist mit genuin psychologischen Begriffen wie »Angst«, »Schreck«, »Unsicherheit« oder »Scham« beschrieben.

7.2.6 Suizidalität Eine eigene Betrachtung wert sind die Fälle von Depression und Suizid. Die Häufigkeit von Suizidhandlungen muss vor dem Hintergrund der extremen Belastung an Bord, in tropischem Klima und unter sehr beengten und einfachen Verhältnissen gesehen werden. Die strikte tägliche Routine von Wachdienst, Segel- und Waffenübungen und insgesamt lückenloser Beschäftigung wird ein besonders enges Netz gegenseitiger Kontrolle, gegenseitiger Verpflichtung, aber auch gegenseitigen Haltes erzeugt haben. Die Freiwachen und Landgänge stellten als plötzliche Entlastungen aus diesen Kontrollen eine nicht geringe Gefahr für plötzliche suizidale Handlungsimpulse dar. Manche »Abenteuer« an Land wirken in ihrer Gefährlichkeit, die den Matrosen nicht verborgen geblieben sein kann, parasuizidal, also das Risiko eines tödlichen Ausgangs einkalkulierend oder zumindest zulassend. Alle Häufigkeitsangaben zur Suizidalität sind mit Vorsicht zu interpretieren, da die hohe Zahl unaufgeklärter Unfälle, insbesondere die Zahl der Ertrinkensfälle auf eine besonders hohe Dunkelziffer hinweist. Der militärischen Welt der Kriegsschiffe war einerseits der Umgang mit Gefahr und Tod nicht fremd, andererseits war die Handlung der Selbsttötung in der normativen Ordnung eben dieser Welt hochambivalent besetzt. Alle erdenklichen Suizidarten kamen vor. Dies kann als Hinweis auf die Omni­präsenz massiver psychischer Krisen interpretiert werden. Als Verzweiflungstat, als Bilanz-Suizid, als sekundenschnell einschießender Handlungsimpuls, als Hilfeappell mit dem zwiespältigen Wunsch nach Gelingen und Misslingen der Absicht, diese und noch beliebige weitere Motive und Situationen

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sind in der variablen und doch spezifischen Dynamik des Suizides anzunehmen, und sie finden sich tatsächlich in den Darstellungen der schiffsärztlichen Tagebücher. Dabei muss angenommen werden, dass die enge »Seemannschaft« an Bord in erster Linie dem psychisch Gesunden half, den psychisch manifest Kranken aber aus mangelndem Verständnis heraus gerade nicht erreichte. Er konnte untergehen in äußerer Disziplin und innerer Haltung, wie sie für die Welt eines Schiffes kennzeichnend ist. Dabei deutet sich, soweit aus der Sekundärliteratur über die Handelsmarine erkennbar ist, kein grundsätzlicher Unterschied zwischen militärischer und ziviler Schifffahrt an.

7.2.7 Hohe Dunkelziffer Wir müssen für alle Störungsbilder mit einer hohen Dunkelziffer rechnen. Sie ist der Tatsache geschuldet, dass Besatzungsmitglieder nicht wegen geringer Beschwerden zum Arzt kamen, es sei denn, sie suchten den sekundären Krankheitsgewinn der Schonung oder bevorzugten Versorgung. Wir finden in den Fallgeschichten auch Beispiele von ganz bewusster Verheimlichung einer Krankheit durch den Betroffenen, um nicht auf die Sick List zu kommen. Scham- und Schuldgefühle durch das Eingeständnis, erkrankt zu sein, und die Befürchtung, als dauernd dienstunfähig eingestuft zu werden, werden immer wieder Gründe für das Verschweigen gewesen sein. Auch müssen wir davon ausgehen, dass psychische Auffälligkeit zunächst disziplinarisch beantwortet wurde und unterdrückt wurde, solange es der Betroffene ertrug. Unsere Quellen zeigen, dass es nicht nur die Möglichkeit gab, dass ein Besatzungsmitglied um Untersuchung durch den Arzt bat, sondern dass letzterer seinerseits einen wachen Blick und ein offenes Ohr für die Geschehnisse an Bord hatte, um Verhaltensauffälligkeiten als krankheitsbedingt zu erkennen und anzusprechen. Dann konnte er therapeutische anstelle disziplinarischer Maßnahmen veranlassen.

7.2.8 Zeitbedingte Prävalenz und Inzidenz Auf den direkten Vergleich der in den Quellen aufgefundenen Häufigkeit der einzelnen Krankheitsbilder mit heutigen Zahlen wurde bewusst verzichtet. Wir würden bei einem solchen Vergleich zwischen der Prävalenzrate als der Häufigkeit einer Erkrankung zu einem bestimmten Zeitpunkt oder einem bestimmten Zeitraum und der Inzidenzrate als der Anzahl der Neuerkrankungen in einem bestimmten Zeitraum, jeweils im Verhältnis zur Gesamtzahl der untersuchten Gruppe, unterscheiden. In den regelmäßig für das britische Parlament ver­öffentlichten statistischen Jahresberichten wurden zwar die Absolutzahlen aller Krankheitsformen in Prozent- oder Promillewerte umgerechnet, um mit

