Citizen Science in den Geschichtswissenschaften: Methodische Perspektive oder perspektivlose Methode? 9783847115717, 9783737015714, 3847115715

Die Digitalisierung des Wissenschaftsprozesses ist mit der Öffnung der Wissenschaften für partizipative Formate auf vers

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Citizen Science in den Geschichtswissenschaften: Methodische Perspektive oder perspektivlose Methode?
 9783847115717, 9783737015714, 3847115715

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DH&CS Schriften des Netzwerks für digitale Geisteswissenschaften und Citizen Science

Band 3

Herausgegeben von Hendrikje Carius, Martin Prell und René Smolarski

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René Smolarski / Hendrikje Carius / Martin Prell (Hg.)

Citizen Science in den Geschichtswissenschaften Methodische Perspektive oder perspektivlose Methode?

Mit 43 Abbildungen

V&R unipress

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Forschungsbibliothek Gotha. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Wo nicht anders angegeben, ist diese Publikation unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 lizenziert (siehe https://creative commons.org/licenses/by-sa/4.0/) und unter dem DOI 10.14220/9783737015714 abzurufen. Jede Verwertung in anderen als den durch diese Lizenz zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Roswitha Schmuhl, In dies, Entwurf für ein Gobelin, Mischtechnik, 16 x 14 cm, 1986, Rechte vorbehalten. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2700-1318 ISBN 978-3-7370-1571-4

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Inhalt

René Smolarski / Hendrikje Carius / Martin Prell Citizen Science in den Geschichtswissenschaften aus methodischer Perspektive: Zur Einführung ........................................................................................7 Perspektiven auf Citizen Science Kristin Oswald Wie realistisch sind die Erwartungen an Citizen Science .......................................23 Tobias Hodel / Christa Schneider Vom Crowdsourcing zu Co-Design ...........................................................................41 Marina Lemaire / Yvonne Rommelfanger Berücksichtigung von Data-Literacy-Kompetenzen ...............................................69 Katrin Moeller / Moritz Müller Heimatforscher, Citizen Science und/oder Digital History? ..................................91 René Smolarski Mehr als Zacken zählen? ...............................................................................................109 Projekte Barbara Aehnlich / Petra Kunze Vom Zettel zum Datensatz. Flurnamenforschung in Thüringen .........................125 Martin Munke Kultur und Geschichte Sachsens offen und kollaborativ erforschen....................143 Jens Bemme / Christian Erlinger Die Datenlaube – Citizen Science & digitale historische Hilfswissenschaft ........163 Elfi Vomberg Mythenbeschleuniger Oral History ............................................................................187

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Michael Brauer / Marlene Ernst Verderben viele Köche den Brei? ................................................................................ 205 Günter Mühlberger / Gerhard Siegl / Kurt Scharr Crowdsourcing und Citizen Science mit Transkribus. ........................................... 223 Olaf Simons Keine Selbstverständlichkeit: Citizen Science auf der FactGrid Wikibase-Plattform ..................................................................................................... 241 Autorinnen- und Autorenverzeichnis ....................................................................... 265

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René Smolarski / Hendrikje Carius / Martin Prell Citizen Science in den Geschichtswissenschaften aus methodischer Perspektive: Zur Einführung

Die Entwicklungen in der Wissenschaftslandschaft der letzten Jahre sind unverkennbar: Sowohl die Digitalisierung des Wissenschaftsprozesses als auch die Öffnung dieses Prozesses für partizipative Formate auf verschiedenen Beteiligungsebenen nehmen stetig zu. Citizen-Science-Ansätze gewinnen dabei auch in den Geschichtswissenschaften zunehmend an Bedeutung. Doch mit der Möglichkeit, bürgerschaftliches Engagement und Wissen umfangreicher als bisher für die Forschung nutzbar zu machen, steigt auch die Erwartungshaltung nach gleichberechtigter Teilhabe. 1 Der Einsatz vor allem webbasierter digitaler Technologien und Methoden aus dem Bereich der Digital Humanities hat in diesen Entwicklungen einen katalysatorischen Effekt, erleichtern digitale Technologien doch sowohl die orts- und zeitunabhängige kollaborative Beteiligung außerakademischer Akteurinnen und Akteure am Wissenschaftsprozess als auch den kooperativen Austausch und die Kommunikation der gewonnenen Erkenntnisse in Wissenschaft und Gesellschaft. Aus diesen Entwicklungen ergeben sich vielfältige Potenziale für Citizen-Science und hier vor allem Crowdsourcing-basierter Ansätze, die für die Geistesund Sozialwissenschaften bereits von verschiedenen Seiten herausgearbeitet worden sind. 2 Betont wird dabei stets, dass die Zusammenarbeit von institutionalisierter und nichtinstitutionalisierter Wissenschaft sowohl für die wissenschaftlichen Beteiligten als auch für öffentliche Belange und konkrete Anwendungsfragen einen Mehrwert bietet. 3 Dies betrifft auch die historische For–

1 Vgl. Kristin Oswald, René Smolarski: Einführung, in: Dies. (Hrsg.): Bürger Künste Wissenschaft. Citizen Science in Kultur und Geisteswissenschaften, Gutenberg 2016, S. 9–27, hier S. 11. 2 Eine Zusammenfassung findet sich bei Claudia Göbel, Justus Henke, Sylvi Mauermeister: Kultur und Gesellschaft gemeinsam erforschen. Überblick und Handlungsoptionen zu Citizen Science in den Geistes- und Sozialwissenschaften, Halle-Wittenberg 2020, S. 25–29. 3 Göbel, Henke, Mauermeister: Kultur, S. 25.

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schung 4: Aus Sicht dieser für Citizen-Science-Ansätze offenen akademischen Geschichtswissenschaften verspricht die bürgerwissenschaftliche Beteiligung auf den unterschiedlichen Ebenen – von Crowdsourcing bis Citizen Science – eine Integration bislang unzugänglicher historischer Quellenbestände oder deren Ordnung, formale und inhaltliche Erschließung. Die so gewonnenen Daten stehen zudem für weitere Nachnutzungsszenarien durch Verfahren der Digital History bzw. Digital Humanities zur Verfügung. Darüber hinaus können Citizen Scientists dazu beitragen, Zusammenhänge neu zu interpretieren, neue Fragestellungen zu generieren, interdisziplinäre Problemlösungsansätze zu integrieren und so geschichtswissenschaftliche Forschungsperspektiven zu erweitern. 5 Auch die Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis historischer Forschung in ihrer wissenschaftlich-demokratischen Verantwortung und ihren tradierten wissenschaftlichen Praktiken wird durch den Citizen-Science-Ansatz gefördert. Als Teil der Wissenschaftskommunikation gedacht, können die Citizen-Science-Projekte zur Popularisierung von Forschungsfeldern beitragen, indem sie offen zugänglich und sichtbar sind. Dies schafft wiederum wichtige Voraussetzungen für die Beförderung des interdisziplinären und öffentlichen Austausches zu Forschungsthemen und Fragestellungen. Hier kann den historisch orientierten Citizen Science eine besondere gesellschaftliche Brückenfunktion zukommen. Diese öffentliche Dimension von Citizen-Science-Projekten bietet auch den beteiligten Bürgerwissenschaftlerinnen und Bürgerwissenschaftlern einen hohen Mehrwert, der über die reine »Freude am Mitmachen« 6 hinausgeht. Gerade eine Beteiligung an mindestens im Kern geschichtswissenschaftlichen Projekten, die häufig auf große öffentliche Resonanz stoßen, fördert durch die damit einhergehende Vermittlung methodischer und theoretischer Kompetenzen einen kritischen Umgang mit Quellen und ein besseres Verständnis für die Komplexität gesellschaftlicher Veränderungen. 7 Eine verstärkte Einbeziehung der Öffentlichkeit über die Anwendungsbereiche des reinen 4 Cord Arendes: Historiker als »Mittler zwischen den Welten«? Produktion, Vermittlung und Rezeption historischen Wissens im Zeichen von Citizen Science und Open Science, in: Heidelberger Jahrbücher Online 2 (2017), S. 19–58, https://doi.org/10.17885/heiup.hdjbo.2017.0.23691. Siehe demnächst Hendrikje Carius, Marlene Ernst, Martin Munke, René Smolarski: Gemeinsam Geschichte(n) entdecken. Stand und Perspektiven von Citizen Science in den Geschichtswissenschaften, in: Aletta Bonn u. a. (Hrsg.): Citizen Science – Gemeinsam forschen! Ein Handbuch für Wissenschaft und Gesellschaft, Cham 2023 (in Vorbereitung). 5 Oswald, Smolarski: Einführung, S. 14. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive siehe zum Beispiel Stefan Thomas, Susan Schröder, David Schelle: Citizen Social Science – das Research Forum als partizipative Forschungsmethodik, in: Sandra Eck (Hrsg.): Forschendes Lernen – Lernendes Forschen: partizipative Empirie in Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Weinheim/Basel 2019, S. 103–115. 6 Sonja Bettel: Forschung zum Mitmachen, in: upgrade 1 (2016), S. 33–35, hier S. 35. 7 Oswald, Smolarski: Einführung, S. 17.

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Crowdsourcing hinaus kann somit auch zu einer Auseinandersetzung mit Werten und Normen in der Gesellschaft beitragen. 8 Dies bedeutet vor allem durch das gemeinsame Reflektieren eine Stärkung der gesellschaftlichen Relevanz geisteswissenschaftlichen bzw. historischen Wissens über die Grenzen der nichtinstitutionalisierten Geschichtswissenschaft hinaus. 9 Neben den Potenzialen, die mit einem Einsatz von Citizen-Science-Ansätzen in den Geschichtswissenschaften verbunden werden, werden zudem vielfach kritische Aspekte formuliert, die in der vorliegenden Publikation auch adressiert werden. Zu diesen gehört bspw. eine häufig förderstrategische Etikettierung von Projekten als Citizen Science, die z. B. eher im Bereich der Oral History zu verorten wären. Die von Förderpolitik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft formulierten Erwartungen an Citizen Science als Instrument gesellschaftlicher Teilhabe an Wissenschaft und der daraus resultierende Demokratisierung sind zudem hoch. Sie treten damit oft zwangsläufig in Kontrast zu den tatsächlichen Projektergebnissen, deren Wirksamkeit letztlich deutlich eingeschränkter ist. Dies gilt besonders für die mehrheitlich kontributiv ausgerichteten Projekte, die von der Wissenschaftsseite initiiert werden, traditionellen wissenschaftlichen Arbeitsweisen am ehesten entsprechen und im Unterschied zu weitergehenden Partizipationsformen vergleichsweise niederschwellig umsetzbar sind. Im Grunde können diese jedoch kaum ein Forum für bürgerwissenschaftliche Impulse und Forschung auf sogenannter Augenhöhe bieten. Einem ko-kreativen Projektverlauf stehen oftmals die Antragslogiken selbst entgegen, die dies konzeptionell in der Regel nicht vorsehen. Damit ist jene beteiligungsintensive Partizipationsform, die auf die gemeinsame Aushandlung von Forschungsfragen zielt und am ehesten den oben genannten Erwartungen einer Zusammenarbeit von Fach- und Bürgerwissenschaften entspricht, nicht von den gängigen Förderinstrumenten abgedeckt. Aufgrund wissenschafts- und förderpolitischer Logiken und somit vornehmlich infrastrukturellen Gründen können die Erwartungen an den gesellschaftspolitischen und geschichtswissenschaftlichen Impact in der Regel nur marginal eingelöst werden. Förder- und Publikationsstrukturen für von zivilgesellschaftlichen Akteuren ausgehende Citizen-Science-Vorhaben sind zudem kaum vorhanden. In der Folge wird der Einfluss von Citizen Science auf neue Forschungsmethoden und innovative Forschungsfragen jenseits von Datensammlungen bisher als eher begrenzt wahrgenommen. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass sich viele historische Citizen-Science-Projekte mit entsprech8 Vgl. Peter Finke: Citizen Science und die Rolle der Geisteswissenschaften für die Zukunft der Wissenschaftsdebatte. Citizen Science in Kultur und Geisteswissenschaften, in: Oswald, Smolarski: Bürger Künste Wissenschaft, S. 32. 9 Vgl. Göbel, Henke, Mauermeister: Kultur, S. 26, 60.

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ender Sichtbarkeit und Reichweite erst in den letzten Jahren etabliert haben. Es fehlen daher Erfahrungsberichte, systematische Analysen von Best-Practice-Beispielen in den Geschichtswissenschaften, richtungsweisende Ergebnisse aus Begleitforschungen oder Evaluationen sowie insgesamt methodischepistemologische Reflexionen. So liegt das »tatsächliche Forschungspotential von Daten und Erkenntnissen aus bürgerwissenschaftlicher Hand für die Geschichtswissenschaft noch im Verborgenen.« 10 Über diese Rahmenbedingungen hinaus identifizieren die Beiträge verschiedene Faktoren, die dazu führen, dass wissenschaftliche Projekte in ihren CitizenScience-Komponenten als problematisch oder risikobehaftet eingeschätzt werden: Projekte verfügen oftmals über ein Projektdesign, das u. a. aus Kapazitätsgründen die für den Projekterfolg erforderliche intensive Vorbereitung, Kommunikations-, Moderations- und Beziehungsarbeit im Zusammenspiel mit zivilgesellschaftlichen Akteuren nicht adäquat leisten kann. Gerade dies erscheint aber wesentlich für einen erfolgreichen Einsatz von Citizen-Science-Methoden in den Geschichtswissenschaften. Bürgerwissenschaftliche Vorhaben benötigen möglichst langfristige, dauerhafte Strukturen für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Akteuren. Das Feld ist jedoch in den akademischen Geschichtswissenschaften vor allem projekt- und drittmittelgetrieben mit kurzen Laufzeiten und beruht in der Regel auf einem übermäßigen, über das Projekt hinausgehenden und nicht vom Wissenschaftssystem gratifizierten Engagement der wissenschaftlichen Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter. Strukturelle Vorbehalte gegenüber Citizen Science auf Seiten wissenschaftlicher Einrichtungen richten sich bei einem gezielten und dauerhaften Einsatz ehrenamtlicher Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler auf den möglichen Fortfall von wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen- und Mitarbeiterstellen. Grundlegende methodische Bedenken in der akademischen Geschichtsforschung gegenüber dem Einsatz von Citizen-Science-Methoden zielen in erster Linie auf die Einhaltung wissenschaftlicher Kriterien und der Sicherung der Datenqualität, die Methodenkompetenz beim Umgang mit historischen Quellen und digitalen Technologien (Data Literacy) sowie erforderliche Sprach- und Schriftkenntnisse. Die hier versammelten Beiträge zeigen projektspezifische Lösungsstrategien im Umgang mit diesen Herausforderungen. Insgesamt gilt es, das Projektdesign entlang der jeweiligen Rahmenbedingungen mit entsprechend auf die Fragestellung abgestimmten Beteiligungsgraden, der technischen Infrastruktur sowie den Austausch- und Begleitformaten inklusive Weiter– 10 Katrin Moeller, Moritz Müller: Heimatforscher, Citizen Science und/oder Digital History? Organisationsformen und Qualitätssicherung zwischen Wissenschaft und bürgerwissenschaftlicher Community, in diesem Band, S. 76.

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bildungen auszurichten. Das jeweilige Verfahren hängt dabei von den spezifischen Projektkonstellationen und Zielrichtungen ab. Vorbehalte aus der akademischen Geschichtsforschung werden teilweise auch in den unterschiedlichen Forschungskulturen und insbesondere der interessengeleiteten Themenwahl bürgerwissenschaftlicher Geschichtsforschung greifbar, die jenseits disziplinärer Forschungsrelevanzen liegen können. CitizenScience-Projekte sind jedoch erfahrungsgemäß dann besonders erfolgreich, wenn sie gesellschaftsrelevante Themen aufgreifen, die alltags- und lebensweltlich bzw. lokalhistorisch interessante Anknüpfungspunkte für eine Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern mit ihrem Spezialwissen bieten. Fragestellungen und Schwerpunkte, die fach- und bürgerwissenschaftliche Akteure an Projektthemen herantragen, divergieren in der Regel. Aber nicht nur dies. Die akademische Geschichtsforschung sieht sich vielmehr prinzipiell in ihren tradierten wissenschaftlichen Praktiken und ihrer wissenschaftlichen Deutungshoheit herausgefordert. Die Aushandlung der Rollenverteilung und die mögliche Konkurrenz um historiographische Narrative ist potenziell spannungsbehaftet und macht den hohen Stellenwert von Austauschforen umso sinnfälliger. Damit gilt es ebenso umzugehen wie der Verzahnung digital gestützter Citizen Science mit den sich dynamisch entwickelnden Digital Humanities. Die kontinuierlich erforderliche Weiterentwicklung von digitalen Forschungsinfrastrukturen, die notwendige Berücksichtigung etablierter Standards (z. B. Metadaten, Normdaten, kontrollierte Vokabulare) gemäß den FAIR 11- und CARE 12-Prinzipien stellen Einstiegshürden für alle Projektseiten dar. Einige der Beiträge konstatieren nach wie vor Akzeptanzprobleme bei inzwischen etablierten Instrumenten des Open-Science-Gedankens wie z. B. der Plattformen aus dem Wikiversum. Zivilgesellschaftlich generierte historische Wissens- und Datenbestände bleiben so ungenutzt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sich mit dem zunehmend institutionalisierten Bereich der Public History perspektivisch viele der ausgeführten Bedenken aus der akademischen Geschichtsforschung relativieren werden. Doch noch befinden sich die Citizen Science in den Geisteswissenschaften, wie auch Kristin Oswald in ihrem Beitrag resümiert, in einem Experimentierstadium. Wie hier künftig weitere Schritte zur erfolgreichen gesellschaftlichen Teilhabe in den Geschichtswissenschaften gegangen werden können, verdeutlichen die Beiträge exemplarisch. 11 Mark D. Wilkinson, Michel Dumontier, IJsbrand Jan Aalbersberg u. a.: The FAIR Guiding Principles for Scientific Data Management and Stewardship, in: Scientific Data 3.160018 (2016), https://doi.org/10.1038/sdata.2016.18. 12 Stephanie Russo Carroll, Ibrahim Garba, Oscar L. Figueroa-Rodríguez u. a.: The CARE Principles for Indigenous Data Governance, in: Data Science Journal 19.43 (2020), S. 1–12, https://doi.org/10.5334/dsj-2020-043.

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Und so trägt jeder Beitrag des Bandes dazu bei, den konzeptionellen Rahmen notwendiger Bedingungen für erfolgreiche historisch ausgerichtete Citizen-Science Projekte zu skizzieren. Zu diesen zentralen Erfolgskriterien von CitizenScience-Projekten gehören unter anderem eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Zielsetzung, die Ansprache neuer Bevölkerungsgruppen über disziplininterne Kanäle hinaus, das Durchführen von Pilotprojekten und Evaluationen, die sensible Berücksichtigung der digitalen Aspekte der Zusammenarbeit, und das Entwickeln und Anpassen einer gezielten Kommunikationsstrategie, die Erwartungshaltungen, Rollenverteilungen, Reviewprozesse und Ähnliches berücksichtigt. Zu diesen Kriterien gehören ferner eine Kommunikation, Projektkoordination und Freiwilligenbetreuung im erforderlichen, häufig zeitintensiven Umfang, die Reduktion von Komplexität, das Erzeugen eines Gemeinschaftsgefühls, bspw. durch Onboardings und Hackathons, aber auch das Ermöglichen von Weiterbildung und eine minutiöse Dokumentation, die sich auf verschiedene Formate und Medientypen wie bspw. schriftliche Anleitungen, Video-Tutorials und Übungen, Online Meetings oder Vor-Ort-Einführungen stützt. All diese Prozesse und Methoden müssen zudem Raum für Experimente ermöglichen und flexibel anpassbar sein, um jederzeit auf Projektdynamiken reagieren und die Erwartungen und Zielstellungen von Citizen Scientists stets berücksichtigen zu können. Das gilt insbesondere dann, wenn die Einbeziehung bürgerwissenschaftlicher Akteure in den Wissenschaftsprozess über reine Crowdsourcing-Aufgaben hinausgeht.

Zur Konzeption und Genese des Bandes Für die Existenz der einleitend skizzierten Mehrwerte von Citizen-Science-Ansätzen spricht, dass es mittlerweile auch im Umfeld der akademischen Geschichtswissenschaften oder angrenzender Disziplinen eine ganze Reihe Citizen-Science-basierter Projekte gibt. Die entsprechenden Publikationen stellen jedoch in der Regel entweder die geschichtswissenschaftliche Fragestellung und damit den Projektinhalt oder die bürgerwissenschaftliche Dimension in den Vordergrund. Der vorliegende Band unternimmt nun den Versuch, diese beiden Ebenen miteinander zu verschränken. Er erörtert kritisch, inwiefern Citizen-Science-Ansätze tatsächlich eine methodische Perspektive der Geschichtswissenschaften bieten oder aufgrund ihrer spezifischen Herausforderungen und Eigenheiten als solche nicht oder nur bedingt geeignet erscheinen. Der Fokus der Beiträge richtet sich weniger auf eine grundsätzliche epistemologische Auseinandersetzung mit dem Thema. Die hier versammelten Beiträge fragen auf der Basis ihrer empirischen, projektspezifischen Erfahrungen

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mit bürgerwissenschaftlicher Beteiligung nach dem Mehr- und Stellenwert der Einbindung bürgerwissenschaftlicher Akteure in die jeweiligen Forschungsvorhaben und setzen sich dabei kritisch mit der Leitfrage des Bandes auseinander. Dies erscheint umso gebotener, als es für übergreifende Analysen zunächst eine repräsentative Vergleichsbasis zu erarbeiten gilt. Die in den Projekten gewonnenen Erkenntnisse ermöglichen aber schon jetzt eine Ableitung von Risikopotenzial und allgemeinen Erfolgskriterien von Citizen-Science-Projekten, wie sie auch aus anderen disziplinären Kontexten bekannt sind. Dass die empirisch gewonnenen Erkenntnisse vor allem aus kontributiven Projekten entwickelt werden, gilt es bei den weiteren Überlegungen zu berücksichtigen. Der Band wirft somit einen breiten und kritischen Blick auf die an Citizen Science gestellten Erwartungen und Forderungen, durch den auch die nicht selten bestehende Diskrepanz zwischen (wissenschafts-)politischem Willen und (wissenschafts-)praktischen Gegebenheiten deutlich wird. Das Ziel ist es, einerseits das Potenzial einer Intensivierung bürgerwissenschaftlicher Forschung herauszuarbeiten, andererseits aber auch die damit verbundenen prinzipiellen und kontextspezifischen Herausforderungen deutlich zu artikulieren. Ein Konsens der Beiträge besteht darin, Citizen Science mit allen benannten Herausforderungen als methodischen Ansatz in den Geschichtswissenschaften fruchtbar zu machen und weiterzudenken. Der Band geht so über den ihn anstoßenden Online-Workshop »Transcribing – Encoding – Annotating: New Approaches of Technology and Methodology for Historical Sources in Crowd Sourcing and Citizen Science« am 26. und 27. November 2020 hinaus. Der von Hendrikje Carius (Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt) und Martin Prell (damals Projekt »Editionenportal Thüringen« des Lehrstuhls für Geschlechtergeschichte der Universität Jena) organisierte Workshop hatte sich aus den Perspektiven Konzeption, Entwicklung und Anwendung der übergeordneten Frage gewidmet, entlang welcher Kriterien und Prämissen, Tools und Softwareumgebungen für Citizen-Scienceund Crowd-Sourcing-Projekte (insbesondere paläografischer und editorischer Art) geplant und umgesetzt werden. 13 Wir bedanken uns bei allen, die zum Gelingen der Tagung beigetragen haben. Für die gute Zusammenarbeit bei der Erstellung der Publikation gilt zudem allen Autorinnen und Autoren unser herzlicher Dank. Wir bedanken uns außerdem bei der Forschungsbibliothek Gotha für die großzügige Unterstützung bei der Drucklegung. Zu großem Dank verpflichtet sind wir darüber hinaus Marc Eric Mitzscherling für die redaktionelle Unterstützung bei der Erarbeitung des 13 Vgl. die Zusammenfassung des Workshops im Bericht von Daniel Haas: https://www.hsozkult.de/ conferencereport/id/fdkn-127555.

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Sammelbandes sowie dem Vandenhoeck & Ruprecht unipress Verlag für die gute Zusammenarbeit; hier insbesondere Marie-Carolin Vondracek.

Beiträge Die Beiträge nähern sich der Fragestellung des Bandes aus unterschiedlichen Perspektiven. Sie beleuchten zum einen grundsätzliche Aspekte der Zusammenarbeit institutionalisierter Geschichtswissenschaften und der Zivilgesellschaft, dafür erforderliche Kompetenzen und Forschungspotenziale für die Geschichtswissenschaften. Zum anderen geben die mehrheitlich projektbezogenen Beiträge einen Einblick in charakteristische Themenkomplexe bürgerwissenschaftlicher Beteiligung: von der Alltagsgeschichte, Familienforschung, Genealogie, Ernährungsgeschichte, Flurnamenforschung, Heraldik und Philatelie bis hin zur Landes-, Regional- und Lokalgeschichte. Dabei werden auch die für die digitalbasierten Citizen-Science-Projekte genutzten Infrastrukturen, (z. B. DatenEingabe-System (DES), Factgrid, Transkribus, Wikidata, Wikisource) als wesentliche Projektkomponenten in den Blick genommen. In ihrem programmatisch ausgerichteten, das Feld überblickenden Beitrag verdeutlicht Kristin Oswald die Spannungen, in denen sich die Citizen Science gegenwärtig befinden. Das sind die an sie gerichteten hohen Erwartungen der unterschiedlichen Stakeholder einerseits und eine häufig unzulängliche Umsetzung sowie ungerechtfertigte Befürchtungen seitens der akademischen Geschichtswissenschaften angesichts (prinzipiell lösbarer) Herausforderungen andererseits. Sie identifiziert in ihrem Beitrag die tieferliegenden Ursachen dieser Diskrepanzen und formuliert Lösungsvorschläge zu deren Überwindung, sprich unter welchen Rahmenbedingungen Citizen Science erfolgreich eingesetzt werden kann. Dabei skizziert sie deren Potenziale in Form ihrer integrativen Kraft gesellschaftlicher Impulse und breiterer Perspektiven in der Forschung. Zudem wirken Projekte mit bürgerwissenschaftlicher Beteiligung in die Gesellschaft, indem sie wissenschaftliche Methodenkompetenz von Bürgerinnen und Bürgern fördern. Oswald bezieht dabei auch das Selbstverständnis der Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler mit ein, das die Frage nach Tragfähigkeit der Begriffe Citizen Science und Bürgerwissenschaften tangiert. Den Citizen Science in den Geschichtswissenschaften attestiert die Autorin gegenwärtig ein Experimentierstadium und plädiert für mehr Freiräume für Experimente bei gleichzeitig notwendigen konkreteren Forderungen und stärkeren Förderungen durch die Institutionen, um die an die Citizen Science gestellten Erwartungen einlösen zu können.

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In den Geschichtswissenschaften sind theoretische Reflexionen zum Feld der Citizen Science bislang weitgehend ein Desiderat. Dies gilt insbesondere für eine systematische Diskussion der Potenziale bürgerwissenschaftlicher Ansätze für die Generierung neuer Perspektiven auf Forschungsfragen. Solchen Potenzialen widmen sich Tobias Hodel und Christa Schneider ausgehend von vier Fallbeispielen aus den Bereichen der Quellenaufbereitung, der Informationsanreicherung und der Quellensuche. Am Beispiel der Projekte hackcappelli, heraldik@adfontes, Schöpfkarte, Corona-Memory sowie Ansätzen aus den Sprachwissenschaften gehen die Autorin und der Autor der Idee des CoDesign nach und loten den möglichen Beitrag einer Crowd für weitere Forschung und Vermittlung aus. Hodel und Schneider konstatieren für den Projekterfolg eine enge Verzahnung von Fragestellung, technischer Umsetzung und Zielgruppe. Sie plädieren für eine mittelfristige Einplanung aktiver Möglichkeiten zur bürgerwissenschaftlichen Forschungsmitbestimmung, um eine entsprechende Wirksamkeit der Projekte zu erreichen. Eine der zentralen Voraussetzungen für die erfolgreiche Planung und Durchführung von digitalbasierten Citizen-Science-Projekten sind bei allen Beteiligten vorhandene Data-Literacy-Kompetenzen. Wie Citizen-Science-Projekte den damit verbundenen Herausforderungen begegnen können, arbeitet der Beitrag von Marine Lemaire und Yvonne Rommelfanger vor allem mit Blick auf Crowdsourcing-Ansätze heraus. Die Autorinnen ziehen dazu das u. a. von Katharina Schüller für den Einsatz in Bildungseinrichtungen, Verwaltung und Wirtschaft entwickelte Data-Literacy-Framework heran. Daraus werden die für die jeweiligen Akteursgruppen erforderlichen Kompetenzen gemäß den Kompetenzfeldern »Datenkultur etablieren«, »Daten bereitstellen und auswerten«, »Ergebnisse interpretieren«, »Daten interpretieren« und »Handeln« abgeleitet. Die Autorinnen bilanzieren davon ausgehend die hohe Bedeutung einer präzisen und granularen Aufgabenbeschreibung, aus der sich das notwendige Kompetenzprofil der Beteiligten und das projektspezifische Vermittlungskonzept ergeben. Daneben spielen weitere generelle Aspekte wie die Durchführung einer Testphase mit Evaluation sowie ein grundsätzlich fehlertolerantes Klima eine wichtige Rolle. Der Beitrag von Katrin Moeller und Moritz Müller reflektiert zunächst ausgehend von den Traditionslinien historischer Citizen-Science-Initiativen den aktuellen geschichtswissenschaftlichen Stellenwert und die Potenziale von Citizen Science. Sie resümieren, dass angesichts der bislang nicht systematisch untersuchten Vielfalt bürgerwissenschaftlicher Geschichtsforschung und ihrer jeweiligen Forschungsgegenstände sowie der jeweiligen Nachnutzbarkeit, Rechtskonformität bzw. Qualität der Daten eine allgemeine Bewertung der geschichtswissenschaftlichen Verwertbarkeit bürgerwissenschaftlicher Erkennt-

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nisse und Sammlungen momentan erschwert bliebe. Das tatsächliche Forschungspotenzial von bürgerwissenschaftlichen Daten und Erkenntnissen entziehe sich dabei noch für die Geschichtswissenschaft. Der Beitrag beleuchtet vor diesem Hintergrund das Verhältnis von bürger- und fachwissenschaftlicher Forschung aus Perspektive der empirisch-quantitativen Sozialgeschichte. Am Beispiel des seit 2021 laufenden Citizen-Science-Projekts »Hallische Heiratsgeschichten« zur Transkription handschriftlicher Eheregister zweier hallischer Kirchengemeinden werden Konzept und Qualitätsmanagement des Projektes vorgestellt. Eine Zwischenbilanz zeigt, dass im Umgang mit seriellen Quellen und der Datenbankerstellung für Massendaten zwar hohe bürgerwissenschaftliche Kompetenzen vorliegen, allerdings in Projekten eine intensive fachwissenschaftliche Betreuung erforderlich ist. Die Daten sind nicht für das gesamte Spektrum von Forschungsanwendungen nutzbar, so dass hohe Anforderungen an die Datenqualität die Zusammenarbeit mit Genealoginnen und Genealogen erfordern. Mit der Philatelie und ihren spezifischen quellentechnischen und methodischen Zugängen nimmt René Smolarski ein bürgerwissenschaftliches Arbeitsfeld in den Blick, das weitgehend von Citizen Scientists getragen wird. Der Beitrag lotet das Potenzial einer engeren Einbindung der philatelistisch-historischen Citizen Science in die akademische Forschung aus, etwa für politik-, alltags-, gesellschafts- oder kommunikationsgeschichtliche sowie bildwissenschaftliche Fragestellungen. Mit den Ausführungen verbindet sich zugleich ein Plädoyer für die stärkere Berücksichtigung philatelistischer Quellen in der akademischen historischen Forschung überhaupt. Neben einem erweiterten Blick auf historische Forschungsfragen ermöglicht die Einbeziehung von Citizen Scientists zum einen den Zugang zu bisher unerschlossenen Quellenbeständen aus privaten Sammlungen, die mittels digitaler Technologien und den Methoden der Digital Humanities in die Forschung integriert werden können. Zum anderen wird dadurch die Einbindung von Expertenwissen zu postgeschichtlichen und philatelistischen Fragen ermöglicht. Die Notwendigkeit einer stärkeren Zusammenarbeit zwischen fach- und bürgerwissenschaftlicher Forschung ergibt sich zudem aus der erforderlichen Sicherung der philatelistischen Quellen- und Wissensbestände mit Blick auf die zunehmende Überalterung von Bürgerforscherinnen und -forscher in dem Bereich sowie dem im Zuge des Medienwandels zu konstatierenden Bedeutungsverlust von Briefmarken. Barbara Aehnlich und Petra Kunze loten in ihrem Beitrag die Möglichkeiten bürgerbeteiligter Forschung im Bereich der Flurnamenforschung in Thüringen aus. Dabei verweisen sie zum einen auf die lange Tradition, die die Erhebung und Auswertung von Flurnamen in Thüringen besitzt und, dass seit Beginn der Arbeiten in diesem Bereich auch die Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern

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erfolgte. Auf der anderen Seite betonen die Autorinnen aber auch, dass diese Einbindung bis dato stets auf der Ebene der reinen Datenerfassung und damit als Crowdsourcing stattfand. Durch den Einsatz digitaler Technologien für die kooperative Zusammenarbeit sei nunmehr jedoch auch die wissenschaftliche Aufbereitung der gewonnenen Daten durch Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler vermehrt in die Flurnamenforschung integriert worden. Das Thüringische Flurnamenportal, dessen Aufbau und Funktionsweise die Autorinnen in ihrem Beitrag beschreiben, sei nunmehr der logische Schluss der langen Historie flurnamenkundlicher universitärer und bürgerwissenschaftlicher Sammlungen und Forschungen in Thüringen. Die kooperativ auf- und ausgebaute Datenbasis soll dabei neben Impulsen für die Forschung auch Anlässe für generationenübergreifenden Wissenstransfer, kritische Auseinandersetzung mit lokaler Geschichte sowie bewusste Identifikation mit der Heimatregion für die beteiligten Bürgerinnen und Bürger bieten und ihnen Zugänge zu den wissenschaftlichen Arbeitsweisen und Diskursen ermöglichen. Hierfür sei das langfristige Engagement der Freiwilligen eine Grundvoraussetzung. Der gezielten Ausrichtung auf bürgerwissenschaftliche Ansätze in einem der Regionalportale der Bundesrepublik geht Martin Munke nach. Ziel des an der SLUB Dresden entwickelten und seit 2019 angeboten Regionalportals Saxorum ist es, digitale Angebote zur sächsischen Landeskunde und -geschichte zu vernetzen, regionale, nationale und internationale Bezüge herzustellen und gemeinsam recherchierbar zu machen. Der Blogbereich zu »Citizen Science« informiert zu bürgerwissenschaftlichen Aktivitäten und verspricht so zu einer stärkeren Popularisierung von Citizen-Science-Ansätzen beizutragen. Darüber hinaus ermöglicht die Plattform eine Begleitung und Unterstützung von bürgerwissenschaftlichen Projekten durch Hosting, Datenbereitstellung, die Übernahme von (Teil-)Aufgaben in Projekten oder die Bewerbung in den sozialen Medien. Als Beispiel wird das Transkriptionsprojekt »Dresdner Totengedenkbuch 1914–1918« herangezogen, das das Daten-Eingabe-System (DES) des Vereins für Computergenealogie nutzt. Das Saxorum-Portfolio umfasst zudem die Vermittlung von Methoden und Tools, insbesondere der Wikimedia-Angebote Wikidata und Wikisource. Das Projekt zieht insgesamt nach drei Jahren eine positive Bilanz, wenn auch der Abbau wahrgenommener Hürden bei einer Citizen-Science-Beteiligung Aufgabe bleibt. Als zentral wird der (insbesondere auch physische) Austausch und die Vernetzung der Akteure bewertet. Perspektivisch soll daher auch eine Forschungsdatenbank zu einer stärkeren Vernetzung und gegenseitigen Kontaktaufnahme beitragen. Einen Einblick in die Nutzung etablierter community-basierter Plattformen des Wikiversums für Citizen-Science-Projekte geben Jens Bemme und Christian Erlinger mit ihrem seit 2019 laufenden, in Dresden und Wien überwiegend

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ehrenamtlich verfolgten Projekt »Die Datenlaube«. In dem Projekt werden Artikelvolltexte des 19. Jahrhunderts der Zeitschrift »Die Gartenlaube« auf der Volltextplattform Wikisource transkribiert, die Illustrationen auf Wikimedia Commons gespeichert und die Metadaten in Wikidata erschlossen. Zudem können die Daten als »Linked Open Storytelling« für die digitale Wissenschaftskommunikation nachgenutzt werden. Die Beschreibung der Projektpraxis als »nicht-institutionelles offenes GLAM-Labor« mit den bürgerwissenschaftlichen, datenorientierten Programmier- und Forschungsarbeiten, der spezifischen digitalen Forschungsinfrastruktur und jeweiligen Fachkulturen zeigt die Potenziale solcher Beteiligungs- und Akteurskonstellationen für die bürgerwissenschaftliche und akademische Forschung auf. Besonders förderlich erweisen sich langfristige Schnittstellen zwischen bürgerwissenschaftlichen Erschließungsarbeiten und landes- bzw. universitätsbibliothekarischem Auftrag wie bei der SLUB Dresden, um nachhaltige Projekterfolge bezogen auf Lerneffekte, Methoden- und Netzwerkwissen sowie Beratungskompetenz zu generieren. Die Autoren sehen insgesamt Desiderate in einer grundsätzlichen Begleitforschung zu Projekten wie der »Datenlaube«. In Wirkungs- und Akteursanalysen offener Datenprojekte liege eine mögliche Scharnierfunktion zwischen datengebenden GLAM-Institutionen und Citizen Scientists. Anhand des interdisziplinären und intergenerationellen Forschungsprojektes #KultOrtDUS, das sich mit der Medienkulturgeschichte Düsseldorf als urbanem Forschungsfeld befasst, widmet sich Elfi Vomberg den spezifischen Erwartungen wissenschaftlicher und bürgerwissenschaftlicher Partnerinnen und Partner in einem kulturgeschichtlichen Projektsetting. Das Projekt unternimmt seit 2020 den Versuch, mit Hilfe von Akteurinnen und Akteuren aus der »›zweiten‹ und ›dritten‹ Reihe«, ein Archiv der Medienkulturgeschichte Düsseldorfs aufzubauen, Netzwerkstrukturen gemeinsam offen zu legen sowie urbane Mythen kritisch zu hinterfragen und aufzuarbeiten. Im Fokus steht dabei die in mehrerlei Hinsicht besondere Zeit des Aufbruchs in den 1970er Jahren. Bürgerinnen und Bürger waren somit auch im Sinne eines Crowdsourcing-Ansatzes dazu aufgerufen, eigene Materialien und Dokumente wie Fotos einzubringen und gemeinsam im Forschungskontext zu erschließen und einzubetten. In ihrem Beitrag schildert die Autorin das Auseinanderklaffen von Erwartungen seitens der universitären Forscherinnen und Forscher und der letztlich er- und gelebten Projektrealität. Dies betrifft neben anderem vor allem unterschiedliche Motivationen und Zielsetzungen bei den Bürgerinnen und Bürgern einerseits sowie den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern andererseits. Gerade der Umgang mit dieser Differenz stellt dabei, wie Vomberg herausarbeitet, einen wesentlichen Faktor für das Gelingen Citizen-Science-basierter Forschungsprojekte dar.

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Im Beitrag von Michael Brauer und Marlene Ernst steht mit der bürgerwissenschaftlichen Beteiligung in einem ernährungsgeschichtlichen Projekt ein Thema im Zentrum, das das Spannungsverhältnis zwischen fachwissenschaftlichem Interesse und lebenspraktischer Wirklichkeit sehr deutlich zu Tage treten lässt. Das zugrundeliegende Projekt »Salzburg zu Tisch« hatte es sich einerseits zur Aufgabe gemacht, das Profil der Salzburger Küche durch überregionale Vergleichsdaten zu schärfen, die die Mitwirkenden aus großen gedruckten Kochbüchern gewinnen sollten. Andererseits sollte das Verständnis der barocken Küche durch historische Rekonstruktionen, traditionelles Kräuterwissen sowie durch Vergleiche mit modernen Interpretationen verbessert werden. In ihrem Beitrag, der das mittlerweile abgeschlossene Projekt retrospektiv betrachtet, geht es um eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern es für ein wissenschaftliches Thema von Vorteil ist, wenn man viele Menschen außerhalb des Elfenbeinturms dafür interessiert, oder ob die Forschung sich dadurch gerade in Citizen-Science-Projekten nicht eher Probleme einhandelt. Auch hier steht, wie in anderen Beiträgen, vor allem der Umgang mit Erwartungen seitens der außeruniversitären Partner im Vordergrund, die dann in der tatsächlichen Projektarbeit nicht immer erfüllt werden können. Der Beitrag thematisiert somit vor allem die folgenden Kernfragen: 1. Wie geht man eigentlich mit Citizen Scientists um? 2. Bei welchen Themen ergibt Citizen Science überhaupt Sinn? 3. Ist es wirklich mehr als Datenerhebung? 4. Können wissenschaftliche Standards sichergestellt werden? 5. Stellt Citizen Science eine Gefahr für die etablierte Wissenschaftslandschaft dar? Für eine bürgerwissenschaftliche Beteiligung in historischen Projekten haben sich inzwischen verschiedene digitale Infrastrukturen und Plattformen etabliert. Eine solche Plattform steht mit Transkribus zur Verfügung, die die automatische Hand- und Druckschriftenerkennung ermöglicht. Günter Mühlberger, Gerhard Siegl und Kurt Scharr geben am Beispiel des Franziszeischen Katasters in Tirol (1855–1861) einen Einblick in ein Citizen-Science-Projekt, das diese Plattform nutzt. Im Projekt KATI-digital erfassen Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler Daten aus den Grund- und Bauparzellenprotokollen und den dazugehörigen Katastermappen. Die im Projekt entwickelte Weboberfläche read&search ermöglicht das Suchen und Blättern in den Beständen. Den Projekterfolg führen die Autoren auf den historischen Wert der Quellen, Communitybuilding begünstigende organisatorische Faktoren (offizielle Bestellung von Ortschronistinnen und -chronisten in Tirol) sowie die technische Umsetzung (Gestaltung der Weboberfläche für die Dateneingabe) zurück. Im Projekt erfolgte keine Ergebniskontrolle durch die Projektbetreiber, zudem wurde jede Aufgabe einer Person zugeordnet, die sich zur Übernahme verpflichtet hat. Als Erfolgsfaktoren werden somit insbesondere der Vertrauensvorschuss, die frei-

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willige Verpflichtung zur Aufgabenübernahme und nicht zuletzt die Unterstützung der Citizen Scientists gerade zum Projektbeginn benannt. Die Eignung der Forschungsplattform FactGrid für Citizen-Science-Vorhaben beleuchtet Olaf Simons Beitrag. Die Plattform ist eine Datenbank für die historische Forschung auf Basis der community-orientierten Wikibase-Software, einer Graphdatenbank. Sie fungiert als Pilot-Instanz im Rahmen des Aufbaus einer nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI4Memory). Die bisherigen Erfahrungen des Autors mit FactGrid-Projekten machen die vielfältigen Herausforderungen für eine breite zivilgesellschaftliche Einbindung bei der Nutzung einer Wikibase-Software deutlich. Über die technischen Aspekte hinaus liegen diese etwa in der komplexen Selbstorganisation der Beteiligten, der völligen Transparenz bei der Arbeit mit der Software, der Lernkurve bei der Expertensuche sowie einem hohen Betreuungsaufwand im Abgleich mit den vorhandenen Ressourcen. Dabei ist gerade die konzeptionelle Offenheit von FactGrid für Forschungsprozesse mit dynamischer Datenmodellierung, die flexiblen Möglichkeiten für Datenauswertungen und mehrsprachige Präsentationen durchaus interessant für Citizen-Science-Projekte. Der Beitrag zeigt, mit welchen Strategien Bürgerwissenschaftlerinnen und Bürgerwissenschaftler für lokalhistorische Projekte in Gotha gewonnen werden konnten und welche Schwierigkeiten dabei bestanden. Die modellhaften Erfahrungen fließen in die zunehmend globale Ausrichtung von FactGrid ein. Besonderes Potenzial für Citizen-Science-Projekte liegt nach Simons in der Darstellung vernetzter, dichter Datenlagen in Forschungsfeldern, in die vor allem Citizen Scientists ihr Expertenwissen einbringen können (z. B. Familienwissen um Genealogien). Zentral dafür ist jedoch eine auf Citizen-Science-Projekte hin modularisierte Plattform, die beispielsweise eine Vorstrukturierung von Arbeitsprozessen ermöglicht.

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Perspektiven auf Citizen Science

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Kristin Oswald Wie realistisch sind die Erwartungen an Citizen Science in den Geschichtswissenschaften und angrenzenden Feldern?

Einleitung Citizen Science hat in den vergangenen zehn Jahren im deutschsprachigen Raum viel Aufmerksamkeit bekommen. In Form von nationalen Förderprogrammen bis hin zu neuen Arbeitsschwerpunkten an Universitäten werden heute Ansätze unterstützt, die dazu beitragen, Bürgerinnen und Bürger in Forschungsprojekte zu integrieren. Auch in den Geisteswissenschaften entstehen immer mehr solcher Projekte, wobei ihr Anteil am gesamten Citizen-ScienceFeld verglichen mit dem anderer Disziplinen noch immer sehr gering ist. 1 Dabei sind die Erwartungen sehr hoch und die Lobeshymnen auf die Potenziale des Feldes überbieten sich gegenseitig. So soll Citizen Science unter anderem dazu beitragen, Impulse und Perspektiven aus der Gesellschaft in die Forschung zu tragen, neue Forschungsfragen zu entwickeln, mehr Bevölkerungsgruppen für Forschung zu begeistern, die Relevanz der Forschung für die Gesellschaft aufzuzeigen oder das Verständnis für wissenschaftliche Methoden in der Bevölkerung zu stärken. Citizen Science soll Wissenschaft demokratisieren und gilt dabei als 1 Zum Anteil der verschiedenen Disziplinen an der Citizen-Science-Literatur vgl. Samu Paajanen, Emilia Lampi, Joni Lämsä, Raija Hämäläinen: White paper. Themes, objectives and participants of citizen science activities, Zenodo 2021. Zum Anteil der Geisteswissenschaften in der deutschen Citizen-Science-Datenbank Bürger schaffen Wissen vgl. Barbara Heinisch, Kristin Oswald, Maike Weißpflug, Sally Shuttleworth, Geoffrey Belknap: Citizen Humanities, in: Katrin Vohland u.a. (Hrsg.): The Science of Citizen Science, Wiesbaden 2021, S. 97–118, S. 104–105. Zum Anteil der verschiedenen Disziplinen in den Citizen-Science-Plattformen von Deutschland, Österreich und der Schweiz vgl. Nicola Moczek, Susanne Hecker, Silke L. Voigt-Heucke: The Known Unknowns: What Citizen-Science-Projects in Germany Know about Their Volunteers – And What They Don’t Know, in: Sustainability 13.20 (2021), 11553. Zum Anteil der verschiedenen Disziplinen auf deutsch- und englischsprachigen Plattformen vgl. Barbara Heinisch: Vorherrschende Wissenschaftszweige auf deutsch- und englischsprachigen Citizen Science-Projektplattformen, in: Thomas Bartoschek, Daniel Nüst, Mario Pesch (Hrsg.): Proceedings of the Forum Citizen Science 2019. Die Zukunft der Bürgerforschung, 25. September 2019, Münster 2019, S. 40–52.

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Heilmittel gegen Falschinformation, Populismus, Hate Speech, die Aufspaltung der Gesellschaft, die Klimakrise und zahlreiche andere problematische gesellschaftliche Entwicklungen. 2 Hohe Erwartungen also, die von den Akteurinnen und Akteuren des Feldes selbst gern repliziert werden, um sich Fördergelder und Aufmerksamkeit zu sichern. Doch hehre Ansprüche können mit großer Enttäuschung einhergehen, wenn sie nicht erfüllt werden. So sind Förderprogramme und Arbeitsschwerpunkte, Vernetzungs- und Capacity-Building-Initiativen oder Museumsstellen zu Citizen Science in Deutschland in der Regel nicht dauerhaft finanziert. Kann das Feld die hoch gesteckten Erwartungen nicht erfüllen, ist es deshalb nicht unwahrscheinlich, dass die Ressourcen dafür wieder gestrichen werden. Dies gilt umso mehr, als Citizen Science durchaus nicht unumstritten ist. Neben Lobeshymnen gibt es auch Kritik. Diese thematisiert meist andere Gesichtspunkte als die genannten Erwartungen, beispielsweise Befürchtungen bezüglich der Datenqualität oder die Angst vor dem Ersatz von Forschungsstellen durch ehrenamtliche Laienarbeit. Und sie wird, so zumindest der Eindruck der Autorin, oft von Menschen vorgebracht, die über keine eigenen Erfahrungen in entsprechenden Projekten verfügen. Obwohl diese Aspekte seit Jahren intensiv im Feld diskutiert werden und es zumeist Lösungsansätze für sie gibt, zeigen sie doch, dass das weitgehend positive Stimmungsbild schnell umschlagen kann, sollten die gesellschaftlichen Ziele nicht erreicht werden. Deshalb soll hier ein kritischer Blick darauf geworfen werden, inwieweit Citizen Science in den Geschichtswissenschaften und angrenzenden Feldern tatsächlich die erhofften Potenziale eröffnet und zu den gewünschten Änderungen geführt hat bzw. führen kann. 3 Zwar wurden – so viel sei vorweggenommen – zahlreiche Potenziale bis dato nur bedingt umgesetzt. Wie sie tatsächlich ausgeschöpft und die Erwartungen erfüllt werden können, zeigen aber die bisherigen Grenzen von Citizen Science und die durch sie deutlich werdenden Stellschrauben. 2 Vgl. Cord Arendes: Historiker als »Mittler zwischen den Welten«? Produktion, Vermittlung und Rezeption historischen Wissens im Zeichen von Citizen Science und Open Science, in: Heidelberger Jahrbücher Online 2 (2017), S. 19–58, S. 21. Bürger schaffen Wissen (Hrsg.): Citizen Science für alle. Eine Handreichung für Citizen Science-Beteiligte, Berlin 2016, S. 8. Peter Finke: Vorwort, in: ders. (Hrsg.): Freie Bürger, freie Forschung. Die Wissenschaft verlässt den Elfenbeinturm, München 2015, S. 5. Moczek, Hecker, Voigt-Heucke: The Known Unknowns. Paajanen, Lampi, Lämsä, Hämäläinen: White paper, S. 7. Bruno J. Strasser, Jérôme Baudry, Dana Mahr, Gabriela Sanchez, Elise Tancoign: Citizen Science? Rethinking Science and Public Participation, in: Science & Technology Studies 32.2 (2019), S. 52–76. 3 Transparenz-Anmerkung: Die Autorin dieses Beitrags selbst steht dem Feld positiv gegenüber und ist für das BMBF-geförderte Citizen-Science-Projekt SocialMediaHistory – Geschichte auf Instagram und TikTok an der Universität Hamburg tätig.

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Forschung für Impulse und Perspektiven aus der Gesellschaft öffnen Forschungsfragen entstehen in den meisten wissenschaftlichen Disziplinen vorwiegend aus dem Feld selbst heraus. Das gilt auch und insbesondere für die Geschichts- und angrenzenden Wissenschaften. 4 Hier stoßen Forscherinnen und Forscher meist allein oder in Gruppen auf Desiderate im aktuellen Forschungsstand, die sie dann zu füllen versuchen. Ist für die Beantwortung der Forschungsfrage eine Förderung notwendig, müssen die Relevanz des Themas und die angestrebte Methode gegenüber Fördergebern und Gremien dargelegt werden. Um sie zu überzeugen, braucht es vor allem innerwissenschaftliche und disziplinbezogene Argumente, denen dann auch die Umsetzung des Forschungsprojektes folgt. Im Prozess der Entwicklung von Forschungsfragen spielt die gesellschaftliche Perspektive also in der Regel nur bedingt eine Rolle. Zwar werden auch die Interessen von Forschenden direkt oder indirekt von gesellschaftlichen Geschehnissen und Veränderungen beeinflusst, sodass diese sich auf die Entwicklung von Forschungsprojekten oder ganzen Disziplinen auswirken können. Ein Beispiel aus den Geschichts- und archäologischen Wissenschaften der letzten Jahre ist der zunehmende Fokus auf spezielle Themen der Gesellschaftsgeschichte, beispielsweise Migration oder die Sozialgeschichte gesellschaftlicher Minderheiten und Untergruppen. Jedoch wird gemeinhin nicht gefragt, welche Aspekte eines Themas für die Gesellschaft oder bestimmte Bevölkerungsgruppen wichtig oder interessant wären. Und da Bürgerinnen und Bürger in Forschungsprozesse meist nicht einbezogen werden, gibt es für sie auch keine Wege, ihre Ideen oder Fragen einzubringen. Man kann natürlich fragen, warum das überhaupt geschehen sollte. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kennen ihr Feld und verfügen über die Expertise, auszumachen, welche Themen eine nähere Betrachtung wert sind. Zugleich herrscht in Deutschland gesetzlich festgelegte Forschungsfreiheit, damit Forschende nicht von staatlichen Instanzen in der Wahl ihrer Forschungsthemen und der Veröffentlichung ihrer Ergebnisse beeinflusst werden. 5 Das 4 Archäologische Ausgrabungen als Forschungsbereich stellen hier eine gewisse Ausnahme dar, da Grabungsorte in Deutschland nur selten gezielt ausgewählt werden. Stattdessen dominieren Rettungsgrabungen im Vorfeld von Baumaßnahmen, sodass die Auswahl der Grabungsorte sehr häufig von aktuellen Bautätigkeiten für Straßen, Gebäude usw. abhängt. Hinsichtlich der Auswahl archäologischer Forschungsthemen jenseits solcher Rettungsgrabungen gelten die Aussagen zu den Geschichts- und angrenzenden Wissenschaften. 5 Natürlich geben Förderreihen von Drittmittelgebern zuweilen Themenbereiche vor, zu denen Förderanträge gestellt werden können. Dennoch ist es Forschenden an Universitäten und Forschungseinrichtungen, die nicht über Drittmittel angestellt sind, grundsätzlich freigestellt, ihre Forschungsthemen selbst zu wählen. Dies wird gerade bei Qualifikationsarbeiten durch den Einfluss der Betreuenden zwar mitunter begrenzt, jedoch sind dies eben keine gesetzlichen Regelungen o. Ä., sondern innerwissenschaftliche (und durchaus diskutable) Vorgehensweisen.

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bedeutet aber nicht, dass eine Orientierung an gesellschaftlichem Interesse nicht dennoch wünschenswert wäre. So böte sich damit eine Möglichkeit, die oft geäußerte, aber selten konkret belegte Relevanz geschichtswissenschaftlicher und angrenzender Forschung zu untermauern, indem entsprechende Projekte beispielsweise die historischen Ursachen und Hintergründe aktueller Entwicklungen untersuchen, die Entwicklungen damit verständlicher machen und bei ihrer Einordnung helfen. Darüber hinaus kann eine Diversifizierung der Forschungsteilnehmerinnen und -teilnehmer und damit der Perspektiven die inhaltliche Qualität und den Innovationsgrad von Forschung deutlich erhöhen. 6 Gerade in ihrer sehr engen Expertise tragen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ebenso wie andere Expertinnen und Experten mitunter Scheuklappen, wenn es darum geht, Denkweisen und Impulse von außerhalb ihres Feldes in ihre Arbeit zu integrieren. 7 Innovative Forschungsfragen und -methoden entstehen jedoch häufig gerade im Austausch mit anderen Disziplinen oder mit Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft. Da dieser Austausch ein integraler Bestandteil von Citizen-Science-Projekten sein sollte, steht die Erwartung im Raum, dass entsprechende Projekte neue Fragestellungen und Perspektiven aus der Zivilgesellschaft in die Geschichtswissenschaften hineintragen oder gemeinsam mit der Zivilgesellschaft entwickeln. Dem scheint bisher jedoch kaum so zu sein. Ein Grund hierfür ist, dass die bisherigen Projekte nur bedingt Forschungsdesigns und -methoden nutzen, dank denen den Bürgerinnen und Bürgern Gehör verschafft wird. Forschung auf Augenhöhe bleibt die Ausnahme.

6 Gerd Grözinger, Marlene Langholz-Kaiser: Diversität in der Wissenschaft. Bewusste Anerkennung von Unterschieden, in: Forschung und Lehre 3 (2018), https://www.forschung-undlehre.de/zeitfragen/bewusste-anerkennung-von-unterschieden-400 (letzter Zugriff: 06. Juni 2022). Sylvia Manchen Spörri: Innovationspotenziale an Hochschulen durch Diversity-kompetente Führung freisetzen, in: Luzia Truniger (Hrsg.): Führen in Hochschulen, Wiesbaden 2017. Carole Paleco, Sabina García Peter, Nora Salas Seoane, Julia Kaufmann, Panagiota Argyri: Inclusiveness and Diversity in Citizen Science, in: Katrin Vohland u.a.: The Science of Citizen Science, Cham 2021, S. 261–281. Zu Diversität innerhalb der Archäologie siehe auch Kristin Oswald: Abseits von Fan Boys and Girls. Minderheiten in der Archäologiekommunikation, in: Tagungsband zur Konferenz Aussenseiter*Innen, Randgruppen und andere Unsichtbare der AG Theorien in der Archäologie (in Druck). Thomas Sugrue u.a.: The compelling need for diversity in higher education, Ann Arbor 1999. Rajul E Pandya: A framework for engaging diverse communities in citizen science in the US, in: Frontiers in Ecology and the Environment 10.6 (2012), S. 314–317. 7 Kristin Oswald: Garantie für Innovativität? Qualitätssicherung in der Wissenschaft. Interview mit Martin Reinhart, in: KM Magazin 7/2014, S. 9–12, https://www.kulturmanagement.net/ dlf/5ae8bd38e70ff32f7e9bdbe3fda92a31,1.pdf (letzter Zugriff 06. Juni 2022).

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Meist werden Citizen Science-Ansätze in kontributiv, kollaborativ und kokreativ eingeteilt, wobei die Grenzen fließend sein können: 1) Kontributive Projekte werden von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern konzipiert und Mitglieder der Öffentlichkeit steuern dazu in erster Linie Daten bei, 2) Kollaborative Projekte werden von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern konzipiert und Mitglieder der Öffentlichkeit steuern Daten bei, können aber auch bei der Verfeinerung des Projektdesigns, der Datenanalyse oder der Verbreitung der Ergebnisse helfen, 3) Ko-kreative Projekte werden von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Mitgliedern der Öffentlichkeit gemeinsam konzipiert, wobei zumindest einige der bürgerschaftlichen Teilnehmenden an den meisten oder allen Schritten des wissenschaftlichen Prozesses beteiligt sind. 8 Die Mehrheit der Citizen-Science-Projekte in den Geschichtswissenschaften und angrenzenden Fächern, aber auch darüber hinaus lässt sich im Bereich der kontributiven Ansätze verorten. Das legen Projektdatenbanken wie Bürger schaffen Wissen, die Publikationslage sowie die bisher einzige Studie 9 zu den Formaten deutscher Citizen-Science-Projekte nahe. Demnach können die Teilnehmenden in vielen Projekten zwischen verschiedenen Partizipationsformaten wählen, wobei die absolute Mehrheit davon (91 %) kontributiv, fast die Hälfte (45 %) kollaborativ und knapp ein Drittel (30 %) ko-kreativ sind. Europaweit ist das Ergebnis ähnlich. 10 Das ist wenig überraschend. Kontributive Projekte sind meist einfacher umzusetzen als kollaborative und ko-kreative Ansätze, weil erstere am stärksten den gängigen wissenschaftlichen Arbeitsweisen entsprechen, etwa dass die zentralen Aufgaben bei den Forschenden verbleiben: Sie definieren Thema und Herangehensweise des Projektes, übernehmen das Projektmanagement, strukturieren die Datenerhebung, werten die gesammelten Informationen aus und publizieren sie. In mehr als der Hälfte der deutschen Projekte übernehmen die Forschenden diese Aufgaben allein. Bei knapp der Hälfte der Projekte können auch die Teilnehmenden die Ergebnisse mit den Forschenden diskutieren; bei nur zu 20 % bis 30 % werden sie zudem in weitere Aufgaben wie die Dateninterpretation und -publi8 Rick Bonney u.a.: Public Participation in Scientific Research. Defining the Field and Assessing Its Potential for Informal Science Education. A CAISE Inquiry Group Report. Center for Advancement of Informal Science Education (CAISE). Washington, D.C. 2009, S. 11. 9 Moczek, Hecke, Voigt-Heucke: The Known Unknowns, S. 13. 10 Susanne Hecker, Lisa Garbe, Aletta Bonn: The European citizen science landscape – A snapshot, in: Susanne Hecker u.a. (Hrsg.): Innovation in Open Science, Society and Policy, London 2018, S. 190–200.

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kation oder in die Qualitätssicherung involviert. 11 Damit haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer also nur begrenzte Möglichkeiten, in das Projekt hineinzuwirken. Das gilt sowohl für digitale Projekte, etwa zur Annotation digitalisierter Kulturgüter oder zur Sammlung historischer Dokumente zu einem bestimmten Thema, als auch für analoge Projekte, bei denen Bürgerinnen und Bürger beispielsweise Texte transkribieren oder bei Feldbegehungen archäologische Objekte zusammentragen. Aushandlungsprozesse zwischen den Teilnehmenden und den Forschenden finden in den vielen kontributiven Projekten demnach nur bedingt statt, gerade wenn diese digital sind und/oder über Drittmittel finanziert werden und damit Struktur und Ablauf bereits bei der Antragstellung festgelegt sind. Hier gibt es oft nur wenig Raum für Impulse der Beteiligten, der über Ansätze wie Anmerkungsfelder im Datenbanksystem oder vereinzelte Online-Gruppentreffen hinausgeht. Etwas anders ist dies bei der langfristigen Zusammenarbeit etwa von Museen und archäologischen Landesämtern mit Ehrenamtlichen sowie bei Kooperationen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Heimat- oder Geschichtsvereinen. Sie sind oft deutlich vielfältiger und beteiligungsintensiver, da die Bürgerinnen und Bürger eine Expertise entwickeln können, die in die CitizenScience-Strukturen einfließt. Das kann etwa in Hinblick auf die Nutzung bestimmter Begriffe in historischen Dokumenten sein, auf die Verteilung archäologischer Objektgruppen in einer Region oder auf die Archivlage zu einem gewissen Thema. Solche Informationen sind besonders wertvoll für die Institutionen und können beispielsweise zu einer Anpassung eines Forschungsvorhabens oder der weiteren Zusammenarbeit mit den Ehrenamtlichen führen. Dennoch sind die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler meist federführend und tradierte Hierarchien bleiben bestehen. 12 Interessant ist in diesem Kontext Karl Marx´ Konzept der Entfremdung der Arbeiterinnen und Arbeiter von den Ergebnissen ihrer eigenen Arbeit. 13 Dass diese Theorie auf den Wissenschaftsbetrieb zutrifft, wurde immer wieder aufgezeigt: Auch hier gibt es eine klare Trennung zwischen Arbeiterinnen bzw. Arbeitern und Intellektuellen, zwischen körperlicher bzw. einfacher geistiger Arbeit einerseits und geistig-konzeptioneller Arbeit andererseits, die zu einer Abwertung derjenigen führt, die körperliche oder scheinbar leicht wiederholbare geistige Arbeitsschritte durchführen – oft Menschen ohne akademische 11 Moczek, Hecke, Voigt-Heucke: The Known Unknowns, S. 13. 12 Meine Vermutung ist, dass langfristige Kooperationen in Museen, archäologischen Landesämtern usw. nur selten ko-kreativ sind, dass bei ihnen also die Initiative kaum von der Zivilgesellschaft ausgeht bzw. deren Vertreterinnen und Vertreter kaum in alle Forschungsschritte inkl. der Konzeptentwicklung integriert sind. 13 Karl Marx: Pariser Manuskripte. Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, Berlin 1987.

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Ausbildung in der entsprechenden Disziplin. Dies gilt beispielsweise für Laborassistentinnen und -assistenten 14, für Arbeiterinnen und Arbeiter auf archäologischen Ausgrabungen 15 sowie für Teilnehmende an kontributiven CitizenScience-Projekten, die einfache, wiederholbare und nicht auf individuelle Kompetenz ausgerichtete Tätigkeiten ausführen, die die eigentliche wissenschaftliche Arbeit nur vorbereiten. Dass die Bürgerinnen und Bürger dabei eine eigene Expertise mitbringen, die zwar nicht dem jeweiligen akademischen Feld entstammt, aber dennoch wertvoll für dieses ist, ist häufig nicht von Interesse oder wird sogar gänzlich negiert. Die Teilnehmenden werden als Werkzeuge betrachtet und nicht in die Interpretation oder Auswertung ihrer eigenen Arbeit eingebunden – also von dieser entfremdet. Wenn sie mehr Einblicke oder Einfluss möchten oder bekommen sollen, wird dies oft mit Skepsis betrachtet, überschreitet es doch die scheinbar naturgegebene Trennung und stellt bisherige Arbeitsweisen in Frage. 16 Folgt man diesem Ansatz, verwundert es kaum, dass bei nur wenigen Projekten das Forschungsdesign so angelegt ist, dass die Teilnehmenden aktiv Einfluss nehmen, sich als Individuen mit ihren spezifischen Kompetenzen einbringen und eigene Unterprojekte umsetzen können. Entsprechend erfüllen auch die mehrheitlich kontributiven Citizen-Science-Projekte in den Geschichtswissenschaften bisher nur bedingt die Erwartung, dass durch die Impulse der Teilnehmenden neue Forschungsfragen generiert werden, weil schlicht kein Raum für diese Impulse vorgesehen ist. Zu stark ist dafür weiterhin die Trennung zwischen Laien und Expertinnen bzw. Experten und zu sehr sind die Teilnehmenden als Hilfskräfte tätig, die primär einen vordefinierten, meist wenig individuellen und vergleichsweise simplen Beitrag zu Wissenschaft leisten. 17 Dabei muss ergänzt werden, dass nicht alle Bürgerinnen und Bürger einen umfassenden Beitrag leisten möchten – und das ist natürlich in Ordnung. Viele finden die Teilhabe an einem kontributiven Projekt bereits spannend, einsichtsreich und zeitaufwändig genug. Zudem haben auch kontributive Projekte eine Berechtigung im Citizen-Science-Feld und tragen etwas zur Forschung bei. Sie können die Beteiligungshürden für eine breite Gruppe möglicher Teil14 Nick C. Russell, Elizabeth M. Tansey, Pamela V. Lear: Missing Links in the History and Practice

of Science. Teams, Technicians and Technical Work, in: History of Science 38.2 (2000), S. 237– 241. Steven Shapin: The Invisible Technician, in: American Scientist 77.6 (1989), S. 554–563. 15 Allison Mickel: Why Those Who Shovel Are Silent. A History of Local Archaeological Knowledge and Labor, Louisville 2021, S. 32–37, S. 94–95. 16 Ebd. 17 Martina Franzen: Open Science als wissenschaftspolitische Problemlösungsformel?, in: Dagmar Simon, Andreas Knie, Stefan Hornbostel, Karin Zimmermann (Hrsg.): Handbuch Wissenschaftspolitik, Wiesbaden 2016. Katrin Vohland, Göbel Claudia: Open Science und Citizen Science als symbiotische Beziehung?, in: TATuP – Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis 26.1–2 (2017), S. 18–24.

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nehmender senken 18, sind häufig zeitlich flexibel und voraussetzungsärmer 19. Geht es jedoch um die Erwartung, die Forschung mittels Citizen Science für Impulse aus der Zivilgesellschaft zu öffnen, führt der große Anteil kontributiver Citizen-Science-Projekte dazu, dass der Einfluss von Citizen Science auf neue Forschungsmethoden und innovative Forschungsfragen eher begrenzt bleibt. Dieses Potenzial bleibt damit weitgehend ungenutzt.

Neue Bevölkerungsgruppen für Forschung begeistern Geht es um partizipative Ansätze in der Wissenschaft, äußern Projektinitiatorinnen und -initiatoren gegenüber der Autorin immer wieder die Annahme, dass schon die Möglichkeit zur Teilnahme auch ein Interesse an einer Teilnahme hervorrufe. Dem liegt die Annahme zugrunde, Wissenschaft sei ein so interessantes Feld, dass jeder daran teilnehmen wolle, dass also nur die fehlenden Möglichkeiten die Menschen bisher davon abgehalten hätten. Entsprechend wird Citizen Science als ein Weg betrachtet, breite Bevölkerungsgruppen und dabei insbesondere auch jene für Forschung zu begeistern, die sich sonst nur wenig mit entsprechenden Inhalten beschäftigen. Bisherige Studien und Erfahrungen widersprechen dieser Erwartung jedoch. So zeigte etwa eine Untersuchung zur britischen Citizen-Science-Plattform MicroPasts des University College London und des British Museum, dass die Plattform primär Forschende und jene Bevölkerungsschichten anspricht, die sich auch sonst für Museen und ähnliche Angebote sowie historische und archäologische Themen interessieren. 20 Das verwundert kaum. Bereits seit Langem unterstreichen Erhebungen etwa zu Museumsbesuchen oder zum Interesse an Wissenschaft eine Korrelation zwischen dem Bildungsstand der Menschen und ihrer Beschäftigung mit Wissenschaft. 21 Je höher der Bildungsstand desto höher 18 Lisa Pettibone, David Ziegler: Citizen Science. Bürgerforschung in den Geistes- und Kulturwissenschaften, in: Kristin Oswald, René Smolarski (Hrsg.): Bürger Künste Wissenschaft. Citizen Science in Kultur und Geisteswissenschaften, Gutenberg 2016, S. 57–69. 19 Franziska Mucha, Kristin Oswald: Partizipationsorientierte Wissensgenerierung und Citizen Science im Museum, in: Henning Mohr, Diana Modarressi-Tehrani (Hrsg.): Museen der Zukunft. Trends und Herausforderungen eines innovationsorientierten Kulturmanagements, Bielefeld 2020, S. 295–328. 20 Chiara Bonacchi, Andrew Bevan, Adi Keinan-Schoonbaert, Daniel Pett, Jennifer Wexler: Participation in heritage crowdsourcing, in: Museum Management and Curatorship 34 (2019), S. 166– 182. 21 Siehe hierzu auch den Deutschen Freiwilligensurvey. Dieser untersucht freiwilliges Engagement, nicht nur im Wissenschaftsbereich, kommt aber hinsichtlich Diversität zu ähnlichen Ergebnissen: Julia Simonson u.a. (Hrsg.): Freiwilliges Engagement in Deutschland: Der Deutsche Freiwilligensurvey 2019, Berlin 2021. Siehe auch die Ergebnisse des jährlichen Wissenschaftsbarometers: Wissenschaft im Dialog (Hrsg.): Wissenschaftsbarometer.

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das Interesse und desto höher die Bereitschaft, die eigene Freizeit wissenschaftlichen Themen, Informationen oder Institutionen zu widmen. Dies gilt insbesondere für die Geisteswissenschaften, ihre Einrichtungen und Projekte, die mitunter als weit entfernt von der Lebensrealität vieler Menschen wahrgenommen werden. 22 Der Anteil der Menschen, die Institutionen wie Museen besuchen, liegt durchschnittlich bei nur 10 bis 15 % der Bevölkerung. 23 Die Möglichkeit, Museen besuchen oder die Informationsangebote von Universitäten und Forschungseinrichtungen in Anspruch nehmen zu können, sorgt demnach nicht dafür, dass dies alle Menschen tun. Es ist also wahrscheinlich, dass auch die Möglichkeit, an Citizen-Science-Projekten teilnehmen zu können, nicht automatisch dazu führt, dass sich neue Bevölkerungsschichten davon angezogen fühlen. 24 Dies gilt erst recht für Projekte, die vor allem an den Interessen der Forschenden und weniger an denen der Teilnehmenden ausgerichtet sind. Allerdings kann das nur vermutet werden, da nur ein Viertel der deutschen Citizen-Science-Projekte überhaupt die Zufriedenheit der Teilnehmenden abfragt oder Daten über deren Diversität sammelt. 25 Ein Weg, mangelnder Diversität entgegenzuwirken, ist eine breitere Ansprache potenzieller Teilnehmender. Erfolgt die Werbung für ein Citizen-ScienceProjekt hauptsächlich über die Kanäle einer Forschungsinstitution und greift sie dabei vor allem die disziplininterne Relevanz des Themas auf, werden Menschen, die weder diese Kanäle nutzen noch die Relevanz des Themas für sich erkennen, darauf auch nicht reagieren. Um neue Gruppen anzusprechen und ihnen die Bedeutung einer Forschungsfrage zu verdeutlichen, müssen sich die Forschenden fragen, warum potenzielle Teilnehmende an einem Projekt partizipieren sollten. Sie müssen also ihre eigene Perspektive ein Stück weit verlassen, um die anderer einnehmen zu können. Es erscheint wahrscheinlich, dass es kollaborative oder ko-kreative CitizenScience-Projekte am besten schaffen, neue Bevölkerungsgruppen anzusprechen, da hier die Interessen der potenziellen Teilnehmenden von Beginn an eine zentrale Rolle spielen. Gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren entwickelte und durchgeführte Projekte wären demnach besonders erfolgreich. Dabei agieren die Bürgerinnen und Bürger meist nicht als Laien, die 22 Arwen Cross: Who is ›The Public‹ and how can we communicate with them better?, in: Wissenschaftskommunikation.de, 02.05.2017, https://www.wissenschaftskommunikation.de/who-is-thepublic-and-how-can-we-communicate-with-them-better-4793/ (letzter Zugriff: 06. Juni 2022). 23 Thomas Renz: Nicht-Besucherforschung. Die Förderung kultureller Teilhabe durch Audience Development, Bielefeld 2015. 24 Paajanen, Lampi, Lämsä, Hämäläinen: White paper. Paleco, García Peter, Salas Seoane, Kaufmann, Argyri: Inclusiveness and Diversity in Citizen Science, in: Katrin Vohland u.a. (Hrsg.): The Science of Citizen Science, Cham 2021 S. 261–281. 25 Moczek, Hecke, Voigt-Heucke: The Known Unknowns.

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vordefinierte Aufgaben übernehmen, sondern bringen eine eigene, spezielle Expertise mit, die für das Projekt interessant und notwendig ist. Dabei kann es beispielsweise um Themen wie Migrations- oder Lokalgeschichte gehen oder auch um Geschichtsrezeption. Solche Projekte entwickeln Forschungsfragen zu einem Thema, das für die Teilnehmenden eine persönliche Bedeutung hat, und schaffen es damit, Vorurteilen wie jenem der langweiligen Geschichtswissenschaft entgegenzuwirken. Die Zusammenarbeit auf Augenhöhe sorgt dafür, dass sich die Bürgerinnen und Bürger ernst genommen und wertgeschätzt fühlen. Solche beziehungsgebundenen und auf Vertrauen basierenden Forschungsprojekte sind aber sehr aufwendig, benötigen Zeit und Projektmitarbeiterinnen bzw. -mitarbeiter, die sich schwerpunktmäßig und langfristig dieser Aufgabe widmen. Auch hinsichtlich der Ansprache neuer Bevölkerungsgruppen mittels Citizen Science gilt also, dass viele Projekte diese Erwartung wohl vor allem dann erfüllen, wenn sie ein Thema behandeln, dass einen direkten Bezug zur Lebensrealität der Teilnehmenden hat. Erneut ist hier das Projektdesign entscheidend. Zugleich erlauben es die aktuellen Fördermöglichkeiten oft nicht, zusätzliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für Kommunikation, Moderation und Beziehungsarbeit anzustellen bzw. sehen sie zu wenig vorbereitende Zeit für diese Aufgaben vor. Zudem erwarten sie häufig bereits für die Antragstellung fertige Konzepte, was beispielsweise Ko-Kreation erschwert. Projektlaufzeiten von unter drei Jahren machen es so beinahe unmöglich, neue Gruppen anzusprechen und Vertrauen aufzubauen, obwohl Citizen Science an sich eine solche Entwicklung durchaus unterstützen und fördern kann.

Wissenschaftliche Methodenkompetenz auf Seiten der beteiligten Bürgerinnen und Bürger fördern Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass die hohen Erwartungen an den Impact von Citizen Science auf Wissenschaft und Gesellschaft aktuell nur bedingt erfüllt werden. Dabei hängen bestehende Einstellungen, Förderstrukturen und Projektdesigns eng zusammen und beeinflussen sich gegenseitig, etwa hinsichtlich der Rollen und Deutungshoheit von Teilnehmenden und Forschenden. Dies gilt auch für die kommunikativen Potenziale von Citizen Science sowohl hinsichtlich der Ansprache potenzieller Teilnehmerinnen und Teilnehmer als auch hinsichtlich der Weitergabe von Fachwissen. So vermittelt nicht jedes Citizen-Science-Projekt auch wissenschaftliche Methoden oder erhöht das

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fachspezifische Hintergrundwissen und Verständnis auf Seiten der Bürgerinnen und Bürger, genannt Scientific Literacy. 26 Wer beispielsweise historische Dokumente transkribiert, lernt dabei sicherlich etwas über Hand- und Druckschriftenkunde sowie über das Thema des Projekts. Über die Auswertung und Interpretation der Dokumente und die dabei angewandten Methoden, über Wissenschaftlichkeit und deren Kriterien, über die Arbeitsweisen von Historikerinnen und Historikern, über die Strukturen von Wissenschaft als Arbeitsbereich lernen die Teilnehmenden hingegen eher wenig, wenn ihre Tätigkeit weitgehend anonym und ohne persönlichen Kontakt stattfindet. Anders ist es jedoch, wenn die Bürgerinnen und Bürger auch an der Sammlung der Dokumente sowie deren Analyse beteiligt werden und wenn ihnen ein kommunikativer Rahmen geboten wird, in dem sie ihre Ideen mit den Forschenden und miteinander diskutieren können. Dieser Austausch ist auch für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler essenziell, da er gegenseitiges Lernen fördert. Jedoch herrscht in vielen Citizen-Science-Projekten und auch in der Wissenschaftskommunikation häufig noch ein Defizitverständnis vor, das davon ausgeht, dass Bürgerinnen und Bürger über nicht ausreichend wissenschaftliches Verständnis verfügen und dass Wissenschaft(-skommunikation) diese Wissenslücken füllen müsse. Dass auch die Bürgerinnen und Bürger Wissens- und Inspirationsquellen sein können, bleibt dabei weitgehend außen vor. 27 Um die Methodenkompetenz der Teilnehmenden zu fördern, müssen Weiterbildungen ein integraler Bestandteil eines Citizen-Science-Projekts sein. Zwar beinhalten die meisten Projekte entsprechende Inhalte, allerdings in ganz unterschiedlichem Ausmaß. 28 Sollen beispielsweise Bilder verschlagwortet oder markiert oder Dokumente transkribiert werden, bieten Projekte je nach Format schriftliche Anleitungen, kurze Video-Tutorials und Übungen an, ein OnlineMeeting oder auch eine Einführung vor Ort, die den Umgang mit der Datenbank und die Aufgaben erklären. Von einem erhöhten Verständnis für Wissenschaft, wissenschaftliches Arbeiten und wissenschaftliche Qualitätskriterien 26 Rick Bonney, Tina B. Phillips, Heidi L. Ballard, Jody W. Enck: Can citizen science enhance public understanding of science?, Public Understanding of Science 25.1 (2016), S. 2–16. Julia Lorke, Vincent Schmid-Loertzer: Wie beeinflusst Citizen Science die Scientific Literacy der Teilnehmer*innen?, in: Bürger schaffen Wissen Blog, 21. Juni 2021, https://www.buergerschaffenwissen.de/blog/wie-beeinflusst-citizen-science-die-scientific-literacy-der-teilnehmerinnen (letzter Zugriff: 06. Juni 2022). Richard Edwards u.a.: Learning and developing science capital through citizen science, in: Hecker, Haklay, Bowser, Makuch, Vogel, Bonn: Innovation, S. 381–390. 27 Arendes: Historiker als »Mittler zwischen den Welten«?, S. 25. Antonio Gomes da Costa: Knowledge, ignorance and the ever-lasting deficit model, in: Exsite Spokes 49 (2019),. https://www.ecsite. eu/activities-and-services/news-and-publications/digital-spokes/issue-49#section=section-indepth &href=/feature/depth/knowledge-ignorance-and-ever-lasting-deficit-model (letzter Zugriff: 06. Juni 2022). 28 Moczek, Hecke, Voigt-Heucke: The Known Unknowns.

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aufgrund der Teilnahme an einem solchen Citizen-Science-Projekt kann aber nicht prinzipiell ausgegangen werden. Sollen die Teilnehmenden verstehen, wie Forschung funktioniert, muss ihnen das explizit erklärt und ihnen idealerweise auch die Möglichkeit gegeben werden, dieses Wissen praktisch zu vertiefen. Solche Erklärungen können natürlich auch Teil eines kontributiven Citizen-Science-Projekts sein. Praktische Einblicke in die Forschung und ein intensiver Austausch mit den Forschenden sind aber eher ein inhärenter Teil eines beteiligungsintensiven kontributiven oder ko-kreativen Projekts. Wenn beispielsweise neben dem Sammeln der Informationen auch deren Auswertung eine Aufgabe der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sein soll, brauchen sie hierfür spezifische Workshops und Einführungen, die ihnen das entsprechende Hintergrundwissen mitgeben. Mit dem erhöhten Verständnis für wissenschaftliche Arbeits- und Denkweisen verbunden ist oft die Erwartung, Citizen Science könne ein Heilmittel gegen Falschinformation sein, weil Bürgerinnen und Bürger mit einem besseren wissenschaftlichen Verständnis eher in der Lage seien, diese und wissenschaftliche Erkenntnisse einzuordnen. 29 Diese Hoffnung basiert auf der Annahme, wissenschaftliches Verständnis würde eine rationale, objektive Weltsicht befördern. Dies ist jedoch zu einfach gedacht und verkennt, dass auch in der Wissenschaft unterschiedliche Menschenbilder, politische Grundhaltungen usw. der Forschenden zu unterschiedlichen Bewertungen von Ereignissen oder Verläufen führen können. Dies gilt insbesondere für die Geschichtswissenschaft, die deutlich von einem Objektivitäts- bzw. Voreingenommenheitsdiskurs geprägt ist 30 Hierbei geht es weniger um Falschinformationen, sondern um die Interpretation des Materials aus einer bestimmten Perspektive. Dennoch wird daran deutlich, dass die gleiche Informationsbasis oder auch die gleichen Kompetenzen nicht zu denselben Interpretationen und Schlussfolgerungen führen müssen. Zudem könnte Citizen Science die Erwartung, die Verbreitung von bzw. den Glauben an Falschinformationen zu reduzieren, nur dann erfüllen, wenn die Kompetenzvermittlung ein Teil entsprechender Projekte wäre. Nur weil jemand beispielsweise historische Geo-Informationen für ein Online-Projekt zur Nach29 Diese Erwartungshaltung findet sich in zahlreichen Interviews, Strategiepapieren usw. zum Thema Citizen Science. Beispielhaft sei hier nur auf die Pressemitteilung zur Vorstellung der Citizen-Science-Strategie 2030 verwiesen: https://www.idiv.de/de/news/news_single_view/3464.html (letzter Zugriff: 24. Juli 2022). 30 Siehe beispielsweise Anne-Sophie Naujoks, Jendrik Stelling (Hrsg): Von der Quelle zur Theorie. Vom Verhältnis zwischen Objektivität und Subjektivität in den historischen Wissenschaften, Leiden 2018. Ein Beispiel sind die sehr unterschiedlichen Wortmeldungen von Altertumsforschenden zur Vergleichbarkeit der Flüchtlingskrise 2015 mit dem Untergang des Römischen Reiches. Während einige deutliche Parallelen zur sogenannten Völkerwanderung sahen und das Ende der Europäischen Union prophezeiten, war für andere die Völkerwanderung nur ein Randphänomen in einem Faktorengemisch, das mit der Situation Europas 2015 kaum etwas gemein hatte.

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kriegszeit zusammenträgt, ist diese Person nicht automatisch auch in der Lage, Falschinformationen über die sogenannten Trümmerfrauen beim Wiederaufbau Deutschlands als solche zu identifizieren und historisch einzuordnen.

Wissenschaft demokratisieren Ein häufig an Citizen-Science- und die Open-Science-Bewegung gestellter Anspruch ist der, Wissenschaft zu demokratisieren. Damit gemeint ist meist, Zugänge zu wissenschaftlichen Projekten und deren Erkenntnissen für die breite Öffentlichkeit zu erleichtern, aber auch, breitere Diskurse über die Rolle und die Aufgabe von Wissenschaft in der Gesellschaft zu ermöglichen, mithin sogar Mitentscheidungsmöglichkeiten beispielsweise bei der Fördermittelvergabe zu entwickeln. 31 Wie die vorangegangenen Beispiele gezeigt haben, kann Citizen Science solche Erwartungen nicht ohne weiteres erfüllen. Um Impulse aus der Gesellschaft stärker in die Wissenschaft einzubeziehen und eine strukturelle Änderung zu erreichen, reichen Beteiligungsformate auf Projektebene nicht aus. Das Wissenschaftssystem folgt einer eigenen, gewachsenen, umfassenden und begründeten Logik, die einzelne Fördermaßnahmen und Projekte nicht aufbrechen können und auch nicht immer sollten. So haben wissenschaftliche Qualitätskriterien eine Notwendigkeit, die Citizen Science weder unterlaufen soll noch will. Dass diese aber durch die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern neu diskutiert, weiterentwickelt und angepasst werden, dass die Diskussionen darum also eine neue Dynamik erhalten, ist dennoch begrüßenswert. Um zu beantworten, ob und wie Citizen Science Wissenschaft demokratisieren kann, muss also erst einmal diskutiert werden, welche Aspekte von Wissenschaft demokratisiert werden sollen. Erst daran anschließend kann Citizen Science dazu beitragen, neuen Stimmen im Wissenschaftsprozess Gehör zu verschaffen. Dies bedarf wiederum gewisser Voraussetzungen, die im Wissenschaftssystem nicht selbstverständlich sind. So ist beispielsweise zwar der Begriff Citizen Science (oder ähnliche Termini wie Bürgerforschung) in weiten Teilen etabliert, das Verständnis dafür aber nicht zwingend. 32 Wie die Autorin als Gutachterin im Rahmen eines universitären Citizen-Science-Förderprogramms beobachtet hat, ist längst nicht allen Forschenden – auch nicht allen, die entsprechende Anträge schreiben – bewusst, was etwa partizipative Forschung mit Bürgerinnen 31 Arendes: Historiker als »Mittler zwischen den Welten«?, S. 24–25. Franzen: Open Science als wissenschaftspolitische Problemlösungsformel?, S. 284. Vohland, Göbel: Open Science und Citizen Science als symbiotische Beziehung?, S. 23. 32 Muki Haklay u.a.: Contours of citizen science: a vignette study, in: R. Soc. open sci.8202108, 2021.

