Charisma im Verständnis des Johannes Chrysostomos und seiner Zeit: Ein Beitrag zur Erforschung der griechisch-orientalischen Ekklesiologie in der Frühzeit der Reichskirche 9783666551291, 3525551290, 9783525551295


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Charisma im Verständnis des Johannes Chrysostomos und seiner Zeit: Ein Beitrag zur Erforschung der griechisch-orientalischen Ekklesiologie in der Frühzeit der Reichskirche
 9783666551291, 3525551290, 9783525551295

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Adolf Martin Ritter · Charisma

ADOLF M A R T I N RITTER

Charisma im Verständnis des Joannes Chrysostomos und seiner Zeit Ein Beitrag zur Erforschung der griechisch-orientalischen Ekklesiologie in der Frühzeit der Reichskirche

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte Band 25

ISBN 3-525-55129-0 Als Habilitationsschrift

auf Empfehlung

der Universität Göttingen gemeinschaft. -

©

der Evangelisch-Theologischen

Fakultät

gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungs-

Vandenhoeck

Sc

Ruprecht,

Göttingen

1972.

-

Printed

in

Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanisdiem Wege zu vervielfältigen. Satz und Druck: Guide-Druck, Tübingen. Bindearbeit: Hubert 8c Co., Göttingen

Vorwort Diese Untersuchung wurde zu Beginn des Wintersemesters 1970/71 von der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen als Habilitationsschrift angenommen. Wenn idi sie nunmehr in nur geringfügig überarbeiteter Form dem Druck übergebe, so bin ich mir zwar bewußt, damit angesichts der gegenwärtig allenthalben, audi in Kirche und Theologie, wahrzunehmenden Flucht aus der Geschichte ein „unmodernes" Buch vorzulegen. Doch macht mir dies um so weniger Beschwer, als eine Alternative zu einer Theologie, welche — nicht zuletzt, um den Herausforderungen der Gegenwart in angemessener Weise zu begegnen, wie, um die in der Zukunft liegenden Aufgaben und Ziele nicht zu verfehlen — den lebendigen Kontakt mit der Geschichte, vorab ihrer eigenen, für unverzichtbar hält, bisher nirgends sichtbar geworden, ja, wegen der spezifischen Geschiditsbezogenheit christlichen Glaubens im Ernst nicht einmal denkbar zu sein scheint. In jedem Fall ging es mir, wie unschwer zu erkennen sein wird, auch in dieser Arbeit nicht etwa darum, völlig zeit- und selbstvergessen etwas längst Vergangenes zu erkunden. Vielmehr war und bin ich davon überzeugt, mit den hier verhandelten geschichtlichen Fragen zugleich einen Beitrag für das gegenwärtige ökumenische Gespräch, zumal für den Dialog mit den orthodoxen Ostkirchen, zu leisten. Vielleicht aber vermag diese historische Untersuchung darüber hinaus sogar in den eigenen Reihen hie und da wieder den Blick d a f ü r öffnen zu helfen, „daß sich aus der Vergangenheit lernen läßt", und zwar „lernen läßt, wie man es machen soll, und nicht bloß, wie man es nicht machen soll" 1 . So nehme ich denn, statt der Versuchung nachzugeben, das Buch gleichsam in Schutz zu nehmen oder dem Urteil des Lesers in irgendeiner Weise vorzugreifen, sein Erscheinen vielmehr zum Anlaß, zunächst den beiden Herrn Referenten, Prof. D . Carl Andresen und Prof. D r . Bernd Moeller, sodann aber auch meinen verehrten Lehrern, Prof. D . H a n s Freiherrn von Campenhausen und Prof. D . Hermann Doerries, für ihre Kritik auch an dieser Stelle herzlich zu danken. Herrn Prof. Andresen schulde ich darüber hinaus besonderen D a n k für die mir, seinem langjährigen Assistenten, zuteilgewordene Förderung und oft genug bewiesene großartige Liberalität. Außerdem habe ich dem Herrn Verleger für die gewiß nicht risikolose Betreuung eines solch „unmodernen" Buches und schließlich der Deutschen 1 B. Moeller, Pfarrer als Bürger ( = Göttinger Universitätsreden 56), Göttingen 1972, S. 5 f.

6

Vorwort

Forschungsgemeinschaft dafür zu danken, daß sie wiederum für den Druck einen namhaften Zuschuß gewährte. Gewidmet aber sei das Buch meiner Frau. Göttingen, Ostern 1972

Adolf Martin Ritter

Inhalt Vorwort

5

Einleitung

9

Hauptteil: C H A R I S M A IM V E R S T Ä N D N I S DES J O A N N E S CHRYSOSTOMOS U N D SEINER ZEIT I. Das Charismaverständnis des Joannes Chrysostomos

19 19

1. Die urchristlichen Charismen

23

2. Charisma als gegenwärtige Wirklichkeit Exkurs

34 42

3. Die Vielfalt der Charismen a) χάρισμα und κατόρθωμα b) Die Vielfalt des „Charismas der Lehre" c) Mönchtum und Kirche

53 55 70 90

4. Charisma und Amt a) Die kultisch-sazerdotale Funktion b) Die Funktion der Wortverwaltung II. Charisma in der zeitgenössischen antiochenischen und alexandrinischen Theologie 1. Theodor von Mopsuestia

.

98 99 109

125 125

2. Theodoret von Kyrrhos

147

3. Kyrill von Alexandreia

170

Zusammenfassung

und Schluß

197

Verzeichnis der benutzten Literatur

201

Register

212

Einleitung „Der paulinische Begriff des Charisma ist kein archaistischer Begriff. Durch das Überwuchern festgefügter rechtlicher Ordnungen und den Glauben an deren Heilskraft ist er verloren gegangen und jahrhundertelang verschüttet geblieben. H ä t t e man ihn auch gekannt, so hätte man doch nicht gewagt, ihm seine volle Bedeutung für das kirchliche Leben zu geben, aus Furcht, daß er liebgewordene und für heilig gehaltene Formen ändern könnte. Aber als in neuer Zeit durdhi die Macht der Ereignisse manche kirchliche Einrichtung erschüttert wurde, die früher für unantastbar galt, als es sich zeigte, daß selbst das kirchliche Amt als solches nicht mehr von dem früheren Glorienschein umflossen sei, da ist jener Begriff zu guter Stunde aus dem Goldschachte der christlichen Urzeit hervorgehoben worden . . . Er will den Blick zurücklenken von den wandelbaren Gestaltungen auf die ewigen K r ä f t e und Gaben, womit Gott die Gemeinde seines Gesalbten ausgestattet hat, von dem Kleide der Kirche auf ihren Herzschlag, von dem Sichtbaren auf das Unsichtbare, das doch ohne Unterlaß zur Sichtbarkeit drängt." 1 Dies ist das Fazit einer vor mehr als 70 Jahren erschienenen Studie zum ursprünglichen Sinn, zum geschichtlichen Schicksal und zur aktuellen Bedeutung der paulinischen Charismenlehre. Es ist die Untersuchung von M. Lauterburg „Der Begriff des Charisma und seine Bedeutung für die praktische Theologie", eine Arbeit, die nicht nur an dem Wandel im Verständnis der Charismen, der seither eingetreten ist und über die Konfessionsgrenzen hinweg zu einer weitgehenden Übereinstimmung unter den Exegeten der Charismatexte geführt hat 2 , einen nicht unwesentlichen Anteil hat, sondern die auch als exemplarisch gelten darf für die Neubesinnung über Wesen, Gestalt und Aufgabe der Kirche im Licht der paulinischen Lehre von der Gemeinde als dem aus mannigfaltigen und einander ergänzenden Charismen und Charismatikern bestehenden „Leib Christi", wie sie ebenfalls längst ökumenische Dimensionen gewonnen und ihre Parallele auch im Bereich der römisch-katholischen Theologie und Kirche gefunden hat 3 . Somit haben sich die hochgespannten Erwartungen wenigstens teilM. L a u t e r b u r g , S. 140. Vgl. jetzt besonders G . Hasenhüttl, S. 19—280, sowie Α. M . Ritter, S. 2 8 — 3 3 . 66 f. 223 bis 229. 2 4 5 — 2 4 8 , und die d o r t verzeichnete und besprochene Literatur. 3 Vgl. d a z u wiederum v o r allem G . Hasenhüttl, S. 3 2 1 — 3 5 9 . Zur ekklesiologischen Neubesinnung innerhalb der neueren katholischen Theologie s. ferner das Werk v o n U . Valeske, V o t u m Ecclesiae, und speziell zum Rückbezug auf die paulinische C h a r i s matik e t w a K . R a h n e r , D a s Charismatische in der Kirche, sowie die lehramtlichen Äuße1 2

10

Einleitung

weise erfüllt, mit denen der Verfasser seine Schrift einst in die theologische und kirchliche Öffentlichkeit hinausgehen ließ. Die Hoffnung freilich, daß in „demselben Maße, als die Lehre von den Charismen wieder auf den Leuchter gestellt" werde, auch „die Kirche gesunden" werde 4 , scheint sich mittlerweile als trügerisch, ja viel zu naiv erwiesen zu haben und jedenfalls gegenwärtig einer Realisierung ferner zu sein als je zuvor. H a t doch die „Macht der Ereignisse" inzwischen mehr bewirkt, als daß sie bloß „manche", „früher für unanstastbar" geltende „kirchliche Einrichtung erschüttert" und das „kirchliche Amt" seines einstigen „Glorienscheins" beraubt hätte. Vielmehr sieht sich die Theologie gegenwärtig weithin wieder in die „Elementarschule des Verstehens" (M. Doerne) zurückversetzt, gerade auch hinsichtlich dessen, was Kirche sei, ja wozu sie überhaupt da sei. Und doch, meine ich, wird es Kirche geben, solange es Christen gibt, „gilt heute wie immer, daß Christsein in der Gliedschaft der Gemeinde steht"; „wo einer es mit der Dargabe seines Personlebens an Gott und an den Gottes Stelle vertretenden Nächsten ehrlich meint, da wird das Dabeisein in der .Versammlung' nicht ausbleiben. Ich kann nicht mehr Liebe erweisen, als ich Liebe empfange. Ich empfange sie aber aus dem Wort Christi, wie es in der Gemeinde öffentlich ausgerufen und ausgeteilt wird" 5 . Und was es audi — heute wie in Zukunft — an Überlegungen und Bestrebungen zur Reform, „Demokratisierung" oder gar „Umfunktionierung" der Kirche geben mag, es wird sich nach wie vor zu bewähren haben am Wort und Willen dessen, dessen Namen die Kirche trägt, oder die „Kirche der Zukunft" wird schwerlich eine Zukunft haben! Und schließlich : wenn es richtig ist, daß „zum ersten Male in der uns überschaubaren Geschichte" die Zeit gegen das Christentum läuft, daß man sich „zum ersten Male seit der Urchristenheit . . . wieder ernsthaft vorstellen" kann, „daß die Vision der Johannesoffenbarung buchstäblich in Erfüllung geht: der Antichrist sichtbarlich und weltweit über den Gräbern der Heiligen herrschend und rungen in der Enzyklika Pius' X I I . „Mystici Corporis" (ASS 35, 1943, S. 200) und in der „Dogmatischen Konstitution ,Über die Kirche' " des II. vatikanischen Konzils, wie sie H. Schürmann in seinem Beitrag zu dem von G. Baraúna herausgegebenen Sammelwerk „De Ecclesia. Beiträge zur Konstitution ,Über die Kirche' des zweiten Vatikanischen Konzils" (I, 1966, S. 494—517) zusammengestellt, besprochen und dem exegetischen Befund konfrontiert hat. 4 So E. Haupt, Zum Verständnis des Apostolats (S. 150 f.), zustimmend zitiert von M. Lauterburg, S. 140 f., wenn auch mit der Einschränkung, daß zwar „von einer Lehre das Heil der Kirche" nicht „abhängen" könne; „allein die steigende Einsicht in die Kräfte, welche von oben her zur Erhaltung einer auch äußerlich wahrnehmbaren Glaubensgemeinschaft gewirkt werden, muß und wird das Vertrauen auf dieselben stärken und so ihrem Wirken selber schließlich eine neue Bahn schaffen". 5 M. Doerne, Die Alten Episteln. Homiletische Auslegung, 1967, S. 68 (zu Rom. 12,1—8). Damit ist zugleich gesagt, daß „gerade das spezifisch religiöse und gottesdienst-