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Zu- und Abnahmen dieser Relativzahlen zu argumentieren. Dies geschah aber stets ohne Berücksichtigung der mathematischen Regeln der Statistik und damit ohne die notwendige Unterscheidung von zufälliger Verteilung und systematischem Zusammenhang, der wiederum immer nur in einem jeweils festzulegenden Grad als bewiesen gilt. Auch Friedel hat in seiner bereits 1866 vorgenommenen Auswertung dieser Statistical Reports solche Morbiditätsberechnungen angestellt. Wenn wir diese Häufigkeitsangaben nur für einige der wichtigsten Krankheiten wie »Delirium tremens« oder »Syphilis« betrachten, fällt auf, dass die seinerzeit registrierte Häufigkeit um mindestens den Faktor 10 niedriger ausfällt als wir sie heute bei vorsichtiger Schätzung erwarten würden. In um­gekehrtem Sinne ist ein Zahlenvergleich im Falle der »Apoplexie« nicht ver­ wertbar, da es diese Diagnose zwar damals wie heute gab und gibt, der moderne diagnostische Begriff jedoch nur einen kleinen Teil der Bedeutung des damaligen abdeckt. Die bereits genannte hohe Dunkelziffer und die eingeschränkte Gültigkeit des direkten Diagnosenvergleiches erklären die genannte Differenz zwischen damaliger und heutiger Erkrankungshäufigkeit.

7.2.9 Wechselwirkung zwischen Alltagsbedingungen und psychischer Störung Selten und nur andeutungsweise wird von den Schiffsärzten selbst auf Zusammenhänge zwischen der alltäglichen Lebenssituation mit ihren spezifischen Bedingungen an Bord und der konkret vorliegenden neuropsychiatrischen Erkrankung hingewiesen. Die wenigen Beispiele für solche angedeuteten Zusammenhänge sind: Ein Fall von Seekrankheit bei einem jungen, in der Seefahrt noch ganz unerfahrenen Matrosen, die der Arzt sehr vorsichtig und zwischen den Zeilen als mögliche Reaktion auf heftiges Heimweh deutet. Ein Fall eines Matrosen in der Nähe seines Pensionierungsalters, dessen Inaktivität auf keine Intervention anspricht. Der Arzt fragt sich, ob dies an eine vom Patienten gewünschte Beschleunigung der Pensionierung denken lassen könne. Ein Fall von leichtem und unkontrolliertem Zugang zu alkoholischen Getränken und massivem, schädlichen Konsum. Die Verknüpfung von Gelegenheiten und tatsächlich sich entwickelndem Alkoholmissbrauch wird klar ge­ sehen. Das ist nach modernem Verständnis der Abhängigkeitserkrankungen als psychisches, physisches und soziales Geschehen zwar ein gesicherter Befund, kann aber für vergangene Zeiten nicht fraglos vorausgesetzt werden. In den Fallberichten akuter Psychosen (einschließlich des 7. Falles »Delirium tremens«) nimmt das gewöhnliche Geschehen an Bord Einfluss auf den Krankheitsverlauf. Die alltäglichen Abläufe an Bord, technische wie zwischenmensch-

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liche, sind in diesen Fällen nicht die Ursache psychischer Störung, wohl aber Auslöser für bestimmte wahnhafte Denkinhalte und illusionäre Verkennungen. Als Gegenbeispiel kann an dieser Stelle das Faktum erwähnt werden, wie selten der Begriff »Angst« (Anxiety) verwendet wird. Dies dürfte ein Hinweis darauf sein, dass die zweifellos beobachtete situationsabhängige Furcht nicht als Teil  eines pathogenetischen Geschehens, also als krankmachender Faktor gesehen wurde. Lediglich ein so extremes Erlebnis wie ein Blitzeinschlag in ein Lazarett (an Land)  mit dem sofortigen Tod eines Mitpatienten lässt den Arzt von einer fortdauernden Angst des physisch unverletzt gebliebenen Seemannes sprechen.

7.2.10 Vergleich mit der heutigen Situation an Bord Festgestellt wurde, dass alle heute bekannten psychiatrischen Störungsbilder auch schon in den 130 bis 180 Jahre alten Protokollen vorkommen. Untersuchungen zur gegenwärtigen Situation an Bord erbringen dasselbe breite dia­ gnostische Spektrum. Was wir heute »reaktive Störungen«, »Belastungsreaktionen« und »Anpassungsstörungen« nennen, tritt in der historischen Situation seltener als in der aktuellen auf. Dies ist mit großer Wahrscheinlichkeit nicht spezifisch für die Situation an Bord von Schiffen, sondern ebenso wie an Land Ausdruck damaliger seltenerer Manifestation und geringerer Wahrnehmung besonders dieser Art von Störungen. War auf Schiffen der vergangenen Jahrhunderte hervorstechendes Merkmal die räumliche Enge mit der Folge psychischer Belastung, auf den Kriegsschiffen noch mehr als auf den Handelsschiffen, ist es heute die Vereinzelung, ja Isolierung und daraus resultierende Einsamkeit. Allerdings muss hier gut unterschieden werden zwischen den mit erstaunlich kleiner Mannschaft fahrenden Frachtschiffen und bestimmten Schiffen der Kriegsmarine, die im Falle der Flugzeugträger mit bis zu 5 200 Besatzungsmitgliedern (zum Beispiel die »USS Constellation«) trotz ihrer riesigen Ausmaße eine bedrückende Enge aufweisen. Zuverlässige Zahlen zur Häufigkeit psychischer Problematik haben wir seit Einsatz psychologischer Testverfahren in den Jahren des Ersten Weltkrieges. Sie sind so hoch, dass sie seither als Problem bekannt sind und intensiv nach Therapie­möglichkeiten gesucht wird. Wie die Therapie psychischer Störungen in der Gegenwart insgesamt, so besteht auch die Behandlung an Bord von Hochseeschiffen aus sämtlichen zur Verfügung stehenden Elementen, insbesondere auch psycho­therapeutischen. Sie umfasst auch verschiedene Präventiv­ programme, sowohl an Bord als auch in Einrichtungen an Land.

