Charlotte Bühler und die Entwicklungspsychologie 9783737004305, 9783847104308, 9783847004301


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Charlotte Bühler und die Entwicklungspsychologie
 9783737004305, 9783847104308, 9783847004301

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Lieselotte Ahnert (Hg.)

Charlotte Bühler und die Entwicklungspsychologie

Mit 12 Abbildungen

V& R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0430-8 ISBN 978-3-8470-0430-1 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Rektorats der Universität Wien und der Stadt Wien (Magistrat 7). Ó 2015, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Portrait-Malerei von Sergius Pauser, 1932 (Ó Angela Pauser und Dr. Wolfgang Pauser ; www.sergius-pauser.at) Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gerhard Benetka (Sigmund Freud PrivatUniversität Wien) / Thomas Slunecko (Universität Wien) Das Wiener Psychologische Institut und die Herausbildung der Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Brigitte Rollett (Universität Wien) Charlotte Bühler : Porträt einer anspruchsvollen Wissenschaftlerin

. . . . 19

Klaus Grossmann (Universität Regensburg) Facetten der Entwicklungspsychologie Charlotte Bühlers . . . . . . . . . . 29 Retrospektive: Charlotte Bühler und ihre Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Nachtrag: Über die Krise in der Psychologie der 1920er-Jahre . . . . . . . 47 Literatur

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

Bildverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Danksagung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

Vorwort

Wie ist es den wenigen Frauen in der Wissenschaft der 1920er-Jahren ergangen und wie ist es ihnen gelungen, sich an einer Universität zu etablieren, die bis dahin eine ausschließliche Männerdomäne war? Im vorliegenden Buch beschreiben wir den Werdegang Charlotte Bühlers (1893 – 1974), einer Entwicklungspsychologin, die es an die Universität Wien geschafft und dort Geschichte geschrieben hat. Wir beschreiben Charlotte Bühlers wissenschaftliche Laufbahn und die Resonanz auf ihr Wirken in der damaligen Zeit. Wir versuchen dabei, ihr wissenschaftliches Lebenswerk vor dem Hintergrund der Situation der Psychologie und des Wirkens ihres Mannes Karl Bühler (1879 – 1963) zu beurteilen, der selbst ein berühmter Psychologe war. Im Nachgang dieser Darstellung ist es uns gelungen, die wissenschaftliche Lage der damaligen Psychologie auf der Basis eines Kabarett-Manuskripts aus dem Jahr 1929 zu skizzieren, das Brigitte Rollett von Lotte Schenk-Danzinger (1905 – 1992), einer Mitarbeiterin Charlotte Bühlers, erhalten und archiviert hat und so dankenswerterweise zur Verfügung stellen konnte. Das Buch hat jedoch seine zentralen Beiträge und die abschließenden Reflektionen und Diskussionen einer Veranstaltung zu verdanken, die am Vorabend der Festtage »90 Jahre Entwicklungspsychologie in Wien« im November 2013 stattgefunden hat und von der Universität Wien sowie der Wissenschaftsund Forschungsförderung der Kulturabteilung der Stadt Wien großzügig unterstützt wurde. Eine denkmalsgeschützte Industriellenwohnung der damaligen Zeit bot in der Wiener Bartensteingasse dafür ein zeitgemäßes Ambiente. Wir bedanken uns bei Gerhard Benetka, Klaus Grossmann und Brigitte Rollett für einen hochinteressanten Abend und wünschen den Lesern ein gleichwertiges Lesevergnügen. Lieselotte Ahnert

Wien, August 2014

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Vorwort

Abendveranstaltung »Retrospektive: Charlotte Bühler und ihre Zeit« in der Bartensteingasse im 1. Wiener Gemeindebezirk anlässlich der Festtage »90 Jahre Entwicklungspsychologie in Wien«.

Gerhard Benetka (Sigmund Freud PrivatUniversität Wien) / Thomas Slunecko (Universität Wien)

Das Wiener Psychologische Institut und die Herausbildung der Entwicklungspsychologie

Karl Bühler (1879 – 1963) wurde an die Philosophische Fakultät der Universität Wien im Jahre 1922 berufen, das auch als das Gründungsjahr des Wiener Psychologischen Instituts gilt. Seine Hauptvorlesung hatte er als Ordinarius für Philosophie der Allgemeinen Psychologie gewidmet, die mit Spezialgebieten aus der Philosophie abwechselte (Abb. 1). Diese Vorlesung stellte ein gesellschaftliches Ereignis dar (vgl. Ch. Bühler, 1972). Da oft mehr als tausend Zuhörer/ innen dafür inskribiert waren, wurden die üblichen Hörsäle zu klein, und Bühler musste ab dem Wintersemester 1926/27 in den Kleinen Festsaal der Universität ausweichen. Nur wenige der Zuhörer/innen studierten allerdings Psychologie, die an den damaligen deutschsprachigen Universitäten kaum als eigenständiges Fach etabliert war. Es waren vor allem die angehenden Gymnasiallehrer/innen, die im Zuge ihrer staatlichen Lehramtsprüfung Grundkenntnisse in der Allgemeinen Psychologie sowie in der Kinder- und Jugendpsychologie nachweisen mussten. Aber auch für eine Reihe weiterer Studierenden, die nicht Philosophie und Pädagogik im Hauptfach studierten, war als Abschluss des Studiums ein Rigorosum in Philosophie vorgesehen. Bühlers Tätigkeit fand jedoch von Anfang an auch bei einer breiten außeruniversitären Öffentlichkeit Beachtung. In jener Stadt, von der aus zwei Jahrzehnte zuvor die Freudsche Psychoanalyse zur Welt gekommen war, hatte auch die wissenschaftliche Psychologie das soziale wie politische Leben zu affizieren begonnen, wie sich auch umgekehrt die psychologischen Lehren an der Universität Wien von den lokalen Gegebenheiten der Stadt wesentlich berühren ließen. Die enge Bindung zur Stadt spiegelt sich auch in der Verortung des Wiener Psychologischen Instituts wider, das außerhalb der Mauern der Universität angesiedelt und im Palais Epstein am damaligen Burgring direkt neben dem Parlament untergebracht wurde, wo auch der Stadtschulrat von Wien residierte. Als Charlotte Bühler (1893 – 1974) 1923 mit den gemeinsamen zwei Kindern und einer Gouvernante ihrem Mann nachfolgte, war es auch die Stadt Wien, die Charlottes Assistentenstelle finanzierte und den Bühlers im Prachtbau des Palais Epstein Büro- und Forschungsräume zur Verfügung stellte.

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Gerhard Benetka / Thomas Slunecko

Abb. 1: Ankündigung der Hauptvorlesung Karl Bühlers an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien.

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Die Gründungsgeschichte

Mit der Gründung des Wiener Psychologischen Instituts unter der Schirmherrschaft des Stadtschulrats wurde eine Verbindung von Psychologie und Schule angezeigt, der bereits eine lange Geschichte vorausging. Noch vor Ausrufung der Republik im November 1918 war das dual aufgebaute Wiener Schulwesen durch eine tiefe Spaltung der Lehrerschaft in akademisch gebildete Gymnasiallehrer/innen und seminaristisch gebildete Grundschullehrer/innen gekennzeichnet. Die Unterschiede in Bezug auf Einkommen und Sozialprestige waren eklatant. Nicht verwunderlich, dass schon im 19. Jahrhundert die Grundschullehrerschaften damit begannen, ihre berufspolitischen Interessen zunächst in regionalen, später auch überregionalen Lehrervereinen zu artikulieren. Strategisches Hauptziel im Kampf um ihre ökonomische Besserstellung war die Überwindung von Bildungsbeschränkungen. Weil die Verlegung der Volks- bzw. Bürgerschullehrerbildung an die Universität politisch nicht durchsetzbar war, wurde die Höherqualifizierung durch selbstorganisierte Fortbildungsmaßnahmen in Angriff genommen, durch die den Lehrer/inne/n die Teilhabe an wissenschaftlichen Forschungs- und Erkenntnisprozessen ermöglicht werden sollte. Von einer den berufspraktischen schulischen Fragen zugewandten Psychologie wurden für den Schulunterricht relevante Erkenntnisse wie auch leicht lehr- und lernbare Methoden empirisch-wissenschaftlicher Forschung erwartet. Die Professionalisierungsbestrebungen der Volksschullehrerschaft trafen sich deshalb an diesem Punkt mit den Interessen experimentell arbeitender Hochschulpsycholog/inn/en: Beiden war daran gelegen, die

Das Wiener Psychologische Institut und die Entwicklungspsychologie

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Legitimität eines eigenständigen Wissenschaftsbereiches »Experimentelle Psychologie« zu behaupten und dessen Institutionalisierung weiter voranzutreiben. Die Aufnahme eines Unterrichts zur experimentellen Psychologie in die Fortbildungsprogramme der Lehrervereine machte schließlich auch die Verfügbarkeit entsprechender psychologischer Laboratorien notwendig. In diesem Kontext war bereits im Jahre 1913 an der Niederösterreichischen Landeslehrerakademie in der Hegelgasse 12 des 1. Wiener Gemeindebezirks ein pädagogischpsychologisches Laboratorium entstanden, das mit der Trennung Wiens und Niederösterreichs Anfang der 1920er-Jahre in den Besitz der sozialdemokratischen Stadtverwaltung gelangt war, und zwar nur wenige Jahre bevor Karl Bühler nach Wien kam.

Abb. 2: Das Palais Epstein.

Als nun 1922 die Berufung Karl Bühlers an die Wiener Universität am Fehlen eines eigenen psychologischen Universitätsinstituts zu scheitern drohte, kam zwischen der sozialdemokratisch geführten Stadtverwaltung und dem christlich-sozialen Unterrichtsministerium ein für die Verhältnisse der Zwischenkriegszeit außergewöhnlicher politischer Kompromiss zustande: Die Stadt stellte der Universität das pädagogisch-psychologische Laboratorium zur Benutzung zur Verfügung. Das damit entstandene Wiener Psychologische Institut (Abb. 2) gehörte infolgedessen nicht der Universität, sondern der Stadt Wien, die für Räumlichkeiten, Ausstattung mit Apparaten, Betriebskosten und Institutsdiener aufkam und selbst Charlotte Bühler auf ihre Gehaltsliste setzte. Im Gegenzug erklärte sich Karl Bühler bereit, im Pädagogischen Institut als der Zentrale der sozial-demokratischen Schulreform der Stadt Wien Kurse in Psychologie für angehende Grundschullehrer/innen abzuhalten. Diese ungewöhnliche Vereinbarung und Konstruktion erwies sich für die Entwicklung einer an

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Gerhard Benetka / Thomas Slunecko

praktischen und auch politisch relevanten Problemen orientierten Psychologie als vorteilhaft: Das enge Naheverhältnis zur Stadtverwaltung machte es möglich, dass Schulen, aber auch Kindergärten und die Städtische Kinderübernahmestelle, die später in Charlotte Bühlers empirischen Arbeiten einen zentralen Stellenwert einnahm, zu Orten der psychologischen Forschung werden konnten (vgl. Benetka, 1995).

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Die Ausbildung

An den deutschsprachigen Universitäten der damaligen Zeit bildeten die Philosophie-Ordinate die institutionelle Basis für die Entwicklung der Psychologie als einzelwissenschaftliche Fachdisziplin. Studierende der Psychologie nahmen damit die Lehrangebote eines Professors der Philosophie wahr, der neben seinem Nominalfach auch Psychologie vertrat und ein psychologisches Seminar oder Institut leitete. Die Anforderungen, die die Studierenden erfüllen mussten, um ein Dissertationsthema auf dem Gebiet der Psychologie zugewiesen zu bekommen, wurden dann individuell festgelegt und verlangten den Besuch ausgewählter Vorlesungen und Seminare. An der Universität Wien hatten Karl und Charlotte Bühler damit begonnen, dem Studium eine hierarchische Struktur zu geben, aus der sich schließlich eine Art Curriculum für Psychologie entwickeln konnte. Dem Studienführer für die Philosophische Fakultät der Universität Wien war 1928 zu entnehmen, dass das Studium der Psychologie »eine gewisse Sonderstellung unter den philosophischen Disziplinen (ein)nimmt […] und zumindest den Besuch der vierstündigen Psychologie-Vorlesung, einer zweistündigen Spezialvorlesung (der Kinder-, Jugend-, Sozial-, Sprach-, Denk-, Kunstpsychologie oder dergleichen) und des experimentalpsychologischen Einführungskurses sowie die Mitarbeit im Psychologischen Praktikum und im Psychologischen Kolloquium umfasst. […] Für die Wahl der Dissertation ist die Bewährung des Studierenden im Psychologischen Praktikum ausschlaggebend. Je nach seiner Eignung und seinen Interessen wird ihm aufgrund der Bewährung im Praktikum eine theoretische oder experimentelle Arbeit vorgeschlagen.« (Meister, 1928) Die Studierenden kamen zu einem ungewöhnlich hohen Prozentsatz aus dem Ausland, aus den ehemaligen östlichen Kronländern der Donaumonarchie und vor allem aus den USA. Während die Psychologie-Vorlesung von Karl Bühler gehalten wurde, wurde der experimentalpsychologische Einführungskurs schon bald von Bühlers Assistent Egon Brunswick (1903 – 1955) übernommen (s. a. Brunswik, 1935). Charlotte Bühler war für die Organisation des Forschungspraktikums und die Durchführung der Spezialvorlesungen verantwortlich, die sie bisweilen auch an ihre Assistent/inn/en delegierte. Außerdem berichteten

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Mitarbeiter/innen und Studierende wöchentlich in einem Forschungskolloquium über den Fortgang ihrer empirischen Untersuchungen und bezogen sie auf den jeweiligen Stand der Theoriebildung von Karl und Charlotte Bühler. Tatsächlich wurde die gesamte Forschungstätigkeit am Institut in diesen Kolloquien koordiniert und aufeinander abgestimmt, und zwar so, dass der »Geist der Leitung sich in allen Teilen« (Lazarsfeld, 1959, S. 69) auswirken konnte. Diese wöchentlichen Kolloquien wurden damit zum zentralen Angelpunkt, von dem aus ein auf Arbeitsteilung basierender Forschungsgroßbetrieb organisiert werden konnte.

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Forschung im Dienste nationaler Belange

Für die Wiener Stadtverwaltung hatte das Psychologische Institut, das sie so nachhaltig gefördert hatte, eine sehr wichtige Legitimierungsfunktion: Bildungs- und sozialpolitische Maßnahmen konnten als wissenschaftlich fundiert begründet werden. Karl Reininger, der über viele Jahre sowohl am Wiener Psychologischen Institut als Bibliothekar als auch im Versuchsschulwesen tätig war, untersuchte beispielsweise die spontanen Gruppenbildungsprozesse bei Schulanfängern innerhalb einer Schulklasse. Angeregt von den Arbeiten Thorleif Schjelderup-Ebbes (1922) über die Bildung sozialer Hierarchien bei Haushühnern, hat er damit auch als einer der ersten Wissenschaftler Gruppenbildungsprozesse in sogenannten Soziogrammen dargestellt (Reininger, 1929). Charlotte Bühler führte im Jahr 1923 mit Studierenden eine Erhebung über die Lesevorlieben von 8.000 Wiener Schulkindern durch. Die Daten, die dabei zusammengetragen wurden, dienten der Erarbeitung eines »Leseprogramms«, das für jede Unterrichtsstufe an allen Wiener Schulen den geeignetsten, weil dem jeweiligen psychischen Entwicklungsstand der Kinder entsprechenden Lesestoff verbindlich festlegte (ausführlich in Benetka, 1995, S. 187 f). Aber vor allem die Herausbildung der dezidiert entwicklungsorientierten Forschung von Charlotte Bühler führte zu praktisch verwertbaren Ergebnissen, so wie sie in der Städtischen Kinderübernahmestelle in der Lustkandlgasse im 9. Wiener Gemeindebezirk durchgeführt wurde (Abb. 3). Im Jahr 1926 hatte der Wiener Stadtrat die Städtische Kinderübernahmestelle für die psychologische Forschung geöffnet, die für die öffentliche Kinder- und Jugendfürsorge der Stadt Wien bedeutsam war : Alle Kinder und Jugendlichen, die der öffentlichen Fürsorge überantwortet waren, wurden dort für mehrere Wochen in Quarantäne genommen. Dabei waren die Säuglinge und Kleinkinder oft zu fünft oder sechst in sogenannten Boxen untergebracht. Die Trennwände zwischen den einzelnen Boxen sowie die durchgehende Trennwand zum Gang hin bestanden aus Glas, wodurch eine vollständige und beständige Aufsicht der

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Kinder ermöglicht wurde. Hier wurden 24-Stunden-Dauerbeobachtungen an Säuglingen und Kleinkindern mit dem Ziel möglich, Verhaltensinventare für verschiedene Altersabschnitte im Verlauf der Kindheit zu erstellen.