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und Bürgern von sozialwissenschaftlicher Forschung über Bürgerinnen und Bürger unterscheidet, wie Teilnehmende über das Datensammeln hinaus in Citizen-Science-Projekte eingebunden werden und welche Aufgaben sie erfüllen können oder auch nur, dass ein Projekt auch für Teilnehmerinnen und Teilnehmer attraktiv sein und ihnen spezifische Mehrwerte bieten muss, die über wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn hinausgehen. In den meisten Fällen herrscht auf Seiten der Forschenden eine klare Hierarchisierung zwischen ihnen und den Teilnehmenden. Dies hat durchaus pragmatische Gründe und lässt sich bei Citizen-Science-Projekten im institutionellen Kontext auch nicht vermeiden. Es steht aber einer Beteiligung auf Augenhöhe und damit einer Demokratisierung von Wissenschaft entgegen, wenn damit einhergeht, dass die Ideen und Erfahrungen der Teilnehmenden nicht als gleichrangig oder auch nur beachtenswert betrachtet werden. Eigentlich müsste eine Änderung der Einstellungen und Denkweisen der Forschenden hinsichtlich der Öffnung der Wissenschaft gegenüber der Gesellschaft also vor der Durchführung von Citizen-Science-Projekten stehen – und zwar auf breiter Ebene, nicht nur bei den vergleichsweise wenigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die an Citizen-Science-Projekten beteiligt sind. Eine solche Änderung kann aber nicht das Ziel dieser Projekte sein, da diese ohne eine entsprechende Einstellung nicht funktionieren bzw. diese Erwartungen nicht erfüllen können. Darüber hinaus sind Citizen-Science-Projekte in den meisten Disziplinen nach wie vor ein singuläres Phänomen und keine gängige Praxis. Thematisch behandeln sie oft neue oder Randthemen und werden gern als Stiefkind der Forschung belächelt. So berichteten die Vertreterinnen und Vertreter der von 2021 bis 2024 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten geisteswissenschaftlichen Citizen-Science-Projekte in einer internen Veranstaltung einheitlich davon, dass ihre Themen nicht zu den klassischen Forschungsthemen ihrer Disziplinen gehören und dass die partizipative Herangehensweise von vielen Kolleginnen und Kollegen nicht ernst genommen werde. Das kann die Autorin für das Projekt SocialMediaHistory und den Forschungsbereich der Public History, in dem das Projekt angesiedelt ist, nur bestätigen. Ähnlichen Projekten, beispielsweise zum Thema Briefmarken oder Mediengeschichte, dürfte es ähnlich ergehen. Solange dem so ist, kann nicht davon ausgegangen werden, dass Citizen Science allein eine veränderte Einstellung in der Wissenschaft befördern kann – auch wenn, so die Erfahrungen der Autorin, das Erstaunen anderer Forscherinnen und Forscher über die Förderhöhen der Projekte mitunter von Unverständnis geprägt ist.

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Citizen Science vs. Bürgerwissenschaft Eine weitere Hürde, vor der Citizen Science hinsichtlich der Demokratisierung der Wissenschaft steht, ist die Kluft zwischen Projekten aus der Forschung heraus und solchen, die von Bürgerinnen und Bürgern initiiert und federführend durchgeführt werden. Zwar fördert beispielsweise das BMBF gemeinsam von der Forschung und der Zivilgesellschaft entwickelte Ansätze, jedoch keine rein zivilgesellschaftlichen. Und auch Förder- oder Publikationsmöglichkeiten für zivilgesellschaftliche Projekte sowie Strukturen für den Austausch zwischen ehren- und hauptamtlich Forschenden existieren kaum. Dabei gibt es gerade in der Geschichtswissenschaft und angrenzenden Disziplinen viele verschiedene, mitunter seit mehreren Jahrzehnten bestehende zivilgesellschaftliche Akteure. 33 Zu nennen seien beispielsweise Geschichts- und Heimatvereine, Geschichtswerkstätten, Philatelie- und Münzsammlerverbände, Reenactmentgruppen oder Einzelpersonen, die häufig über ein umfangreiches Detailwissen zu ihrem historischen oder archäologischen Spezialthema verfügen. Dieses wird von der Forschung aber nur wenig beachtet, Fördergeber unterstützen solche Strukturen eher nicht und Fachpublikationen lehnen entsprechende Beiträge meist ab. 34 Natürlich sind diese zivilgesellschaftlichen Strukturen mitunter auch mit problematischen Einstellungen und Herangehensweisen verbunden. 35 Rahmenbedingungen für einen regelmäßigen, respektvollen Austausch zu etablieren und entsprechenden Initiativen die Möglichkeit zu geben, selbst Förderanträge zu stellen – und sei es unter Auflagen –, könnte aber viel zur Einlösung der an Citizen Science gerichteten Erwartungen beitragen. 33 Moczek, Hecker und Voigt-Heucke schätzen die Gesamtzahl der historisch forschenden zivilgesellschaftlichen Initiativen allein in Deutschland auf ca. 600. Moczek, Hecker, Voigt-Heucke: The Known Unknowns. 34 Eine Ausnahme ist die Schriftenreihe Post – Wert – Zeichen des Herausgebertrios René Smolarski (Co-Herausgeber dieses Bandes), Pierre Smolarski und Silke Vetter-Schultheiß, die bei Vandenhoeck-Ruprecht Unipress erscheint. Auch der Niedersächsische Heimatbund und einige archäologische Landesämter publizieren in ihren Reihen Beiträge langjähriger ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Diese Institutionen haben mitunter auch Förderbudgets für von Bürgerinnen und Bürgern initiierte, kleinere Forschungsprojekte, beispielsweise die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) oder das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege. Ralf Obst, Sabine Mayer: Bodendenkmalpflege und Ehrenamt in Bayern. Ein Beispiel für eine erfolgreiche Kooperation, in: Archäologische Informationen 29 (2016), S. 31–46. 35 In erster Linie sind hier illegale Sondengängerinnen und -gänger zu nennen, die ohne Genehmigung einer Fachbehörde archäologische Funde suchen und dabei Fundkontexte und damit wichtiges Wissen zerstören. Des Weiteren gibt es im Bereich Reenactment immer wieder kritische, rechte bis rechtsextreme Strömungen, denen es nicht um eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Vergangenheit geht, sondern um eine Vereinnahmung der Geschichte in ihrem politischen Interesse.

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In diesen Strukturen sind die Bürgerinnen und Bürger häufig sehr motiviert, investieren viel Zeit und Aufwand, lernen voneinander die Anwendung wissenschaftlicher Methoden und sind zugleich Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in ihrem jeweiligen Umfeld. Damit erfüllen solche Initiativen viele der Erwartungen an Citizen Science, an denen von Forschungseinrichtungen initiierte Projekte mitunter scheitern. Zugleich sehen die Teilnehmenden ihre Tätigkeit aber nicht zwingend als wissenschaftlich an und haben auch nicht immer Interesse an einer Zusammenarbeit mit der Wissenschaft – sei es, weil sie dabei negative, abwertende Einstellungen erfahren haben oder weil sie nicht nach entsprechender Aufmerksamkeit streben. Schon der Begriff Citizen Science ist vielen von ihnen eher unbekannt oder schreckt sie womöglich ab. Zumindest tragen sich entsprechende Vereine oder Projekte kaum in Datenbanken wie Bürger schaffen Wissen ein und nehmen auch eher nicht an Fachveranstaltungen oder Studien zu Citizen Science teil. 36 Das verwundert kaum, denn auch die Wissenschaft sieht in ihnen häufig keine Forschenden und äußert grundsätzliche Bedenken hinsichtlich der Qualität ihrer Erkenntnisse. Anstatt hier Potenziale zu sehen, findet meist eine Abwertung statt, die sich auch in den genutzten Terminologien widerspiegelt und dazu dient, den Mangel an Professionalität gegenüber der eigenen wissenschaftlichen Expertise zu betonen. 37 Dies entspricht der dargelegten, an Marx angelehnten Trennung in wertvolle und weniger wertvolle Beiträge zu wissenschaftlicher Arbeit und untermauert die Wahrnehmung von Forschenden als gesellschaftlicher Elite. Jedoch gibt es auch gegenteilige Stimmen, die die Zuarbeit von Bürgerinnen und Bürgern zu akademischen Forschungsprojekten als Citizen Science light und nur eigenständige, selbstorganisierte zivilgesellschaftliche Projekte als Citizen Science proper verstehen. 38 Gerade mit Fokus auf die gesellschaftlichen Erwartungen an das Feld ist diese Wahrnehmung in jedem Fall weiterer Gedanken wert.

36 Die Mehrheit der Projekte, die sich auf Plattformen wie Bürger schaffen Wissen präsentieren, wird von Universitäten und Forschungseinrichtungen initiiert. Bei knapp einem Viertel sind aber zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure beteiligt. Moczek, Hecke, Voigt-Heucke: The Known Unknowns. 37 Moczek, Hecker und Voigt-Heucke nennen als Beispiele non‐invited participation, Amateurforschung oder Heimathirsch – ein Begriff, der vor allem in der Archäologie gebräuchlich ist. Moczek, Hecke, Voigt-Heucke: The Known Unknowns. 38 Peter Finke: Citizen Science. Das unterschätzte Wissen der Laien, München 2014.

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Fazit Citizen Science kann die Erwartungen, die Fördergeber, Wissenschaft und Zivilgesellschaft an das Feld richten, aktuell häufig nicht erfüllen. Das ist eine ernüchternde, aber wenig überraschende Erkenntnis. Dass dem so ist, hängt weniger mit dem Ansatz partizipativer Forschung an sich zusammen als mit den in der Citizen-Science-Landschaft aktuell existierenden Förderstrukturen und vorherrschenden Projektdesigns. Denn Citizen Science könnte die Erwartungen unter den passenden Rahmenbedingungen durchaus erfüllen. Dafür muss die jeweilige Erwartung jedoch konkret und spezifisch in die Ausschreibung, das Projektdesign und den Projektverlauf integriert werden. Ein entsprechendes Ziel ist kein automatisch eintretendes Bei-Ergebnis. Nur weil ein Projekt historische Quellenkritik vermitteln möchte, tut es das nicht automatisch dadurch, dass es ein geschichtswissenschaftliches Projekt ist. Zwar kann aktuell mangels Studien nicht beantwortet werden, in welchem Umfang die Konzepte bestehender Citizen-Science-Projekte entsprechende Ansätze enthalten, etwa zur Entwicklung des Wissenschaftsverständnisses der Beteiligten. Das Projektdesign, soweit es aus Datenbanken und Publikationen ersichtlich ist, scheint aber eher selten spezifisch auf solche Ziele ausgerichtet zu sein. Das gilt auch für die Projektevaluation. 39 Fördergeber – so etwa das BMBF in der aktuell laufenden Projektschleife zur Bürgerforschung – geben zwar oft vor, dass Projekte evaluiert, aber nicht, welche Aspekte dabei beachtet werden sollen. Auch wird nur bedingt Unterstützung für die Entwicklung passender Evaluationen zur Verfügung gestellt. Doch das wäre dringend notwendig, denn Impacts wie ein erhöhtes Verständnis von Wissenschaftlichkeit oder Forschungsmethoden, ein Gefühl des Ernst-genommen-Werdens durch die Wissenschaft oder der Einfluss auf Einstellungen der Teilnehmenden lassen sich kaum evaluieren ohne sozialwissenschaftliche Untermauerung und ein strukturiertes Vorgehen inklusive eines intensiven, ehrlichen Austauschs. 40 In Anbetracht der Tatsache, dass ein großer Teil der Erwartungen an Citizen Science auf Effekte bei den Teilnehmenden abzielt, spielen deren Interessen, Motivationen, Erwartungen und Bedürfnisse bisher bei der Projektkonzeption eine auffallend untergeordnete Rolle. Auch hier liegen die Gründe einerseits 39 Moczek, Hecker, Voigt-Heucke: The Known Unknowns, S. 12. 40 Kieslinger, Schäfer, Heigl, Dörler, Richter und Bonn haben ein Evaluationskonzept entwickelt, das sich an den zehn Prinzipien der European Citizen Science Association (ECSA) orientiert und drei Dimensionen umfasst: den wissenschaftlichen Mehrwert, das Lernen und Bestärken der Teilnehmenden und den gesellschaftlichen Mehrwert. Auch das Projektmanagement und die Durchführung sollten untersucht werden. Barbara Kieslinger u.a.: Evaluating citizen science: Towards an open framework, in: Hecker, Haklay, Bowser, Makuch, Vogel, Bonn: Innovation, S. 81– 95.

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sicherlich darin, dass solche Gedanken bei der Konzeption von Forschungsprojekten lange keine Rolle gespielt haben. Andererseits sind viele Citizen-ScienceProjekte personell nicht ausreichend ausgestattet und haben eine zu kurze Laufzeit für Kommunikation, Projektkoordination und Freiwilligenbetreuung in dem Umfang, der notwendig wäre, um entsprechende Impacts zu erzielen. 41 So scheinen aktuell die Fördergeber und die Forschenden nur bedingt den Anspruch zu haben, die breiten Erwartungen an Citizen Science tatsächlich nachweisbar erfüllen zu wollen. Ein disziplinärer Erkenntnisgewinn und eine Abschlusspublikation sind oft bereits zufriedenstellend. Dennoch erfüllt Citizen Science die an das Feld gerichteten Erwartungen zumindest zum Teil – wenn auch nicht immer in bewusster Absicht –, denn die bestehenden Projekte führen durchaus dazu, dass Menschen mehr eingebunden werden und überhaupt erst einmal Einblicke in die Wissenschaftspraxis erhalten. Zudem werden in aktuellen Projekten Daten in einem Umfang gesammelt, der anders nicht möglich wäre, und so wichtige Voraussetzungen für künftige Forschungen geschaffen. Das Feld befindet sich – gerade in den Geisteswissenschaften – also in einem Experimentierstadium. Um die Potenziale wirklich ausschöpfen zu können, braucht es Freiräume für Experimente 42 und zugleich die Forderung und Unterstützung von Seiten der Institutionen, Citizen-Science-Projekte in Richtung der an sie gestellten gesellschaftlichen Erwartungen zu entwickeln. Dazu könnten beispielsweise Weiterbildungen sowie feste Beraterinnen und Berater an den Universitäten und Fördereinrichtungen gehören, die gemeinsam mit Forschenden Projektideen dahingehend entwickeln. Solange dem nicht so ist, kann Citizen Science die Wissenschaftslandschaft nicht so verändern, wie Politik, Initiativen und Akteurinnen und Akteure des Feldes es sich vielleicht wünschen.

41 Moczek, Susanne, Voigt-Heucke: The Known Unknowns. 42 Hierfür wären auf der Projektmanagementebene etwa längere Laufzeiten notwendig sowie die Möglichkeit, im Rahmen eines laufenden Projekts dessen Design nachzubessern. Da es für Citizen Science im Gegensatz zur klassischen Forschung kein umfänglich erprobtes Methodenspektrum gibt, kann der Erfolg einer vorher gewählten Methode nicht garantiert werden. Auf der inhaltlichen Ebene müsste sich die Geschichtswissenschaft stärker für Themen und Fragestellungen öffnen, die am Interesse der potenziellen Teilnehmenden sowie an der Anknüpfbarkeit an die Gegenwart ausgerichtet sind und auch hier offen dafür sein, das Projektthema im Detail im Laufe des Prozesses gegebenenfalls nachzujustieren.

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Tobias Hodel / Christa Schneider Vom Crowdsourcing zu Co-Design. Ansätze zum Einbezug der Öffentlichkeit in die geschichtswissenschaftliche Forschung

Obwohl die Bürgerwissenschaften in den vergangenen Jahren aufgrund der vermehrten Aufmerksamkeit durch Förderagenturen eine notwendige Theoretisierung erfahren haben, lässt sich ein starker Fokus auf einzelne Projekte und Ansätze beobachten. Die theoretische Reflexion ist demgegenüber eng an den Rahmen der Projekte geknüpft – dies führte bestenfalls zu wiederverwertbaren Best-Practice-Leitfäden. Diskussionsbeiträge, die das Feld der Citizen Science konturieren und kritisch beleuchten, fehlen aber weiterhin. 1 Anhand der Auswertungen und des Designs von vier Projekten, die unter Einbezug einer Crowd erarbeitet werden und wurden oder sich in Konzeption befinden, schlägt der Beitrag den Bogen von der Implementierung und Durchführung einzelner Projektschritte zur synthetisierenden Sicht auf unterschiedliche Aspekte, die auf historischen Materialien basierende Citizen-Science-Projekte beachten müssen. Anhand der vier Fallbeispiele aus den Bereichen der Quellenaufbereitung, der Anreicherung von Informationen und der Suche nach den Quellen für eine zukünftige Erforschung des hier und jetzt, kann demonstriert werden, wie der Einbezug von interessierten Freiwilligen nicht nur eine Form der Kooperation zwischen universitärer Forschung und Öffentlichkeit herstellt, sondern neue Perspektiven auf Forschungsfragen generieren kann. Im Hintergrund dieser Erörterungen steht daher auch die zentrale und bislang zwar gestellte, aber häufig nur marginal gestreifte Frage nach dem ertragreichen und 1 Der vorliegende Beitrag ist die kombinierte Auswertung und Analyse von vier verschiedenen Citizen-Science-Ansätzen, die im Rahmen von unterschiedlichen Projekten und durch eine Vielzahl von Geldgebern gefördert wurden. Hier genannt in der Reihung, wie die Projekte im Beitrag erscheinen: HackCappelli: Philosophische Fakultät der Universität Zürich, Kompetenzzentrum Zürcher Mediävistik und der Ad fontes Förderverein. Heraldik@Ad fontes: Swisslosfonds des Kantons Aargau. Corona-Memory: Fondation Petram und Migros Kulturprozent. Alle Links wurden letztmals am 16.01.2023 abgerufen.

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gleichberechtigten Einbezug der Crowd. Das Buzzword des Co-Designs, das die Freiwilligen zu Akteuren im Forschungsprozess macht, die insbesondere die (wissenschaftliche) Fragerichtung (mit-)vorgeben, steht dabei als verheißungsvolle, aber schwierig zu realisierende Zielvorgabe im Fokus.

Crowdsourcing als vermeintliche Arbeitserleichterung in der Geschichtswissenschaft – eine Einleitung Der Einbezug einer Öffentlichkeit für Arbeiten mit engem Bezug zu den Geschichtswissenschaften wurde bereits an mehreren Orten und vor allem auch in der vorliegenden Reihe erörtert und ausgebreitet. 2 Auf eine vertiefte Einbettung wird daher an dieser Stelle verzichtet. Bei allem Fokus auf die Geschichtswissenschaften soll dennoch angedeutet werden, dass der Einbezug von Freiwilligen in einigen Wissenschaftszweigen eine weitaus längere Tradition hat und gar als conditio sine qua non verstanden werden muss. Neben der Biologie, die bereits im 19. Jahrhundert (und unter einer gewissen Dehnung des Begriffs schon davor) durch Gelehrtennetzwerke auf die Mitarbeit von sehr unterschiedlich (aus-)gebildeten Forscherinnen und Forschern angewiesen war, 3 trifft dies insbesondere auf die Sprachwissenschaften zu. 4 Obwohl die Quellensituation in den Geschichtswissenschaften im Laufe der Professionalisierung der Disziplin andere Setzungen erfuhr, so lässt sich bei Auswahl und kritischer Einordnung des Umgangs von Zeugnissen von Freiwilligen doch einiges übernehmen, insbesondere wenn der Bereich der Oral History oder der Sammlung von Zeitzeugnissen Einzug in die Disziplin hält. Ein Exkurs wirft daher schlaglichtartig den Blick auf den Einsatz von Crowdsourcing in der Linguistik. Der Startpunkt ist indessen ein ganz anderer und aus unserer Warte typisch für die Geschichtswissenschaften im digitalen Zeitalter, nämlich die Nutzung von Freiwilligen zur Aufarbeitung von Quellen- und Dokumentenbeständen (Transkription, Annotation oder ähnliche Aufgaben). Gerade in der Kombination mit Automatisierungsprozessen für historische Daten entsteht die Notwen2 Siehe etwa den ersten Band dieser Reihe: Hendrikje Carius, Martin Prell, René Smolarski (Hrsg.): Kooperationen in den digitalen Geisteswissenschaften gestalten: Herausforderungen, Erfahrungen und Perspektiven, Göttingen 2020, insbesondere das Editorial der Herausgebenden mit Verweisen auf weitere Literatur, S. 7–13. 3 Siehe einführend Bruno J. Strasser, Jérôme Baudry, Dana Mahr u. a.: »Citizen Science«? Rethinking Science and Public Participation, in: Science & Technology Studies 32.2 (2019), S. 52–76, https://doi.org/10.23987/sts.60425. 4 Siehe dazu etwa Britta Juska-Bacher, Chris Biemann, Uwe Quasthoff: Webbasierte linguistische Forschung: Möglichkeiten und Begrenzungen im Umgang mit Massendaten, in: Linguistik Online 61.4 (2013), https://doi.org/10.13092/lo.61.1274.

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digkeit nicht nur beispielhaft Daten zur Hand zu haben, sondern große Konvolute, die in Kombination mit maschinellen Lernverfahren zum Training von Modellen verwendet werden können. 5 Das Problemgemenge ist auch in den Computerwissenschaften oder den Humanwissenschaften bekannt, wo bevorzugt kostengünstige Click-Arbeiterinnen und -arbeiter eingesetzt werden, die mehr oder weniger anspruchsvolle Arbeiten online erledigen. Der bekannteste Anbieter ist mit Amazon eine der Megakorporationen des Internetzeitalters. Der Mechanical Turk setzt dabei auf eine Workforce, die jederzeit bereit ist für wenige Cent eine Aufgabe zu übernehmen. 6 In den Geschichtswissenschaften hat sich der Ansatz glücklicherweise (?) aufgrund der häufig verhältnismäßig hohen Anforderungen an Vorkenntnisse und Interpretationsfähigkeit nicht durchgesetzt. Gerade mit Blick auf ideale Aufgabenstellungen im Bereich der Citizen Science ist es auch unwahrscheinlich, dass sich ein umfassender Einsatz aufdrängt. Bereits seit einigen Jahren wird nämlich der Ansatz des Citizen Science dahingehend weiterentwickelt, dass der Wissenschaft nicht nur einfache Arbeiten abgenommen, sondern die Bürgerinnen und Bürger auch in den Forschungsprozess mit einbezogen werden. 7 Nach Muki Haklay wird zwischen vier Level der Partizipation unterschieden. Angefangen (1) bei Crowdsourcing, über (2) Distributed Intelligence, zu (3) Participatory Science und schließlich (4) Extreme Citizen Science. 8 Während in (1) über die Sammlung (Freiwillige als Sensoren) und in (2) über basale Interpretationen (volunteered thinking) nur beschränkt Einfluss auf die Forschungsrichtung genommen werden kann, ist bereits in (3) die 5 Siehe dazu beispielsweise notwendige Dokumentenkorpora zum Training von Modellen zur Handschriftenerkennung oder für die Identifikation von benannten Entitäten (sog. Named Entity Recognition), einführend siehe Tobias Hodel: Die Maschine und die Geschichtswissenschaft. Der Einfluss von deep learning auf eine Disziplin, in: Karoline Dominika Döring, Stefan Haas, Mareike König, Jörg Wettlaufer (Hrsg.): Digital History. Konzepte, Methoden und Kritiken Digitaler Geschichtswissenschaft (Studies in Digital History and Hermeneutics, Bd. 6), Berlin/Boston 2022, S. 65–79, https://doi.org/10.1515/9783110757101. 6 Siehe dazu auch Risam Roopika: The stakes of digital labor in the twenty-first century academy. The revolution will not be Turkified, in: Shawna Ross, Andrew Pilsch (Hrsg.): Humans at Work in the Digital Age: Forms of Digital Textual Labor, London 2019, S. 239–247. Einen Einblick zum Einsatz des Mechanical Turk in den Sozialwissenschaften findet sich hier: Alexandra Samuel: Amazon’s Mechanical Turk has Reinvented Research, JSTOR Daily, 15.05.2018, https://daily.jstor.org/amazonsmechanical-turk-has-reinvented-research/. 7 Hier und im Weiteren nach: Muki Haklay: Citizen Science and Volunteered Geographic Information: Overview and Typology of Participation, in: Daniel Sui, Sarah Elwood, Michael Goodchild (Hrsg.): Crowdsourcing Geographic Knowledge: Volunteered Geographic Information (VGI) in Theory and Practice, Dordrecht 2013, S. 105–122, insbesondere S. 116f., https://doi.org/10.1007/978-94-007-45872_7. 8 Siehe dazu Graham Pullin: Participatory Design and the Open Source Voice, in: Jonathan Sterne, Darin Barney, Gabriella Coleman u. a. (Hrsg.): The Participatory Condition in the Digital Age, Minneapolis, Minnesota 2016, S. 101–122.

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Problemdefinition über die Sammlung der Daten hinaus eine Aufgabe, die durch Freiwillige (mit-)übernommen werden kann. Mit (4) mündet der Prozess schließlich in die Mitanalyse durch die Freiwilligen. Für diese Seiten verstehen wir bereits die Mitwirkung an der Problemdefinition (3) als einen ersten Schritt zum und als Teil von Co-Design. Im Idealfall werden die angesprochenen, unterschiedlichen Levels in Projekten intern umgesetzt, sodass Mitwirkende sich hocharbeiten können und aufgrund ihrer Involvierung mehr Verantwortung übernehmen dürfen. Eine solche Unterscheidung in Levels konnte in den hier thematisierten Projekten nicht umgesetzt werden. Im Folgenden soll dementsprechend die Frage im Zentrum stehen, inwiefern die Idee des Co-Design nicht nur ernst genommen, sondern in geisteswissenschaftliche und insbesondere geschichtswissenschaftliche Projekte aufgenommen werden kann. Dabei wenden wir uns bereits realisierten oder sich in Realisierung befindlichen Projekten zu, in denen eine Crowd zur Mitarbeit bewegt werden soll. Wir beschäftigen uns darüber hinaus mit der Frage, wie eine Crowd durch ihren Beitrag die weitere Forschung und Vermittlung steuern kann und somit nicht nur als reines Mittel zur Arbeitserleichterung angesehen wird. Im Rahmen des Aufsatzes analysieren wir vier konkrete Projekte und ergänzen die Ausführungen um einen Exkurs, der Ansätze aus den Sprachwissenschaften/Linguistik aufzeigt. Der Aufbau ist dabei so gewählt, dass von einfachen Aufbereitungsarbeiten, hier anhand des hackcappelli, über Inputmöglichkeiten auf verschiedenen Ebenen (heraldik@ad fontes) zum crowd-bestimmtem Sammeln (Corona-Memory und Schöpfkarte) ein stufenweiser höherer Einbezug demonstriert wird. Nicht zufällig spiegelt diese Abfolge die zeitliche Chronologie der Crowdsourcingunterfangen wider. Der Blick auf bereits länger vergangene Projekte – hackcappelli wurde 2015 gestartet – eröffnet auch die Möglichkeit, um zu reflektieren, welche Aufgaben einer Crowd zugemutet wurden und was als rein wissenschaftliche Arbeit ausgewählten Mitarbeitenden vorbehalten blieb. Dadurch wird ein Blick von außen auf eigene Entscheidungsprozesse geworfen und gleichzeitig auch reflektiert, wie die Beschäftigung mit einer Crowd weiterentwickelt wird.

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Mittelalterliche Abkürzungen hacken: Eine spezialisierte Crowd als ClickArbeiterinnen und -Arbeiter Der Cappelli ist das zentrale Nachschlagewerk für italienische und vor allem lateinische Abkürzungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Sammlung an Abkürzungen beruht einerseits auf älteren Arbeiten, 9 andererseits auf selbst gesammelten Kürzungen, die Adriano Cappelli in den Archiven in Mailand und Pisa fand, in denen er beschäftigte war. 10 Da die Kenntnisse der lateinischen Sprache schwinden und sich in lateinischen Codices und Urkunden des Mittelalters eine Vielzahl von Abkürzungen finden, hat sich das Werk trotz monierter Mängel breit durchgesetzt und wird noch heute in Proseminaren eingeführt und für die tägliche Arbeit verwendet. 11 Auf dieser Basis entschied sich die Ad fontesLeitung 2015 im Rahmen eines Versuchs, den Cappelli nicht nur als Digitalisat, sondern mehr noch schematisiert zugänglich zu machen. Ad fontes ist ein e-Learningprojekt der Universität Zürich, das Studentinnen und Studenten sowie Interessierten den Zugang zu historischen Dokumenten und Artefakten eröffnen soll. 12 Entstanden aus einer Lizentiatsarbeit und erweitert im Rahmen einer Dissertation, vermittelt das Projekt seit Anfang der 2000er Jahre anfänglich vorwiegend paläographische Kenntnisse und Strategien, um in Archivbeständen des Klosters Einsiedeln Dokumente zu finden. 13 In der Zwischenzeit hat sich das Angebot stark verbreitert und neben klassischen Einführungen in hilfswissenschaftliche Themen, wie etwa in die Heraldik, 14 finden sich Anleitungen zum Umgang mit Fotografien und Bildquellen oder Quellen der 9 Johann Ludolf Walther: Lexicon diplomaticum, abbreviationes syllabarum et vocum in diplomatibus et codicibusa seculo VIII ad XVI usque occurrentes exponens. Cum praefatio J. H. Jungii, Göttingen 1752. 10 Zu Adriano Cappelli siehe: Armando Petrucci: Cappelli, Adriano, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 18, Rom 1975. 11 Die Publikation von Cappelli gehört seit ihrem Erscheinen in den Handkatalog der Mediävistik und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Nach Erlöschen urheberrechtlicher Ansprüche wurde das Werk mehrfach digitalisiert. Adriano Cappelli: Lexicon abbreviaturarum = Wörterbuch lateinischer und italienischer Abkürzungen wie sie in Urkunden und Handschriften besonders des Mittelalters gebräuchlich sind, Leipzig 1928. 12 Einführend zu Ad fontes nach dem Relaunch 2018, siehe: Tobias Hodel, Michael Nadig: Grundlagen der Mediävistik digital vermitteln: ›Ad fontes‹, aber wie?, in: Das Mittelalter 24.1 (2019), S. 142–156, https://doi.org/10.1515/mial-2019-0010. 13 Andreas Kränzle, Gerold Ritter: Ad fontes. Zu Konzept, Realisierung und Nutzung eines E-Learning-Angebots, 2004. Walter Bersorger, Andreas Kränzle: Eine Online-Einführung zu Archivquellen. Kurzbericht zu Ad fontes (www.adfontes.uzh.ch), in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 58 (2008), S. 90–102, http://dx.doi.org/10.5169/seals-99088. 14 Siehe bspw. Julian Miguez: Ad fontes, Tutorium zur Heraldik. https://www.adfontes.uzh.ch/ tutorium/heraldik/ und Christof Rolker, Franziska Decker (Universität Bamberg): Ad fontes, Übungen zur Heraldik, https://www.adfontes.uzh.ch/383000/training/uebung-heraldik.

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Global History. 15 Die Erweiterung um eine Ressource war in dem Zusammenhang keine Novität, da etwa der Grotefend zur Berechnung von Oster- und Heiligenfeiertage bereits digital aufbereitet wurde und Auszüge aus dem Orbis Latinus ebenfalls zur Verfügung stehen. 16 Als einzige Neuerung wurde versucht, die immense Aufbereitungsarbeit auf mehrere Schultern zu verteilen und dem Medium von Ad fontes (als digitale Plattform) entsprechend ein Crowdsourcing zu organisieren. Dieses sollte online vonstatten gehen können und sich durch eine einfache Userführung sowie klare Instruktionen auszeichnen, die die Mitarbeit erleichtern und niederschwelliges Mitwirken erlauben würden. Basierend auf einer Analyse der im Cappelli enthaltenen Informationen wurde ein Schema erarbeitet, das möglichst alle durch Cappelli bereitgestellten Informationen so erfasst, dass eine Suche nach Facetten ermöglicht wird. Zusätzlich wurde der Versuch unternommen eine weitere Information durch die Crowd erarbeiten zu lassen, nämlich die Position des Abkürzungszeichens (am Anfang/Mitte/Ende – Oben/Mitte/Unten innerhalb der Abkürzung). Ansonsten war es die Aufgabe der Crowd, die Informationen zu übernehmen und in eine Tabelle zu überführen, sowie die Abzeichnung der Abkürzung auf dem digitalen Dokument zu markieren. Die Teilnehmenden hatten entsprechend sehr wenig gestalterische Möglichkeiten und wurden vorwiegend als Click-Arbeiterinnen und -Arbeiter eingesetzt, die einen klar definierten Auftrag zu erfüllen hatten. Anders als bei Amazons Mechanical Turk (siehe oben) wurde dabei nicht auf die Bezahlung von Kleinstbeträgen als Motivation gesetzt, sondern die Aussicht, dass die Crowd sich mit dem Projekt identifiziert, da ein zukünftiger Nutzen ersichtlich war. Als Zielpublikum wurde denn auch nie eine breite interessierte Bevölkerung anvisiert, sondern vielmehr versucht, ein Fachpublikum bestehend aus Mediävistinnen und Medävisten anzusprechen, die in ihrer Arbeit regelmäßig mit dem Cappelli arbeiten und sich entsprechende Arbeitser15 Michiel van Gulpen: Ad fontes, Film und Video: Zur historischen Arbeit mit audiovisuellen Quellen, https://www.adfontes.uzh.ch/tutorium/film-und-Video-zur-historischen-arbeit-mit-audiovisuellenquellen. Eliane Kurmann: Ad fontes, Afrika im Fokus. Zur Verwendung historischer Fotografien in den Geschichtswissenschaften. https://www.adfontes.uzh.ch/tutorium/afrika-im-fokus-zur-verwendung-historischer-fotografien-in-den-geschichtswissenschaften. David Hänggi-Aragai, Martin Dusinberre: Ad fontes, The Iselin family archive, Basel, https://www.adfontes.uzh.ch/en/43100/recherche/globalhistory/the-iselin-family-archive-basel. 16 Zur Zeitrechnung siehe https://www.adfontes.uzh.ch/ressourcen/datierungen-aufloesen und als Druckausgabe: Hermann Grotefend: Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, 2 Bde., Hannover 1891. Zu Orbis Latinus siehe https://www.adfontes.uzh.ch/ mobile/#OrbisLatinusSeite und für das ganze Werk: Johann Georg Theodor Graesse: Orbis latinus oder Verzeichnis der wichtigsten lateinischen Orts- und Ländernamen, Berlin 1922, ein Scan findet sich bei der BSB: https://www.bavarikon.de/object/bav:BSB-MDZ00000BSB00050912.

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leichterungen versprechen. Der Einbezug von Studierenden und die Bewerbung über Fachportale wie infoclio.ch oder Blogs (bspw. ordensgeschichte.hypotheses.org) war eine logische Folge, die im Endeffekt zu positiven Effekten und einem erhöhten Engagement führten. 17 Ausschlaggebend für den Erfolg war aber letztendlich die Durchführung im Rahmen eines halbtägigen Hackathons, an dem innerhalb von sechs Stunden ca. 70 % aller Abkürzungen aufgenommen wurden. Mit kurzen Vorträgen sowie der Verlosung von Preisen (vor allem Geschenkgutscheine für die universitären Mensen) sollten die Click-Arbeiterinnen und -Arbeiter bei Laune und an den Rechnern gehalten werden. 18 Das Resultat ist eine noch heute verfügbare Datenbank, die aktuell die meistbesuchte Unterseite auf der Ad fontes-Plattform ist. 19

Abb. 1: Screenshot der Ad fontes-Suchmaske für den digitalen Cappelli, Quelle: https://www.adfontes.uzh.ch/ressourcen/abkuerzungen/cappelli-online. Das ebenfalls auszufüllende 3x3 Grid ist auf der rechten Seite sichtbar und kann ebenfalls durchsucht werden.

17 Siehe bspw. folgenden Blogposts: Lisa Tagliaferri: HaCkAPPELLI, HASTAC, 19.10.2015, https://www.hastac.org/blogs/ltagliaferri/2015/10/19/hackappelli, Joachim Kemper: Hilfswissenschaften 2.0. HackCappelli – Der Cappelli-Hackathon, Billet, Archive 2.0, 06.10.2015, https://archive20.hypotheses.org/2564. 18 Als historische Fußnote: Noch 2015 war es zentral, dass vor Ort Rechner zur Verfügung gestellt wurden, da die Organisatorinnen und Organisatoren nicht davon ausgehen konnten, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit einem eigenen Laptop an die Universität kamen. 19 https://www.adfontes.uzh.ch/ressourcen/abkuerzungen/cappelli-online.

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Die selbst erstellte digitale Infrastruktur erlaubte einen Korrekturdurchgang aller Abkürzungen, 20 die ebenfalls durch die Crowd ausgeführt werden konnte. In diesem Durchgang wurden kleinere Fehler beseitigt. Jedoch stellten sich bei Kontrollen Unzulänglichkeiten bei der Art und Weise heraus, wie die Abkürzungszeichen im 3x3 Grid eingetragen wurden. Offenbar waren die Erklärungen und Anleitungen für diesen Teil nicht nachvollziehbar oder gar unverständlich. Die Crowd musste sich für diesen Teil angeleitet überlegen, wo eine Verortung der Abkürzungszeichen sinnvoll war. Der Schritt über die Übernahme von Informationen aus dem Cappelli hinaus scheiterte also. Um diese anspruchsvollere Aufgabe zu bewältigen, hätte gezielt eine Ausbildung von Expertinnen und Experten stattfinden müssen, die danach spezialisiert für diese Aufgabe der Informationsanreicherung hätten eingesetzt werden können. Allen Einflussmöglichkeiten und unterschiedlichen Überarbeitungsschritten zum Trotz konnte kein Fall gefunden werden, der von einer Falscheingabe oder einer maliziösen Manipulation der Dateneingabe zeugte. Aufgrund der sehr spezifischen Ausrichtung des Projekts und der Möglichkeit via Social Media, insbesondere durch Blogs aber auch Twitterkanäle, gezielt eine (hoch-)qualifizierte Crowd anzusprechen, wurde die Öffentlichkeit, die das Crowdsourcing erreichte, relativ klein gehalten und die bereits minimale Gefahr bösartiger Eingriffe nochmals reduziert. Da das Projekt auch (identitäts-)politisch unattraktiv war, wurde von vornherein das Risiko negativer Einflüsse als sehr niedrig eingeschätzt.

Heraldik@ad fontes: Wappen sammeln, annotieren und teilen Ausgehend vom Erfolg des im Crowdsourcing erarbeiteten digitalen Cappelli verstärkte das Projektteam von Ad fontes die Bemühungen, auch zukünftig eine interessierte Öffentlichkeit für weitere Projekte einzubeziehen. Parallel dazu wurde die e-Learningplattform auf technisch neue Grundlagen umgestellt, die eine externe Mitarbeit ermöglicht. 21 Dadurch wird aber noch immer ein hochspezialisiertes Publikum angesprochen, das sich aufgrund von Erfahrung in Lehre und Forschung zur Mitarbeit berufen fühlt. Ein zentrales Ziel war daher der Einbezug interessierter Kreise mit der Möglichkeit eigene Interessen zu verfolgen, um nicht stupide automatisch zugeordnete Seiten aus einem mehr als hundertjährigen Lexikon abzutippen.

20 Die Crowdsourcing-Seite wurde in Kooperation mit dem Dienstleister e-hist/Dr. Gerold Ritter erstellt: https://www.e-hist.ch/. 21 Siehe dazu Hodel, Nadig: Grundlagen der Mediävistik, S. 152f.

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Nicht zuletzt aufgrund der Digitalisierungsbemühungen von Bibliotheken und Archiven erleben genealogische Forschungen und damit verbunden die Heraldik, also die wissenschaftliche Untersuchung von Wappen und Emblemen, einen neuen Aufschwung. 22 Um die breit aufgestellte und über genealogische Vereine und Verbände sowie eine teils professionalisierte, gut vernetzte Community einzubeziehen, wurde entschieden, einen Fokus auf Wappen zu legen. Parallel dazu liefen im Umfeld von Ad fontes bereits Forschungen, die aufzeigen, was für enorm spannende Dinge Wappen aus kulturhistorisch Sicht sind. Wappen sind Mittel der Selbstbeschreibung, die sich seit den Kreuzzügen als Form der Identifikation durchgesetzt haben. Mit Wappen können Personengruppen wie Familien, Korporationen und Zünfte, Gesellschaften oder religiöse Orden als zusammengehörig identifiziert werden. Dies führte in den letzten Jahren zu einer regen Publikationstätigkeit und aktuell zu Debatten über zentrale kulturhistorische Forschungsthemen, wie Verwandtschaft oder Repräsentation, bis hin zur Frage nach gemeinsamer Identität. 23 Als materielle Entitäten sind Wappen in Büchern und auf Siegeln präsent, sie können aber auch auf Grabsteinen, in Kirchen oder anderen zentralen Gebäuden sowie auf Gegenständen angebracht sein. Wappen sind fast omnipräsente Symbole der Identität, der Korporation, der Herrschaft und der Herrschaftsaufteilung. Seit dem Mittelalter können sie zeitliche und räumliche Einflüsse auf die herrschaftliche Topologie einer Stadt oder von Ortschaften aufzeigen. Für Hausforschende sowie Genealoginnen und Genealogen sind die Markierungen ebenso interessant wie für spezialisierte Sozial- und Kulturhistorikerinnen und -historiker. Entsprechend vereint die Beschäftigung mit Wappen ausgesprochen disparate Formen des Umgangs mit der Vergangenheit und schlägt Brücken zwischen Laien und Spezialisten. Anders als in der herkömmlichen Heraldik sollte es in dieser CrowdsourcingUmsetzung letztlich gerade nicht um die Identifikation der verlässlichsten Form des Wappens einer Person, Familie oder Institution gehen, sondern um die Präsenz von Wappen in Handlungszusammenhängen, und um die Dynamiken der Variation und des Modifizierens von Wappen. Um solche Zusammenhänge nachvollziehbar zu machen, braucht es ein möglichst großes Korpus an Wappen.

22 Siehe bspw. Christof Rolker: Heraldische Orgien und sozialer Aufstieg, oder: Wo ist eigentlich »oben« in der spätmittelalterlichen Stadt?, in: Zeitschrift für historische Forschung 42.2 (2015), S. 191–224, https://doi.org/10.3790/zhf.42.2.191. 23 Siehe dazu einführend Valentin Groebner: Zu einigen Parametern der Sichtbarmachung städtischer Ordnung im späteren Mittelalter, in: Pierre Monnet, Otto Gerhard Oexle (Hrsg.): Stadt und Recht im Mittelalter, Göttingen 2003, S. 133–152. Die Perspektive der Heraldik findet sich ausgeführt in Rolker: Heraldische Orgien, 2015.

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Die Plattform heraldik@adfontes 24 ist die Antwort auf die Herausforderung und befindet sich aktuell im öffentlichen Betatest. Als Hilfestellung wurde parallel dazu eine Trainingslektion in Blasonierung auf Ad fontes publiziert. 25 Freiwillige haben die Möglichkeit sich Seiten aus historischen oder aktuellen Quellen zu reservieren und auf der Seite enthaltene Wappen zu markieren, zu beschreiben und zu verorten. Dabei wird die Crowd mit einem System unterstützt, das bei der Auswahl möglicher heraldischer Elemente wie Tinktur (Farben), Figuren und Heroldsbilder (Teilung der Wappen) hilft. Auch bei diesem Schritt erhalten die Teilnehmenden Unterstützung, indem wichtige, aber nicht geläufige Begriffe beschrieben und teilweise mit Bild visualisiert werden.

Abb. 2: Screenshot eines aufgenommenen Wappens, Quelle: https://adfontes-heraldik.ch/coat-ofarms/9?index=7 (aufrufbar nur mit Login).

Klassischerweise werden Wappen textuell in Form der sogenannten Blasonierung beschrieben. Das ist zwar auch in heraldik@adfontes möglich, es wird jedoch davon ausgegangen, dass nur die Wenigsten entsprechende Kenntnisse für die Erstellung einer aussagekräftigen blason haben. Zusätzlich kommt erschwerend hinzu, dass es unterschiedliche Stile von Blasonierungen gibt, die sich teilweise stark unterscheiden. Die Umsetzung als klickbarer und unterschiedlich fein ausfüllbarer Fragebogen erlaubt die niederschwellige Teilnahme am Projekt. Gleichzeitig eröffnen sich somit elaborierte Suchzugänge, die nicht auf einheitliche textuelle Beschreibungen angewiesen sind und die komplexe Erarbeitung von Suchtools erfordern 24 https://adfontes-heraldik.ch. 25 Rolker, Decker: Ad fontes, Übungen zur Heraldik.

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würde. Die offene Architektur erlaubt es allen Mitwirkenden jederzeit Anpassungen in der Beschreibung der Wappen vorzunehmen. Die Änderungen werden dabei aufgezeichnet und den registrierten Nutzerinnen und Nutzern zugeordnet. Dadurch könnten maliziöse Eingriffe rasch identifiziert und nötigenfalls Accounts gesperrt werden. Wie bei hackcappelli wird jedoch davon ausgegangen, dass die Community kein Interesse an der Einspeisung falscher oder problematischer Inhalte hat. Im Gegensatz zum ersten Crowdsourcingprojekt (digitaler Cappelli) ist es jedoch nicht ausgeschlossen, dass gewisse falsche Vereindeutigungen (die »Müller« aus X haben immer und nur Wappen Y verwendet) vorgenommen werden. Das Monitoring der logs und der Nachvollzug von Änderungen muss entsprechend tief in den Workflows und Aufgaben im Rahmen des Projekts eingeplant werden.

Abb. 3: Screenshot der Strukturierungsmöglichkeiten der Wappenbeschreibung mit Informationen zum Spangenhelm (rechts), Quelle: https://adfontes-heraldik.ch/.

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Aktuell erst in Vorbereitung ist die Möglichkeit selbständig Wappen oder ganze Bildkonvolute mit Wappen hochzuladen. Mit dieser Option wird es möglich, dass die Crowd selbständig die Richtung der Forschungsarbeit vorgibt und damit die Sammlung durch das Hinzufügen von Dokumenten aus einer bestimmten Region oder Zeit aktiv mitbestimmt. Ein Ziel von Co-Design, die Möglichkeit eine Forschungsrichtung mit vorzugeben, wird dadurch erfüllt. In der Konsequenz wird einer Crowd nicht nur die Mitarbeit, sondern auch die aktive Einflussnahme ermöglicht. Die Ansammlung von systematisch beschriebenen Wappen ist nicht nur als Suchgrundlage von hohem wissenschaftlichem und gesellschaftlichem Wert – man denke etwa an die Suche nach und die Entwicklung von Familienwappen – sondern bildet potentiell auch eine hervorragende Grundlage, um zukünftige maschinelle Lernverfahren zu trainieren. Dadurch könnten Wappen automatisiert beschrieben und kategorisiert werden. Erste Ansätze deuten darauf hin, dass dies auf Basis von bereits bestehenden neuronalen Netzen möglich ist und die generierten Wissensbestände in Knowledge Graphs umgesetzt werden können. 26 Selbstredend kann die Plattform indes nur erfolgreich sein, wenn sich eine Community ansprechen lässt. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Beitrags waren vor allem Teilnehmende von Lehrveranstaltungen im Sinne von Belastungstests und einzelne direkt angesprochene Projektpartnerinnen und -partner an der Aufnahme von Wappen beteiligt. Inwiefern sich Thematik und technische Ausführung für die Bearbeitung durch Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler eignet, kann noch nicht beurteilt werden.

Schöpfkarte: Multidisziplinäre Aufbereitung einer historischen Quelle Die folgenden zwei Projekte bewegen sich aufgrund der individuellen Anforderungen und Möglichkeiten, die der Crowd zugemutet werden, in einem hochgradig interaktiven und dialogischen Stadium, da die Sammlungsziele bzw. die dafür zu verwendenden Grundlagen zwar thematisch klar umrissen sind, aber dennoch eine Bandbreite an Interpretationsmöglichkeiten eröffnen. Gerade dadurch wird den Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern die Mög-

26 Torsten Hiltmann, Sebastian Thiele, Benjamin Risse: Friends with Benefits. Wie Deep-Learning basierte Bildanalyse und kulturhistorische Heraldik voneinander profitieren, in: DHd 2020 Spielräume: Digital Humanities zwischen Modellierung und Interpretation. 7. Tagung des Verbands Digital Humanities im deutschsprachigen Raum (DHd 2020), Paderborn 2020, https://doi.org/10.5281/zenodo.4621890, Philipp Schneider, Jim Jones, Torsten Hiltmann u. a.: Challenge-derived design practices for a semantic gazetteer for medieval and early modern places, in: Semantic Web 12.3 (2021), S. 493–515, https://doi.org/10.3233/SW-200394.

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lichkeit zur Mitbestimmung der Forschungsrichtungen eingeräumt und eine Form des Co-Design geschaffen. Ein regionalgeschichtliches Ziel verfolgt das Projekt zur dichten Annotation der Schöpfkarte, einer geographischen Herrschaftsbeschreibung Berns aus dem 16. Jahrhundert, das aktuell in Zusammenarbeit mit Studierenden entwickelt und getestet wird. 27

Abb. 4: Thomas Schöpf: Inclitæ Bernatvm vrbis, cvm omni ditionis svæ agro et provinciis delineatio chorographica: secvndvm cvivsqve loci ivstiorem longitvdinem et latitvdinem coeli / avthore Thoma Schepfio Bris doctore medico; Bernæ Nuitonum pingebant, et exæsis tÿpis æneis exsculpebant, Martinus Krumm Bernensis et Johannes Martin Dauentriensis, ambo pictores; adiuuate Adelbergo Sauracker ciue Basiliensi verò cura Bernhardi Jobini, Universitätsbibliothek Bern, MUE Ryh 3211: 5, Quelle: https://doi.org/10.3931/e-rara-79307.

Die Schöpfkarte entstand während der Pestzeit in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. 28 Sie stellt das Staatsgebiet des alten Berns dar und wurde 1578 gedruckt. Die südausgerichtete Karte entstand ohne wesentliches Vorbild oder Triangulation. Es liegt ihr aber ein ausführlicher Text zugrunde, die sogenannte

27 Einführend zur Schöpf-Karte siehe die Ausgabe der Zeitschrift Cartographica Helvetica 60 (2020) und die Sammlung der Universitätsbibliothek Bern: www.unibe.ch/ub/schoepf/. 28 UB Bern, siehe https://www.e-rara.ch/bes_1/doi/10.3931/e-rara-79307.

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Chorographie, 29 die in mehreren Abschriften überliefert ist. Karte und Text machen die früheste Landesbeschreibung der westlichen Schweiz aus. Im Zuge der Aufarbeitung für eine Publikation und eine Ausstellung wurden die Chorographie und die Karte sowie Folgekarten digitalisiert und kontextualisiert. 30 Damit ist eine hervorragende Ausgangslage geschaffen, um die Karte nicht nur wissenschaftlich zu erforschen, sondern auch die Inhalte der Fachcommunity sowie insbesondere der regional- und lokalhistorisch interessierten Bevölkerung zu vermitteln. Dank der Digitalisierung der Karte und der Chorographie besteht die einzigartige Möglichkeit, Text und Bild eng miteinander verknüpft aufzubereiten. Ziel des Crowdsourcing ist somit ein digitaler Zugang, der mehrere Zugriffsformen erlaubt und von der Karte auf den Text oder vom Text in die Karte führt. Aus technischer Perspektive werden Webstandards eingesetzt, um die Karte in digitaler Form aufzubereiten und auch zugänglich zu machen. 31 Der Zugriff kann über einen Ortsindex mit historischen und modernen Ortsnamen, durch die Volltextsuche von Digital Mappa sowie – aktuell in Umsetzung – georeferenzierten Karten erfolgen. 32 Durch den hohen Detailgrad und die Vielzahl an sehr individuellen Abbildungen von Kirchen, Weilern, Siechenhäusern, Ruinen oder Galgen ist die Karte für die heutigen Bewohner des abgebildeten Gebiets von hohem Interesse, da die eigene Region mit neuen Augen und einem genuin historischen Blick entdeckt werden kann. Mittels der Plattform Digital Mappa 33 (DM) wird die Karte nicht nur durch Expertinnen und Experten annotiert: Das Tool lässt zusätzlich weitgehend freie Einträge aus der Crowd zu, so dass der historische Blick in die Region um moderne Ansichten erweitert werden kann. Damit zielt das Projekt auf ein thick mapping 34 ab, das multidimensional eine Region historisiert und die Darstellung der Region im 16. Jahrhundert heutigen Gegebenheiten gegenüberstellt.

29 Bern, Staatsarchiv, DQ 725 und DQ 726, siehe https://www.query.sta.be.ch/detail.aspx?ID=347881 und https://www.query.sta.be.ch/detail.aspx?ID=347882. 30 Siehe Cartographica Helvetica 60 und www.unibe.ch/ub/schoepf/. 31 Anvisiert wird der Einsatz von Digital Mappa (https://www.digitalmappa.org/), das u. a. auf dem IIIF-Bildstandard aufbaut und als virtueller Server in der universitären Infrastruktur aufgesetzt werden kann. 32 Zu historischen georeferenzierten Karten siehe http://www.kartenportal.ch/. 33 https://www.digitalmappa.org/. 34 Siehe den vielbeachteten Sammelband Todd Presner, David Shepard, Yoh Kawano (Hrsg.): HyperCities thick mapping in the digital humanities, Cambridge, Massachusetts 2014 (MetaLABprojects).

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Abb. 5: Screenshot von Digital Mappa mit einem Ausschnitt aus einem Kartenteil mit Annotation der Prämonstratenser Abtei am Lac de Joux, Quelle: https://www.digitalmappa.org/.

Digital Mappa erlaubt die freie Annotation, das Highlighting und die Verlinkung von Text- und Bilddaten, wobei sich die Plattform vorwiegend für die Aufbereitung von visuellem Material, insbesondere Karten, eignet. Die Version 2.0 von DM wurde 2020 publiziert und ist Open Source verfügbar, wobei die Installation auf eigenen Servern möglich, aber komplex ist. 35 Ein Vorteil der Umsetzung in DM ist die einfache Integration von Quellen, die nach den Standards der IIIF zur Verfügung gestellt werden. 36 Aufgrund der Struktur von frei zu zeichnenden Linien und Polygonen, die wiederum auf textuelle und visuelle Einträge verweisen, ist die Anlage von mehrschichtigen Informationen möglich, die alle aufeinander bezogen werden können. Die vormoderne Karte bietet entsprechend nur den Ausgangspunkt für darauf aufbauende Annotationen. Zwar wird der grundsätzliche Umgang mit Annotationen beschrieben, etwa Transkriptionsregeln, Struktur der Einträge und zu verwendende Farben für bewohnte Bauten, Geographika etc., aber bei der weiteren Informationsanreicherung sind die Freiwilligen komplett frei und

35 Siehe dazu die Rezension der Plattform Digital Mappa durch Tobias Hodel, Anna Janka, Jonas Widmer: Digital Mappa – Simple and Web-based Annotations. Tool review. in: RIDE: a review journal for digital editions and resources 15 (2022). DOI: 10.18716/ride.a.15.1. 36 Siehe dazu https://iiif.io/. Dank der Kompatibilität der Plattform e-rara.ch war der Import der Bilddaten problemlos, schnell und in hoher Qualität möglich.

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werden somit zu tatsächlichen Citizen Scientists, da alle Beiträge Teil eines engen Netzes an Informationen und Ergänzungen werden. Dadurch entsteht eine dichte Kartierung, die nicht notwendigerweise die Perspektive der Vormoderne beibehalten muss, sondern zu einem neuen Blick auf die eigene Region anregen soll, der ständig erweitert und ergänzt werden kann. Der regional historische Zugang erlaubt gleichzeitig interdisziplinäre Ansätze, die etwa sprachgeschichtliche Studien mitbefördern. So erlaubt etwa die Schreibungen der Ortsnamen Rückschlüsse auf den damals gesprochenen Dialekt bzw. den Stand der Schriftlichkeit sowie sich verschiebende Sprachgrenzen. Informationen, die auch über Flurnamen erschlossen werden, können mit laufenden Projekten, etwa zur Ortsnamensforschung, verknüpft werden. 37

Die Pandemie einem vielperspektivischen Blick aussetzen: CoronaMemory Komplett ohne vordefinierte Forschungsrichtung, sondern aus dem Bewusstsein der Einzigartigkeit der aktuellen Situation heraus, wurde corona-memory.ch gestartet. Das Projekt sammelt in erster Linie Beiträge zur Corona-Pandemie aus der Schweiz. Interessierte sind dabei aufgefordert, Fotografien, Texte und andere Beiträge mit Bezug zu COVID-19 zu teilen. Das Resultat ist eine Sammlung, die zukünftig Forschungen in unterschiedliche, nicht vorgegebene Richtungen ermöglicht. Parallel zur Schweizer Sammlung entstanden weltweit ähnliche Pandemiearchive, die in losem Kontakt zueinander stehen und gemeinsam eine ausgesprochen breite Datengrundlage bieten. 38 Mehr als zwölf Monate nach Start des Projekts wird immer noch weiter gesammelt, während Diskussionen mit Archiven über die langfristige Speicherung sowie mit interessierten Forschenden zu möglichen Forschungsfragen anlaufen. Allein aufgrund der Beiträge lässt sich bereits demonstrieren, dass der Citizen-Science-Ansatz genutzt werden kann, um Eindrücke festzuhalten, die einerseits die Lage visuell erfassen, andererseits aber auch Strategien zum Umgang mit der außerordentlichen 37 Siehe dazu den Projektbeschrieb des Ortsnamenbuch des Kantons Bern: http://ortsnamenbuch .unibe.ch/web/ueber.php. Als letzten Band siehe bspw. Thomas Franz Schneider, Roland Hofer, Luzius Thöny (Hrsg.): Ortsnamenbuch des Kantons Bern. [Alter Kantonsteil] I Dokumentation und Deutung. Sechster Teil: Se–Di/Ti, Tübingen 2020, https://doi.org/10.2357/9783772057113. 38 Für Deutschland siehe bspw. das Corona Archiv: https://coronarchiv.blogs.uni-hamburg.de/ mit bislang mehr als 4.000 Beiträgen oder die wahrscheinlich größte Sammlung, das amerikanische Journal of the Plague Year: https://covid19.omeka.net/. Visuell herausragend ist die luxemburgische Sammlung: https://covidmemory.lu/. Als Überblick siehe Tizian Zumthurm, Marco Gabellini: Collaborative COVID-19 Memory Banks. History and Challenges, C2DH | Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History, 19.01.2021; https://www.c2dh.uni.lu/thinkering /collaborative-covid-19-memory-banks-history-and-challenges.

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Situation dokumentieren. Wie erhofft, dient die Sammlung daher nicht nur dazu, Momente einzufangen und erforschbar zu machen, sondern auch als Mittel zur Verarbeitung der beängstigenden Umstände. Corona-memory.ch ist ein Beispiel, wie offene Sammlungsbemühungen über digitale Formen ein relativ breites Publikum ansprechen und diese zum Mitmachen motiviert werden können. Das Crowdsourcing erfolgt über die Plattform OMEKA, die Open Source vom Roy Rosenzweig Center for History and New Media weiterentwickelt wird. OMEKA wurde im Nachgang zu 9/11 erstellt, um einer breiten Bevölkerung eine Ausdrucksmöglichkeit nach den traumatisierenden Ereignissen in New York zu geben. 39 Aus diesem Ansatz entwickelte sich die Plattform weiter, mit dem Ziel ein Content-Management-System zur Kuratierung von geisteswissenschaftlichen Datensätzen sowie virtuellen Ausstellungen bereit zu stellen. Das Aufsetzen der Plattform ist relativ simpel und die Möglichkeit sie in Form eines eigenen Servers zu betreiben, erlaubt diverse Einsatzszenarien und Sicherungsmechanismen. Wohl vorwiegend aufgrund der Bekanntheit der Plattform in den Digital Humanities setzt die Mehrheit der nationalen und internationalen Corona-Sammlungen auf OMEKA, was wiederum zu einer sprunghaften Weiterentwicklung der Plattform führte. 40 Der Sammlungsaufruf für corona-memory.ch, aber auch für andere CoronaArchive, bietet die Möglichkeit, fast jeden denkbaren Inhalt hochzuladen. Es wird geradezu dazu aufgerufen, alles zu teilen, das in einem Zusammenhang mit der Corona-Krise steht: »Nichts ist für die Sammlung zu banal«. 41 Durch diese Flexibilität und vor allem durch die Freiheit nach eigenem Gutdünken Beiträge beizusteuern, wird in diesem Fall keine spezialisierte Crowd, sondern Bürgerinnen und Bürger (im Sinne von Citizen Scientists) offensiv die Möglichkeit eingeräumt zukünftige Forschungsunterfangen mitzuprägen. Die in corona-memory.ch umgesetzte Form der Citizen Science lässt sich als Participatory Science verstehen, da nur sehr bedingt Vorgaben zu den beigesteuerten Beiträgen gemacht werden. Damit erfüllt das Projekt auch die oben definierten Anforderungen an Co-Design, wobei natürlich offenbleibt, was mit den bereitgestellten Daten passiert.

39 Siehe dazu die Website https://911digitalarchive.org. Das Eingabeformular ist mit Stand vom Februar 2006 auf archive.org einsehbar: Contribute - September 11: Tell Your Story, 14.02.2006. https://web. archive.org/web/20060214053151/http:/911digitalarchive.org/smithsonian/add_story.html. 40 Die Entwicklung von OMEKA S kann auf GitHub nachvollzogen werden: Omeka S, 2021 [12. August 2013]; https://github.com/omeka/omeka-s. Version 3.0 wurde im Oktober 2020 veröffentlicht: https://omeka.org/news/2020/10/08/omeka-s-v3-released/. 41 Céline Graf: Corona-Onlinearchiv der Bevölkerung – »Nichts ist für die Sammlung zu banal«, in: Der Bund, 15.06.2020. https://www.derbund.ch/nichts-ist-fuer-die-sammlung-zu-banal-225988912547.

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Abb. 6: Screenshot aus corona-memory.ch. Ansicht zur Aufnahme neuer Beiträge, Quelle: coronamemory.ch.

Mit Blick auf die eingereichten Beiträge wird deutlich, dass die Nutzung von Social Media auch das Verhalten der Hochladenden nachhaltig prägt. Obwohl das angesprochene Thema mit einer weltweiten Pandemie, Todesfällen und langanhaltender Krankheit verbunden ist, sind – wie bereits angedeutet – eine Mehrheit der Beiträge positiv oder humoristisch. Die schmerzhaften Konsequenzen finden sich dagegen in ungefähr zehn Prozent der Beiträge. Offenbar wirken Selbstdarstellungsmechanismen, wie sie typischerweise für Facebook,

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Twitter und andere soziale Medien festgestellt werden können, 42 auch bei der Nutzung von solchen Crowdsourcing-Plattformen. 43 Das Thema Social Media wurde im Rahmen des Projekts nicht nur als Vergleichsfolie intensiv diskutiert, sondern sollte auch genutzt werden, um auf die Plattform aufmerksam zu machen und relevante Beiträge innerhalb der Plattformen zu sammeln. Ausgerüstet mit Twitter, Facebook und Instagram-Account wurde eine Social-Media-Strategie entwickelt und während sechs Monaten umgesetzt. Die ernüchternden Resultate dürften auch für ähnliche Projekte aufschlussreich sein: Obwohl die Accounts regelmäßig bespielt und innerhalb der jeweiligen Plattformen auch messbar zu Interaktionen anregten, so schwappte davon so gut wie keine Reaktion auf die Hauptplattform über. Die Plattformization des Webs zeigt daher auch in diesem kleinen Rahmen, wie isolierend die großen Netzwerke wirken. Plattformen wie Facebook unterbinden oder demotivieren Userinnen und User Beiträge auf andere Webseiten zu stellen. Gleichzeitig besteht natürlich auch wenig Bewusstsein dafür, dass die auf Social Media geteilten Inhalte in naher Zukunft verschwinden können und nicht für immer verfügbar bleiben. Ganz anders als Aufrufe via Social Media wirkten Beiträge in Massenmedien, insbesondere in Print und Fernsehen. Nach Publikation oder Ausstrahlung konnte die höchste Anzahl an neuen Beiträgen auf corona-memory.ch festgestellt werden. Exemplarische Auswertungen der Beiträge deuten analog zu solchen Erfahrungen und mit Blick auf Konsumentinnen und Konsumenten von (zahlpflichtigen) Tageszeitungen und andere Massenmedien auf ein tendenziell älteres Publikum der Plattform.

Exkurs: Konsequenter Einbezug von Freiwilligen – Ansätze aus den Sprachwissenschaften Innerhalb der Geisteswissenschaften hat sich mit den Sprachwissenschaften in den vergangenen hundert Jahren ein Bereich besonders oft an den Methoden des Crowdsourcing bedient. Hier soll kurz auf einen im späten 19. Jahrhundert vollführten Paradigmenwechsel und der darauffolgenden Überarbeitung des Methodenapparats einiger Bereiche der Linguistik eingegangen werden. Im Zuge dessen soll nicht nur die Implementierung des Crowdsourcing als einer42 Mit Fokus auf Facebook siehe Erin A. Vogel, Jason P. Rose: Self-reflection and interpersonal connection: Making the most of self-presentation on social media, in: Translational Issues in Psychological Science 2.3 (2016), S. 294–302, https://psycnet.apa.org/doiLanding?doi=10.1037%2Ftps0000076. 43 Siehe dazu auch Tizian Zumthurm: Crowdsourced COVID-19 Collections: A Brief Overview, in: International Public History 4.1 (2021), S. 77–83, https://doi.org/10.1515/iph-2021-2021.

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seits zuverlässige, aber auch andererseits als viel diskutierte Methode chronologisch angerissen werden. Zusätzlich werden einige zentrale oder besonders aussagekräftige Projekte und deren wissenschaftlicher Output angesprochen. Abschließend gibt dieser Exkurs einen Einblick in die aktuelle Diskussion um den wissenschaftlichen Wert des Crowdsourcing in den Sprachwissenschaften. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts verstand sich die Linguistik hauptsächlich als rein deskriptive und historisch-vergleichende Wissenschaft, so dass Forschungsansätze und -projekte häufig ausschließlich den strukturellen Aufbau von (historischen) Sprachen thematisierten. 44 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erkannte Wilhelm von Humboldt zwar bereits soziale Aspekte von Sprache, 45 bis jedoch Sprecherinnen und Sprecher in die Erforschung sprachlicher Varietäten einbezogen wurden, dauerte es fast weitere hundert Jahre. So erstaunt es daher nicht, dass auch die ersten Crowdsourcing-Bemühungen der Sprachwissenschaft primär auf die Sprache und nicht auf die Sprecherinnen und Sprecher fokussierten. Als erstes sprachwissenschaftliches Crowdsourcing gelten gemeinhin die Bemühungen von James Murray, der 1879 im Rahmen der Schaffung des Oxford English Dictionarys (OED) einen Aufruf zur Mitarbeit an ebendiesem Wörterbuch veröffentlichte. 46 Mit Blick auf die bereits angesprochene, deskriptive Vorgehensweise der einstmaligen sprachwissenschaftlichen Forschungstradition bestätigen die Bemühungen von Murray das Bild der Zeit: zwar konnte er durch den Aufruf schätzungsweise 1.000 freiwillige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter finden, die ihn bei der Dokumentation der damaligen englischen Sprache unterstützten, über die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst, also die Crowd, ist aber nichts bekannt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts finden wir im deutschsprachigen Raum die Ansätze der sog. Junggrammatiker. 47 Diese Gruppe von Linguisten ist besonders für die Postulierung der »Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze« bekannt und obwohl dieser Ansatz ganz in der Tradition der damaligen Methoden stand,

44 Siehe dazu etwa die Arbeit von Sir William Jones, der 1786 auf die Verwandtschaft von Sanskrit, Altgriechich und Latein hinwies und damit die Indogermanistik begründete. William Jones: Third Anniversary Discourse: On the Hindus, in: Asiatick Researches 1 (1798), S. 415–431. 45 Dazu Wilhelm von Humboldt: Einleitung in das gesammte Sprachstudium, in: Ders. (Hrsg.): Kleine Schriften; Autobiographisches, Dichtungen, Briefe. Kommentare und Anmerkungen zu Band I-V; Anhang, Bd. 5, Stuttgart 1981, S. 1–112. 46 Zur Biografie von James Murray siehe Robert W. Burchfield: Murray, Sir James Augustus Henry (1837–1915), lexicographer, in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2017, https://doi.org/10.1093/ref:odnb/35163. 47 Zu den Junggrammatikern: Hans Arens: Sprachwissenschaft der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 1, Frankfurt am Main 1969.

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führte jedoch seine Überprüfung zum bereits erwähnten Paradigmenwechsel. 48 Bei ihrer Arbeit fokussierten sich die Junggrammatiker besonders auf Varietäten im deutschsprachigen Raum und betrachteten diese als statische Objekte. Der Einbezug von realen Sprecherinnen und Sprecher als Expertinnen und Experten einer jeweiligen Varietät zeigte jedoch, dass Sprache nicht statisch und dadurch nicht ausnahmslos ist, wodurch die Annahme der »Ausnahmslosigkeit der Lautgesetzte« ihre Berechtigung verlor. Als direkte Folge dieser Erkenntnis kann das Aufkommen der Dialektologie als Bereich der Sprachwissenschaft betrachtet werden, in der Sprecherinnen und Sprecher zumindest aus räumlicher Perspektive eine wichtige Rolle spielten. Die sprachliche Varietät verschiedener Sprecherinnen und Sprecher wurde meistens durch direkte Befragungen aufgenommen, also z. B. durch persönliche Interviews. So blieben die Datensamples zwar relativ klein, bestanden aber aus qualitativ hochwertigem Material. Besonders die Größe des zu untersuchenden Raums verlangte aber auch nach einer anderen, indirekten Methode, durch die in kurzer Zeit große Räume dialektologisch abgedeckt werden konnten. Gerade der Ansatz der indirekten, dialektologischen Befragung ließ eines der wahrscheinlich größten Crowdsourcing-Projekte überhaupt entstehen: Georg Wenker verschickte ab 1879 ca. 50.000 Fragebogen an Lehrpersonen im damaligen Deutschen Reich. Im Unterschied zu den Erhebungen von Murray zum OED ließ Wenker die Informantinnen und Informanten auf der Rückseite des Fragebogens auch Angaben zu sich selbst, zur Region und zur Wahrnehmung des jeweiligen Dialekts machen. 49 Durch die Arbeit von Wenker wurden so zum ersten Mal nicht nur die sprachliche Varietät im Raum, sondern auch die teilnehmenden Sprecherinnen und Sprecher greifbar, so dass die tatsächliche Crowd als Teil der Varietät in die Datenanalyse mit einbezogen werden konnte. Das heute vorliegende Korpus von Wenker ist daher nicht nur aus sprachwissenschaftlichen, sondern insbesondere auch aus ethnographischen Gründen von hohem Wert. 50 Die meisten klassisch-dialektologischen Projekte des frühen 20. Jahrhunderts setzten aber nicht länger auf eine indirekte Datenerhebung, sondern auf direkte Interviewsituationen zwischen einer Informantin bzw. einem Informanten und einer Exploratorin bzw. einem Explorator. Allgemein wurden Daten aus direkten Erhebungen bereits früh als valider bewertet, weil sie überprüfbar und jederzeit reproduzierbar waren. Mit der Entwicklung der Soziolinguistik in den 48 Zu den Ansichten der Junggrammatiker, siehe Hermann Paul: Prinzipien der Sprachgeschichte, Berlin 2010, https://doi.org/10.1515/9783110929461. 49 Jürg Fleischer: Geschichte, Anlage und Durchführung der Fragebogen-Erhebungen von Georg Wenkers 40 Sätzen. Dokumentation, Entdeckungen und Neubewertungen, Hildesheim 2017. 50 Alle erhobenen Wenkerbögen stehen hier digitalisiert zur Verfügung: https://www.regionalsprache .de/Wenkerbogen/Catalogue.aspx (Lizenz: CC BY-SA).

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1970er Jahren und der darin enthaltenen Variationslinguistik als Nachfolgedisziplin der klassischen Dialektologie änderte sich aber der Blick auf indirekte Erhebungsmethoden. Das Versenden soziolinguistischer Fragebogen oder der Aufruf zur Mitarbeit, beispielsweise bei der Erhebung von im Verschwinden begriffenen Varietäten mittels standardisierten soziolinguistischen Interviews, also immer einer Mischung aus der Erhebung von sprachwissenschaftlichen und soziologischen Daten, bietet bis heute die Möglichkeit, nicht nur Resultate zur tatsächlich gesprochenen Varietät, sondern auch zu den äußeren Einflüssen auf die jeweilige Sprachvariation zu analysieren.

Abb. 7: Screenshot der Rückseite von Wenkerbogen 45717, Guggisberg Bern, Schweiz, Quelle: https://www.regionalsprache.de, alle Wenkerbögen (Bilddaten) werden unter einer CC BY-SA Lizenz verfügbar gemacht.

Wie in anderen Bereichen auch, wird für sprachwissenschaftliche Erhebungen hauptsächlich das Internet genutzt, wie sich etwa am Fragebogen des Atlas der deutschen Alltagssprache (AdA) zeigt. 51 Die Crowd des AdA besteht aus einer Gruppe sprachwissenschaftlich interessierter Fachleute und Laien, die mittels Calls immer wieder zur Mitarbeit an einer neuen Erhebungsrunde aufgefordert wird. Dabei bleiben die Befragungen in ihrem Aufbau bis auf die abgefragten Variablen immer gleich. Die teilnehmende Crowd weiß dadurch bereits vor dem Ausfüllen des Fragebogens, was auf sie zukommt und wie viel Zeit die Mitarbeit beanspruchen wird. Mit dem Start einer neuen Runde werden gleichzeitig auch immer die Resultate der letzten Runde als Dialektkarten zur Verfügung gestellt.

51 https://www.atlas-alltagssprache.de.

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Eine weitere Möglichkeit, um eine Crowd von der freiwilligen Mitarbeit zu überzeugen, bilden Ansätze der Gamification, die in den letzten Jahrzehnten, zusammen mit der Entwicklung von Smartphone-Apps für CrowdsourcingZwecke, stark aufgekommen sind. Prototypisch für eine App mit GamificationAnsätzen ist die Gschmöis-App der Universität Zürich. 52 Während bei der klassischen Auffassung von Gamification die Crowd durch das Erreichen von Punkten oder höheren Levels im Spiel zur Mitarbeit motiviert wird, bedient sich die Sprachwissenschaft aber auch anderer Ansätze, beispielsweise der Verortung im eigenen Sprachraum. Userinnen und User benutzen also eine entsprechende App nicht, um im Spiel weiter zu kommen, sondern um zu testen, ob die App etwa ihre tatsächliche Herkunft erraten kann. Zu nennen ist hier beispielsweise die Dialäkt-App zur Erhebung schweizerdeutscher Dialekte von Adrian Leemann, 53 die den bereits bekannten Weg indirekter Erhebungen zur Aufzeichnung soziolinguistischer Variation weitergeht. Wieder einen anderen Ansatz verfolgt die Lingscape-App von Christoph Purschke zur Erhebung von Schriftlichkeit im öffentlichen Raum, 54 die sich noch stärker von klassischen Gamification-Ansätzen entfernt. Bei dieser App steht das gemeinsame Erschaffen eines Abbilds des eigenen Sprachraums im Vordergrund, eine Vorgehensweise, die auch als Form des Co-Designs verstanden werden kann. Mit der Lingscape-App werden zum ersten Mal Sprachdaten nicht in einem Fragebogen, sondern direkt im geographischen Raum verortet. Dadurch entsteht ein neues, soziolinguistisches Abbild einer gewissen Region und es können beispielsweise Rückschlüsse zur Mehrsprachigkeit eines Gebiets gezogen werden. Indirekt erhobene Daten können direkte Daten nicht ganz ersetzen und die momentan geführte Diskussion um die Qualität und Validität indirekter Sammlungen ist vielschichtig. Adrian Leemann führt mit seinem Autorenteam aus, dass Daten, die mittels Crowdsourcing erhoben worden sind, immer gewissen Restriktionen unterliegen, wie z. B. der Kontrolle der Erhebungssituation, der Ernsthaftigkeit der Eingaben oder der Einzigartigkeit der Daten (oft nehmen Informantinnen und Informanten mehrfach an Erhebungen teil). 55 Dennoch ist der Einsatz technischer Hilfsmittel und die Befragung in Form des digitalen Crowdsourcing fast schon alternativlos, so lange man sich der Datenproblematik bewusst bleibt und diese besonders in der Analyse der Daten und der Ergebnisdiskussion als möglichen Störfaktor mit einbezieht. 52 https://apps.apple.com/ch/app/gschmöis/id1406455428. 53 https://apps.apple.com/ch/app/dialäkt-äpp/id606559705. 54 https://apps.apple.com/ch/app/lingscape/id1150040665. 55 Adrian Leemann, Marie-José Kolly, Ross Purves u. a.: Crowdsourcing Language Change with Smartphone Applications, in: PLOS ONE 11.1 (2016), S. e0143060, https://doi.org/10.1371/ journal.pone.0143060.

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Abb. 8: Screenshot der Lingscape-App von Christoph Purschke, Quelle: https://apps.apple.com/ch/app/lingscape/id1150040665.

Heute wissen wir, dass durch den Einsatz von Crowdsourcing-Ansätzen in kurzer Zeit eine viel größere Datenmenge erhoben werden kann, als dies durch direkte Erhebungen möglich ist. Zusammen mit gängigen Tools, die zur Analyse großer Datenmengen eingesetzt werden können, ergeben sich neue Chancen, Sprache sowohl im horizontalen (geographischen) als auch im vertikalen (soziologischen) Raum zu betrachten. Crowdsourcing-Methoden haben dadurch unseren Blick auf Sprache revolutioniert und uns eine neue, weitere Wirklichkeit aufgezeigt. Sollten Ansätze des Crowdsourcings auch in Zukunft weiterhin oder gar noch verstärkt eingesetzt werden, darf von der weiteren Vervollständigung dieser neuen Perspektive auf Sprache ausgegangen werden. Im Sinne eines Transfers von den Sprach- zu den Geschichtswissenschaften können einige Punkte hervorgehoben werden. Zentral ist die laufend geführte Methodendiskussion, inwiefern die erhobenen Daten genutzt und welche Probleme durch den Einbezug von Freiwilligen über das weltweite Netz in Kauf genommen werden müssen. Daneben ist es insbesondere die Verbreitung der Datenbasis und die Kombination von Raum und Zeit, die in den Sprachwissenschaften geschickt verknüpft werden und breite Auswertungsszenarien eröffnen. Darüber hinaus bieten Crowdsourcing-Methoden die Möglichkeit, sich entlang der Crowd ständig weiterzuentwickeln und anzupassen, ohne dass die gewonnenen Daten direkt als Resultate einer anderen Analyse verstanden werden müssen. Interessanterweise wird das Konzept des Co-Design aktuell auch in der Linguistik noch nicht vehement durchgesetzt und ist Teil der laufenden Diskussionen.

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Schluss Die vorgelegte Umschau zeigt auf, wie eng Fragestellung, technische Umsetzung und die zu erreichende Community verwoben sein müssen, um ideale Ergebnisse und vor allem eine befriedigende Erfahrung auf Seiten der Freiwilligen zu erreichen. Die Abstimmungen dazu sind aufwändig und häufig mit unterschätzten zeitlichen Ressourcen verknüpft, um nicht nur auf digitaler Seite ein Crowdfähiges Produkt in Form einer Website zu erstellen, sondern eine langsam wachsende Schicht an Citizen Scientists mittel- und langfristig zu motivieren. Etwas kontraintuitiv sind dabei insbesondere technische Faktoren, etwa dass die Leistungsfähigkeit einer Plattform häufig weit weniger wichtig ist, als eine kluge Führung der Nutzenden und andere Designentscheidungen, die Webplattformen intuitiv erscheinen lassen und eine rasche Partizipation ermöglichen. Von dieser Warte aus lohnen sich ausgiebige Tests mit unbedarften Nutzenden, die in kurzer Zeit eine Aufgabe bewältigen müssen, aber gleichzeitig die Gruppen oder Communities verkörpern, die angesprochen werden sollen. Alle oben vorgestellten Beispiele wurden unter Mitarbeit von Studierenden erstellt und insbesondere auch durch diese getestet. Die dabei gemachten Erfahrungen sind aus Projektsicht häufig der schmerzhafte Teil eines Entwicklungsprozesses, da sich Probleme zeigen, die ganze Projektkonstruktionen ins Wanken bringen (können). Neben einer einfachen Bedienbarkeit lassen sich noch weitere Faktoren identifizieren, die zu einer aktiven Crowdbeteiligung führen. Zentral ist dabei sicherlich die Motivation etwas mit zukünftigem Nutzen zu schaffen, das optimalerweise sogar selber verwendet werden kann. Am deutlichsten lässt sich dies anhand des digitalen Cappelli demonstrieren, der sich seit dem Crowdsourcing 2015 zur am häufigsten aufgerufenen Seite auf Ad fontes gemausert hat. Wie intendiert oder erhofft, schuf sich eine Crowd somit ein Hilfsmittel, das sie selbst regelmäßig benötigt. Das Interesse lag, wie bereits angesprochen, weniger an der einzelnen aufgenommenen Abkürzung, sondern vielmehr an der dadurch entstehenden Möglichkeit zukünftig schnell auf die entsprechende Ressource zugreifen zu können. Der verhältnismäßig kleine Aufwand einzelner Beitragender wird dabei durch den Nutzen für eine Gemeinschaft aufgewogen, zu der man sich selbst zählt. Bei corona-memory.ch liegt die Gemengelage anders, da auf den ersten Blick kein direkter Nutzen aus der Sammlung ersichtlich wird. Entsprechend können die Beiträge auch als Form der Selbstbespiegelung gesehen werden, in denen Uploaderinnen und Uploader ihre eigene Situation, teils humoristisch aufgeladen, darstellen wollen. Der Vergleich mit Auftritten auf Social-Media-Plattformen wie Facebook und Instagram ist entsprechend naheliegend und es muss gar

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so etwas wie eine Konkurrenz zwischen spezifischen Plattformen wie coronamemory.ch und Social-Media-Giganten konstatiert werden. Der Aspekt des Community-Building, der auf den vorhergehenden Seiten nur sporadisch aufgerufen wurde, gilt es selbstredend auch zu beachten. Die Diversität der beschriebenen Ansätze macht es aber schwierig, Leitlinien zu definieren, die diesbezüglich hilfreich sind. 56 Was sich indes als erfolgreich erwiesen hat, ist der Einbezug einer (hoch-)spezialisierten Crowd. Weiter hat es sich als ausgesprochen gewinnbringend herausgestellt, wenn ein Crowdsourcing-Projekt zusammen mit einer Community bzw. Protagonistinnen und Protagonisten derselben, am Aufbau des Projekts beteiligt waren. Spezifika für die Geschichtswissenschaften sind aus den beschriebenen Projekten dahingehend erkennbar, als dass nur in wenigen Fällen eine (unüberschaubar große) Community angesprochen wird und vielmehr mit Freiwilligen gearbeitet werden kann, die sich identifizieren und gezielt ansprechen lassen. Das Ziel dieser Seiten war es nicht zuletzt die Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler bei der Steuerung von Fragestellung und Materialauswahl miteinzubeziehen und sie nicht nur für Annotations- und Aufbereitungsprozesse einzusetzen. Während das erste Projekt zur Erarbeitung des digitalen Cappelli in nichts Weiteres als die saubere Aufbereitung bereits bestehender Informationen mündete, so war damit ein Diskussionsanstoß gemacht, der die engere Mitarbeit von Freiwilligen denkbar werden ließ. Bereits im Ansatz von heraldik@ad fontes war angelegt, dass die Freiwilligen einerseits durch die selbständig ausgewählten Wappen(-bücher) aufzeigen konnten, was für sie interessant war und sie können gar in einem weiteren Ausbauschritt eigene Wappensammlungen einbringen. Voraussetzungen für Ansätze aus dem Bereich Co-Design waren damit schon eingeflossen. Nochmals mehr Einflussmöglichkeiten wurde den Freiwilligen in den darauffolgenden Projekten zugestanden: Durch das Einbringen eigener Erfahrungen während einer weltweiten Pandemie (bei coronamemory.ch) oder durch die Möglichkeit eine Karte dahingehend zu erweitern, dass aktuelle und historische Bilder und Perspektiven miteinander verknüpft werden (Schöpfkarte). Bei den beiden letzten Ansätzen stellt sich die Situation gar so dar, dass die Projekte nur sehr bedingt mit engen wissenschaftlichen Fragestellungen verknüpft sind, sondern durch den Einbezug der Freiwilligen (in einem Fall nur durch Studierende) erst mögliche Forschungsrichtungen realisiert wurden. 56 Nur schon an den in diesem Sammelband zusammengebrachten Ansätzen lässt sich dies nachvollziehen. Von hochspezialisierten bzw. regionalen Gruppen (René Smolarski: Philatelie, S. 105– 118; Barbara Aehnlich, Petra Kunze: Vom Zettel zum Datensatz mit bürgerwissenschaftlicher Forschung. Flurnamenforschung in Thüringen, S. 121–137) bis zu relativ zugänglichen Quellenkorpora, die für ein breites Publikum von Interesse sind.

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Aufgrund etwa der diversen Bilder, die auf corona-memory.ch hochgeladen wurden, machte sich das Projektteam Gedanken zu alternativen Darstellungen gegenüber der bisherigen Listenform. Die daraus entstandene Visualisierung, übernommen vom etablierten VIKUS Viewer, 57 erlaubte eine Darstellung, die nicht nur eine Timeline widerspiegelt, sondern auch das Clustering ähnlicher Bilder ermöglicht. Dadurch wurde etwa ein Blick auf die sich ständig wandelnde und durch den Bund (in der Schweiz) vorgegebene Signaletik ermöglicht.

Abb. 9: Screenshot des Corona-Memory.ch VIKUS Viewers. Cluster nach Bildähnlichkeiten, Quelle: https://vikus.dh.unibe.ch/.

Erst durch die Offenheit der Sammlung und die niederschwellige Möglichkeit etwas beizutragen, wurde letztendlich eine Forschungsmöglichkeit geschaffen, die potentiell offen ist und nachträgliche Richtungsänderungen erlaubt. Gerade im Zusammenspiel zwischen Crowd und Wissenschaft ist entsprechend die Möglichkeit zum aktiven Einbringen der Bürgerwissenschaftlerinnen und Bürgerwissenschaftler von höchstem Interesse. Auch wenn die Arbeit einer Crowd 57 Zum VIKUS Viewer der FH Potsdam siehe: https://vikusviewer.fh-potsdam.de/.

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vorwiegend Annotations- oder Sortieraufgaben umfasst, sollten (zumindest mittelfristig) aktive Möglichkeiten zur Forschungsmitbestimmung angedacht und eingeplant werden. Erst so wird Citizen Science und die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse über den Einbezug der Öffentlichkeit eine hohe Wirksamkeit erreichen und auch das gegenseitige Ansehen auf ein neues Fundament gestellt.

Abb. 10: Screenshot mit Fokus auf Signaletik der Bilder im Corona-Memory.ch VIKUS Viewer. Cluster nach Bildähnlichkeiten, Quelle: https://vikus.dh.unibe.ch/.

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Marina Lemaire / Yvonne Rommelfanger Berücksichtigung von Data-Literacy-Kompetenzen bei der Planung und Durchführung von Crowdsourcing-Projekten mit Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern

Einleitung Um an unserer heutigen digitalisierten Wirtschaft und Gesellschaft noch teilhaben zu können, sind digitale Kompetenzen unabdingbar. Nur somit kann gewährleistet werden, einen sicheren, aber auch kritischen Umgang mit den Informations- und Kommunikationstechnologien zu pflegen. Schließlich sind sämtliche Bereiche unseres alltäglichen Lebens, wie Arbeit, Bildung, Politik und Freizeit, von der Digitalisierung durchdrungen. 1 Dementsprechend befindet sich die Forschung ebenfalls im digitalen Um- und Aufbruch, die sie einerseits vor große Herausforderungen stellt, aber andererseits neben einer breiteren Wissenschaftskommunikation auch Möglichkeiten der direkten Partizipation eröffnet, und somit im Sinne von Open Science weitere Fenster und Türen in den wissenschaftlichen Elfenbeinturm einbaut. So kann die Öffentlichkeit nun leichter in die eine oder andere Phase eines Forschungsprojektes miteinbezogen werden, um sie als Citizen Scientists daran teilhaben zu lassen. 2 Hier gibt es unterschiedliche Beteiligungsstufen von Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern: Nach Rick Bonney u. a. wird in drei Typen von Citizen-Science-Projekten unterschieden: In der ersten Stufe – die contributer projects – wird das Forschungsdesign von den Forschenden vorgegeben und die Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler erzeugen lediglich die Daten. Bei der zweiten Stufe – die collaborative projects – wird das Forschungskonzept ebenfalls von 1 Vgl. Riina Vuorikari, Yves Punie, Stephanie Carretero, Lieve Van den Brande: DigComp 2.0: The digital competence framework for citizens. Update Phase 1: European Commission. Joint Research Centre JRC (Hrsg.): The Conceptual Reference Model, Luxemburg 2016, S. 5. https://data. europa.eu/doi/10.2791/520113. 2 Vgl. Lisa Pettibone u. a. (Hrsg.): Citizen Science für alle. Eine Handreichung für Citizen ScienceBeteiligte, Berlin 2016, S. 35, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:101:1-2016080322315.