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7.2.11 Vom Segelschiff zum Dampfschiff Während des hier untersuchten Zeitraumes von 1830 bis 1880 vollzog sich der Wandel vom Segelschiff zum dampfgetriebenen Schiff. Dies bildet sich zunächst in den Berichten über die Gefahren bei der alltäglichen Arbeit an Bord ab. Der technologische Wandel brachte keine Vermehrung und keine Verminderung der Unfallhäufigkeit mit sich, sondern lediglich eine Umverteilung von den für Segelschiffe typischen Stürzen aus der Höhe der Takelage und von den Rahen auf das Deck oder in das Meer hin zu den besonders typischen Ver­ letzungen durch die beweglichen Teile der Dampfmaschine, zu Verbrennungen und Hyperthermien (»Hitzschlägen«). In der Übergangszeit der parallelen Nutzung beider Technologien, und genau dies war bei sämtlichen hier untersuchten Schiffen der Fall, addierten sich unglücklicherweise die spezifischen Gefahrenquellen beider Technologien. Die Dampfmaschinen waren im Laufe von 50 Jahren von anfänglich schwachen Hilfsmotoren zu leistungsstarken, großen Maschinen weiterentwickelt worden, die jeweils aus Kohlebunker, Brennöfen, Dampfkessel, Kolben- und Zylindereinheit und einer Welle bestanden. Gleichzeitig waren die zwei oder drei Masten, mit denen diese Schiffe ausgestattet waren, noch einmal »gewachsen« und erreichten Höhen von bis zu 50 Metern. Die Dampfturbine folgte erst 1897, und schon nach wenigen Jahrzehnten der rein dampfgetriebenen Schiffe folgte der mit Diesel betriebene Verbrennungsmotor als Antriebsquelle, was die Hitzeproblematik etwas verminderte, wenn auch keineswegs vollständig behob. Unverändert blieb die enorm große Besatzungsstärke auf den Schiffen der Kriegsmarine. Während für manche Arbeit (etwa das Segelsetzen) Hände eingespart werden konnten, brauchte es für den Betrieb der Maschine neues, eigenes Personal. Damit war ein nicht zu unterschätzender psychosozialer Wandel an Bord verbunden: Zu den traditionellen Seeleuten der Segelschifffahrt, ganz überwiegend von den Küstenregionen rekrutiert, kamen Techniker, Mechaniker und Arbeiter vor den Feuern, Kohlenzieher und Heizer, an Bord. Sie mussten unterschiedlich lang um Anerkennung und Einbindung in die soziale Gemeinschaft kämpfen. Für das weltumspannende British Empire war diese Art von Schiffen ein Erfordernis. Gesegelt werden musste über weite Strecken, weil Kohle teuer, nicht in beliebiger Menge mitzunehmen und nicht in beliebigen Abständen den ­Küsten entlang verfügbar war. Unter Dampf gefahren werden musste, wenn es an Wind mangelte, wenn es eilte (nachdem die dampfgetriebene Schiffe schneller als die segelnden geworden waren) und wenn es schwierige lokale Bedingungen in Häfen oder Flussmündungen verlangten, schließlich immer unter militärischen Aspekten der Dringlichkeit. Dies war eine der notwendigen Bedingungen dafür, dass das britische Kolonialreich im ersten Drittel und dann nochmals gegen Ende des 19 Jahrhunderts »die Meere beherrschen« konnte, um die Formu-

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lierung des hymnischen Liedes »Britannia, rule the waves!« aufzugreifen. Die beschriebene »doppelte Technologie« galt hauptsächlich für die Kriegsmarine, weniger für die Handelsmarine. Sie konnte solche Schiffe im Grunde nicht gebrauchen, denn man wollte entweder (mit Dampfmaschine) schnell sein oder (mit Segeln und ohne die platzraubende Maschine im Schiffsbauch) viel laden können. Auf den Frachtschiffen geschah bereits im 19. Jahrhundert, was wir gemeinhin erst für das 20. Jahrhundert annehmen, nämlich eine mit jeder techni­ schen Neuerung einhergehende Verkleinerung der Mannschaftsstärke, sowohl auf den Segel-, als auch auf den Dampfschiffen. Die dargestellten Unfallgefahren und auch die regulären Arbeitsbelastungen lassen zunächst an daraus resultierende somatische Krankheitsbilder denken. Jedoch finden wir in unseren Quellen auch für psychopathologische Störungen viele Beispiele für die Spezifität der alten (Segel-) und der neuen (Dampf-) Technologie. Es sind dies die schweren und schwersten Schädelverletzungen durch Sturz aus großer Höhe und die lebensbedrohlichen, mit psychiatrischer Symptomatik einhergehenden Hitzschläge »in der Maschine«.