Einleitung

11

nur in der Wüste noch Raum f ü r Gottes Volk", und es daher f ü r die, „die weiterhin Christen bleiben wollen", darauf ankäme, sich „im Dienste Christi auf Partisanentätigkeit" zu „rüsten" 6 , so könnte sich wie wenig sonst gerade die so ganz und gar nicht „triumphalistische" paulinische Sicht der Kirche als des aus lauter zum Dienst ermächtigten und verpflichteten „Gliedern", aus lauter Charismatikern bestehenden „Leibes Christi" als hilfreich und wegweisend erzeigen. Wie ist dies paulinische Zeugnis in der Vergangenheit, genauer, wie ist es in der Geschichte der Alten Kirche verstanden und aufgenommen worden? Dies zu untersuchen, ist die Aufgabe, die sich die vorliegende Arbeit gestellt hat. Obwohl die paulinischen Charismaaussagen selbst in den letzten Jahrzehnten in vorher wohl nie gekanntem Ausmaß das Interesse der Exegeten wie auch der Praktiker und „Propheten" auf sich gezogen und eine inzwischen kaum noch überschaubare Literatur hervorgerufen haben, gibt es für die Frage, wie sie im Laufe der Kirchengeschichte weitergewirkt haben, verstanden oder auch mißverstanden worden sind, kaum nennenswerte Vorarbeiten. Sondern soweit sich die bisherige Forschung mit dieser Frage überhaupt beschäftigt hat, ist sie entweder vorwiegend am allgemeinen Phänomen des Charismatischen interessiert gewesen oder von einem Verständnis von Charisma ausgegangen, das den Hauptakzent auf das Moment des „Übernatürlichen", sich auf Aufsehen erregende Weise Äußernden legt und den Charismabegriff fixiert auf die Bedeutung der wunderhaften, fremdartigen Manifestation des Geistes und damit ebenfalls nicht dem paulinischen Verständnis entspricht. Oder aber man hat sich mit einer knappen Ubersicht über die Geschichte des Charismabegriffs zufrieden gegeben und sich dabei unvermeidlicherweise der Gefahr vorschneller Generalisierungen ausgesetzt. Das Beste zum Thema des Charismaverständnisses in der Alten Kirche findet sich noch immer in der Monographie von M. Lauterburg. Hier wird nach der „Entwicklung des Begriffs Charisma im Anschluß an Paulus" (S. 4 ff.) auch ein Uberblick über dessen geschichtliche Entwicklung bis ins 19. Jahrhundert hinein gegeben, wobei aber die patristische Periode am ausführlichsten behandelt wird, und zwar sowohl im Hinblick auf die „Geschichte des Begriffes abgesehen vom geistlichen Amt" (S. 41 ff.) als auch hinsichtlich der „Spuren des Charisma in der Geschichte des Amts und der Amtslehre" (S. 50—77, bes. S. 69 ff.). Auch in der Fragestellung stimmt die Untersuchung Lauterburgs mit der hier vorgelegten insoweit überein, als mit Bedacht zwischen der „Geschichte der Geistesgaben, wie wir dieselben nach Paulus auffassen", und der Geschichte des Charismabegriffes unterschieden und nur dem letzteren weiter nachgegangen wird 7 , anders als lidie Leben der Kirche ihr bedeutendster Beitrag für die Gesellschaft" ist (W. Pannenberg, Thesen zur Theologie der Kirdie, 1970, S. 20). 7 * E. Käsemann, Theologen und Laien, S. 292. M. Lauterburg, S. 40.

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Einleitung

etwa in der ein Jahr später erschienenen Untersuchung von H . Weinel über „Die Wirkungen des Geistes und der Geister im nachapostolischen Zeitalter" (1899). Doch weist auch die Arbeit Lauterburgs zu deutliche Mängel und Lükken auf, als daß man sich auf ihre Ergebnisse verlassen könnte. Zu bemängeln ist, was die Darstellung der altkirchlichen Entwicklung anlangt, vor allem zweierlei: Einmal ist in dieser Darstellung die gesamte Mönchsliteratur völlig unberücksichtigt geblieben, was um so schwerer wiegt, als die monastische Bewegung des vierten und fünften Jahrhunderts ja auch ein Wiederaufleben der urchristlichen Charismen mit sich gebracht hat und immerhin mit der Möglichkeit geredinet werden muß, daß dies Rückwirkungen auch auf die „offizielle" Kirche hatte, nicht zuletzt deshalb, weil seit dieser Zeit führende Kirchenmänner immer wieder aus den Reihen des Mönchtums hervorgegangen sind. Zum andern ist Lauterburgs Materialdarbietung bestenfalls für die Zeit bis zu Orígenes als annähernd vollständig zu bezeichnen, während von da an die Belege immer sporadischer und zufälliger werden und gerade die Blütezeit, das „goldene Zeitalter" der patristischen Literatur (J. Quasten), eine ganz unzureichende Behandlung erfährt. So bedarf es auf alle Fälle der Überprüfung auf seine Richtigkeit, wenn Lauterburg zu dem Ergebnis kommt, daß das paulinische Verständnis von Charisma in der Kirchengeschichte schon bald eine einschränkende Auslegung erfahren habe, dergestalt, daß das bis in die Gegenwart reichende verhängnisvolle Mißverständnis der Charismen im Sinne von wunderwirkenden Geistesgaben bereits in der Alten Kirche dominiert habe. Ferner seien die so verstandenen Charismen ebenfalls — zumindest der Sache nach — schon in der Alten Kirche als Privilegium ecclesiae primitivae, d. h. als nur der allerersten, sozusagen noch unausgereiften Epoche der Kirchengeschichte zugehörig betrachtet worden, wobei im einzelnen lediglich offenbleibe, ob das als Mangel anzusehen sei oder nicht. Was aber an „Spuren" des Charisma fortwirkte, dessen „Fettigkeit" habe schließlich ganz und gar das institutionelle kirchliche Amt in sich verschlungen. M. a. W. sei Charisma seit dem ausgehenden vierten Jahrhundert durchweg als Amtscharisma verstanden worden. Als weitere einschlägige Untersuchung nach und neben der von M. Lauterburg ist hier die Tübinger neu testamentliche Dissertation von F. Grau zu nennen mit dem Titel: „Der neutestamentliche Begriff χάρισμα. Seine Geschichte und seine Theologie", die in einem ersten Teil die Geschichte des Begriffs von seinen ersten Bezeugungen in der Septuaginta, bei Philo und in der hellenistischen Literatur bis in die nachneutestamentliche Zeit hinein Revue passieren läßt (S. 11—121), ehe sie in einem zweiten Teil dessen „Theologie" im Anschluß an Paulus zu erheben sucht (S. 123 bis 275).

Einleitung

13

Grau meint dabei zeigen zu können, daß der Begriff χάρισμα nicht der biblischen Begriffswelt, sondern dem Hellenismus entstamme, wo er freilich als selten gebrauchter und wenig charakteristischer Begriff kaum eine Rolle gespielt habe, während die „Geistesgaben" in einem Traditionsstrom mannigfaltiger pneumatischer Erfahrung stünden, wie sie besonders die alttestamentliche Frömmigkeit gekannt und für die messianische Heilszeit in Zusammenhang mit einer erneuten Ausgießung des Geistes Gottes erneut erwartet habe. Erst in der Theologie des Paulus seien sich die beiden Linien, die Geschichte des Begriffs χάρισμα und die der „Geistesgaben" begegnet. Doch habe der Charismabegriff im weiteren Verlauf seiner Geschichte seine ausgezeichnete Bedeutung verloren und sei nur noch in einem unbestimmten und abgeblaßten Gebrauch verwendet worden, entweder in der Weise des vorpaulinischen hellenistischen Sprachgebrauchs oder als Reminiszenz an die paulinische Terminologie, ohne weiterhin die inhaltliche theologische Füllung und Prägnanz wie bei Paulus zu besitzen. Ebenso haben die „Geistesgaben" mit dem ausgehenden neutestamentlichen Zeitalter zunehmend an Bedeutung f ü r das kirchliche Leben verloren, weil in der festgefügten Ordnung der kirchlichen Institutionen kein Raum mehr für das pneumatische Element gewesen sei. Der Geist habe vor allem als Amtsgeist im kirchlichen Lehramt fortgelebt. Wo man noch Geistesgaben gekannt habe, da seien sie einseitig unter dem Aspekt des Wunderhaft-Mirakulösen betrachtet worden. So gleiche die Geschichte des Begriffs χάρισμα und die der „Geistesgaben" zwei Linien, die sich in der Theologie des Paulus schnitten, um sich danach wieder zu verlassen 8 . Es ist jedoch eine völlig offene Frage, inwieweit diese Beobachtungen f ü r das altkirchliche Charismaverständnis insgesamt Gültigkeit besitzen, da Grau seine Untersuchung nicht über die Zeit der sog. „frühkatholischen Väter" (Justin, Irenäus, Clemens Alexandrinus, Orígenes) hinaus ausgedehnt hat und nur anhangsweise noch auf Hippolyt und Eusebeios von Kaisareia eingegangen ist. Denn so wenig die „Kirche des ausgehenden zweiten und des dritten Jahrhunderts . . . als die organische Fortsetzung der verschiedenen Erscheinungsformen des Christentums im zweiten Jahrhundert zu verstehen" ist, sondern „durch den entschlossenen Rückgriff auf das apostolische Evangelium als N o r m der Kircheneinheit, in der Sammlung um den Kanon des Neuen Testaments", entstand 9 , so wenig ist die altkirchliche Kirchen- und Theologiegeschichte im weiteren etwa einlinig verlaufen. Eine bemerkenswerte Zäsur, gerade auch in auslegungsgeschichtlicher Hinsicht, markiert vielmehr vor allem die Zeit von der Mitte des vierten bis zur Mitte des fünften Jahrhunderts, in der sowohl die Schriftauslegung allenthalben einen mächtigen Aufschwung genommen hat, als auch — in β

Vgl. Graus eigene Zusammenfassung seiner Ergebnisse, S. 276 ff. • G. Kretsdimar, Geschichte, S. 7.

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Einleitung

West wie Ost! — eine verstärkte Rückbesinnung auf Paulus zu konstatieren ist. Eine knappe Übersicht über die „Geschichte der christlichen Charismatik" vom Neuen Testament bis zur Hochscholastik bietet schließlich U. von Balthasar in seinem Kommentar zur theologischen Summe des Thomas von Aquin, II/II, 171—182 („Besondere Gnadengaben und die zwei Wege menschlichen Lebens"), im 23. Band der Deutschen Thomas-Ausgabe (S. 254—267). Darin durchmustert von Balthasar nicht nur, im Unterschied zu Lauterburg und Grau, die gesamte patristische Tradition und schenkt er dem Mönchtum als dem „Lebensgebiet, das neben stärksten alexandrinischen Einflüssen (Evagrius) die urchristliche charismatische Tradition am reinsten überlieferte" (S. 266), gebührende Aufmerksamkeit. Sondern es rückt bei ihm auch vieles dadurch zwangsläufig in ein anderes Licht, daß er seinen Charismabegriff „weniger vom Wort und seiner Geschichte als von der Sache" her gewinnt, „die es bezeichnet": „der Geistausgießung, wie sie im Alten Testament und im Evangelium verheißen wird . . ., wie sie an Pfingsten sich zentral ereignet. . . und durch die Apostelgeschichte hindurch in ihren Auswirkungen sich zeigt . . . , um in der Kirche von Korinth eine Art Höhepunkt zu erreichen . . . und in der nachapostolischen Kirche — anscheinend in einem Abklingen — noch eine Zeitlang fortzubestehen" (S. 255), daß er also gerade nicht zwischen „Charismen" und „Geistesgaben" begrifflich differenziert und sich in seinem Verständnis der „pneumatischen" Erscheinungen ebenso sehr an Lukas wie an Paulus orientiert. Zudem hat es seine Konsequenzen für seine Darstellung und Deutung der geschichtlichen Einzelheiten, soweit sie zur Sprache kommen, daß er „die ganze Charismatik der Urkirche", oder wie er bezeichnenderweise auch sagen kann: die „, Zeichen' — Ordnung", „als ein heilsgeschichtlich sehr delikates Phänomen" betrachtet und meint, „durch die Einmaligkeit der heilsgeschichtlichen Situation (die Fülle der Zeit) bedingt", besitze „es eine Vergänglichkeit, ohne doch in seinem Wesentlichen vergehen zu können"; es könne „nur aus der Lage zwischen dem Alten Bund und der nachfolgenden Kirchengeschichte redit verstanden werden. Mit anderen Worten: die Charismatik der Apostelkirche" wachse „heraus aus der Prophetik des Alten Bundes und . . . hinein in die Mystik der Kirchengeschichte". Sie sei „der genaue Bindestrich zwischen beiden: das Woraufhin der Prophetik und das Wovonher der Mystik und als die übergängliche Mitte zwischen beiden auch in einer bestimmten . . . Weise das Maß, das beide regelt" (S. 256). Es wird jedoch nicht hinlänglich deutlich, inwiefern diese seine heilsgeschichtliche Ortsbestimmung der Charismatik oder „ .Zeichen' — Ordnung" aus den neutestamentlichen und patristischen Quellen selbst gewonnen und nicht vielmehr von außen, von einer von den geschichtlichen Tatsachen nicht weiter irritierten „Wesensschau" oder aber von einer späteren