Abb. 3: Die Städtische Kinderübernahmestelle im 9. Wiener Gemeindebezirk (Ansicht Lustkandlgasse, Ecke Ayrenhoffgasse).

In mühevoller detaillierter Arbeit entstand schließlich gemeinsam mit Hildegard Hetzer der Wiener Entwicklungstest mit Testreihen für die ersten Lebensmonate bis hin zum sechsten Lebensjahr (Bühler & Hetzer, 1932). Auf der Grundlage dieses noch heute bekannten entwicklungspsychologischen Tests wurde es möglich, Problemkinder im Rahmen der öffentlichen Kinder- und Jugendwohlfahrt zu identifizieren und in Bezug auf ihre künftige Betreuung Schlussfolgerungen abzuleiten. Im Jahr 1935 hat Charlotte Bühler dann zunächst in London/Großbritannien, ab Dezember 1936 mit der Gründung des »Kinderpsychologischen Instituts« im 8. Wiener Gemeindebezirk in der Skodagasse 15 in Wien sowie danach auch in Trondheim/Norwegen begonnen, den Wiener

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Entwicklungstest zum Kern einer wissenschaftlich fundierten Elternberatung zu machen.

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Internationale Reputation

Nach nur wenigen Jahren war das Wiener Psychologische Institut bereits ein international anerkannter Forschungs- und Ausbildungsgroßbetrieb geworden. Gelder der Rockefeller-Stiftung, die Charlotte bei einem zehnmonatigen Forschungsaufenthalt 1924/25 in den USA eingeworben hatte, erlaubten die Beschäftigung eines ständig wachsenden Stabs von Institutsassistenten, die unabhängig vom offiziellen Stellenplan in die universitäre Lehre und Forschung integriert wurden (vgl. Bühring, 2007). Die Forschungsarbeiten, die in dieser Zeit am Wiener Psychologischen Institut geleistet wurden, beeindrucken noch heute nicht nur durch ihre Produktivität, sondern vor allem auch durch ihre interdisziplinäre und internationale Ausrichtung. Allen Studien gemeinsam war die Umsetzung der Forderung nach einem Methodenpluralismus, den Karl Bühler in seinem berühmten Buch »Die Krise der Psychologie« (Bühler, 1927) wissenschaftstheoretisch begründet hatte. Danach ging es darum, die vereinzelten Perspektiven und Methoden aus der damaligen Geisteswissenschaftlichen Psychologie, der Erlebnispsychologie und dem Behaviorismus zusammenzuführen. Dies betraf auch die von Karl Bühler gegründete Österreichische Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle, an der eine noch heute bekannte Studie von Lazarsfeld organisiert und herausgebracht wurde: der »soziographische Versuch« über die Arbeitslosen von Marienthal (Lazarsfeld, 1931; Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel, 1933). Diese Untersuchung behandelt eine Fragestellung, die typisch für die Anliegen des damaligen Austro-Marxismus war : Führt die Große Wirtschaftsdepression und die mit ihr einhergehende Massenarbeitslosigkeit zu einer Radikalisierung der Arbeiterbewegung? Bringt sie eine Affizierbarkeit für reaktionäre Propaganda mit sich? Oder führt sie zur Apathie? Finanziert wurde diese Untersuchung nicht nur von der Österreichischen Arbeiterkammer, sondern logischerweise auch von der Rockefeller-Stiftung, da derartige politikrelevante Studien im Rahmen der amerikanischen Wissenschaftsförderung von ganz grundsätzlichem Interesse waren. Darüber hinaus wurde unter der Leitung von Egon Brunswik vor allem experimentelle Wahrnehmungspsychologie betrieben (Brunswik, 1934), während Karl Bühler an seiner Sprachtheorie und damit – seiner Meinung nach – an der theoretischen Grundlegung der Psychologie arbeitete (K. Bühler, 1934) (Abb. 4). Weltweit bekannt sind jedoch die entwicklungspsychologischen Arbeiten der von Charlotte Bühler geleiteten Forschergruppe in der Städtischen Kinderübernahmestelle, die umfängliche Beobachtungen an Säuglingen und Klein-

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Abb. 4: Charlotte und Karl Bühler.

kindern durchführte, um aus deren Verhalten Kriterien für den »normalen« Verlauf von Reifungsprozessen abzuleiten. Eine weitere Forschergruppe sammelte und interpretierte Tagebücher von Schülern, um Einblicke in das Seelenleben pubertierender Jugendlicher zu erhalten. Charlotte Bühler versuchte später diese in Dissertationen erarbeiteten empirischen Befunde zu einer ein-

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heitlichen Theorie der psychischen Entwicklung im Kindes- und Jugendalter zusammenzufassen (Ch. Bühler, 1928). Später wurden diese theoretischen Vorstellungen mit Hilfe von biographischen Daten weiter ausgebaut, die aus Lebensläufen gewonnen wurden (Ch. Bühler, 1933). Die hohe Attraktivität, die das Wiener Psychologische Institut in den 1920erund 1930er-Jahren auf junge Menschen aus aller Welt ausübte, spiegelt sich in vielerlei Kennziffern wider. Im Vergleich zu anderen Instituten im deutschen Sprachraum wurde eine ungewöhnlich hohe Anzahl an Dissertationen zum Abschluss gebracht: Von 1923 bis 1937 waren es durchschnittlich 13 Dissertationen pro Jahr, während es in den beiden größten deutschen psychologischen Instituten im gleichen Zeitraum durchschnittlich sieben an der Universität Leipzig und vier an der Friedrich-Wilhelms-Universität (heutigen HumboldtUniversität) in Berlin waren (vgl. Benetka, 1995, S. 54). Auch kamen die Doktorand/inn/en von weit her. Im Jahr 1937 waren sie aus 18 verschiedenen Ländern (Ch. Bühler, 1965, S. 190). Selbst hochgeschätzte und bereits etablierte Kollegen waren als Gäste vor Ort, um am Wiener Psychologischen Institut zu forschen und mitzuarbeiten, so wie der Psychoanalytiker Ren¦ Spitz (1887 – 1974) und der führende Neo-Behaviorist Edward C. Tolman (1886 – 1959). Mit dem sogenannten Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland im März 1938 wurde der Niedergang des Wiener Psychologischen Instituts eingeleitet, die vielen jüdischen Mitarbeiter verfolgt und suspendiert und Karl Bühler inhaftiert. Charlotte befand sich glücklicherweise zu dieser Zeit im Ausland. Eine zentrale europäische Ausbildungs- und Forschungsstätte für Psychologie mit Weltruf hatte damit aufgehört zu existieren.

Brigitte Rollett (Universität Wien)

Charlotte Bühler: Porträt einer anspruchsvollen Wissenschaftlerin

Charlotte Bühler wurde 1893 als erstes Kind des Königlichen Regierungsbaumeisters Hermann Malachowski und seiner Frau Rose in Berlin Charlottenburg geboren. Sie wuchs in einer wohlhabenden, gebildeten und kulturell interessierten Familie auf. Ihr Vater war ein begabter Architekt, ihre Mutter hatte Paläontologie und Archäologie studiert. Beide waren begeisterte Kunstsammler und reisten gern.

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Charlottes Kindheits- und Jugendjahre

Charlotte wurde, wie ihr Bruder Walter, der fünf Jahre später auf die Welt kam, von Ammen und Gouvernanten beaufsichtigt. In der Rückschau stellt Charlotte fest: »Ich sah mich als ein seelisch zu Hause sehr einsames Kind, weil ich zu meinen Eltern über meine Gefühle nicht sprechen konnte, mich von meiner Mutter nicht geliebt fühlte und in meinem Denken so völlig andere Wege ging als meine Eltern. […] Andererseits schufen meine Eltern einen kulturell ungeheuer reichen Hintergrund für uns Kinder.« (Ch. Bühler, 1972, S. 11). Der familiäre Hintergrund war jüdisch verwurzelt, Charlotte aber protestantisch getauft und erzogen. Vielleicht waren diese unterschiedlichen soziokulturellen Einflüsse der Grund dafür, dass sich Charlotte zu metaphysischen und religiösen Fragen sehr hingezogen fühlte. Im Konfirmationsunterricht konnte sie die Existenz Gottes allerdings nur sehr schlecht einfach gläubig hinnehmen: »… je mehr ich darüber nachdachte, erschien mir das Gebot zu glauben, anstatt zu denken, unannehmbar.« (ebd., S. 9) Ein Bedürfnis nach begrifflicher Klarheit, Unabhängigkeit des Denkens und kritischer Auseinandersetzung mit etablierten Lehrmeinungen war für Charlotte Bühler zeitlebens charakteristisch. So war es auch, als sie mit 17 Jahren die allgemein akzeptierte Darstellung über die Natur der Denkprozesse von Hermann Ebbinghaus (1850 – 1909) las. Danach kam sie zu dem Schluss, dass dies nicht richtig sein könne und nicht Assoziationen zwischen jeweils zwei Ele-

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Brigitte Rollett

menten den Denkvorgang ausmachen, sondern übergreifende Gedanken. Um dies nachzuweisen, entwickelte sie eine eigene Methode: Sie veränderte die Reihenfolge von Worten, mit denen ein Gedanke in einem Satz ausgedrückt war, und präsentierte diese sinnlosen Wortreihen ihren Versuchspersonen, die den Gedanken dann rekonstruieren mussten. Dieses Experiment sollte später die Grundlage für ihre Dissertation werden.

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Charlottes Studienjahre

Obwohl Charlottes Vater zu einem naturwissenschaftlichen Studienfach gedrängt hatte, begann Charlotte Bühler 1913 ein Studium der Psychologie und Philosophie in Freiburg i. Br. und setzte es noch im selben Jahr an der Humboldt Universität in Berlin fort. 1914 begann sie dann allerdings ein neues Studium am Lehrerseminar in Kiel, wo sie ihre große Liebe Heinz kennenlernte, mit dem sie sich im Sommer 1914 verlobte. Nach Ausbruch des 1. Weltkrieges wurde ihr Verlobter jedoch sogleich an die Ostfront eingezogen und erkrankte psychisch. Als Charlotte ihn während seiner Heilbehandlung in einem Sanatorium in Mitteldeutschland besuchte, eröffnete er ihr, dass er die Verlobung auflösen müsse. Er würde lange Zeit zu seiner Erholung brauchen und wäre deshalb auf eine fürsorgliche Frau angewiesen. Charlotte brauchte viele Wochen, um über diese Enttäuschung hinwegzukommen: »Ich fühlte nicht nur den Verlust meiner ersten Liebe, sondern auch eine Ablehnung als die Frau, die ich war.« (ebd., S. 16) Charlotte kehrte nicht mehr nach Kiel zurück, sondern setzte ihr Studium der Psychologie an der Humboldt Universität in Berlin bei Karl Stumpf (1848 – 1936) fort, um nun eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen. Sie zeigte Stumpf die Auswertung ihrer Denkexperimente, der davon so beeindruckt war, dass er ihr eine Assistentenstelle anbot. Charlotte lehnte jedoch ab, da sie fürchtete, Stumpfs theoretische Position übernehmen zu müssen, von der sie nicht überzeugt war. Im Gegensatz zu Stumpf sah sie in den Denkvorgängen nicht nur eine kognitive Leistung, sondern den Zugang zum Verständnis des menschlichen Lebens überhaupt, und war davon überzeugt, aus dieser Perspektive zu einer neuen ganzheitlichen Theorie des Denkens vorstoßen zu können (ebd., S. 17). Stumpf empfahl Oswald Külpe (1862 – 1919) in München, da dessen wissenschaftliche Position Charlottes theoretischen Vorstellungen eher entspräche. Im Herbst 1915 begann Charlotte ihre Arbeit am Münchener Psychologischen Institut und erhielt sogar einen eigenen Experimentierraum, der neben Külpes Arbeitszimmer lag. Külpe erlag jedoch noch im selben Jahr einem Herzinfarkt. Die interimistische Vertretung von Külpes Professur wurde jetzt dem jungen Ao.-Prof. Karl Bühler übertragen, der zu diesem Zweck vom Kriegsdienst zu-

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rückberufen worden war. Karl interessierte sich vom ersten Augenblick an für die attraktive junge Wissenschaftlerin, die ihr Büro neben dem seinen hatte: »Karl kam täglich in mein Experimentierzimmer, zeigte großes Interesse am Fortschritt meiner Arbeit, sagte aber auch, dass die theoretische Durchdringung […] viel zu schwer für mich sei und dass er mir helfen wolle. Ich antwortete […] dass ich die Dinge jedoch allein durchdenken wolle.« (ebd., S. 18) Dies führte dazu, dass Karl seine Taktik radikal änderte und in die Offensive ging: An einem Samstagnachmittag, als Charlotte gerade mit einer Milchkanne auf dem Heimweg war, bot Karl ihr Hilfe beim Tragen an. Im Englischen Garten aber »… stellte Karl an einem großen Baum die Milchkanne auf die Erde und erklärte mir, dass er mich heiraten wolle. Ich war sprachlos […] Karls Persönlichkeit war mir ungeheuer sympathisch, aber jeder, der die Ehrfurcht damaliger deutscher Studenten vor ihren Professoren kennt, kann verstehen, wie fern mir, der jüngsten Studentin des Instituts, die Idee der Verheiratung mit dem das Institut leitenden Professor, einem so viel älteren Manne, lag.« (ebd., S. 19). Karl war damals 37 Jahre alt, Charlotte gerade 22. Schon am 4. April 1916 heiratete das Paar in Berlin. Von den einflussreichen Professorenfrauen der Münchener Gesellschaft wurde Charlotte allerdings als die junge Studentin, die einen Professor geheiratet hatte, abgelehnt, die noch dazu mit ihm wissenschaftlich zusammenarbeitete, was sich für eine Professorenfrau nach deren Verständnis nicht schickte. Ungeachtet dessen standen in der gemeinsamen Wohnung in Schwabing »… zwei große Schreibtische im Wohnzimmer nebeneinander. […] Dies symbolisierte von Anfang an Karls Auffassung von unserer Beziehung einer ›companionship marriage‹…« (ebd., S. 20 f.) In Schwabing arbeitete Charlotte nun auch weiterhin konzentriert an ihrer Dissertation, wurde aber schon bald schwanger und brachte 1917 Ingeborg zur Welt. Da Charlottes Eltern die junge Familie finanziell großzügig unterstützten (Karl kam aus sehr einfachen Verhältnissen), konnte sich die junge Familie Personal für Haushalt und Kinderbetreuung leisten und Charlotte ihre wissenschaftliche Arbeit fortsetzen. Ihre Dissertation (Ch. Bühler, 1918a) schloss sie 1918 erfolgreich an der Universität München bei Erich Becher (1882 – 1929) mit der Bewertung »summa cum laude« ab.