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den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern entworfen und die Bevölkerung soll bei der Datenerhebung mitwirken, jedoch ist hier auch die Beteiligung an der Anpassung des Forschungsdesigns, der Datenanalyse und der Ergebnispräsentation vorgesehen. Auf der höchsten Stufe – die co-created projects – sind die Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler bereits in die Konzeptionsphase mit eingebunden und gestalten den kompletten Forschungsprozess mit. 3 Für den hiesigen Beitrag werden v. a. die Stufe eins und Stufe zwei des Beteiligungsgrades in die Überlegungen einbezogen. Denn wenn Bürgerinnen und Bürger an einem Stufe drei Projekt teilnehmen, so benötigen Sie dieselben DataLiteracy-Kompetenzen, wie die Forschenden, um tatsächlich auf Augenhöhe den Forschungsprozess mitgestalten zu können. Die allumfassende Digitalisierung des Alltags ist für Citizen-Science-Projekte nun Segen und Fluch zugleich: So sind die organisatorischen und technischen Partizipationshürden für Stufe eins und zwei Projekte durch das Internet und die bei Großteilen der Bevölkerung vorhandenen Endgeräte extrem niedrig geworden, jedoch erfordern diese neuen Technologien dennoch erweiterte Kompetenzen: Auf der Seite der Projektverantwortlichen müssen bedarfsgerechte ITInfrastrukturen und Workflows implementiert werden, um die digitalen Arbeitsprozesse abbilden zu können. Dafür benötigt die Projektleitung neben ihrem Fachwissen auch Daten-, Projekt- und Prozessmanagementkompetenzen sowie IT-Serviceinfrastrukturen, die die technische Umsetzung gewährleisten. Auf der Seite der Bürgerinnen und Bürger werden bis zu einem gewissen Grad digitale Fähigkeiten bis hin zu Datenkompetenzen benötigt, damit sie effektiv in den Forschungsprozess eingebundenen werden können. Leider (muss man schon fast sagen) hat die Digitalisierung die Bevölkerung in den letzten 30 Jahren anscheinend überholt. So gaben in einer Selbsteinschätzungsstudie 2021 des Bayerischen Forschungsinstituts für Digitale Transformation 4 nur 14 % der Befragten (älter als 14 Jahre) an, dass sie sich nie »im Umgang mit digitalen Geräten oder dem Internet allgemein überfordert« 5 fühlten. Aber immerhin sind es auch noch 15 %, die sich oft und sehr oft überfordert fühlen. 6 Dennoch: Im 3 Vgl. Rick Bonney u. a.: Public Participation in Scientific Research. Defining the Field and Assessing Its Potential for Informal Science Education. A CAISE Inquiry Group Report, Washington D.C. 2009, S. 11, https://eric.ed.gov/?id=ED519688 (letzter Zugriff: 21.07.2022). 4 Derzeitig kann der Test noch selbst unter folgender Adresse durchgeführt werden: https://www. sueddeutsche.de/projekte/artikel/digital/digitalbarometer-von-sz-und-bidt-e462219/#/start (letzter Zugriff: 17.01.2022). 5 Roland A. Stürz, Antonia Schlude, Hannes Putfarken, Christian Stumpf: Das bidt-SZ Digitalbarometer, hrsg. vom Bayerischen Forschungsinstitut für Digitale Transformation bidt, München 2022, S. 36. https://doi.org/10.35067/XYPQ-KN66. 6 Sechs Prozent der Teilnehmenden gaben an, sehr oft überfordert zu sein. Vgl. ebd. Im Vergleich mit den Ergebnissen einer OECD-Studie von 2013, bei der noch 11,6 % angaben »keinerlei Erfahrung mit Computern« zu haben bzw. festgestellt wurde, dass es »ihnen an grundlegendsten Computerkenntnissen« fehlt,

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Durchschnitt erreichten die Befragten nur 55 von 100 möglichen Punkten. 7 Die digitalen Kompetenzen setzen sich in der Studie zusammen aus den Bereichen Umgang mit Informationen und Daten, Kommunikation und Zusammenarbeit, Erzeugung von digitalen Inhalten, Sicherheit und Probleme lösen. 8 Dabei wurde das DigComp 2.0: the digital competence framework for citizens 9 verwendet. Im Bereich »Umgang mit Informationen und Daten«, in dem sich 80 % als mittel bis fortgeschritten einschätzten, wurden aber zum Beispiel nahezu keine substantiellen Data-Literacy-Skills abgefragt. Lediglich eine der zwölf Fragen in diesem Bereich geht in diese Richtung. 10 Alle anderen adressieren entweder Informationskompetenzen bzgl. der Bedienung von Suchmaschinen und der Bewertung von digitalen Inhalten oder allgemeine digitale Kompetenzen im Umgang mit Dateiverwaltungssystemen und Speichermedien. 11 Es wurden also eher basale digitale Kompetenzen erfragt, die im Alltag und nicht im hochdigitalisierten Berufsleben zum Einsatz kommen. Wenn jedoch von Data Literacy (DL), insbesondere im Forschungsbereich, die Rede ist, sind deutlich höhere Ansprüche an das Kompetenzprofil zu stellen: »Data Literacy ist das Cluster aller effizienten Verhaltensweisen und Einstellungen für die effektive Durchführung sämtlicher Prozessschritte zur Wertschöpfung beziehungsweise Entscheidungsfindung aus Daten.« 12 Dies betrifft also den gesamten Forschungsprozess, angefangen beim Forschungsdesign, über die Erhebung, Aufbereitung, Analyse von Daten, die Visualisierung und Verbalisierung von Analyseergebnissen sowie deren Interpretation bis hin zur datenbasierten Entscheidungsfindung. 13 All dies ist notwendig, um dem Anspruch der Forschung nach Objektivität, Vollständigkeit, Nachprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit unter digitalen Vorzeichen gerecht zu werden. Für all die dafür notwendigen Aktivitäten hat sich in der Wissenschaft der Begriff des Forhat sich der Anteil nahezu halbiert. Vgl. OECD: Ländernotiz. Erhebung über die Fähigkeiten und Fertigkeiten Erwachsener. Deutschland 2013, S. 3, http://www.oecd.org/skills/piaac/Country%20note%20%20Germany%20(DEU).pdf (letzter Zugriff: 17.01.2022). 7 Vgl. Stürz, Schlude, Putfarken, Stumpf: Das bidt-SZ Digitalbarometer, S. 41. 8 Vgl. ebd., S. 38. 9 Vgl. Ian Clifford, Stefano Kluzer, Sandra Troia, Mara Jakobsone, Uldis Zandbergs: DigCompSat. a self reflection tool for the European digital framework for citizens, hrsg. von European Commission. Joint Research Centre JRC, Luxemburg 2020, https://doi.org/10.2760/77437. Vuorikari, Punie, Carretero, Van den Brande: DigComp 2.0. 10 »Ich weiß, wie ich Daten mithilfe von Software verwalten und analysieren kann (z. B. Sortieren, Filtern, Berechnen).« Stürz, Schlude, Putfarken, Stumpf: Das bidt-SZ Digitalbarometer, S. 86. 11 Vgl. ebd. 12 Katharina Schüller, Paulina Busch, Carina Hindinger: Future Skills. Ein Framework für Data Literacy. Kompetenzrahmen und Forschungsbericht, hrsg. von Geschäftsstelle Hochschulforum Digitalisierung beim Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V., Berlin 2019, S. 26, https://doi.org/10.5281/zenodo.3349864. 13 Vgl. Schüller, Busch, Hindinger: Future Skills.

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schungsdatenmanagements durchgesetzt. An sich haben sich die Qualitätsanforderungen an die Forschungsergebnisse nicht verändert. Allerdings hat die Digitalisierung völlig neue Rahmenbedingungen geschaffen, die weitere Anforderungen an die Forschungsmaterialien, Untersuchungsgegenstände, Methoden und Ergebnisse stellen. Daher ist ein professionelles Datenmanagement erforderlich. Dies verlangt wiederum von den Forschenden und allen anderen Beteiligten ein erweitertes Kompetenzprofil v. a. im Bereich der Data Literacy, wie es von Katharina Schüller u. a. 14 beschrieben ist. 15 Leider gibt es zum aktuellen Stand der DL noch keine aussagekräftigen Studien. 16 Es besteht aber der Eindruck aus der Alltagserfahrung, 17 der durch die recht schlechten Ergebnisse der oben bereits genannten DL-Studie unterstützt wird, dass es um die Datenkompetenzen nicht gut bestellt ist. 18 Somit kann der Schluss gezogen werden, dass Citizen-Science-Projekte (CS-Projekte) nun nicht mehr nur die Vermittlung von Scientific Literacy zum Ziel haben, 19 sondern 14 Ebd. 15 Siehe dazu FDM-Kompetenzmatrix des DIAMANT-Modells. Vgl. Marina Lemaire, Lea Gerhards, Stefan Kellendonk, Katarina Blask, André Förster: Das DIAMANT-Modell 2.0. Modellierung des FDM-Referenzprozesses und Empfehlungen für die Implementierung einer institutionellen FDM-Servicelandschaft, Trier 2020, S. 30–40, https://doi.org/10.25353/ubtr-xxxxf5d2-fffb. 16 Ein Projekt wurde im Sommer 2021 für fünf Jahre vom BMBF bewilligt. Vgl. Cornelia Schoor, Leibniz-Institut für Bildungsverläufe LIfBi: Data Literacy. Digitale und datenbezogene Komptenzen in Deutschland (BMBF-Projekt) (August 2021), https://www.lifbi.de/Institut/Organisation/Abteilung-Kompetenzen-Pers%C3%B6nlichkeit-Lernumwelten/Data-Literacy (letzter Zugriff: 17.01.2022). 17 Damit sind zum Beispiel in der Bevölkerung immer wieder wahrnehmbare Defizite im Umgang und Verständnis mit Statistiken gemeint, was sich sehr stark in den letzten zwei Jahren der Corona-Pandemie immer wieder zeigte. Aber auch in unserer alltäglichen Beratungspraxis von Projekten im Forschungsdatenmanagement fallen immer wieder Digital und Data-LiteracyKompetenzlücken auf. 18 Dieser Eindruck wird verstärkt durch die vielfältigen Stellungnahmen und Aktivitäten zur Förderung von Data Literacy in allen Bildungsbereichen, die nicht nur auf Landes- sondern auch auf EU-Ebene mit politisch entsprechenden Programmen vorangetrieben werden. Vgl. z. B. Europäische Kommission EU: Digital Skills Assessment Tool, https://europa.eu/europass/digitalskills/screen/home?route=%2Fen&lang=de (letzter Zugriff: 22.02.2022). European Commission. Joint Research Centre JRC: DigComp. Being digitally competent – a task for the 21st-century citizen, https://joint-research-centre.ec.europa.eu/digcomp_en (letzter Zugriff: 22.02.2022). European Commmission’s Erasmus+ Program Erasmus+: Data Literate. Digital Data Literacy for Education. Data Literate, https://www.dataliterateproject.eu/ (letzter Zugriff: 22.02.2022). Bildung. Wissenschaft. Innovation Stifterverband: Data Literacy Education (16. März 2018). Stifterverband, https://www.stifterverband.org/data-literacy-education (letzter Zugriff: 22.02.2022). 19 Vgl. Richard Edwards u. a.: Learning and developing science capital through citizen science, in: Aletta Bonn, Zen Makuch, Johannes Vogel, Anne Bowser, Muki Haklay, Susanne Hecker (Hrsg.): Citizen Science. Innovation in Open Science, Society and Policy, London 2018, S. 381–390, https://doi.org/10.14324/111.9781787352339. René Smolarski, Kristin Oswald: Einführung. Citizen Science in Kultur und Geisteswissenschaften, in: Kristin Oswald, René Smolarski (Hrsg.):

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auch die DL in den Fokus nehmen sollten, denn DL ist heutzutage ein Kernbestandteil der Scientific Literacy. Dies stellt CS-Projekte vor besondere Herausforderungen, u. a. auch, weil an solchen Projekten eher ältere Personen 20 teilnehmen, die in den vorhandenen Studien meist noch schlechter abschneiden. 21 Dementsprechend müssen die Projektverantwortlichen besonderes Augenmerk auf das notwendige Kompetenzprofil legen und die vorhandenen Wissensbestände bei den Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern in ihre Projektplanungen miteinbeziehen, sowohl was die Arbeitsabläufe, das Design der bereitgestellten Werkzeuge als auch die Qualitätssicherungsmaßnahmen betrifft. In CS-Projekten ist den Verantwortlichen die Sorge um die Datenqualität bereits sehr bewusst. 22 Bekannt ist mittlerweile auch, dass sich die meisten Laien in erster Linie für das Thema des Projektes interessieren und sich dafür engagieren wollen. Nachrangig ist für sie hingegen, sich neue Fähigkeiten und Kenntnisse anzueignen. Deshalb kann es Aufgabe des CS-Projektes sein, ihnen die notwendigen Fähigkeiten zunächst erstmal vermitteln zu müssen. 23 Hier stellt sich die Frage, welche der DL-Anforderungen Bürgerinnen und Bürger realistisch erfüllen können und was in den Händen der Projektleitung liegt und durch ein gut durchdachtes Projektdesign in Abhängigkeit von den beiden oben genannten Beteiligungsstufen (contributor & collaborative), die in den Überlegungen betrachtet werden, abgefangen werden muss. Um sich der Beantwortung dieser Frage zu nähern, bewertet dieser Beitrag anhand des DataLiteracy-Frameworks von Schüller u. a. – aus der Perspektive von zwei ITProjektkoordinatorinnen für geisteswissenschaftliche Forschungsprojekte mit mehr als 15 Jahren Erfahrung in der Planung und Durchführung solcher Vorhaben 24 – welche Kompetenzen definitiv bei den Projektverantwortlichen zu verorten sind und welche von den Bürgerinnen und Bürgern erwartet bzw. vermittelt werden könnten und sollten. Obwohl das Framework von Schüller u. a. sehr stark auf quantitative Methoden ausgerichtet ist und in den Geisteswissenschaften die qualitativen Methoden überwiegen, ist die Übertragung auf qualitative Forschungsprozesse und -methoden gut möglich, weil der Referenzrahmen zu großen Teilen auf der konzeptionellen Ebene bleibt. Bürger Künste Wissenschaft. Citizen Science in Kultur und Geisteswissenschaften, Gutenberg 2016, S. 9–27, hier S. 11. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:101:1-201611164018. 20 Vgl. Claudia Göbel, Justus Henke, Sylvi Mauermeister, Verena Plümpe: Citizen Science jenseits von MINT. Bürgerforschung in den Geistes- und Sozialwissenschaften, Lutherstadt Wittenberg 2020, S. 52, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:3:2-122300. Edwards, Kirn, Hillman, Kloetzer, Mathieson, McDonnell, Phillips: Learning and developing, S. 385. 21 Vgl. Stürz, Schlude, Putfarken, Stumpf: Das bidt-SZ Digitalbarometer, S. 36, 41, 43, 44. 22 Vgl. Edwards, Kirn, Hillman, Kloetzer, Mathieson, McDonnell, Phillips: Learning and developing, S. 196–197. 23 Vgl. ebd., S. 386. 24 Vgl. https://www.esciences.uni-trier.de, https://www.fud.uni-trier.de (letzter Zugriff: 22.07.2022).

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Analyse des Data-Literacy-Frameworks von Schüller u. a. 25 Das hier als Referenzrahmen verwendete Data-Literacy-Framework (nachfolgend DL-Framework) von Schüller u. a. ist weitgehend für den professionellen Einsatz in Bildungseinrichtungen, Verwaltung und Wirtschaft entwickelt worden. Hier stehen die Kompetenzen im Fokus, die sowohl für die Datenproduktion als auch für die Datenanwendung im Bereich Politik, Bildung, Verwaltung und Wirtschaft notwendig sind. Es bildet ebenfalls, wenn vielleicht auch eher auf einem niedrigeren Niveau, die DL-Kompetenzen ab, die für die Breite der Bevölkerung relevant sind. 26 Das DL-Framework orientiert sich an den Prozessschritten der Datengenerierung und -verarbeitung: »(A) Datenkultur etablieren – (B) Daten bereitstellen – (C) Daten auswerten – (D) Ergebnisse interpretieren – (E) Daten interpretieren – (F) Handeln ableiten« 27. Jedes dieser Kompetenzfelder wird weiter unterteilt in sog. Kompetenzdimensionen und ist jeweils mit einer Nennung der dafür notwendigen Kompetenzen näher beschrieben. In den zugehörigen Kompetenzdimensionen Wissen, Fähigkeiten und Haltung werden Beispiele genannt, die die benannten Kompetenzen plastischer erläutern. Am Ende einer jeden Kompetenzbeschreibung werden drei Kompetenz-niveaus (Basis, Fortgeschritten, Expertentum) formuliert. Die dortigen Spezifikationen sollen in Folgestudien weiterentwickelt werden, um daraus konkrete Lernziele ableiten zu können. 28 Im Nachfolgenden wird das DL-Framework entlang der Prozessschritte dahingehend erläutert und analysiert, welche Kompetenzdimensionen für Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in den verschiedenen Kompetenzfeldern relevant sein könnten. Es wird versucht einzuschätzen, welches Wissen und welche Fähigkeiten und Haltungen bereits vorhanden sein sollten oder ob sie im Verlauf des Projektes erworben werden könnten oder gar müssten. Kompetenzfeld A: Datenkultur etablieren – Vom System zu messbaren Objekten 29

An sich ist dieser Prozessschritt eigentlich rein den Forschenden vorbehalten, die das Projekt entwickeln und planen. Insbesondere die Kompetenz »Datenanwendung koordinieren« ist ausschließlich dem wissenschaftlichen Projektteam zuzuordnen. Dennoch sind einige der Dimensionen der Kompetenzen »Daten25 Vgl. Schüller, Busch, Hindinger: Future Skills, S. 90–108. 26 Vgl. ebd., S. 33. 27 Ebd. 28 Vgl. ebd., S. 33–34. 29 Vgl. ebd., S. 90–91.

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anwendung identifizieren und spezifizieren« für die beteiligten Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler dahingehend relevant, als sie diese während eines Projektes mit Anleitung durch die Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler erwerben bzw. in gewisser Hinsicht bereits mitbringen sollten, um so zum Gelingen beitragen zu können: So sollten sie über die Grundhaltung verfügen, wissenschaftliche Fragestellungen unter Einbeziehung von Daten und digitalen Methoden bearbeiten und Wissen mit anderen teilen zu wollen. Sehr wahrscheinlich ist diese Grundhaltung bereits vorhanden, weil sie sich schließlich freiwillig in einem CS-Projekt engagieren. Im Projektverlauf – ggf. mit Unterstützung der Projektverantwortlichen – sollten sie dann die Fähigkeit erwerben, Informationen in Bezug auf den Forschungsgegenstand in relevante und irrelevante zu unterscheiden sowie sich die Kenntnisse über die spezifischen Arbeitsabläufe, die beteiligten Akteurinnen und Akteuren sowie die Kausalzusammenhänge von Daten und Methoden anzueignen. Denn nur durch dieses Wissen im Hinblick auf den konkreten Forschungsgegenstand und ihren Arbeitsauftrag wird sichergestellt, dass die Ergebnisse einem definierten Qualitätsanspruch entsprechen. Es sollte also im Interesse der Projektleitung liegen, diese DLKompetenzen im Rahmen eines definierten, anwendungsbezogenen Kontext zu vermitteln. Des Weiteren ist es denkbar, dass die Beteiligten einerseits die Bereitschaft entwickeln, bestehende Regeln und Prozesse kritisch zu hinterfragen und andererseits ihre eigene Unkenntnis offen mitzuteilen, wenn die Rahmenbedingungen dafür Raum und Sicherheit bieten. Das ist an sich für alle Projektbeteiligten wünschenswert, weil es zur Sicherstellung der definierten Datenqualität beiträgt, wenn Probleme offen angesprochen werden können. Da CS-Projekte sich oftmals auch zum Ziel setzen, die Scientific Literacy bei den Teilnehmenden zu erhöhen, 30 könnte ein solches Projekt ebenfalls dazu beitragen, dass Datenanalysen mehr Verständnis entgegengebracht wird, auch wenn die dahinterstehenden Methodiken nicht in Gänze nachvollzogen werden können. Hierbei hilft die Präsentation von Projektergebnissen für die allgemeine Öffentlichkeit, die die Datenanalysen in einem verständlichen Rahmen erklären, aber auch die Grenzen dieser aufzeigen. Der letzte Punkt ist ebenso wichtig, da auch erkannt werden muss, welchen Limitierungen die Aussagekraft der Analyseergebnisse unterworfen sind, um hieraus nicht die falschen Schlüsse zu ziehen. 31 Es ist gut vorstellbar, dass Bürgerinnen und Bürger solche womöglich unbefriedigenden Resultate eher akzeptieren, wenn die Forschenden ihnen diese Grenzen der Plausibilität oder Evidenz offen kommunizieren. 30 Vgl. Edwards, Kirn, Hillman, Kloetzer, Mathieson, McDonnell, Phillips: Learning and developing, S. 382–383. 31 Vgl. v. a. die Erläuterungen zu den Kompetenzfeldern D–F ab S. 11.

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Kompetenzfeld B: Daten bereitstellen – Von messbaren Objekten zu Daten 32

Das Kompetenzfeld B wird in drei Bereiche unterteilt. Im ersten Abschnitt B.1 geht es um die Modellierung der Erfassungssysteme (B.1.1) unter Berücksichtigung von Datenschutz- und -sicherheitsaspekten (B.1.2). Der zweite Abschnitt wendet sich der Identifizierung und Beurteilung von Datenquellen (B.2.1) und der Über- bzw. Aufnahme von Daten in das Erfassungssystem (B.2.2) zu. Im dritten Abschnitt wird die Verifizierung der erhobenen Daten (B.3.1) und deren Aufbereitung (B.3.2) adressiert. Weil die meisten CS-Projekte die Bürgerinnen und Bürger insbesondere in diese Phase mit einbeziehen, 33 ist hier ein besonderes Augenmerk darauf gefragt, welche DL-Kompetenzen von den beteiligten Laien benötigt bzw. erworben werden müssen. Schließlich ist die Datenerhebung der erste entscheidende Punkt in der Forschung, von dem abhängt, ob die Ergebnisse valide sein können oder nicht. Modellierung des Erfassungssystems mit Rücksicht auf Datenschutz und -sicherheit 34

Selbstverständlich liegt die Modellierung und Implementierung des Datenerfassungssystems bei den Projektverantwortlichen. Hier sind dennoch Wissensstände bei den Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern gefragt, die ihnen im konkreten Projektzusammenhang vermittelt werden sollten. Zum Beispiel, welcher Zusammenhang zwischen der originalen Quelle und der digitalen Repräsentation besteht (z. B. volle Transkription, Abstract etc.), welche Verzerrungen bei der Datenerhebung möglich sind (z. B. Standardisierungen/Übersetzungen) oder dass sogar, in Abhängigkeit von der eingenommenen Sichtweise, eine andere Datenstruktur und -perspektive bei der Aufnahme erforderlich ist (z. B. Opfer-/Täterperspektive bei europaweiten CS-Projekten zum Holocaust). Je nach Projekt ist dieses Wissen und die Folgen bei deren Nichtberücksichtigung bei den Datengenerierenden zwingend erforderlich, um valide Daten für die Forschungsfrage zu produzieren. Um sich dieses Wissen und die daraus folgende Einsicht anzueignen, müssen die Bürgerinnen und Bürger bis zu einem gewissen Grad bereit sein, ggf. Fachtermini aus den verwendeten Disziplinen zu erlernen und sicher anzuwenden. 35 Um hier die Laien nicht zu überfordern, liegt es bei der Projektleitung, das Erhebungsdesign für die Teilnehmenden so zu 32 Vgl. Schüller, Busch, Hindinger: Future Skills, S. 92. 33 Vgl. Aletta Bonn u. a.: Weißbuch. Citizen Science-Strategie 2030 für Deutschland. Entwurf zur öffentlichen Konsultation (Version 5.8.2021), Leipzig/Berlin 2021, S. 58, https://doi.org/10.31235/osf.io/ew4uk. 34 Vgl. Schüller, Busch, Hindinger: Future Skills, S. 93. 35 Vgl. ebd., S. 92.

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gestalten, dass die Aufgabe für sie zu bewältigen ist. Hierbei könnte beispielsweise ein Glossar der wichtigsten Fachbegriffe helfen, das den Beteiligten über Handreichungen oder Webseiten bereitgestellt wird. Diese könnte auch erweiterbar angelegt werden, sodass Begriffe, die sich im Laufe des Projekts als missverständlich herausstellen, ergänzt und definiert werden können. Mit Hilfe solcher Listen wird die Akzeptanz erhöht, Begrifflichkeiten und deren fachwissenschaftliche Definitionsgrenzen zu akzeptieren und zu verinnerlichen. Im Projektdesign den Datenschutz und die Datensicherheit zu gewährleisten, liegt einzig in der Verantwortung der Projektleitung. Diese Materie kann sehr komplex werden und das Forschungsdesign entsprechend beeinflussen. Daher obliegt die Beurteilung der rechtlichen Rahmenbedingungen sowie deren Einhaltung bei der Datenverarbeitung selbstverständlich allein den Projektverantwortlichen. Daher ist in diesem Abschnitt von den Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern lediglich die Bereitschaft gefordert, sich an datenschutzrechtliche Vorgaben und Datensicherheitsmaßnahmen zu halten und die ethischen Grundsätze zu respektieren. Dies trägt zu einer Haltung bei, informationelle Selbstbestimmung, Datenschutz und Datensicherheit als schützenswerte Güter zu betrachten. Hier kann ein CS-Projekt durchaus dazu beitragen, für diese Haltungen zu sensibilisieren, weil dies an einem konkreten Gegenstand gezeigt werden kann, deren Bedeutung für die Bürgerinnen und Bürger offensichtlich wird. Des Weiteren muss die Projektleitung ebenfalls den Datenschutz ihrer Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler selbst mit im Blick haben, denn je nach Verarbeitungsschritt und der dafür eingesetzten Technologien könnten personenbezogene Daten erhoben und verarbeitet werden. 36 Wenn dies der Fall ist, müssen die Laien darüber in Kenntnis gesetzt werden. Auch wenn das DL-Framework nur auf den Datenschutz abhebt, so muss dies gerade im Bereich der Geistes- und Kulturwissenschaften ebenso für alle anderen rechtlichen Belange wie z. B. Urheber- und Bildrechte gelten. Sind besondere Maßnahmen zur Wahrung der Rechte Dritter erforderlich, sollten diese den Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern kommuniziert werden. Auf diese Weise erwerben sie nicht nur entsprechende Kenntnisse und werden dafür sensibilisiert, sondern bekommen auch Handlungsoptionen präsentiert, die sie ggf. in ihrem privaten Umgang mit digitalen Daten und Informationen anwenden können.

36 Vgl. Pettibone, Vohland, Bonn, Richter, Bauhus, Behrisch, Borcherding, Brandt, Bry, Dörler, Elbertse, Glöckler, Göbel, Hecker, Heigl, Herdick, Kiefer, Kluttig, u. a.: Citizen Science für alle, S. 35.

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Identifikation von Datenquellen und Integration von Datenbeständen 37

An sich gehört die Auswahl der Datenquellen zum Forschungsdesign und ist somit Aufgabe der Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler. In Abhängigkeit vom Arbeitsprozess kann es jedoch sein, dass die Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler bestimmte Wissenskomponenten mitbringen bzw. erwerben müssen, in Bezug auf mögliche Datenquellen, die Funktionsweise von Suchmaschinen und auch über das Vorgehen zur Feststellung der Datenqualität. Hier sollten die Projektverantwortlichen in Bezug auf den Forschungsgegenstand den Teilnehmenden die in diesem Kontext relevanten Auswahlkriterien an die Hand geben, sodass sie valide Entscheidungen bei der Datenerhebung treffen können. Sollten die Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler mit Suchmaschinen und Datenbanken arbeiten, so benötigen sie die Fähigkeit, sinnvolle Suchabfragen zu stellen. Da diese Kompetenz noch nicht so weit in der Bevölkerung verbreitet ist, 38 sollte auch dies vermittelt werden. Gerade, wenn Entscheidungen getroffen werden sollen, ob eine Information aufgenommen wird oder nicht, ist es wichtig, die Kriterien zur Aufnahme klar und eindeutig zu vermittelt. Auch muss eine skeptische Grundhaltung bzgl. der Datenqualität geschult werden. Es sollte transparent sein, wie Entscheidungen getroffen und kommuniziert werden. Ggf. muss ein Eskalationsprozess implementiert sein. Wichtig wäre es, den Teilnehmenden eine entsprechende Anleitung bereitzustellen und Wege aufzuzeigen, wie sie Zweifelsfälle/Unsicherheiten kommunizieren können. Die Instrumente für die Integration der Daten in ein gemeinsames System sollten – insbesondere bei Contributor Projekten, die eine große Beteiligung erreichen wollen – so gestaltet sein, dass die Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler keine tieferen, v. a. technischen Kenntnisse benötigen und auch disziplinspezifische Standards nicht zwingend beherrschen müssen. Dennoch sollten sie zu einem gewissen Grad Kenntnisse über das Datenmodell oder die Datenmodelle und deren Metadatenbeschreibung erlangen, damit sie die Notwendigkeit ihrer Erfassung verstehen. Der Erhebungsprozess selbst sollte so einfach gestaltet sein, sodass möglichst wenig Fehler gemacht werden können. Ebenso müssen sie das Wissen erwerben, die Daten nach den vom Projekt festgelegten Methodiken zu erfassen (z. B. Transkriptionsrichtlinien in Editionsprojekten). Die genaue Vorgehensweise bei der Datenerhebung muss von der Projektleitung vorgegeben werden. In der Dimension der Haltung ist aufgrund des freiwilligen Engagements davon auszugehen, dass die Grundhaltung zu Datenfairness genauso grundlegend 37 Vgl. Schüller, Busch, Hindinger: Future Skills, S. 94–95. 38 Vgl. Stürz, Schlude, Putfarken, Stumpf: Das bidt-SZ Digitalbarometer, S. 86 (Frage 2 und 3).

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vorhanden ist wie die Bereitschaft, kollaborativ an einem Datenkorpus zu arbeiten und die gewonnen Ergebnisse anderen zur Verfügung zu stellen. Dass bei der Datenbeschaffung oft subjektive Entscheidungen fallen, sollte in Abhängigkeit von Forschungsgegenstand und -methode durch die Verantwortlichen vermittelt werden. In diesem Zusammenhang sollte ebenfalls vorgelebt werden, solche Entscheidungen transparent zu kommunizieren und in der Datendokumentation festzuhalten. Dies ist ein wichtiger Aspekt mit Blick auf die Datenqualität und muss unbedingt bei der Projektplanung und -durchführung berücksichtigt werden. Verifikation und Aufbereitung von Daten 39

In den hier in erster Linie betrachteten CS-Projekten der Stufe eins und zwei sollte die Datenverifikation und deren Aufbereitung in den Händen der Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler liegen. Schließlich geht es um die Einschätzung der Repräsentativität, der Vollständigkeit und Korrektheit der Daten. Zudem muss eine solche Prüfung auch systematisch dokumentiert werden. Dies ist durch Laien, die in den meisten Fällen weder den kompletten Einblick in das Forschungsdesign und die fachspezifischen Methoden haben noch über die dafür notwendigen DL-Kompetenzen verfügen, nicht adäquat zu leisten. Auch bei der Aufbereitung der Daten ist ein umfangreiches Fach- und Methodenwissen erforderlich, um Daten zu bereinigen, zu standardisieren, Fehler zu korrigieren usw. Auch dies muss umfangreich dokumentiert werden, um die Nachvollziehbarkeit und ggf. die Reproduzierbarkeit sicher zu stellen. Wünschenswert im Sinne der Verbesserung der DL wäre es, den Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern beispielsweise im Nachgang zu einem Prozessschritt zu zeigen/erläutern, welche weiteren Bearbeitungsschritte in dieser Phase mit den Daten erfolgt sind und warum. Je transparenter gemacht wird, nach welchen Kriterien Qualitätsprobleme sowie deren Ursachen identifiziert und mit welchen Methoden sie gelöst wurden und dass es dabei durchaus zu Informationsverlusten gekommen ist, desto mehr wird auf diese Weise bei den Laien das Bewusstsein geschärft, dass in der Wissenschaft die Objektivität ein hohes Gut ist. Zudem wird so aufgezeigt, wo die Grenzen der Auswertung der erhobenen Daten liegen. Des Weiteren wird so sichtbarer, wie arbeitsintensiv, aber eben auch notwendig, diese Schritte sind, um die Datenqualität und damit ihre Aussagekraft zu erhöhen. Dies könnte gleichzeitig zu einem tieferen Verständnis dafür führen, weshalb insbesondere so aufwendig gewonnene Daten

39 Vgl. Schüller, Busch, Hindinger: Future Skills, S. 96–97.

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einen hohen Wert haben und mit anderen geteilt werden sollten, um für die Erhebung derselben Daten diesen Aufwand nicht noch einmal leisten zu müssen. Kompetenzfeld C: Daten auswerten – Von Daten zu Datenprodukten 40

Die Auswertung der Daten setzt sich zusammen aus der Datenanalyse, der Visualisierung und Verbalisierung der Analyseergebnisse. Hierfür ist eine kompetente Anwendung der Analysemethoden, vertiefte Kenntnisse über die Wirkungsweise von verschiedenen Darstellungsformen sowie das Wissen um die adressatengerechte Formulierung der Analyseergebnisse notwendig. Das sind Kompetenzen, die während eines mehrjährigen Studiums von Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern erworben werden. Inwieweit also in dieser Prozessphase Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler wirklich aktiv eingebunden werden können, ist fraglich und muss sehr genau mit einer Risikoanalyse und entsprechenden Maßnahmen überlegt werden. Wenn Laien in diese Phase eingebunden werden, sollte ihnen mit engem Bezug auf den Forschungsgegenstand das Wissen vermittelt werden, dass während der Datenanalyse Informationen verloren gehen können. Ebenso dass nach bestimmten Kriterien eine Daten- und Methodenauswahl getroffen wird, die dazu führen kann, dass bewusst auf ausgewählte Informationen verzichtet wird. Dabei erwerben sie im besten Fall Kenntnisse darüber, wie im Analyseprozess zwischen relevanten und irrelevanten Informationen getrennt wird. Hierbei müssen sie die Bereitschaft mitbringen, die vermittelten Analysestandards einzuhalten, mit einer zwar objektiven, aber auch »skeptischen Grundhaltung« 41 zu arbeiten, um Ergebnisse kritisch zu hinterfragen, aber auch jene zu akzeptieren, die ggf. nicht den Erwartungen entsprechen. Je nach Aufgabenstellung kann es sein, dass den Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern eine gewisse Präzision abverlangt werden muss, bei der sie innere Widerstände überwinden müssen, weil z. B. die Arbeit recht eintönig und langweilig erscheint. In solchen Situationen ist es wichtig, dass die Notwendigkeit dieses Arbeitsschrittes verständlich gemacht wird und die negativen Auswirkungen auf den weiteren Forschungsprozess verdeutlicht werden, wenn diese Arbeiten nicht sorgfältig genug durchgeführt werden. Solche Überlegungen könnten Argumente dafür sein, diesen Arbeitsschritt nicht den Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern zu überlassen. Die Visualisierung und Verbalisierung der Analyseergebnisse sind eher Prozessschritte, deren Ergebnisse den zuvor beteiligten Bürgerwissenschaftlerinnen 40 Vgl. ebd., S. 98–100. 41 Ebd., S. 98.

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und -wissenschaftlern präsentiert und erläutert werden, wodurch sie Kenntnisse darüber gewinnen, dass die Darstellung derselben Ergebnisse in unterschiedlichen Diagrammtypen eine andere Wirkung erzielen und demzufolge auch andere Schlussfolgerungen gezogen werden können. So werden sie dafür sensibilisiert, dass an diesem Punkt die Objektivität besonders berücksichtigt werden muss, um die Rezipientinnen und Rezipienten nicht zu manipulieren. Ähnliches gilt für die Formulierung der Analyseergebnisse, denn auch hier kommt es auf adressatengerechte, dennoch objektive Verbalisierungen an, weil auch kleine Nuancen bei der Formulierung der Ergebnisse eine Rolle spielen können. Gerade diese Kompetenzen könnten im Alltag helfen, verzerrte Datendarstellungen durch Laien leichter entlarvbar zu machen. Kompetenzfeld D: Datenprodukte interpretieren – Von Datenprodukten zu Daten 42

Das Kompetenzfeld »Datenprodukte interpretieren« fällt eigentlich aus dem bis hierhin verfolgten Arbeitsablauf ein wenig heraus, denn an sich geht es an dieser Stelle um das Szenario der Nachnutzung von bereits erhobenen Daten aus anderen Kontexten, deren Datenprodukte der Öffentlichkeit oder dem Fachpublikum zur Nachnutzung zur Verfügung gestellt werden. Deshalb adressiert dieser Kompetenzbereich die Fähigkeiten, verbalisierte und visualisierte Datenprodukte wie z. B. Texte zur Interpretation statistischer Ergebnisse oder Diagramme zu verstehen, zu interpretieren und kritisch zu prüfen. Dies sind im weitesten Sinne die bereits im Kompetenzfeld C herausgearbeiteten Kompetenzen, die den Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern durch das Projektteam vermittelt werden könnten, um kompetenter, aber v. a. kritischer mit solchen Datenprodukten umzugehen und daraus gezogene Schlussfolgerungen zu überprüfen. Kompetenzfeld E: Daten interpretieren – Von Daten zu messbaren Objekten 43

Auch das Kompetenzfeld E bezieht sich auf Fähigkeiten, bereits vorhandene Daten bewerten zu können. Dies umfasst das Erkennen, welche statistischen Methoden verwendet wurden, um begründete Vermutungen zur Datengrundlage zu formulieren und Fehlinterpretationen zu detektieren. Damit einher geht die kritische Auseinandersetzung mit der Datenquelle sowie dem Entstehungs42 Vgl. ebd., S. 102–104. 43 Vgl. ebd., S. 105–106.

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kontext der Daten, um bewerten zu können, inwiefern der Datensatz vertrauenswürdig ist. Dies sind gängige Fragen der Quellenkritik, die in ihrer Gänze und möglichen Komplexität durchaus ein vertieftes Fachwissen erfordern können. Deshalb geht auch hier die Einschätzung eher hin zu einer Vermittlung dieser Kompetenzen, um Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler anhand eines konkreten Beispiels einerseits zu sensibilisieren und sie andererseits dabei zu unterstützen, die Fähigkeiten zu erwerben, kompetent mit Daten umzugehen sowie kritische Fragen zu den Datenquellen, deren Beschaffung und Verwendung zu stellen. Auf diese Weise können sie Mängel sowohl in der Datenauswertung als auch der daraus resultierenden Informationsvermittlung identifizieren. Somit erwerben sie eine kritische Grundhaltung gegenüber scheinbar offensichtlichen Schlussfolgerungen, insbesondere gegenüber den impliziten. So wird Verständnis dafür geschaffen, »dass Daten nicht alle Schlussfolgerungen erlauben, sondern dass auch Daten nicht alle Aussagen treffen können« 44. Kompetenzfeld F: Handeln ableiten – Von messbaren Objekten zum System 45

Die Kompetenz aus Daten Handlungsoptionen abzuleiten und zu bewerten sowie deren Wirksamkeit datenbasiert zu ermitteln, erfordert ein hohes Maß an »theoretischem und praktischem Wissen« 46, um möglichst alle Handlungsoptionen und deren Konsequenzen durchdenken zu können. Daher hängt es stark vom Themenfeld des CS-Projektes ab, inwiefern hier die Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler mit ihrem Weltwissen eingebunden werden können. Sollte es sich um ein Themengebiet handeln, für das die Beteiligten genügend (möglicherweise Erfahrungs-)Wissen über die verschiedenen Handlungsoptionen und deren Wirksamkeit mitbringen, so müsste wahrscheinlich dennoch vermittelt werden, wie in diesem konkreten Anwendungskontext die gesammelten Daten und deren Analyseergebnisse die Entscheidungsfindung unterstützen. Es werden zudem die Fähigkeiten benötigt, einzuschätzen, ob die identifizierten Handlungsmöglichkeiten sinnvoll sind. Dabei müssen wieder relevante von irrelevanten Informationen über diese Optionen getrennt werden. Ebenso sollten mögliche Nebenwirkungen von identifizierten Lösungen erkannt werden, wobei deren Wirkung auf die wesentlichen Faktoren eingeschätzt und eine Ablenkung durch unwichtige Faktoren vermieden werden sollte. Inwiefern diese doch recht komplexen Kompetenzanforderungen vermittelt werden können, muss individuell 44 Ebd., S. 106. 45 Vgl. ebd., S. 107–108. 46 Ebd., S. 108.

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durch die Projektverantwortlichen abgewogen und mit angemessenen Qualitätssicherungsmaßnahmen abgesichert werden. Was die konkrete Durchführung der Analysen und die korrekte Ergebnisformulierung/-verbalisierung betrifft, so sollte dies i. d. R. den Expertinnen und Experten überlassen bleiben. Wenn eine solche enge Einbindung der Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in dieser Phase nicht möglich ist, so wäre es wünschenswert, ihnen dennoch die Analyseschritte und Überlegungen zu erläutern, die in dieser Phase stattfanden, um so die Akzeptanz für unbequeme oder unerwartete Ergebnisse und daraus abgeleitete Handlungsoptionen zu erhöhen. Auf diese Weise wird nicht nur der »Wille, aus Daten zu lernen« 47 positiv bei den Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern beeinflusst, sondern durch ein besseres Verständnis ggf. die Bereitschaft geweckt, das eigene Handeln in Frage zu stellen und dieses eventuell zu verändern. Fazit der Framework-Analyse

Die vorhergehende Analyse zeigte, dass in einem CS-Projekt recht viele DLKompetenzen von Seiten der Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler gebraucht bzw. währenddessen auf einem niedrigen Niveau vermittelt werden können, weil sie nicht direkt vertieftes disziplinäres Fachwissen, Fähigkeiten und Haltungen erfordern, sondern auch im Alltag durchaus bereits angewendet werden oder nach dem Erwerb im Alltag weiter eingesetzt werden können. Insbesondere in den Dimensionen Wissen und Fähigkeiten sind die geforderten Kompetenzen vom Forschungsgegenstand sowie den verwendeten Methoden und Daten sehr stark voneinander abhängig und liegen somit zu großen Teilen im Kompetenzbereich der Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler. Dennoch wurden einige Kompetenzen identifiziert, die in Abhängigkeit vom Vorwissen der beteiligten Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler noch vermittelt werden müssen. Die Dimension Haltung adressiert viele Aspekte, die auf eine offene und transparente Wissenschaftskultur abzielen, wissenschaftliche Präzision, Objektivität und Evidenz einfordern sowie Sensibilität und Respekt für rechtliche Fragen verlangen. Da diese Dinge zu großen Teilen auch Bestandteil der guten wissenschaftlichen Praxis sind, tragen sie ebenfalls zur Stärkung der Scientific Literacy bei. Als Beispiel für ein anscheinend gut durchdachtes und umgesetztes CSProjektdesign wird nachfolgend das Projekt Every Name Counts dargestellt.

47 Ebd.

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Praxisbeispiel Every Name Counts 48

Im Folgenden wird das Projektdesign von Every Name Counts aus der Perspektive der Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler erläutert und bewertet. Leider gibt es keine öffentlichen Informationen zu den Projektinterna, was z. B. die Personal- und Sachmittelausstattung oder die konkrete Datenmanagementstrategie anbelangt, weshalb diese Perspektive in die Darstellung nicht eingehen kann. Aber aus einigen Hinweisen lassen sich Rückschlüsse auf manche Interna ziehen. Every Name Counts hat sich die Herkules-Aufgabe gestellt, von ca. 30 Millionen Dokumenten über KZ-Häftlinge sowie Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern während des nationalsozialistischen Regimes, die Personennamen, Geburtsdaten, -orte, Familienstand, Beruf, Wohnort, Religion und Informationen zu Familienmitgliedern zu erfassen, um ihre Schicksale zu erforschen und unvergessen zu machen. Dabei können Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler auf der ganzen Welt über die Plattform zoonivers.org 49 mithelfen. Das Angebot steht in fünf verschiedenen Sprachen zur Verfügung. Das Projekt formuliert als Bildungsziel »methodische Kompetenzen im Umgang mit Archivquellen« 50 vermitteln sowie »forschend-entdeckendes Lernen« 51 fördern zu wollen. Hierbei wollen sie insbesondere Schulen ansprechen, die dieses Projekt in ihren Geschichtsunterricht integrieren können. Sie haben sich neben textuellen Anleitungen für eine interaktive digitale Lehr/-Lerneinheit 52 entschieden, die zwar primär an Schülerinnen und Schüler gerichtet ist,

48 Das Projekt Every Name Counts hat sich zum Ziel gesetzt, das größte digitale Archiv der Opfer und Überlebenden des Nationalsozialismus zu schaffen, um ihnen ein digitales Denkmal zu setzen. Hierbei bitten sie Bürgerinnen und Bürger aus der ganzen Welt um ihre Mithilfe, um die ca. 30 Millionen Dokumente zu sichten, um die Schicksale von rund 17,5 Millionen Menschen zu erfassen. Am Ende soll eine Datenbank entstehen, die es ermöglicht, nach jedem der Betroffenen in diesen Dokumenten namentlich suchen zu können. 2020 verzeichnete das Projekt ca. 10.000 Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler. Vgl. Every Name Counts, https://www.zooniverse.org/projects/arolsen-archives/every-name-counts (letzter Zugriff: 08.02.2022). 49 Zooniverse ist eine Plattform für CS-Projekte, die von der Citizen Science Alliance (https://citizensciencealliance.org) bereitgestellt wird. Träger der Plattform sind das Adler Planetarium in Chicago, die Johns Hopkins Universität, die Universität von Minnesota, das National Maritime Museum in Greenwich, London, die Universität von Nottingham, die Oxford Universität und die Firma Vizzuality mit Sitzen in Madrid, Cambridge und Porto. https://www.zooniverse.org (letzter Zugriff 16.03.2022). 50 https://www.zooniverse.org/projects/arolsen-archives/every-name-counts/about/education (letzter Zugriff 08.02.2022). 51 Ebd. 52 https://arolsen-archives.org/enc-intro/de/ (letzter Zugriff 08.02.2022).

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aber vielleicht auch gerade deswegen für ein angenommenes niedrigeres Kompetenzniveau konzipiert ist und somit eine breite Zielgruppe adressiert. 53 Das eLearning-Angebot für den Einstieg vermittelt nicht nur schrittweise den Umgang mit dem Erfassungstool 54 und den Dokumenten, sondern bietet zusätzlich multimediale Kontextinformationen zu den historischen Ereignissen und dem Beispieldokument. Dadurch wird den Teilnehmenden die Bedeutung ihrer Arbeit vergegenwärtigt, um sie für eine präzise Durchführung der Arbeitsschritte zu motivieren. Gleichzeitig wird ihnen aber auch die Sorge genommen, etwas falsch machen zu können, indem ihnen mitgeteilt wird, dass jede Häftlingskarte dreimal erfasst wird, wodurch Fehler einfach aufgedeckt und in Zweifelsfällen von Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeitern korrigiert werden. 55 Hier wird also zur Qualitätssicherung ein Verfahren der Dreifacherhebung eingesetzt. Die Ergebnisse werden anschließend maschinell verglichen. Die Zweifelsfälle werden den wissenschaftlichen Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeitern vorgelegt, die sie ggf. korrigieren. Das ist eine sehr gute Möglichkeit, um Erfassungsfehler zu identifizieren und die Korrekturarbeiten für die wissenschaftlichen Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter so gering wie möglich zu halten. Die vorausgesetzten digitalen Kompetenzen sind ein einigermaßen sicherer Umgang mit einem Browser und Vertrautheit im Umgang mit Online-Formularen, denn das Projekt interagiert mit den Beteiligten ausschließlich über zooniverse.org. Die Plattform selbst, insbesondere das Erfassungstool, ist sehr durchdacht implementiert: Bei jedem Start wird den Beteiligten die textuelle Anleitung noch einmal angeboten, wobei hier mehrere kleine Texte nacheinander erscheinen, die das Vorgehen und die Benutzung der Oberfläche erläutern. Das Tutorial kann jederzeit von den Nutzerinnen und Nutzern wieder aufgerufen werden. Die Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler werden kleinschrittig mittels Formularen jeweils mit relativ wenigen zu erfassenden Daten durchgeführt. Dabei wurde sogar darauf geachtet, dass sich teilweise die Feldreihenfolge eines Formulars anpasst, z. B. bei der Erfassung des Geburtsdatums. Es gibt Häftlingskarten, die dies in der Form MM–TT–JJJJ erfasst haben und andere in der Variante TT–MM–JJJJ. Je nachdem welche Reihenfolge in einer 53 »Educators should develop supporting guidance for educators working at schools and universities and embed citizen science projects in curriculum activities to fully harness the benefit of citizen science in learning.« Aletta Bonn u. a. (Hrsg.): Citizen Science. Innovation in Open Science, Society and Policy, London 2018, S. 481, https://doi.org/10.14324/111.9781787352339. 54 https://www.zooniverse.org/projects/arolsen-archives/every-name-counts/classify (letzter Zugriff 18.02.2022) 55 »The data from each card is entered three times. If the results differ, our colleagues check the input and make corrections if necessary.« Tutorial. Incorrect entries, https://www.zooniverse.org/projects/ arolsen-archives/every-name-counts/classify (letzter Zugriff 08.02.2022).

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Quelle vorkommt, passt sich das Formular an, sodass Erfassungsfehler minimiert werden. Tippfehler bei den Zahlen werden durch Listen vermieden. So sind die Aufgaben relativ klein und einfach gestaltet, um möglichst viele Personen für die Arbeit zu gewinnen, denn je anspruchsvoller und komplexer eine Aufgabe ist, desto höher werden die Anforderungen und umso weniger Personen können sich beteiligen. 56

Abb. 1 Screenshot der Erfassungsmaske des Projekts Every Name Counts, Quelle: https://www. zooniverse.org/projects/arolsen-archives/every-name-counts/classify (letzter Zugriff 18.02.2022)

Ebenso ist zu jedem Feld nochmals eine Hilfe direkt darunter verfügbar, um sich bei Zweifelsfällen oder Unsicherheiten direkt informieren zu können. Des Weiteren ist stets das Benutzerhandbuch rechts im Bildschirm verfügbar, welches zusätzliche Hilfen für die Eingabe enthält, um z. B. Daten oder die Häftlingsnummer korrekt zu entziffern. Um die Laien nicht zu überfordern, werden auch nicht alle Daten eines Dokumentes in einem Durchgang erfasst, sondern erfolgen mehrstufige Erfassungsgänge durchgeführt: in einem ersten Schritt nur die Personennamen und in nachfolgenden Durchläufen dann die weiteren Informationen. Für die Kommunikation von Unsicherheit bieten sie jeweils am Ende eines Erfassungszyklus an, mit »Diskutieren & Fertig« die Eingabe abzuschließen. Es wird auf die Diskussionsseite weitergeleitet, wo das Dokument noch einmal angezeigt wird und die Nutzerinnen und Nutzer in einem formatierbaren Textfeld angeben können, was sie diskutieren möchten, z. B. unsichere Lesungen. Dort sind bereits vorangegangene Diskussionen sichtbar, sodass die Nutzerinnen und Nutzer sehen können, ob ihre Anmerkung bereits von anderen gemacht wurde. 56 Vgl. Muki Haklay: Participatory citizen science, in: Bonn, Makuch, Vogel, Bowser, Haklay, Hecker: Citizen Science, S. 52–62, hier S. 56.

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Auf die Beiträge wird zeitnah reagiert, wobei anscheinend Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter antworten, wie sie das Problem beurteilen und ggf. die Daten korrigiert haben. Dies lässt vermuten, dass das System über ein komfortables Backend für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verfügt, das ihnen die Diskussionen und die Nachbearbeitung der Daten vereinfacht. Das Projekt scheint sehr gut durchdacht und geplant zu sein, weil es einerseits ansprechend und niedrigschwellig die Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler erreicht und andererseits gute Verfahren entwickelt hat, um eine hohe Datenqualität zu garantieren sowie die Kommunikation mit den Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern sicherzustellen. Das Projektdesign setzt kaum jene DL-Kompetenzen voraus wie sie im oben analysierten Framework beschrieben sind. Die Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler werden in der Phase der Datenerhebung einbezogen, weshalb die Kompetenzfelder A und B hier relevant sind. Besonders bei den Dimensionen Wissen und Fähigkeiten setzen die Projektverantwortlichen keine Vorkenntnisse und Kompetenzen voraus, sondern haben den Prozess so gestaltet, dass die Beteiligten die Kompetenzen nicht benötigen oder ihnen diese vermittelt werden. So wird z. B. der Auswahlprozess, welche Informationen von den Dokumenten benötigt werden, in erster Linie von den Projektverantwortlichen komplett übernommen. Für Zweifelsfälle, bei denen die Erhebenden Entscheidungen treffen müssen, gibt es ausführliche Anweisungen, wie sie bei der Erfassung mit bestimmten Phänomenen umgehen sollen. Auch wenn den Beteiligten z. B. das komplette Datenmodell und die Erfassungsrichtlinien nicht explizit erläutert werden, so ist durch das Erfassungssystem sichergestellt, dass möglichst konsistente Daten entstehen. Für Zweifelsfälle können die Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler eine Nachricht verfassen und im Hintergrund werden die Daten nochmals automatisiert geprüft. D. h. die Beteiligten machen in diesem Projekt sehr gute Erfahrungen damit, wie eine gute Datenerfassung und -überprüfung aussehen kann: z. B. erleben sie, dass Auswahllisten dazu dienen, Erfassungsfehler zu minimieren und gleichzeitig die Eingabe erleichtern. Es würde zwar einer kritischen Reflexion der Prozesse durch die Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler bedürfen, dies bewusst wahrzunehmen – was wahrscheinlich i. d. R. nicht geschieht – aber dennoch sind sie an einem qualitativ gut durchdachten Projekt zur Datenergebung beteiligt, das ihnen als Vorbild dienen könnte, wenn sie später einmal an einem Citizen-Science-Projekt der Stufe drei beteiligt sind.

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Schlussfolgerungen für Design und Planung von CS-Projekten Wie bei jedem anderen Forschungsprojekt auch braucht es zunächst ein differenziertes Forschungskonzept und ein dazu passendes Arbeitsprogramm, das die einzelnen Arbeitsschritte, die dafür notwendigen Materialien, Infrastrukturen und eine Forschungsdatenmanagementstrategie berücksichtigt. Aus Transparenz- und Kommunikationsgründen ist eine grafische Darstellung der Abfolge der Prozessschritte mit den beteiligten Akteurinnen und Akteuren sowie Verantwortlichkeiten und dem damit in Verbindung stehenden Datenfluss sehr zu empfehlen. Eine solche Grafik erleichtert nicht nur den Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, den Überblick über ein Projekt zu behalten, sondern vereinfacht die Projektierung der notwendigen Ressourcen für Personal- und Sachmittel sowie die Planungen zum Umgang mit den gegebenen rechtlichen Rahmenbedingungen. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn personenbezogene Daten verarbeitet werden, wodurch die Entwicklung und Implementierung eines Datenschutzmanagements erforderlich wird. Die Beteiligung von Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern macht dies ohnehin notwendig. 57 Wenn in einem oder mehreren Arbeitsprozessen Bürgerinnen und Bürger beteiligt werden, so sollte für jeden dieser Prozesse eine präzise Beschreibung der einzelnen Arbeitsschritte erstellt werden. Dies müsste möglichst kleinschrittig erfolgen, um die Aufgabenstellung einfach versteh- und für jeden reproduzierbar zu machen, sodass wirklich alle Mitarbeitenden die gleichen Abläufe durchführen. Dies ist ein guter Grundstein für die Qualitätssicherung, aber auch eine schlüssige Datendokumentation. Ebenfalls kann anhand dieser detaillierten Beschreibung eine Risikoanalyse durchgeführt werden, um potenzielle Fehlerquellen und Ungenauigkeiten in der Durchführung zu identifizieren. Somit können bereits im Vorfeld Strategien entwickelt werden, um Fehler zu reduzieren oder Verfahren für die spätere Datenaufbereitung zur Absicherung der Datenqualität einzuplanen. Solche potenziellen Fehlerquellen könnten z. B. durch das Abändern des Aufgabendesigns, durch IT-gestützte Warnsysteme oder der Anwendung eines Vier-Augen-Prinzips reduziert werden. Gerade bei den eingesetzten Werkzeugen (Software, Messgeräte etc.) sollte auf ein möglichst schlichtes Design geachtet werden, um insbesondere Bedienfehlern vorzubeugen. 58 Es ist ratsam, eine Testphase mit bürgerwissenschaftlicher Beteiligung 57 Vgl. zum Datenschutzmanagement Marian Alexander Arning u. a. (Hrsg.): Praxishandbuch DSGVO. Einschließlich BDSG und spezifischer Anwendungsfälle, Frankfurt a. M. 2021, S. 627– 646, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:101:1-2021080619282116878298. 58 Ähnliche Empfehlungen gibt auch die Plattform Bürger schaffen Wissen. Vgl. Wissenschaft im Dialog, Museum für Naturkunde: Daten: Was gibt es im Umgang mit Citizen-Science-Daten zu

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vorzusehen, um die Verfahren zu evaluieren und ggf. Prozesse oder Erhebungsinstrumente zu optimieren. Auf diese Weise können in der Produktivphase die Fehler- und Frustrationspotenziale weitestgehend reduziert werden. Insbesondere wenn es sich um recht eintönige, gar langweilige Arbeiten handelt, sollte über Motivationshilfen nachgedacht werden. Hier können Gamification-Ansätze sinnvoll sein, um einerseits den Ehrgeiz zu wecken und andererseits den menschlichen Spieltrieb auszunutzen. Auch kann es motivierend sein, explorative Vorschauen auf die Ergebnisse bereits bei der Eingabe zu ermöglichen, sodass die Beteiligten sich schneller ein Bild von ihren Arbeitsergebnissen machen können. Auf der Basis der konkreten Aufgabenbeschreibung sollte das für die Umsetzung notwendige Kompetenzprofil erstellt werden. Hierbei ist es sinnvoll zu unterscheiden, welche Fähigkeiten, Wissensbestände und Haltungen vorausgesetzt werden, welche vermittelt und welche ggf. während der Mitwirkung an dem Arbeitsschritt erworben werden können. Parallel dazu muss versucht werden das Kompetenzprofil der potenziell beteiligten Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zu erstellen: Welche Kompetenzen können dort sicher vorausgesetzt werden und welche sind eher unwahrscheinlich? 59 Werden dabei Kompetenzen als wenig, nicht ausreichend oder gar nicht vorhanden eingestuft, muss entweder ein adressatengerechtes, praktikables und didaktisch ausgewogenes Vermittlungskonzept entwickelt oder der Arbeitsprozess angepasst werden. Welche Formate, wie z. B. interaktive eLearning-Angebote, Videotutorials, textuelle Anleitungen oder Präsenzworkshops, geeignet sind, ist von der Zielgruppe, deren Kompetenzprofil und den Rahmenbedingungen abhängig. Eventuell ist auch eine Kombination verschiedener Formate sinnvoll, falls die Zielgruppe divers ist. Je nach ermitteltem Kompetenzprofil und der Fehleranfälligkeit der Aufgabe sollten leicht erreichbare Supportangebote und Prüfmechanismen implementiert sein. Selbstverständlich müssen all diese Aktivitäten im Gesamtarbeits- und Zeitplan Berücksichtigung finden und bedürfen ausreichender Personal- und Sachmittel. Zu guter Letzt sollte mit Blick auf die Motivation, aber auch die Anerkennung der erbrachten Leistung der Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler darüber nachgedacht werden, ob die Bereitstellung der erhobenen Daten und beachten? Bürger schaffen Wissen, https://www.buergerschaffenwissen.de/citizen-science/handbuch/citizen-science-daten (letzter Zugriff: 22.02.2022) oder auch Bonn, Makuch, Vogel, Bowser, Haklay, Hecker: Citizen Science, S. 470, 478–479. Selbstverständlich ist ein möglichst einfaches Tool-Design auch für Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftler hilfreich, um Fehler bei der Eingabe zu reduzieren. Dennoch sollte in Abhängigkeit des Anforderungsniveaus an die beteiligten Bürgerinnen und Bürger darauf ein besonderes Augenmerk gelegt werden. 59 »Researchers, practitioners and their institutions should recognise volunteers’ background, education levels, and depth of engagement and learning to develop successful projects in both formal and informal education.« Bonn, Makuch, Vogel, Bowser, Haklay, Hecker: Citizen Science, S. 480.

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Ergebnisse anonymisiert oder pseudoanonymisiert erfolgt oder ob nicht die Mitarbeit und Urheberschaft der einzelnen Beteiligten publik gemacht werden kann. 60 Hier obliegt es den Projektverantwortlichen abzuwägen, welche Implikationen das für das jeweilige Projekt und die Beteiligten haben könnte. Während der Erarbeitungsphase könnte so die Kommunikation zwischen allen Beteiligten persönlicher gestaltet werden. Die Offenlegung aller Korrekturen bedarf immer eine Kommunikations- und Entscheidungsstrategie sowie einer Infrastruktur, die diesen Austausch unterstützt. Dafür muss innerhalb des Projektes ein fehlertolerantes Klima geschaffen werden. Eine Einbindung ohne Rückschlussmöglichkeiten auf einzelne Bearbeiterinnen und Bearbeiter kann je nach Projekt die Einstiegshürde senken, aber auch schneller zu Frustration führen, wenn auf diese Weise die Entscheidungswege intransparenter und nicht nachvollziehbar sind.

60 Vgl. European Citizen Science Association ECSA: Ten Principles of Citizen Science, Berlin 2015, https://doi.org/10.17605/OSF.IO/XPR2N.

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Katrin Moeller / Moritz Müller Heimatforscher, Citizen Science und/oder Digital History? Organisationsformen und Qualitätssicherung zwischen Wissenschaft und bürgerwissenschaftlicher Community

Aktuell ist Citizen Science in aller Munde. Auch wenn die kräftige Modernisierung und intensive Förderung solcher Projekte fast wie eine neue Forschungsrichtung wirkt, hat Citizen Science in der Geschichtswissenschaft dennoch eine sehr lange Tradition. 1 Anders als also die geringe Anzahl geistes- und sozialwissenschaftlicher Projekte auf der Plattform Bürger schaffen Wissen oder in anderen wissenschaftlichen Analysen vielleicht suggerieren, 2 ist Heimatforschung und genealogische Forschung nicht nur seit ca. 150 Jahren und länger gesellschaftlich fest etabliert, sondern in Vereinsstrukturen und Formen des sozialen Engagements auch institutionalisiert. Angesichts der Flut von Vereinsgründungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts kann von einer Dominanz naturwissenschaftlicher Bürgervereine insgesamt nicht gesprochen werden. Vielmehr waren es zunächst die Gesangs-, Musik- und Kunstvereine, welche die Gründungswelle bürgerschaftlicher Vereinigungen in Gang brachten, bevor sie zum Ende des 19. Jahrhunderts von Wirtschafts- und Religionsvereinen überflügelt wurden. 3 Vielmehr ist vermutlich zu fragen, welche dieser ganz verschiedenen Formen des bürgerschaftlichen Engagements heute auch im engeren Sinne als »Citizen Science« angesehen werden und wo die gemeinsame Forschung dann tat-

1 Andreas Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwis-

senschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914, Berlin/Boston 2018, S. 98– 118. 2 Martina Franzen, Iris Hilbrich: Forschen in Gesellschaft. Citizen Science als Modell für Sozialwissenschaften?, in: WZB Mitteilungen 150 (2015), S. 26–29, hier S. 26. Barbara Heinisch: Vorherrschende Wissenschaftszweige auf deutsch- und englischsprachigen Citizen Science-Projektplattformen, in: Daniel Nüst, Thomas Bartoschek, Mario Pesch (Hrsg.): Forum Citizen Science 2019, Münster 2019, S. 40–52. 3 Daniel Watermann: Bürgerliche Netzwerke. Städtisches Vereinswesen als soziale Struktur. Halle im Deutschen Kaiserreich, Halle 2017, S. 144.

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sächlich beginnt. 4 Dies gilt etwa für die Vielzahl von Vereinen, die sich in ganz unterschiedlicher Form mit der Bewahrung und Kartierung des kulturellen Erbes beschäftigten und so natürlich wichtige einschlägige Quellen- und Datensammlungen für die wissenschaftliche Forschung produzierten, ohne aber vielleicht die Auswertung selbst in den Vordergrund zu rücken. Dabei wäre etwa danach zu fragen, ob die ca. 80 deutschen genealogischen Vereine 5 nun zur Citizen Science gezählt werden können, wo doch die Genealogie als Teildisziplin der Historischen Hilfswissenschaften selbst zum festen Bestandteil des geschichtswissenschaftlichen Repertoires gehört. Überdies gibt es durchaus Kooperationen zwischen Wissenschaft und genalogischen Vereinen, wenn auch sie nie zu einer prominenten Forschungsrichtung ausgebaut wurden – wie etwa der zwischen der Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte von Georg Fertig und dem Verein für Computergenealogie. Dies gilt auch, weil die Zusammensetzung dieser Vereine durchaus eine enge personelle Verzahnung von Citizen und Science sichtbar machen könnte, wie sie auch im 19. Jahrhundert bereits gegeben war. 6 Obwohl solche Strukturen in Ostdeutschland bedingt durch die andersartigen gesellschaftlichen Organisationsformen unterbrochen wurden, knüpften zahlreiche Initiativen nach der Wende dennoch an die benannten Themen an. Aktiv unterstützt wurde dies durch die institutionelle Förderung von Ersatzmaßnahmen für den ersten Arbeitsmarkt in den 1990er Jahren. Unter dem Label der »Ortschronisten« entstanden viele Projekte mit einem hohen Professionalisierungsgrad und zum Teil umfangreichen Sammlungen, die heute eher die Herausforderung der langfristigen Sicherung meistern müssen. Auch sie waren von Überschneidungen mit dem Wissenschaftsbetrieb geprägt, schon daher, weil ehemals wissenschaftliches Personal in diesen Maßnahmen aufgefangen wurde. In die Lücke der unter dem Internationalisierungsdruck schwindenden wissenschaftlichen Landesgeschichte bzw. Hilfs- und Grundwissenschaften 7 rückten zunehmend Geschichtswerkstätten, Heimat- oder Geschichtsvereine und füllten sie mit bürgerwissenschaftlichen Orts- und Regionalgeschichten von unten. Vielerorts engagieren sich lokalgeschichtlich arbeitende Bürgerforscherinnen und Bürgerforscher gleichzeitig mit verschied4 Spezifisch zu den geisteswissenschaftlichen Communities: Kristin Oswald, René Smolarski: Ein-

führung. Citizen Science in Kultur und Geisteswissenschaften, in: Dies. (Hrsg.): Bürger Künste Wissenschaft. Citizen Science in Kultur und Geisteswissenschaften, Gutenberg 2016, S. 9–30, hier S. 9f. Claudia Göbel, Justus Henke, Sylvi Mauermeister: Kultur und Gesellschaft gemeinsam erforschen. Überblick und Handlungsoptionen zu Citizen Science in den Geistes- und Sozialwissenschaften, in: HoF-Handreichungen 14, Beiheft zu die hochschule 2020, Halle/Wittenberg 2020, S. 19, 21f. 5 https://wiki-de.genealogy.net/Portal:Vereine. 6 Watermann: Bürgerliche Netzwerke, S. 227f. 7 Vgl. etwa Ohne Verfasser: Die Archive und die historische Forschung. Eine Podiumsdiskussion zwischen Archivaren und Historikern, in: Der Archivar 71.4 (2011), S. 370–386, hier S. 382.

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enen Vermittlungsformen auch an der Schnittstelle zu Museen, Schulprojekten, Wikipedia oder anderen Formen von Public History. Überregional erfasst eine große genealogische Community in langfristig angelegten Projekten minutiös serielle Quellenbestände, Bild- und Kulturmaterial und organisiert solche Netzwerke. Verknüpft ist damit häufig eine Sicherung von Kulturgut, für die wissenschaftliche Einrichtungen wie Bibliotheken, Archive und Museen institutionell nicht beauftragt sind, allerdings ähnlich stabiler Organisationsformen bedürften, wie dies bei diesen benannten GLAM-Institutionen der Fall ist. 8 Trotz der skizzierten Vielgestaltigkeit und großen Anzahl bürgerwissenschaftlicher Projekte mit historischem Forschungsgegenstand lässt sich der Vernetzungsgrad der Bürgerwissenschaft mit der historischen Fachwissenschaft über eigene Aktivitäten hinaus allerdings schwer einschätzen. Eine fachliche, mit Publikationen verbundene Auseinandersetzung mit Citizen Science steht in der Geschichtswissenschaft trotz ihrer weit zurückreichenden Traditionslinien also tatsächlich noch an ihrem Anfang. 9 Als Begründung dafür mag auf die bereits skizzierte Vielfalt der bürgerwissenschaftlichen Geschichtsforschung verwiesen werden, die eine allgemeine Bewertung der geschichtswissenschaftlichen Verwertbarkeit bürgerwissenschaftlicher Erkenntnisse und Sammlungen erschwert. Schließlich existieren auch in der historischen Bürgerwissenschaft eine Vielzahl unterschiedlicher Zugänge zur Geschichte, mit jeweils eigenen Methoden und Standards der Erkenntnisgewinnung. Erfahrungsberichte über die Zusammenarbeit mit Bürgerwissenschaften wurden bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt eher selten publiziert. 10 Dahinter steht auch immer die Frage, ob und wie die von Bürgerwissenschaften generierten Daten, Sammlungen und Wissensbestände eigene Schwerpunktsetzungen und Fragestellungen vornehmen bzw. ob sie historische Forschung unterstützen und ergänzen oder vielleicht gar ersetzen. Dabei ist unbenommen, dass gerade die Verschränkung von bürgerwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Projekten zu positiven gesellschaftlichen Effekten führt. 11 Public History kann als ein multidimensionaler Wissenstransfer wirken, der viele gesellschaftliche 8 Göbel u. a.: Kultur, S. 22f. 9 Beispiele aus jüngerer Vergangenheit sind: Andrea Sieber: Aneignung und Teilhabe bei der Er-

forschung von Geschichte. Formen des Reenactments als Möglichkeiten der gesellschaftlichen Partizipation an Wissenschaft?, in: Smolarski, Oswald: Bürger, S. 139–147. Sowie: Sina Speit: Public History und historische Grundlagenforschung. Das Projekt Die Geschichte der Landesministerien in Baden und Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus, in: ebd., S. 119–137. 10 Vgl. bspw. Marlene Ernst: Salzburg zu Tisch. Wie Citizen Scientists helfen, die barocke Küche zu ergründen, in: Hendrikje Carius u.a. (Hrsg.): Kooperationen in den digitalen Geisteswissenschaften gestalten, Göttingen 2020, S. 127–140. 11 Sieber: Aneignung, S. 139–147.

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Gruppen einbindet. Während diese Seite der Bürgerwissenschaften häufig sehr enthusiastische Wertschätzungen erhält, liegt das tatsächliche Forschungspotential von Daten und Erkenntnissen aus bürgerwissenschaftlicher Hand für die Geschichtswissenschaft noch im Verborgenen. Schließlich fehlt es bislang noch an systematischen Untersuchungen zur Nachnutzbarkeit, Rechtskonformität und Qualität von durch Citizen Scientists erhobenen Datenbanken und Erkenntnissen. Daher möchte der vorliegende Beitrag sich mit den Fragen der Qualitätssicherung beschäftigen und nach dem Verhältnis von bürger- und fachwissenschaftlicher Forschung aus Perspektive der empirisch-quantitativen Sozialgeschichte fragen, indem er über das Forschungspotential von genealogischen Datenbanken reflektiert, die von den Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern erstellt wurden. 12 Dass sich die Fachwissenschaft aktuell vornehmlich theoretisierend über die Vereinbarkeit ihrer und der bürgerwissenschaftlichen Erkenntnisinteressen und -methoden auseinandersetzt, ist unbestreitbar sinnvoll. 13 Aufschlussreich sind allerdings auch praktische und aktuelle Erfahrungswerte. Denn erstens sind Einschätzungen von Forscherinnen und Forschern gegenüber der Citizen Science vor allem dann aussagekräftig, wenn sie auf die tatsächliche Zusammenarbeit mit Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern rekurrieren. 14 Zweitens eröffnen sich mit fortschreitender Digitalisierung neue Möglichkeiten für die Kommunikation, die Organisation und die Umsetzung bürgerwissenschaftlicher Projekte. Dabei stößt man schnell auf die Herausforderungen des gemeinsamen Arbeitens an Sammlungen, Serverstrukturen und/oder Datenbanken über institutionelle Grenzen hinweg, da hier dauerhafte Trägerschaften und Serviceleistungen natürlich auch Finanzierungen und/oder Koordinationsaufgaben sowie andere verlässliche Arbeitsleistungen erfordern. Vereinsstrukturen haben es in Deutschland offenbar leichter, auf solche übergreifenden Bedürfnisse flexibler zu reagieren, als die wissenschaftlichen Institutionen mit ihren festen Strukturen und definierten Zugehörigkeiten. Andererseits sind bürgerwissenschaftliche Projekte häufig mit einem theoretisch eher offenerem Zeitbudget versehen, während Forschungsprojekte heute eine hohe zeitliche Effektivität zeigen und in kurzen Intervallen realisiert werden müssen. Einschlägige Archive mit neuen Quellengruppen, Medien und Datenbanken – so hat man den Eindruck – sind in den letzten Jahren eher über gemeinsam wirkende Communities als über einzelne Institutionen der Forschung entstanden. Zu nennen 12 Vgl. Volkmar Weiss: Familiengeschichtliche Massenquellen der Mobilitäts- und Sozialstruktur-

forschung, Historical Social Research 21.1 (1996), S. 151–166.

13 Göbel u. a.: Kultur, passim. Smolarski, Oswald: Einführung, S. 19f. 14 Göbel u. a.: Kultur, S. 81.

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sind hier etwa das Deutsche Tagebucharchiv 15, das Digitale Deutsche Frauenarchiv 16, die Aktivitäten des Vereins ICARUS bspw. mit der Topothek 17 oder eben auch die Arbeit des Vereins für Computergenealogie 18. Der vorliegende Beitrag zieht insgesamt eine Zwischenbilanz aus dem im März 2021 gestarteten Citizen-Science-Projekt Hallische Heiratsgeschichten, das die digitale Transkription handschriftlicher Eheregister (19. Jahrhundert) zweier hallischer Kirchengemeinden zum Ziel hat. 19 Thematisiert wird zunächst das organisatorische Konzept von Hallische Heiratsgeschichten, indem die Erfassungs-, Kommunikations- und Motivationsstrategien des Projektes vorgestellt werden. Daran anschließend evaluiert der Beitrag stichprobenartig die Qualität der im Rahmen des Projektes erfassten Daten. Dies stützt sich auf einen Vergleich mit den Ergebnissen, die studentische Hilfskräfte und die HTR/OCR Software Transkribus bei der Transkription von Handschriften erzielten. Abschließend diskutiert der Beitrag im Kontext der Forschung die Potentiale, die sich in der Sozialgeschichte durch die Nutzung genealogischer Daten eröffnen und gibt einen Ausblick, wie die stärkere Zusammenarbeit mit Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern die Geschichtswissenschaft in Zukunft fördern kann.

Projektorganisation, Kommunikation und Motivation, Qualitätsmanagement als Hauptachsen wissenschaftlichbürgerwissenschaftlicher Gemeinschaftsprojekte Hallische Heiratsgeschichteten startete im März 2021 mit dem Ziel, die Eheregister (19. Jahrhundert) der hallischen St. Georgen und Mariengemeinde zu transkribieren. Das Projekt wird vornehmlich von der Kooperation des Vereins für Computergenealogie, 20 des Lehrstuhls für Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie des Historischem Datenzentrums Sachsen-Anhalt (HistData) (beide Martin Luther Universität Halle-Wittenberg) getragen. Damit war das Projekt von Beginn an weniger ein explizit bürgerwissenschaftlich initiiertes Projekt, sondern besaß eine konkrete Nutzungsabsicht und wissenschaftliche Perspektive, was jedoch auch feste zeitliche und inhaltliche Rahmensetzungen mit sich bringt. 21 Vgl. https://tagebucharchiv.de. Vgl. https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de. Vgl. https://www.topothek.at. Vgl. https://www.compgen.de. Katrin Moeller, Moritz Müller: Hallische Heiratsgeschichte. Blog zum Citizen Science-Projekt, https://blogs.urz.uni-halle.de/heiraten/ (letzter Zugriff: 10.09.2021). 20 https://www.compgen.de. 21 Vgl. auch Göbel u. a.: Kultur, S. 81. 15 16 17 18 19

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Über die Datenerfassung eines größeren Bestandes soll im Forschungsvorhaben von Moritz Müller die Analyse von Heiratsverhalten und Netzwerkbildungen erfolgen, die auch Fragestellungen der Bürgerwissenschaft integrieren kann. Die Gelegenheit dazu boten sowohl Vorgängerprojekte wie auch die intensive Verbindung der Professur Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit Citizen-ScienceProjekten und einer Orientierung auf Massendatenerfassungen durch HistData. Von Anfang an ging es daher darum, Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler gezielt für das Projekt zu interessieren und über gemeinsame Zielsetzungen auch zur Mitwirkung zu motivieren und das Projekt nicht nur auf der Ebene der Datensammlung gemeinschaftlich zu führen. Gerade Genealogen bringen hierfür wichtige Kompetenzen und den Blick auf andere Quellengruppen ein, besonders was die Verknüpfung von Daten betrifft. HistData arbeitet seit langer Zeit mit bürgerwissenschaftlichen Vereinen und Verbünden 22 zusammen. Im Kontext von Sammlungen zu Ortschroniken, Oral History oder Biografien führte das Datenzentrum bereits einige Projekte durch, was dazu beiträgt, überhaupt Netzwerke und Ansprechpartner für entsprechende Vorhaben aktivieren zu können. Überdies veranstaltet der Landesheimatbund Sachsen-Anhalt in Kooperation mit HistData Workshopreihen und Weiterbildungsmaßnahmen für Ortschronistinnen und -chronisten und bemüht sich in einer eigenen Reihe auch bürgerwissenschaftliche Beiträge zu publizieren. 23 Da unter der Leitung von HistData und unter Mitarbeit studentischer Hilfskräfte bereits in den vergangenen Jahren Transkriptionsprojekte serieller Quellen für den Zeitraum 1670 bis 1820 abgeschlossen wurden, 24 trägt das Projekt Hallische Heiratsgeschichten langfristig dazu bei, den Aufbau einer mehrere Jahrhunderte umfassenden genealogischen Datenbank der Stadt Halle voranzutreiben. Damit konnte das Datenzentrum die bürgerwissenschaftliche Erschließung mit sehr viel Detailwissen zur Quelle und der Schaffung der digitalen Grundlagen initial unterstützen. Mit dem erfolgreichen Abschluss des Projektes wird HistData über eine vier Jahrhunderte umfassende genealogische Datensammlung der hallischen Stadtbevölkerung verfügen, die eine Vielzahl von Lebensdaten – z. B. die Geburts-, Sterbe- und Heiratsdatum – personenbezogen auflistet. Diese Datensammlung, die nach aktuellem Stand ein Novum in der deutschen Forschungslandschaft wäre, soll es Forschenden in Zukunft ermöglichen, soziale Netzwerkbildung, demografische Entwicklungen und soziostruk22 Zu diesen gehören bspw. der Landesheimatverbund Sachsen-Anhalt, die Historische Kommis-

sion Sachsen-Anhalt sowie Stadt- und Landesgeschichtsvereine.

23 Ortschroniken digital. Bürgerwissenschaftliche Beiträge zur Landesgeschichte Sachsen-Anhalts,

hrsg. von Michael Hecht, Katrin Moeller und John Palatini, bisher erschienen Bd. 1 bis 5.

24 Petra Kühne, Katrin Moeller: Sterberegister der Mariengemeinde Halle (Saale) 1670–1820

(Forschungsdaten), hrsg. vom Historischen Datenzentrum Sachsen-Anhalt, Halle 2014, http://dx.doi.org/10.25673/14112.

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turelle Veränderungen in einer deutschen Großstadt im Längsschnitt zu erforschen. Gerade aufgrund der Komplexität dieser Räume bleiben solche Forschungen bis heute rar. 25 Genealogische Daten ermöglichen der Geschichtswissenschaft insgesamt einen vielfältigen Einblick in die demografischen und wirtschaftlichen Entwicklungstendenzen historischer Gesellschaften. 26 In der deutschsprachigen Sozialgeschichte spielten solche Daten vor allem zur Erforschung sozialer Fragmentierung in den 1980er und frühen 1990er Jahre eine wichtige Rolle, bevor die Kulturgeschichte andere Schwerpunktsetzungen vornahm. Diese Arbeiten machten deutlich, dass die herkunfts- bzw. statustreue Wahl des Berufs, Ehepartners oder Taufpaten ein wesentliches Motiv familiärer Platzierungsstrategien war. Familien trugen, so die gemeinsame Kernthese dieser Studien, durch die Konzentration und den kalkulierten Austausch von Ressourcen wesentlich zur Verschärfung sozialer Ungleichheit bei. 27 Mit den Digital Humanities und neuen Möglichkeiten zur Analyse von Massendaten wächst mittlerweile wieder das Interesse an diesem sozialgeschichtlichen Forschungsstrang. Dabei zeigt sich, dass letztlich gerade die Analysen von Netzwerken und Beziehungen – wie etwa in den initialen Studien von David Warren Sabeans 28 und daran anschließenden Arbeiten 29 erfolgt – gewinnbringend für die historische Forschung sind. Hier berühren sich intensiv die Interessen zwischen Bürgerwissenschaft und Fachwissenschaft, denn die Analyse von Beziehungen und Vernetzungen vereinen beide Handlungsfelder und können wechselseitige Austauschprozesse sehr positiv beeinflussen. Im Verlauf des Projektes Hallische Heiratsgeschichten wurden ca. 3.000 handgeschriebene Eheregisterseiten transkribiert und in einer Datenbank organisiert. Da jede Seite des Eheregisters eine Vielzahl personenbezogener Angaben dokumentiert, die Lesbarkeit des Schriftbildes stark variiert und mit vier bis zehn 25 Philipp Sarasin: Stadt der Bürger. Bürgerliche Macht und städtische Gesellschaft: Basel 1846–

26 27

28 29

1914, Göttingen 1997, S. 102–114. Hartmut Zwahr. Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchungen über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution, München 1981, S. 171–186. Weiss: Massenquellen, S. 151–166. Neben den genannten Beiträgen etwa: Hartmut Kaelble: Soziale Mobilität und Chancengleichheit im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich, Göttingen 1983. Peter Borscheid: Lebensstandard und Familie. Partnerwahl und Ehezyklus in einer württembergischen Industriestadt im 19. Jahrhundert, Archiv für Sozialgeschichte 22 (1982), S. 227–262. Jürgen Kocka, Karl Ditt, Josef Mooser, Heinz Reif, Reinhard Schüren: Familie und soziale Plazierung. Studien zum Verhältnis von Familie, sozialer Mobilität und Heiratsverhalten an westfälischen Beispielen im späten 18. und 19. Jahrhundert, Wiesbaden 1980. Reinhard Schüren: Soziale Mobilität. Muster, Veränderungen und Bedingungen im 19. und 20. Jahrhundert, St. Katharinen 1989. David Warren Sabean: Kinship in Neckarhausen, 1700-1870, Cambridge 2010. Christine Fertig: Familie, Verwandtschaftliche Netzwerke und Klassenbildung im ländlichen Westfalen (1750–1874), Berlin/München/Boston 2012, https://doi.org/10.1515/9783828260047.

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Ehen pro Eheregisterseite etwa 20.000 Kirchbucheinträge mit ca. 80.000 Einzelpersonen erfasst werden sollten, sind die Anforderungen an die Projektorganisation und die partizipierende Bürgerwissenschaft ebenso hoch wie der erforderliche Durchhaltewille. Erstens verlangte das Transkriptionsvorhaben eine gute und abgestimmte Vorbereitung, die die materiellen Grundlagen (Quellendigitalisierung, Erstellung von Anleitungsmaterialien, Schaffung von Voraussetzungen zur gemeinschaftlichen Quellentranskription) sowohl absicherte als auch langfristig plante. Zweitens erfordern diese Vorhaben eine enge und fortwährende Kommunikation mit den partizipierenden Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern. Schließlich ist es für einen erfolgreichen Projektabschluss unerlässlich, dass bereits im Vorfeld Personen für eine Bearbeitung interessiert wurden, die dann auch freiwillig bereit sind, Erfassungsrichtlinien und Standards der Dateneingabe zu berücksichtigen, um die angestrebte (drittens) Qualitätssicherung für die wissenschaftliche Nutzung zu gewährleisten. 30 Dabei war es für das Qualitätsmanagement von wesentlicher Bedeutung, bereits im Vorfeld des Projektes entsprechende Sicherungsmechanismen zu entwickeln und begleitende Prozesse auch während und nach der Dateneingabe immer wieder zu überprüfen. Dies erfordert neben der funktionierenden Technik und Kommunikation auch dauerhafte Motivationsanreize, um tatsächlich nicht nur allgemeine Ansprüche eines FAIRen Datenmanagements, sondern auch inhaltliche Kriterien der Qualitätssicherung umzusetzen, was momentan für nur etwa 10 % aller Citizen-Science-Projekte gilt. 31

Projektvorbereitungen Das Projekt Hallische Heiratsgeschichten musste aufgrund der äußeren Bedingungen (COVID-Pandemie) rein digital konzipiert werden und nutzt für die Dateneingabe die technische Infrastruktur des Vereins für Computergenealogie. Die Vorteile der digitalen Erfassung liegen auf der Hand: Zum einen kann ein Projekt so eine Vielzahl, auch überregional agierender, Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler erreichen, was mit dem Projekt auch tatsächlich gelungen ist. Teilnehmende stammten nicht nur aus Halle/Saale und Sachsen-Anhalt, sondern aus dem gesamten Bundesgebiet. Die Beziehungen resultierten häufig aus den Lebenswegen der einzelnen Familien, die in der früheren Zeit 30 Clemens Jacobs, Annalena Schotthöfer: Citizen-Science-Daten zur Biodiversität – Methoden zur

Unterstützung der Qualitätssicherung, in: AGIT – Journal für Angewandte Geoinformatik 1 (2015), S. 470-479. 31 Carolin Susann Altmann, Miriam Brandt, Sarah Kiefer, Valerie Knapp, Anke Schumann, Vanessa van den Bogaert: Weißbuch – Citizen Science-Strategie 2030 für Deutschland. Kapitel 15: Begleitforschung Citizen Science, 2021, S. 11, 59, https://osf.io/preprints/socarxiv/ew4uk/.

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auch Halle/Saale gekreuzt haben. Dies schließt natürlich in der anvisierten interessierten Altersgruppe allerdings auch Akteure aus, die aufgrund ihres höheren Alters digitale Techniken nicht mehr bewältigen. Zum anderen ist die Arbeit mit Digitalisaten der Ursprungsquellen unkomplizierter, nachhaltiger und bietet vor allem auch für die Citizen Science einen höheren Gebrauchswert, insbesondere weil der Bezug zwischen Quelle und Transkription erhalten bleibt und auch nicht transkribierte Informationen später erfahrbar sind. Da die Benutzung der Originalquelle bereits vor Jahren aus konservatorischen Gegebenheiten erheblich eingeschränkt und nur der Zugriff auf die verfilmten Quellen im Evangelischen Kirchenarchiv Magdeburg möglich ist, war dies zudem eine zentrale Voraussetzung für eine breite bürgerwissenschaftliche Beteiligung. Dies erforderte umfangreiche Abstimmungsprozesse mit den Kirchenarchiven, die auch Interesse an einer kommerziellen Verwertung dieser Quellen haben. Glücklicherweise standen die hier verwendeten Digitalisate bereits aus einem früheren Projekt zur Verfügung. Die Digitalisierung bietet zugleich den Vorteil, Maßnahmen zur Qualitätssicherung abzusichern. Dabei ist die direkte Verknüpfung zwischen Quelle und Datenaufnahme möglich, was zukünftig sicherlich zu den zentralen Qualitätskriterien eines Projektes zählt, um auch retrospektive Plausibilitätsprüfungen vornehmen zu können. 32 Was erst einmal die Verknüpfung mit der Originalquelle ermöglicht, erschwert allerdings eine über verschiedene Quellen erzeugte Datenbasis. Dabei bleibt zu berücksichtigen, dass nur ca. 1 bis 2 % des gesamten archivalischen Kulturguts in Deutschland bisher überhaupt digitalisiert wurden 33 und Voraussetzungen für die Digitalisierung von Kulturgut durch Citizen Science sowohl an institutionellen und kommerziellen Vorgaben der Sammlungsbetreiber (Verbot eigener Digitalisaterstellung, hohe Digitalisierungskosten), rechtlichen Regelungen wie auch an qualitativen Vorgaben der DFG-Digitalisierungsrichtlinien scheitern können. 34 Hier flexiblere Nutzungs- und Digitalisierungsmöglichkeiten seitens der Sammlungen zu schaffen, wäre eine wichtige Voraussetzung für die Durchführung solcher bürgerwissenschaftlichen Projekte. Aufgrund dieser Rahmenbedingungen hat der Verein für Computergenealogie schon vor Jahren damit begonnen, eigene Digitalisierungsstrategien zu entwickeln und Services im Bereich von Hard- und Software, Datenbanken, Serverkapazitäten wie auch digitalen Erfassungs- und Visualisierungsmethoden zu 32 Jacobs, Schotthöfer: Citizen-Science-Daten, S. 472. 33 Lisa Klaffki, Stefan Schmunk, Thomas Stäcker: Stand der Kulturgutdigitalisierung in Deutsch-

land. Eine Analyse und Handlungsvorschläge des DARIAH-DE Stakeholdergremiums Wissenschaftliche Sammlungen, Göttingen 2018, http://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:7-dariah2018-1-3, hier S. 10. 34 Deutsche Forschungsgemeinschaft: DFG-Praxisregeln Digitalisierung, Bonn 2016.