Einleitung

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Dogmatik her an sie herangetragen ist. Auch ist sein von daher bestimmter und gefärbter geschichtlicher Abriß, um von inhaltlicher Kritik hier ganz abzusehen, viel zu kurz gehalten, als daß die Kenntnis der Fakten gegenüber den Untersuchungen von Lauterburg und Grau wesentlich hätte verbreitert und auf eine gesicherte Grundlage gestellt werden können. Damit ist — bis auf Lexikonartikel 10 und Untersuchungen von Spezialfragen 11 — die Liste der selbständigen Beiträge zu unserem Thema bereits im wesentlichen erschöpft12 und, wie ich meine, die Notwendigkeit oder doch wenigstens die Berechtigung einer erneuten Beschäftigung mit dem Charismaverständnis in der Alten Kirche nachgewiesen. Auch ist ihr methodisches Vorgehen insofern vorgezeichnet, als es angesichts der Forschungssituation wohl wenig sinnvoll wäre, erneut einen Längsschnitt durch die gesamte patristische Tradition zu legen, und sich statt dessen ein Querschnitt durch das Schrifttum eines oder einiger Hauptzeugen dieser Tradition empfiehlt, um zu prüfen, inwieweit die bisherigen Längsschnitte und Ubersichten die Mitte des altkirchlichen Charismaverständnisses getroffen und aufgedeckt haben. Nur bei einer solchen Begrenzung dürfte es auch möglich sein, den Gefahren einer rein begriffsgeschichtlichen Untersuchung zu entgehen, d. h. nicht nur die Bedeutungen des isolierten Einzelterminus χάρισμα zu registrieren und zu ordnen, sondern ihn auch in seinem sprachlichen und sachlichen Kontext, „in seiner Verflochtenheit mit den ihm be10 Vgl. bes. H . Leclercq in: DACL, 3, 1, 579—598, und den gedankenreichen Artikel von K. Rahner in: LThK 2 , II, 1027—1030. In protestantischen Lexika fehlt seit jeher ein Artikel über die Charismen bzw. die Geistesgaben in der Kirchengeschichte, so auch in der neuesten Ausgabe der R G G . 11 Vgl. etwa A. Kemmers Untersuchung zu Sinn und Deszendenz des Ausdrucks „charisma maximum" bei Joh. Cassianus. 12 Der geschichtliche Exkurs G. Ruhbachs (G. Ruhbach, S. 408—412) bringt im Vergleich zu Lauterburg kein neues Material, sondern f a ß t i. w. dessen Analysen und Ergebnisse zusammen, so daß auf ihn hier nicht eigens einzugehen ist. Ebenso kann W. Schamonis interessanter Beitrag über „Die Charismen in der Geschichte der katholischen Kirche" hier unberücksichtigt bleiben, weil er sich in der Hauptsache mit katholischen Heiligen und Mystikern des 16. und 17. Jh.s beschäftigt und überdies die Charismen als „Rand- und Begleiterscheinungen der Mystik" (S. 223) a u f f a ß t , also „enthusiastisch" mißversteht. Die große Arbeit von G. Hasenhüttl endlich bietet zwar im Anschluß an die ausführliche Besprechung des neutestamentlichen Befunds unter dem Titel „Die Entwicklung einer Gemeindestruktur ohne Charismen" auch einen kurzen Überblick über den Befund bei den apostolischen Vätern bis zu „Polykarp und anderen" (S. 283—308), geht aber dann sogleich aufs 19. Jh. über, und zwar mit der Begründung, in der nachapostolischen Zeit seien „entscheidende Weichen gestellt" worden, „wodurch die Entwicklung zum großkirchlichen Verständnis der Gemeindeordnung eingeleitet" werde. „So vielfältig der Befund der patristischen Zeit" sei „und auch die mittelalterliche Theologie keineswegs einlinig" verlaufe, so habe doch „eine Entwicklungslinie, nämlich die hierarchische, ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert gefunden. Zugleich" setzte „in ihm die Neubesinnung auf die Urkirche im erhöhten Maße wieder ein" (S. 308). Mag man nun diese Begründung einleuchtend finden oder nicht, in jedem Fall scheidet somit auch H.s Monographie als Beitrag zur Geschichte der Charismen in der Kirche für uns aus.

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Einleitung

nachbarten . . . Vorstellungen . . . als Glied eines geordneten Sprach- und Wirklichkeitsganzen in seiner damaligen lebendigen Bedeutung sichtbar" zu machen 13 . Nun aber ist, wie wir sahen, in den bisherigen Untersuchungen zur Geschichte des Charismabegriiis in der Alten Kirche besonders das ausgehende vierte und beginnende fünfte Jahrhundert zu kurz gekommen und damit gerade die Zeit, in der, wie wohl niemand bestreiten wird, die patristische Exegese und Theologie sozusagen in den Vollbesitz ihrer Möglichkeiten gelangte. Auch kommt dieser Zeit für das Selbstverständnis jener Kirchen, die sich in einem ununterbrochenen Traditionszusammenhang mit der „ungetrennten Christenheit" der ersten Jahrhunderte wissen und als deren legitime Erben fühlen, eine ungleich größere Bedeutung zu als den Jahrhunderten zuvor. Und schließlich ist diese Blütezeit der griechischen und lateinischen Patristik ganz allgemein vor allem von der protestantischen Forschung bisher kaum ebenso intensiv bearbeitet worden wie die ersten zwei oder auch drei Jahrhunderte, so daß der Eindruck entstehen konnte, als verliere die Kirchen- und Theologiegeschichte für den protestantischen Historiker mit dem Augenblick an Interesse, da der „Katholizismus" scheinbar „fertig" vor unsern Blick tritt und das Feld beherrscht. Aus allen diesen Gründen schien es angezeigt zu sein, gerade in diesem Zeitraum die Sonde anzusetzen und einen charakteristischen Querschnitt zu versuchen. Als besonders ergiebig erwies sich dabei das Schrifttum des großen altkirchlichen Predigers Joannes Chrysostomos, das darum auch im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht, eines Mannes also, dessen theologie- und dogmengeschichtliche Bedeutung im allgemeinen nicht sonderlich hoch eingeschätzt wird. Als exemplarisch darf etwa das Urteil E. Preuschens in seinem Chrysostomosartikel in Herzog-Haucks „Realencyklopädie" gelten, wonach die Dogmengeschichte „keinen Grund" habe, „Chrysostomus auch nur ein Kapitel zu widmen"; „in der Geschichte der Pastoraltheologie" dagegen verdiene er „ein ganzes Buch" 1 4 ! Allein, wenn unter der Dogmengeschichte der alten Zeit nicht bloß die Entwicklungsgeschichte der beiden altkirchlichen Hauptdogmen, des christologischen und des trinitätstheologischen, zu verstehen ist, sondern auch etwa die Geschichte der Ekklesiologie, ja, wenn Dogmengeschichte zu definieren ist als „der immer erneute Versuch der Auslegung und des Verständnisses der Hl. Schrift" 1 5 , so wird man dies Urteil wohl revidieren oder doch wenigstens modifizieren müssen. Findet sich doch in den chrysostomischen Schriften ein einzigartiger Reich1 3 G. Fittkau, S. 49, dessen methodische Erwägungen zur terminologischen Untersuchung des ihn beschäftigenden Begriffs des Mysteriums bei Chrysostomos mir überhaupt als vorbildlich erscheinen und auf die darum ausdrücklich hingewiesen sei (G. Fittkau, 1 4 Bd. 4 3 , 1898, S. 109. S. 4 8 — 5 5 ) . 1 5 So W . Schneemelcher, Das Problem der Dogmengeschichte, Z T h K 48, 1951, S. 88, im Anschluß an G. Ebelings bekannte Definition der Kirchengeschichte.

Einleitung

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tum an ekklesiologischen Aussagen. Wie Chrysostomos audi nicht bloß überall „eine kaum zu überbietende Hochschätzung des Apostols Paulus" 1 6 bekundet, sondern sich auch, wie wenigstens ausschnitthaft zu zeigen sein wird, den Inhalt des paulinischen Kerygmas in einem Maße zu eigen macht wie kaum ein anderer griechischer Kirchenvater. Aber selbst wenn dies zu bestreiten und in Chrysostomos nichts anderes zu sehen wäre als „ein typischer Vertreter seiner Schule, seiner Zeit und ihrer kirchlichen und asketischen Ideale" 1 7 , so wäre diese Option schon aus dem Grunde vollauf gerechtfertigt, daß Chrysostomos zu den wenigen namhaften altkirchlichen Autoren gehört, deren Werk fast vollständig erhalten ist. Denn das ist für unsre Frage- und Aufgabenstellung ein Vorzug, der so leicht durch nichts wettgemacht wird, weil damit nämlich sichergestellt ist, daß uns die Quellenlage überhaupt noch erlaubt, das gesamte Zeugnis des gewählten Hauptgewährsmanns zu Gesicht zu bekommen, seinen Charismabegriff in allen seinen Anwendungsmöglichkeiten und Konnexionen kennenzulernen und dessen Sinn aus dem sprachlichen und sachlichen Zusammenhang, in den er ursprünglich eingebettet war, wie auch aus den Parallelaussagen mit wenigstens hinlänglicher Sicherheit zu eruieren. O b freilich Chrysostomos und sein Charismaverständnis tatsächlich als typisch gelten dürfen für seine Zeit, kann erst durch einen ins einzelne gehenden Vergleich seiner Aussagen mit denen repräsentativer Theologen und Kirchenmänner unter seinen Zeitgenossen ausgemacht werden. Dem ist der zweite Hauptteil dieser Arbeit gewidmet. Zu Wort kommen hier solche theologischen Zeitgenossen des Chrysostomos, die sich zugleich als Paulusexegeten einen Namen gemacht haben und die beiden damaligen exegetischen Hauptrichtungen innerhalb des griechisch-orientalischen Christentums, die antiochenische und die alexandrinische Schule, repräsentieren 18 . Mit dem allen sucht diese Arbeit sowohl einen Beitrag zu leisten zum Verständnis der noch merkwürdig wenig erforschten Ekklesiologie der griechischen Vätertheologie in der Frühzeit der Reichskirche 19 , als auch die 18 17

E . H o f f m a n n - A l e i t h , S. 1 8 1 . H . von Campenhausen, Griechische Kirchenväter, S. 1 5 2 .