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Die wissenschaftliche Laufbahn

Als 1918 Karl Bühler einen Ruf an die Technische Universität Dresden erhielt, folgte Charlotte ihm nach, wieder schwanger. Noch im selben Jahr erschien ihr Buch »Das Märchen und die Phantasie des Kindes« (Ch. Bühler, 1918b). Sie brachte Wolf-Dietrich 1919 zur Welt und habilitierte sich 1920 bei dem bekannte Literaturforscher Oskar Walzel (1864 – 1944) mit einer Schrift über »Entde-

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Brigitte Rollett

ckungen und Erfindungen in Literatur und Kunst«. An der TU Dresden wurde sie nun als erste Frau in Sachsen zur Privatdozentin ernannt. Das nachfolgende Forschungs- und Publikationsprojekt, das Charlotte in Angriff nahm, kam auf einem Umweg zustande: Karl Bühler hatte aufgrund der zunehmenden Jugendkriminalität einen staatlichen Forschungsauftrag über die Psychologie von Jugendlichen übernommen, den er an Charlotte weitergab. Sie erprobte hier die Methode der qualitativen Analyse von Tagebüchern und veröffentlichte das Buch »Das Seelenleben des Jugendlichen: Versuch einer Analyse und Theorie der psychischen Pubertät« (Ch. Bühler, 1922). Das Buch wurde mit großer Resonanz aufgenommen, genügte jedoch den theoretischen Ansprüchen Charlottes nicht: »Ich selbst war nicht mit mir zufrieden, weil ich fühlte, dass dieses Buch nicht auf der von mir angestrebten theoretischen Höhe stand.« (Ch. Bühler, 1972, S. 23) Um die anspruchsvollen Forschungsprogramme umsetzen zu können, die sich Charlotte vorstellte, war eine eigene Forschungsgruppe notwendig. Dies wurde mit der Berufung Karls auf das Ordinat für Philosophie an der Universität Wien 1922 möglich. Charlotte kam 1923 mit ihren zwei Kindern und einer Gouvernante nach Wien und erhielt eine Assistenzstelle, die allerdings die Stadt Wien finanzierte. Die Venia legendi der TU Dresden wurde von der Universität Wien anerkannt, ihre Ernennung zur Außerordentlichen Professorin erfolgte allerdings erst im Jahr 1929. Fortwährend engagiert, half Charlotte ihrem Ehemann beim Aufbau des Psychologischen Instituts: »… damals in den 1920 und 1930 Jahren bauten wir unser persönlich und beruflich glückliches Reich. […] Wien ist dann auch meine zweite, vielleicht meine eigentliche Heimat geworden.« (ebd., S. 24 f.) (Abb. 5) Als Stipendiatin der Rockefeller Foundation nutzte Charlotte 1924/25 einen zehnmonatigen Forschungsaufenthalt in den USA, um mit der US-amerikanischen Forschung vertraut zu werden. Die nachfolgende Zuerkennung einer finanziellen Forschungsbeihilfe der Rockefeller Foundation über 10 Jahre ermöglichte ihr schließlich, den Mitarbeiterstab am Wiener Psychologischen Institut nachhaltig zu erweitern und das eigene Forschungsprogramm in Angriff zu nehmen. Schon 1931 legte Charlotte Bühler eine Liste von 80 Untersuchungen vor, an denen nicht weniger als 62 Forscher/innen beteiligt gewesen waren. Prominente Mitglieder dieser Forschungsgruppe waren Hildegard Hetzer (1899 – 1991), die mit Studien über Kindheit und Armut begann und zur wichtigsten Mitarbeiterin beim Wiener Kleinkindertest wurde, sowie Lotte Schenk-Danzinger (1905 – 1992), die sich mit Fragen der Schulreife und der Beziehung zwischen Pflegemutter und Pflegekind befasste. Paul Lazarsfeld (1901 – 1976) fungierte schließlich als Statistiker des Instituts. Sein Beitrag zur entwicklungspsychologischen Forschung bestand in der Untersuchung der sozialen Bedingtheit von Entwicklungsphänomenen. Die gemeinsam mit Marie

Charlotte Bühler: Porträt einer anspruchsvollen Wissenschaftlerin

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Abb. 5: Charlotte Bühler als junge Hochschullehrerin.

Jahoda (1907 – 2001) und Hans Zeisel (1905 – 1992) durchgeführten Studien über die Arbeitslosen von Marienthal wurden zu einem Klassiker der empirischen Sozialforschungen (Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel, 1933). Zudem befasste sich die Mathematikerin und Physikerin Else Frenkel-Brunswick (1908 – 1958) mit biographischen Studien im Rahmen der Lebenslaufforschung Charlotte Bühlers, ein Zugang, den sie später in ihre Forschungsarbeiten mit Theodor Adorno (1903 – 1969) über die Entwicklung der »autoritären Persönlichkeit« einbringen konnte. Die wissenschaftliche Atmosphäre in dieser Forschungsgruppe war beispielhaft. Jeder der Mitarbeiter war in seinem Sondergebiet tätig und trug gleichzeitig zur Theorie einer Kinder- und Jugendentwicklung bei, die in wenigen Jahren erarbeitet und 1928 als »Kindheit und Jugend: Genese des Bewusstseins« (Ch. Bühler, 1928) veröffentlicht wurde. Das ausgezeichnete soziale Miteinander am Wiener Psychologischen Institut wurde vor allem Karl Bühler zugeschrieben, der immer aufgeschlossen, fröhlich, freundlich und gelassen war und für die Arbeiten seiner Assistenten und Doktoranden stets auch persönliches Interesse zeigte (Schenk-Danzinger, 1984). An jedem Mittwochabend gab es ein Forschungskolloquium, bei dem Assistenten, Doktoranden und Studenten der höheren Semester, aber auch Kollegen, Freunde und Gäste über die Forschungsarbeiten des Instituts diskutierten: »Zum Kolloquium eingeladen zu werden, war eine Auszeichnung, der man entgegenfieberte.« (ebd., S. 91) Anschließend fand dann ein gemütliches Beisammensein mit Tanz im »Hotel Regina« statt (Abb. 6). Die Machtübernahme durch die Nazis 1938 führte zu einem jähen Ende des

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Brigitte Rollett

Abb. 6: Charlotte Bühler 1937.

Wiener Psychologischen Instituts. Karl Bühler wurde verhaftet, da er es ablehnte, sich von seiner jüdischen Frau zu trennen. Charlotte befand sich glücklicherweise gerade auf einer Vortragsreise. Nach einem halben Jahr hatte sie es schließlich erreicht, dass sie mit Karl in die USA ausreisen konnte. Der Neubeginn in den USA war allerdings äußerst schwierig. Unterschiedlichste Zwischenstationen und Beschäftigungsverhältnisse (u. a. in Minnesota/ Massachusetts und New York City) ermöglichten den Bühlers das Überleben. Obwohl Karl an verschiedenen wissenschaftlichen und/oder praxisbezogenen Institutionen Anstellungen bekam, konnte er seine Forschung nicht fortsetzen. Mit seinen Auffassungen fand er keinen Anschluss an die behavioristisch geprägte amerikanische Forschung (Ch. Bühler, 1972, S. 39). Charlotte gelang es dagegen, sich konstruktiv mit den neuen Anforderungen auseinanderzusetzen, ihrem Leben und Schaffen in den USA eine neue Richtung zu geben sowie ihre wissenschaftliche Arbeit konsequent fortzusetzen. Sie nahm Anstellungen an den verschiedensten wissenschaftlichen und praxisbezogenen Institutionen an und engagierte sich bei der Entwicklung der Humanistischen Psychologie, die auch zur Grundlage ihrer therapeutischen Arbeit wurde. Im Jahr 1951 begannen mit der Veröffentlichung von »Maturation and Motivation« (Ch. Bühler, 1951) ihre klinisch fundierten Publikationen, gefolgt von »The Reality Principle« (Ch. Bühler, 1954) und »Basic Tendencies of Human Life« (Ch. Bühler, 1959), immer in der Hoffnung, dass »… wenn Amerika sich endlich durch die Psychoanalyse durchgearbeitet haben würde, auch meine eigenen Ideen eine Chance haben (könnten)« (Ch. Bühler, 1972, S. 37). Zusammen mit Abraham Herold Maslow

Charlotte Bühler: Porträt einer anspruchsvollen Wissenschaftlerin

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(1908 – 1970) und Kurt Goldstein (1878 – 1965) gründete sie in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre die »Gesellschaft für Humanistische Psychologie«, deren Präsidentin sie 1965 wurde. Da lebte sie schon allein; Karl Bühler hatte sie im Oktober 1963 für immer verlassen.

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Wissenschaftliche Zugänge – Wissenschaftliche Ergebnisse – Praktische Anwendungen

Ein zentrales Anliegen von Charlotte Bühlers entwicklungspsychologischer Forschung war es zunächst, empirisch gestützte Theorien zu entwickeln und deren Theoreme stringent voneinander abzuleiten. Infolgedessen erfüllten sich ihre wissenschaftlichen Ansprüche mit jeder Forschungsarbeit und deren Veröffentlichung immer etwas mehr : »Erst mit dem Buch ›Kindheit und Jugend‹ (1928) war ich überzeugt, theoretisch adäquat denken zu können und erst mit meiner Theorie der menschlichen Entwicklung (1932) und meinen späteren theoretischen Diskussionen des Realitätsprinzips (1954) und der Grundtendenzen des Lebens (1959) glaubte ich, theoretisch Grundlegendes gefunden zu haben.« (Ch. Bühler, 1972, S. 24) Ihre ersten empirischen Arbeiten profitierten von der Wiener Kinderübernahmestelle, die eine Quarantäneeinrichtung für Kinder war, die in Pflegefamilien oder andere Einrichtungen vermittelt werden sollten, und ihr als Forschungsstätte von der Stadt Wien zur Verfügung gestellt worden war. Zunächst ging es Charlotte Bühler darum, eine solide Basis für ihre Theorienbildung durch die Ermittlungen relevanter Kategorien des kindlichen Verhaltens zu schaffen. Umfangreiche 24 Stunden Dauer-Beobachtungen einzelner Verhaltensweisen der Kinder in der Kinderübernahmestelle erfolgten zu diesem Zwecke vom Gang aus (Abb. 7). Die Beobachtungstechnik musste gelernt werden. »Immer eine Gruppe [von Studierenden; Anm. d. Verf.] zusammen mit einer Assistentin protokollierte eine bestimmte Situation während eines vorher festgelegten Zeitraumes. Eine Person war mit einer Stoppuhr bewaffnet und sagte nach Ablauf einer Minute ›Strich‹. Dann machten alle einen Strich und protokollierten die nächste Minute. Anschließend wurden die Protokolle verglichen.« (Schenk-Danzinger, 1984, S. 89) Charlottes großes Interesse an den Reaktionen von Säuglingen und Kleinkindern rührte von der Hoffnung, »die Grundtendenzen des Lebens verstehen zu lernen« (Ch. Bühler, 1972, S. 28). Die Beobachtung von einzelnen Verhaltensweisen ergänzte Charlotte nach ihrem Forschungsaufenthalt in den USA durch die Hinwendung zu Verhaltenskomplexen. Sie hat damit »… statt wie Watson und Gesell Reflexhandlungen zu studieren, […] die Methode der Be-

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Abb. 7: Beobachtungsmöglichkeiten in der Städtischen Kinderübernahmestelle: Säuglingsabteilung vom Wirtschaftsgang aus gesehen.

obachtung des Gesamtverhaltens eines Kindes entwickelt« (ebd., S. 26). In dem hinteren Zimmer einer New Yorker Diätküche, wo bedürftige Familien mit Kleinkindern kostenlos Milch erhielten, untersuchte sie, wie Kleinkinder miteinander interagieren. Während die Mütter in einer Schlange warteten, bis sie ihre Milch bekamen, hatte Charlotte jeweils zwei Kinder in ein Laufgitter gesetzt und ihre komplexen Interaktionsmuster beobachtet. Im Jahre 1928 erschien das Buch »Kindheit und Jugend« (Ch. Bühler, 1928), das erstmalig die Entwicklung in der Kindheit und im Jugendalter als Einheit darstellte. Da ihr jedoch die frühkindliche Entwicklung als alleiniges Erklärungsmodell für die Entwicklung im Erwachsenenalter zu reduktionistisch erschien, begann sie, Biographien systematisch zu untersuchen. Die Ergebnisse dieses neuen Forschungszugangs wurden 1933 als »Der Menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem« (Ch. Bühler, 1933) veröffentlicht. Es war für sie unbedingt erforderlich geworden, »aus dem Ganzen und vor allem vom Ende des menschlichen Lebenslaufes her zu erfassen, was Menschen eigentlich letztlich im Leben wollen und wie bis zu diesem Letztlichen hin ihre Ziele gestaffelt sind« (Ch. Bühler, 1933, S. VII). Auch sollten die entwicklungspsychologischen Theorien und Methoden in

Charlotte Bühler: Porträt einer anspruchsvollen Wissenschaftlerin

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der Beratungspraxis Anwendung finden. Eine Gelegenheit dazu bot die Aufforderung der Parents Association in London, das Konzept einer psychologischen Beratungsstelle für Kinder und Eltern zu entwickeln. 1935 wurde Charlotte Bühler Direktorin des neu gegründeten »Parents Institute« in London, eine Position, die zwei Aufenthalte jährlich erforderte. Im Dezember 1936 erfolgte dann die Gründung einer ähnlich arbeitenden Beratungsstelle in Wien, die auch Studierende in die kinderdiagnostische und therapeutische Arbeit einführte. Diese Möglichkeit praxisorientierter Ausbildung war so überzeugend, dass sie später auch in das Studium der Psychologie an der Universität Wien einging und sich bis in die Gegenwart bewährt hat.

Klaus Grossmann (Universität Regensburg)

Facetten der Entwicklungspsychologie Charlotte Bühlers

Charlotte Bühler (1893 – 1974) ist wohl die profilierteste deutschsprachige Entwicklungspsychologin. Sie stellte zu Beginn des 20. Jahrhunderts den vorherrschenden romantischen und hermeneutischen Betrachtungen kritische empirische und experimentelle Untersuchungen entgegen. Sie brillierte, besonders später in ihrem Leben, durch eine große Breite profunden Wissens und durch kluge Interpretation psychologischer Zusammenhänge. Charlotte Bühler kam 1923 nach Wien und musste 1939 wegen ihrer jüdischen Herkunft mit ihrem Ehemann Karl Bühler (1879 – 1963) vor den Nazis fliehen. Die oft als »Goldene Epoche« bezeichneten Jahre der Entwicklungspsychologie waren damit zu Ende. Charlotte Bühlers Wirken hat jedoch unter der Teilhabe von Karl Bühler in dieser relativ kurzen Zeit wesentliche und wirksame Grundlagen in der Entwicklungspsychologie geschaffen. Das lag nicht zuletzt an Charlottes Begabung, Indizien, Wissenselemente und experimentelle Ergebnisse in anschaulich nachvollziehbare und überprüfbare Zusammenhänge einzubetten. Es ist ihr hervorragend gelungen, durch gut lesbare und sprachlich verständliche Darstellungen ihrer Forschungsfakten mit nachprüfbaren Evidenzen zu überzeugen und mit einer stimmigen Interpretation der Zusammenhänge zu neuen prüfenswerten wissenschaftlichen Hypothesen anzuregen.

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Das Zusammenspiel von Beobachtungen und experimentellen Zugängen in der Kleinkindforschung

Charlotte Bühlers Klugheit offenbarte sich vor allem in ihren frühen Untersuchungen des Ausdrucksverhaltens kleiner Kinder sowie in ihren späteren wissensfundierten Darstellungen über entwicklungspsychologische Zusammenhänge. Ein kurzer Rekurs auf ausgewählte Arbeiten während ihres Lebens belegt dies. Ihre Dissertation schreibt sie im Jahre 1918 über Gedankenentstehung (Ch. Bühler, 1918a). Im selben Jahr veröffentlicht sie auch »Das Märchen und die

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Klaus Grossmann

Phantasie des Kindes« (Ch. Bühler, 1918b). Danach schrieb sie über »Das Seelenleben des Jugendlichen« (Ch. Bühler, 1922). Diese produktive Auseinandersetzung umspannte eine Thematik, die auch unter den heute sich ständig verändernden Lebensbedingungen an Aktualität nichts eingebüßt hat. In Wien arbeitet Charlotte Bühler experimentell und veröffentlicht u. a. zusammen mit Hildegard Hetzer »Das erste Verstehen von Ausdruck im ersten Lebensjahr« (Ch. Bühler & Hetzer, 1928) und »Die Affektwirksamkeit von Fremdheitseindrücken im ersten Lebensjahr« (Bühler, Hetzer & Mabel, 1928). In diesen Arbeiten zeigte sich besonders gut ihre Geschicklichkeit, Beobachtung und experimentelle Zugänge zu vernetzen. Rund um die Uhr wurden in der Kinderübernahmestelle Gefühlsäußerungen und Intentionen von Kindern im Alter von 1 – 12 Monaten (jeweils 5 – 7 Kinder pro Altersstufe) beobachtet. 40 % der Kinder kamen aus Familien, 60 % aus der Kinderübernahmestelle. Experimentell variiert wurden dabei Umgebungsstimuli und Reizdarbietungen. Im Ergebnis ließ sich zeigen, dass vertraute Reize, die verfremdet wurden, wirksamer als neue, unvertraute Reize waren. Auch schien die Reihenfolge der Darbietung wichtig: Reaktionen auf simulierten Ausdruck von Gesicht, Stimme, Gestik konnten als zunehmendes Verstehen von Intentionen beschrieben werden, die bald durch reflektorische Übertragung ersetzt wurden. Angst vor Wechsel (»Diskrepanz«) der Reize wurde ebenfalls erfasst und das Mitschreien der Babys auf verschiedene Reize bis zum zweiten Lebensmonat registriert, um weiterhin festzustellen, dass es danach soziale Bedeutung erlangt. Ab dem achten Lebensmonat konstatierte Charlotte Bühler in der kindlichen Entwicklung bereits ein erwachendes mentales Bewusstsein (Bühler & Hetzer, 1928). Im Jahr 1929 erscheint eine Schrift »Zur Geschichte der Kinderpsychologie« (ebenfalls mit Hildegard Hetzer), die sie ihrem Ehemann Karl Bühler zum 50. Geburtstag widmet, der als Wissenschaftler und Gelehrter in der Psychologie bereits fest etabliert und hoch geschätzt war. In dieser Schrift wird das empirisch-experimentelle Vorgehen in Charlottes Arbeiten begründet, das »gemessen an dem Ungefähr und Allerlei der früheren pädagogisch-psychologischen Bestrebungen mit Schärfe und Klarheit auf das detaillierte Problem und das präzise Ergebnis hinsteuer[t]« (Ch. Bühler & Hetzer, 1929, S. 223). Bühler und Hetzer (1929) konzedierten gleichzeitig aber auch, dass es unzureichend sei, die Entwicklung psychologischer Anpassungen auf einzelne Variablen zu reduzieren, da dies zunächst mit »eine[r] außerordentliche[n] Überbetonung des Kausal-Mechanischen und des Zufällig-Einzelnen verbunden« (ebd., S. 223) sei. Allerdings verteidigten sie ihr experimentelles Vorgehen und empfanden sich dem reduktionistischen Vorgehen »nie in der Weise erlegen, daß sie nicht stets auch das Ganze und den Sinn im Auge behielten, nur setzte ihre experimentelle und Beobachtungsarbeit beim Detail, weitgehend unabhängig von seiner zunächst sehr unbekannten Rolle im Ganzen, an« (ebd., S. 223).