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entwickeln. Essentielles Tool aller digitalen Erfassungsprojekte des Vereins für Computergenealogie ist dabei das vom Informatiker Jesper Zedlitz entwickelte Daten-Eingabe-System (DES). 35 Erstmals fand es bei der Erfassung der Verlustlisten des ersten Weltkrieges Anwendung. 36 Mittlerweile ist das Tool soweit modifizierbar, dass es auf personenbezogene Daten begrenzt für weitere Projekte angepasst und nutzbar gemacht werden kann. Sinn und Zweck des DES ist die Standardisierung der Eingaben sicherzustellen. Indem DES die gewünschte Datenstruktur in Form einer Eingabemaske vorgibt, wird gewährleistet, dass die Daten ohne aufwendige Nacharbeiten unmittelbar und langfristig nutzbar sind. Zwar ist die Erfassung damit nicht ganz so effektiv möglich, wie einfachere technische Mittel es zulassen würden, dafür werden aber die Verbindung zwischen Digitalisat und Datum sowie die Speicherung der genealogischen Beziehungen datentechnisch nachvollziehbar abgebildet und Datenstrukturen in Datenstandards überführt. Erleichtert wird die Erfassung von genealogischen Quellen durch Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zudem durch den Formalisierungsgrad der seriellen Quellen selbst. Wenngleich sich die Quellen über die Jahrhunderte immer wieder leicht veränderten, besteht dennoch eine hohe Erwartbarkeit über den eigentlichen Inhalt, da die Struktur der Informationen zu den Ehen im Wesentlichen die gleichen blieben. Diesem Muster folgend werden alle Informationen, die in der Ursprungsquelle personenbezogen aufgelistet sind, auch mit einem eigenen Feld in der Eingabemaske bedacht. Ein Beispiel des im Jahr 1872 sich verheiratenden Kutschers Friedrich Franz Zachäus in der DES-Eingabe gibt Abb. 1 wieder. Für Forschende bietet DES also den Vorteil, dass sie im Vorfeld ihre gewünschte Datenstruktur modifizieren können und damit letztlich vorab die wissenschaftliche Nutzbarkeit der entstehenden Datenbank – zumindest zu einem gewissen Grad – sicherstellen können. Voraussetzung dafür ist freilich, dass sich die partizipierenden Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler an diese Vorgaben halten. Die Erfahrungen aus dem Projekt Hallische Heiratsgeschichten geben dahingehend aber kaum Grund zur Sorge.

35 Eine Vorstellung von DES findet sich auch im Beitrag von Jesper Zedlitz in diesem Band. Weitere

Informationen unter: http://des.genealogy.net/ (letzter Zugriff: 10.09.2021).

36 https://wiki-de.genealogy.net/Verlustlisten_Erster_Weltkrieg/Projekt (letzter Zugriff: 10.09.2021).

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Abb. 1: Heiratseintrag mit Verdatung, Quelle: DES.

Kommunikation und Motivation Mit dem einführenden Workshop und der engen Kommunikation ist ein zweiter wesentlicher Pfeiler des Projektes angesprochen: Der kontinuierliche Austausch mit dem partizipierenden Personenkreis. Bereits vor Beginn des Projekts war eine intensive Medienkampagne notwendig, um das Zielpublikum überhaupt zu erreichen. Dabei bediente sich das Projekt aller zur Verfügung stehenden Netzwerke der Fach- und Bürgerwissenschaften. Hilfreich war zudem die Einbindung zahlreicher lokalgeschichtlicher Akteure und die Nutzung des Internets als Informationsbörse. Erstellt wurde nicht nur ein eigener Blog 37 sowie Informationsangebote auf dem Portal des Vereins für Computergenealogie. 38 Auch auf überregionalen Plattformen wurde das Projekt publik gemacht. 39 Auf diese Weise hat es das Projekt selbst in regionalbezogene Nachrichtenblätter geschafft, wie der zufällige Fund eines Beitrags in den Kieler Nachrichten vom August 2021 zeigt. 40 Den Auftakt der gemeinsamen Arbeit bildete ein einführender Workshop, an dem ca. 60 bis 70 Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, Interessierte, Wissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus ähnlichen Projekten und Medienvertreter teilnahmen. In diesem Workshop wurden grundlegende Ziele, die Quelle selbst sowie die Erfassungsmöglichkeiten präsentiert. Mit Beginn des Projektes hat sich das Veranstalten einer zweiwöchentlich stattfindenden digitalen Sprechstunde als sinnvolle Strategie zum Training der Handschrift und der Sicherstellung der Erfassungsstandards erwiesen. Durch das gemeinsame Lesen unsauber geschriebener Wörter oder unbekannt 37 Moeller, Müller: Hallische Heiratsgeschichten, Blog. 38 Katrin Moeller: Editionsrichtlinien zum Projekt Hallische Heiratsgeschichten, Halle 2020,

http://wiki-de.genealogy.net/Halle/Heiratskirchenb%C3%BCcher/Editionsrichtlinien.

39 Citizen Science Plattform: Bürger schaffen Wissen, 2021, https://www.buergerschaffenwissen.de

/projekt/hallische-heiratsgeschichten.

40 Kerstin Graupner: Du ahnst es nicht, in: Kieler Nachrichten vom 2. August 2021, S. 13.

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klingender Namen machten alle Teilnehmenden während der ersten Wochen des Projektes deutliche Fortschritte beim Lesen der spezifischen Handschriften. Bereits nach einem halben Jahr Laufzeit wurden den Betreuenden des Projekts nur noch wenige Lesefehler gemeldet und die Häufigkeit der Treffen etwas reduziert. Zudem wurde ihr Inhalt an die Interessen der Bürgerwissenschaft angepasst. Die digitalen Sprechstunden förderten auch das Teambuilding und weisen somit auf einen weiteren wichtigen Eckpunkt des Projektes hin: Die langfristige Motivation. Durch das gemeinsame Rätseln über die buchstabengetreue Schreibweise alter Berufsbezeichnungen oder die Suche nach längst vergessenen Ortsbezeichnungen stellten sich nicht nur gemeinsame Erfolgserlebnisse ein, es war dadurch auch möglich, mehr über die historischen Interessen der Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zu erfahren. So zeigten sie ein großes Interesse an sozialhistorischen Fragen, die sich spezifisch an die aufgenommenen Quellen richteten: Warum war das Heiratsalter vieler Eheleute vergleichsweise hoch? Inwieweit lassen die Berufsbezeichnungen auf die soziale Stellung schließen und sich daraus gesellschaftliche Hierarchien ablesen? Welche Schlüsse lässt die geografische Herkunft der Brautleute über das Migrationsgeschehen der damaligen Zeit zu? Dies ist nur eine Auswahl an Fragen, die im Rahmen der digitalen Treffen formuliert wurden. Bislang hat es sich als wertvolle Motivationsstrategie erwiesen, der Diskussion dieser Fragen Raum zu geben und hierfür eigens dafür anberaumte digitalen Treffen zu schaffen und auch thematische Veranstaltungen durchzuführen. Zu betonen ist der auf Austausch fixierte Charakter dieser Sitzungen. Sie nehmen nicht die Form von Vorlesungen mit einer klar definierten Rollenfixierung auf Sprechende und Zuhörende an, in denen die mit akademischer Autorität ausgestatteten Expertinnen und Experten den Laien einen Einblick in die wissenschaftliche Deutung historischer Sachverhalte offenbaren, sondern alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind selbst Forschende. Daher handelt es sich um einen Meinungsaustausch auf Augenhöhe, in den alle Beteiligte gleichsam großes Detailwissen einbringen und damit auch die Forschung positiv beeinflussen. Insgesamt geht es dabei um Social Events, denn viele Beteiligte legen genau darauf hohen Wert. Nach etwa einem halben Jahr Projektlaufzeit hat sich durch die hier vorgestellte Erfassungs- und Organisationsstrategie ein fester Kern von partizipierenden Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern herausgebildet, die sich weiterhin in regelmäßigen Abständen digital über den Projektfortschritt austauschen. Die Partizipationsquote ist in den vergangenen Monaten relativ stabil geblieben, auch wenn sie in den Sommermonaten erwartungsgemäß etwas abflachte (vgl. Abb. 2). Dadurch konnten bis zum Jahreswechsel 2021/22 ca. 27.000

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Personen in die genealogische Datenbank aufgenommen werden, was etwas über ein Drittel der anvisierten Menge umfasst. Allerdings hat die Erfassungsrate deutlich nachgelassen. Während die ersten 10.000 Personen nach 1,5 Monaten erfasst waren, wurde die 20.000er Marke nach 2,5 Monaten erreicht. Nach weiteren fünf Monaten sind lediglich 7.000 weitere Personen hinzugekommen.

Abb. 2: Eintragserfassungsrate des Projekts, Quelle: DES/Verein Computergenealogie.

Datenqualität in Transkriptionsprojekten – Ein Vergleich verschiedener Aufnahmestrategien Das Projekt Hallische Heiratsgeschichten bemühte sich von vornherein um vielfältige Formen der Qualitätssicherung, da nicht nur in der historischen Forschung vielfach Skepsis gegenüber der Entstehung bürgerwissenschaftlicher Datenprojekte besteht. 41 Dies gilt natürlich auch, weil die hohen Anforderungen von Double Keying-Verfahren bei Massendatenerhebungen letztlich häufig nur für hochrangige Projekte finanzierbar sind. Dabei war es von großem Vorteil, dass die Quelle, ihre Struktur und ihre Besonderheiten durch das Vorgängerprojekt Lebensverläufe und Erwerbsbiografien Halle/Saale im 18. Jahrhundert im Wesentlichen bekannt waren. In diesem Projekt (2014–2016) wurden insgesamt elf studentische Hilfskräfte zur Quellenaufnahme tätig, die zuvor in paläografischen Spezialkursen geschult und mit denen über den Aufnahmeprozess die 41 Cathy C. Conrad, Krista G. Hilchey: A review of citizen science and community-based environ-

mental monitoring. Issues and opportunities: in: Environmental Monitoring and Assessment 176 (2011), S. 273–291.

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entsprechenden Richtlinien entwickelt wurden. Insgesamt wurden in diesem Projekt innerhalb von drei Jahren ca. 80.000 Einzeldatensätze zu handschriftlichen Kirchenbucheinträgen der Jahre 1670 bis 1820 erhoben, die Heiraten, Taufen und Sterbefälle betrafen. Im Gegensatz zu den meisten der 20.000 Einträge im Projekt Hallische Heiratsgeschichten waren diese nicht strukturiert, sondern mussten aus dem Fließtext generiert werden. Auch in diesem Projekt gab es regelmäßige Termine zur Analyse von Problemfällen und neuen Anforderungen. Insgesamt wurden die notwendigen Datenmodelle für die Erfassung der Quellen entwickelt. Daher lagen für die Erfassung der Eheregister nun bereits Aufnahmerichtlinien vor, die nur noch in eine projektspezifische Beschreibung auf den Seiten des Vereins für Computergenealogie überführt werden mussten. Zudem konnten zahlreiche Hilfsmittel wie Verzeichnisse zu historischen Orten, Abkürzungsauflösungen, lateinische Begriffe und Berufsbezeichnungen aus diesem Projekt nachgenutzt werden. Weitere Hilfsmittel wie ein Verzeichnis typischer Vornamen in Halle/Saale, 42 Typenbeispiele für die Kurrentschrift anhand des Kirchenregisters, 43 Erfassungsbeispiele oder ein Lexikon zur Schreibung von Berufsbezeichnungen entstanden am Anfang des Citizen-Science-Projektes. Um über die Problematiken der Qualitätsprüfung sowie das Ausmaß von Fehlerquellen besseren Aufschluss zu erlangen, erfolgte eine kleine kontrollierende Fehleranalyse für die Transkriptionsergebnisse. Für die Gruppe der Studierenden wurden die Ergebnisse der Transkription eines Eheregisters aus dem Jahr 1745 der Mariengemeinde mit insgesamt 2.550 Zeichen (Fließtext, fol. 357– 360) mit der Abschrift zweier Seiten aus der tabellierten Aufnahme von Ehen des Jahres 1867 (2.880 Zeichen, fol. 95) verglichen. Gleichzeitig standen Daten aus einem Erhebungsprojekt mit der KI Transkribus 44 zur Verfügung. Im Rahmen eines studentischen Forschungsprojektes nahm die Gruppe unter Leitung von Moritz Müller die Erfassung einer handschriftlichen, tabellierten Bürgerrolle von 1881 vor, wobei insgesamt 996 Zeichen korrigiert wurden.

42 Katrin Moeller: Vornamen der Stadt Halle (Saale) 1670 bis 1820 / First names of the city of Halle

(Saale) 1670 to 1820 (1.0.0) [Data set], Zenodo/Halle 2021, https://doi.org/10.5281/zenodo.4593635.

43 Katrin Moeller: Beispiele für Handschriften aus den Kirchenbüchern der Stadt Halle

(Saale): Großbuchstaben und Kleinbuchstaben / Examples of manuscripts from the church records of the city of Halle (Saale): Upper case and lower case letters (1.0.0). Zenodo/Halle 2021, https://doi.org/10.5281/zenodo.4593701. 44 https://readcoop.eu/de/transkribus/. Erfahrungen dazu vermittelt etwa der Blog: Dirk Alvermann und Autorenkollektiv: Kategorie: Transkribus in der Praxis, in: Blog: Rechtsprechung im Ostseeraum. Digitization & Handwritten Text Recognition, Greifswald 2022, https://rechtsprechungim-ostseeraum.archiv.uni-greifswald.de/de/category/transkribus-in-practice/.

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Anzahl Zeichen Anzahl Fehler Fehlerquote

Transkription Hilfskräfte 2.550 5 0,19 %

Transkription Citizen Science 2.880 8 0,27 %

Transkription KI Transkribus 996 63 6,3 %

Tab. 1: Fehlerquoten in Transkriptionsprozessen, Quelle: Moritz Müller/Katrin Moeller.

Zunächst kann festgestellt werden, dass die automatisierte Erkennung mit Transkribus erwartungsgemäß die schlechtesten Ergebnisse erzielte, auch wenn sie durch das Training der Handschriften annähernd die 5 % Zeichenfehlerrate verzeichnete, die die Software auch ausweist. 45 Auffällig konnte Transkribus zwar die Zahlen weitgehend fehlerfrei erkennen, Streichungen, nachträglich blassere Einträge sowie Strings (Textpassagen) erkannte das Programm allerdings weniger gut. Bei den Namen und Berufen ist bei nahezu jeder Bezeichnung ein Fehler zu verzeichnen. Nur fünf der 21 Namen sind völlig korrekt, zwei lediglich durch den Ausfall des Umlauts markiert. Ähnlich hoch ist die Fehlerquote der Berufe. Während letztere jedoch durch das Bereinigungs- und Klassifikationstool, die Ontologie der historischen, deutschsprachigen Amts- und Berufsbezeichnungen, weitgehend automatisiert bereinigt, normalisiert und anschließend klassifiziert werden konnten, 46 bleibt die schlechte Identifizierung der Namen eine große Herausforderung, weil sie für die genalogischen Forschungen der Bürgerwissenschaften sowie einige der Forschungsprojekte eine wesentliche Grundlage zur Identifikationen von Personen bildet und so auch automatisierte Verfahren in der Anwendung erschwert. Die Fehlerquoten der Citizen Scientists und der studentischen Hilfskräfte waren dagegen ähnlich, wobei – für uns keineswegs erwartungsgemäß – die Transkriptionen der Studierenden leicht besser waren. Dabei war zwar die Handschrift von 1745 subjektiv besser lesbar, die Komplexität der Einträge (Randglossen, unterschiedliche Strukturen) war allerdings auch höher. Dies resultierte bei Studierenden und Citizens in unterschiedliche Arten von Fehlern. Bei den Citizen Scientists gingen Eingabefehler zwar auch auf klassische Lesefehler, gleichzeitig aber auch auf Eingabefehler zurück. Hier wurden etwa Groß- und Kleinschreibung vertauscht oder Berufsangaben und Ortsangaben nicht ganz genau nach der Richtlinie erfasst. Besonders bei den Berufsbezeichnungen tauchten gerne auch »kreative Neuschöpfungen« auf, was mit Informationen über historische Berufsgruppen und -namen aufgefangen wurde. Im 45 READ Cooperative: Häufig gestellte Fragen/Wie genau ist die HTR?, Innsbruck 2022,

https://readcoop.eu/de/transkribus/fragen/.

46 Katrin Moeller: Standards für die Geschichtswissenschaft! Zu differenzierten Funktionen von

Normdaten, Standards und Klassifikationen für die Geisteswissenschaften am Beispiel von Berufsklassifikationen, in: Jana Kittelmann, Anne Purschwitz (Hrsg.), Aufklärungsforschung digital. Konzepte, Methoden, Perspektiven, Halle 2019, S. 17–43.

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zweiten Teil des Projektes treten momentan vor allem höhere Unsicherheiten im Umgang mit den Zeitangaben im Kirchenjahr hervor. Hier machten sich die fehlenden Kenntnisse der historischen Zeitrechnung sowie die mangelnden Lateinkenntnisse bemerkbar. Trotz mehrfacher Schulungen in diesem Bereich konnten die Unsicherheiten nicht vollkommen abgebaut werden. Es ist vor allem ein Qualitätsmerkmal der Citizen-Gruppe, hier akribisch Leseprobleme im DES-Portal erfasst und sichtbar gemacht zu haben sowie ein hohes Interesse an einer möglichst 100 % richtigen Erfassung aller Entitäten und Items aufzubringen. Bei den Studierenden dagegen fanden sich gar keine Lesefehler im ausgewerteten Sample, sondern ausschließlich Erfassungsfehler. So wurden Schlussfolgerungen auf den Familienstand oder das Datum versäumt, wenn sie durch Querschlüsse zu erbringen waren oder Einträge wie »allhier« nicht mit Halle/Saale ergänzt. Da die Hilfskräfte pro Eintrag entlohnt wurden, lässt sich diese Fehlerquote vermutlich auf die Erfordernisse des rationellen Arbeitens zurückführen. Besser funktionierte dagegen die konsequente Einhaltung der Erfassungsrichtlinien und Vorgaben des Codebuches. So wurde für die Erfassung der Berufsangaben ein einheitliches System entwickelt, dass vor allem in der Gruppe der Studierenden eingehalten wurde. Vergleichend lässt sich jedoch feststellen, dass für strukturierte, serielle Daten mit einer gut vorbereiteten Erfassungsrichtlinie das Arbeiten mit Citizen Scientists in hoher Qualität möglich ist. Zudem wurde der technische Support des Qualitätsmanagements im DES intensiv genutzt. Durch die Markierung von Leseunsicherheiten erzeugt DES eine Liste von zu korrigierenden Einträgen. Pro 100 Kirchbucheintragungen wurden dabei im Durchschnitt 20 Leseprobleme markiert, was eine relativ hohe Nacharbeit erforderte. Diese wurden von den Projektadministratoren gesichtet, korrigiert und verbleibende Zweifelsfälle in den wöchentlichen Sitzungen nochmals gemeinsam besprochen. Der Aufwand minimierte sich mit der Zeit erheblich. Insgesamt blieb der Betreuungsaufwand der bürgerwissenschaftlichen Gruppe im Vergleich etwas umfangreicher als in der Studierendengruppe. Dies ist auf die vergleichsweise hohen selbstgestellten Qualitätsanforderungen der Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler und ihre Motivation nach Wissensfortschritten durch die konkrete Arbeit zurückzuführen. Herausfordernd bleibt es, bürgerwissenschaftliches Arbeiten langfristig zu organisieren. Dies war auch bei der Studierendengruppe eine Barriere, konnte aber durch das Entlohnungsprinzip und ggf. die Nachrekrutierung und schnelle Schulung von Arbeitskräften ausgeglichen werden. Die Geschwindigkeit der Datenaufnahme hat im bürgerwissenschaftlichen Projekt nach knapp einem Jahr deutlicher nachgelassen. Insgesamt dürfte in Fragen der Effektivität Transkribus deutlich besser abschneiden als die Studierendengruppe, gefolgt von den Citizens. Zugleich zeigt sich, dass die Integration von neuen

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Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern in die Arbeitsgruppe schwieriger auszubalancieren ist. Zwar greifen die gleichen Arbeitsmittel des E-Learnings und der Selbstaneignung, dennoch sind individuelle Heranführungen nach wie vor unerlässlich, um tatsächlich den Anschluss an die Gruppe zu finden. Letztlich bildet das eigene Engagement und das Arbeiten in einer Gruppe auch eine entscheidende Motivation der bürgerwissenschaftlich Engagierten. Vor allem die Verbindung mit konkreten Forschungsvorhaben bleibt damit zeitlich unkalkulierbar und nur grob planbar. In dieser Hinsicht sind digitale Transkriptionsmöglichkeiten in ihrem konkreten Organisations- und Arbeitsaufwand besser abschätzbar.

Fazit Die bisherigen Erfahrungen aus dem Projekt Hallische Heiratsgeschichten deuten eine geradezu rasante Entwicklung der populären Genealogie hinsichtlich ihrer Standards in der Datenerfassung und im Datenmanagement an. Die bisherige Zusammenarbeit im Rahmen des Projektes zeigt, dass die bürgerwissenschaftliche Genealogie über hohe Kompetenzen im Umgang mit seriellen Quellen und bei der Erstellung von Massendatenbanken verfügen, die sich auch in der Qualitätssicherung nicht verstecken braucht. Dabei gab es in diesem Fall allerdings eine intensive fachwissenschaftliche Betreuung, die auch in der Nachwuchsausbildung der wissenschaftlichen Disziplin erforderlich ist, um zu ähnlichen Ergebnissen zu kommen. Es sind vor allem Fragen der Effizienz, die Digital Humanities-Ansätze besonders attraktiv erscheinen lassen. Allerdings sind Daten aus solchen Projekten nur für bestimmte Forschungsanwendungen zweckdienlich zu verwenden. Dort, wo es auf die besondere Genauigkeit ankommt, wie etwa bei Nachnamen von Personen, scheint dagegen gerade die Kooperation mit Genealoginnen und Genealogen gewinnbringend, um hier auch für Massendaten hohe Qualitätsanforderungen zu erfüllen. Der Blick in die Wirtschaftsund Sozialgeschichte anderer Länder zeigt, dass sich durch den gezielten Aufbau genealogischer Datenbanken Forschungsvorhaben realisieren lassen, welche es erlauben, Basisprozesse der historischen Gesellschaftsentwicklung im Lichte neuer Quellen zu bewerten. 47 47 Vgl. bspw. die Beiträge von Reto Schumacher, Luigi Lorenzetti, Bart van de Putte, Michel Oris,

Muriel Neven oder Koen Matthijs in Marco H.D. van Leeuwen, Ineke Maas (Hrsg.), Marriage choices and class boundaries, Cambridge 2005. Giulia Corti, Maurizio Pisati: Marriage choices, social homogamy and modernization in Milan, 1890–1899 and 1950–1959, in: The History of the Family 26.3 (2021), S. 336–376 oder Ineke Maas, Marco H. D. van Leeuwen, Partner choice in the Netherlands, 1813–1922. The changing importance of ascribed and achieved status, in: The History of the Family 24 (2019), S. 123–148.

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René Smolarski Mehr als Zacken zählen? Die Philatelie als Paradebeispiel außeruniversitärer Forschungsarbeit 1

Einleitung Die Philatelie ist nach wie vor ein Stiefkind in der Familie der historischen Grundwissenschaften, auch wenn es verschiedentlich Versuche aus dem akademischen und philatelistischen Umfeld gab, diese Tatsache zu ändern. 2 Auf die Frage, ob dieser Sachverhalt dem Gegenstand der Philatelie, der sich nicht allein in der ikonographischen Analyse von Briefmarken, dem Zählen von Zacken und der Suche nach Wasserzeichen und Plattenfehlern erschöpft, gerecht wird, soll in diesem Rahmen nicht weiter eingegangen werden. Dies gilt auch für die Frage, ob eben jener Sachverhalt nicht auch auf die entsprechenden Entstehungszusammenhänge zurückgeführt werden kann. Fest steht jedoch: Die Beschäftigung mit der Philatelie und ihren besonderen quellentechnischen und

1 Im Laufe des Beitrages soll die Wendung »außeruniversitäre Forschung« synonym zum Begriff Citizen Science Verwendung finden. Grund dafür ist, dass der in der Wissenschaft gebräuchliche Begriff der Citizen Science in der außeruniversitären Philatelie praktisch keine Verwendung findet, der Beitrag sich aber auch an ein außeruniversitäres Publikum richtet. 2 Hier sei vor allem auf die Arbeiten Walter Benjamins und Aby Warburgs verwiesen, die zwar nicht direkt auf die Aufnahme der Philatelie in den Kreis der historischen Grundwissenschaften gerichtet waren, gleichwohl aber den Wert der Philatelie und ihrer Quellen für die historische Standortbestimmung einer Gesellschaft betonten. Siehe hierzu unter anderem die Beiträge von Frank Zöllner, Stefan Haug und Detlev Schöttker in Dirk Naguschewski, Detlev Schöttker (Hrsg.): Philatelie als Kulturwissenschaft. Weltaneignung im Miniaturformat, Berlin 2019. Aus Sicht der außeruniversitären Philatelie siehe vor allem Joachim Helbig: Ist Philatelie eine Hilfswissenschaft?, in: Postgeschichte – Historie Postale – Storia Postale 82 (2000), S. 19–28. Siehe hierzu auch Pierre Smolarski, René Smolarski: Wissenschaftliches Stiefkind und amateurhafte Liebhaberei: Die Philatelie als historische Grundwissenschaft, in: Étienne Doublier, Daniela Schulz, Dominik Trump (Hrsg.): Die Historischen Grundwissenschaften heute. Tradition – Methodische Vielfalt – Neuorientierung, Köln/Weimar/Wien, S. 95–119.

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methodischen Zugängen blieb über weite Strecken nahezu ausschließlich von der »Laienforschung« getragen. Die Auseinandersetzungen mit den spezifischen Quellen und Fragestellungen fanden und finden damit nach wie vor hauptsächlich innerhalb einer Community statt, die sich eher verbands- oder vereinsartig organisiert, als dass sie sich als institutioneller Teil des akademischen Betriebs etabliert hätte. Hinzu kommt die Tatsache, dass sich die Philatelie als solche aufgrund ihrer – im Vergleich zu Numismatik, Heraldik oder Sphragistik – jungen Geschichte mit historischen Epochen befasst, die einem Überfluss an schriftlichen Quellen gegenüberstehen. Trotz dieses Befundes erscheint die Philatelie insbesondere vor den verschiedenen wissenschaftlichen turns und Schwerpunktverlagerungen in der Geschichtswissenschaft, vom iconic turn bis hin zu Fragen von Laien- und Bürgerforschung, im Hinblick auf eine ganze Reihe von Forschungsfragen, beispielsweise zur Mentalitätsgeschichte, zur Mediengeschichte oder zu Fragen der Erinnerungspolitik als äußerst anschlussfähig. Ziel dieses Beitrages ist es nun, das Potential einer engeren Einbindung der außeruniversitären philatelistisch-historischen Forschung in die universitäre Forschung auszuloten. Dazu soll in einem ersten Abschnitt auf die Philatelie als Briefmarkenkunde, die sich aber nicht allein auf die Briefmarke als Quelle beschränkt, eingegangen werden. Anschließend folgen zwei Abschnitte, die sich einerseits mit dem status quo der Philatelie und Postgeschichte in ihrem Verhältnis zur universitären Geschichtswissenschaft sowie andererseits mit den Potentialen einer außeruniversitären philatelistisch-historischen Forschung für die Geschichtswissenschaft auseinandersetzen. Gerade in diesem Zusammenhang gilt es den methodischen Mehrwert der Einbeziehung bislang vernachlässigter Quellenbestände herauszuarbeiten. Abgeschlossen wird der Beitrag mit einem kurzen Resümee als Plädoyer für eine Stärkung der bislang nur ansatzweise erfolgten Verzahnung universitärer und außeruniversitärer historischer Forschung auf Basis philatelistischer Quellen.

Philatelie ist mehr als Briefmarke! Dieser Feststellung muss einer Auseinandersetzung mit der Frage, welchen Beitrag die (außeruniversitäre) historische Arbeit mit philatelistischen Quellen für die historische Forschung leisten kann, zwangsläufig vorangestellt werden. Zumal der Blick auf die philatelistische Forschung häufig auf ihre Primärquelle reduziert wird. Zwar sind Briefmarken, wie Gerhard Paul konstatiert, gerade für die historisch-politische Kulturforschung eine ausgesprochen lohnenswerte

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Quelle, 3 der bereits Aby Warburg 4 und Walter Benjamin 5 ihre Aufmerksamkeit schenkten, doch geht die Philatelie als solche weit über das Markenbild und eine ikonographische Analyse desselben hinaus. Des Weiteren besitzt die Briefmarke als historisches Bildmedium, wie Björn Onken herausgearbeitet hat, auch ein »beachtliches didaktisches Potential« 6. Einerseits wären an dieser Stelle klassische Archivquellen zu nennen, die mit der Entstehungsgeschichte der einzelnen Marken verbunden sind. Die Rekonstruktion dieser Entstehungsgeschichte erlaubt einen tieferen Einblick in die damit verbundenen Beweggründe und Argumentationslinien für die Auswahl des letztlich verausgabten Markenbildes. Hierzu gehören neben der entsprechenden Korrespondenz, der an der Entstehung beteiligten Institutionen, Gremien und Einzelpersonen, auch Konkurrenzentwürfe anderer Künstler. Hinzu kommen ferner die überlieferten Reaktionen aus dem In- und Ausland auf die Herausgabe bestimmter Ausgaben zu konkreten – i. d. R. politisch hochbrisanten – Themen. 7 Andererseits muss der Blick um eine Reihe zusätzlicher philatelistischer Quellen erweitert werden. Zu nennen wären hier unter anderem die Ganzsachen, bei denen es sich um Briefumschläge, Postkarten oder Kartenbriefe mit eingedrucktem Wertstempel in Höhe des jeweils erforderlichen Portos in Form 3 Vgl. Gerhard Paul: Vom Bild her denken. Visual History 2.0.16, in: Jürgen Danyel, Gerhard Paul, Annette Vowinckel: Arbeit am Bild. Visual History als Praxis, Göttingen 2017, S. 15–72, hier S. 32–33. Siehe hierzu auch Gottfried Gabriel: Ästhetik und Politische Ikonographie der Briefmarke, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 54.2 (2009), S. 183–201. 4 Siehe hierzu vor allem Aby Warburgs Vortrag über Die Funktion des Briefmarkenbildes im Geistesverkehr der Welt, den er am 13. August 1927 in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg in Hamburg hielt. Siehe dazu unter anderem Frank Zöllner: »Im Geistesverkehr der Welt«. Aby Warburg und die Philatelie, in: Das Archiv 2 (2016), S. 14–21 und Gottfried Gabriel: Die politische Bildersprache der Briefmarke. Beispiel aus der deutschen Geschichte, in: Pierre Smolarski, René Smolarski, Silke Vetter-Schultheiß (Hrsg.): Gezähnte Geschichte. Die Briefmarke als historische Quelle, Göttingen 2019, S. 21–36, hier S. 24. 5 Hier vor allem der von Benjamin verfasste Essay Briefmarken-Handlung, der 1927 erst in der Frankfurter Zeitung erschien und ein Jahr später in Benjamins Aufsatzsammlung Einbahnstraße nachgedruckt worden war. Vgl. Walter Benjamin: Briefmarken-Handlung, in: Detlev Schöttker (Hrsg.): Walter Benjamin: Werke und Nachlass. Kritische Gesamtausgabe, Band VIII, Frankfurt a. M. 2009, S. 62– 65. Siehe dazu auch Gottfried Gabriel: Ästhetik und Politische Ikonographie der Briefmarke, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 54.2 (2009), S. 183– 201, hier S. 184–185. 6 Björn Onken: Geschichtspolitik mit Bildern in Millionenauflage. Anmerkungen zu den Briefmarken der frühen Bundesrepublik mit einem Ausblick auf aktuelle Tendenzen, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013), S. 61–77, hier S. 61. 7 Beispielhaft sei hier auf die Vertriebenenmarken der Bundesrepublik verwiesen, deren Herausgabe stets zu kontroversen Diskussionen führte. Siehe dazu René Smolarski: Kalter Krieg auf zweieinhalb Quadratzentimetern. Die Vertriebenenmarke der Bundesrepublik Deutschland als Medium politischer Propaganda, in: Achim Thomas Hack, Klaus Ries (Hrsg.): Geschichte zum Aufkleben. Historische Ereignisse im Spiegel deutscher Briefmarken, Stuttgart 2020, S. 101–121.

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aktueller Dauer- oder Sondermarken, aber teilweise auch mit gänzlich anderer Bildgestaltung handelt, und die, sofern postamtlich verausgabt, einen mit der Briefmarke vergleichbaren Entstehungsprozess durchlaufen haben. Ganzsachen bieten jedoch einen größeren Raum für Bild- und Textdarstellungen, so dass gerade sie eine exponierte Position im Hinblick auf die propagandistische Nutzung von Postwertzeichen einnehmen. Einen noch breiteren Raum bieten Ansichtskarten, die seit dem ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in unüberschaubar großer Zahl und Vielgestaltigkeit in Bezug auf Motiv und Herausgeberschaft produziert wurden. Mit der Philokartie widmet sich deren Erforschung eine eigene, ebenfalls stark durch außeruniversitäre Akteure geprägte, Subdisziplin der Geschichtswissenschaft. 8 Über die Postwertzeichen und Kartenbilder hinaus sind auch die aufgetragenen Stempel für eine historische Interpretation eines philatelistischen Dokuments von besonderer Bedeutung. Neben den obligatorischen Tagestempeln, die Auskunft über den Zeitpunkt und den Weg der Postsendung geben, sind hier vor allem die sog. Beistempel gemeint. Bei diesen handelt es sich um Aufstempelungen und -drucke, die in der Regel von der Absenderpostanstalt aufgebracht worden und die für zahllose Ereignisse und Themen – vor allem aus den Bereichen Werbung und Volkserziehung – existieren. Ferner gibt es zudem Stempel, die von der Postverwaltung des Adressatenlandes als Reaktion auf inhaltliche Aussagen des postalischen Erzeugnisses, wie das Marken- oder Postkartenbild oder die vom Absenderland verwendeten Stempel, aufgebracht wurden. Auf diese Weise entstand nicht selten der kuriose Umstand, dass sich über die eigentliche Kommunikationsebene der Postsendung hinaus und von dieser bisweilen vollkommen unabhängig eine zweite Kommunikationsebene zwischen den beiden miteinander im Konflikt stehenden Postverwaltungen des Absender- und Adressatenlandes eröffnete. Diese erlaubt eine vom ursprünglichen Inhalt der Postsendung unabhängige Einsicht in die politischen Rahmenbedingungen des Kommunikationsprozesses. Beispielhaft sei hier auf die beiden abgebildeten Brief- bzw. Ganzsachenausschnitte (siehe Abb. 1) verwiesen, in denen der innerdeutsche Ost-Westkonflikt in den 1950er und frühen 1960er Jahren deutlich hervortritt. Beide Postsendungen liefen jeweils von Ost- nach Westberlin, und in beiden Fällen sah sich die Postverwaltung der Westseite dazu veranlasst, die mit der Postsendung und den davon unabhängig übermittelten Informationen zu monieren. Dies betraf im ersten Fall (siehe Abb. 1, links) den unter dem Abbild des Brandenburger Tores stehenden Satz »Berlin war, ist und wird die Hauptstadt Deutschlands sein«, dessen Aussage durch einen entsprechenden hinzugefügten Stempel seitens der 8 Vgl. Ben Kaden: Was ist Philokartie?, in: Ben Kaden (Hrsg.): Karten zur Ostmoderne, Leipzig 2020, S. 2–5.

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Westberliner Behörde zwar nicht prinzipiell abgestritten, jedoch insofern klargestellt wurde, als dass dies »nicht unter kommunistischer Diktatur« geschehen würde. Das man der grundsätzlichen Aussage, wonach Berlin die Hauptstadt Gesamtdeutschlands gewesen sei und auch weiterhin bliebe, in Westberlin durchaus zustimmte, zeigt ein zehn Jahre jüngerer Beleg (siehe Abb. 1, rechts), in der man sich an dem der Postsendung hinzugefügten Stempel der DDRPostverwaltung, der Berlin als »Hauptstadt der DDR« propagierte, störte, und diese Aussage ebenfalls durch Hinzufügung eines eigenen Stempels dahingehend berichtigte, dass Berlin die »Hauptstadt Deutschlands« und »nicht der Sowjetzone« sei.

Abb. 1: Gegenstempel in Reaktion auf einen Teil einer Ganzsache der DDR (links) und einen Beistempel auf einem Brief von Ost- nach West-Berlin (rechts); Quelle: Sammlung René Smolarski.

Neben der Briefmarke konnte somit auch der Stempel zu einem Träger eigenständiger (politischer) Botschaften werden und dadurch auch Konflikte in der Postkommunikation verursachen, die auf der ursprünglichen Kommunikationsebene zwischen Briefsender und Briefempfänger überhaupt nicht existierten. Bei dieser oft unterschwelligen Kommunikation zwischen zwei Staaten in einer per se privaten Sphäre handelt es sich um ein Themenfeld, dass in der universitären Geschichtswissenschaft bislang – nicht zuletzt aufgrund der unüberschaubaren Anzahl der hier relevanten und nur selten institutionell archivierten Dokumente – weitestgehend vernachlässigt wurde. Durch den Zugriff auf private Sammlungsbestände und das in der bürgerwissenschaftlichen philatelistischen Forschung bestehende Wissen über institutionelle Reaktionen auf Postwertzeichen und Poststempel kann diese Lücke unter Umständen zu weiten Teilen geschlossen werden. Über die eigentlichen philatelistischen Objekte wie Briefmarken, Postkarten und Stempeln hinaus gibt es zudem einen weiteren für die historische Interpretation bedeutenden Quellentyp, der im Kontext der Philatelie steht. Gemeint sind die verschiedenen offiziellen wie inoffiziellen philatelistischen Presse-

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erzeugnisse. 9 Hier vor allem die Zeitschriften der Sammlerverbände, die nicht nur einen Einblick in die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, sondern auch in die Entwicklung der Philatelie als Sammlungsdisziplin und damit des Sammelns als wissenschaftlicher Kulturtechnik geben. 10 Dies umso mehr, als sich, wie Denise Wilde in ihrer Arbeit über das Sammeln von Dingen auch mit Bezug auf die Philatelie feststellt, nicht nur die Geisteswissenschaften generell des Sammelns bedienen, »um Wissen zu generieren.« 11 Somit gehören natürlich auch die Quellen des philatelistischen Sammelns, also Kataloge, Ausstellungsexponate und andere Ordnungsobjekte zu den Quellen einer historischen Philatelie, die sich nicht allein als Briefmarkenkunde begreift. Insgesamt lässt sich feststellen, dass für die Untersuchung philatelistischer Quellen der Blick allein auf die Briefmarke fehlgeht, da Kartenbild, Postwertzeichen und Sonderstempel nicht selten mit dem Inhalt der Sendung eine Einheit bilden. Gerade bei Belegen, die aufgrund eines früher weit verbreiteten philatelistischen Interesses als Sammlerbelege entstanden sind – aber eben nicht nur bei diesen –, sind diese Bestandteile nicht zufällig ausgewählt, sondern eng miteinander verbunden. Der intendierten propagandistischen Wirkung dieser Medien tat die Versendung von solchen eindeutig identifizierbaren Sammlerbelegen freilich mitnichten einen Abbruch, da sich damit ja die Zahl der mit entsprechenden Postwertzeichen und Sonderstempeln versehenen Postsendungen weiter erhöhte. Auf diese Weise wurde die politische Botschaft demnach durch diese philatelistischen Bemühungen eher noch weiter verstärkt. Beispielhaft sei in diesem Zusammenhang auf eine Postkarte anlässlich der Saarabstimmung von 1935 verwiesen (siehe Abb. 2). Die verwendete Karte, mit der man an die deutschen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg angeblich für das Saarland gefallen waren, erinnern und somit zu einer entsprechend pro-deutschen Abstimmung am 13. Januar 1935 aufrufen wollte, wurde weiteres Propagandamaterial, wie z. B. Briefmarken, Plakate etc. auch von verschiedenen Stellen – neben offiziellen Behörden im Deutschen Reich auch prodeutsche Organisationen im Saarland – hergestellt und in Umlauf gebracht. Auf diese Weise sollte die Abstimmung zugunsten der Angliederung des Saarlandes an das Deutsche Reich beeinflusst werden. Dass bei der Versendung entsprechender Postkarten und Briefe nicht immer und wenn, nicht ausschließlich politische Motive, sondern nicht selten auch 9 Im digitalen Zeitalter sind hier auch vermehrt digitale Quellen, wie Blogs, Online-Foren und Auktionskataloge einzubeziehen. 10 Zum Aspekt des Sammelns als Kulturtechnik siehe unter anderem Anke te Heesen, Emma C. Spary: Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2001 und Manfred Sommer: Sammeln. Ein philosophischer Versuch, Frankfurt am Main 2002. 11 Denise Wilde: Dinge Sammeln. Annäherungen an eine Kulturtechnik, Bielefeld 2015, S. 15.

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philatelistische Interessen im Vordergrund gestanden haben, zeigt der vom Absender verfasste Inhalt dieser am Abstimmungstag versandten und mit dem entsprechenden Sonderstempel zum Abstimmungstag und einer Volksabstimmungsmarke versehenen Postkarte, die von Saarbrücken nach Heidelberg lief. Der Verfasser schrieb: »Mein lieber Hans! Hiermit sende ich Dir Grüße von der Saarabstimmung, Karte u[nd] Marken (Stempel) haben nicht nur Sammlerwert, sondern vor allem historische Bedeutung. Grüße an die Eltern u[nd] die Großmutter. Heil Hitler Dein Onkel Fritz.«

Abb. 2: Propagandakarte Saarabstimmung, 1935 (Vorderseite und Rückseite), Quelle: Sammlung René Smolarski.

Kartenbild, Postwertzeichen und Sonderstempel bilden hier mit dem Inhalt der Karte eine Einheit. Nichts davon ist zufällig gewählt, sondern alles eng miteinander verbunden. Der intendierten propagandistischen Wirkung aller hier versammelten philatelistischen Medien tat die Versendung solcher Sammlerbelege, wie erwähnt, keinen Abbruch, da sich damit ja nicht nur die Zahl der mit Abstimmungs-Postwertzeichen und Sonderstempeln versehenen Postsendungen, sondern auch der Versand der für diesen Anlass hergestellten Postkarten erhöhte. Dies war auch dann der Fall, wenn die jeweiligen Absender dem Geschehen selbst keine so große politische wie historische Bedeutung beimaßen, wie der oben zitierte Postkartenschreiber.

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Die Frage danach, ob die Verwendung dieser Medien an dem letztlich so eindeutigen Abstimmungsergebnis überhaupt einen Anteil hatte, kann auf dieser Grundlage jedoch nicht beantwortet werden. Dennoch geben sowohl die verwendeten Kartenbilder als auch die im Kartentext enthaltenen Informationen einen, wenn auch sehr persönlichen und nicht zwangsläufig zu verallgemeinernden, Einblick in die Mentalität der von der Abstimmung betroffenen Personen am Abstimmungstag. Für eine philatelistisch-historische Analyse sind somit nicht Briefmarken, Ganzsachen oder Ansichtskarten allein, sondern vor allem die überlieferten gelaufenen Belege und die in diesen enthaltenen Informationen zum Beweggrund sowohl des Postversandes als auch der Frankaturauswahl von Interesse. Unter dem Schlagwort der Social Philately, die sich auf der Basis der vom postalischen Dokument preisgegebenen Informationen der Analyse geschichtlicher, wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Zusammenhänge widmet, 12 rücken zunehmend die vollständigen Postsendungen in den Blick der philatelistisch-historischen Forschung. Die Philatelie ist eben mehr als die Briefmarke.

Philatelie und Postgeschichte in der universitären Geschichtswissenschaft In seinem Portrait der Deutschen Bundespost, das unter dem Titel Damit wir in Verbindung bleiben 1982 erschien, stellte der damalige Bundespostminister Kurt Gscheidle (SPD) in Bezug auf eine der zentralen seinem Ressort unterstellten Institutionen, die Deutsche Bundespost, allgemeingültig fest: »Die Post ist für die meisten Menschen unersetzlich, ja, lebensnotwendig. Dennoch ist sie kein Thema, das Menschen in ihrer Freizeit beschäftigt, wenn wir einmal von einigen Liebhabern und, natürlich, von den Philatelisten absehen, die in der Tat weit über die Briefmarken hinaus an der Post interessiert sind.« 13

Ähnlich wie Gscheidle hier das Interesse der Gesellschaft an der Institution Post und ihren Aufgaben schildert, ließe sich auch das Interesse der Geschichtswissenschaft an postgeschichtlichen Fragestellungen beschreiben. Bereits 1984 kam auch der Nahost-Historiker Donald M. Reid zu einem ähnlichen Befund, als er in einem Beitrag über den Symbolismus von Briefmarken als Quelle historischer Forschung konstatierte, dass zwar historische Untersuch12 Siehe hierzu unter anderem Karl Louis: Im Trend: »Social Philately« – Gesellschaftsgeschichtliche Philatelie, in: Philatelie 69.477 (2017), S. 34 und 478, S. 26, sowie Reinhard Krüger: Social Philately in der Diskussion, in: Philatelie 70.487 (2018), S. 24 und 70.487 (2018), S. 34. 13 Kurt Gscheidle: Damit wir in Verbindung bleiben. Portrait der Deutschen Bundespost, Stuttgart 1982, S. 11–12.

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ungen zu einzelnen nationalen Postinstitutionen vorhanden wären, diese jedoch nur wenig Rezeption innerhalb der universitären Geschichtswissenschaft fänden. Zudem würde in den wenigen allgemeinen Übersichtswerken, 14 die darauf Bezug nähmen, lediglich die Bedeutung von Dampfschiffen, Lokomotiven und Telegraphen für die Postrevolution im 19. Jahrhundert hervorgehoben. Reid gestand zwar zu, dass die Telegraphenleitung seit etwa 1872 die schnelle Übermittlung diplomatischer Depeschen, Neuigkeiten und Börsenkurse von London nach New York, Bombay, Tokyo oder Adelaide ermöglichten, die zeitgleiche Beschleunigung des einfachen und für nahezu jedermann verfügbaren Postverkehrs jedoch stets vernachlässigt würde. Diese Beschleunigung erlaubte es jedoch bereits zu dieser Zeit, eine Nachricht in Form eines Briefes an nahezu jeden Ort in der Welt binnen weniger Tage oder Wochen statt zuvor in Monaten zu übermitteln. 15 Insbesondere die Einführung eines einheitlichen Portos und damit verbunden der Briefmarke als Gebührenquittung für die nunmehr bereits vom Absender erfolgten Bezahlung dieser Gebühren war für die Beschleunigung der postalischen Kommunikation ein wichtiger Schritt. Die Einführung der Briefmarken, als sammelbare und -würdige Objekte wiederum bedingte die Entstehung einer organisierten Philatelie, die sich zunehmend auch historisch-wissenschaftlich mit ihrem Sammelobjekt auseinandersetzte. Eine signifikante Intensivierung der Postgeschichtsforschung setzte jedoch trotz dieses Aufrufs nicht ein. Vielmehr entstammen ein Großteil der historischen Analysen der Postgeschichte, wenn auch nicht alle, 16 bis heute dem Umfeld der organisierten Philatelie oder postgeschichtlich interessierten bürger-

14 Reid führt hier beispielhaft die folgenden an: Eric J. Hobsbawm: Age of Capital 1848–1875, New York 1976 (dt. Eric J. Hobsbawm: Die Blütezeit des Kapitals. Eine Kulturgeschichte der Jahre 1848–1875, Zürich 1979) und John Patrick Tuer Bury: New Cambridge Modern History. The zenith of European power 1830–70, Cambridge 1967. 15 Vgl. Donald M. Reid: The Symbolism of Postage Stamps. A Source fort he Historian, in: Journal of Contemporary History 19.2 (1984), S. 223–249, hier S. 225. 16 Für das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert sei hier unter anderem auf das entsprechende Kapitel in Siegfried Weichleins Habilitationsschrift verwiesen. Vgl. Siegfried Weichlein: Nation und Region. Integrationsprozesse im Bismarckreich, 2. Aufl., Düsseldorf 2006, S. 105–190. Zu verschiedenen Aspekten der Postgeschichte siehe auch Josef Foschepoth: Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik, Göttingen 2013. Wolfgang Behringer: Im Zeichen des Merkur, Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2013; Ders.: Thurn und Taxis. Die Geschichte ihrer Post und ihrer Unternehmen, München u. a. 1990. Wolfgang Lotz, Gerd R. Ueberschär: Die Deutsche Reichspost 1933–1945. Eine politische Verwaltungsgeschichte, 2 Bde., Berlin 1999 und Karin Amtmann: Post und Politik in Bayern von 1808–1850. Der Weg der königlich-bayrischen Staatspost in den Deutsch-Österreichischen Postverein, München 2006.

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wissenschaftlichen Kreisen. 17 Diese sind jedoch nach wie vor in der Regel außeruniversitär engagiert und nahmen und nehmen sich in verschieden Arbeitsgruppen den Fragen der postalischen Kommunikation an. In der universitären Geschichtswissenschaft sind sowohl die Philatelie als auch die Postgeschichte hingegen eher randständige Themen. 18 Dies ist umso erstaunlicher als der Post in der Kommunikationsgeschichte und damit in der Gesellschaftsgeschichte in vielen Bereichen eine besondere Bedeutung zukommt. Diesen Widerspruch hatte schon der eingangs erwähnte Gscheidle festgestellt, als er diesbezüglich schrieb, dass »[a]lle erwachsenen Bürger […] nahezu täglich mit der Post zu tun [hätten]«, die damit einhergehende »Wechselbeziehung [jedoch] in der Regel nur dann [registriert würde], wenn sie gestört ist und nicht funktioniert.« 19 Wenn die Störung aber beseitigt wäre und sich die Lage normalisiert hätte, würde das Interesse sofort wieder absinken. Die Post sei eben, so der ehemalige Postminister, etwas Selbstverständliches.

Was kann die außeruniversitäre Philatelie für die Geschichtswissenschaft leisten? Das Spektrum der Fragestellungen aus historischer und bildwissenschaftlicher Perspektive, für welche philatelistische Quellen interessant sein können, ist, wie bei anderen ubiquitären Bildquellen auch, sehr breit und kann hier nur ausschnittsweise angedeutet werden. Ähnlich wie Plakate spielen philatelistische Quellen und hier natürlich vor allem die Briefmarke selbst, insbesondere in der Politik- und Mentalitätsgeschichte eine zentrale Rolle. 20 So geben sie nicht zuletzt einen Einblick in gesellschaftspolitische Normen und zeitgenössische Wertvorstellungen, wie etwa das jeweils propagierte Verhältnis der Ge17 Neben unzähligen heimatgeschichtlich motivierten »Postgeschichten« seien hier wenige Publikationen beispielhaft angeführt. So unter anderem Jürgen Ruszkowski: Post & Seefahrt. Die Rolle der Seefahrt in der Postgeschichte, Berlin 2019. Wolfgang Reifferscheid: Rohrpost/Stadtrohrpost Berlin. Die Rohrpost in Berlin bis zum Ende des Dritten Reichs, Berlin 2018. Horst Diederichs: Die Umgestaltung des deutschen Postwesens zwischen der Französischen Revolution (1792) und dem Wiener Kongreß (1814/15), Bietigheim-Bissingen 2016 und Janusz Mozdzan: Postgeschichte des Konzentrationslagers Lublin – Majdanek. Über das Lager, Briefe und Menschen, Manching 2010. 18 Ein Blick in die Publikationen des letzten Jahres zeigt jedoch, dass die Wissenschaft zumindest die Philatelie selbst stärker in den Blick genommen hat. Genannt seien hier beispielhaft die folgenden Sammelbände: Dirk Naguschewski, Detlev Schöttker (Hrsg.): Philatelie als Kulturwissenschaft. Weltaneignung im Miniaturformat, Berlin 2019. Hack, Ries: Geschichte zum Aufkleben und Smolarski, Smolarski, Vetter-Schultheiß: Gezähnte Geschichte. 19 Gscheidle 1982, S. 12. 20 Vgl. Katharina Weissbach: Plakate als Quellen für die Visual History, in: Danyel, Paul, Vowinckel: Arbeit am Bild., S. 200–216, hier S. 201.

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schlechter 21, das Verständnis von Arbeit in einer Arbeitsgesellschaft 22 oder viele andere Aspekte des gesellschaftlichen Lebens. Darüber hinaus gibt die Entstehungsgeschichte einzelner Postwertzeichen aber auch Auskunft über wirtschaftspolitische Zusammenhänge, wie den rasanten Wertverfall in Zeiten der Inflation oder die großen Auflagenhöhen und Sperrwertkonstruktionen zur Devisenbeschaffung in der DDR. 23 Aus politischer Sicht sind philatelistische Erzeugnisse und hier, neben der Briefmarke, eben auch Ganzsachen und Stempel jedoch vor allem für die Rekonstruktion außen- und innenpolitischer Verhältnisse und deren zeitgenössische Rezeption von besonderem Aussagewert. So geben sie auf der einen Seite Einblicke in die alltäglich erleb- und spürbaren Beziehungen zweier Staaten, wenn diese die untereinander bestehenden Konflikte in so genannten Postkriegen 24 auch auf die Ebene der an sich unpolitischen, grenzüberschreitenden zwischenmenschlichen Kommunikation verlagerten, wie dies beispielsweise in jüngster Zeit im Streit um den Landesnamen Nordmazedoniens zwischen diesem und Griechenland 25 oder etwas länger zurückliegend in den verschiedenen Sanktionsmaßnahmen Ost- und Westdeutschlands im Kontext des Kalten Krieges erfolgte. 26 Zwar lassen sich diese Geschehnisse häufig viel besser aus den klassischen Quellen rekonstruieren, doch verspricht die Berücksichtigung philatelistischer Quellen und die Untersuchung des damit zusammenhängenden Archivmaterials Einblicke aus anderen Perspektiven. So zeigen beispielweise die Reaktionen der Bevölkerung auf Sanktionierungsmaßnahmen der Postverwaltung der DDR gegenüber nicht gebilligten Briefmarkenausgaben der Bundespost, wie der Vertriebenenmarke von 1955 (siehe Abb. 3), die ambivalente Einstellung der Bevölkerung zu diesem Thema. Auf der einen Seite sah man sich durch diese Maßnahmen gegängelt und fasste es als eine Beleidigung sowohl der Bundespost als auch der Bundesrepublik als Ganzes 21 Siehe hierzu unter anderem René Smolarski: »… zwei Welten im Leben eines Volkes«. Nationalsozialistische Geschlechterrollen im Spiegel der Briefmarken des Dritten Reiches (1933–1945), in: Smolarski, Smolarski, Vetter-Schultheiß: Gezähnte Geschichte, S. 369–397. 22 Siehe hierzu Pierre Smolarski: 100 Jahre Arbeit. Ein Essay zur Alltagsästhetik der Arbeit auf deutschen Briefmarken, in: Smolarski, Smolarski, Vetter-Schultheiß: Gezähnte Geschichte, S. 341– 368. 23 Vgl. Horst Ansorge, Manfred Mittelstedt: Staatlich gesteuertes Hobby – Philatelie in der ehemaligen DDR, in: Post- und Telekommunikationsgeschichte 2 (2001), S. 81–87, hier S. 82. 24 Zum Begriff des Begriffes Postkrieg im Allgemeinen sowie zu den jeweils sanktionierten Ausgaben im internationalen Postverkehr siehe unter anderem: Jan Hejs: »Postkrieg«. Spezialkatlog Postkrieg 1870–2008, 7. Auflage, Amsterdam 2011. 25 Siehe hierzu unter anderem Florian Martin Müller: Archäologische Funde als Motive auf Briefmarken zur Begründung nationaler Identität und staatlicher Souveränität am Beispiel des Konfliktes zwischen Mazedonien und Griechenland, in: Smolarski, Smolarski, Vetter-Schultheiß: Gezähnte Geschichte, S. 279–312. 26 Siehe hierzu u. a. Smolarski: Kalter Krieg, 2020.

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durch die Postverwaltung der Ostzone auf, während man sich auf der anderen Seite einer ganzen »Flut von Kommunistischen [sic!] Marken« aus diesem Teil Deutschlands ausgesetzt sah. 27 Darüber hinaus fühlten sich die Postkunden jedoch auch in gewisser Weise betrogen, wenn Briefmarken als »Mittel für politische Propaganda oder Befriedigung von Gruppeninteressen« eingesetzt wurden und in Reaktion »nicht [mehr] dem regulären Verwendungszweck dienen« 28 konnten. Das Massenkommunikationsmittel Briefmarke verfehlte damit dennoch seine – wenn auch nicht quantifizierbare – Wirkung nicht und machte den von staatlicher Seite forcierten Systemkonflikt auch für weite Teile der Bevölkerung und noch dazu in der als unpolitisch empfundenen privaten Kommunikation unübersehbar.

Abb. 3: Sondermarke: 10 Jahre Vertreibung (2. August 1955, Michel, BRD, 215).

Die damit einhergehende Bedeutung der bewussten Themensetzung bei der Auswahl der Briefmarkenmotive und Stempelaussagen zeigt sich jedoch nicht allein auf der außenpolitischen Ebene, sondern auch und gerade auf der Ebene der Innenpolitik. 29 Michael Sauer stellt in Bezug auf die Briefmarke in diesem 27 Harald Naundorf an das Bundespostministerium, 8. August 1955, BArch B 257 / 42244, Bl. 9. 28 Mitschrift einer Sendung Bayerischen Rundfunks, 8. November 1955, 8:25 Uhr (Hausfrauenfunk), BArch B 257 / 42244, Bl. 29. 29 Als besonders herausragendes Beispiel für die politische Themensetzung, die sich sowohl nach innen als auch nach außen richtete, kann die Herausgabe der so genannten Kriegsgefangenenmarke angesehen werden, die im Kontext der Verhandlungen um die Entlassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen im Mai 1953 von der Deutschen Bundespost herausgegeben wurde. Siehe hierzu Reinhard Krüger: Die Kriegsgefangenen-Gedenkmarke der Bundesrepublik Deutschland 1953, Soest 2017 und Werner Boddenberg: Das Bild des Kriegsgefangenen als Mittel der Propaganda und Gegenpropaganda. Die Kriegsgefangenen-Gedenkmarke der Bundesrepublik Deutschland von 1953, in: Smolarski, Smolarski, Vetter-Schultheiß: Gezähnte Geschichte, S. 423–452.

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Zusammenhang fest, dass sie gerade aufgrund der staats- und parteiabhängigen Themensetzung »als Quelle für das Selbstverständnis und die Selbstlegitimation von Herrschenden und Staaten« und hierbei vor allem »für den Versuch, diese auf eingängige Art zu popularisieren« 30, dienen könne. Philatelistische Quellen legen somit auch Zeugnis darüber ab, »wie eine Regierung versucht, Geschichtsbilder und damit die kollektive Erinnerung und Identität der Bevölkerung mittels einer speziellen Geschichtspolitik in ihrem Sinne zu beeinflussen.« 31 Damit rücken auch Fragen der Erinnerungskultur in Blick philatelistischer Untersuchungen. 32 Die Berücksichtigung philatelistischer Quellen und Fragstellungen und die Einbeziehung der damit beschäftigten Personen und Vereine in die historische Forschung erlaubt jedoch nicht allein einen erweiterten Blick und neue Fragstellungen zu historisch relevanten Themen, sondern vor allem auch zwei wesentliche Aspekte. Erstens: Den Zugang zu bisher unerschlossenen Quellenbeständen, die in den privaten Sammlungen seit mehr als 150 Jahren aufgebaut, kontextualisiert und systematisiert wurden, und die nun – dank digitaler Technologien – auch ohne deren physische Einbindung in institutionelle Strukturen in die Forschung integriert werden können. Und zweitens: Den Zugang zu bereits vorhandenem Expertenwissen sowohl zu posthistorischen und philatelistischen Detailfragen als auch zu ganz praktischen Informationen zur Einordnung und Identifikation postalischer Belege. Besonders erwähnt seien hier neben zahlreichen – oftmals privaten – Veröffentlichungen auch entsprechende Datenbanken zu Stempeln, Katalogen, historischen Ortsverzeichnissen und zeitgenössischen wie modernen Fälschungen. 33

Fazit und Resümee Damit lässt sich abschließend feststellen, dass die universitäre Geschichtswissenschaft durch die Berücksichtigung philatelistischer Quellen ebenso gewinnen kann, wie durch die Einbeziehung der seit vielen Jahrzehnten außeruniversitär forschenden Sammlergemeinschaft. Die Einführung einer Beschäftigung mit philatelistischen Quellen unter anderem Namen, wie beispielweise dem der 30 Michael Sauer: Originalbilder im Geschichtsunterricht. Briefmarken als historische Quellen, in: Gerhard Schneider (Hrsg.): Die visuelle Dimension des Historischen. Festschrift für Hans-Jürgen Pandel, Schwalbach/Ts. 2002, S. 158–169, S. 161. 31 Onken: Geschichtspolitik, S. 61. 32 Siehe hierzu unter anderem Ute Schneider: Geschichte der Erinnerungskulturen, in: Christoph Cornelißen (Hrsg.): Geschichtswissenschaften. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 2000, S. 259– 270, hier S. 262. 33 Beispielhaft sei hier auf die Plattform stampsx verwiesen. Vgl. https://www.stampsx.com.

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Timbrologie, wie dies Achim Hack vorschlägt, 34 ist dabei m. E. nicht nur in Bezug auf die Herleitung und inhaltliche Neuausrichtung – d. h. vor allem weniger Bezug zum Aspekt des Sammelns und der Sammlungspräsentation – fragwürdig, sondern auch in Bezug auf eine Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen universitärer und außeruniversitärer philatelistisch-historischer Forschung eher kontraproduktiv. Letzteres vor allem daher, da man bestehende Anschlussmöglichkeiten auf diese Weise kaschiert und die inhaltliche Beschäftigung mit den zugrundeliegenden Objekten zumindest nominell ausschließlich in den Raum der universitären Geschichtswissenschaft verlagert. Das genannte Beispiel zeigt, dass die Zusammenarbeit universitärer und außeruniversitärer philatelistischer Forschung nicht immer konfliktfrei funktioniert. Dies ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass sich beide Communities in den letzten 150 Jahren häufig parallel und unabhängig voneinander entwickelt und eigene Hierarchien und Ansprüche ausgebildet haben. Die verschiedenen Herangehensweisen und Fragestellungen, die an den Untersuchungsgegenstand Briefmarke gerichtet sind, führen nicht selten zu unterschiedlichen Vorstellungen darüber, welche Aspekte philatelistischer Forschung und Wissensvermittlung ins Zentrum einer gemeinsamen Arbeit gerückt werden sollten. Hier gilt es im Sinne einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe auch bislang in der universitären Forschung unübliche Vermittlungsformate, wie das Ausstellungswesen und die Aufbereitung der Forschungsergebnisse für philatelistische Fachzeitschriften, sowie die Einbeziehung eher philatelistischer und weniger historischer Fragestellungen zu berücksichtigen. Das vorhandene Expertenwissen, das seit Bestehen der organisierten Philatelie aufgebaut wird, kann für die historische Forschung genauso fruchtbar gemacht werden wie die unzähligen Sammlerbestände, die durch ihren zeitgenössischen Entstehungszusammenhang und ihre zeitgenössische Rezeption neue Einblicke in die Alltags- und Mentalitätsgeschichte erlauben. Die Möglichkeiten digitaler Technologien und die methodischen Ansätze der Digital Humanities können hierbei hilfreiche Wege der Vernetzung bieten und die Zusammenarbeit zwischen universitärer Geschichtswissenschaft und außeruniversitärer Philatelie erleichtern und vorantreiben. Der Zeitpunkt dafür scheint mehr als geboten, da die außeruniversitäre Philatelie durch eine stetige Überalterung der aktiven Sammler- und Forschergemeinschaft und den Bedeutungsverlust des Mediums Briefmarke durch eine Vielzahl alternativer Zahlungsmethoden in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Interessenten verliert und die seit über 150 Jahren aufgebauten Wissens- und Quellenbestände ins Vergessen zu geraten drohen. 34 Siehe hierzu Achim Thomas Hack: Timbrologie. Eine historische Grundwissenschaft?, in: Hack, Ries: Geschichte zum Aufkleben, S. 11–27.

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Projekte

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Barbara Aehnlich / Petra Kunze Vom Zettel zum Datensatz. Flurnamenforschung in Thüringen Einleitung Flurnamen sind die Bezeichnungen für Wälder, Felder, Wiesen, Berge, Gewässer und alle anderen natürlichen oder durch den Menschen beeinflussten Geländegegebenheiten, an denen sich der Mensch in der Landschaft orientiert. Sie sind gekennzeichnet durch einen engen Kommunikationsradius und eine geringe Stabilität, da sich in ihnen Veränderungen in der Gesellschaft und in den örtlichen Gegebenheiten oftmals zeitnah widerspiegeln. Als Bestandteil regionaler Identität dienen sie der Identifikation mit der Kulturlandschaft; sie sind sprachliche Relikte und wertvolle historische Zeugnisse einer Region. Die Thüringer Flurnamen zu erheben und auszuwerten, ist das Ziel einer über 100-jährigen Forschung in Thüringen. Zum größten Teil fand diese Forschung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (FSU Jena) statt, jedoch waren seit Beginn der Erhebungen Bürgerinnen und Bürger eingebunden, so dass es sich um kooperative Sammlungen handelt. Die erhobenen Belege liegen in sehr unterschiedlichen Qualitäten vor, der weitaus größte Teil findet sich in Form eines Zettelkatalogs in der Sammlung des Thüringischen Flurnamenarchivs der FSU Jena. Dieses Archiv ist jedoch nicht der Öffentlichkeit zugänglich und auch von der Forschung nur unter schwierigen Bedingungen nutzbar. Aus diesem Grund wurde im Juni 2019 dank der Unterstützung durch die Thüringer Staatskanzlei mit der Digitalisierung des Bestandes und der Erstellung des Thüringischen Flurnamenportals begonnen. Der Beitrag stellt zum einen den Thüringer Ansatz zur digitalen Aufbereitung des regionalen Flurnamenschatzes vor und reflektiert auf der anderen Seite die Möglichkeiten der bürgerwissenschaftlichen Flurnamenforschung.

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Flurnamen – Theorie Für die Definition einer Benennung in der Landschaft als Flurname sind drei Kriterien wichtig: Der Name muss eine Fläche benennen – bloße Objektbezeichnungen sind keine Flurnamen, sie gehören in den Bereich der Mikrotoponyme. 1 Ursprünglich besiedelte Flächen werden ausgeschlossen, da der Name an einer Fläche in der Ortsgemarkung haftet. Die Ortsgemeinschaft muss primärer Namengeber sein und den Flurnamen zu kommunikativen Zwecken benutzen, wodurch Namen, die von amtlicher Seite eingesetzt wurden, etwa für Verwaltungszwecke, ausgeschlossen werden. 2 Vom Begriff Flurname werden dementsprechend Benennungen von Örtlichkeiten der Siedlungsflur umfasst, die vor allem ihrer räumlichen Gliederung bzw. der Orientierung dienen. 3 Charakteristisch für Flurnamen ist ihr eingeschränkter Kommunikationsradius, durch welchen ihre kommunikative Reichweite enger ist als die anderer toponymischer Kategorien. 4 Sie werden meist nur von Einheimischen verwendet, gelegentlich sogar nur von einzelnen Familien. Sie reagieren stärker auf gesellschaftliche Veränderungen sowie Gegebenheiten wie Besitzwechsel oder variierende Bodenbewirtschaftung 5 und sind deshalb nicht so stabil wie andere Örtlichkeitsbezeichnungen. Die schriftliche Überlieferung der Flurnamen ist von Zufällen und der Mundart geprägt.

1 Der Begriff Mikrotoponym ist nach heute gängiger Auffassung weiter zu fassen als der Flurnamen-Begriff (u. a. Barbara Aehnlich: Flurnamen Thüringens. Der westliche Saale-Holzlandkreis, Hamburg 2012, S. 14 f. Rob Rentenaar: Mikrotoponymie aus nordwestgermanischer Sicht. Einige Bemerkungen zur Definition und Terminologie, in: Eckhard Meineke, Heinrich Tiefenbach (Hrsg.): Mikrotoponyme. Jenaer Symposium 1. und 2. Oktober 2009, Heidelberg 2011, S. 197– 205. Teodolius Witkowski: Methoden der Namenforschung, in: Ernst Eichler u. a. (Hrsg.): Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik (HSK 11.2), Berlin u. a. 1996, S. 292). Stefan Sonderegger: Terminologie, Gegenstand und interdisziplinärer Bezug der Namengeschichte, in: Werner Besch u. a. (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, Berlin u. a. 2004, S. 3444 zählt zu den Mikrotoponymen neben den Flurnamen etwa auch die Namen kleinerer Siedlungen und Hofnamen. Auch Straßen- und Gebäudenamen fallen unter diesen Terminus. 2 Vgl. Hans Ramge (Hrsg.): Südhessisches Flurnamenbuch, Darmstadt 2002, S. 28. 3 Hans Walther: Namenkunde und geschichtliche Landeskunde. Ein einführender Überblick. Erläuterungen namenkundlicher Fachbegriffe. Auswahlbibliographie zur Namenkunde und Landeskunde Ostmitteldeutschlands, Leipzig 2004, S. 55. 4 Erika Windberger-Heidenkummer: Kontinuität und Diskontinuität von Flurnamen. Probleme und Beispiele, in: Eckhard Meineke, Heinrich Tiefenbach (Hrsg.): Mikrotoponyme. Jenaer Symposium 1. und 2. Oktober 2009, Heidelberg 2011, S. 290. 5 Walther: Namenkunde, S. 20.

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Wie andere Namen auch entstehen Flurnamen aus Appellativen. Sie spiegeln das Verhältnis des Namengebers zu seinem Lebens- und Arbeitsumfeld wider 6 und sind Bestandteil regionaler Identität. 7 Verband sich der vergebene Name so eng mit dem bezeichneten Flurstück, dass er auch bei Veränderung der zugrunde gelegten Benennungseigenschaften weiter benutzt wurde, dann war aus dem ursprünglichen Appellativ ein Name geworden 8 und es kam zu einem Funktionswechsel: Statt zu charakterisieren, identifiziert die Bezeichnung nun das benannte Objekt. 9 Aufgrund dieser Entwicklungen verspricht die Erforschung von Flurnamen Aufschlüsse über die Siedlungsgeschichte und frühere räumliche Strukturen sowie Erkenntnisse über die Entwicklung der deutschen Sprache und ihrer Dialekte. Viele andere Wissenschaftsbereiche wie die Volkskunde, die Wirtschaftsund Sozialgeschichte, die Rechtsgeschichte sowie die Botanik, Zoologie und Geologie werden ebenfalls durch die Forschungsergebnisse bereichert.

Flurnamenforschung in Thüringen Flurnamenforschung im deutschsprachigen Raum

Bürgerwissenschaftliche Flurnamenforschung, schon gar mit digitaler Unterstützung, ist in Deutschland ein absolutes Forschungsdesiderat. Ab 1903 wurden zwar Bürgerinnen und Bürger bei der Erfassung der Flurnamen eingebunden, indem man ihnen Fragebögen vorlegte. Aber die wissenschaftliche Aufbereitung und Auswertung blieb stets den Universitäten vorbehalten. Die 1902 gegründete Flurnamenstelle der Sächsischen Kommission für Geschichte im Dresdener Hauptstaatsarchiv ist das älteste Flurnamenarchiv und nahm bereits historische Flurnamen mit auf. Nach diesem Vorbild wurden in der Folgezeit verschiedene regionale Flurnamenarchive gegründet, zudem wurde 1903 eine Zentralstelle für Flurnamensammlung geschaffen, die beraten und organisieren sollte. Ab 1911 zog die Flurnamenforschung allmählich auch in die deutschen 6 Ulrich Scheuermann: Die sprachliche Erschließung der Dorfflur mit Hilfe von Flurnamen, in: Friedhelm Debus, Wilfried Seibicke (Hrsg.): Reader zur Namenkunde III, 2: Toponymie, Hildesheim u. a. 1996, S. 538. 7 Eckhard Meineke: Perspektiven der thüringischen Flurnamenforschung. Zu den Flurnamen, der Geschichte und ihrer Erforschung und den Möglichkeiten für die Schaffung eines thüringischen Flurnamenbuches, in: Eckhard Meineke (Hrsg.): Perspektiven der thüringischen Flurnamenforschung, Frankfurt am Main 2003, S. 19. 8 Aehnlich: Flurnamen Thüringens, S. 20. 9 Scheuermann: Erschließung, S. 539.

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Hochschulen ein – hier entstanden zahlreiche umfangreiche Monografien und Forschungsarbeiten. Im 1980 wieder begründeten Hessischen Flurnamenarchiv Gießen wurden die rezenten Flurnamen Hessens unter Beteiligung zahlreicher Ortsammlerinnen und -sammler aufgezeichnet und anschließend historische Flurnamenbelege aus Süd- und Mittelhessen erhoben. In den letzten Jahren analogen Arbeitens war vor allem das Südhessische Flurnamenbuch von Hans Ramge 10 prägend, das die Flurnamenbestände der 369 hessischen Gemarkungen südlich des Mains erschließt und ein Gebiet von annähernd 3.000 km² umfasst. Das anschließende Folgeprojekt erarbeitete das Mittelhessische Flurnamenbuch, bei dem ein Hypertext-Format auf CD-ROM mit einer verdichteten Druckfassung verbunden wurde. Das Mittelhessische Flurnamenbuch erschien in digitaler Form. 11 Damit war Hessen lange Zeit Vorreiter in der digitalen deutschen Flurnamenforschung. Für Westfalen liegt ein gedruckter Flurnamenatlas vor, wobei das Projekt schon länger abgeschlossen ist. 12 Die in Bayern zwischen 1988 bis 2002 auch mit Unterstützung von Bürgerinnen und Bürgern erfassten Flurnamen 13 wurden in der Reihe Bayerisches Flurnamenbuch veröffentlicht, 14 sind aber nicht online verfügbar. In Baden-Württemberg bemüht sich unter anderem Peter Löffelad um die Erhebung und Publikation der Flurnamen. 15 Tobias Vogelfänger untersuchte in seinem 2010 erschienenen Werk 16 mithilfe elektronischer Datenverarbeitung 200.000 Flurnamen des nördlichen Rheinlandes hinsichtlich der Existenz sprachlicher Raumstrukturen. Das Belegmaterial gewann er mehrheitlich durch Konvertierung verschiedener digitaler Bestände und konnte dadurch in recht kurzer Zeit das Digitale Nordrheinische Flurnamenarchiv aufbauen, das sich um großräumige Darstellungen von rezenten Flurnamenvorkommen bemüht. Hier werden ca. 280.000 Namen georeferenziert dargestellt. 17 Eine Zusammenarbeit mit Bürgerinnen und Bürgern und die Erhebung historischer Flurnamenbelege ist in diesem Projekt nicht erfolgt; es ist abgeschlossen und ein weiterer Ausbau nicht vorgesehen.

10 Ramge: Flurnamenbuch. 11 https://www.online.uni-marburg.de/lagis/mhfb/mhfb_xs.html (letzter Zugriff: 20.12.2021). 12 https://www.mundart-kommission.lwl.org/de/projekte/westf_flurnamenatlas (letzter Zugriff: 20.12.2021). 13 https://orts-flurnamen-bayern.de (letzter Zugriff: 21.12.2021). 14 https://www.hdbg.eu/shop/index.php/start/showCategory/id/11 (letzter Zugriff: 20.12.2021). 15 https://www.flurnamen.de/Eingang (letzter Zugriff: 21.12.2021). 16 Tobias Vogelfänger: Nordrheinische Flurnamen und digitale Sprachgeographie, Köln u. a. 2010. 17 Vgl. https://www.germanistik.uni-bonn.de/forschung/arbeitsstelle-rheinische-sprachforschung/ projekte/flurnamen (letzter Zugriff: 20.12.2021).

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In Vorpommern gab es von 2016 bis 2020 das Projekt Digitales vorpommersches Flurnamenbuch, in welchem von der Universität Greifswald unter der Leitung von Matthias Vollmer historische Flurnamen erhoben und in eine Datenbank eingespeist wurden. 18 Seit Oktober 2020 ist der erste Teil der Datenbank der Öffentlichkeit zugänglich. Ein Projekt in Ostfriesland verfolgt einen interessanten bürgerwissenschaftlichen Ansatz – hier erhob man auf der Basis von Kartenmaterial ca. 71.000 Flurnamen und stellt diese in einem Online-Auftritt dar. 19 Die Deutung der Namen erfolgt allerdings rein auf ehrenamtlicher Basis, wodurch eine sprachwissenschaftliche Qualitätssicherung nicht gewährleistet ist. Bei großräumigen Darstellungen von Flurnamenbeständen wird damit vor allem die Präsentation im Internet immer relevanter für die Forschung. Die Hessischen Flurnamenbücher stehen ebenso online zur Verfügung wie das Hessische Flurnamenarchiv. 20 Hier handelt es sich allerdings um reine Datenbanken, die die Funktionalitäten, die als Ergebnis der bürgerwissenschaftlichen Forschung in Thüringen zur Verfügung stehen sollen, nicht ansatzweise erreichen. Auch liegen diesen Projekten universitäre Ansätze zugrunde; eine gemeinsame Erhebung und Datenauswertung mit Bürgerinnen und Bürgern fand und findet nicht statt. Dank einer anderen Forschungsförderpolitik ist man in Österreich deutlich weiter. In Tirol wurden von 2007 bis 2017 etwa 120.000 Flurnamen von Chronistinnen und Chronisten erhoben, in einer Datenbank gesammelt und in einem geografischen Informationssystem verortet. 21 Die Flurnamen Tirols zählen seit dieser Erhebung zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO. Und auch in der Schweiz gibt es eine Online-Datenbank 22 mit der kartografischen Darstellung der Orts- und Flurnamen der Kantone, wobei sich der Erhebungsstand erheblich unterscheidet. Die Erhebung und Kartierung der Flurnamen erfolgte mithilfe ortskundiger Gewährspersonen, die von Fachleuten angeleitet wurden. Die bisherigen Forschungen waren auf kantonaler Ebene angesiedelt, doch trägt seit Neuestem das große Sammlungs- und Infrastrukturprojekt ortsnamen.ch zu einer übersichtlichen Darstellung der Schweizer Flurnamenlandschaft bei. Nicht zu vergessen bei dieser Aufzählung ist auch das Geodatenportal von Liechtenstein, das die Flurnamen der Gemeinden kartografisch präsentiert und die Einträge mit dem Namenbuch verknüpft. 23 18 https://flurnamenbuch-vorpommern.germanistik.uni-greifswald.de (letzter Zugriff: 20.12.2021). 19 https://www.flurnamen-ostfriesland.de (letzter Zugriff: 20.12.2021). 20 http://www.lagis-hessen.de/mhfb.html (letzter Zugriff: 20.12.2021). 21 https://sprawi-flurnamen.uibk.ac.at (letzter Zugriff: 21.12.2021). 22 https://www.ortsnamen.ch/de (letzter Zugriff: 21.12.2021). 23 https://geodaten.llv.li/geoportal/flurnamenkarte.html (letzter Zugriff: 21.12.2021).

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Das Thüringische Flurnamenarchiv und die Thüringer Flurnamenforschung 24

Die Thüringer Flurnamenforschung steht in der geschilderten Tradition. Das erste größere flurnamenkundliche Werk veröffentlichte Luise Gerbing 1910 mit ihrer Arbeit zu den Flurnamen des westlichen Thüringer Waldes. Im Rahmen der Thüringischen Landesstelle für Volkskunde wurde 1933 das Thüringische Flurnamenarchiv an der Universität Jena gegründet. Nach dem Krieg übertrug man die Sammlung der Flurnamen dem 1951 gegründeten Institut für Mundartforschung. 1958 promovierte Herbert Schrickel in Jena über die Wortkunde der Flurnamen des Kreises Ilmenau und übernahm 1962 die Verantwortung für das Thüringische Flurnamenarchiv.

Abb. 1: Belegzettel und Zettelkästen des Thüringischen Flurnamenarchivs, Quelle: Foto Barbara Aehnlich, 2021.

Der Bestand umfasst heute etwa 150.000 Namenbelege aus ganz Thüringen und den südlichen Teilen Sachsen-Anhalts, da das Erfassungsgebiet des Flurnamenarchives dem des Thüringischen Wörterbuches entspricht und sich an den Grenzen des thüringischen Sprachraumes orientierte. Allein an thüringischen Flurnamen – in den heutigen Grenzen des Freistaats – finden sich ca. 126.000 Belege. Dies ist ein großer Teil der thüringischen Flurnamen, aber bei weitem nicht die Gesamtmenge, die schätzungsweise bei über 300.000 Flurnamen liegt. Die Namenbelege liegen auf Karteikarten in dreifacher Ausführung vor: als Ortsdatei, als alphabetische Datei und als Grundwortkartei. Quantität und Qualität der Belege schwanken stark. So sind für manche der ehemaligen Kreise circa 24 Vgl. dazu ausführlich Aehnlich: Flurnamen Thüringens, S. 21–32.

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60 % des gegenwärtigen Flurnamenbestands verzeichnet, für andere sind hingegen nur ungefähr 10 % erfasst. Zur Wendezeit kam es zu einer Stagnation der Erhebung, ab 1994 erfolgte durch Eckhard Meineke, Professor für die Geschichte der deutschen Sprache an der FSU Jena, eine Wiederbelebung der Forschungen. Auf seine Anregung hin wurden wieder vermehrt flurnamenkundliche wissenschaftliche Abschlussarbeiten verfasst. Von ihm und Barbara Aehnlich wurden in den letzten Jahren mehr als 60 solcher Schriften betreut und eingereicht und können dem Archiv hinzugefügt werden.

Flurnamen und Regionalgeschichte – 23 Jahre Bürgerwissenschaft Kooperative bürgerwissenschaftliche Forschung manifestiert sich in dem an den Heimatbund Thüringen e.V. angebundenen Projekt Flurnamen und Regionalgeschichte 25, das seit 2006 von Barbara Aehnlich fachwissenschaftlich betreut wird. Der Heimatbund Thüringen hat sich in seiner Satzung (§4) der heimatund landeskundlichen Bildung verschrieben, der Entwicklung von Heimat- und Geschichtsbewusstsein sowie der historischen, heimat- und volkskundlichen Forschung. In diesem Projekt sammeln ehrenamtliche Forscherinnen und Forscher seit 1999 die Flurnamen ihrer Heimatorte und -regionen und stellen sie nach vorgegebenen Kriterien zusammen. Die Ehrenamtlichen erheben im Vorhaben nicht einfach nur die Namenbelege, sondern sie bringen auch ihr eigenes Wissen über die Namen und deren Entstehung mit ein. Dazu gehören etwa die mundartliche Lautung der Namen, die sprachlich erstarrte Formen enthält und Aufschluss über die Benennungsmotivation geben kann, Sagen und Legenden zum Ursprung der Namen und die Kenntnis der Ortsansässigen über die landschaftlichen und historischen Gegebenheiten. Zudem können auf diesem Wege private Quellen erschlossen werden – viele Haushalte verfügen noch über historisches Material (Urkunden, Verträge, Flurkarten), das Flurnamen enthält und nicht für die Öffentlichkeit nutzbar ist. Damit leisten die ehrenamtlichen Forscherinnen und Forscher einen großen Anteil der mit der Flurnamenforschung verbundenen arbeitsintensiven Aufgaben, die von universitärer Seite niemals in diesem Umfang erbracht werden können. Durch den regelmäßig erscheinenden Flurnamen-Report und Regionalkonferenzen mit Schulungscharakter wurden bereits 362 ehrenamtliche Mitwirkende gefunden, die schon 334 (qualitativ und quantitativ sehr unterschiedliche) Sammlungen zu 409 Thüringer Gemarkungen eingereicht haben. Damit liegen zu etwa einem Fünftel der Thüringer Orte erste bürgerwissenschaftliche 25 https://www.heimatbund-thueringen.de/projekte/flurnamen-und-regionalgeschichte (letzter Zugriff: 20.12.2021).

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Ergebnisse vor, die Ausgangsbasis weiterer Erschließungsarbeiten sind. Das Projekt geht aktuell die Herausforderung eines Generationswechsels in den nächsten Jahren an und entwickelt Formate, die auch für junge Sammlerinnen und Sammler attraktiv sind. Zur bürgerwissenschaftlichen Forschung zählt ebenso das Flurnamenarchiv von Achim Fuchs aus Meiningen, welches ca. 30.000 Flurnamen aus ganz Südwestthüringen verzeichnet. Trotz fehlender Förderung in den letzten Jahren gelang im Projekt immer wieder erfolgreich die Durchführung gemeinsamer Veranstaltungen. So wurde u. a. im November 2019 vor mehr als 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus ganz Thüringen das Thüringische Flurnamenportal gemeinsam mit der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek (ThULB) in Jena vorgestellt. Regelmäßig erreichen den Heimatbund und damit auch Barbara Aehnlich Anfragen interessierter Menschen, die bei der Erhebung von Namen auf Unklarheiten stoßen oder Interesse am Projekt haben. Diese Anfragen werden im Ehrenamt beantwortet; Fragen von allgemeinem Interesse werden im Flurnamen-Report (online auf der Webseite des Heimatbund Thüringen) oder in der Zeitschrift Heimat Thüringen aufgegriffen. Dieser Weg ist keine Einbahnstraße, sondern auch die Wissenschaft fragt konkret nach dem Auftreten von Namen über den Flurnamen-Report an, um aus den Antworten Rückschlüsse zu einem Namenfeld ziehen zu können. So entstand u. a. ein Aufsatz zum Flurnamen Kuhtanz in Ostthüringen. 26 Die verschiedenen Mitwirkenden, die innerhalb Thüringens zusammenarbeiten, bieten eine hervorragende Ausgangsbasis für die umfassende Erforschung der thüringischen Flurnamen. Ziel der Verknüpfung aller Stränge flurnamenkundlicher Betätigung ist eine flächendeckende Erfassung und Analyse der Flurnamen in Thüringen. Alle Sammlungsformen müssen zunächst aber zusammengeführt und nach vereinbarten Standards vereinheitlicht sowie ins Digitale überführt werden, damit eine sinnvolle Auswertung der Bestände möglich ist. Die Thüringer Flurnamenforschung hat sich seit einigen Jahren neu ausgerichtet und arbeitet nun vermehrt mit digitalen Methoden und neuem wissenschaftlichem Input. Sie wurde mehr und mehr zu einem hochaktuellen digitalen Citizen-Science-Projekt.

26 Barbara Aehnlich, Karlheinz Hengst: Der Flurname Kuhtanz in der Flur Rodameuschel östlich der Saale, in: Barbara Aehnlich, Eckhard Meineke (Hrsg.): Namen und Kulturlandschaften, Leipzig 2015, S. 29–37.