7.2.12 Haltung des Schiffsarztes Unvoreingenommene Lektüre der Medical Journals lässt den Schluss zu, dass sich die Schiffsärzte um jeden einzelnen ihrer Patienten in dessen Individualität bemüht haben. Spürbar ist immer wieder tiefe Empathie der meist sehr jungen Ärzte, die den Patienten an Bord zugute kam. Nirgends entsteht demgegenüber der Eindruck, er habe sie nur in ihrer Funktion für einen reibungslosen Ablauf gesehen, und unter allen Fallberichten ist der Satz »It is  a hopeless case« eine einmalige Erscheinung. Für seine zugewandte Haltung könnte die Zwischen­ position des Schiffsarztes und seine nicht so selbstverständliche Zugehörigkeit zur Offiziersgruppe von Vorteil gewesen sein. Er war in seiner Präsenz »vor« wie »hinter« dem Mast ein Wanderer zwischen den zwei Welten des Schiffes. Seine Handlungs- und Entscheidungsfreiheit, die ihm von der Schiffsführung eingeräumt wurde, wurde ihm zur Pflicht: War er niemandem im dienstlichen Hierarchiegefüge des einzelnen Schiffes fachlich verpflichtet (sondern nur dem aufsichtsführenden Flottenarzt), so war er nur noch dem Patienten verpflichtet. Hinzu kommt seine singuläre Position auf den hier untersuchten Schiffen, die alle nicht groß genug waren, um zwei Ärzte an Bord zu haben. Ganz auf sich gestellt, war dies Bedingung für seine faktische Freiheit und für seine Last der Verantwortung.

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7.2.13 Alltäglicher Umgang und Therapie Umgang und Behandlung von Krisen und Krankheiten an Bord lassen sich in fünf Kategorien unterteilen: Die erste Kategorie in Form der häufigsten und alltäglichsten Einflussnahme auf die Gesundheit und insbesondere auf die psychische Gesundheit lag gar nicht in den Händen der Schiffsärzte, sondern in denen der nautischen Offiziere. Es war die allgegenwärtige Disziplin. Disziplinarisch, implizit und explizit, wurde für Gehorsam, Ordnung und Struktur gesorgt. Dies galt ohne Ausnahme, solange das Besatzungsmitglied gesund war, aber auch noch so lange, wie der Betroffene die Störung seines inneren Gleichgewichtes und sein verändertes Verhalten vor sich und vor den anderen verbergen konnte und solange die anderen negierten, was sie sahen und hörten. Und es ging häufig noch ein Stück über diese Wahrnehmungsgrenze hinaus, denn mit Disziplin wurde noch m ­ anche Situation beantwortet und reguliert, die bereits eine therapeutische Intervention verlangte. Als zweite Kategorie sind unter den ärztlichen Interventionen zunächst die allgemeinen Maßnahmen zu nennen, die seiner Anordnung bedurften und schon eine gewisse Unterbrechung der Routine bedeuteten, etwa eine besondere Diät, eine Extraration Zitronensaft oder eine besonders angeordnete Menge hochprozentigen Alkohols, beides oft im Zusammenhang mit der Chininverordnung als Fiebermittel, besondere Kleidung und manches mehr. Im Kapitel »Therapie« sind 16 Aspekte dieser Interventionsebene beschrieben. Die dritte Kategorie ist die medikamentöse Therapie. Sie ist eng mit der zuvor genannten der allgemeinen Maßnahmen verzahnt, war aber bei weitem nicht immer Teil der ärztlichen Behandlung. Im Kapitel »Therapie« sind die an Bord für psychopathologische Krankheitsbilder eingesetzen Arzneien besprochen. Diese beiden Ebenen ärztlicher Interventionen stellen sich an Bord auf einem Niveau dar, das ohne Einschränkung als wissenschaftlicher Stand der Medizin der mittleren fünf Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts bezeichnet werden kann. Es finden sich in den Verlaufsbeschreibungen, vor allem in den früheren, zwar mehrfach Anklänge an miasmatische Annahmen, etwa die krankheitsvermittelnde Luft sumpfiger Küstenstreifen betreffend, häufiger aber kritische Hinterfragungen dieser tradierten Krankheitslehre. Ebenso tradiert ist die VierSäfte-Lehre mit dem Bestreben, »unreine« Stoffe aus dem Körper zu entfernen. Dieser Überzeugung begegnen wir in den sehr regelmäßig durchgeführten und genauestens beobachteten und protokollierten Abführmaßnahmen, während bezüglich der Aderlässe, die grundsätzlich das gleiche Ziel der Reinigung und der Herstelluung des Säftegleichgewichtes hatten, der Eindruck entsteht, dass sie bereits kritischer gehandhabt, das heißt seltener durchgeführt wurden. Von den vielen somatischen Behandlungsmethoden, die in der Geschichte der Psychiatrie in ihrer zwiespältigen Entwicklung zwischen psychologischer und