*· E s ist beabsichtigt, das Bild zu vervollständigen durch eine Untersuchung über „ C h a r i s m a im Mönchtum des 4 . und 5. J h . s " , zu der die Vorarbeiten bereits i. w . abgeschlossen sind (vgl. einstweilen meine Mitteilung auf dem internationalen Kolloquium über G r e g o r v o n N y s s a in C h e v e t o g n e v o m 2 2 . — 2 6 . Sept. 1 9 6 9 , abgedruckt in: É c r i t u r e et culture philosophique dans la pensée de Grégoire de Nysse. Actes du Colloque de C h e v e t o g n e . . . , éd. p a r M . H a r l , Leiden 1 9 7 1 , S. 8 1 — 8 4 ) . Schließlich soll auch das Zeugnis wenigstens eines Repräsentanten der lateinisch-okzidentalen Theologie und Kirche jener Zeit, nämlich Augustins, zum Vergleich herangezogen und gefragt werden, inwieweit im Charismaverständnis des Chrysostomos e t w a spezifisch ostkirchliche Züge zum Vorschein kommen. 1 9 Dieser Mangel dürfte auch durch die verdienstvolle Skizze v o n P . - T h . C a m e l o t , Die Lehre v o n der Kirche, eher signalisiert werden, als d a ß sie ihm bereits hinreichend Abhilfe zu schaffen vermöchte. Die „ekklesiologische Typengesdiichte" C . Andresens hingegen (Die 2

Ritter, Charisma

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Einleitung

bisherigen Studien zum Paulusverständnis in der Alten Kirche (E. Aleith, Κ. H . Schelke, M. F. Wiles u. a.) zu ergänzen, in denen das Thema der Ekklesiologie so gut wie gänzlich ausgespart geblieben ist. Zugleich stellt sie in gewisser Weise eine Fortsetzung der Untersuchung von Hans Freiherrn von Campenhausen über „Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten" dar. Es wird sich zeigen müssen, inwieweit es zutrifft, daß „im vierten Jahrhundert", verglichen mit der mit Cyprian auf der einen und Orígenes auf der anderen Seite zu einem vorläufigen Abschluß gelangten Entwicklung des Gedankens des kirchlichen Amtes, nur noch ein gewisser Fortschritt „im Austausch und Ausgleich der griechischen und lateinischen Traditionen unter den äußerlich ganz veränderten Verhältnissen der reichskirchlichen Einheit" erfolgt sei, daß selbst „der große Aufschwung der biblischen Studien und der theologischen Wissenschaft in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts . . . in dieser Hinsicht durchaus keine Revolution hervorgerufen" habe, sondern „Recht und Sinn der kirchlichen Vollmacht . . . nicht wesentlich anders verstanden oder tiefer begründet" worden seien „als bisher" 20 .

Kirchen der alten Christenheit [ = Die Religionen der Menschheit, Bd. 29, 1 / 2 ] , 1971) berücksichtigt das Dogmengeschichtliche nicht. 20 H . von Campenhausen, Kirchliches Amt, S. 323 f.

HAUPTTEIL

Charisma im Verständnis des Joannes Chrysostomos und seiner Zeit I. Das Charismaverständnis des Joannes Chrysostomos Wer sich freilich intensiver mit dem Werk des Chrysostomos zu befassen gedenkt, sieht sich einer Fülle von Schwierigkeiten gegenüber. Zunächst: „Chrysostomos ist wortreich; er hat viel geschrieben" und uns ein umfangreicheres literarisches Vermächtnis hinterlassen als irgendein anderer griechischer Kirchenvater — und „wird deshalb kaum gelesen" 1 . Sodann hat sein außerordentliches Ansehen als Kanzelredner schon früh dazu geführt, daß auch andere ihren Erzeugnissen „unter dem Prestige seines Namens Unsterblichkeit zu sichern" suchten2. Und so viel Scharfsinn und Fleiß seit den Tagen der Mauriner darauf verwendet wurden, in der riesigen Masse des unter seinem Namen einhergehenden Schrifttums Echtes von Unechtem zu scheiden und, was als wahrscheinlich oder sicher unecht, als dubium oder spurium, zu gelten hat, seinem wirklichen Verfasser zurückzuerstatten, so wenig kann diese Aufgabe bis zur Stunde als gelöst angesehen werden. Erst recht steckt die andere, darauf aufbauende und eher noch wichtigere Aufgabe der Herstellung eines verläßlichen, kritisch gesicherten Textes noch weitgehend in den Anfängen, bedingt sowohl durch den ungewöhnlichen Umfang des Corpus Chrysostomicum und die ungewöhnlich große Zahl von Chrysostomoshandschriften 3 als auch durch das zusätzliche Erschwernis, daß die Schriften des Chrysostomos anscheinend nur zum geringsten Teil vom Autor selbst vollständig ausgearbeitet und für die Veröffentlichung vorbereitet worden sind, während die Überlieferung der — frei gehaltenen und mindestens teilweise extemporierten — Predigten meist wohl nur auf Notizen seiner Stenographen zurückgeht 4 . Ebenso hat es sich bisher, und zwar mehr noch für die Gelegenheitspredigten und -Schriften als für die großen Homilienserien, als unmöglich erwiesen, sie in einen festen chronologischen Rahmen einzuordnen oder sich auch nur in jedem einzelnen Fall über eine so ungefähre zeitliche Ansetzung 1 s 4



2 J . Quasten, Patrology, III, S. 430. A. J . Festugière, S. 344. Vgl. dazu jetzt vor allem die Forschungen von M. Aubineau (s. Literaturverzeidinis). Vgl. dazu H . Lietzmann, S. 329, und die dort verzeichnete Literatur.

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Das Charismaverständnis des Joannes Chrysostomos

schlüssig zu werden wie die, daß sie der Frühzeit des Chrysostomos bis zu seiner Presbyterweihe (385/386), dem Jahrzwölft seines antiochenischen Presbyterats (385/386—398), seiner Bischofszeit in Konstantinopel (398—403/404) oder endlich seinen letzten Lebensjahren als Exulant in Armenien und später am Ostufer des Schwarzen Meers (403/404—407) angehören, ein Mangel, der sich geradezu verhängnisvoll auswirken müßte, falls es unzweideutige Anzeichen dafür gäbe, daß Chrysostomos in irgendeinem wesentlichen Punkt eine geistige Entwicklung durchgemacht und seine Ansichten geändert habe. Ferner wird die wissenschaftliche Erforschung der chrysostomischen Gedankenwelt erschwert „durch den rein praktischen Charakter seines gesamten auf uns gekommenen schriftlichen Nachlasses. Seine Sprache ist lebendige Verkündigung, nicht gelehrte . . . Abstraktion. Sie hat die Kraft und Schönheit alles Lebendig-Konkreten und läßt sich daher schwer im einzelnen begrifflich fassen" 5 . Und schließlich ist Chrysostomos auch in seinen Predigten weder willens noch imstande zu verleugnen, daß er, ursprünglich wohl zum Juristen bestimmt, in seiner Jugend den Rhetorikunterricht des Libanios genossen hat. Obwohl er als Prediger und Schriftsteller, mit Ausnahme vielleicht einiger früher Traktate, mit seiner rhetorischen Bildung nirgends prunkt und es „nicht eigentlich Kunstvorträge, sondern echte Predigten" sind, die er hielt, und der Reiz dieser Predigten „gerade in der frischen Unmittelbarkeit und Natürlichkeit der Anrede" liegt6, so bleibt er doch zeitlebens seinen Anfängen mindestens insoweit treu, daß er „den Gedanken, den er vorträgt, zu akzentuieren" pflegt, „und das in einer Weise, daß er selber fürchtete, mißverstanden zu werden, indem seine Worte nur als Hyperbeln aufgefaßt würden" 7 . Wie ist diesen Schwierigkeiten zu begegnen? Nun, dafür gibt es schwerlich ein schematisch zu befolgendes Rezept, eine ein für allemal gültige Antwort. Vielmehr hängt die Lösung ganz wesentlich von dem Gegenstand ab, der jeweils untersucht wird und über den man bei Chrysostomos Auskunft haben möchte. Hier indes ist lediglich darüber Rechenschaft abzulegen, wie sich in diesem Falle die spezifische Problematik der Chrysostomosinterpretation dargestellt hat und welche Lösungen sich als praktikabel erwiesen. Um mit dem zuletzt genannten Problem, der Frage der rhetorischen Form der chrysostomischen Reden und Schriften zu beginnen, so hat es sich zwar nicht selten als überaus mißlich und hinderlich erwiesen, daß es nodi immer an einer „die Probleme der spätantiken Rhetorik voll erfassenden grundegenden Untersuchung" 8 fehlt, die mehr wäre als eine bloße Stoff5 6 7 8

G. Fittkau, S. 56. H . von Campenhausen, Griechische Kirchenväter, S. 141 f. I. auf der Maur, S. 13, unter Hinweis auf de compunct. 1, 2 (M. I, 124; MG 47, 395). H. Lietzmann, S. 344. Zwar har sich die Zahl der dort verzeichneten einschlägigen

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Sammlung und durch eine sorgfältige Analyse charakteristischer Beispiele der einzelnen von Chrysostomos gepflegten literarischen Genera verläßliche Kriterien zur Deutung seiner Aussagen bereitstellte. Es hat sich jedoch bestätigt, daß in der Regel schon viel damit gewonnen ist, wenn man sich nur vor Augen hält, „zu w e m " Chrysostomos „jeweils spricht, wie er den Ausdruck gebraucht und was er erreichen will", um sich „von rhetorischen Fragen und Übertreibungen nicht täuschen" zu lassen, sondern „den wahren Sinn" herauszufinden 9 . Was ferner die durch und durch „praktische" Zielsetzung und Ausrichtung des chrysostomischen Schrifttums, den vielberufenen Mangel seines Verfassers an spekulativer Neigung und Begabung anlangt, so zeigte sich auch hier, daß dieser Mangel an Systematik „ein tiefes Verständnis schwieriger theologischer Sachverhalte" keineswegs ausschließt und daher nicht zum Anlaß genommen werden darf, von vornherein den „Lehrgehalt" unbeachtet zu lassen 10 . Vielmehr lassen jedenfalls seine Charismaaussagen, wohl weil dies Thema f ü r ihn selbst zentral w a r und ihn immer wieder zur Stellungsnahme nötigte — und auf solche Themen sollte sich die Beschäftigung mit dem Theologen Chrysostomos sinnvollerweise vor allem konzentrieren! —, bei aufmerksamem Hinhören, wenigstens aufs ganze gesehen, eine Konsequenz und Geschlossenheit erkennen, die sich schlecht zu der verbreiteten Vorstellung von Chrysostomos als einem unsystematischen Kopf reimen. Auch ergab die Analyse der Texte, die sich mit Sicherheit oder wenigstens hoher Wahrscheinlichkeit datieren und den verschiedenen Epochen seiner theologischen und kirchlichen Wirksamkeit zuweisen lassen, daß sich seine Ansichten im Umkreis der uns hier beschäftigenden Thematik zumindest in allem wesentlichen kaum je geändert haben. W o Spannungen und Widersprüche festzustellen waren, da ließ sich ihnen in der Regel nicht mit der Erklärung beikommen, daß sie aus einer Entwicklung im Denken des Chrysostomos resultierten. Finden sie sich doch auch in solchen Texten, die etwa dem gleichen Zeitraum angehören müssen, oder gar in ein und demselben Textzusammenhang! D a r u m ist auch dem Fehlen sicherer Kriterien f ü r eine absolute oder relative Chronologie bei der Mehrzahl von Chrysostomosschriften in diesem Fall kein allzu großes Gewicht beizumessen gewesen, da sich bei unserer Darstellung ein chronologisches Vorgehen im allgemeinen ohnehin erübrigte und von der genauen zeitlichen Aufeinanderfolge der Zitate meist wenig abhängt. D a ß ferner die verfügbaren Chrysostomoseditionen heutigen Ansprüchen kaum noch genügen und zum Teil auf recht fragwürdigen textkritischen Untersuchungen inzwischen noch etwas vermehrt (vgl. die Zusammenstellung bei E. Amand de Mendieta, S. 355, A. 2). Trotzdem wird man sagen müssen, daß noch immer erst „ein Anfang" gemacht sei (H. Lietzmann a.a.O.). 10 • I. auf der Maur, S. 13. G. Fittkau, S. 217, 216.