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Das Thüringische Flurnamenportal Das Thüringische Flurnamenportal ist der logische Schluss der geschilderten langen Kette von flurnamenkundlichen universitären und bürgerwissenschaftlichen Sammlungen und Forschungen in Thüringen im letzten Jahrhundert. In dem im Sommer 2019 begonnenen und von der Thüringer Staatskanzlei geförderten Projekt zur Erstellung des Thüringischen Flurnamenportals wird zunächst die umfangreiche Belegsammlung des Flurnamenarchivs aufbereitet und digitalisiert sowie in einem an der ThULB entwickelten Portal 27 sicht- und nutzbar gemacht. 28 Die Belege werden in diesem Digitalisierungsprojekt manuell von Hilfskräften transkribiert und in die MyCoRe-Datenbank Collections@UrMEL 29 eingetragen. 30 Heute unbekannte und nicht mehr geläufige Abkürzungen und bibliographische Angaben, die im Belegmaterial häufig ebenfalls nur gekürzt und nicht in vollständiger Form vorliegen, werden dabei nach Möglichkeit aufgelöst, um zukünftigen Forschenden und Interessierten die Interpretierbarkeit der Daten zu erleichtern. Aufgrund der mangelhaften Papier- und Schriftqualität sowie des heterogenen Layouts des Schriftbildes kann eine automatisierte Texterkennung leider nicht erfolgen – der Nachbereitungsaufwand wäre zu groß. Etwa 66.000 Namenbelege sind bereits im Portal sichtbar. 31 Parallel zur Abschrift werden die gescannten Belege als tif-Datei gespeichert. Damit können alle Scans einer Gemarkung in einem gemeinsamen Viewer zur Verfügung gestellt werden. Die den Fluren übergeordneten Gemarkungen werden manuell mit der zugehörigen Orts-ID der Gemeinsamen Normdatei (GND) der Deutschen Nationalbibliothek verknüpft. Diese Datensätze enthalten Informationen zur Ortschaft, Quellennachweise und Geokoordinaten. Fehlende oder unvollständige GND-Datensätze werden durch die ThULB direkt in der Normdatenbank der Deutschen Nationalbibliothek ergänzt. Durch dieses aufwändige Vorgehen wird sowohl für wissenschaftliche Zwecke als auch für interessierte Laien eine weitergehende Befassung mit den Flurnamen Thüringens ermöglicht. Zugleich kann der neu gewonnene digitale Datenpool der thüringischen Flurnamen in weitere spartenübergreifende Digitalisierungsprojekte einfließen. Die über Open Data zur Verfügung stehenden Daten des Liegenschaftskatasters 27 http://projekte.thulb.uni-jena.de/flurnamen (letzter Zugriff: 20.12.2021). 28 Vgl. dazu ausführlich: Barbara Aehnlich: Die thüringische Flurnamenforschung wird digital, in: Heimat Thüringen 26/4 (2019), S. 21–24. 29 https://archive.thulb.uni-jena.de/hisbest (letzter Zugriff: 20.12.2021). 30 An dieser Stelle ist ganz herzlich allen studentischen und wissenschaftlichen Hilfskräften zu danken, die seit Beginn der Projektlaufzeit aktiv am Projekt mitwirken: David Brosius, Lena Sofie David, Hanna Dittrich, Deborah Heiden, Alicia Goll, Fabio Kölbl, Annalena Lohfelder, Hendrike Schoppa, Tabea Stolte und Caroline Trümner. 31 Stand: Dezember 2021.

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(ALKIS) und des Thüringer Landesamts für Bodenmanagement und Geoinformation (TLBG) werden nach Abschluss des ersten Projektabschnittes mit den erfassten Namenbelegen verknüpft, wodurch eine Darstellung der Fluren in Form von Punktkoordinaten ermöglicht wird. Die gesamte Datenhaltung erfolgt in der MyCoRe-Datenbank Collections@UrMEL. Über einen Harvester werden die Metadaten aus dem Primärsystem eingesammelt und in dem zentralen Solr-Suchserver des Flurnamenportals standardisiert gespeichert. Der Solr-Suchserver ist integraler Bestandteil der TYPO3-Instanz. Das Flurnamenportal ist derzeit in einer Beta-Version online. 32 Seitens der ThULB ist es geplant, das Portal schnellstmöglich in eine neue TYPO3-Version zu überführen und entsprechend zu überarbeiten. Es ist dann möglich, zu facettieren und verschiedene Arten von Suchanfragen für die Wissenschaft und Interessierte zu ermöglichen. Geplant sind die Facetten Gemarkung, Flurname und Kreis. Über das Flurnamenportal werden künftig das Belegmaterial und die eingegebenen zusätzlichen Daten sicht- und nutzbar gemacht, ergänzt durch die Abbildungen der Gemarkungen und Fluren im Kartenmaterial in OpenStreetMap. Es präsentiert den bisher nur analog zur Verfügung stehenden Archivbestand und bildet damit ein unentbehrliches Fundament, die Thüringer Flurnamenforschung in die Zukunft zu führen. Dabei handelt es sich um notwendige technische und wissenschaftliche Arbeiten, die die Basis für eine bürgerwissenschaftliche Befassung mit dem Thema bilden. In einem nächsten Schritt soll es möglich sein, dass auch Bürgerinnen und Bürger nach entsprechender Schulung ihre Erhebungsergebnisse direkt ins Flurnamenportal einfügen, wo sie nach einer Überprüfung für die Öffentlichkeit sichtbar werden.

Abb. 2: Das Flurnamenportal – Startseite, Quelle: http://projekte.thulb.uni-jena.de/flurnamen (letzter Zugriff: 27.12.2021). 32 Stand Dezember 2021.

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Im Thüringischen Flurnamenportal können interessierte Nutzerinnen und Nutzer den Flurnamenbestand des Freistaates recherchieren. 33 Idealerweise sollte sich an die Digitalisierung und Erhebung ein Folgeprojekt anschließen, in welchem für jeden Namen eine fundierte sprachwissenschaftliche Analyse erarbeitet wird. Der Nutzen des Projektes liegt in der Erhaltung und Erschließung dieser wichtigen historischen Denkmäler. Voraussetzung für eine großräumige sprachgeografische Analyse des Bestandes, die tiefergehende Informationen erwarten lässt als die bisherigen punktuellen Untersuchungen, ist eine flächendeckende Dokumentation der aktuellen (und wenn möglich auch ausgestorbenen) thüringischen Flurnamen. In weiteren Schritten werden deshalb neben dem Flurnamenarchiv der FSU Jena die bereits eingereichten Flurnamenbestände des Heimatbund Thüringen e.V. sowie die vorliegenden Abschlussarbeiten digitalisiert, an die Standards angepasst und ins Portal eingebunden. Insbesondere die bürgerwissenschaftliche Erforschung der Flurnamen soll in den nächsten Jahren durch eine verstärkte Zusammenarbeit und den Fokus auf der ehrenamtlichen Flurnamensammlung ausgebaut werden.

Abb. 3: Darstellung der Gemarkung Crawinkel (Forst), Quelle: http://projekte.thulb.unijena.de/flurnamen/ (letzter Zugriff: 27.12.2021).

33 Auch die Flurnamen des südlichen Teils von Sachsen-Anhalt, die im analogen Archiv mit erhoben wurden, wurden gescannt, digital gesichert und mit den Gemarkungen verknüpft. Aufgrund der aktuellen Fördersituation ist jedoch unklar, ob auch die Einträge für die Flurnamen angelegt und die Belege transkribiert werden können.

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Abb. 4: Kurzliste der Flurnamen von Crawinkel (Forst), Quelle: http://projekte.thulb.unijena.de/flurnamen/ (letzter Zugriff: 27.12.2021).

Abb. 5: Vollanzeige eines Belegs im Flurnamenportal, Quelle: http://projekte.thulb.uni-jena.de/ flurnamen/ (letzter Zugriff: 27.12.2021).

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Von analog zu digital Aktuell basiert das Flurnamenprojekt wie beschrieben auf verschiedenen Säulen: einem umfangreichen Pool an Sammlungen, der engen Zusammenarbeit mit dem Heimatbund Thüringen e.V. und der Darstellung der Ergebnisse im Flurnamenportal. In naher Zukunft sind Projekte in der Hochschullehre und in Schulen geplant. Übergreifendes Ziel sind die wissenschaftliche Analyse und die Abbildung von Flurnamenlandschaften in digitaler Aufbereitung. Die darzustellenden Namencluster geben neue Aufschlüsse über die Siedlungsgeschichte und frühere räumliche Strukturen. Die diachronen Detailanalysen der Namen bieten Erkenntnisse über die Entwicklung der deutschen Sprache und speziell der verschiedenen Thüringer Dialekte; und auch für andere Wissenschaftsbereiche sind die Forschungsergebnisse relevant. Das langfristige Ziel des Vorhabens ist die flächendeckende Erfassung der thüringischen Flurnamen, die Erschließung ihres Informationsgehalts unter Einbindung von lokalen Wissensbeständen und ihre sprach- und kulturwissenschaftliche Auswertung sowie die Zusammenführung in einer öffentlichen Datenbank, um diese Informationen für die interessierte Öffentlichkeit und Forschung gleichermaßen zugänglich zu machen. Die Auswertung des gesammelten sprachlichen Materials verspricht Auskünfte über die Geschichte der Orte, frühere Bodennutzungen und Landschaftsgestaltungen, Traditionen und Kultur, Siedlungsströme und Rechtsverhältnisse. Dies großräumig herauszuarbeiten und die Verbreitungen kartographisch über Raum und Zeit darzustellen, ist – wie oben geschildert – nicht nur für Thüringen ein Forschungsdesiderat. Um die gesetzten Ziele gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern zu erreichen, ist eine noch engere Zusammenarbeit der Projektpartner von großer Bedeutung. Dies bedeutet, dass in Zukunft die Kommunikationsaufgaben und die Gestaltung des Austausches mit den Bürgerinnen und Bürgern im Vordergrund stehen werden und bei jedem Projektschritt die Grundlage bilden. Auf der Basis des durch die ThULB eingespeisten Materials des TLBG, der Katasterämter und Archive erheben die Bürgerinnen und Bürger die thüringischen Flurnamen und erfassen das lokale Wissen ihrer Heimatorte, indem sie die mundartliche Lautung der Namen, ätiologische Sagen und Legenden sowie Informationen zu landschaftlichen und historischen Gegebenheiten aufzeichnen und private Quellen erschließen. Ihr implizites Wissen wird über eine Webmaske ins Flurnamenportal eingetragen und dort durch die Mitarbeitenden der ThULB und studentische Hilfskräfte mit Geografika und Normdaten angereichert. Eine entsprechende Versionierung der Einträge ist geplant. Die Arbeit erfolgt in enger Kooperation aller Beteiligten mittels eigens vorgesehener Kommunikationsmaßnahmen. So werden die Bürgerinnen und Bürger

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sowohl vor Ort geschult als auch über digitale Formate informiert. Zum Teil sollen altbewährte Formate wie Regionaltagungen und der Flurnamen-Report neu belebt werden, aber es sollen auch neue Veranstaltungen etabliert werden, um jüngere Sammlerinnen und Sammler zu gewinnen: etwa eine Flurnamensprechstunde, regionale Flurnamenstammtische oder -cafés, gemeinsame Flurbegehungen und -wanderungen sowie Projektvorstellungen durch die beteiligten Bürgerinnen und Bürger. Der Einsatz von Social Media umfasst eine eigene Projekthomepage mit Blog, ein eigenes Hashtag sowie Facebook-Aktivitäten 34 und einen Instagram-Account 35 zum Hochladen von Bildern. Auf diese Art und Weise soll auch dem anstehenden Generationenwechsel begegnet werden. 36 Die genaue Kommunikationsstrategie wird gemeinsam mit den Akteuren des Heimatbund Thüringen abgesprochen und soll sich an den Wünschen und Vorschlägen der Ehrenamtlichen orientieren. Die getroffenen Absprachen werden während der Projektlaufzeit regelmäßig aktualisiert. Die gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern zu erarbeitende Datenbasis wird im Portal dargestellt und dann sprachwissenschaftlich und kulturhistorisch ausgewertet. Durch den offenen Zugang zu den Ergebnissen wird das Wissen in die Gesellschaft zurückgespiegelt, wobei die Ehrenamtlichen explizit aufgefordert sind, die Daten zu überprüfen und gegebenenfalls neue Informationen hinzuzufügen oder Korrekturen vorzuschlagen. Das Thüringische Flurnamenportal dient der Datensicherung und -speicherung; als Open-Access-Format mit entsprechend standardisierten Schnittstellen sichert es gleichzeitig die Zugänglichkeit aller Daten und Metadaten für die Zitation. Die Datensätze werden mit URNs (Uniform Resource Name) als Persistent Identifier versehen, um sie dauerhaft auffindbar zu machen. Es greift der Datenmanagementplan der ThULB mit Einbindung von Strategien der Datenversionierung und Langzeitarchivierung. Die nachhaltige Datensicherung und -darstellung wird durch das Thüringische Flurnamenportal und die Einbindung ins Digitale Kultur- und Wissensportal Thüringens (kulthura) 37 gewährleistet. Durch die Verlinkung des Portals auf der Webseite des Heimatbund Thüringen und Informationen in verschiedenen Medien werden fortlaufend weitere Akteure aus der Zielgruppe erreicht. Hier werden auch die Methoden geschildert, 34 https://www.facebook.com/thueringische.flurnamen. 35 https://www.instagram.com/thueringische.flurnamen. 36 Einen großen Erfolg verzeichnet ein kleines Pilotprojekt zur Flur um die Ortschaft Faulungen. Zur aktiven Erkundung der Faulunger Flurnamen entwickelte der Schüler Mika Stützer eine App, mit deren Hilfe man durch die Umgebung des Ortes geleitet wird und Hintergrundinformationen zu den Flurnamen erhält. Die flurnamenkundliche Betreuung erfolgte durch Barbara Aehnlich. Mika Stützer gewann mit seiner App Natour den Landeswettbewerb Jugend forscht. 37 https://kulthura.de/ (letzter Zugriff: 11.07.2022).

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mit denen in Thüringen die Erforschung der Flurnamen betrieben wird, so dass auch nach Ablauf des Projektes weiterhin Flurnamen erhoben und ausgewertet werden können.

Abb. 6: Workflow des Thüringischen Flurnamenportals, Grafik: Petra Kunze, Layout: Free PPT Templates. 2021.

Reflexion und Ausblick Der kooperative Auf- und Ausbau der Datenbasis soll neben Impulsen für die Forschung auch Anlässe für generationenübergreifenden Wissenstransfer, kritische Auseinandersetzung mit lokaler Geschichte sowie bewusste Identifikation mit der Heimatregion für die beteiligten Bürgerinnen und Bürger bieten und ihnen Zugänge zu den wissenschaftlichen Arbeitsweisen und Diskursen ermöglichen. Die etablierte Kooperation mit den ehrenamtlichen Flurnamensammlerinnen und -sammlern soll neue Impulse erhalten und für den anstehenden Generationenwechsel fit gemacht werden. Das heißt, dass der bisherige bürgerwissenschaftliche Ansatz ausgebaut, weiterentwickelt und an die aktuellen technischen Möglichkeiten angepasst werden soll. Während das bisherige Konzept die Einreichung der Flurnamen als Karteikartensammlung oder Word-Datei umfasste, sollen die Bürgerinnen und Bürger nach Möglichkeit in die Lage versetzt werden, ihre Ergebnisse und Erkenntnisse direkt ins Flurnamenportal zu übertragen, wo sie von der Projektleitung überprüft und gegebenenfalls freigegeben werden. Die Datenerhebung bleibt damit als Grundlage erhalten, aber die Ergebnisse der bürgerwissenschaftlichen Forschung werden schneller sichtund nutzbar als bisher.

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Ein langfristiges Engagement der Freiwilligen ist dabei eine Grundvoraussetzung. Die intrinsische Motivation der bisher mitwirkenden über 350 Ehrenamtlichen ist hoch – dies zeigt der Erfolg des Projektes in den letzten 20 Jahren, in denen trotz fehlender Förderung eine sehr aktive Mitwirkung und großes Interesse zu verzeichnen sind. Um neue Exploratoren, vor allem aus der jüngeren Generation hinzuzugewinnen, sollen im Projekt zudem extrinsische Anreize geschaffen werden. Diese bestehen zum einen in organisierten Weiterbildungen zum Thema »Namen«, in denen wissenschaftliches Wissen und Methodenkenntnisse erworben werden können. Zum anderen lernen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, historische Dokumente zu lesen, und bauen ihre Recherche- und Präsentationsfähigkeiten aus. Die Freiwilligen werden durch die wissenschaftliche Anleitung und die Vorstellung ihrer eigenen Forschungen auf regionalen Veranstaltungen zu Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in ihren dörflichen Gemeinschaften. Da hiermit wissenschaftliche Forschung und Weiterbildung in die Gemeinden fließen, hat die Wissenschaftskommunikation einen hohen Stellenwert. Zur Vermittlung und Aktivierung sollen neben den bewährten Wegen nun auch zeitgemäße Social-Media- und interaktive OnlineAngebote wie Webinare oder Social-Media-Walks genutzt werden, um die Erforschung der Flurnamen in die Freizeitgestaltung miteinzubeziehen. So können Fotochallenges auf Instagram, Formate wie Geocaching oder die Wahl zum Namen des Monats dazu dienen, auch die jüngere Generation für das Thema Flurnamen zu begeistern. Die Ehrenamtlichen sind an fast allen Schritten des wissenschaftlichen Prozesses direkt beteiligt. Sie erheben nicht nur die Daten, sondern bringen sich auch mit ihren impliziten Wissensbeständen, ihren Kontakten zu anderen Bürgerinnen und Bürgern, ihrer Mundart und ihrer Kenntnis der sie umgebenden Kulturlandschaft mit ein und generieren dadurch eine breite Datengrundlage, die vonseiten der Projektleitung gesteuert und sortiert werden muss, ehe sie wissenschaftlich ausgewertet werden kann. Durch die externe Perspektive werden neue Forschungsfragen, etwa im Hinblick auf Siedlungs-, Agrar- und Landesgeschichte, aufgeworfen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden für die wissenschaftliche Arbeit und Methodik sensibilisiert und erlernen den Umgang mit digitalen Hilfsmitteln. Da die Flurnamenforschung eine Brückenwissenschaft ist, die ihre Grundlagen aus den verschiedensten Teilgebieten der Wissenschaften bezieht und ihre Erkenntnisse wieder in diese zurückspiegelt, handelt es sich um ein inter- und transdisziplinäres Projekt, welches dem Erhalt und der Erforschung eines wichtigen kulturgeschichtlichen Bestandes dient. Durch die Begegnung verschiedener Generationen wird Wissen über die Flurnamenbestände, ihre Herkunft und ihre Entwicklung mit innovativen Methoden generiert und weitergegeben. Dies

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ist vor allem deshalb wichtig, weil diese Informationen durch das oftmals hohe Alter der derzeitigen »Wissensträgerinnen« und »Wissensträger« akut vom Verlust bedroht sind. Der erhoffte Mehrwert durch den bürgerwissenschaftlichen Ansatz im Gegensatz zu allen bisherigen Forschungen liegt nicht allein in der Unterstützung bei der arbeitsintensiven Aufgabe der Datenerhebung, sondern auch im Zugang zu privaten Quellen und taziten Wissensbeständen. Durch die Ehrenamtlichen werden neue Sichtweisen eingebracht und der inspirierende Blick »von außen« führt immer wieder zur Reflexion der eigenen Forschung und, darauf beruhend, zur Generierung neuer onomastischer Forschungsfragen. Durch die Zusammenarbeit ehrenamtlicher und universitärer Forscherinnen und Forscher entsteht ein Wissenstransfer aus der Gesellschaft in die Wissenschaft und über das Portal, in welchem die Projektergebnisse dargestellt werden, wieder zurück in die Gesellschaft. Das durch die bürgerwissenschaftliche Forschung gemeinsam generierte Wissen stiftet zugleich eine Form von Gemeinschaft. Es geht im Projekt auch darum, Netzwerke unter den Bürgerinnen und Bürgern zu schaffen bzw. sie fest zu etablieren, gemeinsam an Wissen und Forschungsfragen zu arbeiten und den Austausch zwischen den Forschenden und den Bürgerinnen und Bürgern, aber auch zwischen den Generationen herzustellen. Durch den Einbezug verschiedener Generationen und deren Austausch wird zudem ein gesellschaftlicher Mehrwert geschaffen, der nachhaltig in der Gesellschaft verankert werden kann. Die Darstellung im Thüringischen Flurnamenportal sowie die Anbindung an den Heimatbund Thüringen e.V. gewähren eine dauerhafte Sicherung der Projektergebnisse.

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Martin Munke Kultur und Geschichte Sachsens offen und kollaborativ erforschen. Bürgerwissenschaftliche Ansätze im Regionalportal Saxorum

Einführung: Offene Kulturdaten als Methode und Voraussetzung kollaborativer Forschung Die Kataloge der Jahresausstellungen der Kurfürstlichen/Königlichen Sächsischen Akademie der Künste in Dresden, das Deutsche Reichsgesetzblatt, die bilateralen Kulturabkommen und sonstigen kulturellen Vereinbarungen der Bundesrepublik Deutschland – der Dresdner Ingenieur Andreas Wagner beschäftigt sich in seiner Freizeit und meist als Einzelkämpfer intensiv mit der Erfassung historischer Dokumente in der freien Quellensammlung Wikisource (siehe Abb. 1). Seine entsprechenden Aktivitäten – die Produktion von online frei verfüg- und nachnutzbaren Texten und zugehörigen Metadaten – hat er in zwei Beiträgen im Blog Saxorum. Blog für interdisziplinäre Landeskunde in Sachsen der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) vorgestellt. 1 Sie sind ein Beispiel für das, was wir als Open Citizen Science bezeichnen: den »[b]ürgerwissenschaftliche[n] Umgang mit offenen Kulturdaten und die zur Nachnutzung und zur weiteren Bearbeitung offen[e] Präsentation der Ergebnisse« 2. Unter offenen Kulturdaten verstehen wir dabei mit 1 Vgl. Andreas Wagner: Das zeigte die Sächsische Akademie der Künste nach 1800. Ausstellungskataloge in Wikisource, in: Saxorum. Blog für interdisziplinäre Landeskunde in Sachsen, 21.01.2020, https://saxorum.hypotheses.org/3975. Ders.: Auf dem Weg zur Quelle – ein ›Reisebericht‹ von Andreas Wagner, in: Ebd., 08.06.2021, https://saxorum.hypotheses.org/6045. Zu seinen verschiedenen, teilweise im Zusammenspiel mit der SLUB durchgeführten Projekten vgl. auch Jens Bemme, Martin Munke: Open Citizen Science. Leitbild für kuratorische Praktiken in Wissenschaftlichen Bibliotheken, in: Klaus Ulrich Werner (Hrsg.): Bibliotheken als Orte kuratorischer Praxis, Berlin/Boston 2021, S. 165–200, hier: S. 165–169, https://doi.org/10.1515/9783110673722-013. Auf alle Onlinequellen wurde zuletzt am 7. Dezember 2021 zugegriffen. 2 Bemme, Munke: Open Citizen Science, S. 167 f. Vgl. einführend zu diesem Konzept und mit zahlreichen weiteren Beispielen auch Martin Munke, Jens Bemme: Bürgerwissenschaften in wissenschaftlichen Bibliotheken. Strategie- und kooperative Projektarbeit, Investitionen in offene

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Helene Hahn »digitalisierte Publikationen und Objekte aus sog. GLAMInstitutionen (›Galleries, Libraries, Archives, Museums‹), deren offen erschlossene Inhalte und Metadaten sowie ihre offene Kuratierung, Bereitstellung und Bearbeitung« 3 unter möglichst freien Lizenzen, im Idealfall der Public Domain oder der Creative Commons-Lizenz CC0 1.0 Universell – Kein Urheberrechtsschutz (CC0 1.0).

Abb. 1: Transkription eines Katalogs der Kgl. Sächsischen Akademie der Künste in Wikisource, Quelle: https://de.wikisource.org/wiki/Illustrirter_Katalog_der_akademischen_Kunst-Ausstellung_zu_Dresden_1894 (Screenshot).

Bei individuellen Vorhaben wie denen von Andreas Wagner gerät die auf die Projekthaftigkeit abzielende Definition von Partizipationsstufen im Bereich Citizen Science nach Rick Bonney u. a. 4 an ihre Grenzen: Hier werden kontributive (die Beteiligung bezieht sich allein auf das Sammeln von Daten), kollaborative (die Beteiligung ist in einer unterstützenden Rolle auch bei der Erarbeitung des Projektdesigns oder bei der Datenauswertung möglich) und ko-kreative Ansätze (gleichberechtigte Rolle der Projektbeteiligten) voneinander unterschieden. Bei ›Ein-Personen-Vorhaben‹ wie dem von Andreas Wagner sind die Freiheiten Kulturdaten und in Anwenderwissen, in: o-bib. Das offene Bibliotheksjournal 6.4 (2019), S. 178– 203, https://doi.org/10.5282/o-bib/2019H4S178-203. 3 Jens Bemme, Martin Munke: Offene Daten und die Zukunft der Bürgerforschung in Wissenschaftlichen Bibliotheken, in: Thomas Bartoschek, Daniel Nüst, Mario Pesch (Hrsg.): Forum Citizen Science 2019. Die Zukunft der Bürgerforschung, Münster 2019, S. 27–39, hier: S. 32. https://doi.org/10.17605/OSF.IO/QHRC4 nach Helene Hahn: Kooperativ in die digitale Zeit – wie öffentliche Kulturinstitutionen Cultural Commons fördern. Eine Einführung in offene Kulturdaten, Berlin 2019, bes. S. 5 f., 9 f., https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0297-zib-59131. 4 Vgl. Rick Bonney u. a.: Public Participation in Scientific Research. Defining the Field and Assessing Its Potential for Informal Science Education. A CAISE Inquiry Group Report, Washington D.C. 2009, S. 11.

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ungleich größer. Insgesamt dürften sie im Bereich der Geistes- und damit auch der Geschichtswissenschaften der Regelfall sein. Viel stärker als die Naturwissenschaften basieren sie noch immer auf individuell vorangetriebener und nicht in Gruppen durchgeführter Forschung. Dies gilt umso mehr für den Bereich der ehrenamtlichen Wissenschaft auf einer meist lokalen Ebene, für die sich die professionelle Forschung seltener interessiert. 5 Gleichwohl gewinnen gemeinschaftliche Ansätze auch hier an Bedeutung, v. a. im Zusammenhang mit den ubiquitären Digitalisierungsprozessen. 6 Sie sollen hier ebenfalls mit dem Attribut kollaborativ bezeichnet werden – nicht im Sinne von Bonney u. a., sondern im Sinne einer Zusammenarbeit, die in der Regel asynchron verlaufen wird, indem auf von anderen erfasste, bearbeitete, transkribierte usw. Daten, Informationen oder Quellen zurückgegriffen wird und auf dieser Basis eigene Vorhaben entwickelt und durchgeführt werden. Wie entsprechende Ansätze in das Regionalportal Saxorum integriert werden, soll im Folgenden gezeigt werden. 7 Zuvor wird das im Saxonica-Referat der SLUB konzipierte und in Zusammenarbeit mit den Arbeitsbereichen Datenmanagement und Digitale Präsentation der Bibliothek entwickelte und betreute Portal 8 kurz allgemein vorgestellt. Da der Text so den Charakter eines Arbeitsberichtes aufweist, erfolgt weitgehend ein Verweis auf Publikationen aus dem Umfeld der vorgestellten Anwendungen, Formate und Projekte.

Regionalportal Saxorum: Onlineressourcen für eine digitale Landeskunde von und in Sachsen Seit Januar 2019 nach etwa zweijähriger Vorbereitungsphase online verfolgen wir mit Saxorum das Ziel, digital vorliegende Angebote zu Themen der sächsischen Landeskunde und -geschichte miteinander zu vernetzen und gemeinsam recherchierbar zu machen. 9 ›Landeskunde‹ wird dabei mit Karl Mannsfeld als 5 Vgl. Enno Bünz: Landesgeschichtsforschung und Heimatgeschichte, in: Mitteilungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz e.V. 1 (2013), S. 2–7. 6 Vgl. als Überblick für Sachsen jetzt Judith Matzke, Martin Munke, Andreas Rutz: Digitale Landeskunde in Sachsen. Ressourcen, Infrastrukturen, Projekte, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 157 (2021) [2022], S. 419–454, https://doi.org/10.25366/2022.65. 7 Einen ersten Überblick zu den Aktivitäten und theoretischen Ansätzen von Citizen Science an der SLUB auch jenseits von Saxorum bietet Martin Munke: Citizen Science/Bürgerwissenschaft. Projekte, Probleme, Perspektiven am Beispiel Sachsen, in: Jens Klinger, Merve Lühr (Hrsg.): Forschungsdesign 4.0. Datengenerierung und Wissenstransfer in interdisziplinärer Perspektive, Dresden 2019, S. 107–124, https://doi.org/10.25366/2019.11. 8 https://www.saxorum.de. 9 Der folgende Abschnitt basiert auf Martin Munke: Regionalportal Saxorum. Ein Internetangebot zu Geschichte, Alltag und Kultur in Sachsen, in: Geschichte Sachsens. Wissen teilen – ein

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eine interdisziplinäre wissenschaftliche Beschäftigung auf regionaler Ebene verstanden, die »naturräumliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen aus Vergangenheit und Gegenwart in ihrer Bedeutung für eine Abschätzung zukünftiger Entwicklungen [behandelt]« bzw. »sich mit den natürlichen, wirtschaftlichen, historischen, sozialen oder kulturellen Bedingungen des jeweiligen Beispiel- oder Bezugsraumes beschäftig[t]« 10. Gemäß seinem Namen – einer Kombination aus der Abkürzung für Sachsen und dem Begriff Forum – versteht sich das Portal als ein Treff- und Mittelpunkt für themenbezogene Recherchen zu Sachsen in seinen regionalen, nationalen und internationalen Bezügen, der neben historischen auch kulturelle und Alltagsfragen mit aufgreifen will. Es werden daher nicht nur landeshistorisch relevante Datenbestände der SLUB einbezogen, sondern auch Angebote anderer Einrichtungen für die Recherche integriert. Die Seite ist modular aufgebaut und bietet im aktuellen Zustand einige Basisfunktionalitäten, die beständig erweitert werden. Saxorum versteht sich so als Nachfolger das alten landeskundlichen Informationssystems Sachsen.digital. 11 Von diesem wurden die vier Kategorien ›Orte‹, ›Personen‹, ›Themen‹ und ›Ressourcen‹ als klassische Sucheinstiege solcher regional orientierter Internetplattformen übernommen. 12 Eines der im Vergleich zum Vorgängerportal neuen Features ist die Saxorum-Personensuche (siehe Gemeinschaftsblog, 03.02.2021, https://histsax.hypotheses.org/11514. Vgl. jetzt ausführlich Ders.: Regionalportal Saxorum. Konzept – Stand – Perspektiven, in: Ders. (Hrsg.): Landes- und Regionalgeschichte digital. Angebote – Bedarfe – Perspektiven, Dresden 2022, S. 41–57, https://doi.org/10.25366/2021.28. 10 Karl Mannsfeld: Landeskunde als interdisziplinäre Regionalforschung, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 6 (2011), S. 56–60, hier: S. 58 f., http://www.denkstroeme.de/heft-6/s_56-60_mannsfeld. Zur programmatischen Adaption an der SLUB vgl. Julia Meyer, Martin Munke: Digitale Landeskunde für Sachsen. Programme und Projekte an der SLUB Dresden, in: Bibliotheksdienst 52.2 (2018), S. 106–119, bes. S. 106–109, https://doi.org/10.1515/bd-2018-0015. 11 Unter dem Markennamen Sachsen.digital betreibt die SLUB parallel zu Saxorum ein weiteres Angebot, in dessen Rahmen digitalisiertes Kulturgut aus wissenschaftlichen und öffentlichen Bibliotheken sowie aus weiteren Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen des Freistaats Sachsen präsentiert wird. Digitalisate, die sich inhaltlich mit Sachsen beschäftigen sind über die Sächsische Bibliografie auch in Saxorum recherchierbar. Vgl. Martin Munke: Neue Impulse für eine digitale Landeskunde von Sachsen. Die Onlineportale Sachsen.digital und Saxorum, in: Sächsische Heimatblätter 64.1 (2018), S. 72–77, hier: S. 75–77, https://doi.org/10.52410/shb.Bd.64.2018.H.1.S.72-77. Konstantin Hermann: Die Digitalen Sammlungen der SLUB und die sächsische Landesgeschichte, in: Munke, Landes- und Regionalgeschichte digital, S. 80–94, hier: S. 89–94, https://doi.org/10.25366/2021.30. 12 Vergleichende Perspektiven auf aktuelle Entwicklungen in diesem Bereich bieten Stefan Aumann, Lutz Vogel: Landesgeschichte im elektronischen Zeitalter, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 70 (2020), S. 223–254. Ute Engelen: Wieder »modern«? Regionale Geschichtsbilder und Regionalportale, in: Arnd Reitemeier (Hrsg.): Landesgeschichte und public history, Ostfildern 2020, S. 217–236. Angela Schwarz: Portale zur Landes- und Regionalgeschichte im Netz. Neue Zugänge, neue Akteursgruppen?, in: Westfälische Forschungen 69 (2019), S. 329– 356. Interessanterweise ist trotz der Themenstellung keiner dieser Beiträge digital verfügbar. Vgl. außerdem die einzelnen Beiträge in Munke, Landes- und Regionalgeschichte digital.

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Abb. 2). 13 Technische Grundlage bildet die Gemeinsame Normdatei (GND), in der Personendatensätze mit eindeutigen Identifikationsnummern versehen werden. Durchsuchbar sind die mit GND-Identifikatoren versehenen Personendaten, die in der Sächsischen Biografie des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV), in der ebenfalls im Saxonica-Referat erarbeiteten Sächsischen Bibliografie und im Ende 2016 abgeschalteten Personen.Wiki der SLUB erfasst sind bzw. waren. Aktuell (Dezember 2021) enthält die Datenbank fast 20.000 Einträge zu bereits verstorbenen und noch lebenden Personen. Fehlende Personen können über ein Kontaktformular 14 gemeldet werden. Der Index wird monatlich aktualisiert. Möglich ist eine Suche nach Namen, Geburts-, Sterbeund Wirkungsorten, Geburts- und Todesjahr sowie Berufen und Tätigkeitsfeldern. Zu den bei einer Recherche gefundenen Personen wird neben dem Datensatz aus der GND eine Reihe weiterführender Informationen angezeigt, bspw. Literaturangaben über die und von der Person aus der Sächsischen Bibliografie, falls vorhanden der Verweis auf den biografischen Eintrag in der Sächsischen Biografie und im Onlinelexikon Wikipedia sowie gegebenenfalls auf weitere, frei im Internet verfügbare biografische Nachschlagewerke wie die Deutsche Biographie. Die Ergebnisse können als CSV-Datei exportiert und weiterverarbeitet werden.

Abb. 2: Ergebnisansicht einer Abfrage in der Saxorum-Personensuche, Quelle: https://www. saxorum.de/personen/personensuche/ergebnisse (Screenshot).

13 https://www.saxorum.de/index.php?id=10178. 14 https://www.saxorum.de/index.php?id=10835.

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Einen neuen Schwerpunkt von Saxorum bilden unter der Überschrift ›Mitmachen‹ verschiedene Beteiligungsmöglichkeiten. In ihnen spiegelt sich die Ausrichtung sowohl auf professionell Forschende als auch auf die interessierte Öffentlichkeit wider. Sie sollen im Folgenden in ihren verschiedenen Abstufungen 15 genauer vorgestellt werden.

Bürgerwissenschaftliche Ansätze I: Projekte vorstellen Bereits einige Monate vor Freischaltung des Hauptportals ging im Oktober 2018 das eingangs erwähnte Themenblog im Rahmen des internationalen, nichtkommerziellen Blogportals Hypotheses 16 für die Geistes- und Sozialwissenschaften online. 17 Es stellt die zentrale Oberfläche für den ersten Ansatz dar, mit dem wir in Saxorum bürgerwissenschaftliche Vorhaben unterstützen wollen: die Vorstellung entsprechender Projekte. Als Gemeinschaftsblog konzipiert, schreiben hier – neben einem festen Autorenstamm aus dem Saxonica-Referat – institutionell angebundene wie freie Forschende aus Sachsen und darüber hinaus. Seit dem Start sind über 200 Beiträge erschienen: Projektvorstellungen, Rezensionen, Ausstellungs- und Tagungsberichte, auch längere Essays. Die Texte stehen unter der Creative Commons-Lizenz Namensnennung 4.0 International (CC BY 4.0). 18 Sie sind also bei Angabe der Quelle ohne weitere Rechteeinholung nachnutzbar. Haben 2019 monatlich durchschnittlich 1.300 Personen mit mehr als 7.000 Seitenaufrufen bei über 3.000 Besuchen das Blog genutzt, waren es 2021 bereits über 3.300 Personen mit mehr als 32.000 Seitenaufrufen bei über 8.300 Besuchen. Alle Beiträge des mit einer ISSN bei der Deutschen Nationalbibliothek katalogisierten Blogs werden über die Sächsische Bibliografie als Teil des Verbundkataloges K10plus erschlossen und sind damit auch in den überregionalen Bibliothekskatalogen recherchierbar. Außerdem wird parallel eine freie Erschließung im offenen Datenbanksystem Wikidata vorgenommen. Sie ermöglicht verschiedene Visualisierungen zum Gesamtbestand der bisher erschienenen Beiträge – etwa der Themenschlagworte als Häufigkeitsdiagramm oder eine Bildergalerie der aus dem

15 Diese Abstufungen werden im Portal selbst so nicht explizit gemacht, sondern hier aus Gründen der Systematisierung eingeführt. 16 https://de.hypotheses.org/. 17 Judith Matzke, Martin Munke: Landes(zeit)geschichte und Soziale Medien. Eine Annäherung aus sächsischer Perspektive, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 70 (2020), S. 255–284, hier: S. 273–275, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-733917. 18 https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de.

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Medienarchiv Wikimedia Commons eingebundenen Illustrationen. 19 Die Plattform Hypotheses garantiert die Langzeitarchivierung sowie die Ausspielung der Beiträge in Open Access-Aggregatoren wie der Suchmaschine BASE.

Abb. 3: Ansicht der Einstiegsseite zur Kategorie Citizen Science im Saxorum-Blog auf dem Portal Hypotheses, Quelle: https://saxorum.hypotheses.org/category/citizen-science (Screenshot).

19 Während die Erschließung in der Sächsischen Bibliografie als geschlossenem System dem bibliothekarischen Personal des Saxonica-Referates vorbehalten ist, wohnt der offenen Erschließung in Wikidata potentiell selbst ein bürgerwissenschaftliches Moment inne; vgl. dazu Jens Bemme: Eigene Metadaten für eigene Blogposts – Wissenschaftskommunikation und Bibliografien mit offenen Daten und Wikidata, in: Redaktionsblog, 09.11.2021. https://redaktionsblog.hypotheses.org/5219 sowie den Beitrag von Dems. und Christian Erlinger in diesem Band, S. 159–181.

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Über eine eigene Kategorie ›Citizen Science‹ 20 werden bürgerwissenschaftliche Ansätze prominent im Blog bedient (siehe Abb. 3). Die entsprechenden Beiträge lassen sich grob in zwei Bereiche einteilen. Erstens handelt es sich um ›Metabeiträge‹ zu den Aktivitäten der SLUB in diesem Feld. Sie befassen sich in der Regel mit dem Themenbereich ›Offene Daten‹, sind oft eine Vorstufe für umfassendere Publikationen oder berichten aus laufenden Projekten. 21 Von den bis dato 50 Beiträgen in der Kategorie lassen sich etwa die Hälfte diesem Bereich zuordnen. Auch wenn sie eher aus einem ›professionellen‹ Blick auf Citizen Science geschrieben sind, kommt ihnen dennoch insofern eine wichtige Rolle zu, als dass sie im Idealfall helfen können entsprechende Ansätze in den Geschichtswissenschaften zu popularisieren und ihre Möglichkeiten aber auch Grenzen zu erläutern. Dies gilt umso mehr, als es sich hier vielfach um jene Art an datengetriebenen Vorhaben handelt, wie sie im Kontext der Digital Humanities zuletzt schon an Bedeutung gewonnen haben und noch weiter gewinnen werden. 22 Zweitens werden unter dieser Kategorie konkrete Projekte bürgerwissenschaftlichen Zuschnitts vorgestellt. Meist werden die Projektverantwortlichen dafür durch die Saxorum-Mitarbeiter kontaktiert. Nur selten resultiert daraus – wie im eingangs skizzierten Beispiel von Andreas Wagner – das Verfassen eines eigenen Textes. Vielmehr wird häufig eine gewisse Zurückhaltung deutlich (und gelegentlich auch explizit artikuliert), auf einer Plattform zu publizieren, für die auch ›Profis‹ schreiben. Eine Ausnahme bilden jene Fälle, in denen in der Projektkoordination eine Person mit professionellem Hintergrund beteiligt ist, 23 oder wenn es sich um Personen jenseits der ›klassischen‹ Klientel der ›Heimatforschenden‹ handelt. In letzterem Fall handelt es sich meist um solche, die von der ›Datenseite‹ her kommen. Sie können daher inhaltliche Bezugspunkte zu den Open Data-Aktivitäten der SLUB herstellen und sind mit den Möglich-

20 https://saxorum.hypotheses.org/category/citizen-science. 21 Für ein Beispiel siehe den Beitrag von Jens Bemme und Christian Erlinger in diesem Band, S. 159– 181. Weitere Beiträge zum Thema, die über den inhaltlich sächsischen Horizont von Saxorum hinausgehen, finden sich auch im ebenfalls auf Hypotheses angesiedelten Blog des Open Science Labs der SLUB, https://osl.hypotheses.org/category/blogeintraege/buergerwissenschaften. 22 Vgl. Martin Munke, Hendrikje Carius, Marlene Ernst, René Smolarski: Gemeinsam Geschichte(n) entdecken. Stand und Perspektiven von Citizen Science in den Geschichtswissenschaften, in: Aletta Bonn u.a. (Hrsg.): Citizen Science – Gemeinsam forschen! Ein Handbuch für Wissenschaft und Gesellschaft, Cham 2023. Unter Fokus auf die Landesgeschichte Martin Munke: Digitalität in der Landes- und Regionalgeschichte: Informations-, Kommunikationsund Forschungsräume. Eine Einführung, in: Munke, Landes- und Regionalgeschichte digital, S. 8–27, bes. S. 20–23, https://doi.org/10.25366/2021.26. 23 Vgl. am Beispiel eines Schülerprojektes Jasmin Hain: Ganztagsangebot »Junge Historiker« – eine Zusammenarbeit von Marienoberschule und Stadtarchiv Treuen, in: Saxorum, 28.04.2020, https://saxorum.hypotheses.org/4718.

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keiten des Web 2.0 vertraut. 24 In der Hauptsache erfolgen die Projektvorstellungen daher in der Form von Interviews, die von der Redaktion mit Projektbeteiligten geführt werden – entweder individuell Forschenden 25 oder solchen, die in Geschichts- und Heimatvereinen organisiert sind. 26 Auf diese Weise wird immerhin eine Brücke geschlagen zwischen den oft noch getrennten Welten ehrenamtlicher und professioneller Forschung und wird erstere in einem qualitätsgesicherten Umfeld präsentiert. Ein weiteres Mittel dafür ist die Rezension von Publikationen aus solchen Projekten. Dies wird im Blog einerseits über das klassische Besprechungsformat realisiert. 27 Andererseits testen wir hierfür gerade am Beispiel des Themenschwerpunktes ›Industriekultur‹ das Format von Kurzannotationen, womit zugleich die Arbeit der Sächsischen Bibliografie vorgestellt werden soll: Bei den vorgestellten Werken handelt es sich um Titel, die im Rahmen der täglichen Erschließungsarbeit ›über den Schreibtisch gehen‹. 28

Bürgerwissenschaftliche Ansätze II: Projekte begleiten und unterstützen Jenseits der reinen Präsentation bildet die Begleitung und Unterstützung von bürgerwissenschaftlichen Projekten eine zweite Ebene ihrer Verankerung in Saxorum. Die Bandbreite reicht über die Bereitstellung von Daten und die Übernahme von (Teil-)Aufgaben im Projekt bis hin zur Bewerbung in den Sozialen Medien. Dieser Bereich lässt sich wiederum zweiteilen in selbst (mit-)initiierte Projekte, für die mithin eine größere Verantwortung übernommen wird, und in externe Projekte. Ein Beispiel für ersteren Ansatz ist das Transkriptionsprojekt Dresdner Totengedenkbuch 1914–1918. 29 Es wird seit Februar 2021 gemeinsam vom Verein 24 Vgl. z. B. Stefan Kühn: Wikidata kennt nun jede Straße in Dresden. Erfahrungsbericht aus der Dresdner Wikipedia-Community, in: Saxorum, 25.05.2021. https://saxorum.hypotheses.org/6019. 25 Vgl. z. B. Meerane in Postkarten: Quellen der Lokalgeschichte, in: Saxorum, 27. April 2021, https://saxorum.hypotheses.org/5844. 26 Vgl. z. B. Historisches Raschau – eine Ortsgeschichte in Gebäudebiografien, in: Saxorum, 16. März 2021, https://saxorum.hypotheses.org/5834. 27 Vgl. z. B. Uta Bretschneider: Familienerinnerungen: Leben und Wirtschaften am Rande der Lommatzscher Pflege, in: Saxorum, 29.09.2020, https://saxorum.hypotheses.org/5185; Robin Reschke: Nationalsozialistischer Terror in Sachsen – erste Gesamtdarstellung erschienen, in: Ebd., 20.11.2018, https://saxorum.hypotheses.org/1116. 28 Vgl. Martin Munke, Jens Bemme, Daniel Fischer: Sächsische Industriegeschichte lokal und regional. Aktuelle Forschungsergebnisse, in: Saxorum, 30.03.2021, https://saxorum.hypotheses.org/5873. Der Beitrag wird fortlaufend ergänzt. 29 Vgl. Munke: Citizen Science/Bürgerwissenschaft, S. 117 f. ausführlich Ders.: Dresdner Totengedenkbuch 1914–1918. Ein partizipatives Transkriptionsprojekt von bürgerschaftlichen Vereinen und Forschungsinfrastruktureinrichtungen, in: Diana Stört, Anita Hermannstädter, Franziska Schuster (Hrsg.): Partizipative Transkriptionsprojekte in Museen, Archiven und Bibliotheken.

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für Computergenealogie, dem Dresdner Verein für Genealogie und der SLUB auf Basis eines Bestandes im Sächsischen Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden durchgeführt. Erste Ideen reichen bis 2016 zurück. Die konkreten Vorbereitungen begannen 2018. Ziel ist die Transkription und strukturierte Erfassung von mehreren Tausend handgeschriebenen Karteikarten, die durch die SLUB digitalisiert wurden. Sie enthalten die Namen der in Dresden wohnenden Gefallenen des Ersten Weltkriegs sowie weitere persönliche Information wie z. B. Geburtsort, Beruf und Angehörige. Eine wichtige, aber bisher kaum genutzte historische Quelle soll damit digital aufbereitet und nutzbar gemacht werden. Das Projekt richtet sich an Geschichts- und genealogisch Interessierte mit Kenntnissen in Handschriften des frühen 20. Jahrhunderts. Die Projektpartner unterstützen durch Schulungen dabei, entsprechende Kenntnisse zu erwerben. Ca. 25 Personen tragen regelmäßig Datensätze bei, bis Dezember 2022 wurden mehr als 8.000 Karteikarten abschließend bearbeitet. Technisch wird das für Projekte dieser Art bewährte Daten-Eingabe-System (DES) 30 des Vereins für Computergenealogie genutzt. Damit ist zugleich eine Verbindung zu anderen dort vorliegenden Datenbeständen, wie den reichsweit geführten Verlustlisten des Ersten Weltkrieges, möglich. Die Daten können in strukturierter Form gespeichert und für die eigene Forschung weiterverwendet werden. Bis heute ist die genaue Zahl der aus Dresden stammenden Toten des Ersten Weltkriegs unbekannt. Das Projekt trägt dazu bei, auf diese Frage eine gesicherte Antwort geben zu können. Zugleich schafft es die Voraussetzungen für weitergehende Forschungen zur Geschichte einer deutschen Großstadt im Ersten Weltkrieg, z. B. zur sozialen Zugehörigkeit der Soldaten und zu ihrer Wohnsituation. Weiterhin finden Familienforschende hier eine wichtige Datengrundlage für ihre eigene Ahnenforschung. Begleitet wird das während der Coronapandemie begonnene Projekt hauptsächlich durch verschiedene Onlineformate wie Videotutorials, eine wöchentliche Sprechstunde und einführende Hands-on-Veranstaltungen für potentiell Interessierte, z. B. für die Seniorenakademie der TU Dresden. Die Formate werden über die verschiedenen Saxorum-Kanäle (Blog, Twitter) kommuniziert, auf denen Zwischenstände veröffentlicht werden, zur Beteiligung aufgerufen wird oder eine Vernetzung mit vergleichbaren Projekten erfolgt. 31 Ein ähnliches Vorgehen kann auch für externe Dokumentation zum Workshop am 28./29. Oktober 2021, Berlin 2023, S. 81–86, https:// doi.org/10.7479/szm4-fs62. 30 http://des.genealogy.net. Vgl. Jesper Zedlitz: 10 Jahre Dateneingabesystem DES – Erfahrungen und Perspektiven, in: Stört u.a., Partizipative Transkriptionsprojekte, S. 77–80. 31 Vgl. z. B. den einführenden Blogbeitrag mit Verlinkung weiterer Onlineressourcen wie einem Screencast und einem Projektposter von Martin Munke: Dresdner Totengedenkbuch 1914–1918. Gemeinsames Crowdsourcingprojekt bürgerschaftlicher Vereine und wissenschaftlicher Bibliothek, in: Saxorum, 04.05.2021, https://saxorum.hypotheses.org/5967.

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Projekte angewendet werden, v. a. wenn sie Bezüge zu Beständen der SLUB aufweisen. Dabei handelt es sich um eine zentrale Komponente der Beteiligung von Bibliotheken, aber auch von Archiven und Museen an bürgerwissenschaftlichen Vorhaben. 32 Als Beispiel mag hier wiederum ein in seiner ursprünglichen Form von Andreas Wagner initiiertes Projekt dienen: die Erfassung und Erschließung zweier zentraler Publikationen zur sächsischen Industriegeschichte des 19. Jahrhunderts in Wikisource, Wikimedia Commons und Wikidata. 33 Ursprünglich startete das Projekt als Vorhaben zur Transkription des Albums der sächsischen Industrie 34 und der Groß-Industrie des Königreichs Sachsen in Wort und Bild 35 auf Wikisource. Die Frakturschrift der Imagedigitalisate wurde durch Wagner mit einem OCR-Programm automatisch erkannt und seitenweise in Wikisource eingepflegt. Für die Groß-Industrie wurde dazu durch die SLUB ein neuer Scan des Werkes in besserer Qualität durchgeführt und die Dateien Wagner zur Verfügung gestellt wurden. Anschließend erfolgte in Wikisource die Korrektur der OCR-Ergebnisse. Die Bebilderungen der Texte wurden einzeln in den Wikimedia Commons angelegt. Eine Ansicht ist ebenfalls seitenweise in Wikisource möglich. Bereits in diesem Projektabschnitt war mit Jens Bemme ein Saxorum/SLUB-Mitarbeiter ehrenamtlich an der Korrektur der transkribierten Scans beteiligt, die Einstiegsseiten der Transkription auf Wikisource wurden außerdem in der Sächsischen Bibliografie verlinkt. Auf eigene Initiative begann Bemme mit der formalen Erfassung und inhaltlichen Verschlagwortung der einzelnen Abschnitte in Wikidata. Über die entsprechenden Aktivitäten berichtete er im Twitter-Kanal von Saxorum und warb über einen längeren Zeitraum hinweg in verschiedenen Beiträgen im SaxorumBlog für eine Beteiligung. 36 Darüber wurde Bibliotheksmitarbeiter Christian 32 Vgl. Nicole Graf u.a.: Von Sammlungen zu Gemeinschaften. Citizen Science und Archive, Bibliotheken, Museen und Wissenschaftsläden, in: Aletta Bonn u.a. (Hrsg.): Citizen Science – Gemeinsam forschen! Ein Handbuch für Wissenschaft und Gesellschaft, Cham 2023. 33 Vgl. knapp Munke, Bemme: Bürgerwissenschaften, S. 191 f. Ausführlich Zoé Sona: Geisteswissenschaftliche Citizen Science-Projekte mit Open Data-Ansatz in deutschen Gedächtnisinstitutionen, Masterarbeit, Humboldt-Universität zu Berlin, 2020 [veröffentlicht 2021], bes. S. 33–46, https://doi.org/10.18452/22526. 34 Louis Oeser (Hrsg.): Album der sächsischen Industrie. Oder: Sachsens grösste und ausgezeichnetste Fabriken, Manufakturen, Maschinen- und andere wichtige gewerbliche Etablissements in vorzüglichen naturgetreuen Abbildungen mit statistisch-topographischem, historischem und gewerblichem Texte, 2 Bde., Neusalza 1856, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:14-dbid2520699786. 35 Die Groß-Industrie des Königreichs Sachsen in Wort und Bild. Eine Ehrengabe für Se. Majestät König Albert von Sachsen gewidmet von den dankbaren Groß-Industriellen, 2 Bde., Leipzig 1892/93, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:14-db-id2542597234. 36 Vgl. etwa Jens Bemme: »Eisberg voraus!« – Sächsische Landeskunde mit SXRM, Wikisource und Wikidata, in: Saxorum, 30.01.2019, https://saxorum.hypotheses.org/2081. Ders.: Regionale

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Erlinger aus Wien auf das Vorhaben aufmerksam und nahm, ebenfalls in seiner Freizeit, eine Automatisierung der Anlage der Datenobjekte vor. Auf Basis der Erschließung lassen sich mit den vorhandenen Wikidata-Werkzeugen Visualisierungen des Datenbestandes, etwa zur räumlichen Verteilung der Firmen und ihrer Branchenzugehörigkeit, vornehmen (siehe Abb. 4 und 5).

Abb. 4: Titelblatt des Albums der sächsischen Industrie, Quelle: https://digital.slub-dresden.de/id252070399/5, Public Domain. Kulturdatenquellen. Alte Texte über Sachsen mit Wikisource verbessern, in: Ebd., 31. März 2020, https://saxorum.hypotheses.org/4593.

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Abb. 5: Auf einer Wikidata-Abfrage basierende Visualisierung der im Album der sächsischen Industrie porträtierten Firmen, Quelle: https://w.wiki/9Bf (Screenshot), © OpenStreetMap contributors.

Im Laufe des Projektes entwickelte sich dieses mithin von einem individuellen zu einem durch mehrere Personen getragenen Vorhaben, ohne dass dafür in größerem Umfang Ressourcen seitens der SLUB zur Verfügung gestellt wurden. Die Bibliotheksmitarbeitenden waren ebenfalls weitgehend ehrenamtlich tätig, wobei sich diese Aktivität freilich mit dienstlichen Interessen überschnitt: »Die SLUB profitiert davon durch Know How in Bezug auf kollaborative Werkzeuge, durch Projektbeispiele für die Weiterverwendung und Bearbeitung von Objekten aus Digitalen Sammlungen, durch Wissenszuwachs für die bibliographische Erschließung digitaler – und insbesondere landeskundlicher – Texte und Bilder mittels Wikidata sowie durch die öffentliche Profilierung in der Open GLAM-Bewegung.« 37

Zugleich entsprechen solche Vorgänge unserer Arbeitsweise, die weniger zielals prozessorientiert angelegt ist. Sie dient dazu, die Zusammenarbeit mit ehrenamtlich Forschenden auszubauen und die Potentiale solcher Kooperationen zu erproben. Die begleitende Kommunikation in den Sozialen Medien zum Thema ist außerdem ein gutes Beispiel für das Konzept eines Linked Open Storytelling, einem Werkzeug- und Methodenmix zur Nutzung der verschiedenen offenen Systeme, v. a. der Wikimediawelten im Zusammenspiel mit anderen offenen Umgebungen, wie eben dem Blogportal Hypotheses und mit proprietären Diensten wie Twitter für die Wissenschaftskommunikation. Ein Konzept, das auch bürgerwissenschaftliche Projekte für sich adaptieren können. 38 37 Bemme, Munke: Open Citizen Science, S. 167. 38 Vgl. jetzt Jens Bemme: Linked Open Storytelling – Wissenschaftskommunikation mit offenen Kulturdaten der Landeskunde, in: Munke: Landes- und Regionalgeschichte digital, S. 58–79, https://

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Bürgerwissenschaftliche Ansätze III: Projekte hosten Eine dritte Stufe schließlich ist die Möglichkeit, Projektergebnisse (bzw. Teile davon) direkt auf Saxorum zu hosten. 39 Besonders bieten sich dafür Vorhaben an, die sich vergleichsweise unkompliziert in bibliothekarische Systeme einbinden lassen können, also in erster Linie Sammlungen von bibliografischen Metadaten. Ein Beispiel dafür ist die Literaturdatenbank Bruch|Stücke 40, die auf einem gleichnamigen Projekt von Daniel Ristau beruht. Zwar ist Ristau selbst ausgebildeter Historiker, hat aber das Vorhaben, das hier kurz skizziert werden soll, weitgehend ehrenamtlich durchgeführt bzw. nur zum Ende hin im begrenzten Umfang Fördermittel dafür erhalten. Im Kontext des Beitrags liegt der Fokus hier mithin auf dem »bürgerschaftlich« in »bürgerwissenschaftlich«. Seit 2016 führte Ristau im Projekt 41 die bisher vorliegenden Forschungsergebnisse und Publikationen sowie neue Quellen zu den Novemberpogromen in Sachsen zusammen. Zwischen dem 9. und 11. November 1938 sahen sich auch hier in rund sechzig größeren und kleineren Orten als Juden verfolgte Menschen verschiedenen Formen antisemitischer Handlungen ausgesetzt: Sie wurden gedemütigt, körperlich misshandelt, beraubt, ihre Geschäfte und Wohnungen vielfach demoliert, Einrichtungen der jüdischen Gemeinden systematisch zerstört. Hunderte der Verfolgten wurden in sogenannte Schutzhaft genommen und in Haftanstalten und Konzentrationslager verschleppt. Mehrere der Verfolgten starben an oder in der Folge von Gewalt und Lagerhaft; andere nahmen sich selbst das Leben. Neben einer ab 2018 gezeigten, dreiteiligen Wanderausstellung mit regionalen Schwerpunkten auf Chemnitz/Südwestsachsen, Dresden/Ostsachsen und Leipzig/Nordwestsachsen sowie einer Buchpublikation 42 zum Thema ist in doi.org/10.25366/2021.29. Mit Fokus auf das Wikiversum Jens Bemme, Martin Munke: Digitale Wissenschaftskommunikation im und mit dem Wikiversum. Erfahrungen aus der SLUB Dresden, in: 027.7. Zeitschrift für Bibliothekskultur 9.2 (2022), https://doi.org/10.21428/1bfadeb6.4112166b. Zu den Potentialen (und Herausforderungen) der Sozialen Medien für die Landesgeschichtsforschung allgemein vgl. auch Matzke, Munke: Landes(zeit)geschichte, S. 257–263, 278–282. 39 Nicht eingegangen wird hier auf die natürlich ebenfalls vorhandene Möglichkeit, klassische Publikationen aus bürgerwissenschaftlichen Kontexten über den sächsischen Dokumentenserver Qucosa elektronisch erst- oder zweitzuveröffentlichen. Der SLUB-Mandant des Servers ist explizit auch für solche »Dokumente aus und über Sachsen« gedacht; https://slub.qucosa.de/. 40 https://www.saxorum.de/index.php?id=10455. 41 Vgl. die einleitend und vorläufig resümierend gestalteten Aufsätze Daniel Ristau: Die Novemberpogrome 1938 in Sachsen. Forschungsstand und -perspektiven, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 87 (2016), S. 271–281, https:// doi.org/10.52411/nasg.Bd.87.2016.S.271-281, Ders.: Der 9. November 1938. Die Novemberpogrome in Sachsen im Spannungsfeld zwischen Geschichtsforschung, Gedenkkultur und persönlicher Erinnerung, in: Medaon. Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 12.23 (2018), https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-345609. 42 Daniel Ristau: Bruch|Stücke. Die Novemberpogrome in Sachsen 1938, Leipzig/Berlin 2018.

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Zusammenarbeit mit der SLUB im Rahmen des Projektes die über Saxorum gehostete Datenbank entstanden. 43 Zunächst als persönliches Citavi-Projekt geführt, sind in ihr Literatur und Quellen zu den Pogromen auf dem Gebiet des heutigen Sachsen erfasst und zusammengeführt. Basis für die öffentlich nutzbare Version ist die Sächsische Bibliografie, die an der SLUB im Referat Saxonica erarbeitet und ab Mitte 2023 direkt in das Regionalportal integriert sein wird. In Zusammenarbeit mit dem Bibliotheksservicezentrum des Südwestdeutschen Bibliotheksverbund wurde für die Datenbank eine eigene sogenannte Virtuelle Bibliothek anlegt, in der die Datenerfassung erfolgt. Hierfür werden bereits bestehende Titelangaben aus der Verbunddatenbank genutzt und in einem sogenannten Exemplarsatz mit einer weitergehenden Erschließung versehen. Diese erfolgt in einem Enthält-Vermerk mit genaueren Angaben zu den Themen, Personen und Orten, die in der jeweiligen Publikation behandelt werden. Dies ist besonders für umfassendere Werke wichtig, in denen die Pogromereignisse in Sachsen nur am Rand behandelt werden und bei denen sich allein aus dem Titel nicht die konkrete Relevanz für die Erforschung des Pogromgeschehens in seinen sächsischen Zusammenhängen ergibt – etwa bei Autobiografien sowie Ortschroniken und -geschichten. Das Recherchewerkzeug schafft über die digitale Oberfläche so eine Vereinigung der bislang in ihrer Reichweite oft auf den lokal Raum begrenzten, teils aber auch weltweit verstreuten Texte. Auch die Presseberichterstattung zur Wanderausstellung und erste Stimmen zur Buchpublikation wurden in der Datenbank erfasst. Im Regionalportal wird das Angebot als sogenanntes Themenmodul präsentiert (siehe Abb. 6). Neben einem kurzen Einführungstext findet sich hier eine einfache Suchmaske. Nach einer Suchanfrage etwa zu Orts- oder Personennamen wird eine Ergebnisliste mit bibliografischen Angaben auf Basis der in der Datenbank enthaltenen Werke sowie der ergänzenden Enthält-Vermerke generiert. Der Datenbestand wird fortlaufend ergänzt, wofür über ein Meldeformular auf Saxorum 44 auch externe Vorschläge eingereicht werden können. Das Formular ist auch allgemein für die Sächsische Bibliografie nutzbar, die damit ebenfalls von bürgerwissenschaftlicher Expertise profitiert. 45 Die Einbindung in das 43 Vgl. zum Folgenden Martin Munke: Gebündeltes Wissen. Bruch|Stücke – eine Literaturdatenbank zu den Novemberpogromen in Sachsen 1938, in: Medaon 13.24 (2019), https://nbnresolving.org/urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-345326. 44 https://www.saxorum.de/index.php?id=10207. 45 Diesen Aspekt bürgerwissenschaftlicher Ansätze, der auch über die Präsenz der Bibliografie in der Wikipedia unterstützt wird, habe ich an anderer Stelle ausführlich behandelt; vgl. Martin Munke: Landesbibliographie und Citizen Science. Kooperationsmöglichkeiten für Bibliotheken und Wiki-Communities am Beispiel der Sächsischen Bibliografie, in: Ulrich Hagenah, Lars Jendral, Maria Elisabeth Müller (Hrsg.): Regionalbibliographien: Forschungsdaten und Quellen des kulturellen Gedächtnisses. Liber amicorum für Ludger Syré, Hildesheim u. a. 2019, S. 195– 207, hier: S. 199–202, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-728065.

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Regionalportal garantiert eine dauerhafte Verfügbarkeit der Bruch|Stücke-Datenbank, die bürgerwissenschaftliche und ehrenamtliche Projekte selbst in der Regel nicht leisten können. Auch wird so eine höhere Sichtbarkeit als bei einer rein privaten Internetseite erreicht.

Abb. 6: Einstiegsseite zum Themenmodul Bruch|Stücke im Saxorum-Portal, Quelle: https://www. saxorum.de/index.php?id=10455 (Screenshot).

Bürgerwissenschaftliche Ansätze IV: Methoden und Tools vermitteln Ein anderer Ansatz, eine solche Persistenz und Sichtbarkeit zu erzeugen, ist die Nutzung offener Systeme wie den bereits genannten Wikimedia-Angeboten. Im Rahmen von Saxorum werden im Bereich ›Ressourcen‹ dafür Anwendungsmöglichkeiten von Wikidata 46 und Wikisource 47 vorgestellt. Die vergleichsweise kompakt gehaltenen Seiten verweisen auf weiterführende Angebote und präsentieren einige landeskundlich relevante Beispiele. Anschaulicher und intensiver lassen sich diese und andere Anwendungsmöglichkeiten über Kurs- und Schulungsangebote vermitteln. In Zusammenarbeit mit dem Sächsischen Landeskuratorium ländlicher Raum e.V. wurde im Juni/Juli 2021 von SLUB-/Saxorum-Mitarbeiter Jens Bemme ein erster, zweiteiliger Workshop zum Thema durchgeführt. Ziel war es, Wikidata als Werkzeug vorzustellen und bei Bedarf vertiefend Beispiele, Anleitungen, Quellen und 46 https://www.saxorum.de/index.php?id=10857. 47 https://www.saxorum.de/index.php?id=10856.

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Datenzusammenhänge zu präsentieren. Die Kursunterlagen sind über die Wikiversität – ein Wikimediaprojekt zum gemeinschaftlichen Erstellen von freien Lehr- und Lernmaterialien – verfüg- und nachnutzbar. 48 Der erste, einführende Workshopteil wurde im Nachgang als Videomitschnitt auch für nicht direkt Beteiligte online zugänglich gemacht. 49 Solche zentralen Veranstaltungen werden in der Regel mit Partnern wie dem Landeskuratorium als wiederum selbst bürgerschaftlich organisiertem Akteur durchgeführt. Daneben bieten die Saxorum-Mitarbeiter individuelle Beratungen und eine Begleitung bei den ersten eigenen Schritten an, die sich gleichermaßen an ehrenamtlich wie an professionell Forschende richten. Die »Übergänge zwischen Beruf und freiberuflicher bürgerwissenschaftlicher Arbeit sind [dabei] zuweilen fließende« 50: Aus solchen Anfängen entstehen oft weiterführende Aktivitäten, die z. B. in eine Projektbegleitung (oder mehr) nach den oben skizzierten Mustern münden können. Zugleich dürfte in dieser Mittlerrolle, in der beide Perspektiven nachvollzogen bzw. selbst eingenommen werden können, ein Schlüssel für den weiteren Ausbau entsprechender Ansätze nicht nur im Regionalportal Saxorum, sondern allgemein in der SLUB als Landes- und Universitätsbibliothek liegen. 51

Perspektiven: Skalierung, Verstetigung, Vernetzung Die präsentierten Beispiele aus den vergangenen drei Jahren seit dem Start des Regionalportals Saxorum zeigen, wie bürgerwissenschaftlichen Ansätzen darin eine wichtige Rolle zukommt. Während die Aktivitäten der ersten genannten Ausprägung (Projekte vorstellen) über die geschilderten Systeme und mit dem vorhandenen Personal (im Saxonica-Referat arbeiten zwei Personen jeweils mit gewissen Zeitanteilen am Portal) gut abgebildet werden können, sind denen der zweiten Ausprägung (Projekte begleiten und unterstützen) bereits engere Grenzen gesetzt. Die Anzahl an solchen Projekten, die parallel betreut und vorangetrieben werden können, bleibt gering, wenn der ehrenamtliche Anteil bei den SLUB-Angestellten nicht überhandnehmen soll. Für die dritte Ausprägung 48 https://de.wikiversity.org/wiki/Kurs:Wikidata_und_Heimatforschung_(SXRM,_2021). 49 Vgl. Jens Bemme: Digitale Heimatforschung mit Wikidata – ein Workshopbericht über verlinkendes Datendenken, in: Saxorum, 20.07.2021, https://saxorum.hypotheses.org/6183. 50 Bemme und Erlinger in diesem Band, S. 162. 51 Vgl. Munke, Bemme: Bürgerwissenschaften, S. 195–197. Bemme, Munke: Open Citizen Science, S. 192–194. Ein jüngeres Beispiel ist die Unterstützung des Dresdner Geschichtsvereins bei dessen Aktivitäten zur Erforschung der eigenen Vereinsgeschichte in Wikisource, Wikidata und dem Stadtwiki Dresden, https://de.wikiversity.org/wiki/DieDatenlaube/Notizen/DDHefte-Ideen. Ein Blogbeitrag in Saxorum zur genaueren Vorstellung und Einordnung dieser Aktivitäten ist in Vorbereitung.

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(Projekte hosten) bildet das Bruch|Stücke-Projekt bisher das einzige Beispiel, wobei eine Umsetzung vergleichbarer Anwendungsfälle seitens der SLUB mit relativ geringem Aufwand erfolgen könnte. Hier gilt es eher, diese Möglichkeit bekannt zu machen und mit weiteren Beispielen ihren Nutzen aufzuzeigen. 52 Nach wie vor ist es außerdem wichtig, wahrgenommene Hürden abzubauen. Geschehen kann dies über den Ausbau und die Verstetigung bestehender Kontakte. Eine wichtige Mittlerrolle kommt dabei den Vereinen zu: Der Dresdner Verein für Genealogie, das Sächsische Landeskuratorium ländlicher Raum oder auch der Dresdner Geschichtsverein und der Verein für sächsische Landesgeschichte sind bereits in intensive Kooperationsbeziehungen mit der SLUB eingebunden, die sich teilweise auch in und über Saxorum manifestieren. Zwar haben in der Coronapandemie digitale Formate stark an Bedeutung gewonnen. Die ›analoge Komponente‹ sollte aber nicht unterschätzt werden. Gerade im Kontakt mit den Bürgerwissenschaften ist es wichtig, auch physische Räume zum Austausch zu bietet, um Hürden zu senken. 53 Zugleich kommt natürlich digitalen Angeboten gerade im Bereich der Vernetzung eine wichtige Rolle zu. Ein für eine Umsetzung in den kommenden Jahren bereits angedachtes Vorhaben dazu ist der Aufbau einer Forschungsdatenbank. Sie soll die Arbeits- und Themenschwerpunkte ehrenamtlich Forschender verzeichnen und so die Kontaktaufnahme untereinander befördern. Vorbild ist der Forschungskompass, der an der SLUB im Rahmen des Fachinformationsdienstes Mobilitäts- und Verkehrsforschung (FID move) auf Basis der OpenSource-Software VIVO entwickelt wurde. 54 Das Vorhaben ist im Strategiepapier SLUB 2025 – Wissen teilen, Menschen verbinden festgeschrieben, das auch allgemein bürgerwissenschaftlichen Kooperationen einen hohen Stellenwert einräumt. 55 Diese strategische Verankerung äußert sich darüber hinaus überregional in der Beteiligung am Themenkapitel Archive, Bibliotheken, Museen und Wissenschaftsläden im Weißbuch Citizen-Science-Strategie 2030. 56 Darin heißt es u. a.: 52 Eine Abfrage solcher und anderer Bedarfe war Teil einer Service-Umfrage der SLUB, die im Juni 2022 online durchgeführt werde. Über 1.200 von mehr als 5.700 gültigen Fragebögen lassen sich hierbei dem Bereich bürgerwissenschaftlicher Nutzung der Bibliothek zuordnen. Die Auswertung läuft aktuell noch. 53 Vgl. Bemme, Munke: Open Citizen Science, S. 189–192. 54 https://www.mobility-compass.eu; vgl. Stefan Wolff, Maria Rutschke, Matthias Fuchs: The Mobility Compass. A VIVO-based approach for exploring interdisciplinary research networks, in: o-bib. Das offene Bibliotheksjournal 8.1 (2021), https://doi.org/10.5282/o-bib/5642. 55 Vgl. Achim Bonte, Antonie Muschalek (Hrsg.): Wissen teilen – Menschen verbinden. SLUB 2025. Strategie der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Dresden 2019, bes. S. 16 f., https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-357501. 56 Vgl. Aletta Bonn u. a.: Weißbuch Citizen-Science-Strategie 2030 für Deutschland. Berlin/Leipzig 2022, S. 111–117, https://doi.org/10.31235/osf.io/ew4uk.

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»Archive, Bibliotheken, Museen und Wissenschaftsläden haben eine lange Tradition als Bindeglieder zwischen Forschung und Zivilgesellschaft und bieten daher langfristige physische und konzeptionelle Räume für Citizen Science mit großer Nähe zu Bürgerinnen und Bürgern. Als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Gesellschaft schaffen sie damit innovative Räume und Möglichkeiten des gemeinsamen Experimentierens und Lernens.« 57

Saxorum kann mit seinen genannten Funktionen als ein Beispiel dafür dienen, wie solche Verbindungen hergestellt werden können. Im Weißbuch wird dafür der Begriff einer ›Transfereinrichtung‹ verwendet. Er bezieht sich einerseits auf die Vermittlungsfunktion der genannten Kultur- und Gedächtnisinstitutionen, die die Geschichte, Kontexte und Inhalte ihrer Bestände und Sammlungen aufbereiten, kommunizieren und (nach)nutzbar machen. Beispiele in Saxorum sind die eigenen Angebote wie die Personensuche oder die Sächsische Bibliografie. Andererseits steht der Begriff für die multidirektionalen Funktionsweisen des Transfers. Sie gehen über eine reine Dienstleistungsfunktion der Institutionen hinaus und stellen die Befähigung von Bürgerinnen und Bürgern zum eigenständigen Forschen in den Fokus. Beispiele hierfür sind u. a. die genannten Schulungs- und Vermittlungsangebote. Damit wird auch ein neues Rollenverständnis der Gedächtniseinrichtungen transportiert, das die gemeinsame Wissensarbeit eben als beiderseitige Transferleistung in den Blick nimmt. Entsprechend wird im Weißbuch als Leitbild formuliert: »Im Jahr 2030 verstehen sich Archive, Bibliotheken, Museen und Wissenschaftsläden sowie andere Institutionen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Öffentlichkeit als Wissensräume und Bildungsstätten mit institutioneller Vermittlungsaufgabe und in diesem Sinne als Gedächtnis- und Transferorganisationen. Citizen Science ist als Forschungs- und Transferansatz ein fester Bestandteil in den Leitbildern und im Selbstverständnis von Institutionen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Öffentlichkeit zur aktiven Zusammenarbeit mit Bürger:innen. Als etablierte Anlaufstellen für Fachgesellschaften und bürgerliches Engagement verbinden sie Wissenschaft und Gesellschaft.« 58

Mit Saxorum ist es unser Ziel, solch ein Bindeglied aufzubauen und damit Impulse für eine offene und kollaborative Forschung im Bereich der sächsischen Landeskunde zu setzen.

57 Ebd., S. 8. 58 Ebd., S. 8.

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Jens Bemme / Christian Erlinger Die Datenlaube – Citizen Science & digitale historische Hilfswissenschaft

Die Datenlaube ist seit 2019 eine Citizen Science-Initiative für und mit offenen Kulturdaten 1 im Wikiversum. Artikelvolltexte des 19. Jahrhunderts der Illustrierten Die Gartenlaube 2 werden auf der Volltextplattform Wikisource 3 transkribiert, deren Illustrationen frei verfügbar auf Wikimedia Commons 4 gespeichert, bibliografische Metadaten werden als linked open data in Wikidata erschlossen. Darüber hinaus nützt Die Datenlaube diese offenen Daten für die Wissenschaftskommunikation unter dem Begriff Linked Open Storytelling. 5 Dieser Text bietet in erster Linie Reflexionen zu den praktischen Tätigkeiten des inzwischen dreijährigen Projektzeitraums. Die Datenlaube arbeitet mit gegebenen digitalen Objekten, Infrastrukturen und Fachkulturen sowie mit eigenständiger Forschung und Entwicklung. Die vorliegende Dokumentation der Arbeitsweise und der Ergebnisse soll für das Verständnis bürgerwissenschaftlicher datenorientierter Code- und Forschungsarbeiten sowie für die Potenziale solcher Beteiligungs- und Akteurskonstellationen hilfreich sein. Intrinsisch motiviert veredelt das Projektteam transkribierte historische Volltexte, die in Wikisource seit Jahren von anderen Menschen wiederum ebenfalls intrinsisch motiviert geschaffen werden, mit strukturierten Metadaten in Wikidata. Warum? Weil es geht und weil der Erfolg sofort sichtbar wird. Auf diese Weise erzeugt das Projektteam Daten, Metadaten und digitale Methoden, 1 2 3 4 5

https://www.wikidata.org/wiki/Q61943025 (letzter Zugriff 20.01.2021). https://de.wikisource.org/wiki/Die_Gartenlaube (letzter Zugriff 20.01.2021). https://de.wikisource.org/ (letzter Zugriff 20.01.2021). https://commons.wikimedia.org/ (letzter Zugriff 20.01.2021). Linked Open Storytelling ist in Anlehnung an Linked Open Data die Nutzung offener Daten und ihrer Verlinkungen z. B. in Sozialen Medien für die Wissenschaftskommunikation, https:// www.wikidata.org/wiki/Q66631860 (letzter Zugriff 20.01.2021), vgl. Jens Bemme: Linked Open Storytelling. Wissenschaftskommunikation mit offenen Kulturdaten der Landeskunde, in: Martin Munke (Hrsg.): Landes- und Regionalgeschichte digital. Angebote – Bedarfe – Perspektiven, Dresden 2022 (in Veröffentlichung).

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die potentiell als Grundlagen für weitere Forschungen und digitale Projekte dienen können. Sei dies in der Geschichtswissenschaft und allgemeiner in den Digital Humanities, oder den Bibliotheks- und Informationswissenschaften. Als weitgehend ehrenamtliches Citizen Science- bzw. Crowdsourcingprojekt von anfangs zwei Bibliotheksbeschäftigten aus der Sächsischen Landeskunde in Dresden bzw. eines Systembibliothekars in Wien ist fachliche bzw. fachwissenschaftliche Nähe zum Projektgegenstand Metadaten offensichtlich. Vom Fach sind die Projektmitglieder 6 in Bezug auf Die Gartenlaube und deren fachwissenschaftliche Relevanz in der Regel aber nicht. Grundlegendes Verständnis für und bisweilen eine Neugier auf die fachwissenschaftlichen Diskurse ist gleichwohl vorhanden. Für die Produktion auch methodisch sauberer Publikationen samt handwerklich gründlicher z. B. Quellen- und Literaturverzeichnisse zum Forschungsstand reicht die Kraft und Zeit nicht immer. Anything goes oder alles kann, nichts muss! Dieses Credo bringt den Grad der Ernsthaftigkeit und den Grad der Verbindlichkeit des Projekts Die Datenlaube auf den Begriff. Vorliegender Text entstand einmal mehr auf den letzten Drücker nach fast einem Jahr Reifezeit. Wir dokumentieren gern, um zu zeigen, was geht – und um andere zur Mitarbeit anzustiften. Zugleich nötigt uns nichts und niemand dazu. Dieser Rahmen wirkt durchaus produktiv – in der Zwischenzeit entstanden und entstehen andere Projektergebnisse und Publikationen. Unterscheidet uns dies, abgesehen von der institutionellen Verankerung, von professionellen Forschungsprojekten? Teils, teils – vermutlich.

Projektbeschreibung Die Datenlaube entstand aus einem wiederholten Versprecher und ist dadurch ein Begriffsmix aus Wikidata und Die Gartenlaube. Solvejg Nitzkes Arbeit zu protoökologischen Narrativen in Texten des 19. Jahrhunderts gaben den Anstoß die Gartenlaube-Serie Deutschlands merkwürdige Bäume in Wikidata bibliografisch formal und inhaltlich zu erschließen. 7 Die verschlagworteten Standorte der portraitierten Bäume konnten so mittels Wikidata-Abfrage auf Basis von Open Street Map visualisiert werden. 8

6 Wikidata: Jens Bemme (Q56880673), Christian Erlinger (Q67173261), Matthias Erfurth (Q104817476). 7 Solvejg Nitzke: Datenlauben(um)welten. German periodical Ecologies, in: #vBIB21 – Digitale Communities, 2.12.2021, https://dx.doi.org/10.5446/55578. 8 Solvejg Nitzke: Sachsens arboreale Merkwürdigkeiten, oder: Wie man Geschichte(n) verwurzelt, in: Saxorum. Blog für interdisziplinäre Landeskunde in Sachsen, 24.05.2019, https://saxorum.hypotheses.org/2396.

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Aufbauend auf ersten Erfahrungen mit manueller und automatisierter Erschließung sächsischer Industriealben 9 des 19. Jahrhunderts 10 in Wikisource mittels Wikidata entschieden Christian Erlinger in Wien und Jens Bemme in Dresden die bereits vorliegenden Volltexte (Transkriptionen und OCRKorrekturen) des langjährigen Wikisourceprojektes Die Gartenlaube (Jahrgänge 1853–1899) vollumfänglich in Wikidata zu bibliographieren. Die Gartenlaubetranskriptionen zum Thema Fahrrad bildeten einen zweiten persönlichen Zugang zu dem Großprojekt Die Gartenlaube, da Jens Bemme seit 2014 historische Radfahrliteratur um 1900 recherchiert und digitalisiert. 11 Die Neugier methodisches Neuland zu betreten bzw. die Ahnung, damit manches Lorbeerblatt gewinnen zu können, spielten dabei eine Rolle. Absehbar waren und sind die Wikisource-Volltexte der Gartenlaube ein sprichwörtlicher Honigtopf, sowohl als historische Quellen als auch bibliographisch durch neue Erschließungsmethoden mit Linked Open Data. Das Bewusstsein für diesen Quellen- und Datenschatz wächst seitdem mit der Projektarbeit. Inzwischen ist das Projektteam mit Matthias Erfurth vom Stadtwiki Dresden zu dritt. 12 Die genutzten Infrastrukturen Wikisource, Wikidata, Wikimedia Commons, Wikiversity und Wikipedia stehen vollständig offen zur Verfügung. Als Werkzeuge für die Daten- und Grafikbearbeitung wird auf Open Source-Lösungen zurückgegriffen und deren Anwendung in unserem Projektblog 13 auch immer wieder exemplarisch dargestellt. Jupyter-Notebooks 14 werden als Programmierumgebung für Python-Skripts vorrangig zur Datenmanipulation eingesetzt. Mit OpenRefine 15 steht eine Software zur tabellarischen Manipulation größerer Datenmengen und zum direkten Abgleich mit Wikidata und zum Upload dorthin zur Verfügung. GIMP 16 leistet als freie Bildbearbeitungssoftware gute Dienste zur Freistellung und Bearbeitung der zahlreichen Illustrationen der Gartenlaube. Als nicht-institutionelle Projektinitiative agiert das Team autonom, auch im Innenverhältnis. Anfangs basierte die Projektkommunikation auf der Chat9 Vgl. auch in diesem Band: Martin Munke: Kultur und Geschichte Sachsens offen und kollaborativ erforschen. Bürgerwissenschaftliche Ansätze im Regionalportal Saxorum. 10 Jens Bemme: Kollaborative Query- und Modulentwicklung für SXRM mit Wikidata und Wikisource, 8. Februar 2019, https://www.saxorum.de/aktuelles/beitrag/2019/2/08/kollaborativequery-und-modulentwicklung-fuer-sxrm-mit-wikidata-und-wikisource. 11 https://de.wikisource.org/wiki/Tourenb%C3%BCcher_f%C3%BCr_Radfahrer (letzter Zugriff 20.01.2021). 12 Matthias Erfurth: Regionales Wissen mit der Datenlaube als Erinnerungsort sichtbar machen, https://de.wikiversity.org/wiki/VBIB21/DatenlaubeCon/Regionales_Wissen_(nearby). 13 Die Datenlaube Blog, https://diedatenlaube.github.io (letzter Zugriff 20.01.2021). 14 https://jupyter.org/ (letzter Zugriff 20.01.2021). 15 https://openrefine.org/ (letzter Zugriff 20.01.2021). 16 https://www.gimp.org/ (letzter Zugriff 20.01.2021).

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funktion im Kurznachrichtendienst Twitter. Halbstündige Projektbesprechungen mit dem Videokonferenz-Tool Jitsi von Wikimedia Deutschland ergänzten dies in einer regelmäßigen Form ab August 2020. Dieser wöchentliche DatenlaubeJam ist prinzipiell offen für alle Interessierten. 17 Eine Projektleitung gibt es nicht. Informell übernehmen Einzelne anlassbezogen die Initiative und Verantwortung für Teilprojekte, z. B. für Publikationen. Die Arbeitsweise ist in diesem Sinne verbindlicher als in Wikisource, wo bis auf die ehrenamtlichen Administratoren nur sporadisch Absprachen zwischen den ehrenamtlich Mitarbeitenden erfolgen. Gemein ist beiden Projekten der hohe Grad informeller weitgehend unkoordinierter Kooperationen. Etwaige Unterstützung und zielgerichtete Zusammenarbeit kommt meist ad hoc zustande. Die Datenlaube ist in gewissem Sinne eine Nische bzw. Teilprojekt des Gartenlaubeprojekts in Wikisource, da wir auch dort durch Textkorrekturen, Bildbearbeitungen und Textseitenpflege aktiv mitarbeiten. Das Projekt will gleichzeitig auch eine Brücke bilden zu anderen Wiki-Portalen, insbesondere zu Wikidata, aber eben auch zu potentiellen Anwenderinnen und Anwendern aus Wissenschaft und Kulturinstitutionen. Die Übergänge zwischen Beruf und freiberuflicher bürgerwissenschaftlicher Arbeit sind zuweilen fließend, denn Die Gartenlaube enthält auch Saxonica, das Sammelgebiet des Referats, in dem Jens Bemme arbeitet. Die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB Dresden) ermöglicht außerdem einem der Wikisource-Administratoren, Andreas Wagner, mit dem Wikisource-Informationsstand in der Zentralbibliothek samstäglich einen öffentlichen Arbeitsplatz für Beratung und Projektwerbung. Eingebettet ist dieses Angebot im Handlungsfeld Citizen Science der Bibliothek. 18 Absprachen und gegenseitige Hilfe mit Andreas Wagner bei Wikidata-Erschließungen, neuen Wikisourceprojekten und Projektberichten dienen so oft mehreren Zielen – eigenen Anliegen als Citizen Scientist und Anliegen der Bibliothek hinsichtlich Erschließung der Sammlungen, Nutzerberatung, datenorientierter Methodenentwicklung, medialer Dokumentation und Profilentwicklung als Landesbibliothek. Die Projektbibliografie der Datenlaube und ihrer Mitarbeiter bestehend aus Blogposts, Gastbeiträgen, Konferenzpostern und Lehrveranstaltungen wird mit Wikidata erschlossen und ist mit Scholia 19 abrufbar.

17 https://de.wikiversity.org/wiki/DieDatenlaube/Notizen (letzter Zugriff 20.01.2021). 18 Jens Bemme, Martin Munke: Open Citizen Science: Leitbild für kuratorische Praktiken in Wissenschaftlichen Bibliotheken, in: Klaus Ulrich Werner (Hrsg): Bibliotheken als Orte kuratorischer Praxis, Bibliotheks- und Informationspraxis Bd. 67, Berlin 2020, S. 165–202, https:// dx.doi.org/10.1515/9783110673722-013. 19 https://scholia.toolforge.org/venue/Q61943025 (letzter Zugriff: 20.01.2022).