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somatischer Auffassung erfunden und angewendet wurden, begegnen wir in den Berichten von Bord nur noch einer Form der alten »Schock«-Therapie, indem nicht nur der bewusstseinsgetrübte, sondern auch der erregte und aggressive Patient mit kaltem Wasser übergossen wurde. Man wird es in erster Linie als Ausdruck der Hilflosigkeit interpretieren müssen, denn außer dem Festhalten eines selbst- und fremdaggressiven Betroffenen blieb bloßes Zusehen. Sedierende Medikamente konnten in solch einer Situation nicht verabreicht werden. In keinem Medical Journal finden sich auch nur Andeutungen von darüber hinausgehenden »psychischen Curmethoden«, wie jene drastischen und sinnlosen Interventionen genannt worden waren. Als vierte Kategorie ist die psychologisch bedeutsame Möglichkeit hervorzuheben, physische und psychische Schonung anzuordnen, indem ein Seemann auf die Sick List, auf die Krankenliste, kam. Meistens war er damit von allen Dienst- und Arbeitspflichten befreit, manchmal wurde ihm nach weitgehender Genesung ein Teil seiner Aufgaben gestrichen, etwa die Arbeit in der Takelage bei noch bestehenden Schwindelgefühlen oder die Tätigkeit in der unmittelbaren Umgebung der Dampfmaschine nach einem Hitzschlag. Die Person des Schiffsarztes war von eminenter Bedeutung für die Ge­ währung eines solchen Schonraumes, der unabdingbare Voraussetzung für eine Genesung sein kann. Sein Fachwissen hinsichtlich Diagnostik, Therapie und Prognostik war zunächst formale Grundlage für eine »Krankschreibung«. Darüber hinaus wirkte er aber auch in seiner Rolle als Arzt, dem bestimmte Funktionen zugeschrieben werden. Auf der einen Seite waren es die Seeoffiziere, deren Augenmerk dem Schiff und dem mit ihm verbundenen Auftrag galt, und die, wie wir sahen, ihre Mühe hatten, einen Civil Officer, nämlich den Medical Officer, in ihren Reihen aufzunehmen und anzuerkennen, es aber doch taten und damit dem Arzt eigene Kompetenzen an Bord zuschrieben. Auf der anderen Seite waren es die Männer der Mannschaft, die durch die ärztlich verordnete Sonderbehandlung, von den Pillen und Tropfen über die zeitweilige Dienstunfähigkeit bis hin zum Aufenthalt im Lazarett anstelle ihrer Hängematte im Zwischendeck, ihr Gewissen entlasten konnten, indem sie die Verantwortung für die Normabweichung auf die Person des Surgeon übertragen konnten. Sie mussten es einerseits natürlich, sofern er (als Offizier) ihr Vorgesetzter war. Aber sie schienen es ihm (und sich selbst) damit nicht schwer gemacht zu haben. Es ist schwer vorstellbar, dass nicht sehr rasch und intensiv und regelhaft eine väterliche Übertragungssituation vom (einfachen) Matrosen auf den »Doktor an Bord« entstand, und dass seine Verordnungen nicht als ein Beziehungsangebot eines »guten Vaters« aufgefasst wurden. Bedenkt man diese Konstellation, dann wird man noch darauf hinweisen wollen, dass das Schiff insgesamt, diese unausweichliche, ebenso bergende wie verschlingende Welt, die parallele mütterliche Instanz war. Natürlich war die omnipräsente väterliche Instanz zunächst und zumeist der Kapitän, und er machte daraus auch kein Geheimnis. Er musste

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Ergebnisse

aber auch nicht selten damit leben, und tat dies oft in beabsichtigter oder unbeabsichtigter Weise, dass er nicht für den »guten«, sondern für den »bösen«, jedenfalls strengen, grausamen, wenn auch grausam gerechten Vater stand. Dann war neben ihm durchaus Raum für eine zweite, »gute« Vaterfigur. Als fünfte und letzte Kategorie von »Behandlung« bleibt noch die Prüfung, Entscheidung und Durchführung einer dauernden Dienstunfähigkeit zu nennen. Hierin verschränkten sich ein letztes Mal Mensch und Schiff. Wenn das An-Bord-Bleiben die Gesundheit des Besatzungsmitgliedes nur noch gefährden würde, und wenn sein Verbleiben in der Besatzung keinen Nutzen mehr oder gar ein Risiko für das Schiff (in den stets drohenden Gefahren) oder für ein anderes, auf ihn angewiesenes Mitglied seiner sozialen Einheit bedeuten würde, dann trennten sich ihre Wege. Aus den Zeilen der Medical Journals sprechen besonders in diesem Punkt maches Mal Mitgefühl und Bedauern, manches Mal, wenn auch viel seltener, Ärger und Enttäuschung des protokollierenden Schiffsarztes, wenn es um die Entscheidung der Invalidisierung ging und wenn der letzte Vermerk »sent home to England« lautete.

7.2.14 Schiff als »Welt« Die auf Überseeschiffen praktizierte Medizin stellte in gewissem Sinne und Ausmaß, verglichen mit der Medizin an Land, ein Experimentierfeld dar. Aber es war nur in sehr geringem Maße ein Feld des Austausches mit der medizinischen Praxis des Gastlandes, seiner Küstenstädte und zum Beispiel der in Küstennähe gelegenen Krankenhäuser. Von dem Austausch mit der indi­ genen Medizin war etwa das gesundheitliche Versorgungssystem der britischindischen (Land-) Armee deutlich gekennzeichnet, wenn sich auch am Ende eine enttäuschend geringere gegenseitige Erweiterung und Beeinflussung herausstellte als die zeitgenössischen Planer es sich erträumt hatten. Die jedem Schiff eigene Abgeschlossenheit stellte in der Ferne vergleichsweise doch nur eine »geliehene Ferne« zur Verfügung. Der Kontakt mit den Menschen am Zielort einerseits war nicht nur in zeitlicher Hinsicht eng begrenzt und kontrolliert, die Planken eines Kriegsschiffes andererseits waren und blieben überall faktisch, rechtlich und emotional ein Stück heimatliches Territorium. Aufs Ganze gesehen gilt: Das Schiff war für die Besatzungsmitglieder »Welt«. Blicken wir auf diese Welt aus heutiger Perspektive zurück, so stoßen wir einerseits auf die ländliche oder auch frühindustriell-städtisch geprägte Enge des Erfahrungshorizontes, die die Menschen innerhalb ihrer »hölzernen Mauern« (»wooden walls«), wie die ruhmreiche britische Flotte in den Napoleonischen Kriegen genannt wurde, wiederfanden. Andererseits wird die Begrenztheit der »Welt Schiff« kontrastiert durch die mittels eben dieses Schiffes mögliche Reise über den an Land gegebenen Horizont hinaus, und zwar weit, sehr weit hinaus.