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Das Charismaverständnis des Joannes Chrysostomos

Prinzipien basieren, unterliegt keinem Zweifel. Es ist gerade jüngst wieder durch überlieferungsgeschichtliche Studien zu den Homilien über das Johannesevangelium und die Apostelgeschichte bestätigt worden; in diesen wurde gezeigt, daß die handschriftliche Überlieferung hier wahrscheinlich auf zwei charakteristisch verschiedene, in den Druckausgaben jedoch bis zur Unkenntlichkeit kontaminierte Rezensionen zurückgeht. Doch sind wir bei den Homilienserien zu den paulinischen Briefen einschließlich der Pastoralen und des Hebräerbriefs, die für uns aus naheliegenden Gründen besonders wichtig sind, in der glücklichen Lage, in der Ausgabe von F. Field (Oxford 1845—1862) einen verhältnismäßig verläßlichen Text zu besitzen. Auch hat sich ergeben, daß selbst da, wo der Text der Druckausgaben besonders unbefriedigend ist wie im Fall der Predigten über die Apostelgeschichte, die einzukalkulierenden Unsicherheiten des Wortlauts vielleicht im einen oder anderen Fall zum Verzicht auf die Erkenntnis des Redners Chrysostomos zwingen mögen, aber nie die Sadie, um die es jeweils geht, nie die Gedankenfolge betreffen11. Schließlich boten die unumstritten echten Chrysostomosschriften ein so reichhaltiges Material zu unserem Thema, daß es im allgemeinen unnötig zu sein schien, die Untersuchung auch auf die Massen der Dubia und Spuria auszudehnen, die bei Montfaucon und Migne am Ende jedes Bandes aufgehäuft sind und aus denen sich sicherlich auch nodi manches Chrysostomosgut bergen läßt. Allein, dessen Berücksichtigung hätte auf unsere Ergebnisse schwerlich einen nennenswerten Einfluß gehabt 12 . Eine weitere Stoffbegrenzung wäre dagegen weder vertretbar — noch überhaupt wünschenswert gewesen, da Chrysostomos „gerade für modernes 1 1 Ein Vergleich zwischen dem bei Montfaucon (und danach bei Migne) gebotenen — unspezifischen — T e x t und der Übersetzung von H . Browne (s. Literaturverzeichnis Ia), der eine eigene Textkonstitution, und zwar eine Rekonstruktion der ältesten recensio und damit nach Meinung von Browne und E . R . Smothers (s. Literaturverzeichnis I I ) der authentischen, auf die — unüberarbeiteten — Stenogrammnachschriften der Predigten selbst zurückgehenden Textform zugrunde liegt, hat darüber hinaus ergeben, daß an den von uns zitierten Stellen anscheinend überhaupt keine Divergenzen vorliegen. Ebenso beschränken sich die zahlreichen Abweichungen zwischen den beiden Familien (Ausgaben) der Handschriften zu den Homilien über das Johannesevangelium, die sich nach Meinung von P . W . Harkins nur mit einer zweiten Rezension erklären lassen, wie es scheint, durchweg auf Sprachlich-Stilistisches. „The second editor makes what he thinks are improvements, leaving out things which are over — vigorous, adding things which are over — obvious, smoothing transitions which are over — abrupt, and substituting what he considers are better words for those he thinks were not too fortunately chosen" (P. W . Harkins, Chrysostom's commentary, S. 219). 1 2 Ein vorzügliches Hilfsmittel zur Orientierung über den gegenwärtigen Stand der Debatte über die Echtheitsfragen, aufgeschlüsselt nach den einzelnen Dubia und Spuria unter den gedruckten Werken des Chrysostomos, hat jetzt J . A . de Aldama in seinem „Repertorium Pseudochrystostomicum" zur Verfügung gestellt; vgl. auch ders., Historia y balance. Danach sind mindestens zehn der von B. de Montfaucon in ihrer Echtheit bezweifelten oder bestrittenen Homilien als chrysostomisch anzusehen.

Die urdiristlidien Charismen

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Empfinden" unter den griechischen Kirchenvätern wohl eine der anziehendsten, ja liebenswertesten Gestalten ist! Sehen wir zu, wie er die paulinischen Charismaaussagen verstanden und aufgenommen hat.

1. Die urchristlichen

Charismen

Chrysostomos beginnt seine Auslegung der Charismenkapitel 1. Kor. 12—14 im Rahmen der während seiner Presbyterzeit in Antiocheia gehaltenen Homilienserie zum 1. Korintherbrief 1 mit dem Eingeständnis, d a ß „diese ganze Stelle (χωρίον) überaus undurchsichtig (σφόδρα . . . άσαφές)" sei. U n d z w a r rühre diese Unklarheit daher, d a ß die Erscheinungen, von denen der Apostel hier rede, inzwischen abhanden gekommen und aus eigener E r f a h r u n g nicht mehr bekannt seien 2 . Gleichwohl versucht er, ehe er sich der Einzelauslegung des paulinischen Textes zuwendet, seine H ö r e r kurz darüber zu verständigen, „was" seiner Meinung nach „damals geschah, nun aber nicht mehr geschieht". Er tut dies in Form einer knappen Beschreibung, die z w a r nicht als Definition im strengen Sinne, wohl aber als erster Anhaltspunkt f ü r sein Verständnis von Charisma gelten kann. Er sagt: „Wenn (damals) einer getauft wurde, so redete er alsbald in Zungen (γλώσσαι); ja, nicht in Zungen allein, sondern viele besaßen auch die Gabe der Prophetie." Einige schließlich stellten noch auf andere Weise ihre Wundermacht unter Beweis, indem sie Tote auferweckten, Dämonen austrieben und viele andere derartige Wunder wirkten. „Am weitesten verbreitet aber w a r " bei ihnen nach Meinung des Predigers „die wunderbare Sprachengabe (τό των γλωσσών . . . χάρισμα). Es w a r dies dasjenige Charisma, das die Apostel im Hinblick darauf, daß sie sich „überall hin zerstreuen" sollten 3 , als erstes „Zeichen" (σημεϊον) empfingen und das den einen plötzlich persisch, den andern lateinisch, den dritten indisch und den vierten wieder in einer anderen derartigen Sprache reden ließ. M. a. W . stellt sich Chrysostomos diesen Vorgang der „Austeilung" der Sprachengabe so vor, d a ß dadurch einem jeden der Apostel sein spezielles Missionsfeld im Bereich der bewohnten Erde zugewiesen und wie durch eine Dienstanweisung (δέλτος) kundgetan wurde, wie weit sein amtlicher A u f t r a g (έμπιστευθείσα αρχή) reichen und seine Mission sich erstrecken solle 4 . Für die „Außenstehenden" (οί έ'ξωθεν) dagegen sei auf diese Weise 13

H. Lietzmann, S. 344. Zur Datierung s. vor allem M. von Bonsdorff, S. 40—44. 2 Την δέ άσάφειαν ή των πραγμάτων αγνοία τε καί ελλειψις ποιεί των τότε μέν συμβαινόντων, νυν δέ ού γινομένων. 3 In ep. I ad Cor., h. 35 (Field, II, 435; MG 61, 296). 4 De s. Pentecoste, 2, 2 (M. II, 472; MG 50, 467). 1

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Das Charismaverständnis des Joannes Chrysostomos

manifest geworden, daß in dem, der sida auf so wunderbare Weise, in einer vorher ihm selbst nicht vertrauten Sprache, hören ließ, der Geist sei5. Dieser Erklärung zufolge sind also unter den Charismen dieselben Phänomene zu verstehen, die aus den Evangelien und der lukanischen Apostelgeschichte unter dem Namen der „Zeichen und Wunder" bekannt sind. Anders gesagt, sieht Chrysostomos hiernach θαΰμα, σημείον und χάρισμα nur als verschiedene Bezeichnungen für ein und dieselbe Sache an, die deshalb auch promiscue gebraucht werden können 6 . Zieht man die zahlreichen Parallelen in seinem übrigen Schrifttum zu Rate, so läßt sich ihr Verhältnis zueinander näherhin so bestimmen, daß -θαΰμα das Außerordentliche, Staunen und Betroffenheit Erregende dieser Phänomene bezeichnet und σημείον ihre Hinweis- und Aussagefunktion 7 , während im Begriff χάρισμα ihr Gabecharakter zum Ausdruck kommt. D. h. für Chrysostomos bedeutet χάρισμα auf der hier zunächst betrachteten Ebene die — ungeschuldet, ohne jegliches menschliche Zutun, eben als „Gnadengabe" verliehene8 und darum 5

In ep. I ad Cor., h. 29 (Field, II, 349; MG 61, 239). Vgl. dazu neben dem eben Angeführten (das Charisma der Glossolalie — das erste σημείον, das die Apostel empfingen) etwa folgende Stellen: in ep. I ad Cor., h. 29 (Field, II, 356—358; MG 61, 243 f.); h. 32 (393; 269: Σύ δέ μοι κάκείνο σκόπει, πώς έν βραχεί πάντα περιέλαβε τα χ α ρ ί σ μ α τ α , προφητείαν ειπών καί πίστιν. Ή γαρ έν λόγοις ή έν εργοις έστί τά θ α ύ μ α τ a); h. 36 (455; 310: El δέ τούτο των χ α ρ ι σ μ ά τ ω ν το τέλος, εξεστι δέ αϋτό καί έτέρφ κατασκευάζειν τρόπφ χαρισμάτ ω ν χωρίς, μή μέγα έπί τοις σ η μ ε ϊ ο ι ς φρόνει, μηδέ ταλάνιζε σαυτόν ó των χ α ρ ι σ μ ά τ ω ν έστηρημένος). 7 Vgl. in ev. Mt., h. 5, 3 (M. VII, 76; MG 57, 57: Tò γαρ σημείον ύπερβαίνειν δεϊ την των πολλών άκολουθίαν, καί ξένον είναι καί παρηλλαγμένον · έπεί πώς αν εΐη σημείον); in Isai. c. 7, 14 (Μ. VI, 79—81; MG 56, 82—84: . . . το γαρ νόμον λύσαι φύσεως ούδενός έτέρου ην, άλλ' ή τοΰ δημιουργού της φύσεως; vgl. auch die lat. Ubersetzung der — sachlich hier offenbar genau entsprechenden — armenischen Version des Jesajakommentars, herausgegeben von den Mechitaristen, arm. Venedig 1880, lat. ebd., 1887, S. 106 f.); in ev. Joh., h. 19 al. 18, 2 (M. V i l i , 112; MG 59, 122: Tò δέ τά μέλλοντα προειπειν μετά ακριβείας, της άκηράτου φύσεως έκείνης μόνης έστίν . . . ) . Freilich verwischen sich bei Chrysostomos allermeist die Bedeutungsuntersdiiede zwischen θαΰμα und σημείον (vgl. nur in inscr. act., 2,2.3 [M. III, 63 f.; MG 51,80 f.]: Für beide ist konstitutiv, daß sie ausschließlich der „Gnade von oben" zu verdanken sind und darum audi ohne „Lohn" bleiben, sowie, daß sie unsre natürlichen Möglichkeiten übersteigen), so daß er von letzterem sagen kann, es wirke Erstaunen und Betroffenheit (εκπληξις: in ep. I ad Cor., h. 36 [Field, II, 451; MG 61, 307 f.]), und eben auch von ersterem, es bringe die „Gnade von oben unverhüllt zum Vorschein" (τό δέ θαύμα γυμνήν έπιδείκνυται την άνωθεν χάριν: in inscr. act., 2,2 [Μ. III, 63; MG 51,80]). 8 In ep. I ad Cor., h. 29 (Field, II, 354; MG 61, 243: χάρισμα im Gegensatz zu οφειλή); h. 31 (376; 257: χάρισμα im Gegensatz zu κατόρθωμα); vgl. auch h. 32 (389; 266); h. 34 (420; 285); in ev. Mt., h. 32 al. 33, 4 (M VII, 370 f.; MG 57, 382); in inscr. act., 2, 2 (M. III, 63; MG 51, 80: . . . ούδέν των ημετέρων ίδρώτων δεόμενον); de verbis Apostoli ,Habentes autem eundem spiritum fidei', 1,4 (Μ. III, 263 f.; MG 51, 276: χάρισμα im Gegensatz zu κατόρθωμα). Dasselbe ist nach Chrysostomos audi gemeint, wenn Paulus (1. Kor. 12, 1 u. ö.) die σημεία (!) als π ν ε υ μ α τ ι κ ά bezeichnet: 6