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Die Daten Die Datenlaube ist die Daten gewordene Gartenlaube. In der deutschsprachigen Wikisource, dem Wikipedia-Schwesternprojekt für die Transkription urheberrechtsfreier Volltexte, wird seit 2008 Seite für Seite der Gartenlaube der Jahrgänge 1853 bis einschließlich 1899 transkribiert und in einzelnen Artikeln gruppiert, digital neu und im publizistischen Zusammenhang veröffentlicht. Die Scans der Seiten sind auf Wikimedia Commons gespeichert, die Volltexte werden seitenweise in Wikisource gespeichert. Zeitschriftenartikel werden zusammengefasst, d. h. auch bei einer über mehrere Hefte verteilten Erscheinung, als eigenständige bibliographische Einheit in Wikisource dargestellt und mit grundlegenden Metadaten zu Titeln, Autorinnen oder Autoren, Heften, Seitenzahlen und Jahrgängen ausgewiesen. Jahrgangsinhaltsverzeichnisse und das Kategoriensystem in Wikisource stellen die für Wikis typischen Erschließungssysteme dar. Darüber hinaus werden einzelne Artikel auf den sogenannten Autorenseiten verzeichnet oder je nach thematischer Zuordnung als Literatur auf Themensammlungsseiten in Wikisource verlinkt. In Wikimedia Commons sind die einzelnen Seitenscans mit einer speziell für das Gartenlaube-Projekt erstellten Vorlage ausgezeichnet, die die Scans einem Jahrgang zuordnen und ein Vor- und Rückwärts-Navigieren von Seite zu Seite ermöglichen. Zusätzlich zu den Volltexten werden sämtliche je Zeitschriftenseite vorhandenen Illustrationen freigestellt, nötigenfalls bearbeitet und in Wikimedia Commons neu abgespeichert. Diese Grafiken werden in den einzelnen Volltextseiten in Wikisource wiederum als Illustrationen eingebettet, um somit Artikel in ihrem inhaltlichen Zusammenhang als Gesamtheit bestehend aus Textkörper und Bildmaterial zugänglich zu machen. Editorisch bearbeitet werden die Texte durch Hyperlinks von ggf. existierenden Fußnoten und Referenzen sowie durch interne Wikisourcelinks zu erwähnten Personen, Orten und anderen bereits transkribierten Werken. Seit Beginn des Jahres 2019 werden die Artikel vollständig mit Hilfe von Wikidata formal und inhaltlich erschlossen. 20 Wikidata wird dadurch zur freien und strukturierten Bibliographie der freien Quellensammlung Wikisource. Methoden der teilautomatisierten bibliographischen Datenextraktion und Erschließung mit Wikidata durch Tools wie Quickstatements oder Jupyter Notebooks sind im Folgenden dokumentiert. 21 20 Jens Bemme: »Hilfe für die Datenlaube: mit [[Wikisource+Wikidata]] die freie Quellensammlung verbessern«, 2019, https://blog.wikimedia.de/2019/10/16/hilfe-fuer-die-datenlaube-mitwikisourcewikidata-die-freie-quellensammlung-verbessern/ (letzter Zugriff: 20.01.2022). 21 Jens Bemme, Christian Erlinger: »Die Datenlaube der Gartenlaube«, in: Die Datenlaube-Blog, 2019, https://diedatenlaube.github.io/die_datenlaube_der_gartenlaube.html.

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Von geschätzt 18.500 Artikeln, die ab 1853 bis zum Jahr 1900 in der Gartenlaube publiziert wurden, waren am 1. November 2021 bereits 16.278 Artikel in Wikisource vorhanden. Diese Angabe basiert auf derzeit 40.379 gescannten Seiten, von denen bislang über 90 % zumindest einmal im Volltext korrigiert sind. 22 Die Artikelseiten in Wikisource sind allesamt mit einer Infobox mit den grundlegenden Artikelmetadaten ausgestattet. Dies umfasst in der Regel den Titel des Artikels, Quellenstelle mit Heftnummer, Seitenzahl und Publikationsjahr. Teilweise wird auch eine Kurzzusammenfassung oder ein Link zu einer relevanten Wikipedia-Seite angegeben, die das Hauptthema des Textes beschreibt. Darüber hinaus beinhalten die Infoboxen in der Regel noch Links zu den Seitenscans in den Wikimedia Commons sowie Informationen zum Bearbeitungsstand der Textkorrektur nach den Editionsrichtlinien des jeweiligen Wikisourceprojektes. Diese Grunddaten, die auch aktuell noch immer von der Wikisource-Community beim Erzeugen eines neuen Artikels manuell eingetragen werden, 23 sind die Basis für alle weiteren maschinellen Datenübernahmen und -auswertungen des Projekts.

Wikidata-Datenmodell Wikidata ist eine seit Oktober 2012 bestehende zentrale und multilinguale Graph-Datenbank zur Speicherung und Verlinkung von strukturierten Daten, die für jeden und jede sowohl zur Bearbeitung als auch zur Abfrage offensteht. 24 Bearbeitbar ist sowohl der Inhalt als auch die Struktur des Graphen. Wikidata ist durch die graphische Bedienoberfläche in einer Mediawiki-Instanz für Menschen lesbar. Durch die strukturierte Datenerfassung ist sie aber auch maschinenlesbar. Die Datenbank und deren Inhalte sind unter CC0 lizenziert. Die Daten in einer Graph-Datenbank werden in sogenannten RDF-Tripeln (Resource Description Framework) gespeichert. RDF-Tripel sind, vereinfacht formuliert, Aussagen in der Form Subjekt – Prädikat – Objekt. Im Fall der Gartenlaube bedeutet dies, dass für jeden Artikel in Wikisource ein Wikidata-Item als bibliographischer Datensatz angelegt wird. Ein solches Item sollte ein entsprechendes Mindestset an bibliographischen Informationen des Artikels bereithalten (vgl. Tabelle 1). 22 Wikisource.de: Projektstand, Die Gartenlaube am 6. November 2021, https://de.wikisource.org/w/ index.php?title=Die_Gartenlaube&oldid=3861632 (letzter Zugriff: 20.01.2022). 23 Matthias Erfurth: Gartenlauben-Artikel Auf Wikisource Nach Wikidata, 2021, in: Die Datenlaube-Blog, https://diedatenlaube.github.io/Tutorial_Wikisource_nach_Wikidata.html. 24 Denny Vrandečić, Markus Krötzsch: Wikidata: A Free Collaborative Knowledgebase, in: Communications of the ACM 57.10 (2014), S. 78–85, https://dl.acm.org/doi/10.1145/2629489.

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Tabelle 1: Basis-Metadatenschema für einen bibliographischen Datensatz der Gartenlaube in Wikidata.

Wikidata-Property

Format/Beschreibung

Beispiel (wd:Q61996511)

rdfs:label (lang=de)

Label des Items (Deutsch)

Jean Paul Richter

rdfs:label (lang=en)

Label des Items (Englisch)

Jean Paul Richter

schema:description (lang=de)

Beschreibung des Items (dt.)

Artikel in: Die Gartenlaube, 1853, Heft 34

schema:description

Beschreibung des Items (en.)

german article in Die Gartenlaube, 1853, no. 34

wdt:P31

instance of (verlinkt)

article wd:Q191067

wdt:P50

author (verlinkt)

no value

wdt:P1476

title (String)

»Jean Paul Richter«

wdt:P407

language of work or name (verlinkt)

German wd:Q188

wdt:P577

publication date YYYY-MM-DD)

1853

wdt:P304

pages (String)

197

wdt:P433

issue (String)

18

wdt:P1433

published in (verlinkt)

Die Gartenlaube wd:Q655617

wdt:P921

main Subject (verlinkt)

Jean Paul wd:Q77079

Wikisource-Page

schema:about (verlinkt)

Wikidata-Artikel

(Datum:

Der jeweilige Artikel stellt im RDF-Tripel das Subjekt dar. Die Wikidata-Properties bilden dabei die Prädikate, also die Eigenschaften, die einem bibliographischen Datensatz innewohnen. Die Objekte sind die einzelnen Werte, die diesen Datensatz charakterisieren. Das sind mindestens der Titel des Artikels, das Publikationsdatum, die Seitenzahl, eine Angabe der Verfasserinnen oder Verfasser usw. usf. Wikidata als Linked Data Knowledge Graph entwickelt seine Stärke zudem dadurch, dass der Großteil der Datenwerte Verlinkungen sind. Das heißt, die

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Angabe, dass ein Artikel in der Gartenlaube publiziert wurde, erfolgt nicht durch textuelle Angabe »publiziert in« – Die Gartenlaube, sondern durch Verlinkung auf das Wikidata-Item der Zeitschrift. Gleiches gilt für die Angabe der Verfasserinnen oder Verfasser, für Schlagworte und weitere Felder. Durch diese Verlinkungen entsteht in weiterer Folge erst die Möglichkeit (semantische) Abfragen an Wikidata und im spezifischen zu Artikeln der Gartenlaube zu formulieren. Tabelle 2: Exemplarische weitere Eigenschaften eines bibliographischen Datensatzes in Wikidata.

Wikidata-Property

Format/Beschreibung

Beispiel

rdfs:label (multiple languages)

Label des Items in beliebigen Sprachen

Jean Paul Richter

schema:description (multiple languages)

Beschreibung des Items in beliebigen Sprachen

nimski nastawk w: Die Gartenlaube (1896), c. 37

wdt:P136

Genre (verlinkt)

Gedicht (wd:Q5185279)

wdt:P18

Bild (verlinkt), direkte Verlinkung auf die freigestellte Illustration in Wikimedia Commons

wdt:P110

Illustrator (verlinkt)

wdt:P996

Verlinkung auf den Scan der Seite od. des Artikels in Wikimedia Commons

wdt:P6210

OBV editions ID, Verlinkung in den Katalog des österr. Bibliothekenverbundes

wdt:P2860

zitiert (verlinkt zu referenzierten Werken)

Die Flexibilität und Offenheit des Datenmodells in Wikidata erlaubt, weitere Statements zu ergänzen, wie beispielhaft in Tabelle 2 angeführt: Die Ergänzung und Verlinkung von Illustrationen, die Nennung eines Illustrators, sofern auffindbar, Links in Bibliothekskatalogen zu den entsprechenden lokalen bibliographischen Fundstellen oder schlicht was sonst noch denkbar und möglich erscheint oder dereinst – durch Erzeugung neuer Wikidata-Properties für formale oder inhaltliche Beschreibung – möglich sein wird. (vgl. Tabelle 2)

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Abfragen Die Recherche nach Artikeln der Gartenlaube kann in Wikisource über die einfache Volltextsuche erfolgen, durch Browsing über die verlinkten Jahrgangsregister oder über die Kategorien in Wikisource. Teilweise werden auch Sammlungen nach Autorinnen oder Autoren sowie zu unterschiedlichen Themen in Wikisource gepflegt. Eine kombinierte Abfrage nach einem Artikel eines Autors, innerhalb einer bestimmten eingegrenzten Zeitspanne zu einem definierten Thema ist mit der klassischen einfachen Suchmöglichkeit innerhalb einer Mediawiki-Website aber nicht möglich. Durch die strukturierte Beschreibung aller Artikel in Wikidata sind genauere oder auch semantische Recherchen möglich. 25 Um einen Knowledgegraph wie Wikidata elaboriert zu befragen, ist die Verwendung des SPARQL-Endpoints notwendig. SPARQL ist die Abfragesprache in Graph-Datenbanken. 26 Während Arbeiten am Volltext in Wikisource, relativ rasch zu erlernen sind und in erster Linie Konzentration, Geschick und Interesse an textbasierter Arbeit voraussetzt, verlangt eine stärker datenbasierte Arbeit, auch in den Citizen Science, bald eine zunehmend vertiefende Auseinandersetzung mit Konzepten und Anwendungen der Informatik. Gerade das Beispiel von Wikidata zeigt, dass einerseits die manuelle Erfassung von Daten, vergleichbar mit der Arbeit in jedem anderen Wikiprojekt, simpel über die Website durchgeführt werden kann, während aber die reinen Text-Wikis über die einfache Textsuche explorativ zu entdecken sind. So erschließt sich der größere Zusammenhang eines Knowledge-Graphen wie Wikidata erst, wenn er mit der dafür notwendigen Abfragesprache analysiert wird. Datenorientierte Citizen Science bedingt daher neben einem Interesse für die spezifische inhaltliche Domäne (sei es natur- oder geisteswissenschaftlicher Art) auch eine teils nicht zu unterschätzende Komplexität in der Aneignung von Kompetenzen der Informatik. Die einfachste SPARQL-Query im vorliegenden Kontext ist jene nach allen Artikeln, d. h. nach allen Wikidata-Items, die die Eigenschaft »publiziert in« und dem damit verbundenen Objekt Die Gartenlaube besitzen: SELECT ?artikel WHERE { ?artikel wdt:P1433 wd:Q655617. } Code-Listing 1: SPARQL-Abfrage für alle Wikidata-Items mit Eigenschaft »publiziert in« und Objekt »Die Gartenlaube«, Quelle: https://w.wiki/VBf. 25 20 Abfragen in 20 Bildern. Am 24. Juni 2020 wurden auf Twitter 20 illustrierte Wikidata-Abfragen rund um Die Gartenlaube gezeigt, nachzulesen unter https://threadreaderapp.com/thread/ 1275728622796648449.html (letzter Zugriff: 20.01.2022). 26 Wikipedia.de: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=SPARQL&oldid=212050377 (letzter Zugriff: 20.01.2022).

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Um mit einer SPARQL-Abfrage aus den hinterlegten Metadaten eine Liste aller Artikel mit entsprechenden formalen Angaben wie Verfasser, Fundstelle und Link zum Volltext in Wikisource zu erhalten, ist eine bereits etwas kompliziertere Abfrage notwendig: SELECT DISTINCT ?Die_Gartenlaube ?Die_GartenlaubeLabel ?autor ?pubjahr (GROUP_CONCAT(?fundstelle;separator=", ") AS ?heftStelle) ?wsArticle WHERE { SERVICE wikibase:label { bd:serviceParam wikibase:language "[AUTO_LANGUAGE],en". } ?Die_Gartenlaube wdt:P1433 wd:Q655617; wdt:P577 ?pubdate; wdt:P433 ?heft; wdt:P304 ?page. BIND (CONCAT(?heft,", S. ",?page) AS ?fundstelle) BIND (YEAR(?pubdate) AS ?pubjahr) ?wsArticle schema:about ?Die_Gartenlaube; schema:isPartOf . OPTIONAL { ?Die_Gartenlaube wdt:P50 ?author. ?author rdfs:label ?authorLabel. FILTER(LANG(?authorLabel)="de") } OPTIONAL { ?Die_Gartenlaube wdt:P2093 ?authorString. } BIND(COALESCE(?authorLabel, ?authorString, "N.N.") AS ?autor). } GROUP BY ?Die_Gartenlaube ?Die_GartenlaubeLabel ?autor ?pubjahr ?wsArticle ORDER BY ?pubjahr xsd:integer(?heftStelle) Code-Listing 2: SPARQL-Abfrage für alle Wikidata-Items der Gartenlaube mit Verfasserangabe, Fundstellenhinweis und Wikisource-Link, Quelle: https://w.wiki/4MCh.

Weshalb eine einfach klingende Abfrage letztlich im Code doch sehr aufwändig erscheint, ist im Detail der Modellierung der bibliographischen Daten in Wikidata in Kombination mit der Erscheinungsform der Artikel in der Zeitschrift geschuldet. Zahlreiche Artikel sind über mehrere Hefte verteilt erschienen. Da die Artikel in Wikisource als Einheit präsentiert werden, ist es notwendig in der bibliographischen Angabe die Heftnummer und die Seitenzahl getrennt zu erfassen, in der Abfrage ist dies aber wieder zu vereinheitlichen. Darüber hinaus sind einerseits Verfasser mit eigenen Wikidata-Items verlinkt, andere nur als Textwert im Artikel-Item beschrieben. Um aber den Wert in einem Feld auszugeben, muss im Code entsprechende Vorkehrung getroffen werden. Der Wikidata-Query-Service bietet aber abseits tabellarischer Auswertungen auch unterschiedliche Visualisierungsmöglichkeiten, wie kartographische Darstellungen oder Graphen und Diagramme.

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Da in den Artikel-Items auch Zitationsangaben verlinkt eingetragen werden können, lassen sich dadurch auch Referenznetzwerke visualisieren (vgl. Abb. 1). Der Leipziger Anatom Carl Ernst Bock verfasste eine Vielzahl an medizinischen Artikeln in der Gartenlaube und kaum einen Artikel, der nicht gleichzeitig auch auf eine andere seiner Publikationen darin verwies.

Abb. 1: Zitationsnetzwerk der Gartenlaube-Artikel von Carl Ernst Bock, Quelle: https://w.wiki/HdS.

#defaultView:Graph SELECT ?Die_Gartenlaube ?Die_GartenlaubeLabel ?zitiert ?zitiertLabel ?edgeLabel ?rgb WHERE { SERVICE wikibase:label { bd:serviceParam wikibase:language "[AUTO_LANGUAGE],en". } ?Die_Gartenlaube wdt:P1433 wd:Q655617; wdt:P50 wd:Q75044. OPTIONAL { ?Die_Gartenlaube wdt:P2860 ?zitiert. } BIND("zitiert" AS ?edgeLabel) BIND("cbcbcb" AS ?rgb) } Code-Listing 3: SPARQL-Abfrage für das Zitationsnetzwerk der Gartenlaube-Artikel von Carl Bock, Quelle: https://w.wiki/jHN.

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Abb. 2: Karte der »merkwürdigen Bäume« beschrieben in der Gartenlaube, Quelle: https:// w.wiki/4A4. Eine Artikelreihe in der Gartenlaube beschäftigte sich mit »merkwürdigen Bäumen«, der Großteil dieser Naturdenkmäler ist in Wikidata mit eigenen Items umfassend beschrieben und als Schlagwort mit den jeweiligen Artikeln verlinkt. Dadurch lässt sich eine Karte dieser in der Zeitschrift beschriebenen Bäume erstellen.

#defaultView:Map SELECT ?Baeume ?BaeumeLabel ?mainSubjLabel ?coordinates ?Bild WHERE { wd:Q19172509 wdt:P527 ?Baeume. ?Baeume wdt:P921 ?mainSubj. ?mainSubj wdt:P625 ?coordinates. OPTIONAL { ?Baeume wdt:P18 ?Bild. } SERVICE wikibase:label { bd:serviceParam wikibase:language "[AUTO_LANGUAGE],en". } } Code-Listing 4: SPARQL-Abfrage der Karte zu den »merkwürdigen Bäumen« der Gartenlaube, Quelle: https://w.wiki/4MCz.

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Analysen Die mit Stand November 2021 mehr als 16.000 bibliographischen Einheiten sind mit all ihren Verlinkungen und Angaben in Wikidata natürlich auch eine Fundgrube für vertiefende Analysen einerseits, wie bei den Abfragen gezeigt, um inhaltliche Aspekte der Zeitschrift zu visualisieren, aber auch um die bibliographische Qualität eines solchen Großprojektes zu verstehen. 27 Eine für die Datenqualität innerhalb des Gesamtgraphen von Wikidata entscheidende Frage ist jene der Vernetzung der Artikel innerhalb der Ontologie des Graphen mit der Property P31 (instance of). Die folgende Abbildung zeigt die gegenwärtige Verteilung. Der Großteil der Artikel ist als Artikel 28 in Wikidata verlinkt, einige hundert weitere Artikel besitzen dabei noch andere Vernetzungen (bspw. können dies Genre-Verlinkungen der fiktionalen Gartenlaubeliteratur sein oder schlicht Fehler). Eine weitere Analyse zeigt die Verteilung der Anzahl an Statements in den Gartenlaube-Artikeln. Dies veranschaulicht, dass der Großteil der Artikel-Items rund zehn bis zwölf Statements je Item besitzt. Ein typischer Wert für bibliographische Daten. Die Items, die gemäß der nachfolgenden Analyse mehr als 30 Statements besitzen, sollten einer Überprüfung unterzogen werden, da es sich hier möglicherweise um eine falsche Zuordnung handeln könnte.

27 Analyseskript: https://github.com/DieDatenlaube/AnalyzeDatenlaube/blob/master/Analyzing_ WikidataItems.ipynb, DOI: https://dx.doi.org/10.5281/zenodo.5652225. 28 https://www.wikidata.org/wiki/Q191067 (letzter Zugriff: 20.01.2022).

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Wikidata-Items verlinkt als P31 in Gartenlaube-Artikel 100000 16250 10000 1000

193 131 109 101 79

100 10

42

14 11

5

4

2

2

2

2

1

Abb. 3: Analyse der P31 Objekte für Gartenlaube-Artikel in Wikidata, Quelle: Darstellung der Autoren (https://w.wiki/4mEH).

4

3

1

1

6

10

12 8

100

283

1000

84

Anzahl Items

10000

3001 2713 2439 2210 1644 1177 798 575 374 230 141 94 79 46 53 37 24 18 17 10

Verteilung der Anzahl an Items je Anzahl an Statements (x-Achse) der GartenlaubeArtikel

6

8

10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32

Anzahl an Statements Abb. 4: Verteilung der Anzahl an Items je Anzahl an Statements der Gartenlaube-Artikel, Quelle: Darstellung der Autoren.

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Arbeitsweisen Der Kern der Projektarbeit der Datenlaube ist es, eigenständig bibliografische Metadaten zu bauen, zu pflegen, zu verknüpfen und zu nutzen. 29 Wikidata ermöglicht dies im Zusammenhang mit offenen Daten auf Basis der Wikipedia, vieler weiterer verknüpfter Datenquellen und zusätzlichen Datenobjekten. Als Erschließungsprojekt erreicht Die Datenlaube einen Meilenstein, wenn alle Jahrgänge der Illustrierten in Wikidata dereinst erschlossen sind. Anzunehmen ist, dass von der Gartenlaube in Wikisource zukünftig auch die Jahrgänge der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts transkribiert werden. Selbst wenn einmal alle Artikel der Gartenlaube in Wikisource und Wikidata angelegt und korrigiert sein sollten, dann bleibt die Arbeit der Datenpflege, wie Schlagwörter verfeinern und ergänzen, Autorinnen und Autoren disambiguieren und anlegen, wenn noch keine Wikidata-Items bestehen, Illustrationen im Detail erschließen, Texte mit der Vorlage {{aqid}} annotieren. 30 Nicht ausgeschlossen ist, dass für Wikisource zukünftig eingebettete Softwarefunktionen entwickelt werden, die die bibliographische Erschließung direkt in der Transkriptionsplattform, z. B. in Textboxen ermöglichen. Mit Structured Data on Commons besteht diese Möglichkeit im Medienspeicher Wikimedia Commons seit 2020. Einerseits bleiben solche technischen Entwicklungen abzuwarten. Andererseits beteiligen wir uns mit Entwicklungsvorschlägen 31 und eigenen Softwarelösungen an der Methoden- und Toolentwicklung. Zu den regelmäßigen Projekttätigkeiten gehören:  Start und Kontrolle der Scraping-Skripte für die Formalerschließung in Wikidata,  Anreicherung neuer Items mit Datenobjektaussagen für Untertitel, Schlagworte, Illustrationen, Bildunterschriften, Illustratoren und Zitationen,  Korrekturen bestehender Wikisource-Artikelseiten und deren Metadaten in Wikisource und in Wikidata,  Bildbearbeitung für noch einzubettende Illustrationen  Wissenschaftskommunikation: Tweets, Blogposts, Gastbeiträge, Artikel und Vorträge.

29 Jens Bemme: Eigene Metadaten für eigene Blogposts – Wissenschaftskommunikation und Bibliografien mit offenen Daten und Wikidata, in: Redaktionsblog Hypotheses, 9. November 2021, https://redaktionsblog.hypotheses.org/5219. 30 Christian Erlinger: Wikidata+Wikisource: Semantische Inhaltserschließung, in: #vBIB21, 2021, S. 8, https://dx.doi.org/10.5281/zenodo.5745163. 31 Wikimedia Community Wishlist Survey 2021, https://meta.wikimedia.org/wiki/Community_Wishlist _Survey_2021/Wikisource/Structured_Data_on_Wikisource (letzter Zugriff: 29.01.2022).

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Diese Aufgaben bauen teils aufeinander auf (z. B. die Formal- und Sacherschließung in Wikidata). Sie sind aber zeitlich weitgehend unabhängig voneinander, so dass alle Beteiligten – im Projekt und etwaige Dritte – weitgehend unkoordiniert agieren und zum Projektfortschritt beitragen. Absprachen erfolgen bei Verarbeitungsfehlern, zu Bilderwünschen für die Illustration bestimmter Gartenlaube-Artikel oder zu Ideen für gemeinsame Publikationen. Insbesondere für den Twitterkanal @DieDatenlaube 32 sind gelegentlich Einzelartikel-Erschließungen samt Bildfreistellung wünschenswert, um mit illustrierten Tweets auf aktuelle Themen zu reagieren, oder um interessierten Followerinnen und Followern relevante Gartenlaube-Details zu empfehlen. Die Gartenlaube ist ein Fass ohne Boden. Als illustriertes Familienblatt bot und bietet sie einen großen Themenmix und große und kleine Illustrationen. Um jeden Artikel vollständig und inhaltlich zu erschließen, lesen wir diese längst nicht alle. Zuweilen sind Hauptthema, zentrale Personen, Orte, Sachen oder Konzepte innerhalb weniger Sekunden erkannt und als passendes WikidataSchlagwort identifiziert und verlinkt. In anderen Fällen wecken Artikel mehr Interesse und erfordern weitere Schritte:  Zentrale Artikelinhalte (insb. Personen, Veranstaltungen, zitierte Publikationen und abstrakte Konzepte) verlangen detailliertere Recherche, Erschließung und Datenpflege in Wikidata.  Abgleich mit Informationen der Gemeinsamen Normdatei (GND) und Hinweise für deren Korrektur.  Themenseiten in Wikisource bündeln Artikel und deren Verknüpfung mit dem jeweiligen Datenobjekt in Wikidata. 33  Wikisource-Transkriptionen können als Referenzen und Literaturquellen in den jeweiligen, teils direkt verschlagworteten Wikipedia-Artikel verlinkt werden. Gelegenheiten anregende Artikel und Artikelkontexte zu finden, zu lesen und im Wikiversum sinnvoll zu verknüpfen, bestehen jederzeit, so dass die gemeinsame Arbeitsweise als mäandernd charakterisiert werden kann. Als Strategie, um die Zahl der erschlossenen Artikel zu erhöhen, hat sich bspw. die Neuanlage von Einzelartikeln ggf. auch mit gänzlich unkorrigierten OCR-Seiten in Wikisource bewährt. Auf diese Weise wächst die Zahl der zumindest durch Sektionen strukturierten und ggf. illustrierten Zeitschriftenseiten und deren Repräsentation in Artikelseiten in Wikisource und den Metadaten32 https://twitter.com/DieDatenlaube (letzter Zugriff: 20.01.2022). 33 https://de.wikisource.org/wiki/Internationale_Rotkreuz-_und_Rothalbmond-Bewegung sowie https://de.wikisource.org/wiki/Gesellschaft_zur_Rettung_Schiffbr%C3%BCchiger (letzter Zugriff: 29.01.2022).

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objekten in Wikidata. Dies steigert auch die Sicht- und Findbarkeit neuer digitaler Inhalte, von Wikisource als Plattform insgesamt für Internetsuchmaschinen sowie die Wahrscheinlichkeit, dass neu angelegte Artikel Interesse wecken, an der Textkorrektur mitzuwirken. Einige Wikisource-Kolleginnen und -Kollegen konzentrieren sich dabei auf bestimmte Jahrgänge. Für das Datenlaubeprojekt wurden 2021 schwerpunktmäßig die Jahrgänge 1891, 1892, 1895 und 1896 in Wikisource ergänzt. Auch hinsichtlich technischer Infrastruktur und automatisierter Erschließungsmethoden bestehen in Wikisource ständig unzählige Gelegenheiten und Anlässe über neue Projekte und Teilprojekte nachzudenken. Zu nennen sind beispielsweise: Kulturabkommen, 34 Alben der Sächsischen Industrie, 35 Was die Heimat erzählt, 36 Die Bereitung warmer und kalter Bowlen, 37 Allgemeines Handlungs-Adress-Handbuch für das Herzogthum Nassau, 38 Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. 39 Nicht zuletzt die Hilfsbereitschaft der Wikisource-Gemeinschaft selbst basiert auf Gegenseitigkeit, so dass wir mit dem Methodenwissen um die Wikidata-Erschließung über Die Datenlaube hinaus helfen können. Das Projekt hat im engeren Sinne zum Ziel, Die Gartenlaube mit strukturierten Daten zu erschließen. Zugleich finden wir ständig Nebenschauplätze, um – durchaus intendiert – regelmäßig nicht kalkulierbar ganz andere Nebeneffekte zu erzielen. #TrickleDownDatenlaube steht für zwei Aspekte dieser ausufernden Projektarbeit. Als Twitterhashtag markiert der Begriff unsere Tweets, die thematischen Beifang betreffen:  relevante Wikipedia-Artikel, die bei der Schlagwortrecherche gefunden werden,  Datenpflege in teils leeren Datenobjekten von Wikipediaartikeln, für die noch keine spezifischen Aussagen im Wikidata-Item verlinkt wurden,  Datenpflege für andere Datenobjekte, deren Qualität durch zusätzlich einfache Aussagen steigt.

34 https://de.wikisource.org/wiki/Kulturabkommen (letzter Zugriff: 20.01.2022). 35 https://de.wikisource.org/wiki/Sachsen#Bergbau,_Wirtschaft_und_Industrie (letzter Zugriff: 20.01.2022). 36 https://de.wikisource.org/wiki/Was_die_Heimat_erz%C3%A4hlt (letzter Zugriff: 20.01.2022). 37 https://de.wikisource.org/wiki/Die_Bereitung_warmer_und_kalter_Bowlen (letzter Zugriff: 20.01.2022). 38 https://de.wikisource.org/wiki/Allgemeines_Handlungs-Adress-Handbuch_f%C3%BCr_das _Herzogthum_Nassau (letzter Zugriff: 20.01.2022). 39 Christian Erlinger: Gelehrtengeschichte im Biographischen Lexikon des Kaiserthums Österreich – Vom Transkript in Wikisource zur Struktur in Wikidata, 2021, https:// dx.doi.org/10.5281/ZENODO.5608656.

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In Anlehnung an die Trickle-Down-Theorie 40 erzeugt das Datenlaubeprojekt als sogenannte TrickleDownDatenlaube (genutzt als Titterhashtag) indirekt zusätzliche Datenqualität in Wikidata-Items und linked open data-Zusammenhängen, die über die eigentliche Sacherschließung in Gartenlaubemetadaten hinausgehen – außerdem auch in der Wikipedia, in der GND, in Bibliothekskatalogen durch angeregte Korrekturen oder im Stadtwiki Dresden sowie im RegiowikiAT. 41 Zitationen und Zitationsnetze haben sich seit 2020 als ein Teilprojekt entwickelt. Mit der Wikicite-Initiative für offene bibliografische Daten auf Basis von Wikidata existiert eine globale Community mit eigenen Publikationen und Veranstaltungen sowie starken Bezügen zu Arbeitsfeldern der Bibliotheken. 42 Für das Datenlaubeprojekt bieten die Ansätze von Wikicite die Chance bibliografische Zusammenhänge innerhalb des Artikelbestandes der Gartenlaube zu analysieren und zu visualiseren. 43 Darüber hinaus haben wir begonnen in der Gartenlaube rezipierte Forschungsarbeiten und Rezensionen von historischen Neuerscheinungen in Wikidata zu erschließen. Diese Studien und literarischen Werke werden längst weltweit für die digitalen Sammlungen wissenschaftlicher Bibliotheken digitalisiert. Dieser Korpus rezensierter Forschung ist bisher einmal mehr als Prototyp zu betrachten, um zu zeigen, welche Potenziale für Analysen mit offenen Daten in Verbindung mit der Gartenlaube und anderen Transkriptionen im Wikiversum bestehen. 44

Motivation und Methoden Grundsätzliche methodische Erfahrungen und Überlegungen, insbesondere zu bürgerwissenschaftlichen Arbeitsweisen des Projektes, betreffen die Aspekte Projektcharakter und Projektlaufzeiten, Community Building, Metadatensouveränität, hybrides Publizieren, Wissenschaftskommunikation, Kooperationen, Motivation und Projektfinanzierung. 40 Die Trickle-Down-Theorie »besagt, dass der Wohlstand der Reichsten einer Gesellschaft nach und nach durch deren Konsum und Investitionen in die unteren Schichten der Gesellschaft durchrieselt und zu Wirtschaftswachstum führt (Trickle-down-Effekt).«, https://de.wikipedia.org/wiki/Trickledown-Theorie (letzter Zugriff: 20.01.2022). 41 Christian Erlinger: Multilinguales regionales Weltwissen. Regiowikis mit Wikipedia-Sprachversionen in Wikidata verknüpfen, in: Saxorum. Blog für interdisziplinäre Landeskunde in Sachsen, 2021, https://saxorum.hypotheses.org/6345 (letzter Zugriff: 20.01.2022). 42 https://meta.wikimedia.org/wiki/WikiCite (letzter Zugriff: 20.01.2022). 43 Wikidata-Query: https://w.wiki/HdS, vgl. Twitter-Hashtag: #Bocknetz, https://twitter.com/ search?q=%23bocknetz (letzter Zugriff: 29.01.2022). 44 Jens Bemme, Matthias Erfurth: Wikicite, Caviar für Die Gartenlaube, 2021, https://de.wikiversity.org/ wiki/Datei:Wikicite,_Caviar_f%C3%BCr_Die_Gartenlaube.pdf (letzter Zugriff: 20.01.2022).

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Die Datenlaube kann als nicht institutionelles offenes GLAM-Labor 45 verstanden werden. Beruflich haben die Projektgründer – teils als Seiteneinsteiger – bibliothekarische Hintergründe und eine Affinität zu Metadaten. Geschichtswissenschaftlich sind die drei Projektmitglieder interessierte Laien. Es liegt für die Autoren deshalb nahe, Die Datenlaube nicht an fachwissenschaftlich methodischen Kriterien der Geschichtswissenschaft zu messen, die sie ohnehin nicht beherrschen. Citizen Science heißt auch, intrinsisch motiviert eine andere Perspektive einzunehmen, um die Methoden des Projekts im Sinne gelebter Maker-Kultur zu hinterfragen. Die Datenlaube genügt sich und uns in erster Linie selbst und trägt ganz im Sinne des Aufrufs für den vorliegenden Sammelband im Idealfall auch dazu bei sowohl Daten und Datenqualität zu generieren als auch neue Fragestellungen aufzuwerfen 46 und diese Aspekte offen zu verknüpfen. Ist Die Datenlaube so als nicht-institutionalisierte Partnerin in wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen möglicherweise eine Ausnahmeerscheinung? Mit Blick auf öffentliche Projektförderungen für die Bürgerwissenschaft erscheinen uns zwei- oder dreijährige Projektlaufzeiten für vergleichbare Vorhaben vor dem Hintergrund der langjährigen Vorarbeiten der deutschsprachigen Wikisource-Gemeinschaft und des gegenwärtigen Datenlaube-Projekts als ungeeignet, um über Pilotvorhaben hinaus Projektergebnisse im Sinne von Forschungsdaten zu produzieren. Durch den Erscheinungsverlauf bis 1945 sowie durch die Übertragbarkeit auf andere noch nicht transkribierte Medientitel sind Die Gartenlaube und insbesondere das Projekt Die Datenlaube potentiell »lebenslange« Projekte: Irgendetwas gibt es immer zu verbessern! Nach drei Jahren organischem Projektwachstum hat sich eine kleine Projektgemeinschaft entwickelt, die wöchentlich beim DatenlaubeJam zu zweit oder zu viert eine halbe Stunde informell Erfahrungen austauscht – auch in Bezug auf andere ähnliche Anliegen und Projektideen im Dresdner Geschichtsverein 47 und im Stadtwiki Dresden. Dieses community building basiert in erster Linie auf persönlichen Kontakten der Projektgründer in Dresden und gründet auf bzw. wird bereichert durch die Vorarbeiten in der Wikisource-Community, deren Administrator Andreas Wagner in Dresden lebt. Die vermeintlich attraktiven Inhalte der Gartenlaube sowie der universell übertragbaren bibliografischen Open Data-Erschließung mit Wikidata dürften zudem auch einen Anteil haben. Solche 45 GLAM-Labor wird als abstrakter Ort verstanden, an dem Gedächtnisinstitutionen neue Technologien experimentell erproben oder erfahren. Das «individual lab» stellt demnach ein Labor im nicht-insitutionellen Raum dar. Vgl. Individual Labber, in: Introducing GLAM Labs (2019), S. 40, https://dx.doi.org/10.21428/16ac48ec.f54af6ae. 46 Stefan Wiederkehr: Citizen Science: Eine Chance für wissenschaftliche Bibliotheken, in: o-bib 8.4 (2021), https://dx.doi.org/10.5282/o-bib/5727. 47 https://de.wikisource.org/wiki/Dresdner_Geschichtsverein (letzter Zugriff: 20.01.2022).

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langjährigen Anwenderinnen- und Anwendergemeinschaften sind ein Erfolgsfaktor für umfangreiche Transkriptions- und Erschließungsprojekte. Wesentliche Projektbestandteile in auf Crowdsourcing basierenden Citizen Science-Projekten sind Kommunikations- und Koordinationsarbeit, die intrinsisch motiviert ehrenamtlich erbracht wird oder im Rahmen professioneller Projektsteuerung unbedingt kalkuliert und finanziert werden muss. Nicht zuletzt profitiert die gemeinsame Arbeit an den verschiedenen Projektgegenständen mit den lose verbundenen Projektgästen davon, dass wir als Projektgründer der Datenlaube das Wikiversum technologisch, kulturell, methodisch und in Bezug auf die Medienbestände recht gut kennen und dort mit Aktiven auf Augenhöhe kommunizieren, kooperieren und beraten können; auch international. Für uns als Bibliotheksmitarbeiter gilt ähnliches für die Arbeitswelt dort. Solche Schnittstellen- bzw. Scharnierfunktionen zwischen bürgerwissenschaftlichen Erschließungs- und Verknüpfungsarbeiten und landes- bzw. universitätsbibliothekarischem Auftrag ist für die Wirkungen eines Projekts wie Die Datenlaube nicht zu unterschätzen. Gemeint sind hierbei Wirkungen, die das Projekt betreffen und solche für unsere Bibliotheken: Lerneffekte, Methoden- und Netzwerkwissen, Beratungskompetenz. Zwar verfügt Die Datenlaube nicht über ein Projektbudget. Gleichwohl versuchen wir inzwischen durch Bewerbungen 48 und potentielle Zuschüsse für zukünftige Kosten einer eigenen Webadresse private Aufwendungen zu minimieren. Wir sind auf solche Zuschüsse aber nicht angewiesen, da genutzte Datenwerkzeuge und Medien frei im Wikiversum verfügbar sind. Gewonnene Ehrungen wären nichtsdestotrotz gut für die Motivation, für die mediale Reichweite und für das Renommee des Projekts in den Fachwissenschaften. Wir verorten das Projekt im Bereich der digitalen historischen Hilfswissenschaften. Potentielle Nutzen und Bedarfe für die offenen Daten und Methoden, die das Projekt Die Datenlaube schafft, setzen wir ungefragt und ungeprüft voraus. Zugleich versuchen wir Vorgehensweisen und Projektergebnisse offen und konsequent zu publizieren, wobei wir von den grundlegend offenen Informations- und Dateninfrastukturen im Wikiversum einerseits profitieren und andrerseits auch durch ihre Nutzung in einem technologisch und kulturell von Offenheit geprägten Umfeld angehalten sind, auf diese Weise zu arbeiten. Als offener Suchprozess ist Die Datenlaube kein Forschungsprojekt im engen Sinne, sondern eher eine Initiative, die offene Daten schafft. Mit linked open data verknüpfte historische Quellen, deren digitale Details und Metadaten als Ausgangspunkte für neue Forschungsfragen und für die Methodenentwicklung in den jeweiligen Fachwissenschaften dienen. Ist das zugleich Grundlagen48 Jens Bemme, Christian Erlinger: Zukunftsgestalter in Bibliotheken 2022. Die Datenlaube (Bewerbung), https://dx.doi.org/10.5281/zenodo.5894285.

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forschung im Sinne von grundlegend für die Nutzung digitaler Wissensbestände im Wikiversum, insbesondere Wikisource und Wikidata? Weitgehend offen ist beispielsweise noch die Frage, wie die Daten der inhaltlichen Sacherschließung mittels des nicht definierten fluiden Vokabulars in Wikidata für Forschungsprojekte der Digital Humanities verwendet werden können, welche zusätzlichen Vorarbeiten für etwaige Standardisierung und andere digitale Methoden nötig wären. Zugleich sind die Projektmitglieder offen für Nachfragen und Anregungen von Profis: Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftlern, Sammlungsexpertinnen und Sammlungsexperten oder anderen datenorientierten Bürgerinnen und Bürgern. Eine Dokumentation der Daten und Methoden, die Die Datenlaube inzwischen ausmachen, ist dafür Bestandteil dieses Textes. Genauso wie die Erkenntnisse der institutionalisierten akademischen Forschungswelten langfristig archiviert werden sollen, bedarf das Engagement von Menschen im Rahmen von Citizen Science-Arbeiten einer nachhaltigen Sicherung und Erschließung, um auch dieses Wissen nutzbar zu halten. Mit dem Wikiversum hat sich im Internet eine in den Grundzügen technologisch relativ einfache Infrastruktur entwickelt, die eine beinahe schrankenlose Teilhabe sowohl am Konsum als auch an der Produktion und Sicherstellung von Wissen erlaubt. Neben der textuellen, enzyklopädischen Wissensaufbereitung bietet das Wikiversum Platz für Quellentexte, für Medien jeder Form (Bild, Video, Ton) und eben auch für strukturiertes Wissen. Gleichzeitig agieren diese einzelnen Ausprägungen der Wiki-Software nicht unabhängig voneinander, sondern können und werden in Beziehung zueinander gesetzt. Diese Technologie stellt innerhalb der vielfältigen Möglichkeiten der Wissensaufbereitung und -präsentation im Internet durch die globale Community einen längerfristig gesicherten Weg dar. Gleichzeitig ist es ein zentraler Ort der gegenwärtigen Wissens-(Re)produktion und somit wohl ein idealer Treffpunkt von akademisch-institutionalisierter Wissenschaft und Citizen Science. Ob es sich nun um die Transkription historischer Textmaterialien außerhalb der akademischen Editorik handelt, wie hier im Beitrag gezeigt, oder um die Darstellung heimatkundlicher Beiträge oder die Speicherung von ornithologischen Beobachtungsdaten: Das Wikiversum kann all diese Daten aufnehmen und – was eigentlich noch spannender ist – durch strukturierte Daten miteinander in Verbindung setzen. Die Herausforderung mehr und wissenschaftlich zu publizieren, dürfte viele Citizen Science-Projekte betreffen. Hybrides offenes Publizieren als Mix und Verkettung verschiedener Medien und Kommunikationskanäle erscheint dafür als geeignete Strategie. Twitter eignet sich für Gedanken, für Hinweise mit Links auf digitale Quellen, für die Kontaktanbahnung und Unterhaltung des interessierten twitternden Publikums i.S.v. community management. Blogposts ermöglichen umfangreichere Darstellungen und Dokumentationen samt Verlinkung

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relevanter Kontexte. Digitale Poster in den Wikimedia Commons oder in institutionellen Open Access-Repositorien sind gute wissenschaftsnahe Speicherorte mit persistenten Identifikatoren wissenschaftlicher Beiträge zu Fachkonferenzen. Vorträge und Workshops ermöglichen den Zugang, Interaktion, Wissensvermittlung und Fachbeiträge in den Tagungsbänden für Fachcommunities. Die Vortragsskripte in der Wikiversität sind zugleich ein Weg, um offene digitale Inhalte zugleich für eine Präsentation, als OER und als digitale Spur zu publizieren. 49 Die Mischung macht’s. Da Die Datenlaube in der digitalen Erschließung kleiner und großer Texte und Illustrationen samt offener digitaler Metadaten sowie deren digitaler Verknüpfung besteht, liegt es nahe, Zugänge und Dokumentationen zu diesen Medien- und Datenbeständen fortlaufend in ähnlicher granularer Form zu publizieren. Zudem kommt diese hybride vielfältige Publikationsstrategie den informellen und teils mäandernden Arbeitsweisen des Projektteams am nächsten. Ziel ist dabei vielfältige Zugänge zu den offen erschlossenen Wissens- und Medienbeständen und zu unseren Methoden zu eröffnen, um im Zweifelsfall Gelegenheiten für Nachfragen und Kooperation zu schaffen. Die Datenlaube als Methode ist schließlich ein Impuls, selbst Metadaten für eigene Citizen Science-Projekte zu produzieren, zu pflegen, zu verknüpfen und zu nutzen. Wikidata ermöglicht dabei die Demokratisierung klassisch bibliothekarischer Arbeitsweisen: Katalogisierung und Datenanalyse. Jede und jeder kann heute bibliografische und andere Daten erzeugen und nutzen – für eigene Werke und für fremde, historische oder zeitgenössische Quellen. Zwischen datenorientiert forschenden Bürgerinnen und Bürger, Bibliotheken und professioneller Wissenschaft vergrößert sich dadurch die Vielfalt der Kooperationsmöglichkeiten, wenn jeweilige Expertisen neue diverse Beratungs- und Kooperationsmodelle sowie -beziehungen begründen.

Perspektiven Informationen, Zusammenhänge und Wissen, die im Wikiversum akkumuliert, aufbereitet und vernetzt werden, stellen die wesentlichen Säulen zeitgenössischer Informationsprozesse dar. Mit offen kommunizierten und dokumentierten Arbeiten, insbesondere in den Portalen Wikisource, Wikimedia Commons, Wikidata und Wikiversity, kann Forschenden der (Digitalen) Geisteswissenschaften ein Anstoß, aber auch eine Handreichung gegeben werden, diese frei nutzbaren digitalen Werkzeuge für eigene Arbeiten an und mit Texten und 49 Jens Bemme, Matthias Erfurth: Partizipative Transkriptionsprojekte (Die Datenlaube), Wikiversity, https://de.wikiversity.org/wiki/Kurs:Partizipative_Transkriptionsprojekte_(DieDatenlaube) (letzter Zugriff: 29.01.2022).

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Daten nutzbar zu machen. Diese Daten und Werkzeuge stehen frei, überprüfbar und reproduzierbar zur Verfügung und sie sind eingebettet in Communities, die teils akademisch verankert sind. Wikipedia kennt fast jede und jeder – ihre Geschwisterportale sind gleichsam technologisch und inhaltlich integriert in die sie umgebenden Informationsgesellschaften und deren Teilsysteme. Damit sind sie Ressourcen für Open Science par excellence. 50 Wie lange zögern die Geisteswissenschaften noch? 51 Offene Bildungsressourcen mit den Daten und dem Wissen aus der Gartenlaube entstehen nach und nach. 52 Fünf Jahrzehnte deutscher Zeitungsgeschichte im 19. Jahrhundert bieten in Volltexten gewissermaßen unendliche Möglichkeiten für digitale Quellenarbeit, bibliografische Experimente und Analysen. Wir dokumentieren unsere Workshops und Vorträge 53 deshalb zunehmend in der Wikiversität 54, zuletzt die DatenlaubeCon im Rahmen der #vBIB21 55, die digitale Konferenz des Berufsverbands Information Bibliothek (BIB) und der TIB – Leibniz-Informationszentrum Technik und Naturwissenschaften und Universitätsbibliothek. Wünschenswert wäre zusätzliche Begleitforschung, z. B. unabhängige Wirkungs- und Akteursanalysen offener Datenprojekte wie der Datenlaube, die als Scharnier fungieren zwischen Open GLAM-Institutionen und unabhängigen datenorientierten Bürgerinnen und Bürgern, die freie Zeit in digitale Forschungsund Erschließungsprojekte investieren. Die Datenlaube bietet Grundlagen für neues Wissen, für Gespräche über Forschungsfragen, Methoden für Anwenderinnen und Anwender digitaler Forschung in den Bürgerwissenschaften gleichermaßen wie in der institutionalisierten Wissenschaft.

50 Laurie Michelle Bridges, Raymond Pun, Roberto A. Arteaga (Hrsg.): Wikipedia and Academic Libraries. A Global Project, 2021, https://dx.doi.org/10.3998/mpub.11778416. 51 Gleb Albert: Eine vertane Chance? Wikipedia und die Geisteswissenschaften, in: Geschichte der Gegenwart, 2021, https://geschichtedergegenwart.ch/eine-vertane-chance-wikipedia-und-diegeisteswissenschaften/ (letzter Zugriff: 20.01.2022). 52 https://de.wikisource.org/wiki/Wikisource:OER (letzter Zugriff: 20.01.2022). 53 https://de.wikiversity.org/wiki/Benutzer:Jeb (letzter Zugriff: 20.01.2022). 54 https://de.wikiversity.org/wiki/DieDatenlaube (letzter Zugriff: 20.01.2022). 55 https://de.wikiversity.org/wiki/VBIB21/DatenlaubeCon (letzter Zugriff: 20.01.2022).

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Elfi Vomberg Mythenbeschleuniger Oral History. Die Medienkulturgeschichte Düsseldorfs als Citizen-ScienceProjekt

Es ist eine prägende Geschichte, die sich in den späten 1960er bis in die 1970er Jahre rund um die Ratinger Straße in Düsseldorf abspielt: Im legendären Ratinger Hof fliegen Tierkadaver durch den Raum und während Joseph Beuys seine Happenings präsentiert, werden die Reste des Abendessens im Restaurant Spoerri zu ganz besonderen Kunstwerken an die Wand genagelt. Es ist eine beschleunigte Geschichte, die das Who is Who der Kunst- und Kulturszene in dieser Zeit in der Düsseldorfer Altstadt schreibt. Die offizielle Geschichte dieser Ära aber ist lückenhaft und erscheint bei näherer Betrachtung als ein Konstrukt aus Oral History und verklärten Erinnerungen. Das interdisziplinäre und intergenerationelle Forschungsprojekt #KultOrtDUS – die Medienkulturgeschichte Düsseldorf als urbanes Forschungsfeld möchte seit 2020 mit Hilfe von Bürgerinnen und Bürgern Ungesehenes zum Vorschein bringen, um gemeinsam ein differenziertes Bild dieser besonderen Zeit Düsseldorfs herauszuarbeiten, die bis heute stark nachwirkt. Dafür werden Akteurinnen und Akteure aus der zweiten und dritten Reihe, wie Barpersonal, Künstlerinnen und Künstler, Kuratorinnen und Kuratoren sowie Fans, Zeitzeuginnen sowie -zeugen eingeladen, am Aufbau eines Archivs der Medienkulturgeschichte Düsseldorfs mitzuwirken, Netzwerkstrukturen gemeinsam offen zu legen sowie Mythen kritisch zu hinterfragen und aufzuarbeiten. 1 1 Insgesamt sind 23 Bürgerinnen und Bürger Teil des Projektes (Stand November 2021). Nach einem Artikel und Aufruf im April 2021 in der Presse meldeten sich insgesamt 13 Bürgerinnen und Bürger. Die weiteren Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen im Verlauf durch Empfehlungen oder direkte Ansprache hinzu. Das Interesse der Bürgerinnen und Bürger gestaltet sich sehr unterschiedlich und erstreckt sich von Literaturempfehlungen über die Teilnahme am Archivworkshop bis hin zur Teilnahme an Zeitzeuginnen- und Zeitzeugen-Interviews. Das Alter der Teilnehmenden reicht von 65 bis 84 Jahren. #KultOrtDUS ist gleichzeitig der Hashtag, mit dem das Forschungsprojekt auf Instagram präsent ist. Hier partizipieren die mitforschenden Bürgerinnen und Bürger (auch wenn sie keinen Zugriff zur Plattform haben), indem sie beispielsweise

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Der intensive Austausch zwischen der wissenschaftlichen Medienkulturforschung, der Zivilgesellschaft sowie Akteurinnen und Akteuren verschiedener Knowledge Communities ermöglicht dabei einen interaktiven und partizipativen Diskurs, der nicht nur von hoher bürgerschaftlicher, sondern auch stadtidentitärer Relevanz ist. Ziel des Forschungsprojektes ist es, das tieferliegende, vielschichtige Wahrnehmungs- und Geschichtsbild der Stadt zu erschließen und der Öffentlichkeit langfristig zugänglich zu machen, indem sowohl Bürgerinnen und Bürger, Akteurinnen und Akteure 2 sowie Institutionen 3 in Kooperation mit der wissenschaftlichen Forschung mit ihrem wertvollen Wissen zu Wort kommen. Nach einem Jahr Projektlaufzeit im Rahmen der Förderinitiative der Bürgeruniversität der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf sind es jedoch nicht vorrangig die inhaltlichen Forschungsfragen, Thesen und Hypothesen, mit denen man sich am besten dem Forschungsprojekt #KultOrtDUS nähert. Vielmehr sind es die sich am Rande abgespielten Anekdoten bzw. Observationen, mit denen sich die Bedeutung der bürgerwissenschaftlichen Partizipation im Rahmen der kritischen Aufarbeitung einer Medienkulturgeschichte Düsseldorfs am ehesten herausstellen lässt. Anekdote 1

Die erste Anekdote spielte sich im Rahmen eines digitalen Archivworkshops ab. Im Mittelpunkt des Seminars stand die Erschließung von Archivmaterialien, die im Zusammenhang mit dem Düsseldorfer Künstlerlokal Creamcheese aufgeFragen beantworten und somit Inhalte für weitere Postings generieren, die wiederum für Community-Umfragen genutzt werden. Beim Blick auf die Altersverteilung der Instagram-Follower (745 Follower gesamt; 25–34 Jahre: 28,7 %, 35–44 Jahre: 22,2 %; 45–54 %: 20,3 %; 55–64 Jahre: 15,1 %; 18–24 Jahre: 7,3 %; 65+ Jahre: 5,8 %; Stand: 30. November 2021) konnte mit diesem digitalen Format der intergenerationelle Austausch gefördert werden. Die teilnehmenden Bürgerinnen und Bürger stammen zum Großteil aus Düsseldorf und zu kleineren Teilen aus den umliegenden Städten wie etwa Ratingen, Neuss, Mönchengladbach oder Köln. Am stärksten vertreten sind dabei die Altersgruppen 25–34 Jahre mit knapp 30 %, 35–44 Jahre und 45–54 Jahre mit jeweils knapp über 20 % und die Gruppe 55–64 Jahre mit etwas mehr als 15 %. Dabei entfielen 57,5 % der Interaktionen auf weibliche Nutzerinnen und 42,5 % auf männliche Nutzer. 2 Als Akteurinnen und Akteure werden Künstlerinnen und Künstler sowie Journalistinnen und Journalisten sowie Kuratorinnen und Kuratoren verstanden, die ebenfalls ins Forschungsprojekt als Expertinnen und Experten der Zeit einbezogen werden – entweder einen Vortrag im Rahmen des Projektes halten, einen Workshop leiten oder ebenfalls als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen einbezogen werden. 3 Diese sind Kooperationspartnerinnen und -partner und deren Archive sowie Expertise aus der Kunst- und Kulturszene: Stiftung IMAI, Kunstpalast Düsseldorf, Sammlung Philara, Folkwang Museum Essen, Mitsubishi Electric Halle.

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arbeitet wurden. 4 Nach einem theoretischen Block zu den Themenkomplexen Archiv sowie Sammlungspolitiken und Kurationsprozessen, sollten diese theoretischen Grundlagen Seite an Seite mit Studierenden, Forschenden sowie Bürgerinnen und Bürgern anhand praktischer Beispiele nachvollzogen werden. Das Archiv des Clubs lagert im Museum Kunstpalast: Anhand von Fotografien, Flyern, Grundrissen des Gebäudes und Kunstwerken von u. a. Günther Uecker und Heinz Mack kann die Ausgestaltung des Orts bis in viele Details nachvollzogen werden. Als im Rahmen des Workshops schließlich Fotografien von der Eröffnungsfeier gezeigt wurden, meldete sich ein teilnehmender Bürger zu Wort und bemerkte: »Aber das ist doch nicht das Creamcheese?! Also die schicken Frisuren und die Anzüge und Abendkleider – das hat man aber nicht im Creamcheese gesehen. Ich war ja früher oft da. Das sah anders aus. Also das ist nicht das Creamcheese, in dem ich war.« 5

Abb. 1: Vorraum des Creamcheese mit der Deckeninstallation von Konrad Fischer-Lueg, 21.07.1967, Foto: Hans Jürgen Funck/Kunstpalast Düsseldorf. 4 Das Creamcheese war ein Künstlerlokal in der Düsseldorfer Altstadt, das zwischen 1967 und 1976 für Furore in der Kneipen- und in der Kunstszene sorgte. Im Lokal wurden Arbeiten der Düsseldorfer Kunstszene ausgestellt – u. a. Werke von Günther Uecker, Heinz Mack, Gerhard Richter. Sie alle waren Künstler der Kunstakademie, die hier ihre Konzepte, Ideen und Werke ausprobieren und diskutieren konnten. Das Creamcheese war somit Kunstort, Ort für Kunst-Happenings, Theateraufführungen und Konzertbühne. Vgl. Thomas Hecken: Pop und Politik. Überlegungen am Beispiel des Creamcheese und der Internationalen Essener Song-Tage 1968, in: Dirk Matejovski, Marcus S. Kleiner, Enno Stahl (Hrsg.): Pop in R(h)einkultur. Oberflächenästhetik und Alltagskultur in der Region, Essen 2008, S. 245–264. 5 M, 65 Jahre, 12. Juni 2021, Online-Archivworkshop.

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Der Bürgerforscher macht mit seinem Einwand darauf aufmerksam, dass hier ein Publikum als Klientel für den Club ausgewiesen wird, das so nicht im weiteren Verlauf der Clubgeschichte vorzufinden gewesen sei. Damit hat die Forschungsgemeinschaft des Projektes #KultOrtDUS eine sehr wichtige Perspektive erhalten: Wenn Dinge rekonstruiert werden, welcher Zeitabschnitt soll dargestellt werden? Wie lassen sich die verschiedenen Zeitspannen und der Wandel des Creamcheese rekonstruieren? Und im Anschluss an die Düsseldorfer Punkband Fehlfarben: Wie wird Geschichte überhaupt gemacht? 6 Wer produziert, warum, welche Bilder, welches Image von welchem Ort? Anekdote 2

Abb. 2: ELA EIS, Miracle Whip [Befreit], 1979, Videostill: ELA EIS 2021.

Die zweite Anekdote ereignete sich während eines persönlichen Gesprächs mit einer teilnehmenden Bürgerin. Im Gespräch stand die Rolle der Frauen zur Zeit der Punkära in Düsseldorf im Fokus. Die Bürgerin berichtete, dass sie sich als Frau früher oftmals benachteiligt fühlte, weil Männer es in ihrem Umfeld nicht ertragen konnten, wenn sie als Frau ebenfalls künstlerisch aktiv war. Sie 6 Fehlfarben, Ein Jahr (Es geht voran), 1982.

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beschrieb daraufhin einen Film, den sie 1979 produziert habe, der jedoch plötzlich verschwunden gewesen sei: »Mein damaliger Freund hat immer gesagt – das war so schlecht produziert, ich habe das Band in den Müll geschmissen« 7. Im Laufe des Gesprächs stellte sich bei näherer Beschreibung des Films heraus, dass die am Projekt beteiligte Bürgerin die eigentliche Urheberin eines bekannten Videokunstwerkes ist, das jedoch unter anderem Namen veröffentlicht wurde und heute im Düsseldorfer IMAI-Archiv lagert und ausgestellt wird. Aufgrund dieses Gesprächs konnte daraufhin ein neuer Urhebervertrag zwischen dem IMAI-Archiv und der Bürgerin geschlossen werden. Diese Anekdote konnte den Forschungsansatz des Projektes unterstreichen, indem das Archiv hier neu gedacht, bestehende Machtstrukturen kritisch hinterfragt und damit einhergehend der Kanon des Videoarchivs – auch institutionell – überdacht werden musste. Dies geschah jedoch nicht nur auf der theoretisch-reflexiven Ebene. Vielmehr ermöglichte die Situation den direkten Zugang zur Praxis und die tatsächliche Intervention in die vorherrschenden Strukturen. Zudem konnte die beteiligte Bürgerin hier die Wissenschaft als Problemlöser wahrnehmen. Kristin Oswald und René Smolarski sehen diese Rolle der Forschung als wichtiges Partizipations- und Motivationsmoment für Citizen Science an: »Wenn die Geisteswissenschaften zu einem Problemlöser und einer Anlaufstelle für grundlegende Fragen der Gesellschaft werden wollen, bleibt ihnen kein anderer Weg, als neue Strukturen und an die veränderten Umstände angepasste Selbstverständnisse zu entwickeln.« 8 Diese beiden beschriebenen Anekdoten haben nicht nur eine immense Wirkung für das Archiv aufgezeigt, indem sie auf die Erosionsprozesse von Kanonisierungsmechanismen hindeuten, sondern bringen gleichzeitig auch wichtige Erkenntnisse für die Bürgerwissenschaft hervor: Denn es sind die kleinen Momente des Austauschs, die innerhalb des Projektes #KultOrtDUS häufig wichtige Forschungsergebnisse hervorgebracht haben – abseits von ausgearbeiteten Thesen, Hypothesen und Forschungsfragen sowie abseits von geplanten Formaten. Hier interagieren die verschiedenen Wissensräume, in deren Spannungsfeld von unterschiedlichen Motivationen und Zielsetzungen sich Wissen generiert und vermittelt. Im Folgenden sollen daher vor allem die Aspekte Motivation, Partizipation und Zielsetzung, die für die Citizen Science als grundlegend gelten, sowohl aus Bürgerinnen- bzw. Bürger- als auch Wissenschaftsperspektive betrachtet werden. Wobei an dieser Stelle direkt kritisch angemerkt werden muss, dass in 7 W, 63 Jahre, 26. Oktober 2021, Ladenlokal Düsseldorf. 8 Kristin Oswald, René Smolarski: Einführung. Citizen Science in Kultur und Geisteswissenschaften, in: Dies.(Hrsg.): Bürger Künste Wissenschaft. Citizen Science in Kultur und Geisteswissenschaften, Guttenberg 2016, S. 9–27, hier S. 14.

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dieser Dualität – in der Unterscheidung von akademischer Wissenschaft und Bürgerwissenschaft – letztlich schon ein grundlegendes Problem zu liegen scheint, das auch in der einschlägigen Forschung immer wieder thematisiert wird. Um diesem Umstand entgegenzuwirken, soll nicht nur »durch die Brille der Universitätswissenschaft« 9 gesehen werden, sondern es sollen ebenfalls durch Zitate aus einer Zwischenevaluation 10 die Bürgerinnen und Bürger zu Wort kommen, damit auch deren Perspektiven in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden können.

Citizen Science meets Oral History – Archive der Gefühle Im Archiv kristallisiert sich das Forschungsprojekt #KultOrtDUS – und zwischen Schwarz-Weiß-Bildern, vergilbten Eintrittskarten und geknickten Flyern bildet sich der Mythos einer ganzen Generation. Es ist sowohl ein bildreiches Archiv als auch ein Archiv aus Narrativen und Gefühlen, das die besondere Zeit des Aufbruchs in den 1970er Jahren illustriert. Auch wenn die Kulturgeschichte Düsseldorfs im engeren Sinne gut erforscht und dokumentiert ist, zeigen sich hinsichtlich der Forschungslage und Wahrnehmung der Stadt jedoch noch immer blinde Flecken, Unterbelichtungen und Ausblendungen: Im Archiv des Museums Kunstpalast gibt es beispielsweise immer noch Fotografien und Dokumente zum Creamcheese, die der Erschließung und Interpretation harren. 11 »Gerade für eine quellenkritische Interpretation einer Fotografie ist die Intention des Urhebers unabdingbar. In einer sich digitalisierenden und vernetzten Welt, die sich seit dem pictural turn zunehmend mit Bildquellen beschäftigt, wachsen die Anforderungen an Archive als Bildungs- und Forschungseinrichtungen, diese Quellengattung angemessen zu verzeichnen und nutzbar zu machen« 12.

Dies erklärt Denny Becker und schlägt Citizen Science als Lösungsansatz vor. Erste Forschungserfolge in dieser Hinsicht konnten wir – wie anhand Anekdote 1 und 2 beispielhaft veranschaulicht – bereits verzeichnen. Die Bürgerinnen und Bürger waren zudem aufgerufen, eigene Materialien und Dokumente wie Fotos mitzubringen und gemeinsam im Forschungskontext zu erschließen und einzubetten. Damit sollte ein nicht institutionalisiertes Archiv aufgebaut werden, dessen Narrative erst gemeinsam rekonstruiert 9 Peter Finke: Citizen Science und die Rolle der Geisteswissenschaften für die Zukunft der Wissenschaftsdebatte, in: Kristin Oswald, René Smolarski: Bürger Künste Wissenschaft, S. 31–56, hier S. 39. 10 Die Evaluation wurde im September 2021 durchgeführt. 11 Begehung und Sichtung des Archivs am 24. September 2020 im Kunstpalast Düsseldorf. 12 Denny Becker: Citizen Science in Archiven, in: ABI Technik 40.1 (2020), S. 30–39, hier S. 31.

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werden sollten. Eine Archivöffnung für interessierte Bürgerinnen und Bürger bietet sowohl eine Möglichkeit zur Identifikation mit Identitäts- und Stadtgeschichte als auch die Entwicklung eines Bewusstseins für Geschichtsschreibungsprozesse. Mit der Kombination aus eigenen Materialien, die dem Archiv zugeführt werden, sowie der Neuinterpretation vorhandener Dokumente, Materialien und Wissensschätze wurde das Ziel verfolgt, die Beteiligten nicht nur als reine Daten- und Forschungsquellen zu nutzen, sondern gleichzeitig in Zusammenarbeit ein neues Archiv zu produzieren – von der Sichtung, Auswahl, Fragestellung und Konzeption bis hin zur Verschlagwortung und Kuration in einer später geplanten öffentlichen Ausstellung. Die Realität sah jedoch anders aus: Lediglich eine Handvoll Fotografien kamen im Rahmen von #KultOrtDUS von den Mitforschenden zusammen, sodass das vorhandene Archiv kaum angereichert werden konnte. »Fotografieren war damals teuer und nicht so in unserem Alltag enthalten wie heute. Wir hatten ja keine Smartphones. Die Leute hätten aber auch komisch geguckt, wenn wir auf der Tanzfläche plötzlich mit Fotoapparat gestanden hätten«, 13 erklärt ein teilnehmender Bürger auf Nachfrage. Von den anderen Beteiligten wird Ähnliches berichtet. Auch wurden lediglich einige wenige andere Dokumente wie Eintrittskarten beigesteuert. Auffällig war jedoch auch hier, dass sich immer wieder auf gängige, bereits oft zitierte Publikationsbände zur Düsseldorfer Kulturgeschichte bezogen wurde. Das Archivkorpus des Forschungsprojektes war somit definiert durch die vorhandenen Archive, die zur Analyse zur Verfügung standen. 14 Verknüpft mit der konkreten Archivarbeit stand in einem ersten Schritt jedoch für die partizipierenden Bürgerinnen und Bürger ebenfalls die Vermittlung von medien- und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen im Fokus: Wie werden Archive aufgearbeitet, erschlossen, entdeckt und ausgestellt? Und wie wird daraus ein Erinnerungsort? 15 Um die Erforschung der Medienkulturgeschichte Düsseldorfs methodisch zu strukturieren, bedarf es darüber hinaus einer komplexen Erschließung verschiedener sozialer Orte, Interaktionsprozesse und Strukturen, an/in denen Kultur produziert und rezipiert wurde und wird. Konzepte und Theorien der folgenden zwei großen Forschungszweige dienten als wissenschaftliche Grundlage und 13 M, 65 Jahre, 17. Oktober 2021, Café Düsseldorf, Unterbilk. 14 Das waren u. a. das Museum Kunstpalast, das IMAI-Archiv, das Düsseldorfer Stadtarchiv, Buchpublikationen zur Düsseldorfer Stadtgeschichte und das Archiv von Carlo Schröter. 15 Dies erfolgte unter Rückgriff auf Forschungsliteratur von u. a. Pierre Nora, Michel Foucault, Jacques Derrida, Henri Lefebvre, Georg Simmel, Christoph Jacke und Alenka Barber-Kersovan. Die Forschungsliteratur wurde beim Kick-Off-Treffen vorgestellt, zur Verfügung gestellt und im Workshop erneut thematisiert und aufgearbeitet, damit auch die theoretischen Grundlagen vorhanden sind.

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wurden den beteiligten Bürgerinnen und Bürgern in der Kick-Off-Veranstaltung sowie in den angebotenen (Archiv-)Workshops nähergebracht: Stadt als Archiv sowie Stadt als soziales Produkt und Netzwerk von Kreativität mit den Schwerpunkten Raumtheorie, Milieustudien, kulturelles Gedächtnis sowie Erinnerungsorte. 16 Der Archivworkshop sollte das Werkzeug für den Aufbau des medienkulturgeschichtlichen Archivs liefern und Fähigkeiten vermitteln, Archive kritisch zu hinterfragen und deren Materialien unter bestimmten Kriterien für eine Nutzbarmachung aufzubereiten, um somit aktiver Teil des wissenschaftlichen Forschungsprozesses zu werden. Die Veranstaltungen waren ganz bewusst ebenfalls in die studentische Lehre eingebettet, damit die Mitforschenden sowie die Studierenden Seite an Seite das neue Themengebiet erschließen und das gemeinsame Lernen und Erarbeiten von Inhalten im Fokus steht. Durch die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Kontaktbeschränkungen konnten diese Seminare jedoch lediglich digital per Videokonferenzschaltung durchgeführt werden. Das war ein Problem, wie sich herausstellen sollte: Trotz mehrfacher Einladung, Besprechung und vorbereitenden Gesprächen schaltete sich nur ein Bürger während eines Workshops für ca. zwei Stunden dazu. In verschiedenen Gesprächen, die im Nachgang mit jenen Bürgerinnen und Bürgern geführt wurden, die nicht am Workshop teilgenommen hatten, zeigte sich, dass u. a. die digitale Workshopumsetzung eine Hürde darstellte. Fast alle der Befragten zeigten sich im Nachhinein in einer Evaluation schon allein von den Begrifflichkeiten Workshop und digital abgeschreckt. In der Evaluation der Archivworkshops hat sich gezeigt, dass hier die Motivationen und Zielsetzungen von Bürgerinnen und Bürgern sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auseinander gingen: Während auf Seiten der Wissenschaft die Erkenntnisgewinnung sowie die Wissensvermittlung an einen außeruniversitären Kreis im Fokus stand, waren die Bürgerinnen und Bürger zwar auch an Regionalgeschichte interessiert, jedoch nicht an einer Theoretisierung dieser Regionalgeschichte und einer Abstrahierung auf eine übergeordnete Fragestellung (wie Archiv oder Stadtforschung). Im Fokus stand für sie die 16 Als exemplarische Literaturauswahl umfasste dies bspw.: Marc Augé: Nicht-Orte, München 1994. Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt am Main 1989. Henri Lefebvre: Die Produktion des Raums, Leipzig 1974. Martina Löw: Vom Raum aus die Stadt denken, Bielefeld 2018; Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1998. Als exemplarische Literaturauswahl zum Komplex Stadt als Netzwerk von Kreativität: Richard Florida: Cities and the Creative Class, London 2004. Dietrich Helms, Thomas Phleps: Sound and the City: Populäre Musik im urbanen Kontext, Bielefeld 2007. Eberhard Hüppe: Urbanisierte Musik. Eine Studie über gesellschaftliche Determinanten musikalischer Raumproduktion und Raumaneignung, Münster 2012. Bas van Heur: Creative Networks and the City, Bielefeld 2010. Johannes Weyer: Soziale Netzwerke. Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung, München 2012.

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Düsseldorfer Stadtgeschichte und die Motivation, neue Menschen und damit in geselliger Runde Gleichgesinnte kennenzulernen und gemeinsam Erinnerungen an eine besondere Zeit aus der Jugend auszutauschen: »Ganz entscheidend ist, ich sag mal – alter Mann erzählt Geschichte und es ist immer schön, wenn sich junge Leute dafür interessieren, weil ich habe das Gefühl, dass die jungen Leute heute irgendwie geordneter in Bahnen leben. Und ich habe aus meinem Leben das Gefühl, dass damals in den 60ern, Anfang 70ern alles möglich war, vieles möglich war. Und ich hoffe, dass ich das durch das, was ich erzähle auch ein bisschen transportieren kann. Natürlich habe ich auch gedacht: mal gucken, wer sich sonst noch meldet, vielleicht trifft man jemanden von früher oder man hört Stories, die man gar nicht kennt, oder es lodern wieder Flammen auf, die völlig verschüttet sind.« 17

Ein Gemeinschaftsgefühl wiederaufleben zu lassen und sich »bei einem Bier über Gott und die Welt zu unterhalten« 18 und über vergangene Zeiten auszutauschen, scheint für viele Befragte die Motivation zu sein: »Ich kann zwar gut babbeln, aber das alles in Worte zu fassen, sodass es auch passt, das ist ja wie als wenn ich mich mit einem völlig Fremden unterhalte, aufgrund seines Lebensalters, du kannst das nicht kennen, aus eigener Erfahrung, das ist nicht machbar, und dann ein Gefühl zu vermitteln ist ja so im Privatleben schon schwer genug, aber wenn du es dann weiterbringen willst, hier in so einer Geschichte, das ist mit Sicherheit nicht einfach. […] und das dauert Stunden/mehrere Versuche, bis das sich der eine auf den anderen eingehört hat, Wortwahl, [...] Stimme, Gesichtsausdruck, wie steht diese Person bestimmten Zusammenhängen gegenüber, das kann man nicht mal eben so, da machen wir drei Stunden Workshop und dann ist jut. Ich würde mir das nicht zutrauen, das jemandem in so kurzer Zeit zu vermitteln.« 19

Auch die akademische Herangehensweise wird von einem Teilnehmer thematisiert: »Ich merke natürlich, dass ihr sehr studentisch, intellektuell daran geht, was sehr zu schmunzeln ist, natürlich, wenn man die Gegensätze dann sieht. Wenn ich erzähle und das ist ja dann alles noch sehr brav erzählt. Ich komme mir manchmal vor wie so ein Zootier, was erzählt […]. Dass da was ausgelöst wird, dass da was Besonderes geschehen ist. Und das freut mich, wenn jemand das sagt, durch meine Erzählungen. Ich bin ja kein Schriftsteller, Autor oder sonst irgendwas und bin einfach ein Mensch, der von seinem Leben erzählt.« 20

Der teilnehmende Bürger spricht hier ebenfalls die wahrgenommenen Unterschiede zwischen Wissenschafts- und Bürgerwelt an. Die Partizipationsmöglichkeiten am Projekt wurden zu Beginn bewusst offen gehalten und als Möglich17 M, 65 Jahre, 22. Juli 2021, Café Düsseldorf, Unterbilk. 18 Ebd. 19 M, 64 Jahre, 17. Juli 2021, Altstadt Düsseldorf. 20 M, 65 Jahre, 22. Juli 2021, Café Düsseldorf, Unterbilk.

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keitsraum eröffnet: Die Bürgerinnen und Bürger konnten sich so einbringen, wie es die Zeit, der Erfahrungshorizont und das eigene Interesse zulässt. Interessierte Bürgerinnen und Bürger konnten Archive einreichen, Archive analysieren, Zeitzeuginnen- bzw. Zeitzeugen-Interviews geben, an Workshops und Seminaren teilnehmen und sich den Forschungsfragen auf theoretischer Ebene nähern sowie einen Kongress mitplanen und -gestalten. Der Grad der Partizipation war innerhalb von #KultOrtDUS variabel und wurde in persönlichen Einzelgesprächen erörtert. Auch wenn einer Differenz von Zielsetzung und Motivationen zwischen Wissenschaft und Citizen Science laut Richard Bonney mit einem ko-kreativen Ansatz entgegengewirkt werden könnte, sieht die Realität von Citizen Science oft anders aus. 21 Ein Umstand, der bereits in der Genese von Förderanträgen liegt: Bei #KultOrtDUS bewegen wir uns im Rahmen von vorrangig kollaborativen Projekten, da die Mitforschenden zwar früh ins Projekt einbezogen wurden – und in Ansätzen am Forschungsdesign, an der Datensammlung (Aufbau und Aufarbeitung eines Archivs) sowie der Interpretation der Datensammlung beteiligt sind – jedoch im ersten Schritt, der Antragsstellung auf Fördermittel und damit einhergehend bei der Entwicklung der Forschungsfrage, nicht involviert waren. Auch wenn die Mitforschenden nicht von Anfang an bei der Formulierung der Zielsetzung des Projektes beteiligt waren, stellen wir im Verlauf des Projektes immer wieder fest, dass dennoch eine starke Identifikation mit dem Forschungsprojekt stattfindet: »Ich bin noch für uns dran, einen Freund zu überreden, mitzumachen. Der könnte uns helfen beim Ratinger Hof, der hat da quasi gewohnt«. 22 Mit dieser Perspektive und der Formulierung »uns« zeigt der Forschende, dass er sich als Teil einer Forschergemeinschaft wahrnimmt. Auch Kristin Oswald und René Smolarski sehen die Identifikation der Beteiligten mit dem Forschungsprojekt als Schlüssel zum Erfolg an. Durch die Partizipation als Mitforschende bekommen Bürgerinnen und Bürger eine tragende Rolle als Botschafterinnen und Botschafter für die Wissenschaft zugeschrieben: 23 »Nur dann können sie überzeugend anhand ihrer eigenen Begeisterung für diese sprechen und helfen, die Kluft zwischen privatem Interesse und institutioneller Forschung zu überwinden.« 24 Auch der intergenerationelle Aspekt, der ein wichtiger Pfeiler des Projektes bildet, wird als Erfolgsfaktor sowohl von Studierenden als auch von Wissen21 Vgl. Claudia Göbel, Justus Henke, Sylvi Mauermeister, Verena Plümpe (Hrsg.): Citizen Science jenseits von MINT. Bürgerforschung in den Geistes- und Sozialwissenschaften (HoF-Arbeitsbericht 114), Halle-Wittenberg 2020, S.14. 22 M, 82 Jahre, 17. Oktober 2022, Café Düsseldorf Unterbilk. 23 Vgl. Oswald, Smolarski: Einleitung, S. 11. 24 Ebd.

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schaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Bürgerinnen und Bürgern als Übereinstimmung von Motivation zwischen Wissenschaft und Bürgerschaft wahrgenommen: Das eigene Wissen an jüngere Generationen weiterzugeben, das Interesse an der Zeit aufrechtzuerhalten und zu fördern und auch von der jüngeren Generation zu erfahren, wie heutige Jugendkulturen denken und leben, zeigt sich als erfolgreiches Moment des Forschungsprojektes. Hier konnten sich zwei verschiedene Generationen über das Thema Jugendkulturen einander annähern und austauschen. Dieser Austausch läuft im bisherigen Verlauf des Projektes vornehmlich über die Methode Oral History. Die teilnehmenden Bürgerinnen und Bürger schlüpfen bei diesem Forschungsprojekt somit nicht nur in die Rolle der Archivarin und des Archivars, sondern werden ebenfalls zu Zeitzeuginnen und Zeitzeugen: Denn es sind nicht nur unerschlossene Archivmaterialien, die die Lücken der Medienkulturgeschichte Düsseldorfs offenbaren, sondern es sind Mythen, die über die Jahrzehnte – vor allem durch immer wieder zitierte Künstlerinnen und Künstler – reproduziert wurden und das Narrativ der Zeit durch den Nostalgiefilter verklären. 25 Die Methode der Oral History soll an dieser Stelle ins Forschungsprojekt eingebracht werden – jedoch mit der methodischen Erweiterung, dass die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen selbst die Narrative kritisch reflektieren und die Interviews der anderen Teilnehmenden einordnen und aufarbeiten. Die Bürgerin/der Bürger wird somit zur/zum kritischen und gleichsam interpretierenden Zeitzeugin bzw. Zeitzeuge seiner/ihrer selbst und der anderen. Dieser Zeitzeuginnenund Zeitzeugen-Austausch soll anschließend in der Forscherinnen- und Forscher-Gemeinschaft in einen wissenschaftlichen Diskurs eingebettet werden und zur Weiterentwicklung neuer Feldzugänge sowie der Stadtidentitätsforschung beitragen. Der Mehrwert des Citizen-Science-Projekts besteht an dieser Stelle darin, den essentiellen Blick hinter die Kulissen zu ermöglichen und den vorherrschenden, z. T. unreflektierten Bilderkanon der Stadt aufzuarbeiten, um zu einem breiteren und differenzierteren Wahrnehmungsbild zu gelangen. Das Zeitzeuginnen- und Zeitzeugen-Interview scheint im Projekt der größte Motivationsfaktor für die teilnehmenden Bürgerinnen und Bürger zu sein: 26 »Ich fand es sehr schön, dass ich junge Leute getroffen habe, die offen, aufmerksam sind und sich auch dafür interessieren. […] Wenn man keine Historie hat, hat man auch keine Zukunft. Das sollte man sehr zu Herzen nehmen, denn unsere Zeit geht sehr schnell voran. 25 Vgl. Dirk Matejovski: »Jenseits von Kraftwerk, Hof und Hosen. Konzeptionelle und methodologische Perspektiven einer neuen Medienkulturgeschichte Düsseldorf-Hype«, Vortrag im Rahmen der Tagung Modestadt und Modernitätsmaschine? Konzepte für eine neue Medien- und Kulturgeschichte Düsseldorfs am 20.09.2018 im Haus der Universität Düsseldorf. 26 An dieser Stelle sei dem gesamten Team von #KultOrtDUS für die Mithilfe beim Führen und Transkribieren der Interviews gedankt.

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Und heute teilweise bedauern wir, dass die alten Dinge, die noch dagewesen sind und abgerissen worden sind oder verschüttet sind, dass man die nicht mehr hat. Und wen willst du denn noch fragen? Zeitzeugen, vielleicht kriegst du noch welche […].« 27 »Die 70er Jahre waren wirklich wegweisend für die ganze Generation von uns, auch die älteren haben ja gemerkt, wow da geht ja noch was ganz anderes, ich finde, da muss drüber gesprochen werden und das muss irgendwie im Gedächtnis bleiben. […] Ich habe einiges zu erzählen.« 28 »[...] wenn du dich heute mit sowas beschäftigen willst, dann musst du alle Puzzleteile sozusagen zusammensetzen also, die Kunst, Kultur, Droge, du musst Leben, Aufbruchstimmung, so ein bisschen Revolution, von allem immer nur so ein bisschen, man weiß ja nie was kommt. Und die Einflüsse der Leute, die nach hier kommen, Kunstakademie, das in einen Pott schmeißen kann man, aber eine Suppe wird da nicht draus […] oder zumindest schmeckt die nicht. [...] Aber wenn du alles für sich betrachtest und dann nach und nach dieses Puzzle zusammensetzt, dann ergibt sich ein Bild, auch für relativ junge Leute so wie ihr, wo du sagst, hör mal unfassbar, was die damals, was war das für eine Zeit.« 29

Rausch, Rausch – und Nostalgie. Mythische Verklärungen als Charakteristikum und Herausforderung Gerade die Zeit Ende der 1970er Jahre, als Düsseldorf zum Epizentrum der Punkszene wurde und sich bedeutende Künstlerinnen und Künstler der Kunstakademie unters Volk in der Düsseldorfer Ratinger Straße mischten, wird allzu leicht unter dem Begriff des Mythos subsumiert – ohne jedoch dem Kern des Phänomens der Kult-Orte rund um den Ratinger Hof, das Creamcheese & Co. auf die Spur zu kommen. Fernab von regionaler Geschichtsschreibung soll mit besonderem Fokus auf mediale Prozesse, Narrative und Mythenbildung durch die Medien der Blick auf die Stadt neu perspektiviert werden. In Zeitzeuginnenund Zeitzeugen-Interviews mit den am Forschungsprojekt beteiligten Bürgerinnen und Bürgern soll diese Zeit einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Wo sind in den Narrativen mythische Verklärungen am Werk, wo werden Erzählungen unterhinterfragt übernommen oder mit der Zeit mythisch sogar weiterhin aufgeladen? »Ob nun Lohntüte oder etwas hohe Rechnungen. Alle hatten ihren Spaß. Und die Altstadt, das war eigentlich das Schöne, die hatte diese Plätze alle – für den einfachen Mann und für den Superreichen.« 30

27 M, 82 Jahre, 15. Juli 2021, Haus der Universität Düsseldorf. 28 M, 65 Jahre, 22. Juli 2021, Café Düsseldorf Unterbilk. 29 M, 64 Jahre, 17. Juli 2021, Altstadt Düsseldorf. 30 M, 65 Jahre, 22. Juli 2021, Café in Unterbilk.

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»Das ist eigentlich das Tolle an dieser Altstadt. Jedes Haus ist so ein Mikrokosmos. Ob du nun Altbiertrinker bist, Traditionalist, egal. Für dich ist ein Platz da, irgendwo, und das ist eigentlich ne große Stärke.« 31 »Weil da [im Bobby] einfach eine unheimlich tolle Stimmung war und du konntest da jeden treffen. Ob der jetzt Ratsherr irgendwo war, ob der Prof. bei der Akademie war. Es war die bunte Mischung.« 32 »So’n super Szeneort für die Künstler und Anhang […] da kommen all die berühmten Leute auch und das ist Place To Be für die Szene.« 33 »Es war klar, der Ratinger Hof hat alles geprägt. Und wie gesagt, da war auch die ganze Kunstwelt vertreten. Markus und sein Bruder – beide Professoren, der Peng war immer da – Professor Peng. Der Beuys war ab und zu da.« 34 »Interessant ist von den ganzen Kneipen auch die Uel. Da haben die ganzen Künstler immer verkehrt, von der Kunstakademie. In der Uel und im Ratinger Hof.« 35

Immer wieder ist die Rede von »besonderen, legendären Orten«, »einer Wahnsinns Atmosphäre« – »Alles war Rausch«. Rausch, Atmosphäre, große Künstler und eine Prise Nostalgie – ist das also doch das Grundrezept für die Medienkulturgeschichte Düsseldorfs? Die Zitate zeigen, dass wir es scheinbar auch bei den Zeitzeuginnen- und Zeitzeugen-Gesprächen mit mythischen Verdichtungen, mit nostalgisch verklärten Erinnerungen zu tun haben. Der methodische Ansatz, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu einem Perspektivwechsel als kritische Beobachterinnen und Beobachter ihrer eigenen Zeit einzusetzen, scheint also ein schwieriges Unterfangen. Auch bei der Gesprächsrunde, die im Rahmen des Kongresses Places to POP am 22. Oktober 2021 im Haus der Universität Düsseldorf auf der Bühne stattgefunden hat, wird das Gespräch von den drei beteiligten Bürgern auf konkrete Inhalte des und Erinnerungen an den Untersuchungszeitraum gelenkt, sodass eine Art gemeinsames Erinnern auf der Bühne praktiziert wird. Die Diskussion auf der Metaebene über die gemeinsame Forschung, die eigentlich

31 Ebd. 32 W, 69 Jahre, 18. August 2021, bei Interviewten Zuhause in Düsseldorf. 33 M, 65 Jahre, 22. Juli 2021, Café in Unterbilk. 34 M, 83 Jahre, 27. Juli 2021, Zum Goldenen Einhorn, Altstadt Düsseldorf. 35 Ebd.

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Thema der Gesprächsrunde sein sollte, wird hingegen von den Beteiligten gemieden.

Abb. 3: Diskussionsrunde mit Bürgern im Haus der Universität im Rahmen des Kongresses Places to POP am 22. Oktober 2021. Foto: Lena Fuhrmann.

Der Perspektivwechsel über das eigene Erleben hinaus hin zur Abstrahierung und kritischen Hinterfragung dieser Mythologisierungsprozesse bis hin zur Entmythifizierung, den die Forschung hier im Forschungsdesign implementiert, scheint für die Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler von untergeordnetem Interesse. Bezieht man an dieser Stelle die Gedächtnisforschung ein, nimmt die Jugendzeit natürlich eine Sonderstellung im Lebenslauf ein: Psychologische Studien zum autobiografischen Gedächtnis sehen in dieser Zeit besonders prägende Erlebnisse als Prozess der Identitätsbildung. 36 Da man vieles in der Jugendzeit zum ersten Mal erlebt, erscheinen sie in der Rückschau besonders prägend und bleiben im Gedächtnis verhaftet. Die Forschung bezeichnet die Zeit zwischen 15 und 25 Jahren als Reminiscence Bump 37 (Erinnerungshügel), 36 Stephen J. Anderson, Martin A. Conway: Representations of autobiographical memories, in: Martin A. Conway (Hrsg.): Cognitive models of memory, Cambridge 1997, S. 217–246. 37 David C. Rubin, Matthew D. Schulkind: The distribution of autobiographical memories across the lifespan, in: Ayanna Thomas (Hrsg.): Memory & Cognition, Berlin 1997, S. 859-866, hier S. 860.