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Register

Namenregister Apert, Nicolas  188 Armstrong, Sir Alexander  58 Ballard, Admiral  154 Battie, William  47, 52 Bayle, Antoine Laurent  49 Bell, Charles  409 Beneke, Friedr. Eduard  50 Bernheim, Hippolyte  51 Blane, Sir Gilbert  35 f., 36, 146, 169 Bonny, Anne  33, 226 Borrows, George  53 Braid, James  51 Brown, William  224 Brown-Séquard, Charles  409 Bryson, Alexander  58, 60, 71, 426 Bucknill, Charles  54 Burdach, Friedrich  46 Burnett, Sir William  58, 63, 480 f. Cabanis, Pierre Jean Georges  48 Calmeil, Louis-Florentin  49, 409 Charcot, Jean Martin  51 Chiarugi, Vicenzo  47 f., 55 Combe, Andrew  51 Comte, Auguste  46 Conolly, John  54 Conrad, Joseph  17, 39, 370 Cook, James  173, 189 Cullen, William  26, 54, 68, 269, 408 Dalhousie, Lord James Andrew  440 f. Dana, Richard  17, 130, 215 Darwin, Charles  54 Dick, Sir James  58 Dover, Thomas  473 Ehrlich, Paul  429 Esquirol, Jean Etienne  49, 53–55, 409 Faraday, Michael   46, 114, 168, 451, 480 Falret, Jean Pierre  49

Fenichel, Otto  374 Feuchtersleben, Ernst von  50 Fisher, John  213 Frankland, Sir Edward  114 Franklin, Benjamin  282 Freud, Sigmund  11, 51, 230, 374 Friedreich, Joh. Baptist  50 Funk, Casimir  362 Galen  63, 464, 512 Gall, Franz Joseph  50–52 Galvani, Luigi  393, 451 George IV, King of UK  102 Golding, William  17, 227, 240 Graham, Sir James  102 Gregory, James  317, 467 Griesinger, Wilhelm  50 Hall, Marshall  409 Haller, Albrecht von  409 Haslam, John  53 Hata, Sahachiro  429 Heine, Jakob  358 Heinroth, Joh. Christian  49 f., 55 Helmholtz, Hermann  481 Helvetius 49 Henle, Friedrich  409 Hill, Robert Gardiner  53 f. Hippokrates  46, 63, 446 d’Holbach, Pierre Henry Thiry  48 Hoskins, Anthony Hiley  64 Hotham, Sir Charles  133 Hughlings-Jackson, John  54, 410 Hume, Joseph  137 Huntington, George  397 Ideler, Karl  50 Jacobi, Maximilian  50 Jones, Dave  245 Kant, Immanuel  46

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522

Register Rasori, Giovanni  469 Read, Mary  33, 226 Reid, Sir John Watt  58 Reid, Walter  65 Reil, Johann Christian  48, 50 Romberg, Moritz von  409 Rush, Benjamin  52

Kolumbus, Christoph  149 Kyan, John  476 Landsteiner, Karl  358 Laennec, René  481 Lavater, Johann Kaspar  51 Liddell, Sir John  58, 60 Lind, James  46, 465 Lister, Joseph  480 Locock, Sir Charles  410 Magellanes, Fernando de  184 Maudsley, Henry  54 Manson, Sir Patrick  65 Marconi, Guglielmo  75 Maury, Matthew Fontaine  74 Medin, Karl Oskar  358 Melville, Herman  11, 17, 130, 227, 231, 240 Mesmer, Franz Anton  50 f. Nasse, Friedrich  50 Nelson, Horatio  35 f., 39, 57, 71, 75, 79 f., 101, 103 f., 108, 110, 114, 129, 135, 150, 152, 164, 171, 179, 244, 465 Norbury, Sir Henry Frederick  58 Paracelsus  51, 464 Pechell, Sir John  126 Perry, Matthew  122 Peter Leopold, Fürst  47 Pinel, Philippe  47–49, 53, 55 Plummer, Andrew  290, 477 Popper, Erwin  358 Prichard, James Cowles  53, 409 Priestley, Joseph  46

Sabin, Albert  358 Salk, Jonas  358 Scott, James  63 Séguin, Edouard  49 Selkirk, Alexander  473 Sieveking, Edward  410 Spurzheim, Johann Casper  51 Sydenham, Thomas  392, 397 f. Silvester, Henry Robert  446 Stahl, Georg  46 Tissot, Samuel Auguste  409 Trotter, Thomas  35, 62 f., 299, 324 Tuke, Daniel Hack  54 f. Tuke, William  52 f., 55 Turnbull, Alexander, Inspector General  65 Vernon, Edward, Admiral  198 Victoria, Königin von Großbrit.  98, 113, 179, 242 Volta, Alessandro  451 Weston, Agnes  202 f. William IV, King of UK  102 Willis, Francis  47 Withering, William  46