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Karl Bühler hatte sich da schon längst von der aus seiner Sicht wissenschaftsfeindlichen Psychoanalyse abgewendet und die Biologie als Mutterwissenschaft angenommen. Seine Biologie war die von Charles Darwin, nämlich Anpassung und Selektion, die Karl Bühler in der ontogenetischen Betrachtung als individuelle, adaptive und gestalterische Lebensleistung verstand. Diese Biologie war nicht verengt auf biologische und physiologische Mechanismen, die den Anpassungen des Lebendigen zu Grunde liegen, sondern schloss diese ein. In »Zur Geschichte der Kinderpsychologie« (Ch. Bühler & Hetzer, 1929) kritisierte Charlotte Bühler jedoch eine Betrachtungsweise, die die menschliche Leistung zu sehr in den Mittelpunkt der Lebensbewältigung stelle und andere menschliche Aktivitäten dabei außer Acht lasse, die ebenfalls dazu führen würden. Konsequenterweise stellte Charlotte Bühler wenig später ihre eigenen entwicklungspsychologischen Visionen in »Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem« (Ch. Bühler, 1933) vor, die u. a. eine Sammlung von Biographien und Autobiographien bedeutsamer Persönlichkeiten enthält, aber in Kontrast dazu auch Lebensgeschichten einfacher Leute betrachtet. Mit einer Orientierung auf Alter und Altern entwirft sie eine Psychologie der Lebensspanne und ist damit oft auch als frühe Gerontopsychologin angesehen worden.

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Menschliche Beziehungen als Grundlage humanistischer Orientierungen

In der Emigration konzipiert Charlotte Bühler eine Humanistische Psychologie, in die sie ihre entwicklungspsychologischen Vorstellungen einbettete (Ch. Bühler, 1965; Bühler & Massarik, 1965). Zusammen mit Fred Massarik gibt sie einen Band über »The Course of Human Life. A Study of Goals in the Humanistic Perspective« heraus und setzt sich für eine humanistische Orientierung in der Psychologie ein. Auch ihre sehr erfolgreichen populären deutsch-sprachigen Bücher aus den 1960er-Jahren »Psychologie im Leben unserer Zeit« (Ch. Bühler, 1962) und »Wenn das Leben gelingen soll. Psychologische Studien über Lebenserwartungen und Lebensereignisse« (Ch. Bühler, 1969) zeugen von ihrem humanistischen Geist, dem profunden psychologischen Wissen und der Fähigkeit zur Darstellung stimmiger, empirisch-fundierter und psychologisch kohärenter Zusammenhänge, die ein visionäres und werteorientiertes Potenzial haben (Abb. 8). Diese Ausführungen basieren jetzt im Wesentlichen auf ihrer therapeutischen Tätigkeit. Charlotte Bühlers wissenschaftliches Gesamtwerk enthält zweifelsohne eine bio-psycho-soziale Perspektive auf die menschliche Entwicklung. Die biologi-

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Klaus Grossmann

Abb. 8: Charlotte Bühlers erfolgreiche Publikationen der 1960er-Jahre.

schen Perspektiven werden dabei in physiologische Wachstumsprozesse gefasst, die psychologischen Perspektiven im Lebenslauf als subjektives Erleben reflektiert, während in die sozialen Perspektiven vielschichtige biografisch-soziologische Betrachtungen eingehen und als äußere Vorgänge, Ereignisse, Produkte und Werke zu finden sind. Ihre Schülerin Lotte Schenk-Danzinger (1905 – 1992) sagt, dass es Charlottes Anspruch war, »Ziel und Sinn des Lebens in der Welt und im Universum« zu erfahren. Einen »Sinn des Lebens« sah Charlotte Bühler in der Selbstverwirklichung. Diese wiederum beschrieb sie als Erfüllung des menschlichen Lebenslaufs durch Lebensziele, die ein Zusammenspiel zwischen Bedürfnisbefriedigung (Entspannung, Wohlbehagen und Glück), selbstbeschränkende Anpassung (Einschränkung, Zugehörigkeit und Sicherheit), schöpferische Expansion (schöpferisches Handeln, Expansion und Transzendenz) und Aufrechterhaltung der Ordnung (Einordnung, Selbstversorgung und Seelenfrieden) schaffen (Ch. Bühler, 1969). In Charlotte Bühlers Entwicklungspsychologie ist menschliches Handeln auf Ziele hin ausgerichtet, die Werte darstellen und die sinnvoll sind. Danach bilanzieren Menschen ihr Leben durch Glück, Lebensumstände, Leistung und moralische Selbstbewertung. Ein befriedigendes Leben habe deshalb Höhen und Tiefen. Selbstverwirklichung sei nicht Schicksal, sondern geschieht durch eigenverantwortliches Wählen und

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Entscheiden der vier Grundtendenzen des Lebens: Bedürfnisbefriedigung, selbstbeschränkende Anpassung, schöpferische Expansion und Aufrechterhaltung der Ordnung, denen sich die Menschen bewusst seien. Charlotte Bühler hat mit diesen Konzepten eine Fülle von Erfahrungen stimmig ordnen können. Allerdings gibt es vielfach auch Lebensumstände, in denen individuelles eigenverantwortliches Wählen und Entscheiden weder hinreichend entwickelt noch möglich sind, und deshalb unbeachtet bleiben. In ihren Fallbeispielen zeigt sich das, und man kann sich fragen: Was aber hat sie daran gehindert, die kritische Rolle der Mutter und des Vaters als Bindungspersonen und Grundlage der eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Entwicklung eines Kindes zu erkennen? Denn ein Großteil der Kleinkinder wurde ohne ihre Mütter und anderer wichtiger Bezugspersonen in der Wiener Kinderübernahmestelle beobachtet. Selbst Ren¦ Spitz (1887 – 1974) hatte als Psychoanalytiker den Mangel erkannt und den Stellenwert von Bezugspersonen bei seinen Beobachtungen von allein gelassenen Kindern begriffen und die Lücke schließen wollen. Oder John Bowlby (1907 – 1990), der in der Psychoanalyse zwar ein Interesse an der frühen Kindheit fand, jedoch keine wissenschaftliche Orientierung für deren grundlegende Bedeutung im menschlichen Lebenslauf, während in der Psychologie wissenschaftliche Orientierungen vorhanden waren, aber kein Verständnis für die Angewiesenheit von Kindern auf eine vertrauensbildende Umwelt. Die Konsequenz aus dieser 1950er-Jahre-Situation war für Bowlby, Beziehungen und Bindungsmuster in der Evolutionsbiologie aufzusuchen und gemeinsam mit Mary Ainsworth (1913 – 1999) die Entwicklung eines Kindes in Beziehungsstrukturen zu untersuchen. Erst viel später wurde in Charlottes Werken deutlich, dass auch sie Beziehungskontexte in der Entwicklung von Kindern als zentral ansah.

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Persönliche Reminiszenzen

Nach 11 Jahren Forschung in Wien wurden die Arbeiten auf dem International Congress of Psychology in Paris im Jahr 1937 in Begleitung von 30 Doktorand/ inn/en präsentiert. Es war das letzte glückliche Jahr. Vom Einmarsch der Nationalsozialisten 1938 überrascht, wurde Karl Bühler verhaftet. Charlotte befand sich zu dieser Zeit gerade auf einer Reise, die sie von London über mehrere Zwischenstationen nach Norwegen führte. Von dort aus konnte sie Karl aus der Haft befreien und ihrer beider Ausreise nach den USA arrangieren. Erst nach dem Ende der Nazi-Diktatur konnten die Bühlers Deutschland und Österreich wieder besuchen. Als junger Student habe ich beide Bühlers 1957 in Hamburg auch persönlich erlebt. Sie waren auf dem Weg zum 21. Kongress der Deutschen Gesellschaft für

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Psychologie in Bonn, auf dem Karl Bühler zum Ehrenpräsidenten ernannt und ihm die Wilhelm-Wundt-Medaille verliehen wurde. Ihre Auftritte erschienen mir so, wie es Jahre später einmal als »The Giant and the First Lady« (Reinert, 1974) beschrieben wurde: Karl Bühler, bereits ein gebrechlicher älterer Herr, etwas schmächtig und hilfsbedürftig, sprach über die Orientierung von Staren an Sternenbildern; ein biologisches Thema, dessen Bedeutung ich erst später entdeckte, als ich mich mit den biologischen Vorgaben und Grenzen adaptiven Verhaltens bei Tier und Mensch beschäftigte. Charlotte, eine gestandene ältere Dame in US-amerikanischer Aufmachung und mit in Deutschland damals noch ungewohntem Make-up und großen Klunkern an den Ohren, sprach über Humanistische Psychologie und Lebenslauf (Abb. 9); ein mir ebenfalls damals noch völlig neues psychologisches Thema.

Abb. 9: Charlotte Bühler zur Zeit des 21. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) 1957 in Bonn (Portrait von 1958).

Die damals ungewöhnlichen Forschungszugänge einer differentiellen und auf den Lebenslauf orientierten Betrachtung von Entwicklung gelten jedoch auch heute noch als vorbildlich, auch wenn sich die Akzente verändert haben. Charlotte Bühlers Verständnis von menschlicher Entwicklung führte sie von den Verhaltensweisen kleiner Kinder über die Jugendlichen und deren Tagebücher zu den Erwachsenen und deren Biografien und persönlichen Lebenszielen. Schlussendlich handelte es sich bei Charlotte Bühler um eine Entwicklungspsychologie der gesamten Lebensspanne unter Verwendung biografischer Techniken aus der Sicht eines weltlichen Humanismus. Dieses Lebenswerk erlitt jedoch einen Bedeutungsverlust, der auch auf die politischen Ereignisse und den damit verbundenen abnehmenden Einfluss der deutschen Sprache (gegenüber der englischen) in der psychologischen Forschungsliteratur zurückgeführt

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werden kann. Immerhin waren 1910 noch 52 % der westlichen Literatur in Psychologie und Soziologie auf Deutsch erschien, im Jahr 1920 war es nur noch 23 % und in den 1990er-Jahren war dieser Anteil schließlich auf 3,6 % gesunken (Magai & McFadden, 1995). Psychologisches Wissen im Dienste eines gelingenden Lebens bedarf heute mehr denn je der klugen Herangehensweise von Charlotte Bühler (Grossmann, 2014). Sie hat Orientierungen und Lebensnähe durch lebensnahe Darstellungen psychologischer Forschungsergebnisse befördert, die durch überprüfbare Fakten fundiert wurden, wie sie bereits im 14. Jahrhundert im Sparsamkeitsprinzip des Wilhelm von Ockham formuliert worden waren (auch bekannt als »Ockhams Rasiermesser«). Heute gibt es erfreuliche Parallelen zu Charlotte Bühlers Visionen in der Tradition der Bindungsforschung, wie sie Lieselotte Ahnert in ihrem Arbeitsbereich Entwicklungspsychologie an der Universität Wien betreibt: Die Entwicklung der Organisation von Gefühlen in Beziehungen zwischen Eltern, Säuglingen und Kindern als Teil der Identität im Rahmen eines individuellen Lebenslaufs (vgl. Ahnert, 2005, 2010a/b, 2014; Ahnert & Spangler, 2013). Diese Tradition beruht auf einem gleichermaßen umsichtigen Vorgehen, das durch physiologische Vorgänge und Prozesse sowie biologische Verhaltenstendenzen der geteilten Aufmerksamkeit und Beziehungsherstellung ergänzt wird. Dieses Vorgehen ist in thematisch relevanten Bezugsrahmen beobachtend und experimentierend angelegt und wird in sprachlich klaren und präzisen Beschreibungen interpretiert. Charlotte Bühler hätte sich darüber sicher gefreut.

Retrospektive: Charlotte Bühler und ihre Zeit

Rundtischgespräch im Roten Salon der Bartensteingasse 9 in Wien. Es diskutieren Gerhard Benetka, Klaus Grossmann und Brigitte Rollett. Moderation: Lieselotte Ahnert. (Abb. 10)

Abb. 10: Abschlussdiskussion bei der Abendveranstaltung »Retrospektive: Charlotte Bühler und ihre Zeit« in der Bartensteingasse 9 im 1. Wiener Gemeindebezirk anlässlich der Festtage »90 Jahre Entwicklungspsychologie in Wien«.

Lieselotte Ahnert: Charlotte Bühler erscheint uns heute als eine kluge, aber auch äußerst eigenwillige Person, die »selbst denkend sein« und sich nichts von ihrem Mann vorschreiben lassen wollte. Deshalb ist meine erste Frage: Ist es möglich, dass Charlotte theoretische Auffassungen vertrat, die ihr Mann nicht entwickelt hatte, oder sogar dessen Denken entgegenstanden? Karl Bühlers Entwicklungstheorie, die vom Instinkt ausging und über die Dressur zum Intellekt

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Retrospektive: Charlotte Bühler und ihre Zeit

führte, ist in den Schriften von Charlotte Bühler nie wirklich rezipiert worden. Ist irgendetwas darüber bekannt, ob sie versucht hat, diese Entwicklungstheorie nachzuweisen, sie auszuweiten oder sich gar von ihr zu distanzieren? Gerhard Benetka: Karl Bühler hat diese entwicklungstheoretischen Vorstellungen in einem Buch über »Die geistige Entwicklung des Kindes« ausgeführt (K. Bühler, 1918). Das Buch war in den Grundzügen schon 1914 fertiggestellt, wurde jedoch wegen des Krieges erst 1918 publiziert. In diesem Buch wird eigentlich bereits das vorweggenommen, was Konrad Lorenz (1903 – 1989) dann später erkenntnistheoretisch ausgearbeitet hat. Es geht dabei um eine evolutionäre Begründung von Entwicklung, im Grunde genommen um eine evolutionäre Erkenntnistheorie. Dieses Buch ist wirklich großartig, weil es auch zeigt, wie wichtig der Darwinismus und das evolutionsbiologische Denken für Karl Bühler waren. In Wirklichkeit handelt es sich dabei um philosophische und keine psychologischen Auseinandersetzungen; und von daher führt von »Der geistigen Entwicklung des Kindes« kein direkter Weg zur Entwicklungspsychologie. Charlotte Bühler setzt dagegen neu an. Sie ignoriert den philosophischen und wissenschaftstheoretischen Hintergrund dieser Betrachtungen und geht evidenzbasiert vor. Sie lässt sozusagen ihre empirischen Untersuchungen wirken. Lieselotte Ahnert: Karl Bühler hatte sich auch deutlich gegen den Behaviorismus positioniert und Zweifel an der Psychoanalyse geäußert. Im Gegensatz dazu ging Charlotte in die USA, um den Behaviorismus zu studieren, als Emigrantin wendete sie sich später in ihren klinischen Arbeiten der Psychoanalyse zu. Zeigt dies nicht die Haltung und das Durchsetzungsvermögen einer Person, die entgegen den Ansichten ihres Mannes agiert, der älter, aber auch berühmter war und sie lange Zeit überstrahlte? Gerhard Benetka: Tatsächlich hat sich Charlotte Bühler während ihres Aufenthaltes in den USA sehr für die empirischen Methoden des Behaviorismus interessiert, für die Methode der Verhaltensbeobachtung. Von diesem Studienaufenthalt hat sie sehr viel mitgebracht. Der Einfluss von Karl Bühler war jedoch weiterhin groß. Woran sie die theoretische Interpretation ihrer empirischen Befunde orientierte, war eben nicht der Behaviorismus und dessen Unterscheidung zwischen angeborenem und erlerntem Verhalten. Für den klassischen Behavioristen galt eine Verhaltensweise nur dann als angeboren, wenn sie unmittelbar nach der Geburt auftritt. Alles was später kam, sollte erlernt sein. Karl und auch Charlotte Bühler vertraten dagegen das Konzept der aufgeschobenen Instinkte, eine Idee, die eigentlich auf Conwy Lloyd Morgan (1852 – 1936) zurückgeht. Das Konzept bedeutet, dass es so etwas wie angeborene Entwicklungsetappen gibt, in denen aufgeschobene Instinkte erst mit einer reifungs-