Die urchristlichen Charismen

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nur in Dankbarkeit zu empfangende 9 — Befähigung zu wunderhaftem Auftreten und Wirken, wie sie im pfingstlichen Sprachenwunder zuerst in Erscheinung trat und audi über das Pfingstereignis hinaus sich vor allem in der Glossolalie äußerte. Denn wie er aus Stellen wie Acta 19,5.6 folgert, war sie, die Glossolalie, „im Anfang" die regelmäßige Folge der Geistmitteilung in Taufe und Handaufegung 1 0 . Allerdings konnten sich damit weitere Charismen verbinden. Chrysostomos nennt, belehrt durch den von Paulus (1. Kor. 12 u. 14) gewährten Einblick in das Gemeindeleben in Korinth, an solchen wunderbaren Fähigkeiten etwa noch die — für sein Verständnis die Glossolalie in der Regel mit umfassende — Gabe der „Auslegung der Glossenreden" (ερμηνεία των γλωσσών) sowie den „Berge versetzenden" (Mt. 17,19), Wunder wirkenden Gauben (των σημείων [πίστις]) im Unterschied zum „Dogmenglauben" (των δογμάτων [πίστις]), ferner die „Gnadengabe, Heilungen zu vollziehen" (χάρισμα ίαμάτων) 11 , samt der für ihn davon zu unterscheidenden, weil auch Strafwunder wirkenden Gabe der „Wunder hervorbringenden Kraftbetätigung" (ενέργημα δυνάμεων), und schließlich das Vermögen, die „Geister zu unterscheiden" (διάκρισις πνευμάτων), d. h. zu erkennen, wer ein Pneumatiker und wer ein Nichtpneumatiker, wer ein Prophet und wer ein Betrüger sei 12 . In erster Linie aber verband sich für ihn „damals", wie wir hörten, bei „vielen" mit der Gabe der Glossenrede die der Prophetie, die in

Das will besagen, d a ß vor allem sie ausschließlich vom Geist bewirkt sind, „ohne d a ß menschliches Bemühen irgend etwas beitrüge zu ihrer wunderbaren Wirksamkeit" ( o u μάλιστα τ α ϋ τ α εργα του πνεύματος μόνου, ουδέν α ν θ ρ ω π ι ν ή ς έπεισφερούσης σπουδής εις τό τ α τοιαύτα θ α υ μ α τ ο υ ρ γ ε ί ν : in ep. I ad Cor., h. 29 [Field, II, 351; M G 61, 241]). 9 In ep. I ad Cor., h. 29 (Field, II, 354 f.; M G 61, 243). 10 De s. Pentecoste, 1, 4 (M. II, 463 f.; M G 50, 459); in ep. I ad Cor., h. 29 (Field, II, 349; M G 61, 239); in act. apost., h. 40, 2 (M. IX, 304; M G 60, 284 f.). 11 In ep. I ad. Cor., h. 33 (Field, II, 405; M G 61, 275: . . . καί γ α ρ πίστεως και γ ν ώ σ ε ω ς καί προφητείας και γλωσσών καί χαρισμάτων καΐ ίαμάτων . . .) und de util, lect. sript. ( = in inscr. act., 3), 3 (M. III, 75; M G 51, 91 f.: . . . ε'ίτε χαρισμάτων, είτε Ιαμάτων . . .) ist entweder eine Textverderbnis anzunehmen, oder zu vermuten, d a ß Chrysostomos, um des wirkungsvollen Parallelismus (mit Homoioteleuton!) willen, eine gedankliche Unscharfe in Kauf genommen hat. Jedenfalls wird der Eindruck erweckt, als bildeten die Charismen eine Sondergruppe der „Zeichen und W u n d e r " neben πίστις (τών σημείων!), γνώσις, προφητεία, γλώσσαι und 'ιάματα. D a s aber wäre ohne Parallele und wird auch durch den Kontext der beiden zitierten Stellen ausgeschlossen, in dem auch mehrfach richtig von dem die Rede ist, um was es auch hier geht, nämlich von den χαρίσματα ίαμάτων! 12 In ep. I ad Cor., h. 29 u. 32 (Field, II, 357 f. 387 f.; M G 61, 244 f. 265 f.); in ep. II ad Cor., h. 17 (Field, III, 184; M G 61, 517: πίστις τών χαρισμάτων); in ep. I ad Thess., h. 11 (Field, V, 433 f.; M G 62, 462 f.); de verbis Apostoli ,Habentes autem eundem Spiritum fidei', 1, 3. 4 (M. III, 262—264; M G 51, 274—276: πίστις ή τών σημείων καί θ α υ μ ά τ ω ν ποιητική . . . , καί ή τ ή ς εις θεόν γ ν ώ σ ε ω ς παρασκευαστική . . . ) .

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Das Charismaverständnis des Joannes Chrysostomos

urchristlicher Zeit „so reichlich ausgegossen worden" sei, daß „jede (Orts-) Kirche über eine Vielzahl von Propheten verfügte" 1 3 . So gesehen, sind die Charismen eine Größe der Vergangenheit, sind sie, wie Chrysostomos noch in einer seiner letzten Predigtreihen, den Homilien zum 2. Thessalonicherbrief 14 , bündig erklärt, „längst erloschen" (πάλαι έκλέλοιπεν)15. Und er weiß audi Gründe dafür geltend zu machen, weshalb es einstmals Charismen gab, jetzt aber nicht mehr (τίνος ενεκεν ού γίνεται νυν) 16 . Dies liege zunächst und im entscheidenden darin begründet, daß die wunderhaft wirkenden Charismen die notwendige Ergänzung und Bekräftigung der apostolischen Missionspredigt bildeten 17 , notwendig deshalb, weil es sich bei den Aposteln, wie im Neuen Testament nirgends geleugnet oder beschönigt werde, um „ungebildete (αγράμματοι), arme, mittellose und gewöhnliche (ευτελείς)" Leute handelte, die schwerlich „die Welt erobert" hätten, wenn ihnen die Wunder (σημεία) nicht zu Hilfe gekommen wären 1 8 ; notwendig aber vor allem auch deshalb, weil sich damals Menschen vom Götzenkult zum christlichen Glauben bekehrten, die von ihrer heidnischen Vergangenheit her nur ein sehr undeutliches Vorwissen mitbrachten (άπό των ειδώλων προσιέντες, ουδέν είδότες σαφώς) und audi nicht wie die Angehörigen des alten Bundesvolkes „mit den alt(testamentlidi)en Schriften aufgewachsen waren (ουδέ ταΐς παλαιαίς έντραφέντες βίβλοις). Gleichwohl wurden sie auf ihre Taufe hin sogleich mit Geist begabt, vermochten den Geist jedoch nicht (wie ihre Idole) zu sehen·, ist er doch unsichtbar! Darum gewährte ihnen die Gnade „in Gestalt der Charismen" einen sinnlich wahrnehmbaren Beweis (αίσθητόν τινα ελεγχον) jener Wirksamkeit (des Geistes) 19 . Oder wie es in einer der dirysostomischen Pfingstpredigten heißt: „Die Menschen damals waren noch unverständiger ("Ανοητότερον οί άνθρωποι διέκειντο τότε), waren eben erst dem Götzendienst entronnen, und ihr Verstand (διάνοια) war noch vergleichsweise stumpf (παχύτερα) und unempfänglich (άναισθητοτέρα); sie waren nodi ausschließlich auf das Sinnliche erpicht (προς τα σωματικά πάντα έπτόηντο) . . . , vermochten sich noch keine Vorstel13 In ep. I ad Cor., h. 32 (Field, II, 387; MG 61, 265); vgl. auch in ascens. D. Ν . I. C., 5 (Μ. II, 454 f.; MG 50, 450). 14 Nach M. von Bonsdorff, S. 102—107, sind sie vermutlich im Jahre 402 gehalten. 15 In ep. II ad Thess., h. 4 (Field, V, 472; MG 62, 485 f.). " In ep. I ad Cor., h. 29 (Field, II, 329; MG 61, 239). 17 In ev. Mt., h. 56 al. 57, 4 (M. VII, 570 f.; MG 58, 554); in ep. ad Rom., h. 30 (29: Field, I, 451 f.; MG 60, 656); in ep. I ad Cor., h. 2 (Field, II, 13, 14; MG 61, 18. 19); h. 6 (Field, II, 61—65; MG 61, 50—52); in act. apost., h. 1, 4 (M. IX, 6 f.; MG 60, 19). 18 De resurrect, mort., 8 (M. II, 436; MG 50, 432); vgl. in ev. Joh., h. 2 al. 1, 2 (M. VIII, 9; MG 59, 31); in ep. I ad Cor., h. 3 (Field, II, 26—29; MG 61, 26—28); h. 4 (42; 37); h. 5 (50—54; 43—46); h. 7 (81—88; 62—67); in ep. II ad Cor., h. 8 (Field, III, 104—106; MG 61, 457—460); h. 26 (270—274; 576—578); in ep. ad Col., h. 10 (Field, V, 281 f.; MG 62, 269 f.). 19 In ep. I ad Cor., h. 29 (Field, II, 349; MG 61, 239).

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lung von nicht-sinnlichen Gaben zu machen und wußten nicht, was eigentlich eine nicht mit den Sinnen erfahrbare Gnade (νοητή χάρις) sein solle, deren man nur im Glauben ansichtig wird (πίστει μόνη θεωρούμενη). Aus diesem Grund wurden ihnen Wunder (σημεία) zuteil." 20 Doch nicht nur die Unansehnlichkeit der ersten Glaubensboten und die Macht der Gewohnheit standen f ü r Chrysostomos damals der Ausbreitung des Evangeliums im Wege. „Vielmehr gesellte sich zur Zeit der Apostel nodi ein anderes, mächtigeres Hindernis hinzu, daß sie nämlich nicht nur eine altererbte Gewohnheit umstürzten, sondern daß dieser Umsturz auch mit Gefahren verbunden war . . . Denn wer da (an Christus) glaubte, mußte alsbald mit Einziehung der Güter, Verfolgung und Verbannung aus dem Vaterland rechnen, damit, das Schrecklichste zu erleiden, von allen gehaßt, von Angehörigen wie von Fremden als gemeinsamer Feind angesehen zu werden." Dazu kam, daß die Anforderungen, die mit der Annahme des neuen Glaubens verbunden waren, die Satzungen der überlieferten Religion und Moral an Strenge und Hoheit weit übertrafen. Enthielt dodi die urchristliche Missionspredigt nichts Geringeres als die Zumutung, sich „von der Unzucht zur Keuschheit, von der Trunksucht zum Fasten, vom Lachen zu Tränen und Reue, von der Habsucht zur Selbstentäußerung, von der Lebenslust zur Todesbereitschaft . . ." zu bekehren, und verlangte „in allem die peinlichste Strenge". „Wer von denen, die so (ihren alten Gewohnheiten und Normen entsprechend) lebten, mußte nicht zurückgeschreckt werden, wenn er zu hören bekam: ,Wer sein Kreuz nicht auf sich nimmt und mir nachfolgt, der ist mein nicht wert' (Mt. 10,38), und: ,Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert . . (Mt. 10,34)?" 21 Darum wiederholte sich nun, meint Chrysostomos, was in den Achsenzeiten der Heilsgeschichte, dann, wenn Gott etwas Ungewöhnliches (ξένον [τι] και παράδοξον) zu tun im Begriffe stand und eine neue „Lebensweise" (πολιτεία) eingeführt werden sollte, regelmäßig geschah, daß nämlich Gott Wunder (σημεία) geschehen ließ, um „denen, die seine Satzungen (νόμοι) empfangen sollten, Unterpfänder (ενέχυρα) seiner Macht zu bieten" 22 . Freilich nicht auf unbestimmte Zeit! Sondern wie ein kluger Bauer einen neugepflanzten Baum schützt vor reißenden Unwettern oder gefräßigen Ziegen, später aber, wenn der Baum Wurzeln geschlagen, Festigkeit und Selbstand gewonnen hat, die Schutzmaßnahmen aufhebt, so, findet Chrysostomos, ist es auch mit dem Christusglauben und seinen hohen Anforderungen gewesen. „Als er eben erst eingepflanzt war, nodi ohne Widerstandskraft, eben erst den Seelen eingesenkt, bedurfte er allseits besonderer Schonung und Wartung (επιμέλεια); sobald er jedoch Festigkeit gewonnen und 20 De s. Pentec., 1, 4 (Μ. II, 464; MG 50, 459); vgl. auch de util. lect. script. ( = in inscr. act. 3), 4 (M. III, 76; MG 51, 92). 21 In ep. I ad Cor., h. 7 (Field., II, 83 f.; MG 61, 64). 22 In ev. Mt., h. 14, 3 (M. VII, 181; MG 57, 220); vgl. auch h. 12, 2. 3 (163 f.; 205).