Ortsregister Aden  76, 215, 303, 317, 320, 355, 380 Amoy  76, 275, 292 Andamanen-Inseln  20, 73, 296, 361 Ascension 76 Auckland, Neuseeland  314 f., 330 Bahrain  210, 304, 339, 341, 402 Batavia 166 Bermudas 280 Bogue  121, 128, 171 Bombay, Mumbai  76, 82, 279, 326 f., 357, 361

Borneo  20, 128 Bournemouth 241 Bremerhaven  9, 14 Britisch-Indonesien 20 Burma 20 Bushir 310 Ceylon, Sri Lanka  73, 116, 166, 292, 305, 320, 329, 342, 361, 417 Chatham  108, 279, 447 Christmas-Inseln 20 Cork  108, 447

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Register Deptford  58, 85, 157 Devonport  82, 85, 321 Diamond Harbour  199 Dublin  60 f., 286 Ebeltoft 13 Edinburgh  18, 58, 61, 168 Fatchan Creek  121 f., 283, 454 Fiddler’s Green  245 Florenz  47 f. Formosa  434 f., 471 Freiburg i. B.  9, 16 Gibraltar  76, 138 Glasgow  61, 415 Golf von Oman  291 Gosport 58 Greenwich  9, 65, 71, 108 Gulf of Pechili, Petcheli  285, 352 Halifax 280 Haslar  13, 24, 37, 58, 62 f., 65, 224, 332 f., 340, 349, 399, 420, 428 Helsingör 143 Hongkong  14, 20, 82, 92, 128, 161, 167, 180 f., 195, 214–216, 220–222, 268, 272, 277 f., 288, 290, 301, 307, 310, 312 f., 318, 322, 326, 330 f., 333–335, 342 f., 350, 352, 354 f., 358–360, 365, 378, 380 f., 391, 401 f., 420, 423, 426, 432–434, 442, 453 Kagoshima, Japan  122 Kalkutta  18, 114, 167, 187, 214, 351, 358, 364, 383 f., 415, 417, 423, 433, 453, 459 Kanton  18, 22, 76 f., 121, 123 f., 198, 201, 216, 277, 320, 326, 331, 354, 372, 378, 391, 393, 426 Kanton Fluss, Canton River  77, 147, 170, 190 334 f., 376 f. Kobé, Japan  187, 221 f. Korfu  138, 323 Kuh ding  288 Labian 128 Leipzig 49 Leith  108, 447 Lewes, England  138 Liverpool  81 f., 99, 192, 217, 220

523

London  9, 17, 21–24, 27–29, 38, 47, 58 f., 65 f., 74–76, 82, 103, 108, 111, 114, 121, 161, 244, 262, 287, 323, 344, 367, 410, 452, 458 Lübeck  45, 348 Macao  14, 161, 277 f., 377 Madeira  301, 414 Madras  126, 274 Maintyrano, Madagaskar  73, 443 f. Malakka  20, 73, 121, 319, 405 Malediven  20, 73 Malta  76, 138, 341 f., 359, 419, 423 Manila  14, 204, 434 Matheran, Indien  361 Mauritius, Isle of France  20, 73, 358 Menam, Mekong-Fluss  187, 300 Montpellier 48 Muscat  210, 340 Nagasaki, Japan  18, 76, 171, 195, 221 Nambu, Japan  435 Nankin  121, 272 Netley  64 f. Nikobaren-Inseln  20, 73 Ningpo  75, 273 Nore, England  59 Panama, Panamakanal  74, 100, 417 Philippinen  20, 73 Paris  47–49, 51 Peiho River  121 f., 284, 296 Peking 122 Penang, Malaysia  221, 442 Perah, Perak, Malaysia  310 Petropawlowsk 390 Plymouth  58, 74 f., 85, 95, 108, 168, 187, 220, 301, 385, 428, 447 Point de Galle, Ceylon  292, 329, 342 Port Blair, Andamanen  296, 361 Portsmouth  13, 24, 37, 62 f., 65, 74, 82, 88, 108, 111, 127, 156, 165 f., 175, 220, 332, 346, 399, 419 f., 447 Ras Hafun  292 Rio de Janeiro  15, 386 San Francisco  101, 217 Sansibar  210, 370 Sarawak 20 Seychellen  20, 73

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524

Register

Shanghai  18, 75 f., 82,100–102, 122, ­194–196, 217, 221, 264, 272 f., 277, 308, 344, 352, 359, 369, 380, 382, 434, 438 f., 453, 459 Sheerness  75, 82, 84, 385, 419 Shimonoseki, Japan  122 Siam  20, 186, 199, 211 Simon’s Town, Kapstadt  18, 20, 76, 121, 124, 268, 301, 317, 325, 330, 399 Singapur  14, 18, 20, 22, 75 f., 121, 131, 156, 187 f., 193, 221 f., 265, 283 f., 294, 300, 306, 318, 325, 396, 400, 417, 439–443, 459 Spithead  59, 63 St. Helena  76 Stockholm 13 Suez, Suezkanal  72, 74 f., 76, 185, 187, 459 Sumatra  20, 356

Sydney  192, 335 Tasmanien 72 Tahiti 173 Tientsin  121 f. Trafalgar  23, 36, 57, 79, 108, 129, 244 Trincomalee, Ceylon  18, 76, 166, 320, 361 Valparaiso  14, 267, 459 Vancouver Island  193, 417  Woolwich 82 Yeddo, Japan  116 Yokohama, Japan  18, 75, 187, 221 f., 288, 291, 353 f., 387, 418, 421, 423, 437, 445 York  52, 55