Retrospektive: Charlotte Bühler und ihre Zeit

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bedingten Verzögerung und dann durch bestimmte Umweltbedingungen ausgelöst werden. Darin liegt die theoretische Differenz zum Behaviorismus begründet. Als Formel kann man festhalten: Charlotte übernimmt die Methoden des Behaviorismus. Aber was sie zu keiner Zeit übernimmt, sind die theoretischen Interpretationen der behavioristischen Psychologie. Ihre eigenen Auffassungen sind biologisch und kommen, wie bei Karl Bühler, direkt aus der Vergleichenden Tierpsychologie. Lieselotte Ahnert: Befanden sich die Bühlers mit diesem Gedankengut nicht in einem großen Kontrast zwischen einer geisteswissenschaftlich orientierten Psychologie — la Freud und einer naturwissenschaftlich ausgerichteten, lerntheoretischen Psychologie, die in der Verengung des Behaviorismus erstarrte? Klaus Grossmann: Die Bühlers haben sich einer Diskussion ausgesetzt, die darüber befand, ob die Psychologie nun endlich eine exakte Naturwissenschaft werden müsste, um sich von den geisteswissenschaftlichen Spekulationen befreien zu können. Damit war jedoch keine evidenzbasierte Geisteswissenschaft gemeint, sondern zunächst nur die Sorge ausgedrückt, dass man nicht zurückfallen dürfe in eine Zeit, in der Gelehrte wie Jean Paul (1763 – 1825), Karl Philipp Moritz (1756 – 1793) und Dietrich Tiedemann (1748 – 1803) Berge und Berge von Beobachtungsnotizen anhäuften und dann nicht wussten, wie alle diese Informationen verarbeitet und zusammengefasst werden könnten. Damals kamen ja die ersten Ideen aus der vergleichenden Verhaltensforschung und ein erster Vorschlag von Lorenz mit dem Konzept der InstinktDressur-Verschränkung, die darauf hinauslief zu zeigen, dass aus Instinkten auch neue Verhaltensmuster erwachsen können. Das ist das, was wir heute Epigenetik nennen: Jedes Lebewesen bringt ein genetisches Potential mit auf die Welt, und dann hängt es sehr stark von den gegebenen Umwelt- und Erfahrungsbedingungen ab, was davon verwirklicht und manifest wird. Es gibt kein Verhalten, das nicht genetisch begründet wäre. Aber welches von den genetisch möglichen Verhaltensweisen tatsächlich verwirklicht werden kann, hängt von der Umwelt ab. Zu dieser Zeit waren dies noch sehr unscharfe Vorstellungen, die man noch nicht gut im Griff hatte. Sie wurden vom Behaviorismus jedoch stark provoziert, der bei aller methodischen Finesse sehr doktrinär gearbeitet hat. Allerdings zeigte sich später in den Arbeiten von Charlotte Bühler, dass man mit der Instinkt-Dressur-Verschränkung nicht weit kommen kann, wenn man auch noch Ziele in der menschlichen Entwicklung untersucht. Lieselotte Ahnert: Die Befreiung der Psychologie aus dem Geist der wissenschaftlichen Spekulation führt uns zu den psychoanalytischen Orientierungen der damaligen Zeit. Für das Wiener Institut hatte Charlotte Bühler Geld bei der

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Retrospektive: Charlotte Bühler und ihre Zeit

Rockefeller-Stiftung für ein riesiges Forschungsprogramm eingeworben, das auch von populären psychoanalytischen Impulsen hätte profitieren können. Wie waren die damaligen Kontakte zwischen Sigmund Freud (1856 – 1939), seinen Nachfolgern und dem Wiener Psychologischen Institut? Brigitte Rollett: Nun, Sigmund Freud war an der Medizinischen und nicht an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien habilitiert. Offizielle Beziehungen gab es nicht; so schreibt es Charlotte auch in ihrer Selbstdarstellung (Ch. Bühler, 1972, S. 29). Allerdings haben viele Studierende an beiden Orten Vorlesungen gehört und sich aktiv eingebracht. Hans Leo Kreitler (1916 – 1993) hat beispielsweise eine psychoanalytische Ausbildung bei Anna Freud (1895 – 1982) genossen, gleichzeitig bei den Bühlers studiert und später eine Professur an der Universität Tel Aviv inne. Sehr viele Verbindungen gab es jedoch auch außerhalb des akademischen Rahmens: Charlotte Bühler hat sich selbst noch in ihrer Jugend einer Selbstanalyse unterzogen, um sich von ihren Bekümmernissen mit ihrer Familie zu befreien. Nach ihrer Emigration in die USA setzte sie sich im Zuge ihrer klinischen Arbeiten intensiv mit der Psychoanalyse auseinander und übernahm die Methode der Tiefenexploration, allerdings nur als Verfahren und ohne den theoretischen Überbau. Lieselotte Ahnert: Am Wiener Psychologischen Institut hat es zur damaligen Zeit auffallend viele Doktoranden gegeben, aber unseres Wissens sind daraus keine Crossover oder Doppelbetreuungen mit psychoanalytisch orientierten Kolleg/ inn/en entstanden. Gerhard Benetka: Es ist hier zunächst festzuhalten, dass offizielle Betreuungen schwierig zu etablieren waren, weil als Betreuer nur ordentliche Professoren aufscheinen konnten und die Kontakte zwischen dem Bühler-Institut und dem Freud-Kreis kompliziert und teilweise recht angespannt waren. Man ging sich aus dem Weg. Nur in dem Buch »Die Krise der Psychologie« (K. Bühler, 1927) widmete Karl Bühler der Auseinandersetzung mit Sigmund Freud ein eigenes Kapitel. Ansonsten merkt man den Einfluss der Psychoanalyse auf die Arbeiten der Bühlers eher indirekt. Beispielsweise beginnt Charlotte Bühler ihre Mädchentagebücher zu veröffentlichen, nachdem der Internationale Psychoanalytische Verlag das »Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens« (Hug-Hellmuth, 1919) mit einem Vorwort von Freud herausgebracht hatte. In diesem Tagebuch ist das Thema der Suche nach »segsueller« Aufklärung omnipräsent. Es stammt von Hermine Hug-Hellmuth (1871 – 1924), die als erste Psychoanalytikerin noch vor Anna Freud (1895 – 1982) und Melanie Klein (1882 – 1960) über Kinderanalysen publizierte. Dieses Tagebuch hat Charlotte Bühler jedoch unglaublich provoziert. Sie hat einen jahrelangen Kampf gegen dessen vermeintliche Au-

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thentizität geführt. Einen ihrer Doktoranden, Josef Krug, hat sie beispielsweise damit beauftragt, die Datierungen im Tagebuch zu analysieren, wobei dann festgestellt wurde, dass bestimmte Feiertage (z. B. Ostern) über die Jahre hinweg wiederholt unter demselben Datum angegeben wurden (Krug, 1926). Mehr noch, eine Doktorandin von Karl Bühler, Hedwig Fuchs, hat nachgewiesen, dass die Sprache sich während der Eintragungen kaum entwickelt (Fuchs, 1927). Schließlich musste Freud das Tagebuch zurückziehen lassen, da es offensichtlich eine Fälschung war. Allerdings gab es auch Versuche, die Psychoanalyse mit der Bühler-Tradition zu verbinden. Zu den psychoanalytisch ausgebildeten Studierenden und Mitarbeitern gehörte beispielsweise Else Frenkel, die als Else Frenkel-Brunswik (1908 – 1958) sich nach ihrer Emigration in den USA um eine solche Verbindung bemüht hat. Oder Rudolf Ekstein (1912 – 2005), der als Schüler von Karl und Charlotte Bühler später Psychoanalytiker und zu einem engen persönlichen Freund der Familie Bühler wurde. Bei den Bühlers hat auch Kurt Eissler (1908 – 1999) studiert, der nach dem Krieg das Sigmund-Freud-Archiv in New York gründete und über viele Jahrzehnte leitete. Also, es gab eine Reihe von BühlerSchülern, die dann später bei der Psychoanalyse landeten. Aber die Beziehung selbst blieb schwierig. Lieselotte Ahnert: Gerne würde ich auch die formelle Position von Charlotte Bühler an der Universität Wien ansprechen, da sie es – wie viele kluge Frauen der damaligen Zeit – nicht einfach gehabt hat, sich überhaupt an der Universität zu etablieren. Als sie in die Emigration ging, wurde aus dem Ruf an die Fordham University in New York auch nichts. Wie ist dies alles einzuordnen? Gerhard Benetka: Beide Bühlers hatten diesen Ruf an die katholische Fordham University erhalten. Karl war katholisch, Charlotte aber protestantisch, was im Sinne einer ökumenischen Ehe akzeptiert ist, wenn die Kinder katholisch erzogen werden. Beide Kinder waren jedoch protestantisch. Und Karl Bühlers Trauzeuge, der katholische Geistliche und Külpe-Schüler Johannes Lindworsky (1875 – 1939), hatte die Fordham University darüber informiert, woraufhin die Berufungen zurückgenommen wurden. Lieselotte Ahnert: In Wien hatte man Charlotte Bühler sechs Jahre lang hingehalten, bis sie dann 1929 überhaupt eine anerkannte Position bekam, eine außerordentliche Professur, die dazu auch noch undotiert blieb, nachdem sie das Psychologische Institut an der Seite ihres Mannes intensiv mit aufgebaut hatte. Ist das dem Zeitgeist, der Tatsache geschuldet, dass sie eine Frau war? Oder weil der berühmte Ehemann dem Psychologischen Institut ohnehin schon vorstand? Oder war es alles zusammen…?

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Gerhard Benetka: Charlotte Bühler war Anfang der 1920er-Jahre die zweite Frau nach Elise Richter (1865 – 1943), einer Romanistin, die an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien habilitiert wurde. Und Charlottes Habilitationsverfahren war alles andere als eine Selbstverständlichkeit: Es hat sehr viele Gegenstimmen gegeben, obwohl es sich nur um eine Übertragung ihrer bereits an der TU Dresden erworbenen Lehrbefugnis gehandelt hat. Es war also etwas ganz Außergewöhnliches, wenn eine Frau an der Philosophischen Fakultät in Wien habilitierte. Das Gleiche galt für die Titelverleihung: Es war alles andere als selbstverständlich, dass in den 1920er-Jahren einem weiblichen Mitglied des Lehrkörpers der Universität Wien der Titel außerordentlicher Professor verliehen wurde. Dies löste jedoch auch Neid und Missgunst aus. Was man in den Archiven an Äußerungen über Charlotte Bühler von ihren ehemaligen Kollegen findet, ist erschütternd. Man verliert den Glauben daran, dass die Universität ein Ort der geistigen Bildung ist: Denunziantentum der übelsten Sorte, rüder Antifeminismus. In den 1920er-Jahren sind Frauen an der Universität als Frauen sozusagen unsichtbar gewesen. Charlotte Bühler dagegen ist wie ein Film-Star aufgetreten. In ihren Lebenserinnerungen beschreibt beispielsweise Hilde Spiel (1989), wie sie das erste Mal in einer Vorlesung von Charlotte Bühler gesessen ist. Diese Textstelle ist eine Art Loblied auf rote Fingernägel. Hilde Spiel, die Philosophie bei Moritz Schlick (1882 – 1936) und nach dessen Ermordung bei Karl Bühler studierte, war schlichtweg begeistert, dass eine Frau attraktiv gekleidet, ihre Weiblichkeit zur Schau stellend, eine Lehrveranstaltung an einer Universität abhalten konnte. Charlotte Bühler hat dabei aber vollkommen verkannt, wie sehr dieses Auftreten die mehrheitlich erzkonservativ gesinnte Kollegenschaft provozierte. Lieselotte Ahnert: Wie wurde Charlotte von den unmittelbaren Mitarbeiter/inne/ n im Psychologischen Institut erlebt? Lotte Schenk-Danzinger (1905 – 1992) hat einmal bekannt, dass die Mitarbeiterführung an diesem Institut in ein sehr positives Klima eingebettet war. Brigitte Rollett: Ich kann dies wirklich bestätigen. Ich war mit Lotte SchenkDanzinger eng befreundet und wir haben uns oft darüber unterhalten. Das Psychologische Institut war eine »Insel der Seligen«, in dem die politischen Stürme von draußen kaum wahrgenommen wurden. Karl Bühler hatte Anfang der 1930er-Jahre einen Ruf an die Harvard-University erhalten und auch Charlotte wurde eine Professur angeboten. Aber beide waren so glücklich in Wien, dass Charlotte dazu ermutigte, die Rufe aus den fernen USA abzulehnen. Im Nachhinein war dies eine völlig verkehrte Entscheidung. Charlotte schreibt

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später (1972, S. 27), dass Karl damals noch jung genug gewesen wäre, den Anschluss an die amerikanische Forschung zu finden. Auch lehnten sie 1937 ihre Rufe an die Fordham University in New York ab. Als sie dann 1938 das Land verlassen mussten, war es zu spät. Lieselotte Ahnert: Im Wiener Psychologischen Institut gab es bekanntlich auch viele individuelle Freiheiten, sich akademisch zu entfalten. Die Einordnung in die laufenden Forschungsprogramme war jedoch wohl zwingend?! Brigitte Rollett: Von Hans Leo Kreitler (1916 – 1993) weiß ich, dass Charlottes Temperament hier ein gewisses Problem darstellte: Charlotte habe einerseits über einen großen Charme und die Fähigkeit verfügt, sich auf ihre Gesprächspartner optimal einstellen zu können. Andererseits sei sie jedoch auch äußerst direkt und konsequent in der Durchsetzung ihrer Vorstellungen gewesen und habe sich nicht vor Konflikten gescheut. Dies habe auch Karl immer wieder zu spüren bekommen, der eher um Harmonie und Ausgleich bemüht war. Lieselotte Ahnert: Während Karl Bühler sich gern in seine Gelehrtenstube zurückzog, entwickelte Charlotte ihre eigenen theoretischen Perspektiven ganz auf der Grundlage ihrer empirischen Belege. Wie für Karl ist allerdings auch für sie die Biologie offenbar die zentrale Bezugswissenschaft gewesen. Gab es noch andere Disziplinen, die sie für die Interpretation ihrer empirischen Arbeiten benutzte? Inwieweit spielt die Pädagogik eine Rolle, die für Bühlers Tätigkeiten in der Lehrerausbildung und bei der Schulreform so wichtig zu sein schien? Wie stand es mit der Pädiatrie, die gerade bei den Untersuchungen an der Kinderübernahmestelle eine Rolle hätte spielen können? Gerhard Benetka: Zur Medizin hat es Bezüge gegeben: Wichtig war hier Otto Pötzl (1877 – 1962), ein Professor für Psychiatrie und Neurologie und Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Mit ihm und seinen Mitarbeitern hat es eine permanente Arbeitsgemeinschaft gegeben. Zentral dabei war Karls Interesse an der Theorie der Sprache, weshalb er sich auch für Sprachstörungen besonders interessierte. Entwicklungspsychologische Fragen im engeren Sinne – also das Arbeitsgebiet von Charlotte Bühler – haben in dieser Arbeitsgemeinschaft kaum eine Rolle gespielt. Die pädagogischen Vorstellungen der Wiener Schulreformer waren sehr stark individualpsychologisch ausgerichtet, also von den Adlerianern geprägt. Gegenseitige inhaltliche Befruchtung hat es da auch kaum gegeben. Anders war das mit der Psychoanalyse. Siegfried Bernfeld (1892 – 1953) ist da ein wichtiger Bezugspunkt, der damals ein viel gelesener Autor im Rahmen der österreichischen Reformpädagogik war. Sein Bericht über das Kinderheim