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Wurzeln geschlagen hatte und hoch emporgewachsen war, als er die ganze Ökumene durchdrang, da räumte Christus die Umfriedungen beiseite und hob die Sicherheitsmaßnahmen (άσφαλίσματα) auf." 23 Allerdings wäre es ein Mißverständnis, wollte man Chrysostomos die Ansicht unterstellen, als habe für ihn das Schwergewicht der Vollmacht und des Wirkens der Apostel in den Wundern und Krafttaten als solchen gelegen, als haben sich für ihn die Apostel jemals auf sie verlassen und allein ihnen ihren Missionserfolg zu verdanken gehabt. Einem solchen Mißverständnis hält er entgegen, daß es lediglich eines Blickes in die Apostelgeschichte bedürfe, um sich davon zu überzeugen, daß die Apostel, an ihrer Spitze Paulus, oft genug, wenn nicht gar in den meisten Fällen durch ihre „Lehre" triumphiert haben, vor jedem Wunder24. In seinem Sinne wäre es wohl nicht einmal richtig zu sagen, daß es die Funktion der Charismen in der Urkirche gewesen sei, „diejenigen, die das Verkündigungswort nicht zu gewinnen vermochte", zu „überführen"25. Ist er sich doch dessen gewiß, daß auch damals schon „alles lediglich Beiwerk der Predigt war" 26 , während die 23

In inscr. act. 2, 3 (M. III, 64 f.; MG 51, 81). In ep. ad Tit., h. 2 (Field, VI, 278; MG 62, 673); vgl. auch in ep. ad Eph., h. 6 (Field, IV, 161 f.; MG 62, 46 f.); in act. apost., h. 37, 2 (M. IX, 283; MG 60, 265); h.43, 2 (327; 304: "Ορα πανταχού δια λόγων το πάν κατορίίοϋντα, ού δια σημείων . . .!); de laud. s. Pauli Αρ., 4 (M. II, 495 f.; MG 50, 492 f.: Der apostolische Prediger — ein 'ιδιώτης, πένης und άσημος, das von ihm Verkündigte — ούκ έπαγωγόν, άλλα και σκάνδαλον εχον, der καταγγελόμενος — ein εσταυρωμένος! So ist der apostolische Missionserfolg Zeichen einer der Predigt selbst innewohnenden δύναμις θεϊά τις καί απόρρητος, einer θαυμαστή καί παράδοξος δύναμις κηρύγματος). 25 So die Apostol. Konstitutionen, VIII, 1, 2 (F. X, Funk, I, 461): . . . ίνα ους ούκ επεισεν ó λόγος, τούτους ή των σημείων δυσωπήση δύναμις. 20 In act. apost., h. 43, 1. 2 (M. IX, 325—327; MG 60,303 f.: "Ορα πώς πάντα πάρεργα ήν του κηρύγματος . . . ) . Angesichts einer Äußerung wie dieser, die audi in Übereinstimmung mit dem steht, was Chrysostomos sonst über das Verhältnis von κήρυγμα und σημειον sagt, erscheint es als einigermaßen überraschend, wie man ihm, „dem vielleicht begnadetsten Prediger der alten Kirche" (G. Ruhbach, S. 411), im Ernst die Anschauung hat unterstellen können, daß die Predigt der Kirche in der Zeit nach dem Verschwinden der urchristlichen Charismen „zum Ersatz für fehlende Geistesgaben" geworden sei (G. Ruhbach, ebd.; vgl. auch bereits M. Lauterburg, S. 76). Gewiß kann Chrysostomos gelegentlich — in de sacerd., IV, 3 (Nairn, 111; MG 48, 666) — einmal äußern, wir brauchten uns „nicht so sehr um die Beredsamkeit (λόγος) zu bemühen, wenn wir noch die von den Wundern ausgehende Überzeugungskraft besäßen", wovon sich aber auch „nicht einmal mehr eine Spur erhalten" habe. Doch darf man darin nicht ohne weiteres den Niederschlag eines rapiden Predigtverfalls erblicken und eine Entwicklung sich ankündigen sehen, die schließlich zu der Feststellung des Tridentinum führte, daß das Predigen ein unwesentlicher Bestandteil des Priesteramts sei (Sessio XXIII, can. 1 : Denzinger, 961). Denn das hieße nicht nur die Isoliertheit dieser chrysostomischen Äußerung, sondern auch ihren rhetorischen Charakter verkennen. (Vgl. zum Charakter und zur Zielsetzung von De sacerdotio unten S. 72—74.) Wenn es richtig ist, daß Chrysostomos in De sacerdotio im wesentlichen das eine Ziel verfolgt, nach Möglichkeit „Unwürdige" von der Übernahme des Priesteramts abzuhalten, so mußte ihm in diesem Zusammenhang 24

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Wunder, denen trotz ihrer Drastik und Sinnenfälligkeit etwas zutiefst Zweideutiges anhaftete und aus denen, wie etwa die unterschiedliche Reaktion der „Menge" auf das pfingstliche Sprachenwunder lehrt (Acta 2,12.13; vgl. auch l . K o r . 14,23), nur die „Vernünftigen" einen Nutzen zu ziehen vermochten, für sich allein allenfalls verunsichernd wirkten, aber keine Glaubensgewißheit begründeten 27 , so daß das, was mit ihrer Hilfe in Gang gebracht und gewonnen war, in jedem Fall der Vertiefung durch die Predigt bedurfte 28 . In Verbindung mit der Verkündigung aber, sei es, daß sie auf sie vorbereiteten oder nachträglich ihre Wahrheit bestätigten, waren sie geeignet, als Vollmachts- oder Warnzeichen dem Glauben gleichsam auf die Sprünge zu helfen, wenn sie auch von Anfang an dazu bestimmt waren, sich sobald als möglich selbst überflüssig zu machen, und feststand, daß mit dem Zurückweichen des Paganismus ihre Mission sich erfüllt haben werde 29 . Mit dieser Auffassung von Wesen und Bestimmung der urchristlichen Charismen verbindet sich bei Chrysostomos die Erkenntnis, daß es durchaus kein Zeichen von „Geringschätzung" sei, wenn Gott „diese Gnade", die die übersinnliche Wirksamkeit (νοητή ένέργεια) des Geistes audi äußerlich empfinden, ja den „Ungläubigen" förmlich in die Augen springen ließ (αίσθητόν μέντοι παρέχεται τό σημειον και τοις άπίστοις εΰσύνοπτον), „den Menschen jetzt entzogen hat" (συνεστάλη και άνηρέθη); „im Gegenteil ehrt er uns noch mehr"! Denn wir bedürfen nun keiner Zeichen (σημεία) mehr. Warum? Weil wir gelernt haben, auch ohne daß uns ein Zeichen geschenkt wird, dem Herrn zu glauben (καί χωρίς σημείου δόσεως πιστεύειν . . . τφ Δεσπότη). Es zeigt sich also bei genauerer Betrachtung, daß uns „Gott audi das Faktum des Entzugs der Wunder als Unterstützung und Bestätigung der Verkündigung (Mk 16,20) nur zu gelegen kommen! " Vgl. in ep. I ad Cor., h. 36 (Field, II, 450 f.; MG 61, 507: das Werk der „Zeichen" ist τό έκπλήξαι μόνον καί ϋορυβήσαι; sie gehören der Kategorie der μέσα an. Zum Glauben dagegen bedarf es der κατήχησις und διδασκαλία und nicht allein der εκπληξις etc.); ferner ebd., h. 6 (66; 49 f.); in ev. Joh., h. 19 al. 18, 2 (M. V i l i , 112 f.; MG 59, 121 f.: Wunder können auf „Täuschung" [φαντασία] beruhen und mißverstanden werden [s. Mt. 12,9 ff.]); h. 23 al. 22, 1 (132; 139: die Wunder sind auf die Empfänglichkeit, Wohlgesonnenheit und Achtsamkeit, das π ρ ο οικειοϋσ&αι der Seele angewiesen) ; h. 24 al. 23, 1 (137 f.; 143: diejenigen, die Jesus aufgrund seiner Verkündigung anhingen, waren „gefestigter" in ihrem Glauben [βεβαιότεροι] als die, die ihm aufgrund der σημεία glaubten); h. 35 al. 34, 2 (203; 200: der durch Wunder erzeugte Glaube bedurfte selbst der Befestigung, des ίσχυροτέρα ποιεισθαι!); h. 72 al. 71,4 (427 f.; 394—396: als die Apostel Wunder wirkten, schalt man sie o f t genug Betrüger . . .); ähnlich in ev. Mt., h. 32, 7 (M. VII, 376; MG 57, 387). 28 Vgl. in ev. Mt., h. 62 al. 63, 1 (M. VII, 619; MG 58, 595). 29 Vgl. in ep. I ad Cor., h. 34 (Field, II, 420 f.; MG 61, 286 f.). Danach gilt es nicht erst vom Esdiaton, daß „Prophetien zunichte" und „Glossen aufhören" werden (1. Kor. 13,8). Sondern „da beide um des Glaubens willen eingeführt worden sind (της πίστεως ένεκεν είσενήνεκται), so hat sich ihr Dienst erübrigt (περιττή τούτων ή χρεία λοιπόν), sobald der Glaube überall verbreitet ist". Die Liebe dagegen wird nie aufhören, sondern an Bedeutung eher noch zunehmen, „sowohl in diesem wie erst recht im zukünftigen Leben"!

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damit, daß er uns den Beweis der Zeichen entzieht, nicht entehrt, sondern gerade ehrt. Denn das hat er getan, weil er unsern Glauben erweisen will, daß wir ihm nämlich glauben auch ohne Unterpfänder (ενέχυρα) und Zeichen (σημεία); jene (die ursprünglichen Hörer der apostolischen Missionspredigt) hätten ihm bezüglich der unsichtbaren Dinge keinen Glauben geschenkt, hätten sie nicht zuvor ein Zeichen und Unterpfand empfangen. Ich aber glaube ihm vollkommen auch ohne dies (εγώ δε και χωρίς τούτου πδσαν έπιδείκνυμι πίστιν). Das ist der Grund, weshalb jetzt keine Zeichen mehr geschehen"30: auf daß nämlich das Wesen des Glaubens als des auf keinen Vernunftschlüssen (λογισμοί) noch anderen Sicherungen basierenden Vertrauens in die Wahrheit des gehörten Wortes um so reiner in Erscheinung trete. Denn „erst, wenn wir das gläubig annehmen, was sich auf keine Weise durch Vernunftschlüsse finden läßt", erst dann handelt es sich wahrhaft um Glauben 31 . Glauben, Freiheit der Entscheidung (προαίρεσις) und die Verborgenheit des Glaubensgegenstandes gehören für ihn untrennbar zusammen. Aller von außen kommende Zwang (ανάγκη) dagegen, also auch die Uberführung durch den Augenschein (ή περιφάνεια των δρωμένων), ist dem Gauben fremd und bedroht sein Wesen32, ohne daß er deshalb als „blinder" Glaube gelten müßte. Steht ihm doch nach Chrysostomos neben den Altes und Neues Testament miteinander verklammernden Prophetien auch nach dem Erlöschen der urchristlichen Charismen noch wenigstens ein „motivum credibilitatis" 33 zu Gebote: die Existenz der Kirche, die schon durch ihre Ausbreitung über die ganze bewohnte Erde die Wahrheit jenes Zentraldatums ihrer Verkündigung „laut" bezeugt, daß nämlich ihr gekreu30