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an den sich ältere Menschen besonders gut erinnern können. Verzerrungen und Verklärungen an die vergangene Zeit nehmen mit den Jahren jedoch immer mehr zu. Auch der Kulturjournalist Simon Reynolds untersucht in Retromania die vorherrschenden Retro-Tendenzen in der Popmusik und nimmt dafür ebenfalls den Nostalgie-Begriff in den Blick: »Nostalgie ist […] eine der großen Emotionen im Pop. Und manchmal ist diese Nostalgie eben das bittersüße Verlangen nach seiner eigenen Version der verlorengegangenen Zeit, die auch immer eine goldene war.« 38

Anknüpfend an diese Erkenntnisse der Psychologie und der Kulturwissenschaft kann man natürlich auch die Scheu der Bürgerinnen und Bürger, die Jugenderinnerungen auf den Prüfstand zu stellen, besser nachvollziehen. Die Jugendzeit und die positiven Erinnerungen an die Zeit in der Düsseldorfer Altstadt, die Jugendzeit mit all ihren besonderen Momenten, sollen konserviert und aufrechterhalten werden. Im Austausch mit anderen werden diese Erinnerungen sogar noch verstärkt, sodass das wohlige Gefühl der Nostalgie in der Gruppe genossen werden kann. Eine Entmythologisierung dieser Zeit erscheint daher schlichtweg nicht gewünscht oder wie es Ludwig M. Eichinger formuliert: »Der Zeitzeuge ist zweifellos ein wertvolles Gut, er hat erlebt, was den Forscher interessiert, allerdings ist sein Interesse – zumeist – ein anderes als das des professionellen Historikers.« 39 Die Rollenverteilung der Forschungsarbeit wird von den Bürgerinnen und Bürgern so wahrgenommen: »Ihr sagt uns was ihr wissen wollt und wir geben euch Antworten« 40, erklärt ein Teilnehmer. Viele der Bürgerinnen und Bürger stimmen in dieser Wahrnehmung überein und sehen sich primär als Wissensvermittlerinnen und -vermittler: Während die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Lücken aufspüren, füllen die Expertinnen und Experten ihrer Zeit diese mit Wissen und Erinnerungen. Dennoch lassen sich innerhalb des Forschungsprojektes – wie die anfänglich genannten Anekdoten zeigen – Lücken schließen (Anekdote 1) und Machtstrukturen neu denken (Anekdote 2). Auch die Kommunikation und die intergenerationelle Zusammenarbeit mit jungen Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern werden von den beteiligten Bürgerinnen und Bürgern sehr positiv wahrgenommen. Dies zeigt, dass das Projekt hier bereits Barrieren zwischen Wissenschaft und Gesellschaft abbauen konnte: 38 Simon Reynolds: Retromania. Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann, Mainz 2021, S. 30. 39 Ludwig M. Eichinger: Sprache aus Sicht des Ohrenzeugen oder Citizen Science, in: Toke Hoffmeister, Markus Hundt, Saskia Naths (Hrsg.): Laien, Wissen, Sprache, Berlin/Boston 2021, S. 175–197, hier S. 179. 40 M, 82 Jahre, 17. Oktober 2021, Café Düsseldorf, Unterbilk.

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»Für mich waren Kulturwissenschaftler Menschen, die irgendwo sitzen und Konzepte entwickeln, um die Menschen zu unterhalten [...]. Das kann man ja nicht wegdiskutieren: Ein ehemaliger Kellner, Kurierfahrer, Genussmensch, Lebemann, Zwilling, Rheinländer und dann Kulturwissenschaftler, das sind ja nicht eine Welt oder zwei Welten, das trennt normalerweise der Pazifik. [...] Wenn sich diese zwei Pole immer weiter auseinanderentwickeln, dann kann auch der vermeintlich Gebildete, sprich der Kulturwissenschaftler, nichts mehr für den vermeintlich Ungebildeten tun, weil er ihn nicht mehr erreicht. Er spricht seine Sprache nicht, er kann seine Denke weder nachvollziehen, sonst noch irgendwas, da ist das Loch einfach zu groß. Das ist auch in einer Gesellschaft, denke ich, nicht gut, wenn sich diese beiden Strömungen auseinanderentwickeln.« 41 »Das ist sehr wichtig, weil die Wissenschaft natürlich ohne Menschen eine sehr glatte Geschichte ist.« 42

Auch wenn die Kommunikation innerhalb des Forschungsprojektes mit den Bürgerinnen und Bürgern als sehr positiv im Sinne einer Offenheit und Bereitschaft zur aktiven Teilnahme hervorzuheben ist und hier bereits eine enge Identifikation mit dem Vorhaben erreicht wurde, stehen zur Halbzeitpause und Zwischenevaluation Justierungsprozesse auf inhaltlicher Ebene an: Wo können Forschungsfragen und Hypothesen noch konkretisiert werden, um die Bürgerinnen und Bürger stärker in die Theoriearbeit einzubinden? Welche Formate wünschen sich die Bürgerinnen und Bürger? Und wie lässt sich deren Partizipation am eigentlichen Forschungsprozess – fernab der Zeitzeuginnen- und Zeitzeugen-Interviews – verstärken? Etablierte universitäre Formate (wie der Workshop, das Seminar, der Kongress) bilden nicht immer die geeigneten Formate, um mit den Mitforschenden in einen Austausch zu treten. Bisher hat sich gezeigt, dass die Treffen, die außerhalb des Campus oder außerhalb der digitalen Welt stattgefunden haben (in Cafés oder Kneipen) eine entspanntere Atmosphäre für die Bürgerinnen und Bürger bedeutet haben. Eine Fokussierung auf den Forschungsgegenstand stellt jedoch an dieser Stelle eine umso größere Herausforderung dar. Hier eine Balance zu finden zwischen der Motivation der Bürgerinnen und Bürger sowie der Motivation der Forschung, ist das Ziel der nächsten Forschungsetappe. Dabei sollen erneut zunächst in Gesprächsrunden der Forschungsgemeinschaft die verschiedenen Motivationen herausgearbeitet und daraus weitere Forschungsschritte abgeleitet werden. Bereits in der Diskussion mit den teilnehmenden Bürgerinnen und Bürgern sind hier audiovisuelle Beiträge und Social-Media-Aktionen, bei denen die Bürgerinnen und Bürger im Austausch mit jüngeren Generationen über Jugendkulturen früher und heute ins Gespräch kommen. Dabei steht nicht nur der intergenerationelle Austausch im Fokus, sondern auch eine Reflexion der Methode des 41 M, 64 Jahre, 17. Juli 2021, Altstadt, Düsseldorf. 42 M, 65 Jahre, 22. Juli 2021, Café Düsseldorf, Unterbilk.

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Zeitzeuginnen- und Zeitzeugen-Interviews. Die Bürgerinnen und Bürger äußerten bereits den Wunsch, ebenfalls andere teilnehmende Bürgerinnen und Bürger sowie Partnerinnen und Partner aus dem Kulturleben als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu interviewen und damit einen Rollenwechsel vorzunehmen. Bei dieser Art der Formatentwicklung sind somit sowohl Studierende, Bürgerinnen und Bürger als auch Forscherinnen und Forscher von Anfang an beteiligt, sodass die intergenerationelle Zusammenarbeit, die von allen Seiten als große Stärke des Projektes wahrgenommen wird, für die nächste Forschungsphase noch ausgebaut wird.

Abb. 4: Gespräch mit Bürgern in einem Café in Düsseldorf-Unterbilk am 17. Oktober 2021 zur Planung und Vorbesprechung des bevorstehenden Kongresses Places to POP, Foto: Elfi Vomberg.

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Michael Brauer / Marlene Ernst Verderben viele Köche den Brei? Citizen Science im Spannungsfeld von Food Studies und öffentlicher Erwartungshaltung

Einleitung Ernährungsgeschichte ist in besonderem Maße ein Thema für die Öffentlichkeit. 1 Während die traditionelle Zunft teilweise noch daran zweifelt, ob die Geschichte von »Schnitzel und Co.« wirklich geschrieben werden muss, sehen Menschen außerhalb der Universität vielfältige Anknüpfungspunkte zu ihrem Leben. Die einen interessieren sich für die Geschichte ihrer Region und wollen wissen, ob es alte Traditionen (wieder-)zuentdecken gibt, die anderen stellen Bezüge zu Themen wie Gesundheit, Nachhaltigkeit oder Lebensstil her. Diese öffentliche Faszination für das Thema Ernährung lässt sich vortrefflich nutzen, um in diesem Bereich Citizen-Science-Aktivitäten zu entfalten. Die Autorin und der Autor haben genau dies im Citizen-Science-Projekt Salzburg zu Tisch getan, das von 2017 bis 2019 durch den österreichischen Wissenschaftsfonds FWF gefördert wurde. 2 Dieses Projekt stellte eine Erweiterung 1 An einführenden Werken zur Ernährungsgeschichte vgl. Jean-Louis Flandrin, Massimo Montanari (Hrsg.): Food. A Culinary History from Antiquity to the Present, New York, NY 1998; Kenneth F. Kiple, Kriemhild Coneè Ornelas (Hrsg.): The Cambridge World History of Food, Cambridge 2000; Jeffrey M. Pilcher (Hrsg.): The Oxford Handbook of Food History, Bd. 1, New York 2012; Jeff Miller, Jonathan Deutsch: Food Studies. An Introduction to Research Methods, Repr., New York 2014. Zum Verhältnis zur Öffentlichkeit gibt es wenig systematische Studien, vgl. Rayna Green: Public Histories of Food, in: Jeffrey M. Pilcher (Hrsg.): The Oxford Handbook of Food History, Bd. 1, New York 2012, S. 81–96; Matt Garcia: Setting the Table. Historians, Popular Writers, and Food History, in: Journal of American History 103.3 (2016), S. 656–678. 2 FWF TCS 37 Salzburg zu Tisch, https://www.plus.ac.at/gastrosophie-food-studies/projekte/abgeschlossene-projekte/salzburg-zu-tisch-top-citizen-science/ (letzter Zugriff: 19.12.2022). Vgl. dazu Marlene Ernst: Salzburg zu Tisch. Wie Citizen Scientists helfen, die barocke Küche zu ergründen, in: Hendrikje Carius, Martin Prell, René Smolarski (Hrsg.): Kooperationen in den digitalen Geisteswissenschaften gestalten. Herausforderungen, Erfahrungen und Perspektiven, Göttingen 2020, S. 127–140. https://doi.org/10.14220/9783737011778.

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zu einem bereits laufenden Forschungsvorhaben über die Ernährungsgeschichte Salzburgs in der Frühen Neuzeit dar 3 und sollte mit Unterstützung von Citizen Scientists zusätzliche Dimensionen erschließen. Dabei ging es zum einen darum, das Profil der Salzburger Küche durch überregionale Vergleichsdaten zu schärfen, die die Mitwirkenden aus großen gedruckten Kochbüchern gewinnen sollten. Zum anderen wollten wir das Verständnis der barocken Küche durch historische Rekonstruktionen, traditionelles Kräuterwissen sowie durch Vergleiche mit modernen Interpretationen verbessern. Zu diesem Zweck wurden mehrere Workshops mit sogenannten Citizen Experts veranstaltet, die über eine besondere Expertise verfügen und im außeruniversitären Feld tätig sind. Doch ist es überhaupt von Vorteil, wenn ein Thema viele Menschen interessiert, oder handelt man sich dadurch in Citizen-Science-Projekten eher Probleme ein, etwa mit einer falschen öffentlichen Erwartungshaltung, die in der tatsächlichen Arbeit nicht erfüllt werden kann? Im Anschluss an das skizzierte konkrete Projekt sollen im Folgenden fünf Fragen diskutiert werden, die auch generell die Implementierung von Citizen Science (CS) in den Geschichtswissenschaften betreffen: 1. Wie geht man eigentlich mit Citizen Scientists um? 2. Bei welchen Themen ergibt Citizen Science überhaupt Sinn? 3. Ist es wirklich mehr als Datenerhebung? 4. Können wissenschaftliche Standards sichergestellt werden? 5. Stellt Citizen Science eine Gefahr für die etablierte Wissenschaftslandschaft dar? Da das Thema Transkriptionstätigkeiten nicht nur bei Salzburg zu Tisch einen Großteil der Beteiligungsmöglichkeit ausmachte, sondern auch allgemein einen zentralen Anknüpfungspunkt bei bürgerwissenschaftlichen Ansätzen in der Geschichtsforschung darstellt, ist diesem Thema ein eigener Exkurs gewidmet.

Wie geht man eigentlich mit Citizen Scientists um? Ein entscheidender Erfolgsfaktor bei CS-Vorhaben betrifft eine gelungene Kommunikation, weswegen die Forschungsmethode auch gern mit Wissenschaftskommunikation verwechselt bzw. gleichgesetzt wird. Manche (potenzielle) Projektleiterinnen und Projektleiter versuchen gar, ohne nennenswerte aktive Beteiligung der Öffentlichkeit, ihre Projekte mit dem Etikett »Citizen Science« auszustatten, um Zugang zu entsprechenden Förderungen zu erhalten und/oder mit ihrer Gesellschaftsrelevanz zu werben. Innerhalb der CS-Community wird die Bedeutung gut durchdachter und in allen Projektphasen entsprechend 3 FWF P 28447: Regionale Ernährung und Kulturtransfer: Salzburg 1500–1800 (Projektleitung: Gerhard Ammerer). Der Abschlussband des Projekts ist zurzeit in Vorbereitung und wird in unserer Reihe Gastrosophische Bibliothek im Studienverlag Innsbruck erscheinen.

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untergebrachten Kommunikationsstrategien ebenfalls groß geschrieben. 4 Kommen neue Akteure ins Spiel, so ist die Abgrenzung zur reinen Wissenschaftskommunikationsstrategie meist ein äußerst wichtiges Thema und auch in den Wissenschaftsinstitutionen ist man sich oft nicht klar darüber, welchem Bereich bzw. welcher Abteilung die CS-Kontaktpersonen zuzuordnen sind. 5 Dies zeigt auf, dass noch immer Erläuterungsbedarf hinsichtlich der Frage »Was ist Citizen Science« besteht – und was Bürgerwissenschaft für die Geschichtsforschung bedeutet, ist dabei noch gar nicht abgedeckt. Für jedes Projekt – ob nun geisteswissenschaftlich oder nicht – gilt es dies im ersten Schritt genau zu definieren und in wenigen, aussagekräftigen Sätzen aufzubereiten, um es zu vermitteln und, fast noch wichtiger, keine falsche Erwartungshaltung zu wecken. In diesem Sinne geht die Bearbeitung historischer Zeugnisse zur Ernährung weit über den plakativen Ansatz »Lasst uns zusammen historisch kochen!« hinaus. Für Salzburg zu Tisch ließ sich die Beteiligungsmöglichkeit herunterbrechen auf die Auseinandersetzung mit schriftlichen Zeugnissen der historischen Ernährung in Form von Transkriptions- und Analysetätigkeiten. Die Bedeutung und auch Aufbereitung der barocken Küche für den heutigen Gebrauch stellte, wie in den folgenden Abschnitten noch genauer erläutert werden soll, einen zweiten Schwerpunkt dar. Um überhaupt die gewünschte Zielgruppe der potenziellen Citizen Scientists zu erreichen, bedarf es gut überlegter Strategien. Darüber hinaus ist eine klare und offene Vermittlung der Erwartungen aller Beteiligten ein zentraler Punkt, um Enttäuschungen vorzubeugen. Ein wertschätzender Umgang untereinander ist ohnehin unverzichtbar. Im Fallbeispiel Salzburg zu Tisch bedeutete dies, dass bereits in der Projektantragsphase Überlegungen hinsichtlich der Kommunikation mit (potenziellen) Citizen Scientists angestellt wurden. Der initial erstellte Kommunikationsplan umfasste zahlreiche Mittel und Wege, um die Öffentlichkeit über Mitmachmöglichkeiten zu informieren und zur Beteiligung aufzurufen. Von Newsletter-Aussendungen bis hin zu Social-Media-Kanälen war alles dabei. Schlussendlich war es ein einziger Bericht in einer Tageszeitung, der ausreichte, die für die Erreichung der Projektziele nötige Anzahl an Personen zur 4 Vgl. Barbara Heinisch, Rebecca Stocker, Esther Topitz: »Let’s Talk about Science!« A Report on the ÖCSK Workshop about Making Science Communication Attractive for Academics, in: Proceedings of Austrian Citizen Science Conference 2020 – PoS(ACSC2020)004, Wien 2021, https://doi.org/10.22323/1.393.0004. 5 Häufig finden auch Verschiebungen statt. In Österreich, wo die staatliche Förderung von Bürgerwissenschaften großgeschrieben wird, fällt auf, dass die Kontaktpersonen in den Institutionen mal dem Forschungsservice, dann wiederum der PR-Abteilung bzw. auch schon mal dem Kinderbüro zugeordnet werden – Letztere vielfach wegen der engen Verschränkung zwischen Citizen Science und Young Science (institutionell wie auch inhaltlich in Ausschreibungen wie beispielsweise dem Sparkling-Science-Programm).

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Teilnahme zu animieren. 6 Diese äußerst diverse Gruppe allerdings zusammenzuhalten und auf Dauer zu motivieren, war eine besondere Herausforderung. Bei Fragen oder Unklarheiten eine zentrale Ansprechpartnerin oder einen zentralen Ansprechpartner parat zu haben, war unumgänglich, um eine erfolgreiche Umsetzung zu gewährleisten. Regelmäßige inoffizielle Treffen, vorzugsweise in ungezwungener Umgebung außerhalb von Institutsgebäuden und mit Stammtischcharakter, haben zusätzlich zur Gruppenbindung beigetragen und für einen beidseitig gewinnbringenden Austausch gesorgt. Ebenso haben praktische Kochworkshops nicht nur ein besseres Verständnis für die historischen Gerichte, mit deren Quellen sich die Beteiligten über zwei Jahre auseinandergesetzt haben, sondern zusätzlich eine Möglichkeit für einen ungezwungenen Austausch geschaffen. Eines lässt sich definitiv feststellen: Mit einer erfolgreichen Kommunikation innerhalb wie auch außerhalb eines Projekts steht und fällt ein CS-Projekt. Je wertschätzender sich der gegenseitige Austausch gestaltet, desto gewinnbringender ist er für alle Parteien.

Bei welchen Themen ergibt Citizen Science überhaupt Sinn? CS-Projekte bieten viele Vorteile in wissenschaftlicher und öffentlicher Hinsicht: Es lassen sich größere Vorhaben bewerkstelligen und neue Gesichtspunkte integrieren. Zudem ist die öffentliche Wirkung solcher Projekte stärker, da die Öffentlichkeit nicht nur eine passive Zuhörerschaft darstellt, sondern sich aktiv am Forschungsprozess beteiligt. Angesichts dieser Vorteile könnte man überlegen, ob nicht alle Forschungsprojekte CS-Projekte sein oder zumindest einen CS-Anteil haben sollten. An dieser Stelle möchten wir Einspruch einlegen: Nicht jedes Projekt, nicht jedes Thema ist für Citizen Science geeignet und wenn gewisse Voraussetzungen nicht erfüllt sind, handelt es sich entweder um eine Fehlkonstruktion oder um Etikettenschwindel. Vor allem zwei Voraussetzungen sollten erfüllt sein:  Ein Mehrwert für die Forschung wie auch Citizen Scientists (Stichwort: Crowdsourcing bzw. Big Data) existiert 7  Der Zugang für Citizen Scientists bzw. interessierte Laien ist ohne spezialisierte (Universitäts-)Ausbildung bzw. institutionelle Anstellung möglich.

6 Vgl. Ernst, Salzburg zu Tisch, S. 129. 7 Vgl. Eva Lang: Gesellschaft – Profi-Laien-Mix schafft Mehrwert, in: Peter Finke (Hrsg.): Freie Bürger, freie Forschung. Die Wissenschaft verlässt den Elfenbeinturm, München 2015, S. 90–94.

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Im Projekt Salzburg zu Tisch war beides gegeben: zum einen die überregionalen Rezeptkorpora, die für den Vergleich benötigt wurden, aber so umfangreich waren, dass sie die Arbeitskraft des Projektteams für Monate, wenn nicht Jahre gebunden hätten. An dieser Stelle erschien uns die Arbeit mit Citizen Scientists sinnvoll, da auf diese Weise das Gesamtprojekt thematisch erweitert werden konnte. Ohne die Citizens hätte man nämlich den überregionalen Vergleich aus arbeitsökonomischen Gründen hintenanstellen müssen. Zum anderen handelte es sich bei den Kochbüchern um frühneuzeitliche Drucke, die nach einer kurzen Einarbeitungszeit gut lesbar waren, und nicht um schwierig entzifferbare Handschriften. 8 Für die Citizen Scientists selbst lag die Motivation bzw. der Mehrwert vor allem in der Beschäftigung mit einem für sie interessanten Thema inklusive einer angeleiteten, zielorientierten und gesellschaftsrelevanten Arbeit mit historischem Quellenmaterial. 9 Wenn nur eine dieser beiden Voraussetzungen nicht erfüllt ist, entstehen Probleme: Ein mit Citizen-Science-Komponenten versehenes Forschungsprojekt ergibt keinen Sinn, wenn es zur Beantwortung der Forschungsfrage nicht auf den Input von Citizen Scientists angewiesen ist. Dies führt auf beiden Seiten zu Frustration. Gleichermaßen problematisch ist es, wenn die Citizens von Anfang an überfordert werden, da technische, methodische oder inhaltliche Hürden zu hochgesteckt sind. Bei solchen Projekten wird man viele Interessierte gleich zu Beginn verlieren und Schwierigkeiten haben, eine verlässliche Gruppe zu bilden, die über die Projektlaufzeit Bestand hat. Ist also eine der Voraussetzungen nicht erfüllt, sollte man das Projektdesign ändern. 10 Sind beide nicht gegeben, wäre zu überlegen, ob ein CS-Projekt überhaupt sinnvoll ist.

8 Die frühneuzeitlichen Kurrentschriften variieren recht stark. Aus diesem Grund haben wir uns für das zweijährige Projekt dazu entschlossen, uns auf Drucke zu konzentrieren. 9 Schriftliches Feedback am Ende des Projekts durch einige Citizen Scientists der Projektgruppe belegte den persönlichen Eindruck, dass es vor allem Interesse am Thema kombiniert mit dem Aufzeigen des Nutzens des historischen Wissens für die Moderne in Praxisworkshops inkl. der damit einhergehenden Gruppendynamik waren, die zur langfristigen und nachhaltigen Motivation beigetragen haben. 10 Wir haben diesen Grundsatz in einem laufenden Projektantrag zur Ernährungsgeschichte selbst beherzigen müssen: Unsere ursprüngliche Vorstellung war, Bürgerinnen und Bürger wiederum über die Auswertung von gut lesbaren Drucken in das Projekt zu integrieren. Als sich nach stichprobenartigen Archivrecherchen herausstellte, dass vor allem (schwierige) archivalische Quellen eine Rolle spielen würden, haben wir den Citizen-Science-Aspekt stärker auf die praktische Umsetzung und Neuinterpretation der Rezepte verlagert.

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Exkurs / Survey: Internationale Transkriptionsprojekte aus dem CitizenScience-Bereich Wenn geschichtswissenschaftliche CS-Projekte über Daten- bzw. Materialsammlung hinausgehen, sind es vor allem Transkriptionstätigkeiten, die angeboten werden. 11 Aus diesem Grund folgt ein kurzer Survey über geschichtswissenschaftliche Projekte, die den Fokus auf Transkriptionen legen. Eine gute Ausgangsbasis stellen die englischsprachige scistarter-Plattform 12, die deutsche Plattform Bürger schaffen Wissen 13 sowie die Seiten Österreich forscht 14 und Schweiz forscht 15 (um den DACH-Raum abzudecken) dar. Dabei soll eruiert werden, ob in diesen Projekten ähnliche Probleme wie im Projekt Salzburg zu Tisch bestehen und ob dabei vergleichbar vorgegangen wird oder neue Lösungsansätze gesucht werden. Das Smithsonian verfügt als einer der bedeutendsten Museums- und Forschungsverbünde über eine große Menge an Archivalien zur amerikanischen Geschichte, die von der Alltagsgeschichte bis zur politischen Geschichte reichen. Um diese Sammlungen zu erschließen, hat das Smithsonian 2013 ein Transcription Center eingerichtet, das sich an die allgemeine Bevölkerung richtet – die sogenannten volunpeers. 16 Mittlerweile helfen ein YouTube-Video und verschiedene Dokumente beim Einstieg in die Transkriptionsarbeit, für die folgender Ablauf vorgesehen ist: Hat man ein Projekt gefunden und dazu beigetragen, kontrollieren zunächst andere Freiwillige die Transkription, bis sie zur Endkontrolle an die Institution gelangt. Der Einstieg ist recht niederschwellig und intuitiv gehalten – unter Anderem öffnet sich neben dem Scan des Originaldokuments automatisch ein Transkriptionsfeld. Aber was in der Dokumentation nur recht kurz angesprochen wird, ist das eigentliche Erlernen der Schriften, das vor dem Entziffern und Transkribieren steht. 17 Möglicherweise hält man das Problem nicht für relevant, weil in den Sammlungen viele Dokumente aus dem 20. Jahrhundert, teilweise maschinengeschrieben, vorhanden sind, die den Einstieg erleichtern. Gleichwohl könnte ein integrierter Kurs über historische 11 Vgl. grundsätzlich: Kristin Oswald, Citizen Science-Formate: Transkriptionsprojekte, online unter: Bürger Künste Wissenschaft, 06.07.2018, https://bkw.hypotheses.org/671 (letzter Zugriff: 19.12.2022); ein Vorzeigebeispiel hierfür: Topotheken, vgl. https://www.topothek.at/de/ (letzter Zugriff: 19.12.2022). 12 https://scistarter.org/ (letzter Zugriff: 19.12.2022). 13 https://www.buergerschaffenwissen.de/ (letzter Zugriff: 19.12.2022). 14 https://www.citizen-science.at/ (letzter Zugriff: 19.12.2022). 15 https://www.schweizforscht.ch/ (letzter Zugriff: 19.12.2022). 16 https://transcription.si.edu/about (letzter Zugriff: 19.12.2022). 17 Neben einer vierseitigen Einführung finden sich vor allem externe Links: vgl. https://transcription .si.edu/node/113 (letzter Zugriff: 19.12.2022).

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Schriftarten und ihre Transkription noch weitere Interessierte ohne spezielle Vorkenntnisse anlocken. Einen mehrstufigen Ansatz wählt das Projekt Scribes of the Cairo Geniza 18, das sich mit weitaus schwierigerem Quellenmaterial befasst. Denn die Kairoer Geniza ist eine Sammlung aus ca. 300.000 jüdischen Fragmenten der Vormoderne aus allen Lebensbereichen, die weitgehend der Transkription harren. 19 Um nun auch eine Beteiligung von Menschen ohne spezielle Vorkenntnisse zu ermöglichen, besteht die erste Stufe der Mitarbeit darin, Fragmente nach bestimmten Kriterien zu sortieren, um die spätere Transkription zu erleichtern: »In this phase, you will sort fragments into different categories based on their script types: whether they are written in Hebrew or Arabic scripts and formal or informal scripts, and whether they contain specific visual characteristics.« 20

Wichtig ist dabei, wie auch die Betreiberinnen und Betreiber betonen, dass zu diesem Zweck keine Sprachkenntnisse von Nöten sind! Es ist also möglich, sich ein Fragment anzeigen zu lassen und mit Hilfe der Schriftbeispiele im »Field Guide« zu unterscheiden, ob es sich um hebräische oder arabische Schrift handelt. In der zweiten Stufe können Interessierte dann Fragmente in »Easy Hebrew« oder »Easy Arabic« transkribieren, wobei sich auch in diesem System eine Tastatur neben dem Scan öffnet. Unterstützt werden die Citizen Scientists dabei durch Beispielalphabete aus anderen Fragmenten, die unter der Tastatur eingeblendet werden. In Zukunft ist auch geplant, die schwierigen Exemplare zur Transkription freizugeben und typische Phrasen zu identifizieren. Wie das Smithsonian Transcription Center ermöglicht das Geniza-Projekt technisch einen niederschwelligen Zugang für interessierte Bürgerinnen und Bürger. Ein Alleinstellungsmerkmal des Geniza-Projekts ist es, dass trotz der schwierigen Materie (historische Fragmente in hebräischer und arabischer Schrift) ein Einstieg ohne Vorkenntnisse ermöglicht wird, der trotzdem projektrelevante Ergebnisse produziert. Von diesem Stadium ausgehend ist es möglich, selbst die benötigten Alphabete zu lernen, um auch auf der nächsten Stufe mitzuhelfen. Dieses Vorgehen, durch einen unkomplizierten Einstieg Anreize fürs Selbststudium zu schaffen, kann als vorbildlich für Citizen Science gelten. Allerdings ist so etwas am leichtesten in Großprojekten möglich, wo ausreichend Ressourcen für die Erstellung von Lernmaterialien und digitalen Plattformen vorhanden sind. 18 https://www.scribesofthecairogeniza.org/ (letzter Zugriff: 19.12.2022). 19 Diese Überlieferung ist dem Umstand zu verdanken, dass im damaligen Judentum kein Schriftstück weggeworfen werden durfte, das man nicht mehr benötigte. Vielmehr wurde alles in einem großen Speicher gelagert. Vgl. https://www.scribesofthecairogeniza.org/about (letzter Zugriff: 19.12.2022). 20 https://www.zooniverse.org/projects/judaicadh/scribes-of-the-cairo-geniza/classify?workflow =4712 (letzter Zugriff: 19.12.2022).

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Auf weitere Transkriptionsprojekte, die auf den genannten Plattformen geführt werden, sei an dieser Stelle nur kurz verwiesen:  Dresdner Totengedenkbuch 1914–1918: Die Lücke um das Wissen der aus Dresden stammenden Gefallenen des Ersten Weltkriegs soll in diesem Projekt des Vereins für Computergenealogie, des Dresdner Vereins für Genealogie und der Sächsischen Landesbibliothek – Staatsund Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) geschlossen werden. 21 Die genealogische Forschung hat eine besonders lange Tradition an Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung und besonders die Familienforschung einen hohen Anziehungsfaktor.  e-manuscripta-Plattform der ETH Zürich: 22 Verschiedene (CS-)Projekte greifen darauf zurück, u. a. »›Mein Brief ist lang geworden‹ – Zschokke transkribieren«. Das Mitwirken in diesem Fall scheint eingangs etwas kompliziert 23, dennoch wird auch ein YouTube-Video zur Einführung und besseren Orientierung geboten und zwei Workshoptermine sorgten für einen direkten Austausch mit den Citizen Scientists. Auf der Projekt-Homepage selbst wird nicht nur auf den aktuellen Bearbeitungsstand der einzelnen Korrespondenzen eingegangen, sondern auch eine Rangliste der mitwirkenden Citizen Scientists angezeigt. Dabei fällt auf, dass manche Citizen Scientists sich in besonderem Ausmaß engagieren.  Hanse.Quellen.Lesen! Die Spätzeit der Hanse gemeinsam entdecken: 24 Im Projekt werden nieder- und hochdeutsche Handschriften entziffert und in moderne Schrift übertragen. Als Basis für die Transkriptionsarbeit bzw. als unterstützendes Tool wird Transkribus eingesetzt. Aktuell gilt es 1.300 Seiten aus zehn Dokumenten des 16. Jahrhunderts zu erschließen. Neben ins Thema einführenden und unterstützenden Materialien auf der Homepage setzt man auf im Zwei-Wochen-Rhythmus stattfindende (Zoom-)Treffen zur Transkriptionsbesprechung und als Übungsstunden.

21 Vgl. Martin Munke: Citizen Science/Bürgerwissenschaft. Projekte, Probleme, Perspektiven am Beispiel Sachsen, in: Jens Klingner, Merve Lühr (Hrsg.): Forschungsdesign 4.0. Datengenerierung und Wissenstransfer in interdisziplinärer Perspektive, Dresden 2019, S. 107–124, hier S. 117f., https:// doi.org/10.25366/2019.11; http://wiki-de.genealogy.net/Totengedenkbuch_Dresden/Projektbeschreibung (letzter Zugriff: 19.12.2022). 22 https://www.e-manuscripta.ch/ (letzter Zugriff: 19.12.2022). 23 Vgl. die Rubrik »Transkribieren« auf https://www.zb.uzh.ch/de/ueber-uns/citizen-science/meinbrief-ist-lang-geworden-zschokke-transkribieren (letzter Zugriff: 19.12.2022). 24 https://fgho.eu/de/projekte/hanse-quellen-lesen (letzter Zugriff: 19.12.2022).

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Transcribathon: 25 Bereits 2014 wurde dieses Tool entwickelt. Durch zusätzliche Projektförderungen aus Deutschland und Österreich erfuhr die Plattform mehrere Überarbeitungen und erlaubt mittlerweile die Einbindung mehrerer Kulturerbe-Sammlungen. Beinahe 340.000 Dokumente (v. a. aus der Zeit des Ersten Weltkrieges) konnten bisher bearbeitet werden. Mit der Möglichkeit, sich mit anderen Freiwilligen (volunteer historians) zu messen und die Transkriptionstätigkeit in einer Rangliste zu erfassen, ist hier ein Wettbewerbscharakter bzw. Gamification-Ansatz integriert. Transkriptionswerkstatt – Historische Dokumente des Museums für Naturkunde Berlin transkribieren: 26 Mit einem Fokus auf das 19. und 20. Jahrhundert sollen ca. 40.000 Akten des Museums erschlossen werden. Auch hier werden in einem Zwei-Wochen-Rhythmus OnlineSprechstunden (via Videokonferenzsoftware Zoom) für die Beteiligten und Interessierten angeboten. Für den Einstieg gibt es verpflichtende Transkriptionsworkshops.

Die meisten Transkriptionsprojekte haben gemein, dass sie sich auf »leicht« lesbare Quellen konzentrieren (oder eine andere Form der Aufarbeitung wählen). Nicht zuletzt coronabedingt sind auch zunehmend Online-Treffen und Anleitungen zu verzeichnen. Ob diese die primäre Zielgruppe an Citizen Scientists (häufig sind es Personen im Ruhestand, die die meiste Arbeitsleistung einbringen können) erreichen bzw. langfristig an ein Projekt binden können, ist zu bezweifeln. Der soziale Aspekt von physischen Arbeitsgruppentreffen ist nicht zu unterschätzen, so zumindest die Erfahrung aus Salzburg zu Tisch. Zudem ist davon auszugehen, dass zukünftig die reine Transkriptionsarbeit von immer besser werdenden Tools übernommen werden kann – auch im Bereich von vormodernen Schriften. Der besondere Wert der bürgerwissenschaftlichen Beteiligung liegt vor allem in der qualitativen Arbeit bzw. wird sich zwangsläufig schwerpunktmäßig verschieben (z. B. in den Annotationsbereich).

Ist es wirklich mehr als Datenerhebung? Bei diesem doch recht ausgeprägten Fokus auf Transkriptionsprojekte könnte man den Eindruck gewinnen, dass dies das Hauptanwendungsgebiet der CSMethode in den Geschichtswissenschaften darstellt. Rick Bonney und sein 25 https://transcribathon.eu/ (letzter Zugriff: 19.12.2022). 26 https://www.museumfuernaturkunde.berlin/de/museum/mitmachen/transkriptionswerkstatt (letzter Zugriff: 19.12.2022).

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Autorenteam unterscheiden in ihrer klassischen Studie jedoch drei Hauptformen der Beteiligung in der Bürgerwissenschaft: Mitwirkung (contributory projects), Zusammenarbeit (collaborative projects) und gemeinsame Erarbeitung (co-created projects). 27 Auch die Richtlinien des österreichischen FWF zu sogenannten Top-Citizen-Science-Projekten enthalten eine ähnliche Abstufung in der Beteiligung der Bürgerwissenschaftlerinnen und Bürgerwissenschaftler:  Crowdsourcing: Einbindung von Bürgerinnen und Bürger in Datengewinnung und/oder -verarbeitung,  Distributed Intelligence: Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern in Datenanalyse und -interpretation,  Participatory Science: Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern in die Weiterentwicklung von Methoden, Instrumenten und/oder Produkten,  Collaborative Science: Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern in Problemdefinitionen, Entwicklung von Forschungsfragen und/oder Qualitätskriterien. 28 Diesen Kategorien gemeinsam ist, dass sie mit der Datengewinnung anfangen und den Citizen Scientists dann eine Reihe von weiteren Möglichkeiten der wissenschaftlichen und kognitiven Beteiligung anbieten. Barbara Heinisch hat allerdings herausgearbeitet, dass in der Praxis meist der Anteil der Datengewinnung und -verarbeitung (Crowdsourcing) überwiegt, da in vielen Projekten nicht das Empowerment der Bürgerinnen und Bürger im Mittelpunkt steht, sondern sie als Mittel zu einer schnelleren Erledigung der Aufgaben angesehen werden. 29 Unser eigenes CS-Projekt Salzburg zu Tisch hatte einen Schwerpunkt in Crowdsourcing/Datenerhebung, ging aber auch deutlich darüber hinaus. In Bezug auf Datenerhebung ging es zunächst darum, drei zentrale Kochbücher der 27 Rick Bonney u.a.: Public Participation in Scientific Research. Defining the Field and Assessing Its Potential for Informal Science Education. A CAISE Inquiry Group Report, Washington D.C. 2009, S. 11. 28 https://www.fwf.ac.at/fileadmin/files/Dokumente/Antragstellung/Top-Citizen-Science/tcs _antragsrichtlinien.pdf (letzter Zugriff: 19.12.2022). Vgl. außerdem die von der deutschen Seite Bürger schaffen Wissen gebrauchte Definition: »Die Beteiligung reicht von der Generierung von Fragestellungen, der Entwicklung eines Forschungsprojekts über Datenerhebung und wissenschaftliche Auswertung bis hin zur Kommunikation der Forschungsergebnisse.«, https://www.buergerschaffenwissen.de/ sites/default/files/grid/2017/11/20/gewiss-gruenbuch_citizen_science_strategie.pdf, S. 13 (letzter Zugriff: 19.12.2022). 29 Vgl. Barbara Heinisch: Degrees of Participation in Citizen Science Projects. An Analysis of Participatory Projects Listed in English-Language and German-Language Citizen Science Project Directories, in: Daniel Dörler, Florian Heigl, Taru Sandén (Hrsg.): Austrian Citizen Science Conference 2017 – Expanding Horizons, [o. O.] 2017, S. 15–20, hier S. 19.

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Frühen Neuzeit zu transkribieren. Neben einer für Salzburg besonders relevanten Quelle – Conrad Haggers Neues Saltzburgisches Kochbuch – wurden zwei weitere ausgewählt, die für eine bessere Einordnung wie gewinnbringenderen überregionalen und zeitlichen Vergleich innerhalb der historischen Rezeptdatenbank sorgen sollten:  HAGGER Conrad, Neues Saltzburgisches Koch=Buch, Augsburg 1719 (ca. 2.600 Rezepte),  RUMPOLT Marx, Ein new Kochbuch, Frankfurt am Main 1581 (für die höfische Fachausbildung gedacht, ca. 2.000 Rezepte),  ENDTER Susanne Maria, Der aus dem Parnasso ehmals entlauffenen vortrefflichen Köchin (Vollständiges Nürnbergisches Kochbuch), Nürnberg 1691 (an bürgerliche Haushalte gerichtet, ca. 1.800 Rezepte). Nach erfolgreicher Transkription stand die Eingabe der Daten in die Historische Rezeptdatenbank 30 der Gastrosophie an und somit erweiterte sich die Art der Beteiligung von Crowdsourcing hin zu Distributed Intelligence, also deren Einbindung in Datenanalyse und -interpretation: Jeder Datenbankeintrag enthält nämlich eine Liste von Zutaten und anderen Begriffen für Querverweise, die sich nur erstellen lässt, wenn man den frühneuhochdeutschen Text inhaltlich versteht, alte Begriffe für Nahrungsmittel in Glossaren recherchiert und ein Verständnis vom Zubereitungsvorgang entwickelt, der einer Interpretation gleichkommt. Wie sehr sich die einzelnen Citizen Scientists mit der jeweiligen Thematik auseinandersetzen und wie viel Zeit sie in ein Forschungsprojekt stecken (können), variiert dabei sehr stark. Bei der Zusammenarbeit mit Freiwilligen aus der Bevölkerung, die ihre Mitarbeit meist kostenlos zur Verfügung stellen, ist mitzubedenken, dass die individuellen Verfügbarkeiten variieren können – sei es, dass die Personen noch voll im Berufsleben stehen, sich auch anderweitig (freiwillig) engagieren oder private Verbindlichkeiten bestehen. Es ist zu beobachten, dass häufig wenige Einzelpersonen einen Großteil des Arbeitspensums absolvieren. Zurückzuführen ist dies in vielen Fällen auf individuelles Engagement bzw. intrinsische Motivation, wie auch bei Salzburg zu Tisch zu beobachten war. Ursprünglich wurde mit sieben Arbeitspaketen im Umfang von je ca. zehn Seiten (im Schnitt entspricht das in etwa 30 Rezepten) für 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer gerechnet, um die drei geplanten Quellen erschließen zu können. Von den 30 aktiv gewordenen Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern war auch im Projekt Salzburg zu Tisch ein gewisses Ungleichgewicht hinsichtlich der tatsächlichen 30 Das Analysetool für die Auswertung von historischen Rezepttexten umfasst – nicht zuletzt aufgrund des CS-Projekts – über 13.000 Datensätze und steht öffentlich unter https://gastrosophie. sbg.ac.at/kbforschung/r-datenbank/ (letzter Zugriff: 19.12.2022) zur Verfügung.

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Arbeitsleistung zu erkennen (siehe Abb. 1). Wo vielfach die äußeren Umstände für ein Verharren beim ersten Arbeitspaket gesorgt haben, waren es vor allem wenige, besonders motivierte Citizen Scientists, die sich um einen Großteil der Bearbeitung bemüht und zum erfolgreichen Abschluss beigetragen haben. Mitgenommen für zukünftige Projekte haben wir vor allem, dass selbst die durchdachtesten Pläne in der Praxis flexibel angepasst werden müssen und auf die verschiedenen Motivations- und Beteiligungsebenen eingegangen werden muss. Die weitere inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex führte zudem zur Qualitätssteigerung der erzeugten Daten.

Anzahl ausgegebener bzw. bearbeiteter Arbeitspakete pro Citizen Scientist

0

10

20

30

40

50

Abb. 1: Übersicht zum Arbeitspensum pro Citizen Scientist im Projekt Salzburg zu Tisch, Quelle: Darstellung der Autorin und des Autors.

Zusätzlichen Input bekamen die Citizen Scientists dabei durch Workshops mit Citizen Experts, d. h. Experten im außerakademischen Feld. Für eine erste Annäherung an die Thematik der Umsetzung der barocken Gerichte im Hier und Heute wurde während einer Veranstaltung auf die möglichst originalgetreue

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Ausführung im Sinne der experimentellen Archäologie gesetzt. 31 Kombiniert mit dem Spezialwissen von Kräuterpädagogin Eunike Grahofer, die mögliche heimische Ersatzstoffe für diverse importierte Kräuter und Gewürze aufzeigte, wurden die Citizen Scientists an die praktische Umsetzung der von ihnen bearbeiteten schriftlichen Quellen herangeführt. Zu einem späteren Zeitpunkt folgte in diesem Sinne ein eigener Workshop, in dem Gerichte aus den besagten drei Quellen von einem professionellen Koch umgesetzt wurden. All dies führte dazu, dass die Projektgruppe zum Abschluss des Projekts eigenständig und mit dem nötigen Hintergrundwissen an die Umsetzung von barocken Speisen herangehen konnten. Die Partizipationsmöglichkeiten gingen also über klassisches Crowdsourcing hinaus, wo Bürgerinnen und Bürger ausschließlich helfen sollen, große Datenmengen zu erschließen, aber an weiteren Forschungsprozessen nicht beteiligt sind. Gleichwohl ist diese Form der Beteiligung in großen Transkriptionsprojekten nicht ungewöhnlich. So hat sich im Smithsonian Transcription Center (s. o.) eine Community aus Digital Volunteers entwickelt, die untereinander und mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über Fragen der Transkription und der Inhalte kommunizieren. Darüber hinaus betreibt das Transcription Center einen Blog, in dem sich auch (ausgewählte) Freiwillige zu ihren Spezialthemen oder weiterführenden Fragen äußern können. 32 Noch avancierter ist es, Citizen Scientists an der Entwicklung von Methoden oder sogar Forschungsfragen zu beteiligen (Participatory und Collaborative Science). Beispiele dafür finden sich deutlich weniger, vermutlich, weil hier der Kern von Wissenschaftlichkeit berührt wird und gegenüber den Citizens hohe Anforderungen bestehen. 33 Ebenso ist die Abgrenzung des eigenen Berufsfeldes für viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach wie vor ein entscheidender Faktor.

31 Vgl. Andreas Klumpp: Culina Historica. Möglichkeiten und Grenzen zur Rekonstruktion einer historischen Geschmackswelt, in: Andrea Hofmeister-Winter, Helmut Werner Klug, Karin Kranich (Hrsg.): Der Koch ist der bessere Arzt. Zum Verhältnis von Diätetik und Kulinarik im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2014, S. 253–259. 32 https://transcription.si.edu/blog (letzter Zugriff: 19.12.2022). 33 Aus unserem eigenen Haus, der Universität Salzburg, ist etwa das Projekt ALRAUNE – Allergien auf der Spur (Projektleiterin: Gabriele Gadermaier) zu nennen, in dem Schülerinnen und Schüler aktiv in die Erstellung von Fragebögen eingebunden wurden und dabei Formulierungen und Kategorien einbringen konnten, die eine bessere Ansprache der Zielgruppe ermöglichen, vgl. Alraune – Allergien auf der Spur, http://alraune.sbg.ac.at/ (letzter Zugriff: 19.12.2022).

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Können wissenschaftliche Standards sichergestellt werden? Einige Erfolgsfaktoren für gelungene CS-Projekte, vor allem eine gut überlegte und konsequent durchgeführte Kommunikationsstrategie, sind bereits angeführt worden. Daneben stellt sich die Frage nach der Qualitätssicherung innerhalb von bürgerwissenschaftlichen Vorhaben disziplinenunabhängig und in allen Vorhaben, in denen viele Personen mit oft ganz unterschiedlichen persönlichen Hintergründen zusammenkommen. 34 In Österreich wurde aus diesem Grund 2017 damit begonnen in einer transdisziplinären Arbeitsgruppe innerhalb des Netzwerks Österreich forscht konkrete Qualitätskriterien zu erarbeiten. 20 Punkte wurden dabei definiert, die von Wissenschaftlichkeit bis hin zu ethischen und rechtlichen Aspekten reichen. 35 Sie bilden mittlerweile die Grundlage zur Listung auf der Plattform Österreich forscht und waren Vorbild für internationale Diskussionen zu eben diesem Thema. 36 Möchte man das eigene Projekt auf dieser Plattform registrieren, so muss zunächst ein kurzer Fragebogen zu all den Qualitätskriterien erfüllt werden. Auf diese Art und Weise soll für alle involvierten und interessierten Parteien sichergestellt sein, dass die gelisteten Projekte in den angegebenen Gebieten gewisse Mindeststandards erfüllen. Für geistes- bzw. geschichtswissenschaftliche Vorhaben sollte man sich besondere Gedanken hinsichtlich der Qualitätssicherung machen. Die CS-Projektansätze in diesen Bereichen können immens vielschichtig und divers sein – Chance und Risiko zugleich. Um dies wiederum anhand des bereits besprochenen Fallbeispiels zu erläutern: Im Projekt Salzburg zu Tisch wurde zur Kontrolle der erstellten Transkriptionen ein gegenseitiger Korrekturleseschritt in den Ablauf integriert. 37 Dies hatte nicht nur zur Folge, dass die Qualität der individuellen Leistungen überprüft wurde, sondern ein zusätzlicher Austausch und eine Inhaltsdiskussion ermöglicht wurde. Ein weiterer Aspekt der Qualitätssicherung bestand darin, dass die Citizen Scientists immer nur kleinteilige Arbeitspakete zugeteilt bekommen haben – insbesondere zu Beginn. Dies sollte dazu beitragen, dass sich niemand überfordert fühlt und zudem häufiger Rückfragen und Unklarheiten zu 34 Vgl. Bálint Balázs, Peter Mooney, Eva Nováková, Lucy Bastin, Jamal Jokar Arsanjani: Data Quality in Citizen Science, in: Katrin Vohland u.a. (Hrsg.): The Science of Citizen Science, Cham 2021, S. 139–157, https://doi.org/10.1007/978-3-030-58278-4_8. 35 Vgl. Florian Heigl u.a.: Qualitätskriterien für Citizen Science Projekte auf Österreich forscht | Version 1.1, in: OSF Reprints (2018), https://doi.org/10.31219/osf.io/89cqj. 36 Vgl. https://www.citizen-science.at/netzwerk/arbeitsgruppen/ag-qualitaetskriterien (letzter Zugriff: 19.12.2022) sowie die ebenda angegebene weiterführende Literatur, z. B. Florian Heigl, Daniel Dörler: Public Participation. Time for a Definition of Citizen Science, in: Nature 551.7679 (2017), S. 168–168. 37 Wo sich unter den Citizen Scientists keine Teams herausgebildet haben, übernahm auch das wissenschaftliche Projektteam einige der Arbeitspakete.

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einzelnen Aspekten geklärt werden konnten. Der digitale Part des Projekts, d. h. die Eingabe der einzelnen transkribierten Rezepte in die Forschungsdatenbank inkl. der Verstichwortung nach Auflösung aller frühneuzeitlichen Begrifflichkeiten, stellte eine zusätzliche Herausforderung dar und galt mit einer gesonderten Herangehensweise behandelt zu werden. Die Herausforderungen der digitalen Welt waren und sind für viele Citizen Scientists nicht zu unterschätzen, 38 wenn sie einer älteren demographischen Gruppe angehören. 39 Aus diesem Grund wurde die Schulung im Umgang mit der historischen Rezeptdatenbank der Gastrosophie 40 erst nach einer längeren Beschäftigungsphase mit der Transkriptionsarbeit selbst durchgeführt. Dies führte dazu, dass sich die Citizen Scientists zunächst inhaltlich einarbeiten konnten, um sich dann im zweiten Schritt mit der Datenbank auseinanderzusetzen. Dennoch war für manche dieser Aspekt eine Hürde zu viel bzw. nicht das, womit sie zum Gesamtvorhaben beitragen wollten. In diesen Fällen hat wiederum das wissenschaftliche Projektteam unterstützt und Eingabetätigkeiten übernommen. 41 Nichtsdestotrotz ist es vor allem der motivierten Gruppe an Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zu verdanken, dass mittlerweile über 13.000 Datensätze für eine nähere Analyse zur Verfügung stehen.

Eine Gefahr für die etablierte Wissenschaftslandschaft? Nimmt man sich durch die Einbindung von (unbezahlten) Laien in die Forschung aus der Wissenschaftsperspektive nicht die eigene Existenzberechtigung? Fördermittelgebende Stellen können dadurch theoretisch argumentieren, dass man für die Durchführung mit weniger Budget bzw. bezahltem wissenschaftlichen Nachwuchs auskommen kann, übernehmen Citizen Scientists doch Vieles der nötigen, oft zeitlich recht intensiven Arbeitsleistung. In den Naturwissenschaften mag das zwar äußerst praktikabel sein, wenn die Laborzeiten durch die Beteiligung der Öffentlichkeit massiv reduziert werden und Ergebnisse, z. B. für Projekte im Gesundheitsbereich, rascher zur Verfügung stehen. 42 38 Vgl. Ernst, Salzburg zu Tisch. 39 Die Citizen Scientists in der Projektgruppe von Salzburg zu Tisch haben sich häufig selbst als Nicht digital native bezeichnet. 40 https://gastrosophie.sbg.ac.at/kbforschung/r-datenbank (letzter Zugriff: 19.12.2022). 41 Die individuelle Arbeitsleistung wurde dennoch bei jedem Eintrag vermerkt. Jeder Datensatz gibt Auskunft über die Transkripteurin oder den Transkripteur wie auch die Person, die den Datenbankeintrag erstellt hat. 42 Ein Beispiel hierfür ist der Gamification-Ansatz in der Alzheimerforschung von Eyes on ALZ. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Cornell University haben einen Zusammenhang zwischen Stalls, verstopften Blutgefäßen im Gehirn, und Alzheimer entdeckt und lassen nun im Online-Spiel Stallcatchers Laien kurze Ultraschallaufnahmen analysieren. Laut eigenen Angaben

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In den Geschichtswissenschaften ist diese zeitliche Komponente allerdings meist zweitrangig – weder sind Labore zu mieten noch führen mehrere internationale Teams einen Wettstreit um beispielsweise die Entwicklung von Impfstoffen – und die Drittmittelbudgets werden primär für Personalkosten verwendet. Doch so einfach ist es dann doch nicht, denn die Forschenden nehmen in CSProjekten meist die Koordinationsrolle ein, die mit erheblichem zeitlichen Aufwand verbunden ist, möchte man eine effektive Kommunikation (s. o.) aufbauen. Zielführender als das Betonen der Konkurrenz zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Citizen Scientists ist es, den Mehrwert durch die Einbindung von interessierten Laien zu bedenken. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit recht spezifischen Themen über einen längeren Zeitraum hinweg führt zwangsläufig zu einer Spezialisierung. Historische Fragestellungen haben zusätzlich den Vorteil, dass sie einen sehr breiten Interessentenkreis ansprechen (können). Nicht zuletzt sieht man dies auch anhand der zahlreichen Vereine und Interessensgemeinschaften, die sich im Zusammenhang mit Themen der jüngeren wie auch älteren Vergangenheit auseinandersetzen – sei es im Bereich der Sammeltätigkeit (wie etwa Philatelie oder Numismatik), Regional- sowie Familienforschung oder im Zusammenhang mit Reenactment-Vereinen, die in Europa besonders beliebt sind hinsichtlich mittelalterlicher Themen oder einer möglichst originalgetreuen Nachstellung militärischer Ereignisse aller Jahrhunderte. Das Spezialwissen, das in derlei Vereinen versammelt ist, übersteigt in dieser Fülle und Detailtiefe das vieler Wissenschaftlerinnen sowie Wissenschaftler und ist – auch häufig ohne universitäre Qualifizierung bzw. Ausbildung – so manches Mal dem Feld der experimentellen Archäologie zuzuordnen (vor allem, wenn man sich im Bereich der historischen Ernährung bewegt). 43 Um auch hier noch einmal auf das Fallbeispiel des Projekts Salzburg zu Tisch zurückzukommen: Ohne die intensive inhaltliche Auseinandersetzung mit der Thematik Ernährungsgeschichte durch die Citizen Scientists wären viele Fragestellungen nicht (oder zumindest nicht so schnell) in den Forschungsdiskurs mit eingebunden worden. Insbesondere die Kerngruppe, die sich während der Projektlaufzeit herausgebildet hat und nach wie vor aktiv mitforscht und Quellen

kann so in einer Stunde die Laborarbeit einer Woche durch Citizen Scientists erledigt werden und das mit einer Genauigkeit von 95 %. Vgl. Stallcatchers, https://stallcatchers.com/ (letzter Zugriff: 19.12.2022). 43 Vgl. Manfred Treml, Ernst Schütz: Geschichtsvereine, in: Felix Hinz, Andreas Körber (Hrsg.): Geschichtskultur – Public History – Angewandte Geschichte. Geschichte in der Gesellschaft: Medien, Praxen, Funktionen, Göttingen 2020, S. 359–374; Michael Hecht: Landesgeschichte und populäre Genealogie. Entwicklungen, Schnittstellen und Kooperationsmöglichkeiten, in: Arnd Reitemeier (Hrsg.): Landesgeschichte und public history, Ostfildern 2020, S. 113–135.

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aufarbeitet 44, hat zu einem besseren allgemeinen Verständnis für frühneuzeitliche Esskultur beigetragen und sich von Citizen Scientists zu Citizen Experts weiterentwickelt.

Fazit Wie die Ausführungen aufgezeigt haben, bestehen bei der Durchführung von (geschichtswissenschaftlichen) Citizen-Science-Projekten potenziell einige Probleme und Fallstricke, von der Akquise von motivierten Bürgerwissenschaftlerinnen und Bürgerwissenschaftlern über die qualitativ hochwertige Forschungsarbeit mit ihnen bis hin zur zielführenden Kommunikationsstrategie. Die Forschungsmethode allerdings als reines und weiteres Mittel der Wissenschaftskommunikation zu bezeichnen, ist viel zu kurz gegriffen. Denn bei umsichtiger Herangehensweise kann sich ein großer Mehrwert entfalten, der etwa in unvorhergesehenen neuen Fragestellungen resultieren oder darin bestehen kann, die Expertise von Bürgerinnen und Bürger in die Forschungswelt zu integrieren. Derzeit sind es vor allem Crowdsourcing- und Transkriptionsprojekte, die im geschichtswissenschaftlichen Kontext umgesetzt werden. Dennoch birgt die Citizen-Science-Methode durchaus noch mehr Potenzial – insbesondere in der Kombination mit den digitalen Geisteswissenschaften. Mit zunehmendem Einsatz von Digital-Humanities-Ansätzen (insbesondere des maschinellen Lernens), die zu einer automatisierten Quellenerschließung beitragen, wird ein Umdenken unumgänglich, möchte man auch weiterhin Bürgerinnen und Bürger mit einbinden, die klassischerweise diese Aufgaben übernommen haben. Dass Citizen Science weit mehr als reine Datenerhebung ist bzw. zumindest sein kann, zeigt sich an den positiven Erfahrungen, die sich durch die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen im Forschungskontext ergeben – weitere Diskussionsmöglichkeiten mit Interessierten sind nur ein Aspekt davon. Bei der Quellenarbeit nicht zu vergessen sind jedoch auch individuell für den jeweiligen Ansatz festzulegende Qualitätssicherungsstandards. Dies ist genauso unumgänglich wie eine entsprechende Kommunikationsstrategie unter Einbeziehung aller Projektbeteiligten. Nur so lassen sich auch Kritikpunkte hinsichtlich der Wissenschaftlichkeit entkräften, da teilweise unterstellt worden ist bzw. teil44 Beispielsweise wurde das europaweit einflussreiche, französische Vorzeigewerk von La Varenne (François Pierre de la Varenne: Le Cuisinier François, enseignant la manière de bien apprester et assaisonner toutes sortes de viandes [...], Lyon 1651) während des Corona-Lockdowns von einer Citizen Scientistin im Alleingang bearbeitet und in die historische Rezeptdatenbank eingepflegt. Siehe: https://gastrosophie.sbg.ac.at/kbforschung/r-datenbank/?rdb_kb=le-cuisinier-francois (letzter Zugriff: 19.12.2022).

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weise noch wird, dass es im Bereich Citizen Science Probleme mit der Qualität der erhobenen Daten gibt. Dass man sich als Forschende durch Einbeziehung von mitforschenden Bürgerinnen und Bürgern nicht selbst überflüssig macht, sondern mit Citizen Science neue Forschungsebenen erschließt, sollte Ziel der Projekte sein – und ist es auch in den meisten Fällen. Beachtet man diese Punkte, kann Citizen Science auch in den Geschichtswissenschaften zu einer beidseitig (für Bürgerinnen und Bürger wie auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler) gewinnbringenden Zusammenarbeit führen.

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Günter Mühlberger / Gerhard Siegl / Kurt Scharr Crowdsourcing und Citizen Science mit Transkribus. Das Beispiel des Franziszeischen Katasters in Tirol (1855–1861)

Einleitung Im Projekt Kataster Tirol digital (KATI-digital) werden die Grund- und Bauparzellenprotokolle (BPP) sowie die Urmappen des Franziszeischen Katasters für das Bundesland Tirol einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zusätzlich zur automatisierten Erschließung mittels Handschriftenerkennung läuft seit 2020 ein Citizen-Science-Projekt, bei dem sogenannte Ortschronistinnen und -chronisten alle relevanten Daten aus den Grund- und Bauparzellenprotokollen und den dazugehörigen Katastermappen erfassen. Im Untersuchungszeitraum von September 2019 bis Juli 2020 beteiligten sich 52 Personen an dem Projekt. Die dabei erbrachte Arbeitszeit summiert sich auf ca. 5.660 Stunden. Dieser aus der Warte der Projektbetreiber außergewöhnliche Erfolg kann auf drei Faktoren zurückgeführt werden: Erstens stellen der Franziszeische Kataster und die dazugehörigen Protokolle eine historische Quelle von außerordentlich hohem Wert dar. Zweitens konnte mit Chronistinnen und Chronisten eine Gruppe von Freiwilligen angesprochen werden, die über eine besonders starke intrinsische Motivation verfügen und drittens wurde ein einfach zu bedienendes Webinterface entwickelt, das einen sehr niederschwelligen Zugang ermöglicht. Die Projektbetreiber gehen davon aus, dass bis 2025 der komplette Datenbestand von den Citizen Scientists aufgearbeitet sein wird. Mit Unterstützung der Tiroler Landesregierung durch das Programm Leuchtturmprojekte im Bereich Digitalisierung 1 arbeiten die Universität Innsbruck mit der Europäischen Genossenschaft READ-COOP SCE, dem Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen (BEV), dem Tiroler Landesarchiv, dem Tiroler Bildungsforum und dem Forschungszentrum Digital Humanities der 1 Vgl. https://www.tirol.gv.at/arbeit-wirtschaft/wirtschaft-und-arbeit/foerderungen/technologiefoerderungsprogramm/digitalisierungsfoerderungen/leuchtturmprojekte/ (letzter Zugriff für diese und alle folgenden Internetadressen: 24.01.2022).

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Universität Innsbruck gemeinsam am Projekt Kataster Tirol digital (KATIdigital 2019-2022) zusammen. Das geförderte Projekt wurde im Februar 2022 abgeschlossen. KATI-digital wird seither von der Universität Innsbruck, dem BEV und der READ-COOP SCE als permanenter Service fortgeführt. Die beteiligten Institutionen gehen davon aus, dass sich weitere Bundesländer in Österreich, aber auch Verwaltungseinheiten der Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie KATI-digital anschließen werden, sodass mittelfristig eine Erfassung des Franziszeischen Katasters auch für die heute in Italien, Kroatien, Slowenien, Serbien, Ungarn, Tschechien, der Ukraine und der Slowakei gelegenen Gebiete erfolgen kann. Beim Franziszeischen Kataster handelt es sich um den »ersten vollständigen österreichischen Liegenschaftskataster« 2 für das gesamte Gebiet der österreichischen Monarchie. Er entstand in den Jahren 1817 bis 1870. Im Bundesland Tirol wurde der Kataster in den Jahren 1855 bis 1861 erstellt. Der Kataster gilt als Meilenstein in der Geschichte der öffentlichen Verwaltung, da es sich um den ersten parzellengenau vermessenen Grundkataster in der Habsburgermonarchie handelt. Das Projekt KATI-digital verfolgt im Wesentlichen drei Ziele: Zum einen sollen alle Grundprotokolle der Öffentlichkeit über eine einfache Volltextsuche erschlossen werden. Dafür wurde die im Projekt Transkribus entwickelte Handschriftenerkennung eingesetzt. Zum zweiten sollen die Protokolle und die dazugehörigen Karten (»Urmappen«) mit Hilfe von freiwilligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern detailliert erschlossen werden. Und drittens sollen die dabei gewonnen Daten auch in einer eigens entwickelten GIS-Anwendung der Öffentlichkeit, besonders aber der Wissenschaft zur Verfügung gestellt werden.

Quellenmaterial Im KATI-digital-Projekt werden zwei unterschiedliche Quellenmaterialien bearbeitet: Erstens die bereits erwähnten Detailvermessungsoperate (DVO) und hier wiederum die Grund- und Bauparzellenprotokolle. Sie machen den Hauptteil aus und enthalten in tabellarischer Form Informationen zum Kataster wie etwa die Parzellennummer sowie den Namen des Besitzers. Neben den Grundund Bauparzellenprotokollen sind in den gemeindeweise vorliegenden Quellenkonvoluten noch weitere Schriftstücke wie etwa eine Beschreibung der Gemeindegrenzen enthalten. Die zweite Gruppe an Quellen umfasst die eigentlichen Mappen, also die jeweiligen Kartenblätter des Franziszeischen Katasters (»Urmappe«). Für Tirol in 2 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Franziszeischer_Kataster.

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den heutigen Grenzen liegen 7.650 Mappenblätter im Maßstab von 1:2880 vor. Aufgrund der technischen Gegebenheiten kann von einem mittleren Fehler von rund 80 cm ausgegangen werden. Um die Mappen in einem Geographischen Informationssystem (GIS) verwenden zu können, mussten die einzelnen Blätter zu einem Gesamtbild zusammengefügt (»mosaikiert«) und georeferenziert werden. Dies wurde vom BEV für alle Mappen durchgeführt, die das heutige Gebiet des Bundeslandes Tirol betreffen. Weiterhin wurden vom BEV auch die historischen Grenzen der Katastralgemeinden erfasst, um eine Bearbeitung bzw. die Zuordnung der Daten auf Gemeindeebene zu ermöglichen. Die Mappen und die dazugehörigen Daten sind über eine Programmschnittstelle des ArcGIS Servers 3 des BEV zugänglich. 4 Über die Schnittstelle des BEV können die Mappen unmittelbar vom Transkribus-System aus technisch angesprochen und mit den im Projekt entwickelten Programmen auch visualisiert und bearbeitet werden.

Transkribus Die technische Umsetzung erfolgt über die Plattform Transkribus, 5 die von der Europäischen Genossenschaft READ-COOP SCE betrieben wird. Die Genossenschaft wurde 2019 im Anschluss an das EU H2020 Projekt READ 6 gegründet und besitzt derzeit mehr als 130 Mitglieder, darunter bekannte Universitäten und Archive aus ganz Europa aber auch den USA und Kanada. Einige Zahlen zu Transkribus: Ende 2022 waren mehr als 100.000 Benutzerinnen und Benutzer registriert, die inzwischen über 40 Millionen Imagedateien in die Plattform hochgeladen haben. Transkribus erlaubt das Training spezieller Texterkennungsmodelle durch die Benutzerinnen und Benutzer. Bisher wurden mehr als 18.000 Modelle durch die Benutzerinnen und Benutzer trainiert. Die dazugehörigen Trainingsdaten stellen unseres Wissens nach das größte Datenset zur historischen Handschriftenerkennung weltweit dar. Neben der eigentlichen Handund Druckschriftenerkennung ermöglicht Transkribus auch die Veröffentlichung der Dokumente, die automatisierte Strukturerkennung oder das automatisierte Zusammenführen vorhandener Transkriptionen mit den dazugehörigen Bilddaten. Neben einem auf JAVA basierenden »Expertenprogramm« bietet Transkribus seit einiger Zeit auch eine Weboberfläche an. Damit können die wichtigsten Basisfunktionen wie etwa das Hochladen von Dateien, die Text3 ArcGIS. https://enterprise.arcgis.com/. 4 Die Unterstützung des KATI bzw. FRANZI-Projekts findet im Rahmen der Open Government Initiative der Österreichischen Bundesregierung statt. Wir möchten uns an dieser Stelle ganz ausdrücklich für die hervorragende Unterstützung durch das BEV bedanken. 5 Vgl. https://readcoop.eu/transkribus/. 6 Vgl. https://cordis.europa.eu/project/id/674943/.

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erkennung, das Training und die Korrektur der Transkriptionen im Browser ausgeführt werden. Alle Funktionen in Transkribus sind frei mit Ausnahme der eigentlichen Erkennung, bei der Gebühren anfallen. Für Studierende und Lehrende, die Transkribus einsetzen, wird die Nutzung durch ein spezielles Scholarship-Programm erleichtert. Im Projekt KATI-digital umfassten die wesentlichen Schritte einerseits das Einspielen der rund 90.000 Bilddateien, die Entwicklung mehrerer speziell auf die Handschriften der Protokolle angepasster Texterkennungsmodelle und die Erstellung eines Strukturmodells zur Erkennung der Namensspalte in den Grund- und Bauparzellenprotokollen. Auf Basis dieser Modelle wurde dann eine komplette Erkennung aller Dokumente durchgeführt. Neu im Projekt entwickelt wurde eine Weboberfläche, die das einfache Suchen und Blättern in den Beständen ermöglicht. Mit dieser Anwendung, die als read&search 7 von der READ-COOP SCE auch vermarktet wird, konnte das erste Ziel des Projekts erreicht.

Aufgabenstellung und Arbeitsumfang Der inhaltliche Ausgangspunkt für das Citizen-Science-Projekt im Rahmen von KATI-digital sind die sogenannten Detailvermessungsoperate bzw. Katasterbegleitdokumente, wie sie bei der Erstellung des Franziszeischen Katasters zusammen mit den gezeichneten Urmappen erstellt wurden. Diese Dokumente enthalten alle wichtigen Informationen, die man von einem (modernen) Liegenschaftskataster erwartet und bilden zum Teil heute noch eine wichtige Rechtsgrundlage. Es ist dabei von folgendem Mengengerüst auszugehen: Insgesamt handelt es sich (je nach Zählweise) um ca. 340 Katastralgemeinden, wobei für jede Gemeinde ein je nach Größe mehr oder weniger umfangreiches Bau- und ein Grundparzellenprotokoll sowie die dazugehörigen Urmappen existieren. Die Grund- und Bauparzellenprotokolle umfassen für das heutige Bundesland Tirol ca. 38.000 digitalisierte Doppelseiten. Pro Doppelseite finden sich meist 20 Einträge, sodass man auf insgesamt ca. 750.000 Einträge bzw. Tabellenzeilen kommt. Zusätzlich zu den Protokollen müssen auch die ca. 900.000 Parzellennummern in der Urmappe erfasst werden. Die Zahl ist deutlich größer als die zugehörigen Protokolleinträge, da Grundteilungen in den Mappen direkt eingetragen wurden, in den Protokollen aber nicht nachgeführt wurden. Somit ergibt sich, dass für das Bundesland Tirol ca. 1,65 Millionen Einträge erstellt werden müssen, um eine vollständige Erfassung der im Franziszeischen Kataster 7 Vgl. https://readcoop.eu/de/readsearch/.

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enthaltenen Informationen gewährleisten zu können. Pro Eintrag müssen 1–14 Datenfelder bearbeitet werden. Für die Erfassung der Bau- und Grundstücksprotokolle müssen dabei Daten zu folgenden Kategorien eingegeben werden: Parzellennummer, Hausnummer, Art des Eigentümers (Person oder Institution), Familien-, Vor- und Vulgoname des Besitzers, allfällige Mitbesitzer (Erben, Kinder, andere Personen), Stand/Beruf, Wohnort, Nutzungsart, Größe in Joch, Größe in Klafter, allfällige Anmerkungen. Für die Erfassung der Parzellennummern in den Mappen müssen folgende Angaben eingetragen werden: Ort der Parzelle auf der (georeferenzierten) Karte, Art der Parzelle (Grund- oder Bauparzelle), Nummer der Parzelle, Zusatznummer, Durchgestrichen (Ja/Nein), Unleserlich (Ja/Nein).

Eingabe der Daten Das Geo-Dateninterface

Mit dem Geo-Dateninterface werden die Parzellennummern auf den historischen Mappen erfasst. Voraussetzung dafür war, dass die Karten georeferenziert vorliegen, was – wie bereits ausgeführt – vom BEV durchgeführt wurde. Die Benutzerinnen und Benutzer öffnen eine Mappe und bekommen die jeweilige Katastralgemeindegrenze detailliert angezeigt. Das ist insofern wichtig, als nur Parzellennummern der jeweiligen Gemeinde eingetragen werden dürfen – andernfalls könnte es zu Duplikaten bzw. Widersprüchlichkeiten kommen, da die Nummerierung der Parzellen in jeder Gemeinde von neuem beginnt und somit aus der Nummer alleine nicht hervorgeht, zu welcher Gemeinde eine Parzelle gehört. Die Bearbeiterinnen und Bearbeiter können im Interface die »Art der Parzelle« einstellen und dann diese in kurzer Zeit abarbeiten, da Bauparzellen in der Karte mit schwarzer, Grundparzellen hingegen mit roter Schrift eingezeichnet sind. Jedes Grundstück bildet in der Urmappe ein Polygon, dessen Grenzen mit schwarzem Stift eingezeichnet sind. Eine Erfassung dieses Polygons wäre jedoch viel zu aufwändig gewesen. Deshalb hat sich das Projektteam entschlossen, die Parzellennummern nur zu unterstreichen. Damit kann die Verbindung zwischen der Urmappe und den Protokollen hergestellt werden und bei einer späteren Visualisierung dienen dann die Parzellennummern als »visueller Anhalts-

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punkt«, um die mit der Parzellennummer verknüpften Informationen direkt auf der Karte sichtbar zu machen.

Abb. 1: Die Katastralgemeinde Wilten in ihren historischen Grenzen blau umrandet, Quelle: KATIdigital, CC BY.

Abb. 2: Detailansicht zum Geoeditor – wenn Besitzer in den Protokollen bereits erfasst wurden, dann werden sie nach Eingabe der Nummer bereits angezeigt, Quelle: KATI-digital, CC BY.

Wenn die Benutzerinnen und Benutzer weit genug in die Mappe gezoomt haben, um die Details zu erkennen, kann mit »Erstellen« der eigentliche Markierungsvorgang begonnen werden. Sobald zwei Punkte gesetzt sind, geht ein Fenster mit den entsprechenden Formularfeldern auf. Oftmals reicht nur die Eingabe der Parzellennummer, da diese meist gut leserlich ist. Bei Grundstücksteilungen muss jedoch auch der Zusatz eingegeben werden. Aus den bisherigen Daten geht

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hervor, dass von ca. 108.000 eingetragenen Geo-Daten nur sehr wenige tatsächlich unleserlich waren, diese aber aufgrund der Logik der Nummerierung im Kontext der umgebenden Parzellennummern erfasst werden konnten. Sobald auf »Speichern« gedrückt wird, verschwindet das Formularfeld und die nächste Parzelle kann markiert werden. Ein neuerliches Aufrufen der »Erstellen«-Funktion ist dafür nicht notwendig. Der Arbeitsaufwand für das Erstellen gut lesbarer Einträge beträgt ca. 200 Einträge pro Stunde. Dieser Arbeitsaufwand kann sich bei Mappen, in denen Überarbeitungen und Durchstreichungen erfolgt sind, allerdings beträchtlich erhöhen. Das Parzellenprotokoll-Interface

Bei der Korrektur von automatisiert erstellten Transkriptionen hat sich gezeigt, dass eine Erkennungsquote von über 90 % notwendig ist, damit auch Expertinnen und Experten – wozu die Citizen Scientists bereits nach wenigen Stunden gehören – bei der Eingabe der Daten davon profitieren. Aufgrund der herausfordernden Struktur der Tabellen und der Verwendung vieler Ditto-Zeichen in den Tabellen, waren wir nicht sicher, ob wir die geforderte Genauigkeit tatsächlich mit vertretbarem Aufwand erreichen würden. Statt also Programmieraufwand in die automatisierte Übernahme zu stecken, haben wir versucht durch Kopierfunktionen, Auto-Vorschlagssysteme und ähnliche Maßnahmen die Eingabe zu erleichtern. Der eingeschlagene Weg wurde von den Citizen Scientists akzeptiert und bisher gab es keine Anfragen bezüglich einer automatisierten Übernahme der Daten. Wir haben uns daher entschieden, dieses Interface ähnlich wie das Geo-Interface zu gestalten. Es war uns allerdings wichtig, auch hier eine Verbindung zwischen dem Digitalisat der entsprechenden Seite bzw. dem Tabelleneintrag und den in der Datenbank gespeicherten Formulardaten zu ermöglichen. Dadurch sollen zu einem späteren Zeitpunkt jederzeit die Eingaben der Benutzer überprüft werden können. Dies erscheint uns im Hinblick auf ähnlich gelagerte Projekte von Bedeutung zu sein, da auf diese Weise praktisch ohne zusätzlichen Aufwand ein enger Zusammenhang zwischen Digitalisat und Daten hergestellt werden kann, ohne deshalb aber das Eingabeformular wesentlich zu verkomplizieren. Es muss allerdings betont werden, dass hierbei die von den Benutzern eingegebenen Daten nicht mehr für ein Training der Handschriftenerkennung in Transkribus genutzt werden können. Grund dafür ist, dass bei einer direkten Eingabe in ein Formularfeld der unmittelbare Zusammenhang mit dem Digitalisat auf Zeilenebene verloren geht.

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Wenn die Benutzerinnen und Benutzer mit der Eingabe der Protokolldaten beginnen, dann setzen sie nur einen einzelnen Punkt (vereinbarungsgemäß neben die Parzellennummer). Die Koordinaten des Punktes bzw. die eindeutige Internetadresse des Bildes werden beim Eintrag mitgespeichert und können so später jederzeit gemeinsam aufgerufen werden. Sobald der Punkt gesetzt wird, erscheint ein umfangreiches Formularfenster, in dem alle in der Tabelle enthaltenen Felder – wie oben angeführt – ausgefüllt werden können. Zusätzlich wurden die Felder »Institution/Person« bzw. »Anmerkungen des Bearbeiters« in die Eingabemaske aufgenommen.

Abb. 3: Manuelle Erfassung der Angaben in den Bau- und Grundparzellenprotokollen, Quelle: KATI-digital, CC BY.

Um die manuelle Eingabe zu erleichtern, wurde eine Auto-VervollständigenFunktion bzw. eine Kopierfunktion integriert. Die Erfassung von Waldparzellen mit sehr vielen Miteigentümern kann dabei durchaus herausfordernd sein, da entsprechend viele Daten eingegeben werden müssen. Das Interface kann auf einem Desktoprechner mit einem großformatigen Bildschirm sehr gut verwendet werden, bei Laptops mit kleineren Bildschirmen ist die Bedienung etwas erschwert, aber durchaus möglich.

Organisatorische Aspekte Jedes Citizen-Science-Projekt ist selbstverständlich auf die Mitarbeit von Freiwilligen angewiesen, die bereit sind eine beträchtliche Arbeitsleistung zu erbringen, um das Projektziel zu erreichen. Auf die Rekrutierung der Citizen Scientists

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sowie deren Betreuung und Motivation wurde daher besonderes Augenmerk gelegt. Eine entscheidende Rolle spielte dabei das Tiroler Bildungsforum, das wiederum eine Dachorganisation der Tiroler Ortschronisten darstellt. Ortschronisten sind Personen, die ehrenamtlich das Geschehen ihres Ortes dokumentieren und somit a priori historisches Interesse mitbringen. Sie legen Sammlungen historischer Dokumente an, verfassen Publikationen zur Ortsgeschichte oder organisieren Führungen. Das Tiroler Bildungsforum koordiniert die Tätigkeit der Chronistinnen und Chronisten und bietet ihnen Weiterbildungsseminare an. Durch die Beteiligung an wissenschaftlichen Projekten (z. B. zur Erhebung von Flurnamen 8), hatte das Bildungsforum mit seinem Chronistennetzwerk bereits Erfahrung in der Zusammenarbeit mit der universitären Forschung sammeln können. Es war somit der ideale Partner für den Citizen-Science-Teil von KATIdigital. Nachdem eine Demoversion der Weboberfläche im Juni 2020 fertiggestellt und intern geprüft worden war, wurden im September 2020 erstmals die Chronistinnen und Chronisten als künftige Bearbeiterinnen und Bearbeiter damit konfrontiert. Im Bezirk Lienz fand eine vom Tiroler Bildungsforum organisierte Fortbildung statt, in deren Rahmen wir das Projekt KATI-digital bzw. die Weboberfläche vorstellten. Da die Urmappe für den Bezirk Lienz zu dieser Zeit noch nicht im System war, konnten wir nur die Grund- und Bauparzellenprotokolle präsentieren und mussten bei der Urmappe auf einige Beispielgemeinden eines anderen Bezirks zurückgreifen. Dennoch weckte das Projekt breites Interesse und die Weboberfläche wurde sehr gut angenommen. Wenige Stunden nach dieser ersten Schulung stiegen die Nutzerzahlen wie auch die Zahl der Einträge rasant an. Wichtig ist zu betonen, dass sich die Citizen Scientists für eine bestimmte Gemeinde persönlich bei den Projektleitern melden müssen, um freigeschaltet zu werden. Damit ist klar, dass auch eine gewisse Verpflichtung und Motivation besteht, diese Gemeinde dann auch tatsächlich abzuarbeiten. Weder gibt es eine doppelte Eingabe – wie es bei vielen Crowd-Sourcing-Anwendungen üblich ist –, noch findet eine Überprüfung durch eine weitere Person statt. Stattdessen vertrauen wir darauf, dass die Citizen Scientists ihre Aufgabe als Ortschronisten sorgfältig erledigen. Stichprobenartige Überprüfungen bestätigen, dass die Qualität der Daten tatsächlich als ausgezeichnet zu betrachten ist. Die Osttiroler Chronistinnen und Chronisten waren die ersten Benutzer, die neben ihrer eigentlichen Aufgabe auch Kommentare zur Praktikabilität der Weboberfläche rückmeldeten. Diese Kommentare wurden sowohl bei den Workshops als auch später per E-Mail gesammelt, intern diskutiert und zur 8 Vgl. Flurnamenprojekt der Universität Innsbruck, https://www.uibk.ac.at/projects/flurnamentirol/index.html.de.

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Verbesserung der Anwendung herangezogen. Ein wichtiger Aspekt war dabei die Optimierung der Eingabemaske. Besonderes Augenmerk wurde auf einen flüssigen Arbeitsablauf gelegt. Für viele Benutzerinnen und Benutzer wird dies durch die Verwendung der Tabulatortaste oder durch die leichte Menüauswahl mit Page Up/Page Down anstelle von deutlich langsameren Mausklicks erreicht. Da die Arbeitspraxis jedoch von Person zu Person unterschiedlich ist, wird auch die Eingabe mittels Maus unterstützt. Im Untersuchungszeitraum von September 2020 bis Ende Juni 2021 gab es in nur drei von neun Tiroler Bezirken Aktivitäten zur Bekanntmachung von KATIdigital und der Weboberfläche sowie persönliche Schulungen oder Webinare. Durch Mundpropaganda der bestens vernetzten Chronistinnen und Chronisten konnten aber schon einige Bearbeiterinnen und Bearbeiter aus Nachbarbezirken dazugewonnen werden. Die Bearbeiterinnen und Bearbeiter gehen in der Regel zuerst an ihre »eigene« Gemeinde heran und bearbeiten die dort liegenden Katastralgemeinden (eine politische Gemeinde kann aus mehreren Katastralgemeinden bestehen). Bei einer durchschnittlich großen Katastralgemeinde sind das zwischen 4.000 und 5.000 Einträge in allen drei »Aufgaben« (Geodaten, Grund- und Bauparzellenprotokolle), große Gemeinden wie etwa Oberhofen im Inntal weisen sogar mehr als 10.000 Einträge auf. Manche Chronistinnen und Chronisten entwickeln im Zuge der Arbeiten neben der ohnehin schon vorhandenen Neugier einen enormen Fleiß und bearbeiten auch die umliegenden Gemeinden. Der erstaunliche Eifer der Bearbeiterinnen und Bearbeiter bei dieser Arbeit ist wohl in erster Linie einem echten Interesse an dem Thema geschuldet. Als Ortschronisten profitieren sie direkt an der Erschließung einer ansonsten nicht oder nur sehr schwer zugänglichen Quelle. Es ist sogar davon auszugehen, dass viele Ortschronisten über die Existenz der Begleitdokumente nicht Bescheid wussten und erst durch die Digitalisierung und den Online-Zugriff auf diese Quelle aufmerksam wurden. So ist es anhand des Franziszeischen Katasters beispielsweise möglich, alle Mühlen zum jeweiligen Entstehungszeitpunkt des Katasters (meist zwischen 1856 und 1858) zu identifizieren. Wieder andere haben großes Interesse an Familien-, Höfe-, Agrar- oder Landschaftsgeschichte. Alle diese Themen und noch viele mehr lassen sich hervorragend mit dem Franziszeischen Kataster bearbeiten. Als kleinen Ansporn für die Bearbeiterinnen und Bearbeiter erhielten sie nach 500 geleisteten Einträgen das gesamte gescannte Konvolut zum Download. Diese Unterlagen enthalten nicht nur die in der Weboberfläche befindlichen Grund- und Bauparzellenprotokolle, sondern auch die Grenzbeschreibung, Flur- und Häuserverzeichnisse, Flächenausweise, alphabetische Verzeichnisse etc., die in Summe sehr wertvolle Unterlagen für die Ortsgeschichte darstellen. Zudem ist es den Bearbeiterinnen und Bearbeitern

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möglich, einen Export im CSV (Comma-separated value) oder Excel-Format vorzunehmen, den sie für die Ortschronik, z. B. als Quellenbasis für Publikationen, verwenden können. Aus verschiedenen persönlichen Reaktionen geht hervor, dass besonders der einfache Datenexport als besonders positiv angesehen wird. Von großer Bedeutung für die positive Resonanz bei den Citizen Scientists war auch, dass von Anfang an eine rasche und unkomplizierte persönliche Betreuung stattgefunden hat. Dabei geht es vor allem darum, dass konkrete Fragen möglichst innerhalb eines Tages geklärt werden. Dafür wurde rund eine Stunde Arbeit pro Tag aufgewendet. Auch durch persönliche Telefonate bzw. OnlineVideotreffen konnten Fragen zeitnah und konkret beantwortet werden. Ein wichtiger Punkt stellt der erste Kontakt mit der Weboberfläche dar. Hier sind wir so vorgegangen, dass wir den persönlichen Zugang zu einer Gemeinde sofort bei der Schulung bzw. beim Webinar vergeben haben. Gleich zu Beginn wurden alle Schulungsteilnehmerinnen und -teilnehmer auf der Weboberfläche registriert, sodass sie nicht nur an der Schulung auf ihrem eigenen Gerät teilnehmen konnten, sondern damit eine spätere, mitunter abschreckend wirkende Registrierung entfallen konnte. Nach der Registrierung können die Benutzerinnen und Benutzer weitere Details zu den Gemeinden und den Arbeitsaufgaben sehen. Das Arbeiten an einer bestimmten Katastralgemeinde wird jedoch erst nach der Freischaltung durch einen Administrator möglich. Bewährt hat sich auch die Startseite, die ganz prominent den aktuellen Stand der Arbeiten anzeigt. Dabei werden jene Personen an erster Stelle gereiht, die in den letzten sieben Tagen die meisten Einträge gemacht haben. Es ist zu beobachten, dass dadurch der Ehrgeiz angestachelt und eine »freundschaftliche Konkurrenz« innerhalb der Chronistengemeinschaft entfacht wird, nach dem Motto: »Jetzt sehe ich mal nach, was der Chronist meiner Nachbargemeinde heute geleistet hat, damit ich das vielleicht noch übertreffen kann!« Selbstverständlich besteht auch ein Betreuungsaufwand, da die Urmappen und Protokolle, also die Arbeitsaufgaben für die Bearbeiterinnen und Bearbeiter, zwar sehr gleichförmig sind, sich in Details aber doch geringfügig von Gemeinde zu Gemeinde unterscheiden können. Die meist per E-Mail gestellten Fragen betreffen inhaltliche und technische Aspekte sowie die Schnittstelle daraus, wenn inhaltliche Abweichungen vom Gewohnten einer neuen technischen Umsetzung bedürfen. Spezialfälle in der Originalquelle erfordern ein rasches Eingreifen bzw. eine gute Erreichbarkeit der Betreuung, weil die Bearbeiterinnen und Bearbeiter sonst an der problematischen Stelle stecken bleiben und womöglich die Arbeit beenden. Es hat sich gezeigt, dass die durchwegs sehr gewissenhaft arbeitenden Chronistinnen und Chronisten einen Anruf oder eine EMail an die Administration bevorzugen, ehe sie womöglich mit einer nicht

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konformen oder unklaren Lösung weitermachen. Eine kurze Auskunft der Betreuung ist dabei von großem Wert und gibt die Sicherheit, die für ein motiviertes Arbeiten von entscheidender Bedeutung ist, selbst wenn oftmals auch Lösungen aus eigener Überlegung bereits vorgebracht wurden. Wenn die Anwendung gut läuft und die ersten zwei Wochen nach einer Schulung vergangen sind, sinkt der Betreuungs- und Administrationsaufwand beträchtlich. Nach mehreren Wochen sind dann oftmals die Citizen Scientists bereits »Expertinnen« bzw. »Experten«, die ihrerseits wieder anderen Ortschronistinnen und -chronisten Auskunft geben können.