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Baumgarten (Bernfeld, 1921) wie auch die skeptische Streitschrift »Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung« (Bernfeld, 1925) waren in pädagogischen Kreisen allseits bekannt. Bernfeld hat dann auch mit Studierenden und Mitarbeitern von Karl und Charlotte Bühler eine Arbeitsgemeinschaft unterhalten, in der Probleme der Psychologie und Pädagogik diskutiert wurden, wie das einigen noch erhaltenen Protokollen zu entnehmen ist. Auch ist in diesem Zusammenhang August Aichhorn (1878 – 1949) zu nennen, der als Psychoanalytiker in Hollabrunn eine große Erziehungsanstalt für 3.000 Kinder geleitet und darüber publiziert hat. Sein Buch »Verwahrloste Jugend« (Aichhorn, 1925) war zwar ein Bestseller, jedoch für die Arbeit von Charlotte Bühler ohne Einfluss geblieben. Allerdings muss man sagen, dass die Bühlers auch zu einer Zeit nach Wien gekommen waren, als der Enthusiasmus für die Reformpädagogik schon wieder abnahm. Aichhorn und Bernfeld hatten ihre Erziehungsexperimente unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg durchgeführt, die dann allerdings Einflüsse auf die Aktivitäten der Jugendbewegung hatten, aus der einige der späteren Studenten und Mitarbeiter des Bühler-Instituts wie Paul Lazarsfeld (1901 – 1976), Marie Jahoda (1907 – 2001) und Lotte Schenk-Danzinger (1905 – 1992) kamen. Brigitte Rollett: 1902 erschien die deutsche Erstausgabe von Ellen Keys (1849 – 1926) Bestseller »Das Jahrhundert des Kindes«. Diese neue Kind-Zentrierung wurde von der Reformpädagogik aufgegriffen und in der Verwirklichung einer »Pädagogik vom Kinde aus« gesehen. Die Grundlage für ein verständnisvolles Eingehen auf Kinder durch pädagogisches Handeln setzt jedoch detaillierte entwicklungspsychologische Kenntnisse voraus. Dies traf sich von daher sehr gut mit Charlotte Bühlers Arbeiten. Lieselotte Ahnert: Wie muss man heute aus dem Blickwinkel dieser vielen Einflüsse das Gesamtwerk Charlotte Bühlers einschätzen? Gerhard Benetka: Die Jugendpsychologie von Charlotte Bühler ist für mich wenig überzeugend. Es hat zwar eine beeindruckend große Tagebuch-Sammlung gegeben, deren Auswertung und Interpretation ist jedoch aus heutiger Sicht eher dilettantisch geblieben. Da haben auch die statistischen Analysen von Lazarsfeld nicht viel geholfen. Die theoretische Perspektive war einfach nicht besonders ergiebig. Die Kinderpsychologie, die an der Kinderübernahmestelle begonnen wurde, ist dagegen wirklich etwas Neues. Originell ist natürlich auch ihre Lebenslaufpsychologie (Ch. Bühler, 1933). Sie ist zwar von der theoretischen biologischen Fundierung her wenig überzeugend, aber originell ist sie einfach durch die Ausdehnung von Entwicklungsphänomenen auf die Lebensspanne. Das, was uns heute so selbstverständlich ist, nämlich über die Lebens-

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spanne hinweg Entwicklung zu betrachten, ist das erste Mal bei Charlotte Bühler dezidiert nachzulesen. Klaus Grossmann: Es hat natürlich auch noch eine Reihe weiterer Anregungen aus dem unmittelbaren Umfeld der Bühlerschen Forschung gegeben, die wir noch nicht besprochen haben. Mein bestes Beispiel dafür ist Ren¦ Spitz (1887 – 1974), ein Forscher, der zwischen den Welten agierte: Er war praktizierender Psychoanalytiker, ging jedoch auch oft zu den Beobachtungsübungen in die Kinderübernahmestelle. Er war derjenige, dem auffiel, wie Kinder verfielen, die ohne Beziehung zu einer Bindungsperson bleiben mussten. Seine Beobachtungen von Kindern sind einmalig geblieben, deren Müttern im Gefängnis erlaubt wurde, sie einige Male am Tag zu stillen. Spitz konnte zeigen, dass das Ausdrucksverhalten dieser Säuglinge in ihrer Vitalität sehr unterschiedlich von denen war, die diese Möglichkeit nicht erhielten. Das Filmmaterial, das er damals erarbeitete und anbot, ist ungeheuer einflussreich gewesen und hat auch die Bühlerschen Arbeiten durchdrungen. Lieselotte Ahnert: Kann es sein, dass der Begriff »Wiener Kinderpsychologische Schule« das Gesamtwerk Charlotte Bühlers deshalb auf die Kinderpsychologie reduziert, weil dieser Forschungsbereich von ihr am innovativsten, methodisch zuverlässigsten und am zukunftsträchtigsten war? Gerhard Benetka: Diese Bewertung hat auch etwas mit der Erscheinungszeit der jeweiligen Publikationen zu tun. Die »Psychologie des menschlichen Lebenslaufs« ist 1933 erschienen – kein gutes Erscheinungsdatum für ein deutschsprachiges Buch. Der sogenannte Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland hat auch die Wiener Schule insgesamt erheblich belastet; und zwar nicht wegen ihrer theoretischen Ausrichtung, sondern wegen ihrer – wie die Nazis meinten – philosemitischen Personalpolitik. Viele Angehörige des Wiener Psychologischen Instituts waren nach den Rassengesetzen der Nazis jüdischer Herkunft. Jüdisch klingende Namen auf dem Buchumschlag erschwerten den Verkauf der Bücher. Das ist auch der Grund dafür, warum z. B. am Umschlag der Originalausgabe von »Die Arbeitslosen von Marienthal« (Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel, 1933) die eigentlichen Autoren der Studie nicht namentlich genannt wurden. Lieselotte Ahnert: Nach dem März 1938 waren die jüdischen Mitarbeiter/innen am Wiener Psychologischen Institut durch den Anti-Semitismus der Nazis mit dem Leben bedroht. Der nachfolgende Exodus des wissenschaftlichen Potenzials war unbeschreiblich und in letzter Konsequenz schockierend. Er hat eine Forschungslücke in diesem national und international angesehenen Institut hinterlassen, die nach dem Krieg nur sehr schleppend geschlossen werden

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konnte. Rückblickend ist ganz deutlich geworden, dass es vieler Jahrzehnte danach bedurft hat, dass sich die Wiener Entwicklungspsychologie wieder erholen und den Anschluss an die internationale entwicklungspsychologische Forschung finden konnte.

Nachtrag: Über die Krise in der Psychologie der 1920er-Jahre

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Psychologie im Wesentlichen von drei verschiedenen theoretischen Perspektiven dominiert, die unabhängig voneinander die Psyche eines Menschen über verschiedene Zugangsebenen erforschen wollten: (1) Das Verhalten, das vor allem im US-amerikanischen Behaviorismus im Mittelpunkt stand, (2) das (innere) Erleben, mit der sich die in Europa vorherrschende Erlebnispsychologie beschäftigte, sowie (3) Leistungen (Werke), die im Forschungsinteresse der geisteswissenschaftliche Psychologie standen. Karl Bühler hatte in seinem 1927 erschienenen Buch »Die Krise der Psychologie« auf die daraus resultierenden wissenschaftstheoretischen sowie methodischen Probleme aufmerksam gemacht und das zunehmende Auseinanderdriften dieser drei Zugangsebenen (Verhalten, Erleben und Werke) kritisiert. Die Darstellung dieser theoretischen Perspektiven sowie das Bemühen um deren Zusammenführung waren das Leitmotiv auf dem 11. Kongress der »Gesellschaft für Experimentelle Psychologie«, der vom Wiener Psychologischen Institut 1929 ausgerichtet wurde (Abb. 11). Auf diesem Kongress wurde die Gesellschaft auch mit dem Ziel umbenannt, die als zu stark empfundene Einengung der Psychologie auf das Experimentelle durch einen allgemeineren Gesellschaftsnamen aufzuheben. Einstimmig entschied man sich für die Bezeichnung »Deutsche Gesellschaft für Psychologie«. Das Bemühen, die experimentelle Forschung in der Psychologie nun durch Zugänge der Erlebnispsychologie und der geisteswissenschaftlichen Psychologie zu ergänzen, wurde am Rande des Kongresses durch das Kabarett »Da lachen die Hühner« in 10 Bildern von Mitarbeiter/inne/n und Studierenden des Wiener Psychologischen Institutes humoristisch dargestellt (Abb. 12). Der Titel dieser Aufführung geht auf die Forschungsstudien von Schjelderup-Ebbe (1922) zurück, der sich mit der Entstehung der Hackordnung bei freilaufenden Haushühnern beschäftigt hatte und dessen Beobachtungsmethoden im Wiener Psychologischen Institut hoch geschätzt wurden.

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Nachtrag: Über die Krise in der Psychologie der 1920er-Jahre

Abb. 11: Kongress der »Gesellschaft für Experimentelle Psychologie« 1929 in Wien. Foto: Fayer Wien; Quelle: Adolf-Würth-Zentrum.

Abb. 12: Ankündigung des Kabaretts »Da lachen die Hühner« auf dem 11. Kongress der (neu benannten) Deutschen Gesellschaft für Psychologie 1929 in Wien.

Nachtrag: Über die Krise in der Psychologie der 1920er-Jahre

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Da lachen die Hühner: Kabarett in 10 Bildern in bearbeiteter und gekürzter Fassung von Lieselotte Ahnert (Original von 1929) ERSTES BILD: Prolog Mitwirkende: Gottvater (= Die Einheit der Psychologie) und 3 Engel (=Erlebnispsychologie, Behaviorismus & Geisteswissenschaftliche Psychologie) Ort: Der Himmel Erlebnispsychologie: Die Seele tönt nach alter Weise, Sie trägt das Ich, das Ich allein: Nur das Subjekt in seinem Kreise Kann Mittler uns und Künder sein. Für Fremde ist sie nicht zu fassen, Sie ist sich selbst Objekt genug. Erlebnisse erleben lassen! Werk und Verhalten, das ist Trug. Behaviorismus: Und schnell und unbegreiflich schnelle Dreht sich umher der Erde Pracht; Und wird zu ew’ger Reizesquelle, Die menschliches Verhalten macht. Du kennst die Welt; Ihr Sein ist Wirken Und alles Menschliche dadurch bestimmt, Drum ist daheim nur in der Seel’ Bezirken, Wer vom Verhalten seinen Ausgang nimmt. Geisteswissenschaftliche Psychologie: Wir deuten eifrig um die Wette, Vom Geist zum Werk, vom Werk zum Geist. So schließt sich uns des Sinnes Kette, Bis die Struktur sich klar erweist. Da flammt ein blitzendes Verstehen Des Menschen in dem Wertbezug, Den Geist durchs Werk nur kannst Du sehen, Drum ist Verhalten und Erlebnis Trug!

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Nachtrag: Über die Krise in der Psychologie der 1920er-Jahre

Alle drei Engel im Chor: Nur mein Aspekt verleiht uns Stärke, Wenn man die Seel’ ergründen mag. Die Einheit der Psychologie: Ich höre Euch mit Vaterliebe, Und sie bewegt mich wie noch nie! Ihr alle seid nur junge Triebe Am alten Baum »Psychologie«. Doch merkt: Es ist des Triebes Wesen, Dass er allein nicht kann besteh’n. Und nur durch sämtliche Synthesen Kann man die Seele richtig seh’n. Nur das Verhalten kann uns führen, Dort wo zu sprechen stumm der Mund. So findet man bei Kind und Tieren Durch dieses erst den wahren Grund. Wir müssen uns ins Werk versenken, Um zu verstehen das Genie, Und dem Erlebnis Achtung schenken, Sonst gäb’s sie nie: Die Psychologie! Nur die Synthese gibt uns Stärke, Dass man die Seel’ ergründen mag, In ihrem Tun, in ihrem Werke, Vom ersten bis zum letzten Tag. … ZWEITES BILD Mitwirkende: Eine Affenfamilie mit 3 Kindern, Affe Sultan und 2 weitere erwachsene Affen Ort: Eine Lichtung im Urwald; 3 Affenkinder tollen herum, bewerfen einander mit Nüssen und brüllen herum Affenmutter (springt wütend von einem Baum und schreit): Ihr elenden Rangen, wenn ihr nicht auf der Stelle Ruhe gebt, müsst ihr sofort zu Menschen werden. (Die Affenkinder erschrecken und werden sofort ruhig.)

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Erstes Affenkind: Bitte, Mutter, jetzt sind wir aber brav, jetzt wirst du dem großen Zauberer sagen, dass er uns nicht zu Menschen machen darf. Zweites Affenkind: Bleib doch ein bisschen bei uns, dann werden wir sicher ruhig sein. Drittes Affenkind: Und erzähl uns doch wieder einmal von den Menschen; das ist so komisch und so gruselig zugleich… wie sie von uns vertrieben worden sind. (Alle Affenkinder setzen sich hin.) Affenmutter : Nun, Kinder, ihr wisst ja, dass die ersten Menschen und wir zum selben Volke gehört haben. Aber dann haben sie eines Tages irgendwelche blöden Früchte gegessen – Äpfel, glaube ich, anstatt unserer guten reifen Bananen – und davon sind sie ganz verkommen. Sie sind von hier ausgewiesen worden, und seitdem geht es ihnen entsetzlich schlecht. Sie haben viele große Steinhaufen gemacht, in denen leben sie; dort wächst natürlich nichts, und jetzt haben sie zu wenig zu essen, weil sie nichts vernünftig einzurichten verstehen. Von Zeit zu Zeit bringen sie einander um, aber das nützt nicht viel. Sie werden nie mehr wirklich fähige Affen werden können. Affenkinder müssen sehr brav sein, sonst werden sie in Menschen verwandelt, und das ist das Allerschrecklichste. Affenvater (ist unterdessen herangekommen und unterbricht): Gott, ich weiß nicht, warum Du den Kindern solches Gewäsch erzählst. Sie sind doch jetzt schon groß genug, um die Dinge prinzipiell zu sehen. Kommt her, Kinder, ich werde euch das alles schon erklären. (Affenkinder gruppieren sich um den Vater.) Affenvater : Hört zu, die Sache ist so: Lebewesen bewegen sich auf drei Stufen. Die oberste Stufe nennt man Instinkt, da weiß jedes Wesen sofort, wie und woher es seine Bananen nimmt, und deshalb ist es wirklich frei und glücklich. Die zweite Stufe heißt Dressur. Da geht es schon nicht mehr so gut, aber die Lebewesen auf dieser Stufe lernen immerhin, sich ihre Bananen zu holen. Doch die tiefste Stufe, der Intellekt, das ist fürchterlich. So ein Wesen ist überhaupt nicht mehr imstande, sich seine Bananen zu verschaffen. Da müssen sie erst alle möglichen Erfindungen machen, um sie zu kriegen… und da diese Erfindungen natürlich nie funktionieren, leben sie dauernd in Angst und Sorge, woher sie ihre Bananen kriegen sollen. Von Zeit zu Zeit schicken sie deshalb auch Leute zu uns, die uns abgucken sollen, wie man mit Instinkt seine Bananen bekommt; aber gelernt haben sie es noch immer nicht.

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Zweites Affenkind: Aber warum sagt ihr denn den armen Menschen nicht, wie sie es machen sollen? (Unterdessen haben sich auch andere Affen auf der Lichtung eingefunden.) Erster Affe: Das geht nicht, mein Kleiner! Merk es dir sehr genau: Die Menschen dürfen nie erfahren, dass wir reden können, sonst ziehen sie uns am Ende in das grässlichste aller Dinge hinein. Ich glaube, sie nennen es Diskussion. Zweiter Affe: Aber wir versuchen ja trotzdem, ihnen zu helfen. Gerade jetzt ist wieder so ein Mensch gekommen (Beschreibung Wolfgang Köhlers). Mein Bruder Sultan hat sich von ihm fangen lassen und lebt seit ein paar Tagen mit ihm. Vielleicht, dass er ihm doch etwas begreiflich machen kann… Die drei Affenkinder (jubeln): Der gute Onkel Sultan, der wird uns viel erzählen können. (Man hört aus der Ferne Bewegung, die rasch näher kommt. Alles blickt gespannt in die Kulissen. Murmeln.) Zweiter Affe: Das ist ja Sultan. Ja was ist denn passiert? Sultan (stürzt ganz ermattet auf die Bühne, mit indignierter Gebärde): Nie wieder, es war zum aus der Haut fahren. Alle (umdrängen ihn): Erzähl, was war los? Sultan: Schrecklich! Jetzt bin ich wochenlang bei diesem Mann gewesen. Reden darf ich ja nicht, aber mit allen Mitteln hab ich ihm zu erklären versucht, woran das Unglück der dritten Stufe liegt; aber es war ganz aussichtslos. Alles, was wir darüber hören, wie sich die Menschen das Leben schwer machen, ist noch zu wenig. Ich habe die grässlichsten Beobachtungen gemacht. Sie hängen beispielsweise die Bananen so hoch auf, dass man sie fast überhaupt nicht erreichen kann. Oder sie geben sie hinter ein Gitter, durch das man überhaupt nicht durchgreifen kann. Und dann wollen sie von uns Affen, dass wir ihnen zeigen, wie man es hinkriegt. Das können natürlich nicht einmal wir! Ich wollte nun dem Mann erklären, dass es das einzig Mögliche sei, die Bananen direkt vom Baum zu holen; ich habe dargestellt, kundgetan, ausgelöst… aber es war vergeblich. Und jetzt kommt das Verblüffendste. Ich habe herausgekriegt, warum der Mann mich nicht verstanden hat: Ich glaube, Kummer und Sorge haben die Menschen um ihr letztes Restchen Instinkt gebracht. Jetzt ist es ganz aus mit ihnen!