Sachregister Nicht aufgenommen sind Stichwörter, die eindeutig in den entsprechend benannten Kapiteln behandelt sind. Aberglaube  45, 174, 182, 205, 210, 235, ­239–252, 479 Aggressionsabfuhr  143–145, 205, 208, 223, 226, 233f, 344 Animismus 46 Anthropologie 51 Aufklärung  45, 47, 55 Beriberi  362, 366 Bleivergiftung  188, 193 f., 331, 393–395, 398 Blitzableiter  46, 279, 282 Bounty-Mannschaft 102 Bumboat  171, 190, 202, 217, 312 Calenture 374 Cholera  19, 153, 195, 215 f., 320, 326 f., 383 f., 408, 453, 458, 473 Cranioskopie 51

Finknetz, Hammock Netting  149, 295 Französische Revolution  48, 55 Gefängnis, Zelle  83, 86, 100, 136, 138 f., 145, 154, 159 f., 338 f., 341, 344, 367 Hängematte, Hammock  85, 88, 128 f., 146, 149–156, 158, 162 f., 170, 263, 280, 293, 295, 300, 307, 323, 342–344, 349, 380, 386, 395, 398, 401 f., 404 f., 413, 501 Haie  116, 210–212, 244, 250 Heuer, Pay and Wages  70 f., 112, 139 f., 142, 182, 202 f., 213, 218, 460, 487 Heuerbasen, Runners  101 Hill Station  361, 452 Homosexualität  32 f., 177 f., 223–230 Hypnose  51, 204

Diebstahl  134 f., 137, 141, 142 f., 145, 338, 367

Ideologisten, Frankreich  48 f. Indische Rebellion, Indian Mutiny  73, 121, 351 Iron Clad Age  79, 82 f.

Empirismus 56 Entlaufen, Desertieren  32, 109, 111, 119, 132, 134, 137, 139–141, 210, 213, 220, 223, 226, 448, 485

Kala Azar  464 Koch  105, 156, 185, 196, 201, 229, 248, 277, 310, 334, 357, 360, 376, 400, 488 Kombüse  64, 156 f., 192

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Register

525

Krätze, Krätzmilbe  171, 222

Quota-Männer, Lord Mayor’s Men  101

Lärm, Stille  41 f., 155, 165, 205, 237, 318 f., 353, 388, 454, 458 Lazarettschiff  37, 66 f., 160 f., 166, 493 Lunatic Asylum of Haslar  65, 332 f., 349

Rassenbiologie 51 Retreat  52, 55 Romantische Medizin  55 Royal Army Medical School  64 Royal College of Physicians/Surgeons  58, 61, 68

Magnetismus  46, 51, 270, 315, 351, 353, 362, 393, 416, 423, 429 Malaria, Moskito  19, 147–149, 168, 186, 216, 290, 359, 366, 453, 458, 460, 465 f., 471 Marine Society  103, 108 Mesmerismus  50 f. Meuterei  59, 106, 132, 134–137, 204, 321 Monsun  20, 76, 236 Moral Treatment, Moralische Behandlung  47, 55 Navigation  74 f., 86, 105 Non restraint  54 Opium  81, 267, 457, 472 f. Opiumkriege  24, 73, 102, 120–122, 277, 296, 330 Paketschiffe, Packet Boats  99 f. Pax Britannica, Pax Victoria  81, 98, 113 Phrenologie 50–52 Physiognomie-Lehre 51 Piraten  15, 33, 37 f., 73, 110, 120, 137, ­223–226, 239 f., 372 Positivismus  46, 50, 52, 56 Pressen, Press Gang  60, 100–103, 113, 134, 140, Prisengeld, Prize Money  71, 82, 97, 104, 133, 140 Prostitution  171, 217, 219–230, 242 Psychiker  49 f. Psychoanalyse  11, 51, 230, 241, 374, 388, 483 Quäker  47, 52 f. Quecksilbervergiftung  94 f., 414, 425, 427, 466, 476 f.

Seekiste  126, 142, 183, 205 Seekrankheit  42, 225, 350, 373–376, 385 f., 463, 496 Seelenorgan  48, 50 Seesack, Black Bag, Duffel Bag, Kit Bag  142, 153, 155, 170, 183, 207 Sensualismus 52 Shanghaien  100–102, 217 Sick Berth Attendant, Krankenpfleger(in)  38, 64, 70, 108, 162 f., 224, 269 f., 277, 337, 388 Skorbut  24, 46, 86, 153, 188, 192, 208, 271, 362, 465, 468 Slopkiste, Slop Chest  182, 203 Society of Apothecaries  62 Somatiker  49 f. Somatismus 46 Spanische Fliege  478 Schwimmen  109, 116, 210–212, 368, 431 f., 436 f., 442 f., 445, 447 f., 457 Tollwut  272 f., 475 f. Trepanation, Trephine  67, 286, 299, 456, Vitalismus 48 Witwenmacher  117, 289, 312 Wundstarrkrampf, Tetanus  273 f. Zucht-, Werk- und Armenhäuser  45 Zwangsjacken, Strait Jackets  34, 47 f., ­53–55, 65, 344, 349, 454 Zwangsmaßnahmen, Restraint  53 f., 308, 335, 454 Zwischendeck, Lower Deck  12, 36, 43, 93, 104, 125, 501

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