Resultate Die folgende Auswertung bezieht sich auf den Zeitraum von September 2020 bis Juni 2021. Wie bereits beschrieben, handelt es sich dabei um eine Testphase. Im Sommer 2021 wurden dann die restlichen Urmappen in die Anwendung eingespielt und seit Oktober 2021 läuft das Projekt nunmehr in der Produktivversion. Wie erwartet, konnte die Arbeitsleistung seither noch einmal deutlich gesteigert werden, da nunmehr die Urmappe für alle Gemeinden vorliegt und die Eingabe der Geo-Daten nicht nur eine recht einfache, sondern auch für viele Ortschronisten interessante Tätigkeit darstellt. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die im Untersuchungszeitraum eingegebenen Daten: Tab. 1: Im Untersuchungszeitraum (September 2020 bis Juni 2021) eingegebene Daten, Quelle: Darstellung der Verfasser. Dokument

Geschätzte Gesamtmenge

Einträge

Anzahl der Kommentar Felder

BPP

110.000

19.770

14

Meist sind 10 Felder aktiv zu befüllen

GPP

641.000

185.122

14

Meist sind 10 Felder aktiv zu befüllen

Mappe

900.000

107.505

5

Meist sind 1-2 Felder aktiv zu befüllen

Gesamt

1.6500.000

312.397

Bis Ende Juni 2021 wurden somit insg. 312.397 Einträge in die Datenbank eingegeben. Bei 107.505 Einträgen handelt es sich dabei um die relativ rasch zu erstellenden Geo-Daten, immerhin 204.892 Einträge beziehen sich auf die Grundoder Bauparzellenprotokolle.

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Geht man davon aus, dass die Bearbeiterinnen und Bearbeiter durchschnittlich pro Stunde etwa 40 Einträge bei den Bau- und Grundparzellenprotokollen und etwa 200 Einträge bei den Mappen erstellen, dann ergibt sich folgende Übersicht: Tab. 2: Umrechnung der eingegebenen Daten in Arbeitsstunden, Quelle: Darstellung der Verfasser. Einträge

Pro Stunde

Stunden

BPP

19.770

40

494

GPP

185.122

40

4.628

GeoData

107.505

200

538

Summe

312.397

5660

Die Citizen Scientists haben somit im Untersuchungszeitraum rund 5.660 Stunden gearbeitet, was rund drei Arbeitsjahren und vier Monaten einer 40h-Anstellung entspricht. Da es sich um eine qualifizierte Arbeit handelt, die das Lesen der historischen Kurrentschrift beinhaltet, kann davon ausgegangen werden, dass damit eine Leistung von weit mehr als 100.000 Euro erbracht wurde. Betrachtet man die Verteilung dieser beeindruckenden Arbeitsleistung, dann sieht man, dass 52 Personen in insgesamt 124 Gemeinden Daten eingegeben haben. Allerdings ist die Verteilung sehr ungleich. Eine einzige Person hat 28 % aller Einträge bei den Grundparzellenprotokollen (GPP) und 31 % der Bauparzellenprotokolle erstellt bzw. in absoluten Zahlen 58.748 Einträge eingegeben! Das entspricht einer Arbeitsleistung von rund 1.100 Stunden, die in nur neun Monaten erbracht wurde. Erweitert man den Kreis der aktivsten Benutzer auf zehn, so ergibt sich, dass 20 % der Benutzerinnen und Benutzer rund 66 % der Grund- und 71 % der Bauparzellenprotokolle erstellt haben. Bei den Geo-Daten ist der Wert noch deutlicher: Hier haben die fünf aktivsten Benutzerinnen und Benutzer rund 80 % der Daten eingegeben. Wie sieht es nun im Vergleich mit den insgesamt zu erwartenden Daten aus? Tabelle 2 zeigt eine Gegenüberstellung der bisher erbrachten Eingaben mit den geschätzten Gesamtwerten.

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Tab. 3: Einträge im Untersuchungszeitraum im Vergleich zur Grundgesamtheit, Quelle: Darstellung der Verfasser. Einträge

Gesamt

Prozent

BPP

19.770

110.000

18

GPP

185.122

640.000

29

GeoData

107.505

900.000

12

Summe

312.397

1.677.846

19

Abb. 4: FRANZI: GIS-Anwendung für die Suche und Darstellung der historischen Katasterdaten.

Es zeigt sich, dass in den ersten neun Monaten knapp 20 % der Arbeit geleistet wurde. Geht man davon aus, dass dieses Niveau gehalten oder vielleicht sogar ausgebaut werden kann, dann sollten in drei bis vier Jahren alle Protokolle und Mappen digital erfasst worden sein. Der nächste und letzte Schritt beim Projekt ist derzeit die Programmierung einer GIS-Anwendung, mit der die oben erfassten Daten einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden sollen. Arbeitstitel dieses Teilprojekts ist FRANZI (Franziszeischer Kataster, siehe Abb. 4). Ein erstes Proof-of-Concept wurde bereits erstellt. Mittels Such- und Filterfunktion wird es möglich sein, sich nicht nur alle Daten anzeigen und ausgeben zu lassen, sondern die Daten werden auch direkt auf den digitalisierten und georeferenzierten Mappen visualisiert werden. Darüber hinaus wird FRANZI auch

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die Suche in allen erhobenen Daten ermöglichen. Eine erste Veröffentlichung dieses historischen Geoinformationssystems ist bis Ende 2023 geplant.

Diskussion Das Citizen-Science-Projekt im Rahmen von KATI-digital übertrifft bei weitem die ursprünglichen Erwartungen des Projektteams. Tausende Arbeitsstunden wurden freiwillig geleistet, die Motivation ist auch nach monatelanger Arbeit ungebrochen und die Qualität der Daten außerordentlich hoch. Wir führen diesen Erfolg im Wesentlichen auf drei Faktoren zurück: Erstens ist hier der historische Wert der Quellen zu nennen. Die Urmappen gehören in ihrer detaillierten Ausführung zu den beeindruckendsten Leistungen der österreichischen Verwaltung im 19. Jahrhundert. Obwohl die Urmappen bereits vor einigen Jahren digitalisiert wurden und auch über einen privaten Anbieter 9 zugänglich sind, so stellt KATI-digital doch erstmals die Urmappe in Zusammenhang mit den Grund- und Bauparzellenprotokollen für das Bundesland Tirol zur Verfügung. Der hohe ästhetische Wert der Urmappen wird nur noch durch ihren außergewöhnlichen Detailreichtum übertroffen. So werden etwa Bauten aus Holz in Gelb, gemauerte Gebäude in Rot dargestellt, größere Gärten oder Parks werden liebevoll im Detail ausgeführt, alleinstehende Bäume oder Baumgruppen nach Art und Bewuchs kenntlich gemacht. Die Begleitdokumente sind wiederum von großem Wert für die historische Forschung und die beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die heutigen Parzellennummern in Österreich gehen noch immer in ihrem Grundbestand auf die Benennung in der Urmappe bzw. den ersten Protokollen zurück, sodass sich besonders in Regionen mit wenig Bautätigkeit die Parzellennummern und Grundstücksgrenzen nur unwesentlich verändert haben. Die Vulgo- oder Hausnamen der Bauernhöfe sind ein weiterer interessanter Anhaltspunkt für die historische Forschung, da der Hausname besonders in ländlichen Regionen immer noch eine wichtige Bedeutung besitzt. Aufgrund der Angaben zum Stand bzw. Beruf der Eigentümer wird aber auch die Sozialstruktur sehr deutlich. Der Datenexport als Excel ermöglicht es zudem jedem Bearbeiter bzw. jeder Bearbeiterin einer Gemeinde, sofort eine einfache Auswertung in Bezug auf die größten Grundbesitzer in einer Gemeinde, auf die Anzahl der Häuser oder auf die Verteilung der Nutzung (Acker, Wiese, Wald, Gärten, etc.) vorzunehmen. Der zweite entscheidende Faktor liegt sicherlich in dem glücklichen Umstand begründet, dass in Tirol jede Gemeinde einen Ortschronisten bzw. eine Ortschronistin offiziell bestellt hat und diese über das Tiroler Bildungsforum lose 9 Vgl. https://maps.arcanum.com/de/.

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miteinander in Austausch stehen. Obwohl also keine Bezahlung erfolgt, so ist doch eine persönliche Verpflichtung gegenüber diesem »Ehrenamt« gegeben. Zudem haben einige bereits an ähnlichen Projekten teilgenommen. Trotz der hohen Motivation der beteiligten Chronistinnen und Chronisten zeigt sich jedoch auch hier, dass – wie oben ausgeführt – die Verteilung der Arbeiten dem üblichen Schema in Crowd-Sourcing oder Citizen-Science-Projekten folgt: Rund zwei Drittel der Arbeit wird von 10–20 Prozent der beteiligten Personen durchgeführt. Offenbar gelingt es im Projekt KATI-digital genau diese Gruppe von Personen anzusprechen. Der dritte entscheidende Faktor war die Gestaltung des Web-Interface für die Eingabe der Daten. Das Projektteam hat sich bemüht eine möglichst einfache Eingabe zu ermöglichen, bei der das Formular für die Grund- und Bauparzellenprotokolle auch ohne die Benutzung der Maus durchgeführt werden kann. Besonders hervorzuheben ist dabei die persönliche Betreuung der Citizen Scientists, die verlässlich und innerhalb kürzester Zeit Antworten und Auskunft zu Fragen und Unklarheiten erhalten haben. Was könnte nun dieses so erfolgreiche Projekt für die Plattform Transkribus bedeuten? Zum einen sollen im Laufe des Jahres 2023 die technischen Grundlagen für die Beteiligung von Citizen Scientists geschaffen werden. TranskribusBenutzer sollen die Gelegenheit erhalten ihr eigenes Citizen-Science-Projekt ohne technisches Vorwissen zu starten und das bedeutet, dass Benutzer selbst entscheiden können, welche Dokumente sie für ein Citizen-Science-Projekt zur Verfügung stellen möchten. Auch die Art der Aufgaben soll konfigurierbar sein. Zu denken ist etwa an die Korrektur der Zeilenerkennung, das Auszeichnen von Layout (Tabellen, Formulare, etc.), das Transkribieren und das Annotieren von Personen- oder Ortsnamen. Diese Standardaufgaben sollen dann mit wenig Aufwand zu einem umfassenden Workflow zusammengefügt werden können. Für die Benutzer wiederum ist die Transparenz in Bezug auf den Fortschritt der Arbeiten bzw. die geforderte und erbrachte Arbeitsleistung von entscheidender Bedeutung. Viele Citizen Scientists sind bereit eine enorm hohe Arbeitsleistung zu erbringen, aber eben nicht alle. Es ist daher wichtig, dass einerseits jederzeit volle Transparenz besteht in Bezug auf die Erreichung der gesteckten Ziele, andererseits muss es aber auch die Möglichkeit geben, dass Benutzer von der Aufgabe wieder zurücktreten und sich vom Projekt »verabschieden«. Auch eine gewisse Art der »Dankeskultur« wie sie in Organisationen mit einem hohen Anteil an Freiwilligenarbeit selbstverständlich ist, – man denke etwa an das Rote Kreuz oder die Caritas – sollte auch im digitalen Raum einen Platz besitzen. Zuletzt sei noch darauf verwiesen, dass im Projekt KATI-digital keine Kontrolle der erbrachten Ergebnisse durch die Projektbetreiber selbst erfolgt. Dies ist aus unserer Warte ein entscheidender Faktor und erhöht die Effektivität eines Citizen-

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Science-Projekts ganz wesentlich. Drei Faktoren scheinen uns hier maßgeblich zu sein: Erstens wird allen Benutzern ein uneingeschränkter Vertrauensvorschuss entgegengebracht. Wir gehen einfach davon aus, dass niemand dem Projekt schaden möchte oder so schlampig arbeitet, dass die Ergebnisse unbrauchbar sind. Zweitens gibt es für jede Aufgabe eine Person, die sich dazu verpflichtet hat, die geforderte Arbeit zu erbringen. Auch wenn diese Verpflichtung rein freiwillig ist, so wird sie doch von den Citizen Scientists als offiziell und bindend angesehen. Der Druck, die Aufgabe auch tatsächlich zu Ende zu führen, ist daher hoch. Dieser Druck kommt wiederum im Wesentlichen aus der sozialen Einbindung der Citizen Scientists innerhalb ihrer Gruppe bzw. gegenüber dem Projektbetreiber. Und drittens benötigen die Freiwilligen ganz besonders zu Beginn ihrer Arbeit eine rasche und unkomplizierte Unterstützung durch das Projektteam. Diese Faktoren vorausgesetzt, sind wir überzeugt, dass ein entsprechendes Citizen-Science-Tool in Transkribus in vielen Projekten eine hilfreiche Rolle spielen und die Verbindung zwischen Wissenschaft, Ehrenamt und Zivilgesellschaft stärken kann.

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Olaf Simons Keine Selbstverständlichkeit: Citizen Science auf der FactGrid Wikibase-Plattform

Das Fazit dieses Aufsatzes kann ich noch im ersten Satz vorwegnehmen: Das FactGrid, die Wikibase-Instanz, die wir im Januar 2018 am Forschungszentrum Gotha als »Datenbank für die Geschichtswissenschaften« ans Netz brachten, 1 eignet sich derzeit nur sehr bedingt für Citizen-Science-Projekte. Das ist ein halbwegs überraschender Befund, nutzen wir mit Wikibase, der Software des Wikidata-Projektes, 2 doch gerade das jüngste Kind des Wikimedia Angebots – eine Software, die im Internet seit 2012 ohne jede wissenschaftliche Betreuung von einer wachsenden Community global organisiert, und damit letztlich in einem zivilgesellschaftlichen Engagement, läuft – dort über alle Sprachgrenzen hinweg und mit enormem Momentum. Die Nutzung von Wikibase im wissenschaftlichen Raum ist, darauf wird einzugehen sein, nicht selbstverständlich, immerhin aber unkomplizierter möglich als die Nutzung regulärer MediaWikis. Wikimedia-Community-Software wirft intrinsische Probleme in der wissenschaftlichen Nutzung auf, und diese wachsen, sobald dabei hierarchische Organisationsgefüge durchgesetzt werden sollen. Citizen Science-Projekte wird das in breitem Umfang betreffen. Im Band zu Citizen Science mag das provokant formuliert sein. Das Wort baut eine Polarisierung – zivilgesellschaftliche Zuarbeit im Dienst der Wissenschaften – auf; aber muss Citizen Science sich unterordnen? Sind nicht gerade die Wikipedia1 Unter der Domain https://factgrid.de und der Subdomain https://blog.factgrid.de/ liegen ein Wordpress Projektblog und die Wkibase-Instanz unter https://database.factgrid.de/. Webhost ist das Rechenzentrum Erfurt. Die Instanz-Betreuung liegt bei Lucas Werkmeister, Wikimedia Deutschland. 2 Das Wikidata-Projekt https://www.wikidata.org begann 2012 mit dem Ziel, zwischen allen Wikipedia-Artikeln eine Datenbank für strukturierte Daten – für Daten, die sich sprachunabhängig behandeln ließen – zu installieren. Entwickelt wurde hierfür mit Wikibase eine Graph-Datenbanksoftware, die sich wie die bisherigen MediaWikis, auf denen die Wikipedia-Ausgaben laufen, interaktiv bedienen lässt. Wikidata umfasst derzeit (Stand Februar 2023) 110 Millionen Datenbankobjekte, die laufend gegenüber Datenbanken weltweit abgeglichen werden.

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Projekte Citizen Science par excellence? Warum sollte eine Community Software hier Probleme aufwerfen? Wikimedia-Projekte sind, dem werden die Wikimedia Communities zustimmen, weder Citizen Science noch – bei aller Wissenschaftlichkeit, die sie anstreben – selbst Teil des wissenschaftlichen Austauschs. Das wird in den Redaktionsrichtlinien klarer, in denen die Communities allen die Mitarbeit erlauben, nicht aber die eigene Sicht, eigene Autorschaft, die Verbreitung eigenen Wissens. »Original Research«, »Theoriefindung«, 3 darf in Wikipedia-Artikeln referiert aber nicht betrieben werden. Alle Information muss aus externen wissenschaftlichen Publikationen stammen und wird sachgerecht mit deren wiederum externen Diskussion im Artikel abgebildet. Nicht erlaubt ist es im selben Moment, in Wikipedia beliebige Seiten zu eröffnen – die Themen müssen ihre »Relevanz« 4 extern bewiesen haben, so die Regeln, mit denen »Selbstdarstellern« und »Pseudowissenschaftlern« der Boden ganz genauso wie Wissenschaftlern entzogen wird, die hier beginnen könnten, neue Befunde vorzulegen. Für die Wissenschaften, für die Theoriefindung und originäre Forschung auf der Agenda obenan stehen, und die gesellschaftsweite Relevanzwahrnehmungen von Information provokant verschieben wollen, sind dies nicht tragbare Richtlinien. Nicht tragbar ist im selben Moment die in Wikipedia als Internum behandelte Autorschaft. 5 Wissenschaft ist kontroverse und transparente Teilnahme am Austausch über das Wissen. Es sind dies die drei Punkte, ob derer wissenschaftlichen Projekten dringend angeraten ist, eigene Plattformen unter eigenen Regeln zu betreiben, auch und gerade, wenn sie dabei Citizen ScienceKomponenten einplanen. Wikimedia-Projekte sind Engagement für die freie Zugänglichkeit von Wissen – ein Fehdehandschuh, den die Communities noch in der Frühphase der Bewegung den Wissenschaften, Fachverlagen und Fachbibliotheken zuwarfen, die im Internet erst einmal auf eine Kartellbildung, auf Wissensverknappung und auf Exklusivität ihrer Angebote drangen und Zugriff auf »ihr« Wissen nur unter komplizierten kommerziellen Lizenzmodellen erlaubten.

3 Siehe die Wikipedia-Leitlinien zum Thema original Research: https://en.wikipedia. org/wiki/Wikipedia:No_original_research. Mit ihnen korrespondieren auf deutscher Seite die Richtlinien zum Ausschluss jeder Theoriefindung https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Keine_Theoriefindung. 4 In den Wikipedien regeln die extrem hart umkämpften Redaktionsrichtlinien zu den Relevanzkriterien, welche Themen eröffnet werden können und welche nicht: https://de.wikipedia. org/wiki/Wikipedia:Relevanzkriterien. 5 Siehe hierzu in den Wikipedia-Projekten die »Neutral point of view« / »Neutraler Standpunkt« Richtlinien, im Englischen unter https://en.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Neutral_point_of_view im Deutschen unter https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Neutraler_Standpunkt.

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Citizen Science ist am ehesten auf breiter Fläche symbiotisch, doch damit eben asymmetrisch und tendenziell hierarchisch organisiert. Bürger und Bürgerinnen arbeiten hier mit Akteuren des wissenschaftlichen Feldes zusammen. Dagegen spricht nichts – Wissenschaft sollte, wo sie in der Breite gesellschaftlich finanziert ist, sich im gesellschaftlichen Engagement bewegen können. Inszeniert werden dabei dessen ungeachtet Positionsunterschiede, die sich allein schon im Zustandekommen der Projekte stabilisieren: Hier rekrutieren nicht Bürger-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler – hier appellieren Wissenschaftler an ein bürgerschaftliches Engagement, von dem sie (und die Bürger) einen gemeinschaftlichen Nutzen haben sollen. Dieser Nutzen sieht dabei in der Regel für beide Parteien sehr unterschiedlich aus, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit der ihnen gebotenen Leistung beruflich arbeiten und Bürger eher Anteil nehmen an dieser Arbeit, vielleicht von ihr profitieren, da die Endergebnisse politische oder ökologische Konsequenzen haben, oder etwa eine kollektive Erinnerungskultur bereichern. Das Zusammenspiel von Gruppen ist auf Software-Plattformen, die Nutzer individualisieren und radikal gleichstellen, zumindest verwirrend. Es wird interessant sein, diese Problemlage im Blick auf die Wikibase-Software eingehender anzusprechen, da sich Wikibase-Instanzen derzeit ausbreiten. Die großen globalen Normdatenkonsortien experimentieren mit der Software, um auf ihrer Grundlage Sprachgrenzen zu überwinden. Dieselbe Entwicklung zeichnet sich in Deutschland im aktuellen Aufbau eines nationalen Forschungsdatenmanagements ab, das von den NFDI-Konsortien, den Konsortien der kommenden »Nationalen Forschungsdaten-Infrastruktur«, vorangetrieben wird. 6 Das FactGrid spielte in diesem Prozess in den letzten fünf Jahren eine überraschende Rolle: Wir betreiben mit der Datenbank eine der ersten Instanzen, denen der Schritt aus dem Wikimedia-Feld in das der Wissenschaften hinein gelang. Dem Pilotprojekt öffneten sich in der Folge Türen: Wir gingen Kooperationen mit Wikimedia, der deutschen Nationalbibliothek und dem NFDI4Memory-Konsortium der deutschsprachigen Geschichtswissenschaften ein. Die gesamte Plattform wächst seit Ende 2018 in einer jährlichen Datenverdoppelung. Das schlichte Wachstum legt es nahe, das FactGrid in Zukunft gezielt für Citizen-Science-Projekte zu nutzen, für große Projekte, die umfangreichere Datenvolumina allein mit breiterer gesellschaftlicher Unterstützung erheben können.

6 Siehe zum NFDI Prozess die https://www.nfdi.de Gemeinschaftsseite der Konsortien und zum 4MemoryKonsortium der Geschichtswissenschaften die Seite https://4memory.de/. Die Bewilligung des 4Memory-Bereichs erfolgte im November 2022, erste Projekte sollen ab dem März 2023 anlaufen.

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Das zentrale Fazit dieses Aufsatzes ist, dass bei solchen Projekten Communities nicht einfach mit Konten auf der allgemeinen Plattform ausgestattet werden sollten. Stattdessen ist es besser, technisch Räume zu gestalten, die den Gruppen, die sich hier bilden, ein eigenes Selbstverständnis geben. Diese Räume sollten eine interne Kommunikation ermöglichen und eine Bindung an die jeweiligen Initiatorinnen und Initiatoren im Hinblick auf ganz gezielte Arbeiten ermöglichen. Auf diese Weise können die Konturen der Initiativen auf der flächig vernetzenden Plattform sofort erkannt werden. Im Citizen-Science-Projekt, auf das wir uns 2018 im vorsichtigen Experiment einließen, kalkulierten wir das Verstörungspotential der gänzlich offenen Plattform ein. Wir suchten erst einmal primär Mitspieler aus der Bürgerschaft am Ort, in diesem Fall Gothas, denen wir das Angebot machten, auf unserer Datenbank eigene Projekte mit unserer Hilfe zu realisieren, und wir visierten dabei eine möglichst schnelle Selbstorganisation dieser Projekte an. Für das wissenschaftliche Projekt, von dem aus wir dabei tätig wurden, das vom Land Thüringen geförderte Gotha3 Projekt, sollte hier eine Win-win-Situation liegen: Wir würden, wenn das Experiment klappte, eine lokale Interaktion anregen, integrativ tätig werden und nebenbei Daten produzieren, die im Verlauf von Gothas Forschungsinstitutionen genutzt würden. Zwei Einzelprojekte konsolidierten sich in dieser Initiative und spielten sich im Verlauf eher zufällig in die Hände. Sie blieben für sich verwirrend isoliert. Als gescheiterte Projekte wird man sie dabei nicht ansehen – sie erfüllten Ziele, die sich die Beteiligten setzten, unerwartet befriedigend und gewannen Strahlkraft auf der Plattform und über sie hinaus. Wir mussten jedoch gleichzeitig anerkennen, dass diese Projekte nicht skalierbar sind – mehr Projekte dieser Art ließen sich nicht stemmen. Auch hier werden technische Entwicklungen weiterhelfen: Module, die Dateneingaben nicht nur organisatorisch abkoppeln, sondern auch sehr viel klarer vorstrukturieren.

Eine Software, die erst einmal ratlos macht Wikibase ist eine Software, die bei der Erstinstallation bedrohlich ratlos macht. Mit den Versprechungen, mit denen sie entwickelt wurde, löste sie 2010 und 2011 erhebliche Diskussionen in der Wikimedia Community aus: Man plante hier eine Datenbank, die alle Sprachen sprechen sollte, mit der Macht, Information global in Wikipedia-Artikel einzuspeisen. Das ließ befürchten, dass hier die Communities entmachtet würden, die die Wikipedia-Ausgaben in ihrer ganzen Sprachenvielfalt betrieben.

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2012 begann die Entwicklung; 2015 wurde klarer, was Wikidata warum tatsächlich leistete, und dass dabei am wenigsten ein Informationsmonopol entstand, sondern sehr viel mehr eine neue Plattform globaler Interaktion. 2017 begann das Projekt im Bibliotheks- und Datenbankbereich Wellen zu schlagen. Seit dem Frühjahr 2018 diskutieren die großen Konsortien von der Europeana bis zu den Nationalbibliotheken über eine kommende Landschaft von Wikibase-Instanzen, die miteinander Daten austauschen werden. 7 Wir bewegten uns mit dem FactGrid ab dem April 2018 in diesem sehr viel größeren Fahrwasser, seit 2020 schließlich als gesetzte Wikibase-Instanz der Geschichtswissenschaften im anvisierten NFDI-Prozess. Der Leistungskatalog von Wikibase frappiert: − −







Wikibase-Instanzen können beliebige Datenbankinformation mehrsprachig handhaben, ohne dabei Normierungsprozesse einzufordern. Wikibase-Softwarekerne erweisen sich als extrem robust. Wikidata hält mit 110 Millionen Objekten einem Dauerbeschuss von mehreren Edits pro Sekunde stand, und versioniert dabei jeden einzelnen Editiervorgang reversibel. Es gibt auf Wikibase-Plattformen keine Vorgabe dazu, was ein Datenbankobjekt werden, und was an Aussagen zu ihm festgehalten werden kann. Die Komplexität des dabei entstehenden Datengefüges wird auf die Seite des Query Service gelegt, der mit einer offenen Suchsprache (SPARQL) das Informationsgewirr durchdringt. Wikibase-Information kann extern und selektiv, etwa auf Seiten universitärer Forschungsprojekte, sichtbar gemacht werden, ohne dass die Nutzerinnen und Nutzer dort erfahren müssen, von wo die Informationen bezogen werden. Das erlaubt bei Bereitschaft, solche Instanzen unter freier Lizenz laufen zu lassen, hochgradig komplexe Anwendungen. Wikibase-Plattformen sind offen für Masseneingaben und Datenexporte in beliebiger Konfiguration – die Daten sind dabei als vernetzte Daten in der Regel unmittelbar anschlussfähig.

Wie Wikibase-Instanzen das alles leisten, ist bei Inbetriebnahme einer solchen Instanz nicht sofort klar. Es gibt keine Eingabeschablonen und keine Suchmasken. Man begibt sich hier in einen mysteriösen Zirkel von Problemen, die sich erst bei wachsender Informationslage der Plattform aufzulösen beginnen. Reich vorbefüllte Instanzen sind hier von Vorteil. Wikidata genoß diesen Vorteil als 7 Sie hierzu auch meinen Beitrag Olaf Simons: 2018-04-23/25 Antwerp. The first Federated-Wikibase-Workshop, in: Projektblog FactGrid, 03.05.2018, https://blog.factgrid.de/archives/835.

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Repositorium aller in den 300 Wikipedien gehandhabten Wissensgegenstände und Wissensfelder. Das FactGrid begann leer. Objekte verknüpfen und die Sprachen der Nutzer lernen

Der Verständnisschritt, den die Software ihren Nutzerinnen und Nutzern abverlangt, ist sehr schnell banal: Wikibase-Instanzen verbinden vor allem beliebige Wissensgegenstände – die »Datenbankobjekte« oder »Items« – miteinander. Die Verbindungen zwischen ihnen sind die »Eigenschaften« – »Properties« – dieser Objekte. Nutzer haben zwar im direkten Umgang mit der Instanz das Gefühl, dass sich beim Anklicken einer Eingabeaufforderung Eingabefelder auftun, in denen Text abzuspeichern ist. Tatsächlich sucht die Datenbank jedoch jedes Mal nach einem Datenbankobjekt mit dem passenden »Label«, und auf dieses Objekt wird dann verlinkt. Die Datenbankobjekte, wie die Verbindungen zwischen ihnen, tragen mehrsprachige Etiketten, sobald Nutzer und Nutzerinnen hier in verschiedenen Sprachen tätig werden. Johann Sebastian Bach ist im FactGrid das Item Q147798, seine zweite Frau Anna Magdalena, das Item Q377596; mit jemandem verheiratet zu sein ist die Eigenschaft P84. Das damit möglich werdende »Datentripel« lässt sich im selben Moment (das erübrigt Normierungsprozesse – sie sind schon bei der Einigung auf die P- und Q-Nummern absolviert) in jeder Sprache ganz unterschiedlich lesbar machen, etwa als: Q147798 – P84 – Q377596 Johann Sebastian Bach – war verheiratet mit – Anna Magdalena Bach Иоганн Себастьян Бах – был женат на – Анне Магдалене Бах Johann Sebastian Bach – was married to – Anna Magdalena Bach Johann Sebastian Bach – était marié à – Anna Magdalena Bach »Datentripel« können qualifiziert werden: sie werden dabei selbst Gegenstände von Aussagen: Bach heiratete zweimal. Die Daten zu den Eheschlüssen lassen sich damit den einzelnen Aussagen präzise zuordnen. Beginnt man in ein Eingabefeld des Aussagengefüges Text zu schreiben, tun sich im Autocomplete die Optionen auf, unter denen man im Moment wählt. Findet sich das gesuchte Objekt – etwa die Stadt Köthen – nicht im Angebot, muss sie erst angelegt werden. Es ist dies der Grund, weshalb die vorbespielte Installation sich wesentlich besser als jede leere bedienen lässt; in ihr müssen nicht laufend neue Objekte angelegt werden, man wird sofort im PulldownMenü fündig (siehe Abb. 1).

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Ein Kapitel für sich sind Masseneingaben. Hier muss man vorher die Q- und P-Nummern kennen und, wenn sie nicht bestehen, erst einmal erzeugen. Danach kann man die Aussagen von einem beliebigen Datenblatt durchführen. Die Arbeit mit OpenRefine kann hier die Prozeduren des »Matchings« und des Anlegens neuer Objekte vereinfachen, erfordert aber eine eigene Software-Installation und will erst einmal für sich gelernt sein.

Abb. 1: Screenshot der Item-Seite zu Johann Sebastian Bach mit Kontextmenü der Angabe zum Ort der Heirat. https://database.factgrid.de/wiki/Item:Q147798.

Die in die Tiefe auslotbare Graph-Datenbank

Während »relationale« Datenbanken aus miteinander verschränkten Tabellenblättern bestehen, sind Graph-Datenbanken, wie sie Wikibase erzeugt, vollkommen offen vernetzte Gefüge, die sich nun in der Vernetzung ausloten lassen. Es gibt dazu keine Frageschablonen. Um eine Liste aller in Eisenach geborenen Menschen aus der Datenbank zu ziehen, muss man nach allen Objekten fragen, die die Eigenschaft P82 »geboren in« mit dem Wert »Eisenach«, Q10341, haben. Das Skript dazu kann kein Nutzer ohne Vorwissen auf die leere Eingabeseite schreiben; es lautet:

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SELECT ?Eisenach ?EisenachLabel WHERE { SERVICE wikibase:label { bd:serviceParam "[AUTO_LANGUAGE],de". } ?Eisenach wdt:P82 wd:Q10341. }

wikibase:language

Allerdings kommt hier in der Standard-Konfiguration des Query Service ein Eingabehelfer (versteckt unter dem i–Icon) zu Hilfe. Mit ihm tun sich zwei Eingabefelder auf, mit denen man Items und Aussagen zu ihnen aus der gesamten Datenlage der Plattform »herausfiltern« kann. Im folgenden Screenshot sind alle Eisenacher »herausgefiltert« und zu ihnen die Ehepartner »angezeigt«. Ich klappte hier zudem das Pulldown-Menü zum Daten-Download auf – WikibaseInstanzen erlauben die unmittelbare Weiternutzung von Datensätzen, die man sich nach Belieben zusammenstellt (siehe Abb. 2).

Abb. 2: Screenshot Factgrid Query mit exemplarischer Suche und Anzeige Eisenacher Einwohner mit Ehepartnerinnen (im Pulldown-Menü: Dowload-Optionen), Quelle: Factgrid.

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In der Praxis behelfen sich die Nutzerinnen und Nutzer einer solchen Instanz mit Musterabfragen der gewünschten Komplexität, bei denen sie nur noch Pund Q-Nummern austauschen müssen, um die jeweilige Frage adäquat zu bewältigen. Federated Queries

Der Query Service erlaubt es, beliebige Fragen an die Datenbank zu richten. Man kann jedoch auch Fragen quer durch verschiedene Wikibase-Instanzen senden – sogenannte »Federated Queries« – und hier liegt die Zukunft der Software. Sie wird Wissensbestände über Sprachgrenzen hinweg vernetzen. Nötig ist dabei, dass wenigstens eine Datenbank weiß, welche Q- und P-Nummern einander in den verschiedenen Datenbanken entsprechen. Wikidata ist hier längst weltweit informiert und auf dem Weg zum Brückenkopf universeller Wissensanfragen zu werden. Katharina Brunner demonstrierte mit einem ersten Tool, 8 wie sich Informationen aus dem FactGrid und aus Wikidata Aussage für Aussage miteinander abgleichen lassen. Wir werden im Verlauf Tools wie Michael Ringgaards KnolBase 9 erhalten, die Wissen aus Ressourcen aggregieren. Hier stehen wir im Moment ganz am Anfang der Entwicklung.

Eine für Communities geschaffene Software, die breite Bereiche des wissenschaftlichen Datenmanagements erobern wird Die Sorgen, die im »Wikiversum« vor Wikidata grassierten, zerstreuten sich rasch. Das Projekt schuf eine neue globale Community mit Vernetzungen in alle Wikipedia-Communities hinein und mit ganz anderen Ausläufern in die Bereiche der Bibliotheken, Wissenschaften und Informatik. Für die Nutzerinnen und Nutzer aus dem Wikimedia-Umfeld war unmittelbar attraktiv, dass die Software exakt so transparent war, wie die Media-Wikis, mit denen sie in den Wikipedien bereits umgingen. Zur Möglichkeit, Seiten anzulegen und vernetzen zu können, kam jetzt einfach die Zusatzmöglichkeit, obendrein Properties und Items anlegen zu können. Man geht hier mit einem MediaWiki um, das eine Wikibase Datenbank-»Extension« aufweist: Wieder gibt es den Punkt »Recent Changes« / »Letzte Änderungen« im Menü, mit dem 8 Siehe Katharina Brunners Seite: »Compare FactGrid and Wikidata« unter https://apps.katharinabrunner.de/compare-factgrid-wikidata/. 9 Siehe Michael Ringgaards größeres Projektarrangement auf https://ringgaard.com/ und den Prototypen eines Wikidata und das FactGrid zusammenbringenden Browsers unter der Subdomain https://factgrid.ringgaard.com/.

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man auf einen Schlag erfassen kann, was sich soeben auf der Plattform tut. Wieder können Nutzerinnen und Nutzer Konten eröffnen, an die sich ihre »Edits«, ihre Editiervorgänge, binden. Wieder kann man mit allen auf der Plattform Aktiven Kontakt aufnehmen; und auch hier gibt es die bekannten »Namensräume« für unterschiedliche Projektbereiche. Gleich geblieben ist auch die Semi-Transparenz der Software. Theoretisch ist jeder Vorgang sichtbar, jede Seite einsehbar. Das Standard-Suchfeld oben rechts blendet jedoch Nutzerseiten, Diskussionsseiten, Hilfsseiten etc. aus. Die Kontoinhaber agieren damit nicht geheim, aber reguläre Besucher finden sie erst, wenn sie Versionsgeschichten durchsuchen oder den Recent Changes-Feed observieren. Es ist dies der Grund, warum Wikis anders als Facebook oder Twitter interne Communities inmitten der Öffentlichkeit herausbilden. Keine Software, die für Bibliotheken, Archive und Wissenschaften unmittelbar attraktiv ist

Dem klassischen MediaWiki, das 2002 letztlich das gesamte Web 2.0 in Gang brachte – das Internet, das Nutzer und Nutzerinnen vor den eigenen Augen umgestalten können – begegneten Wissenschaften und Bibliotheken mit Reserviertheit. Einen wissenschaftlichen Artikel publiziert man mit jeder Wordpress-Installation besser als mit einem Wiki. Einen Bibliothekskatalog wird niemand als Wiki aufsetzen. Das Problem der Wikimedia-Software ist in beiden Bereichen die am vollkommen falschen Ort und vollkommen verquer erzeugte Transparenz. Wikiseiten verfügen über einen Titel, das Lemma und sie haben keinen Platz für Autornennungen. Die Autoren und Autorinnen werden erst in der Versionsgeschichte sichtbar, doch ist dies bereits eine eher interne Listung, auch keine sonderlich aussagekräftige (in Wikipedia findet man hier Listen von Pseudonymen; die Verfasser eines Artikels können Hunderte von Einträgen tiefer liegen; die aktuellen Edits sind oft nur mehr Vandalismusbekämpfung und Ergänzungen von Literaturangaben). Für Bibliotheken und Archive tun sich bei diesem Angebot andere Probleme als für die Wissenschaften auf. Erstere wollen ungern nach außen sichtbar machen, wer einen Katalogeintrag vornahm. In den Wissenschaften geht es dagegen gerade darum, Diskussionsbeiträge stabilisiert an Autorinnen und Autoren zu koppeln, die ihre Thesen offen in der Fachdebatte vertreten. Hier sind MediaWikis gar nicht transparent genug und zudem viel zu fluide, viel zu sehr auf die fortwährende Bearbeitung von Information ausgerichtet.

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In Wikibase-Instanzen können Bibliothekare, Archivare und Wissenschaftler die Regeln neu schreiben

Anders als im Fall der MediaWikis, die primär Text ins Angebot bringen, lassen sich mit Wikibase-Instanzen die Probleme der ungewollten wie der mangelhaften Transparenz aushebeln. Das liegt daran, dass man diese Instanzen beliebig im Hintergrund laufen lassen kann. Man schaltet ihnen Frontends vor, Browser, Seiten, auf denen die Nutzerinnen und Nutzer selektiv Information vorfinden; und man nutzt die Datenbank im selben Moment, um Aussagen der Forschungsverantwortung aus den Versionsgeschichten auf die Item-Seiten und von dort in die Frontends zu bringen. Magnus Manskes Reasonator 10 und Markus Krötzsch SQID Browser 11 demonstrierten, wie man Wikidata-Information präsentabel machen kann. Bruno Belhoste zeigte mit dem FactGrid Viewer, 12 dass dies auch ohne den Umweg über den täglichen Datendump geht – direkt via Java Script in einer Abnahme von Item-Information. Michael Ringgaards KnolBrowser tat soeben, auf Datendumps aufbauend, den Schritt hin zu einem ersten Präsentationstool, das Wikibase-Informationen verschiedener Instanzen amalgamiert und dazu im Experiment FactGrid und Wikidata-Informationen zusammenfügt. Die Trennung der Datenbank von den Präsentationstools macht es Bibliotheken und Archiven möglich, Publikumsseitig ganz konventionelle Suchschablonen laufen zu lassen. Wissenschaftliche Projekte können im FactGrid andererseits gezielt auf Seiten der Items Aussagen zu ihrer Arbeit machen. Drei Properties wurden dabei im FactGrid populärer: 

Property:P131: »Forschungsprojekte, die zu diesem Datensatz beitrugen« – die Property, mit der Forschungsprojekte Mitarbeitende, Geldgeber, Institutionen benennen können, denen sich der jeweilige Datensatz verdankt. Das Verfahren ist missbrauchssicher, da die Versions-

10 Siehe Magnus Manskes Reasonator, hier mit der aus Wikidata-Information generierten Seite zu Johann Sebastian Bach: https://reasonator.toolforge.org/?&q=1339. 11 Markus Markus Krötzschs SQID Browser läuft unter https://sqid.toolforge.org/#/. Die Vergleichsseite zu Johann Sebastian Bach ist hier https://sqid.toolforge.org/#/view?id=Q1339. Das Tool wurde in seiner Funktionsweise auf der Wikimania 2019 von Maximilian Marx eingehender vorgestellt; siehe seine Präsentationsfolien zu »SQID 2.0. A Data Browser for Wikidata«, https://iccl.inf.tu-dresden.de/w/images/e/ee/2019-wikimania-sqid.pdf. 12 Bruno Belhostes FactGrid Viewer läuft unter der Adresse https://database.factgrid.de/viewer/ – die Informationen stammen aus dem FactGrid. Dies ist die Komplementärseite zu Johann Sebastian Bach: https://database.factgrid.de/viewer/item/Q147798. Zur technischen Seite des Projektes ausführlicher: Bruno Belhoste: Browsing FactGrid with the FactGrid Viewer, in: Projektblog FactGrid, 06.04.2022, https://blog.factgrid.de/archives/2684.

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geschichten im selben Moment im Detail nachvollziehbar machen, wer wann was an der Datenlage tat. Property:P344: »Originäre Forschung« – eine in Quellenangaben zum Einsatz kommende Property, mit der Forschende sich selbst als Urheber einer hier erstmals veröffentlichten Information positionieren können. Property:P411: »Autopsie durch« – die Property, mit der Forschende erklären, persönlich ein (nicht weiter durch Publikationen bekanntes) Objekt untersucht zu haben.

Es geht mit Properties wie diesen nicht darum, Items der weiteren Bearbeitung zu entziehen – kollaboratives Arbeiten an denselben Objekten wollen wir gerade ermöglichen –, mit ihnen stellt sich jedoch eine neue Transparenz her. Man kann beim Herunterladen Metadaten mit der ausgewählten Information beziehen. Weichenstellungen, vor denen Citizen-Science-Projekte an dieser Stelle stehen

Projekte, die Citizen Science Komponenten einplanen und sich dabei einer Wikibase-Instanz bedienen wollen, stellen sich damit komplexe Fragen: Sollen sie eine eigene Wikibase-Instanz aufbauen? Das hat den Vorteil, dass die angeworbenen Bürgerwissenschaftler und Bürgerwissenschaftlerinnen hier im Projekt unter sich bleiben, doch ist die Nutzung einer unbespielten Instanz im Moment des offenen Wachstums nicht ohne Komplexitäten. Sollen sie eine öffentliche Wikibase-Instanz wie das FactGrid oder Wikidata nutzen? In diesem Falle müssen sie unterschiedliche Spielregeln bedenken: Wikidata kann mit beliebigen Accounts bedient werden, anonym wie pseudonym. Die adressierten Bürgerwissenschaftlerinnen und Bürgerwissenschaftler werden sich hier verlieren und einer Community begegnen, die sich nicht als Kollektiv ansprechen lässt. Hier ist das FactGrid mit seinen durchweg mit Klarnamen agierenden Nutzerinnen und Nutzer transparenter – doch will man Hunderte Bürgerwissenschaftler unter die hier agierenden Wissenschaftler schicken? Wie bereitet man sie auf Interaktionen vor, zu denen es zwischen Ihnen den ganz fremden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern kommen wird? Will man, dass die Nutzerinnen und Nutzer frei editieren? Das Ergebnis werden inkonsistente Datensätze sein. Eingabeschablonen schaffen Konsistenz, doch gehören sie nicht zum Standard der Software. Hier müsste man erst einmal Eingabe-Module programmieren.

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Technische Fragen wie diese sind immer zugleich organisatorische: Für das FactGrid als größere Plattform liegt hier die heikle Frage, mit welchem Selbstverständnis die angeworbenen Bürgerwissenschaftlerinnen und Bürgerwissenschaftler aktiv werden. Wenn sie ihre Arbeit als ihr persönliches Projekt sehen, werden sie mit allen Akteuren auf der Plattform auf Augenhöhe interagieren können. Wenn sie dagegen allein einem bestimmten Projekt und dessen Koordinatoren und Koordinatorinnen zuarbeiten sollen, dann werden sie sich auf der interaktiven Plattform sehr schnell als fehl am Platz wahrnehmen.

Der »Gotha Zettelkasten« – Citizen Science betritt eine Forschungsplattform Initialisiert wurde das FactGrid 2018 mit Daten der Gothaer und Hallenser Illuminatenforschung der vorangegangenen 20 Jahre. Hermann Schütter gab in einem ersten Schritt 1.300 Personendatensätze zu den Mitgliedern des Ordens ins Spiel. Aus seiner und Reinhard Markners Arbeit kamen weitere 1.800 Datensätze zu Dokumenten der Illuminatenkorrespondenz hinzu. Aus der Arbeit des Gothaer Forschungsprojektes zu Illuminatenaufsätzen waren es grob 6.000 Datensätze zu Dokumenten der »Schwedenkiste«, dem Aktenbestand der Thüringer Provinz des Illuminatenordens. All dies schuf einen spektakulär werbewirksamen Datenschatz, der ab dem Herbst 2018 Projekte weltweit ansprach, hier eigene Forschung etwa zu Freimaurerlogen, Studentenverbindungen oder Mesmeristischen Zirkeln Frankreichs anzuklinken. Mit der ersten Instanz, die Wikibase in die Geisteswissenschaften brachte, generierten wir sehr schnell globales Wachstum. Finanziert wurde die Plattform zwischen 2017 und 2022 aus Landesmitteln des Freistaats Thüringen im Rahmen des Gotha3 Projektes mit dem Ziel, Gothas drei Forschungsinstitutionen der Stiftung Schloss Friedenstein, der Forschungsbibliothek und des Forschungszentrums Gotha eine gemeinsame Datenbank zur Verfügung zu stellen. Ein Projekt zu Gotha als Wissenschaftsstandort um 1800 13 getragen von Mitarbeitern aller drei Institutionen – es waren dies Carsten Eckert für die Stiftung, Matthias Rekow für die Forschungsbibliothek und Olaf Simons für das Forschungszentrum, sowie Julia Schmidt-Funke als Koordinatorin – sollte zum Kristallisationspunkt weiterer Kooperationen werden. Es lag bei 13 Dem Projekt »Gotha um 1800: Natur – Wissenschaft – Geschichte« ging eine Empfehlung des deutschen Wissenschaftsrates voraus, siehe hierzu: »Umsetzung der Empfehlungen aus der zurückliegenden Evaluation der Forschungsbibliothek (FB Gotha) und des Forschungszentrums Gotha (FZG)« vom 19. 10. 2018 https://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/7253-18 .pdf?__blob=publicationFile&v=1 und den Projektblog https://www.gotha3.de/.

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dieser Ausgangslage nahe, in einer Citizen Science-Komponente gezielt Daten zu Gotha und wenn möglich zum Zeitraum um 1800 zu generieren. Die Erstbespielung der Ressource mit Illuminatendaten machte klar, dass eine Wikibase-Instanz als weitgehend leere Ressource im laufenden Arbeitsbetrieb praktisch unbedienbar war. Das banalste Problem sind an dieser Stelle Orte, wie sie in Biographien etwa vorkommen. Sie sollten mit Geokoordinaten, GND-Kennungen und Wikidata-Links ausgestattet sein, um ohne komplizierte Zwischenschritte in Visualisierungen auf Landkarten aufzutauchen und um die Datensätze problemlos nachnutzbar zu machen. Wir setzten Hilfskräfte daran, eine Grundlage aller deutschen Orte in die Datenbank einzuspielen, und wir benötigten für das Gotha3 Projekt eine lokale topographische und biographische Datengrundlage. Im größeren Rahmen verhandelten wir mit der Deutschen Nationalbibliothek über eine Integration der gesamten GND. In Gotha sprachen wir mit allen Institutionen, die Daten bevorrateten, um eine Zusammenfügung von vorhandenen Daten anzuregen. Während die Deutsche Nationalbibliothek uns mit einem weitreichenden Kooperationsangebot begegnete, 14 das wir personell und technisch so einfach gar nicht umsetzen konnten, erwiesen sich die lokalen Institutionen in einer weit kritischeren Situation: Für sie war weder klar, wie sie Daten technisch selektiv oder komplett uns zur Einspielung anbieten sollten, noch konnten sie sich organisatorisch darauf einlassen, in Zukunft eine kollektive Instanz neben den bestehenden mit Daten zu beschicken. Das sprach umso klarer für ein Citizen-Science-Projekt, das Ausgangsdaten zum Ort und seiner historischen Bevölkerung in einem breiteren Interesse generieren sollte. Eine Datengrundlage für lokalhistorische Projekte zu Gotha

Es war unmittelbar klar, dass sich unsere Problemlage mit dem Citizen-ScienceProjekt erst einmal nur verschob. Auch die Bürgerinnen und Bürger, die wir ansprechen wollten, mussten bei uns auf eine Ausgangslage stoßen, die ihnen Orientierung geben würde. Das Stadtarchiv Gotha bot uns dazu eine erste Datenbasis an: Man hatte aus einem früheren Projekt drei Adressbücher des 19. Jahrhunderts in Excel-Listen vorliegen. Diese ließen sich in die Datenbank überführen. Ein Schönheitsfehler blieb, dass die ausgewerteten Jahrgänge die Hausadressen unter der seinerzeit 14 Siehe hierzu Olaf Simons: Memorandum of Understanding zwischen der Universität Erfurt und der Deutschen Nationalbibliothek. Das FactGrid wird in einem Gemeinschaftsprojekt auf GNDDaten aufgesetzt, in: Projektblog FactGrid, 09.04.2019, https://blog.factgrid.de/archives/1475.

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noch fortlaufenden Gesamtnummerierung boten. Das Adressbuch von 1859 bot die Konkordanz zur heutigen straßenweisen Nummerierung. Ein weiterer Schönheitsfehler war, dass die Angaben zu den Hausbewohnerinnen und Hausbewohnern nicht konzise waren – hier gab es zahlreiche Namensdubletten. Die Wahlmännerliste des Jahres 1848 15 bot eine konsistentere Informationslage an. In ihr waren die wählbaren Männer der Stadt ohne Dubletten gelistet und an Adressen gebunden. Wir versuchten in einem eigenen Arbeitsschritt diese Ausgangslage zu georeferenzieren. Das Thüringer Landesamt für Vermessung und Geoinformation stellte uns dazu die Daten der aktuellen Adressen zur Verfügung. Das Problem war hier, dass große Teile des historischen Gotha noch in der Spätphase der DDR abgerissen und durch Plattenbauten ersetzt worden waren. Diese übernahmen Hausnummern und Straßennamen, ohne dass ihre Koordinaten noch weiter mit denen des 18. und 19. Jahrhunderts übereinkamen. Das Ergebnis dieser Vorarbeit war im November 2018: 16   

eine Adress-Datenbank, die 1727 Häuser der Stadt bis 1850 unter der heutigen wie unter der zeitgenössischen Hausnummerierung greifbar macht, eine Einwohnerkartei, die laut den Adressbüchern von 1828, 1841, 1846 und der Wahlmännerliste von 1848 mehrere Tausend Bewohner auf die Adressen projiziert, eine ansatzweise Georeferenzierung der 512 Adressen, deren Straßenzüge auf den ersten Blick unverändert blieben.

Die Datengrundlage, die wir Projekten damit zur Verfügung stellen konnten, erlaubte erste attraktive Recherchen:   

Wir hatten Datenbankeinträge zu weitgehend allen Familiennamen Gothas vor 1860. Wir konnten beliebige Treffer von Namen auf die Landkarte bringen – wobei sich Stadtviertel abzeichneten, zu denen wir zwar Treffer jedoch keine Koordinaten hatten. Wir konnten spezielle Suchen zu Berufsgruppen durchführen, bei denen sich insbesondere das Fehlen der Stadtviertel mit traditionell

15 Alphabetisches Verzeichniß derjenigen Einwohner aus der Herz. Residenzstadt Gotha, welche, nach Maßgabe der neuen Wahlordnung vom 28. Jun. 1848, (Gesetzsammlung No. CCCXIX) hinsichtlich ihres Alters und sonstigen Verhältnisse zu Wahlmännern werden können, Gotha 1848. 16 Ausführlicher dazu und mit ersten Suchen ausgestattet Olaf Simons: Der Gotha Zettelkasten. Wir vergeben Accounts, in: Projektblog FactGrid, 26. 11. 2018, https://blog.factgrid.de/archives/1179.

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hohem Handwerkeranteil und bereits im 19. Jahrhundert schlechter Bausubstanz misslich erwies. Die von uns bereitgestellte Datengrundlage gab Raum für Fragen und Projekte: Wie waren die Personen, die wir notierten, miteinander vernetzt? Wie weit ließ sich das Gotha des 19. Jahrhunderts heute noch auf die Landkarte bringen? Gab es historische Fotos und lokalhistorisches Wissen, mit dem sich die Datenbankobjekte verbinden ließen? Mitspieler gewinnen

Im Spätherbst 2018 traten wir an alle Personen und Gruppen heran, die sich in Gotha auf dem Feld der Stadtgeschichte engagierten: an die Archive des Landes, der Stadt und der Kirche, die Institutionen des Gotha3 Projekts, an die frisch eingerichtete Stelle für Stadtgeschichte des Rathauses und an die Bürgervereine. Hier waren der Verein für Stadtgeschichte Gotha und die lokale Sektion der Arbeitsgemeinschaft für Genealogie Thüringen erste Adressaten. Im Januar 2019 luden wir nach Resonanz aus dem Kirchenarchiv, dem genealogischen Verein und dem Geschichtsverein zu einem Projekttreffen ein. Zu ihm kam ein Dutzend Personen mit eigenen Projekten. Die technischen Demonstrationen verliefen spannend: Die Teilnehmer des Geschichtsvereins konnten uns Suchen diktieren. Gleichgültig, ob es um Gothas Nachtwächter, Waidfärber oder Mühlen ging (all dies damals laufende Projekte des Geschichtsvereins), die Datenbank listete Namen und brachte Adressen auf den Stadtplan. Wir verfügten über Treffer in beliebigen Familiengeflechten. Wie wir jedoch diese Suchen generierten, erschien nicht nachvollziehbar. Man würde hier – so der Eindruck, dem wir entgegenarbeiten mussten – mit einer Software arbeiten, die den eingeweihten Fachleuten nützte, nicht aber denen, die hier eingeladen waren. Unser Angebot blieb, so der positive Tenor, das eines kollektiven »Zettelkastens«; das war das Wort, das Anklang unter den prospektiven Mitspielern fand. Den Anwesenden schien es sofort attraktiver, diese Ressource aus Tabellen zu befüllen als in ihr eigenhändig Objekte anzulegen und zu verlinken. Die Verabredung war hier, mit Tabellen aus laufenden oder vergangenen Arbeiten den Schritt in die Datenbank zu wagen. Aus dem Verein für Stadtgeschichte erbat sich das jüngste Mitglied – das Gros unserer Mitspieler war im Rentenalter – einen administrativen Account, mit dem sich Mitspielerinnen und Mitspieler vereinsintern generieren ließen. Die Verhältnisse zwischen den Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern sowie den Forschenden waren an selber

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Stelle geklärt: Wir waren nicht als Wissenschaftler mit der Bitte um standardisierte Zuarbeiten an die Bürgerschaft herangetreten. Wir traten eher als Dienstleister auf, mit Bereitschaft, der Bürgerschaft eine Datenbank zur gemeinsamen Arbeit zur Verfügung zu stellen, und sie im Verlauf zum Umgang mit dieser Ressource zu befähigen. Noch in den Tagen nach dem ersten Treffen kamen zwei Rückmeldungen, die es erlaubten, allen anderen Zeit zu geben. Beide Projekte versprachen ineinanderzugreifen und damit den Nutzen der Kooperation deutlicher zu machen: Das Kirchenarchiv würde versuchen, mithilfe der Datenbank den eigenen Archivbestand greifbar zu machen – drei ehrenamtliche Mitspieler waren hier mit von der Partie. Aus dem genealogischen Verein bot Heino Richard an, die Familien-Verflechtungen der Pfarrer des alten Herzogtums von 1500 bis 1920 mit Hilfe des ersten Bands des Thüringer Pfarrerbuches 17 zu rekonstruieren. Das Projekt des Archivs der evangelischen Stadtkirchen Gothas

Wie sich herausstellte, boten wir dem Archiv der Stadtkirchen den Ausweg aus einer veritablen Sackgasse an: Vor Jahren hatten frühere Mitarbeiter eine Liste der Archivalien produziert, die mittlerweile nur noch in einem Ausdruck vorlag; dieser diente als internes Findbuch. Unser Angebot, den gesamten Bestand mit einer öffentlich zugänglichen Datenbank zu erfassen, bot die Chance, die eigenen Materialien im Internet recherchierbar zu machen – kurzfristig als durchsuchbare Liste, langfristig in einem Portal mit eigner Suchschablone. Die Projektvorbereitung gestaltete sich erst einmal mühselig: 70 Seiten Text mussten OCR-erkannt werden. Von ihnen aus ließ sich ein Google Spreadsheet anfertigen, das die gelisteten 877 Akten mit alten und neuen Signaturen versah und den aktuellen Archivboxen zuordnete. Mit dem fertig gestellten Spreadsheet ließen sich dann jedoch vollkommen mühelos Objekte für alle gelisteten Akten und Archivboxen generieren, betiteln und mit Alt- und Neusignaturen ausstatten. Das Ergebnis des Datenimports war im Frühsommer 2019 eine alternative durchsuchbare Akten-Liste, die unter einem einfachen SPARQL-Suchskript, das als tinyurl beliebig versendbar war, jederzeit frisch generiert würde. 18

17 Gesellschaft für Thüringische Kirchengeschichte (Hrsg.): Thüringer Pfarrerbuch, Bd. 1: Herzogtum Gotha, Neustadt an der Aisch 1995. 18 https://tinyurl.com/y62ylkby.

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Für das Archivteam war die dynamisch generierte Liste in mehrfacher Hinsicht ein Vorteil. Sie lässt sich auf einer Internetseite, die wir dazu aufbauten, 19 jederzeit aktuell einsehen, die Mitarbeiter können Fehler von überall aus korrigieren. Auf Anfragen kann das kurze Link zugeschickt werden. Es erwies sich dabei als einfacher, an dieser Liste als am bisherigen Papierausdruck zu arbeiten. Klickt man die Q-Nummer des jeweiligen Objektes an, befindet man sich im Datensatz, in dem das Feld der Aktenbeschreibung offen sichtbar zur Bearbeitung ausliegt. Als das Team Ende 2019 einen ersten Aktendurchgang hinter sich hatte, konnte es einen unvergleichlich komplexeren Schritt anvisieren: Dank der Arbeit Heino Richards gab es nun zu weitgehend allen in den Akten genannten Personen Datenbankobjekte mit biographischer Information. Diese waren bequem mit der Property »genannte Person« mit Aktenstücken zu verlinken. Gothas ehrenamtlich besorgtes Stadtkirchenarchiv hatte den Schritt in die eigene Handhabung der Daten hinter sich und arbeitet seit Jahren ohne weitere Betreuung mit unserer Ressource. Heino Richards Projekte einer genealogischen Durchdringung der Gothaer Bevölkerung, 1500 bis 1900

Die zweite Kontaktaufnahme aus dem Kreis der angesprochenen Bürgerinnen und Bürger nahm sich im ersten Moment gegenüber dem Archivprojekt vergleichsweise einfach und unverdächtig aus. Heino Richard, Mitglied des lokalen genealogischen Vereins, bot an, alle Personen des ersten Bands des Thüringer Pfarrerbuchs in ihren familiären Verbindungen zu erfassen. Eine Einführung in die Technik war nicht erforderlich. Sein Wunsch war es, Daten in Excel zu sammeln und uns die Datenbankfixierung zu überlassen. Der 1994 von Bernhard Möller bearbeitete Band birgt die Lebensläufe von 1.953 Pfarrern aus dem Zeitraum von der Reformation bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Gekoppelt sind die Notate zu den Amtsträgern an die 142 Pfarrstellen des Amtsraums. Zu den Personen werden jeweils Ausbildungsinformationen und Familienbeziehungen gelistet. Dabei sind zu den im Zentrum stehenden Amtsträgern jeweils drei Generationen notiert: die eigene (ihr gehören Ehefrauen und Schwiegereltern der Kinder an), die Generation der Eltern (der eigenen wie der der Frauen) und die Generation der Kinder mit wiederum deren Ehepartnern. 19 Archiv der evangelisch-lutherischen Stadtkirchengemeinde Gotha https://blog.factgrid.de/ archiv-der-evangelisch-lutherischen-stadtkirchengemeinde-gotha.

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Das von uns bei weitem unterschätzte Problem bestand in den laufend wechselnden Rollenverteilungen: Jede Frau kann im einen Lebenslauf Ehefrau, im anderen Mutter, im nächsten Tochter oder Schwiegertochter sein. Wir stiegen mit dieser Arbeit in ein vertikales Gefüge von Hunderten von Familien ein, das die Generationen von 1500 bis 1920 durchspannte, ohne dass die Fäden als solche klar zu erkennen waren, und wir nutzten, da wir im Google Spreadsheet vorarbeiteten, erst einmal nicht die Chance, von der Datenbank Hinweise auf möglicherweise bereits bestehende Personen zu erhalten. In der Folge legten wir Hunderte von Dubletten an, die zusammengeführt werden mussten. Dubletten zusammenzuführen ist in Wikibase zwar an sich unproblematisch. Damit jedoch war es selten getan. Wir hatten hier regelmäßig ganze Äste von Gefügen zusammenzuführen und die Links zu korrigieren, und hier stellt Wikibase sehr wenig Übersichtlichkeit her. Jedes Item kommt mit einer Item-Seite, von der aus sich gewissermaßen Türen zu anderen Items öffnen, ohne dass auf deren Seiten die Lage sehr viel anders aussieht. Man weiß nicht, wo man herkam und wo man den Links folgend hingeht. Man würde gerne von oben auf das Geflecht herabsehen können, würde gerne lokale Vernetzungen aufeinanderlegen können – eine kaum lösbare Problemlage. Mit 1.953 Personen hatten wir begonnen. 13.433 Personen sind aktuell mit Informationen aus dem bearbeiteten Teilband des Pfarrerbuchs verbunden. Im Frühjahr 2020 fragte Heino Richard nach interessanten Anschlussprojekten. Carsten Eckert machte den Vorschlag, von hier aus die 4.200 Absolventen des Gothaer Gymnasiums für die Jahre 1530 bis 1882 anzulegen. Informationen zu ihnen lagen aus den Listen vor, die Max Schneider in einer mehrjährigen Serie zu Beginn des 20. Jahrhunderts veröffentlicht hatte, und die heute im Reprint 20 und digitalisiert 21 vorliegen. Der Herausgeber des Reprints konnte uns hierbei mit einer Excel-Liste der Namen versorgen, die es leicht machte, GrundDatensätze zu generieren. Das Aparte an der Absolventenliste war, dass sie ohne eigene Dubletten ins Spiel kam, und damit interessante Eindeutigkeit über die vier Jahrhunderte hinweg generierte. Das Projekt der Absolventen schloss Richard im April 2021 ab. Wenig später begann er mit der nächsten, wie sich herausstellen sollte, haarsträubend schwierigen Arbeit: Christian Kirchner hatte 2020 eine Druckfassung des »Seelenregisters« der Gothaer St. Margarethengemeinde der Jahre 1710 bis 1730 herausgegeben. 22 Auf den ersten Blick barg sie Notate zu 8.000 Personen nach Straßen Familien und Hausständen geordnet. Was aus der gedruckten Ausgabe nur 20 Ulrich Lutzkat: Die Abiturienten des Gymnasiums Gotha seit 1524, Gotha 2014. 21 Die einzelnen Digitalisate sind hier gelistet: https://database.factgrid.de/wiki/Item:Q183972. 22 Christian Kirchner (Hrsg.): Das Seelenregister der ev.-luth. Kirchgemeinde St. Margarethen zu Gotha 1710 bis 1731, Schriftreihe der Stiftung Stoye, vol. 76, Marburg/Lahn 2020.

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schlecht sichtbar wurde: Die erfassten Personen hatten sich über den Berichtszeitraum hinweg in fortwährender Bewegung befunden. Kinder zogen aus elterlichen Wohnungen aus, gründeten Familien und zogen mit wachsendem Raumbedarf um. Gebrechliche Eltern zogen zu Kindern. Der Verfasser des 18. Jahrhunderts hatte allen Häusern Seiten und Doppelseiten eingeräumt, ohne dabei die Häuser jedoch einzeln zu benennen; allein die Straßennamen wechselten, wenn eine Straße im Notizbuch abgearbeitet war. Offenbar war dem buchführenden Pfarrer bei seinen Hausbesuchen klar, welches Haus neben welchem lag. Zogen Personen aus einer Wohnung aus, dann wurde der Eintrag durch-gestrichen – die Druckfassung machte das nicht in der ganzen Tragweite klar. Tauchten durchgestrichenen Personen andernorts wieder auf, so war kein Einzugsdatum und keine Rückverweis auf die letzte Wohnung notiert. Von den 8.000 im ersten Durchgang generierten Personen erwiesen sich gut 1.000 im Blick auf ähnliche Familienkonstellationen als Dubletten, die jeweils mit den anhängigen Familien zusammenzuführen waren. Das Projekt geriet hier in ein Gewirr der Materiallage, in dem die Datenbank nicht von selbst weitere Klarheit schuf. Insgesamt generierte Richard gut 20.000 Personendatensätze quer durch Gothas Landesbevölkerung von 1500 bis ins 20. Jahrhundert. Die beiden Projekte brachten einen erheblichen Betreuungsaufwand mit sich – zum Glück in getrennten Belastungsphasen. Für die Beteiligten Bürgerwissenschaftlerinnen und Bürgerwissenschaftler war die Arbeit offenkundig ungemein wertvoll. Es steht auf einem anderen Blatt, dass das originär angedachte Projekt scheiterte: das Projekt einer integrativen Zusammenarbeit privater und öffentlicher städtischer Akteure an einer großen gemeinsamen Datenlage.

Fazit 1: kleiner als anvisiert doch erfolgreicher als gedacht Ging ich im Sommer 2019 noch davon aus, auf den Verein für Stadtgeschichte zurückzukommen, sobald wir dort Demonstrationen der zwei ersten Erfolgsgeschichten vorlegen könnten, so nahm ich von diesem Plan wenig später Abstand. Das FactGrid stand ab dem Herbst 2019 als global florierendes Projekt im Raum, sein Wachstumspotential lag unmittelbar in der internationalen und wissenschaftspolitischen Vernetzung. Ich führte in dieser Lage die beiden GothaProjekte mit einer Mischung aus persönlicher Beteiligung und Interesse am Experiment fort. Hier ließen sich vor allem Erfahrungen sammeln für zukünftige Projekte, die mit der größeren Plattform kommen werden. Aus dem Verein für Stadtgeschichte kam glücklicherweise, keine Rückmeldung mit gezielten Projektvorhaben. Die Gründe dafür werden weniger in der von uns genutzten Software liegen, als im internen Wettbewerb, in dem es den

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Vereinsmitgliedern fernliegt, die »eigenen« Daten auch nur vor den anderen Vereinsmitgliedern auf den Tisch zu legen – geschweige denn gemeinsam ein stadthistorisches Projekt etwa in laufender Interaktion mit Lehrerinnen und Lehrern und von ihnen ins Spiel gebrachten Schulprojekten zu organisieren. Für die beiden realisierten Projekte wird die Bilanz an dieser Stelle positiv ausfallen – sie erreichten die Ziele, die sie sich selbst setzten, und sie gingen über diese hinaus, nachdem sie die technischen Möglichkeiten dazu gegeben sahen. Das Archiv der Gothaer Stadtkirchen wird, so die Planung, im kommenden »Gotha-Portal« 23 seinen eigenen Ort mit einer Nutzeroberfläche erhalten, die typische Archivrecherchen ohne weitere SPARQL-Kenntnisse erlaubt. Ebenso ist Heino Richards Arbeit weit über ihr erstes Ziel hinausgegangen. Sein Datensatz Gothaer Gymnasiasten fand in der Komplexität, die er anbieten konnte, am Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation Interesse, wo ich ihn in einem breiteren Beitrag für das dortige Internetportal vorstellte. 24 Richard setzte zuletzt Datensätze zum katholischen Gymnasium Heiligenstadt und, noch in Arbeit, zur Klosterschule Ilfeld nach, im persönlichen Hobby, das hier einen befriedigenden Nutzen für andere entfaltet. In seiner Gesamtheit setzte das Gotha-Projekt Impulse vor allem auf der Plattform: Bruno Belhostes Projekt »Paris to Download« 25 ist ein erstes Folgeprojekt, das Erfahrungen und Datenmodelle des Gotha Zettelkastens aufnahm und mit verfügbaren Forschungsdaten zu Paris in ganz anderer Dimension ausdehnte. An der Universität Halle entfaltet sich soeben ein paralleles Projekt zu Leipzig im 19. Jahrhundert, das die gesamte damalige Stadtbevölkerung erfassen soll, unter der Ägide von Georg Fertig – absehbar mit Verbindungen in den dort angesiedelten auf Genealogie ausgerichteten breiten Citizen Science-Bereich. Mit dem Gotha-Projekt lernten wir vor allem Potentiale der Software zu ermessen. Sie liegen im Umgang mit einer dichten Datenlage. Die Graph-Datenbank ist eine Tortur, wo immer man mit ihr Neuland betritt. Sie wartet im Gegenzug mit vollkommen unerwarteten Informationsangeboten auf, sobald man 23 Details zum Projekt finden sich hier: https://www.uni-erfurt.de/forschungsbibliothek-gotha/forschung/projekte/infrastrukturen unter dem Menüpunkt »Gotha-Portal des Sammlungs- und Forschungsverbundes Gotha«. 24 Ich gab einen ersten Einblick in den Datensatz im Projektblog der Datenbank: Olaf Simons: Die Absolventen des Gothaer Gymnasiums Illustre/ Ernestinum 1524–1882, in: Projektblog FactGrid, 24.04.2021, https://blog.factgrid.de/archives/2153. Die für die Bibliothek des DIPF erstellte erweiterte Fassung ist derzeit (10.2.2023) nach einem Serverangriff nicht mehr verfügbar – Olaf Simons: Wer waren die Absolventen des Gothaer Gymnasiums Illustre? Ein neuer Datensatz für die Erforschung der Schul- und Bildungsgeschichte von der Reformation bis ins 19. Jahrhundert, in: bildungsgeschichte.de, Berlin 2021, https://doi.org/10.25523/32552.11. 25 Siehe Bruno Belhoste: Paris to download, in: Projektblog FactGrid, 14.11.2021, https:// blog.factgrid.de/archives/2333.

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eine komplexere Informationslage generiert hat, deren Vernetzung sich jeder linearen Lektüre entzieht. Im Vorgespräch mit den Interessenten des Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, die Heino Richards Datensatz zu Gothas Gymnasium zu erfassen suchten, kamen Untersuchungsfragen auf, die wir bei der Datensammlung nicht im Blick hatten: Konnte man mit einer solchen Datenbank nicht auch die Korrelation von Elternhaus, Schulauswahl und Karriereweg der Kinder über die Zeit hinweg untersuchbar machen? Unsere Datensätze wiesen keine diesbezüglichen Informations-Spalten auf, aber die Vernetzung erlaubte es, die Informationen nach Belieben zu generieren: Bei jedem Schüler ist notiert, wo er seine weitere Ausbildung machte und welchen Berufsweg er einschlug. Bei 1.252 der 4.200 Schüler sind Väter notiert. Diese tauchen in der Graph-Datenbank nicht als Felder einer Tabelle auf – sie sind selbst vollkommen eigenständige Knotenpunkte im Geflecht. Bei fast jedem dieser Väter ist erfasst, wo er zur Schule ging und gegebenenfalls studierte und welche Karriere er machten. Mütter sind bei 938 der Schüler genannt. Ihre Karrieren sind vor dem 20. Jahrhundert aussagelos, doch können wir die Datenbank mühelos nach ihren Vätern befragen. Bei 383 Müttern ist ein solcher notiert wieder mit eigenen Informationen zu Ausbildung und Beruf. Es ist technisch überraschend einfach, mit einer Graph-Datenbank eine Tabelle zu erstellen, die Karrierewege von Schülern mit denen der Eltern und Großeltern korreliert und erfasst, wie stark Familiennetzwerke in beliebigen Zeitabschnitten Lebenswege bestimmten. Von den 800 Properties der Datenbank interessieren dabei nur vier: die zur Ausbildung (P160), zur Karriere (P165), zu Vater (P141) und zu Mutter (P142). Die Verästelung, die Schüler um Schüler abgefragt wird, ist dabei stets dieselbe – eine exakte Ausformulierung der Forschungsfrage, die nun in Sekundenschnelle Hunderttausende von Items durchmisst. Man mag über das fehlende Wikibase-Interface mit klassischer Suchschablone klagen wie über SPARQL, die zu beherrschende Such-Skriptsprache; tatsächlich machen Wikibase-Instanzen ihre Nutzer jedoch neuartig unabhängig von Programmierern, die Interfaces bauen müssen, und die dabei Datenstrukturen vorfixieren müssen, damit spätere Suchen exakt, wie anvisiert funktionieren. Man kann eine Instanz wie das FactGrid weitgehend planlos mit Daten befüllen um irgendwann in der Zukunft dann plötzlich sehr komplexe Fragen an sie zu stellen.

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Fazit 2: Das nicht skalierbare Projekt – wir werden spezielle CitizenScience-Module benötigen Unser Experiment mit Citizen Science erwies sich als nicht skalierbar. Jedes weitere Projekt hätte einen nicht mehr zu bewältigenden Betreuungsaufwand erzeugt. Das war nicht weiter erstaunlich – wir hatten Bürger und Bürgerinnen ermuntert, eigene Projekte mit uns zu realisieren und gingen dabei davon aus, dass uns selbst erst einmal mit beliebigen stadtgeschichtlichen Daten gedient war, und dass wir dabei auf eine Selbstorganisation am Ort hoffen konnten – schließlich hatten wir Personengefüge angesprochen, die längst gemeinsame Projekte organisierten. Die eingehenden Daten erforderten auf unserer Seite den Aufbau von Datenmodellen und die Konstruktion einer Daten-Infrastruktur auf der Plattform – hier waren Häuser, Straßen und Organisationen anzulegen, um sie mit Personen- und Dokumenten-Daten verbinden zu können. Eine am Ende sich selbst organisierende Community aufzubauen, wird nicht der Regelfall von Citizen-Science-Projekten sein, die in den nächsten Jahren die Plattform nutzen werden. Wir ziehen zunehmend großdimensionierte Projekte an, und deren Initiatoren werden bei wachsender Projektgröße immer mehr mit bürgerschaftlichem Engagement liebäugeln. Sie werden dabei klare Vorstellungen von der Zuarbeit haben, mit der ihnen gedient ist, und sie werden zu deren Handhabung Interfaces produzieren, auf die sie ihre Communities bei der Dateneingabe ansetzen werden. Man wird größere Communities von Bürgerwissenschaftlern und Bürgerwissenschaftlerinnen nicht selbst auf die Plattform heben – sie würden dort schwer zu koordinieren sein und kaum besonders konsistent arbeiten. Die Probleme, die sich in solchen Projekten stellen, traten exemplarisch in den letzten Jahren bei den Seminar-Projekten zu Tage, die auf der Plattform liefen. Hier nutzten Lehrende an Hochschulen in Berkeley, Barcelona, Göttingen, Halle und Jena die Plattform, um Studierende und Seminargruppen Erfahrungen mit der Datenarbeit sammeln zu lassen und dabei en passant Datengrundlagen zu generieren. Aus der Sicht der Plattform waren diese Studentengruppen stets eigenartige Fremdkörper. Das wurde immer dann deutlich, wenn jemand auf der Plattform dem eigenen Projekt nachgehend, versuchte Studierende zu erreichen, die offenbar nicht weiterkamen – sie fallen im Recent Changes-Feed auf, wie beim Blick auf misslich angelegte Datenbankobjekte. Es liegt nahe, ihnen auf der Nutzerseite einen schnellen Tipp zu geben, doch reagierten die Angesprochenen nahezu ausnahmslos nicht. Ihre Fragen waren absehbar immer dieselben: Wer nimmt hier mit mir Kontakt auf? Wie sollen ich reagieren, wo ich selbst hier doch nur im Auftrag tätig bin? Warum muss ich bei alledem unter meinem eigenen Namen agieren? In regulären Seminaren gibt man eine Seminararbeit ab,

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Olaf Simons

die ausschließlich die Betreuerin, der Betreuer sieht und diskret beurteilt. Hier dagegen macht man gegen seinen Willen öffentlich sichtbare Fehler und bringt womöglich die Projektbetreuer oder Projektbetreuerinnen in Schwierigkeiten – wenn, dann müssen diese reagieren. Von gut 60 Studenten der letzten fünf Jahre taten lediglich zwei den Transferschritt, die Plattform für eigene Projekte zu nutzen. Bei ihnen war sofort die reguläre Offenheit für Kontaktaufnahmen gegeben. Ihnen war mit Hilfe und Tipps im eigenen Projekt gedient, sie suchten hier Inspiration, interessante Auswertungen, Fragen, Hinweise auf Quellen. Die zentrale Frage des Projektdesigns, das Bürgerbeteiligung auf der kollektiven Plattform anvisiert, ist darum, welches Selbstverständnis die angezogenen Bürgerwissenschaftlerinnen und Bürgerwissenschaftler in der weiteren Interaktion gewinnen sollen. Auf der aktuellen Plattform sind Privatpersonen mit eigenen Projekten zu Freimaurerei, Stammbüchern, Studentenverbindungen und Genealogie aktiv. Das FactGrid lockt sie mit der offenen Datenmodellierung, die hier, ganz anders als in regulärer Genealogie-Software oder in Wikidata parat steht. Wir bauen neue Properties, um Fragen von Projektinitiatoren gerecht zu werden. Wenn das anvisierte Selbstverständnis Teilnahme am Forschungsprozess ist, dann ist die Plattform so, wie sie technisch gestaltet ist, mit dem optimal offenen und interaktiven Nutzermanagement ausgestattet. Projekte, die dagegen eine sehr spezifische massenweise Zuträgerschaft kanalisieren wollen, werden die besseren Resultate in Modulen finden, die sie dem FactGrid vorschalten, und in denen sie ein projektspezifisches Nutzermanagement aufbauen: eine überschaubare Forumskommunikation mit Kanälen, die es ihnen erlauben, jederzeit auch diskret mit Beitragenden in Verbindung zu treten. Eingabeschablonen werden hier Interaktion standardisieren und exakt auf das jeweilige Projetinteresse ausrichten. Auf das FactGrid wird – das verspricht das aktuelle Wachstum – zivilgesellschaftliche Beteiligung in beiden Formen in zunehmender Maße zukommen.

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Autorinnen- und Autorenverzeichnis

Barbara Aehnlich, PD Dr. habil., ist Lektorin für Deutsche Sprachwissenschaft mit dem Schwerpunkt Sprachgeschichte des Deutschen an der Universität Bremen. Sie promovierte zu den Flurnamen Thüringens und betreut seit 2006 das Projekt »Flurnamen und Regionalgeschichte« fachwissenschaftlich. Seit 2019 leitet sie die Digitalisierung des Flurnamenarchivs und seit 2022 das Projekt »Flurnamen als Brücke zwischen Gesellschaft und Wissenschaft«. Jens Bemme studierte Verkehrswirtschaft und Lateinamerikastudien. Er arbeitet im Bereich Landeskunde und Citizen Science im Referat Saxonica der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB). Schwerpunkt sind dabei Werkzeuge, Methoden und Gemeinschaften im Wikiversum – für Wissenschaftskommunikation und Open Science. Zu seinen Interessen gehören Dorfbacköfen, das Projekt »Die Datenlaube« und historisches Radfahrerwissen um 1900. Michael Brauer, Assoz. Prof. Dr., ist Assoziierter Professor für Mittelalterliche Geschichte am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg und leitet den Arbeitsbereich Gastrosophie/Food Studies. Zusammen mit Marlene Ernst hat er das vom FWF geförderte Top-Citizen-Science-Projekt »Salzburg zu Tisch« konzipiert und durchgeführt. Hendrikje Carius, Dr., stellvertretende Direktorin und Leiterin der Abteilung Benutzung und Digitale Bibliothek, Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt. Studium der Neueren Geschichte, evangelischen Theologie und Politikwissenschaft in Jena, München und Padua sowie Bibliotheks- und Informationswissenschaft in Berlin. Nach Promotion in Jena und Volontariat an der Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsbibliothek Gotha. Christian Erlinger hat Raumplanung und Politikwissenschaft studiert und ist seit 2013 im Bibliotheksbereich tätig. An der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern (CH) verantwortet er ZentralGut.ch, das Online-Portal für das Kulturgut

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Autorinnen- und Autorenverzeichnis

der Zentralschweiz. Er ist Wikidata-Enthusiast und arbeitet an Fragen zur Ausweitung der bibliothekarischen Tätigkeitsfelder im Semantic Web. Marlene Ernst, Dr., ist PostDoc am Lehrstuhl für Digital Humanities der Universität Passau. Zuvor war sie langjährige Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Gastrosophie/Food Studies an der Universität Salzburg und hat zusammen mit Michael Brauer das vom FWF geförderte Top-Citizen-Science-Projekt »Salzburg zu Tisch« konzipiert und durchgeführt. Tobias Hodel, Prof. Dr., ist Assistenzprofessor für Digital Humanities an der Universität Bern, wo er zu maschinellen Lernverfahren und Citizen Science Aspekten in den Geisteswissenschaften forscht. Er wurde in Geschichte promoviert und beschäftigte sich aus historischer Perspektive mit Aufbewahrungs- und Schreibpraktiken. Petra Kunze begleitet das Digitalisierungsprojekt »Flurnamen als Brücke zwischen Gesellschaft und Wissenschaft« seitens der ThULB. Sie ist stellvertretende Leiterin Erschließung in der Abteilung Medienerwerbung und -erschließung an der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena. Aufgabenschwerpunkte sind das Projektmanagement bei Digitalisierungsprojekten mit Bibliotheken, Archiven und Museen, die Leitung verschiedenster Erschließungsprojekte und das Elektronische Publizieren. Marina Lemaire ist studierte Historikerin sowie Germanistin und arbeitete seit 2007 an der Universität Trier als Koordinatorin der Virtuellen Forschungsumgebung FuD an der Schnittstelle zwischen IT und Forschung. Seit 2015 ist sie Referentin für Projektmanagement im Bereich digitaler Forschungsinfrastrukturen am Servicezentrum eSciences der Universität Trier, das einerseits die Implementierung des Forschungsdatenmanagements koordiniert und andererseits den Regelbetrieb von FuD verantwortet, wobei es das Softwaresystem sowohl für interne als auch externe Forschungsprojekte aus den Geistes- und Kulturwissenschaften bereitstellt. Katrin Moeller, Dr., Leiterin des Historischen Datenzentrums Sachsen-Anhalt der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Vorstandsmitglied des Vereins für Computergenealogie und ab März 2023 Co-Applicant des NFDIKonsortiums NFDI4Memory. Nach dem Magisterstudium der Geschichte, Erziehungswissenschaften und Soziologie, Promotion zur Hexenverfolgung in Mecklenburg an der Universität Rostock. Seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der MLU.

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Martin Munke, M.A., Referatsleiter Saxonica und Kartensammlung sowie stellv. Abteilungsleiter Handschriften, Alte Drucke und Landeskunde an der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) sowie Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für sächsische Landesgeschichte der Technischen Universität Dresden. Studium in Leipzig, Chemnitz und Prag mit Abschlüssen in Europäischer Geschichte und Europäischer Integration mit Schwerpunkt Ostmitteleuropa. 2011 bis 2016 in Forschung und Lehre an der Technischen Universität Chemnitz tätig, seit 2016 an der SLUB. Günter Mühlberger, Mag. Dr., Studium der Germanistik. Leiter der Arbeitsgruppe Digitalisierung und Digitale Archivierung (DEA) sowie des Forschungszentrums Digital Humanities an der Universität Innsbruck. Ehrenamtlicher Verwaltungsratsvorsitzender der Europäischen Genossenschaft READ-COOP SCE. Seit Mitte der 1990er Jahre ist Günter Mühlberger in den Bereichen Digitalisierung, Digital Preservation, Digitale Bibliotheken und Digital Humanities tätig. Er initiierte und leitete eine Vielzahl von nationalen und internationalen Forschungs- und Digitalisierungsprojekten, darunter das READ Projekt, aus dem die Transkribus Plattform hervorgegangen ist. Moritz Müller, M.A., wissenschaftlicher Koordinator im Teilprojekt Bürger schaffen Wissen: Die Plattform für Citizen Science am Museum für Naturkunde Berlin und angehender Promotionsstudent im Fach Geschichte an der Universität Halle-Wittenberg. Studium der Geschichte und Philosophie an der Universität Halle-Wittenberg. Anschließend wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Halle-Wittenberg. Kristin Oswald, M.A., ist leitende Online-Redakteurin bei Kultur Management Network, einem Fachmedium für die Arbeit im Kulturbereich. Zudem koordiniert sie das Citizen Science-Projekt »SocialMediaHistory – Geschichte auf Instagram und TikTok« an der Universität Hamburg. Ihre Schwerpunkte sind Citizen Science sowie Wissenschaftskommunikation in Museen und den Geisteswissenschaften. In diesen Bereichen ist sie auch freiberuflich für kulturelle und Forschungseinrichtungen tätig. Yvonne Rommelfanger ist studierte Historikerin sowie Politikwissenschaftlerin und arbeitete seit 2002 an der Universität Trier in diversen digitalen historischen Projekten. Seit 2011 übernimmt sie die Koordination und Konzeption der Virtuellen Forschungsumgebung FuD, deren Regelbetrieb seit 2015 am Servicezentrum eSciences der Universität Trier verankert ist. Sie koordiniert das FuD-

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Autorinnen- und Autorenverzeichnis

Releasemanagement, berät und unterstützt geistes- und kulturwissenschaftliche Projekte bei der Implementierung von FuD in ihre Arbeitsprozesse und bereitet Forschungsdaten für die Weiterverarbeitung auf. Kurt Scharr, Univ.-Prof., Jahrgang 1970, Studium der Geschichte und Geographie, im Erweiterungsfach Russisch; thematische Forschungsschwerpunkte zur Habsburgermonarchie, Tourismusgeschichte, sowie Historischen Geographie. Der regionale Fokus liegt auf dem Ostalpen- und Karpatenraum; Publikationen zur Österreichischen Geschichte, zuletzt über die Bukowina und den Franziszeischen Kataster. Christa Schneider, Dr. des., ist seit 2020 als Soziolinguistin in den Digital Humanities tätig. Als Postdoc forscht sie im Moment an den Universitäten Salzburg, Uppsala, Brüssel (VUB) und Bern zur Sprache in frühneuzeitlichen Gerichtsakten aus der Schweiz. Dabei versucht sie, Methoden aus der (Sozio-)Linguistik und den Digital Humanities zu kombinieren und so zu nutzen, dass einerseits die Analyse großer Korpora gelingt und andererseits ein Blick auf die Sprachverhältnisse im Stadtstaat Bern in der Frühen Neuzeit ermöglicht wird. Gerhard Siegl, Dr., Historiker, 2005 bis 2008 Mitarbeiter am Institut für Geschichte des ländlichen Raumes (St. Pölten), 2008 bis 2016 Universitätsassistent am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck, 2016 Mitgründer von Heidegger, Hilber und Siegl. Die HISTORIKERinnen (www.diehistoriker.at), Mitarbeiter und Leiter in Projekten zur geschichtswissenschaftlichen Grundlagenforschung sowie der Public und Digital History, Lektor an westösterreichischen Hochschulen, seit 2019 Geschäftsführer im Wirtschaftsarchiv Vorarlberg. Olaf Simons, Dr., ist Buchhistoriker und studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie in München und Canterbury. Nach Forschungstätigkeiten an den Universitäten München und Oldenburg ist er seit 2010 an der Universität Erfurt tätig, u. a. als wissenschaftlicher Mitarbeit am Forschungszentrum Gotha im Projekt zur Geschichte der Illuminaten im Kontext der Spätaufklärung sowie im Sammlungs- und Forschungsverbund Gotha. In diesem Rahmen hat er die Gotha Illuminati Research Base und FactGrid aufgebaut. René Smolarski, Dr. phil. Dipl.-Inf., ist Referent für Digitalisierung im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Studium der Informatik, Geschichte, Religionswissenschaft und Kulturwissenschaft an der Technischen Universität Ilmenau, der Fernuniversität Hagen sowie den Universi-

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täten Jena und Erfurt. Promotion in der Zeitgeschichte an der Universität Erfurt. Er arbeitet zu Themen der Citizen Science, der Philatelie und der Digital Humanities. Elfi Vomberg, Dr. phil., ist derzeit Vertretungsprofessorin für historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater Rostock. Sonst lehrt und forscht sie am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf in den Bereichen Sound Studies, Fanforschung sowie Erinnerungskultur. Außerdem leitet sie dort das Citizen Science-Projekt #KultOrtDUS – die Medienkulturgeschichte Düsseldorf als urbanes Forschungsfeld.

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