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Alle (durcheinander): Aber geh, Du bist wirklich ein großartiger Kerl. Wirst noch eine Professur für Menschenkunde kriegen. …

DRITTES BILD Mitwirkende: Säuglinge A und B, Psychologe und Psychologin Ort: Die Kinderübernahmestelle Säugling A spuckt und stößt dabei gurgelnde Laute aus. Säugling B: Warum machst Du solche dummen Witze? Säugling A: Ich probiere ja nur, wie sich aus dem Spucken und der Erregung der erogenen Mundzone das Sprechen entwickelt. Das will man doch an uns beobachten! Säugling B: Du gehörst wohl auch zu denen, die es den Psychologen immer recht machen wollen, du Streber! Du studierst wohl auch den Abriss der Belehrungen für Säuglinge als Versuchspersonen. Säugling A: Den Abriss?! Du hast vielleicht eine Ahnung von den Aufgaben, die heute ein Säugling zu lösen hat! Das sechsbändige Säuglingslexikon habe ich bereits durchgearbeitet und trotzdem passiert mir immer noch ein faux pas nach dem anderen. In früheren Zeiten haben es die Säuglinge leicht gehabt. Wenn die Kinder von William und Clara Stern sich nur herabgelassen haben, überhaupt von den Reizen, die man ihnen geboten hat, Notiz zu nehmen, waren sie schon alle dankbar. Jetzt hat der Säugling zu reagieren, wie es im Buche steht. Ich werde auswandern! Säugling B: Ich habe gehört, dass es in Amerika und Russland auch nicht besser ist. Säugling A: Und wie man uns behandelt! Und als was man angesehen wird! Arbeiten müssen wir wie die Schwerstarbeiter und uns dazu noch beschimpfen lassen. Mit Schimpansen und Urtieren werden wir verglichen. Ist das nicht unerhört? Säugling B: Wir sollten eine Resolution fassen!

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Ein Psychologe mit Experimentiermaterial tritt auf. Die Säuglinge schreien und verursachen einen mörderischen Lärm. Psychologe entfernt sich, trifft auf eine weitere Psychologin, die eben eintritt. Psychologe: Die süßen Kleinen scheinen heute ganz und gar nicht disponiert zu sein. Psychologin: Ich will versuchen, sie zu beruhigen. (Kitzelt die Säuglinge unter der Nase. Schreit!) Psychologin (kopfschüttelnd): Da kann man heute nichts machen. Die lieben Kinderchen sind ganz und gar verändert. Vielleicht ist das Wetter dran Schuld. (Sie zieht sich zurück.) Säugling A und B (im Chor): Bravo, wir haben gewonnen. Psychologe (dreht sich am Eingang herum und stürzt herein): Wie groß war eigentlich der Zufall als unentbehrlicher regulierender Faktor der geordneten produktiven Geistestätigkeit? Säugling A: Säuglingslexikon Bd. I, Seite 948. Psychologe: Bis heute hatte ich auch übersehen, dass ein Reiz notwendigerweise auch verstimmten Babys angeboten werden muss. Ein glänzender Einfall, es jetzt mal auszuprobieren. (Streicht B mit einem Besen über seine Nase. B wendet sich unmutig ab.) Psychologe (notierend): Merkwürdig, merkwürdig, welchen Einfluss die Stimmung auf die Reaktion hat. Ganz eindeutig. Das Kind unterscheidet im Erleben primär gar nicht zwischen fremdem und eigenem Erleben. Säugling A: Säuglingslexikon Bd. III, Seite 32. Psychologe: Das Kind denkt in den Gedanken seiner Umgebung. (Die Säuglinge schlafen ein.) Psychologe (schaut den schlafenden Säugling einen Augenblick lang an): Ein neues Geschenk des Zufalls. Ich studiere die Reaktionen des aus dem Schlaf geweckten Kindes. (Schüttelt ein Kind. Säuglinge im höchsten Masse entrüstet.)

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Psychologe: Jetzt sind sie plötzlich alle wach. Diese Suggestibilität! Ich muss meine Kollegin suchen, damit sie diese günstigen Versuchsbedingungen nicht versäumt. Säugling B: Diesmal haben wir die Experimente nicht verhindern können. Aber jetzt überschreiten wir bald die Schwelle, die in die nächste Entwicklungsphase führt, das Trotzalter! Dort sind die Kampfbedingungen viel günstiger! … VIERTES BILD Mitwirkende: Säugling und Krabbelkind, Psychologe und Psychologin Ort: Eine Krabbelstube Psychologe: Bis jetzt stand mir nur auf dem Umwege über das Verhalten der Zugang zur Seele des Kindes zur Verfügung. Von nun an wird auch meine Kollegin, die Frau Erlebnispsychologin, ein brauchbares Objekt an dir finden. Sie wird gleich die berühmten Kindergespräche mit dir führen. Säugling: Was, du hetzt noch so eine schreckliche Person auf mich, du Elender, du Psychopath. Rutsch mir den Buckel runter! Psychologe (scharf): Du solltest dich etwas besser benehmen. Wie Du weißt, kann ich die Öffentlichkeit über dein Betragen informieren und künftige Generationen werden von dir hören. Säugling: Entschuldige, es war nur ein Affektwort, das meinen Lippen entfuhr. Psychologe (eifrig notierend, halblaut): Phasenwechsel um 21 Uhr, 13 Minuten und 25 1/2 Sekunden. Erste Leistung in der neuen Phase: Ein kräftiges Affektwort! Sinn dieses Wortes: Störe meine Kreise nicht! Ja wenn ich doch nur dieses Wort phonetisch richtig aufschreiben könnte. Schreiben wie man es spricht! Einen Tonpsychologen brauch ich, ehe der Klang meinem Gedächtnis entschwindet. (stürzt eilends fort) Säugling: Na, sehr freundlich ist es nicht in dieser Welt. Wahrscheinlich werden jetzt eine ganze Menge dieser Psychologen hinter mir herjagen.

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Krabbelkind (nähert sich): Lass den Kopf nicht hängen, Kamerad. Nur durch gemeinsames Vorgehen können wir siegen. Ich habe schon lange darauf gewartet, dir unseren Kampfplan zu entwickeln. Du trittst doch unserem Klub bei? Er heißt »Der Wille«, und das Klubabzeichen sind »determinierende Tendenzen«. Wir legen großen Wert darauf, durch unser Verhalten unsere Klubzugehörigkeit auch zum Ausdruck zu bringen. Die Großen nennen das Trotzen. Säugling: Davon habe ich schon gehört; natürlich trete ich bei! Krabbelkind: Du musst aber erst deine Aufnahmeprüfung machen. Säugling: Was, eine Aufnahmeprüfung muss man machen? Ihr treibt es ja schlimmer als die Psychologen. (A und B fangen an zu raufen.) Psychologin: Aber Kinder, was gibt es denn? Werdet ihr aufhören, ihr ungezogenen Kinder! (trennt sie, hebt die Hand, um B zu schlagen) Krabbelkind: Aber es war ja nur ein Fiktionsspiel. Säugling (heulend): Er lügt, er lügt. Er hat mich ja wirklich in den Finger gebissen. Ich hab immer gedacht, Fiktion ist, wenn man etwas nur so zum Schein tut. Psychologin: Komm wir wollen ins Badezimmer gehen und dir das Blut abwaschen. Säugling: Nein, ich gehe nicht, ich mag nicht. Ich geh nicht, ich geh nicht! Ich habe determinierende Tendenzen. Ich will da bleiben. (Psychologin bemüht sich, das trotzende Kind herauszuschleppen. Endlich gelingt es ihr.) Krabbelkind: Doch, das Examen hat er gerade so bestanden! Immerhin hat er den Widerstand geübt. Er ist ein ganz tüchtiger Kerl, nur sehr unerfahren. Hat noch nicht raus, dass das Fiktionsspiel unsere beste Ausrede ist. …

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FÜNFTES BILD Mitwirkende: Conferencier, Zwischenrufer aus dem Publikum und ein Schüler Ort: Vor dem Vorhang mit Radio Conferencier : Wir haben Ihnen, meine Damen und Herren, bis jetzt die frühen Phasen der menschlichen Entwicklung vorgeführt. Jetzt wenden wir uns den späteren zu. Zwischenrufer (steigt aus dem Publikum auf die Bühne): Das ist unmöglich; das wäre ja nicht auszuhalten. Es wäre doch viel vernünftiger und auch für die Wissenschaft ersprießlicher, ein schwieriges menschliches Problem zusammen mit den Anwesenden zu lösen. Conferencier : Aber das geht doch nicht. Hier sind Psychologen! Männer der Wissenschaft, aber keine Menschenkenner! Zwischenrufer : Macht nichts. Der Kongress sollte froh sein, endlich vor eine praktische Aufgabe gestellt zu sein. Ein Schüler wird auf die Bühne geholt. Zwischenrufer : Also hören Sie zu, ich bin besorgt: Gestern während der ganzen Unterrichtsstunde hat dieser Schüler in völlig gebückter, zusammengekrümmter Haltung unbeweglich in seiner Bank gesessen. Es war ein unheimlicher Eindruck. Ich kann mir nicht erklären, was das zu bedeuten hat. Conferencier : Es hätte keinen Sinn, die hier Anwesenden zu fragen, schon aus dem Grunde, weil alle über Jugendpsychologie dieselbe Meinung haben. Aber ich kann mich mit Hilfe meines Radioapparates mit allen Größen der Jugendpsychologie in Verbindung setzen. So werden Sie rascher und besser bedient sein. (Er dreht an seinem Apparat.) Ich fange an. (Man hört ein Sausen.) Ja was bedeutet denn das, das klingt ja wie Rauschen von Adlerflügeln. Zwischenrufer : Ah, dann sind es die Individualpsychologen! Hören wir mal zu! Aus dem Radio: Die gebückte Haltung ist ein deutliches Zeichen eines tiefen Minderwertigkeitsgefühls. Zwischenrufer : Gut, machen wir weiter.

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Conferencier (man hört ein lautes Jodeln): Ja, was ist denn das? Der scheint ja eine große Freud zu haben! Zwischenrufer : Einen großen Freud, meinen Sie? Dann sind es eben die Psychoanalytiker! Hören Sie nur! Aus dem Radio: Die Haltung deutet klar auf den Wunsch hin, in den Embryonalzustand zurückzukehren. Es ist der Ausdruck einer sexuellen Regression. Conferencier : Sehen Sie, die Angelegenheit wird immer klarer. (Man hört Taktschläge aus dem Radio.) Taktschläge, was bedeutet denn das? Zwischenrufer : Das wird der pädagogische Takt sein! Da darf man nicht allzu viel erwarten. Aus dem Radio: Ich verweigere die Antwort, weil ich jede theoretische Erörterung für unsinnig halte. Zwischenrufer : Hab ich’s nicht gleich gesagt? Also weiter! Conferencier (manipuliert am Apparat): Ich weiß nicht, der Apparat funktioniert plötzlich nicht. Zwischenrufer : Er wird ergänzungsbedürftig sein. Da handelt sich’s eben um Charlotte Bühler. Bemühen Sie sich nicht weiter, die hat vor lauter Kongresssorgen eh keine Zeit, uns Auskunft zu geben. Conferencier : Also der nächste… (Glockenlaute ertönen) Zwischenrufer : Das ist was Religiöses! Das kann nur von Spranger kommen! Aus dem Radio: Die Haltung deutet darauf hin, dass der Knabe in Ehrfurcht gebückt vor den ewigen Werten das Durchbruchserlebnis hat, das ihm den Zentralsinn des Lebens eröffnet und ohne dessen gewaltige, tiefe, eherne, allumfassende, bedeutungsverfangene Gnade ein Hineinwachsen in die gewaltigen, tiefen, ehernen, allumfassenden, bedeutungsverfangenen Erfüllungen des Göttlichen nicht möglich ist. Conferencier : Hoffentlich haben Sie sich diese Erklärung genau gemerkt.

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Aus dem Radio: Wollen Sie eine persönliche oder eine sachliche Auskunft? Zwischenrufer : Uje, der William Stern! Herr Professor, handelt es sich um eine Konvergenz von Person und Sache? Aus dem Radio: Fragen Sie den Knaben doch selbst; das ist praktisch gut. Aber glauben Sie ihm nicht, was er sagt, denn Jugendliche sind als Zeugen unbrauchbar ; das ist theoretisch gut. Zwischenrufer : Ich werde den Knaben nicht fragen, das verletzt die Autorität! (zum Conferencier gewandt) Fragen Sie ihn! Conferencier : Also sag doch mal, mein lieber Junge, warum bist du denn gestern in der Mathematikstunde so komisch gewesen? Schüler : Hm, äh, nun ja… ich habe die mathematischen Formeln unter der Bank abgeschrieben. …

SECHSTES BILD Mitwirkende: 8 Psycholog/inn/en Ort: Eine Sphinx in der Wüste Erster Psychologe: Was für ein Wesen steht da? Wie sonderbar! Zweiter Psychologe: Es ist eine GESTALT, das sieht man ganz klar. Erster Psychologe: Sie sagten GESTALT? Was soll das bedeuten? Zweiter Psychologe: Das ist ein Ganzes, das man nicht kann deuten aus artgleicher Wirkung und Eigenschaft der Teile…

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Nachtrag: Über die Krise in der Psychologie der 1920er-Jahre

Dritter Psychologe (unterbricht ihn): Und das soll Gestalt sein, was Sie da sagen? Es klingt ja förmlich wie Spott und Hohn… auf wahres Wissen. … Mich müssen Sie fragen: Gestalt ist ganz einfach Relation. Erster Psychologe: Gestalt ist nicht einfach Relation, muss ich sagen in ganz entschiedenem Ton. Nein, es ist der Relationen Relation. Die drei Psychologen geraten im Abgehen in Streit. Man hört die Worte: »Ganzes«, »Relation«, »Gestalt« in wirrem Durcheinander. Währenddessen treten andere Psychologen auf und nähern sich der Sphinx. Vierter Psychologe: Warum sprechen die beiden doch nur von Gestalt! Wie kann man sich so irren? Ich bin ganz perplex. Es ist doch ganz zweifellos ein Komplex. Fünfter Psychologe: Sie scheinen selbst an Komplexen zu leiden. Von Gestalt und von Komplex seh’ ich keine Spur. Selbst ein Blinder muss sehen: Es ist eine Struktur. Sechster Psychologe (kommt mit Hammer und Meißel): Worte, Worte, nichts als Worte! Keines öffnet euch die Pforte zu der Wahrheit tiefsten Tiefen! Hammer, Meißel angelegt! Überbau weg und bloßgelegt die Schichten, die verschüttet. Offenbart wird die Natur tief verborgener Struktur. Siebter Psychologe (hält eine Wünschelrute in der Hand): Halt! Zerstören Sie nicht das Ganze.

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Erst wollen wir den Biotonus prüfen. (Reicht dem sechsten Psychologen die Wünschelrute; dieser umschreitet die Sphinx mit der Rute, die bei jedem Schritt ausschlägt.) Sechster Psychologe: Sie schlägt nach rechts, sie schlägt nach links, sie schlägt nach allen Seiten. Temperament hat diese Sphinx. Das lässt sich nicht bestreiten. Achter Psychologe: Mit Temperament allein weiß ich nichts anzufangen. Um zu dem Typus zu gelangen, müsst ich den Körperbau ergründen. Während der achte mit dem siebten Psychologen beginnt, an der Sphinx Kopf, Nase etc. zu messen, tritt langsam der neunte Psychologe heran und staunt. Achter Psychologe: Der Schädel kurz, eiförmig das Gesicht, die Nase lang, der Haarwuchs dicht. Ein Leptosomer muss es sein. Siebter Psychologe: Ein Leptosomer? Aber nein! Mit diesem Kinn? Mit diesem Hals?! Ein Pykniker doch jedenfalls… Neunter Psychologe: Wir sind ja hier bei keiner Maskerade. Der Körperbau ist schließlich nur Fassade und dringt in des Wesens Tiefe nicht. Erst die Vererbung bringt ins Dunkel Licht! …

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Nachtrag: Über die Krise in der Psychologie der 1920er-Jahre

SIEBTES BILD Mitwirkende: Ein Huhn im Kostüm des Hamlet Ort: Vor dem Vorhang Picken oder Nicht-Picken! Das ist die Frage! Ob’s besser ist, die tausend Pfeile des Hungerwütens zu ertragen, oder, sich wehrend gegen Psychologentücke, den Widerstand zu enden? Fressen… Nichts weiter! Ein Ziel, aufs innigste zu wünschen: Fressen, am liebsten wahllos! Auch wenn’s den Psychologen nicht verständlich! Denn wer ertrüg’ des Experimentes Spott und Geisel: Ob diese Grau-Nuance das Picken mir erlaubt, statt dass das Körnchen selber pickt? Ob es Versuche über Relations-Dressuren, Rangordnungs- und Hierarchienbildungen, oder über Konstanzen von Gestalt und Größe sind oder sich’s um Appetit-Versuche handelt? Ach, alles für die Katz! Oh Fressen, Picken! Nur dass die Furcht vor Psychologie (dem unentdeckten Land, aus des Bezirken kein Wandrer unbeschädigt wiederkehrt) den Willen hemmt! So macht Bewusstsein Feige aus uns allen und Farben der Entscheidung – mag die Nuance auch so variabel sein – wird von Gedankenblässe angekränkelt! Und engagierte Unternehmen verlieren so den Namen Handlung! ACHTES BILD Mitwirkende: Zwei Amerikaner (Mr. A & Mr. B sprechen deutsch mit amerikanischem Akzent) und eine Amerikanerin (Miss N. spricht nur Englisch) Ort: Raum im Wiener Psychologischen Institut; in der Mitte steht ein Tisch, auf dem ein Apparat mit einer großen Skala, einem Zeiger und einem Trichter steht; an einer der beiden Seitenwände hängt ein Telephon Miss N: We cannot return to America without having engaged the greatest psychologist of Europe for our university.

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Mr. A: Oh yes! Uir können nicht zurück, uenn uir nicht haben den größte Psychologen von Juropa for unsere Charleston-University. Das ist klar! Mr. B: But uie sollen uir finden ihn in der grosse Zahl von Psychologisten auf diese Kongress? Mr. A: Oh, ich haben einen ausgezeichneten Ueg! Ich haben mich beschäftigt mit diese Problem und haben schon gefunden, uer ist der berühmteste von alle Psychologen von Juropa. Mr. B: Uie haben Sie das gemacht? Das ist eine schwere Problem! Mr. A: Oh, not at all! Ich haben in die letzte Monate gelesen mehr als tausend psychologische books von juropaische Psychologen und haben es durchgearbeitet nach statistische Methode! Miss N: Oh yes, the statistical method is one of the most successful methods, especially in psychology! Mr. B: Also uie haben Sie das gemacht und uie ist das Name von die grösste Psychologist von Juropa? Mr. A: Ich habe in alle psychologische Werke, ich habe gelesen, alle Namen von die Psychologen unterstrichen und haben gezählt, uelcher Name ist am oftesten genannt. Am oftesten ist genannt (ein Manuskript herausziehend und darin suchend) … Mister Aristoteles. Im Ganzen hat er bekommen 938 Stimmen. Aber zur Sicherheit uir uerden ihn befragen. … Mr. B: All right! But, uie uerden uir finden Mister Aristoteles, dass ich kann machen gleich ein Interview for unser Charleston-Newspaper, lasse gleich kabeln for 200 Dollars. Miss N: Though I never heard his name, surely he will be at this meeting! Mr. A: Oh, uir uorden ganz einfach telephonieren an Mr. Aristoteles! Miss N: Of Course, it is the simplest matter of the world! Here is the telephone! (auf die Wand zeigend) Mr. A (läutet am Telephon): Halloh! Bitte Fräulein, zu verbinden with Mister Aristoteles! … Uie, Sie vorstehen nicht! Mr. Aristoteles! … Oh, no, nicht Aaron

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Nachtrag: Über die Krise in der Psychologie der 1920er-Jahre

Jeiteles! A-r-i-s-t-o-t-e-l-e-s! Ja! … uelche Nummer? Ich bin ueberrascht, dass Sie nicht kennen den most celebrated psychologist of Europe! Yes, also bitte Auskunft vorbinden! … Halloh! … Bitte uelche ist die number of Mr. Aristoteles? … Vorname? Ueiss ich nicht! Muss hier sein auf den Psychologenkongress! … Nicht im Telephonverzeichnis? … Bitte, uas? Nachfragen bei Polizei? Meldeamt? … (läutet ab und wieder an) Während sie noch die Verbindung abwarten, tritt Aristoteles (im griechischen Gewand) auf. Er wird neugierig bemustert. Mr. A: Haben wir die Ehre zu sprechen mit Geheimrat Professor Aristoteles? (Aristoteles verbeugt sich.) Mr. A: Erlauben, dass ich vorstelle! (Sich verbeugend) Professor Johnson von der Charleston-University Massachusetts United States of America (auf Miss N weisend), Miss Mabel Pinkerton! (auf Mr. B weisend) Mister Plumpudding, reporter of the Charleston-Newspaper! Aristoteles: I am very enjoyed to make your acquaintance! Mr. B: (zu Mr. A) Jetzt uerd ich gleich machen das Interview! Mr. A: Mister Aristoteles, Sie sind also Professor Aristoteles! Aristoteles: Im dauernden Ruhestand! (Mr. B schreibt während des folgenden eifrig). Mr. A: Und darf ich fragen, uelche Gehalt Sie haben gehabt zuletzt? Aristoteles: Tausend Drachmen im Jahr? … Als Hofmeister des Prinzen Alexander, dazu noch freie Station! Mr. A: (zu Mr. B) Uie notieren Drachmen, nach letzter Kabel? Mr. B. sucht in einer amerikanischen Zeitung und murmelt einige englische Zahlen, während Mr. A in einem Notizbuch rasch rechnet. Mr. A: Mister Aristoteles, uen Sie uollen kommen auf unsere University, uir uerden Ihnen zahlen das Zehnfach! Thousend and five hundred Dollars im Monat, dazu freie Uberfahrt erste Klasse, schon bezahlt!

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Miss N: Tell him, that our university is the greatest of the world and that we also have the biggest acropolis of the world! It will make impression to him! Aristoteles: Die Akropolis in Athen genügt mir. Mr. A: Am liebsten uir uürden haben for unsere Juniversität eine Verbindung von Behaviorismus und Psychoanalyse! Miss N: Oh, yes! Behaviorism and psychoanalysis, mixed by a good mixer, it would be a very fine psychological cocktail, indeed! Aristoteles: Ich war, wie die Herren vielleicht wissen, immer für eine gute Vermischung, für den Mittelweg! Für eine richtige Versöhnung zwischen Zuwenig und Zuviel. Aber, diese Verbindung kommt mir komisch vor! Miss N: Oh, I am sorry, he will not be the right man for our university! … NEUNTES BILD Mitwirkende: Die fünf Sinne (Optikus, Akustikus, Olfaktorius, Taktylus und Gustator) sowie zwei Frauen (Intensitas und Qualitas) Ort: Gasthof Optikus (noch allein im Gasthof): Ja, das war eine schöne Zeit, damals, als wir noch Alleinherrscher waren. Damals gab’s nur Empfindung. Und jetzt sind wir alt und abgetan, von den Jungen verdrängt! Pfui Teufel! Kommt Mädels, Intensitas und Qualitas, gleich müssen die andern hier sein. Qualitas: Sind schon hier, haben nur die Reizschwelle mit Blumen bekränzt. Intensitas: Und ein gefühlsbetontes »Willkommen« als Transparent angemacht. Optikus: Gut so. Tragt jetzt alles auf. Physikalische und psychologische, spezifische und adaequate Reize: Oh, lieber alter Akustikus, servus! Akustikus: Servus, alter Optikus. Na, wie geht’s? Mir steigt die Klangfarbe vor Freude ins Gesicht.

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Nachtrag: Über die Krise in der Psychologie der 1920er-Jahre

Optikus: Setz Dich nur! Olfaktorius, Taktylus und Gustator müssen auch gleich da sein. Akustikus: Ach, da sind sie ja. (Alle fünf begrüßen einander, setzen sich. Gedrückte Stimmung.) Optikus: Ja, das waren schöne Zeiten. Als wir noch aktiv waren. Optikus: Aber jetzt… Die Zeit ist über uns hinweggegangen. (Kellnerinnen tragen das Bier auf.) Da kann man nichts machen. Silentium! Alle: Oh alte Sinnesherrlichkeit, wohin bist du entschwunden? Wann kehrst du wieder, schöne Zeit? Der Macht so ungebunden? Vergebens horche ich umher : Die Macht der Sinne ist nicht mehr! …

ZEHNTES BILD Mitwirkende: Präsident der Psychologischen Gesellschaft, eine Versuchsperson (Mr. Answer) und vier Psychologinnen in weißen Schürzen, mit dunklen Hornbrillen, Heften und überdimensionalen Bleistiften (Miss Denkpsychologie, Wahrnehmungspsychologie, Willenspsychologie und Gefühlspsychologie) Ort: Vorstandssitzung der Gesellschaft für Psychologie Mr. Answer : Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle: Mein Name ist Mr. Answer, konzessionierte Versuchsperson; seit neuestem Spezialist für lebensnahe Versuche. Ich stehe noch ganz unter dem Eindruck dieses Avancements. Bisher war mein Geschäft recht langweilig, aber seit ich zu lebensnahen Versuchen verwendet werde, ist mein eigenartiger Beruf geradezu ein Vergnügen geworden. Ich stehe natürlich Ihnen, verehrte Anwesende, besonders gerne zur Verfügung. Es wäre mir eine besondere Ehre, wenn jemand aus Ihrer Mitte mit mir ein Experiment anstellen würde. Präsident (kommt aus dem Publikum auf ihn zu): Es trifft sich ausgezeichnet. Ihr Wunsch soll erfüllt werden. Jetzt ist ein feierlicher Moment gekommen, der die Krönung Ihrer bisherigen Arbeit bringen wird. Wir haben es in der Vorstandssitzung der Gesellschaft als höchst bedauerlich befunden: Es gibt eine Miss Deutschland, eine Miss Österreich, eine Miss Europa. Dass aber die Wissenschaften von der edlen Sitte dieser Wahlhandlungen noch nicht berührt sind,

Nachtrag: Über die Krise in der Psychologie der 1920er-Jahre

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widerspricht durchaus dem Prinzip der Gleichförmigkeit der Welt. Drum sind Sie ausersehen, wenigstens für die Psychologie diesem Mangel abzuhelfen. Vor Ihnen werden jetzt die schönsten weiblichen Blüten aus dem Reich der Psychologie erscheinen und Sie werden aus ihnen eine Miss Psychologie auszuwählen haben. Dann natürlich werden Sie die Erlebnisse, die Sie dabei gehabt haben, zu Protokoll geben; zeigen Sie sich jetzt Ihrer Aufgabe würdig! Mr. Answer : Das wird großartig! Chor der Psychologinnen: Als erste erscheint Miss Denkpsychologie. Miss Denkpsychologie: Einblick geb’ ich dir ins Denken. Mir sollst du drum die Stimme schenken. Chor der Psychologinnen: Miss Wahrnehmungspsychologie. Miss Wahrnehmungspsychologie: Denken gäb’s nicht, das ist klar, nähmst du die Dinge nicht erst wahr. Chor der Psychologinnen: Miss Willenspsychologie. Miss Willenspsychologie: Kant sagt: »Das Wichtigste ist Wollen!« Drum sollst du mir den Lorbeer zollen. Chor der Psychologinnen: Miss Gefühlspsychologie. Miss Gefühlspsychologie: Der ganze Mensch sich dir enthüllt, wenn du nur weißt, was er gefühlt. Chor der Psychologinnen: Vier schöne Mädchen sind wir hie, nun wähl doch endlich Miss Psychologie. Die vier Psychologinnen tanzen. Mr. Answer umkreist sie währenddessen und drückt mit großen Gesten pantomimisch die Qual der Wahl aus. Mr. Answer : Nein, nein, nein. Das muss missglücken! Das ist mir alles viel zu viel und übersteigt meine Erfahrungen als Versuchsperson in ordentlichen Experimenten. Nein, das will ich nicht! Das ist ja die reinste Parapsychologie! - VORHANG -

Literatur

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Bildverzeichnis

Cover : Portrait-Malerei von Sergius Pauser, 1932 (Ó Angela Pauser und Dr. Wolfgang Pauser ; www.sergius-pauser.at) Bilder von der Abendveranstaltung in der Bartensteingasse: Ó Christian Thiel, Berlin (www.cthiel.com) Abb. 1: Ó Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) Abb. 2 (links): Ó podpod design (http://podpoddesign.at) Abb. 2 (rechts): Ó Dr. Ewald Judt / Austria-Forum (http://austria-forum.org) Abb. 3: aus: »Das Neue Wien«, Städtewerk herausgegeben unter offizieller Mitwirkung der Gemeinde Wien. Band II. Wien: Elbemühl Papierfabriken und Graphische Industrie A. G., 1927, S. 458. Abb. 4: Ó Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) / Wagner Abb. 5: Ó Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) Abb. 6: Ó Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) / Kob¦ Abb. 7: aus: »Das Neue Wien«, Städtewerk herausgegeben unter offizieller Mitwirkung der Gemeinde Wien. Band II. Wien: Elbemühl Papierfabriken und Graphische Industrie A. G., 1927, S. 463. Abb. 8 (links und rechts): Knaur Verlag Abb. 9: Ó Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) / Howard

74 Abb. 10: Ó Christian Thiel, Berlin (www.cthiel.com) Abb. 11: Deutsche Gesellschaft für Psychologie e. V. (DGPs) Abb. 12: Privatbesitz

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Danksagung

Wir bedanken uns bei Rektor Prof. Heinz Engl und Vize-Rektorin Prof. Susanne Weigelin-Schwiedrzik der Universität Wien, bei Dekan Prof. Germain Weber der Fakultät für Psychologie sowie bei Prof. Christian Ehalt von der Wissenschaftsund Forschungsförderung der Kulturabteilung der Stadt Wien, ohne deren Unterstützung die Festtage »90 Jahre Entwicklungspsychologie in Wien« und die Bühler-Retrospektive am Vorabend nicht möglich geworden wie auch das vorliegende Büchlein nicht zustande gekommen wäre. Viele unserer Studienassistent/inn/en und Mitarbeiter/innen waren am Gelingen der Festtage und insbesondere der Abendveranstaltung »Retrospektive: Charlotte Bühler und ihre Zeit« beteiligt und haben bei der Entstehung dieses Büchleins mitgewirkt: Christian Dingemann hat die Aufnahme-Technik der Veranstaltung betreut, Sandra Müllner die aufgenommenen Beiträge und Diskussionen transkribiert, Camilla Hermann die alten Textvorlagen des Kabaretts aufbereitet und Hendrik Haßelbeck schließlich Literatur-, Bild- und Autorenverzeichnis zusammengestellt sowie die Bildrechte eingeholt. Ihnen allen gilt mein ganz besonderer Dank.

Autorenverzeichnis

Univ.-Prof. DDr. Lieselotte Ahnert Universität Wien Institut für Angewandte Psychologie: Gesundheit, Entwicklung und Förderung Arbeitsbereich Entwicklung Liebiggasse 5 A-1010 Wien Tel.: +43-(0)1-4277 472 60 Fax: +43-(0)1-4277 847 260 E-Mail: [email protected] Homepages: http://entw-psy.univie.ac.at/ http://www.lieselotte-ahnert.de Univ.-Prof. Mag. Dr. Gerhard Benetka Sigmund Freud PrivatUniversität Wien Schnirchgasse 9a A-1030 Wien Tel.: +43-(0)1-798 40 98 DW: 64 E-Mail: [email protected] Homepage: http://www.sfu.ac.at/psychologie/index.php?id=21 em. Univ.-Prof. Dr. Klaus Grossmann Universität Regensburg 93040 Regensburg E-Mail: [email protected] Homepage: http://www.psychologie.uni-regensburg.de/Grossmann

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em. Univ.-Prof. Dr. Brigitte Rollett Universität Wien Institut für Angewandte Psychologie: Gesundheit, Entwicklung und Förderung Arbeitsbereich Entwicklung Liebiggasse 5 A-1010 Wien Tel.: +43-(0)1-4277 472 72 Fax: +43-(0)1-4277 847 272 E-Mail: [email protected]