De s. Pentec., 1, 4 (M. II, 463 f.; MG 50, 459 f.); vgl. audi in ep. I ad Cor., h. 29 (Field, II, 356; MG 61, 244: Έμοί μεν γάρ τ φ πιστω δήλος ό πνεύμα εχων άπό του βαπτισθήναι • τφ δέ άπίστω ούδαμόθεν εσται τοϋτο καταφανές, άλλ' ή άπό των σημείων). 31 In ep. I ad Cor., h. 6 (Field, II, 67 f.; MG 61, 51: . . . "Οταν γαρ α μηδαμή μηδαμώς εστι λογισμοις εύρείν καταδεξώμεϋα, τότε ή πίστις εστί). 32 D a ß dies freilich die „Substanz" der Antwort des Chrysostomos auf die Frage sei, warum jetzt keine Wunder mehr geschehen (so E. Boularand, S. 29), wird man schwerlich sagen können. Zumindest statistisch gesehen ist der andere Gedanke bei ihm viel ausgeprägter, daß die Charismen ihre Mission erfüllt haben, seit der Glaube auf der ganzen bewohnten Erde Fuß gefaßt hat. Überdies ist sich Chrysostomos, wie wir sahen, im allgemeinen der „Mehrdeutigkeit" der Wunder, dessen, daß sie Glauben voraussetzen und auf Glauben angelegt sind und nicht etwa bereits vom „Glauben" ins „Schauen" versetzen, durchaus bewußt (vgl. oben S. 29, A. 27). Wohl aber hat er hier auf seine — zweifellos tiefsinnige — Weise den johanneischen Makarismus aufnehmen wollen: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben" (Joh. 20,29); vgl. dazu auch etwa in act. apost., h. 40, 2 (M. IX, 304 f.; MG 60, 284 f.). 33 Vgl. Cone. Vatican. I, Sessio III, can. 3 (Denzinger, 1794: „ . . . Quin etiam Ecclesia per se ipsa, ob suam nempe admirabilem propagationem, eximiam sanctitatem et inexhaustam in omnibus bonis foecunditatem, ob catholicam unitatem invictamque stabilitatem magnum quoddam et perpetuum est motivum credibilitatis et divinae suae legationis testimonium irrefragabile").

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zigter Herr lebt, da „ein Toter doch solche Werke nicht vollbringen" kann ; die Schar der Märtyrer und Heiligen, deren „philosophisches" Leben vorbildlicher Weltüberwindung viel glaubwürdiger wirkt als die „Zeichen" und „selbst dem Teufel das Maul zu stopfen" vermag 35 . Daß die Charismen für den Glaubenden verzichtbar oder doch wenigstens nicht so unentbehrlich sind wie die Verkündigung einerseits und das sittliche Bemühen des einzelnen andererseits, findet Chrysostomos jedoch auch im Neuen Testament selbst mehrfach auf das unmißverständlichste ausgesprochen, etwa in Worten Jesu wie: „Es werden viele zu mir sagen an jenem Tage: Haben wir nicht in deinem Namen geweissagt, Dämonen ausgetrieben und viele Machttaten vollbracht? Und dann werde ich ihnen offen bekennen: Ich kenne euch nicht . . . " (Mt. 7,22 u. 23); oder: „Daran werden alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid", nicht wenn ihr Teufel austreibt, fügt Chrysostomos verdeutlichend hinzu, sondern „wenn ihr Liebe zueinander habt" (Joh. 13,35); oder endlich in dem Passus des hohepriesterlichen Gebetes, den er so wiedergibt: „Daran wird alle Welt erkennen, daß Du mich gesandt hast, nicht wenn sie Tote auferwecken, sondern wenn sie alle eins sind" (vgl. Joh. 17,22.23) 3 6 . Mit dieser Hochschätzung der „Tugend" gegenüber dem als Befähigung zu wunderhaftem Wirken verstandenen Charisma befindet sich für ihn auch Paulus in Übereinstimmung, wenn er ζ. B. den Korinthern vorhält, daß er mit ihnen trotz ihres Charismenbesitzes nicht habe reden können „als mit Pneumatikern, sondern als mit Sarkikern" (1. Kor. 3,1) 3 7 , oder wenn er ihnen den „köstlicheren Weg" aufzeigt und dabei „nicht die Auferweckung von Toten, nicht die Reinigung von Aussätzigen" nennt, „gar nichts dergleichen, sondern höher als all dies die Liebe stellt" 3 8 . Wie Purpur und Diadem einen König jedermann kenntlich machen, so genügt es, folgert Chrysostomos, „wenn einem nur das Diadem der Liebe aufgesetzt wird, um den echten (ακριβής) Jünger Christi auszuweisen, und zwar nicht allein vor uns, sondern auch vor den Ungläubigen" 39 . Allerdings erkenne Paulus der Liebe nicht nur gegenüber den Charismen 34

3 4 In ep. II ad Cor., h. 26 (Field, III, 2 7 4 ; M G 61, 5 8 1 : . . . ού γαρ δή νεκρού ταύτα τα κατορθώματα); vgl. auch in act. apost., h. 1, 4 (M. I X , 7 ; M G 60, 19: Kein „blindes" Glauben, da man sich ja fragen muß: πώς ουν συνέστη τό έθνος τό ήμέτερον!). 3 5 In ep. I ad Cor., h. 6 (Field II, 6 9 ; M G 61, 5 4 ) ; vgl. in ev. Mt., h. 43 al. 44, 5 (M. V I I , 4 6 6 ; MG 57, 4 6 4 ) ; h. 46 al. 47, 3 (484 f.; M G 58, 479 f.); in ev. Joh., h. 72 al. 71, 4 (M. V i l i , 427 f.; MG 59, 3 9 4 — 3 9 6 ) . 3 8 In ev. Mt., h. 32 al. 33, 8 (M. VII, 376 f.; M G 57, 387 f.); vgl. audi de virgin., 36, 2 (Musurillo [SC 125], 2 1 2 / 2 1 4 ; MG 48, 558 f.). 3 7 Vgl. in ep. I ad Cor., h. 2 (Field, II, 13 f.; M G 61, 18); h. 8 ( 8 9 — 9 1 ; 6 9 ) ; in ep. II ad Cor., h. 12 (Field, III, 139; M G 61, 4 8 4 : Έ σ τ ι γαρ καΐ χάρισμα λαβόντα πνευματικόν, ουκ εις δέον αύτφ χρήσασθαι). 3 8 In ev. Mt., h. 32 al. 33, 8 (M. VII, 3 7 6 ; MG 57, 3 8 7 ) ; vgl. auch in ep. I ad Cor., h. 32 (Field, II, 3 9 0 — 3 9 2 ; M G 61, 267 f.). 3 8 In ep. I ad Cor., h. 32 (Field, II, 4 0 3 ; MG 61, 275).

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den Preis zu, was Chrysostomos nicht im mindesten überraschend findet, da die Charismen „im Vergleich mit dem Lebenswandel zweitrangig" (του βίου δευτέρα) seien und, wie das Beispiel des Judas Ischarioth lehre, sehr wohl mit schlimmstem sittlichem Versagen einhergehen können. Vielmehr lasse Paulus selbst den allen Anforderungen der Tugend entsprechenden Lebenswandel (βίος ήκριβωμένος) von der Liebe übertroffen werden. Das ist f ü r Chrysostomos die eigentliche Paradoxie des paulinischen „Hohenlieds der Liebe"! Und sie enthüllt f ü r ihn ihren Sinn erst dann, wenn man erkennt, daß die Liebe darum in der Tat selbst den höchsten Tugenden überlegen ist, weil allein sie von der Neigung zum selbstvertrauenden Sichrühmen, zu τΰφος und δοξιμανία frei ist 40 . Schließlich kommt f ü r ihn die Zweitrangigkeit, ja Entbehrlichkeit der Charismen darin zum Ausdruck, daß Paulus sie in der Aufzählung der verschiedenen Funktionen innerhalb der Gemeinde (1. Kor. 12,28) deutlich den Verkündigungsdiensten nachordne 41 und immer wieder als Maßstab einschärfe, an dem alles, was in der Gemeinde geschieht, zu messen sei, daß nämlich „alles zur Auferbauung" der Gemeinde als des „Leibes Christi" geschehe. Dies funktionale Verständnis aber schließt f ü r ihn auch die Uberzeugung von der Entbehrlichkeit der Charismen in sich. Denn „wo dies", die οικοδομή der Gemeinde, „das Telos der Charismen ist, da ist es möglich, dies (Ziel) auch auf andere Weise zu erreichen, ohne Charismen . . ." 42 . So viel zum Verständnis der urchristlichen Charismen bei Chrysostomos wie auch zu den Gründen, weshalb sie seiner Meinung nach der Kirche auf die Dauer entzogen worden und „seit langem erloschen" sind. Gewiß f ü gen sich diese seine Erklärungen, so eindrucksvoll sie im einzelnen sein mögen, nur schwer zu einem geschlossenen Gesamtbild zusammen. Auch werfen sie bei näherem Zusehen, und zwar nicht nur in nebensächlichen Details, mehr Fragen auf, als sie zureichende Antworten bereitstellen. Darin aber stimmen sie ohne Ausnahme überein, daß sie, sowenig sie auch auf einer Ebene liegen und in eine einzige Richtung zielen mögen, ein Verständnis von Charisma implizieren, das es seiner Erscheinungsweise wie seinem Wirkungsbereich nach als mit -θαύμα bzw. σημεΐον identisch erscheinen läßt. Überall da, wo bisher von Charisma die Rede war, war dar40

Ebd. (Field, II, 394 f. 398; MG 61, 270. 271). Vgl. ebd., h. 29 (Field, II, 358; MG 61, 245: Der Grund ist ein sachlicher, daß nämlidi der λόγος της διδασκαλίας vor der Glossolalie wie aber audi vor „allen anderen" Charismen den Vorrang besitzt, weil sie alle um seinetwillen überhaupt da sind); h. 32 (Field, II, 388; MG 61, 264 f.: . . . ούκ εστίν ϊσον, λόγον καταγγέλλειν κηρύγματος και σπείρειν τήν εύσέβειαν ε'ις τάς των άκουόντων ψυχάς, και δυνάμεις ποιεϊν • έπεί καί αΰται δι ' έκεϊνον γίνονται). 42 Ebd., h. 36 (Field, II, 455; MG 61, 310: El δέ τοΰτο των χαρισμάτων τό τέλος, εξεστι δέ αύτό καί έτέρφ κατασκευάζειν τρόπφ χαρισμάτων χωρίς . . . ) . 41

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unter k o n k r e t d i e w u n d e r b a r e B e f ä h i g u n g z u G l o s s o l a l i e , T o t e n e r w e c k u n g , Dämonenaustreibung, Krankenheilung oder Weissagung z u verstehen. A l l e r d i n g s u n t e r l i e g t d i e P r o p h e t i e bei C h r y s o s t o m o s einer s c h w a n k e n d e n B e u r t e i l u n g . G e l e g e n t l i c h t e n d i e r t er n ä m l i c h — w o h l in E r i n n e r u n g a n die paulinische U n t e r s c h e i d u n g z w i s c h e n christlicher P r o p h e t i e u n d h e i d nischer M a n t i k ( l . K o r . 1 2 , 1 — 3 ) o d e r d i e G e g e n ü b e r s t e l l u n g v o n P r o p h e tie u n d G l o s s o l a l i e in 1. K o r . 1 4 — z u einer eher nüchternen E i n s c h ä t z u n g des C h a r i s m a s der „ W e i s s a g u n g " . D a n a c h k ä m e sie i n d i e N ä h e der „Lehre" (διδασκαλία) z u stehen, s o f e r n sie w e n i g e r i n w u n d e r b a r e r V o r a u s schau k ü n f t i g e r Ereignisse als i n v o l l m ä c h t i g e r „ P r ü f u n g " u n d „ Ü b e r f ü h rung" der H e r z e n u n d G e w i s s e n ( v g l . l . K o r . 1 4 , 2 4 . 2 5 ) o d e r g a r „nur" i n der Auslegung biblischer P r o p h e t i e n ihr W e s e n h ä t t e , w e l c h e nach C h r y s o s t o m o s über d i e Z u k u n f t bereits alles e r ö f f n e t h a b e n , w a s u n s z u w i s s e n n o t ist 4 3 . Ferner s t i m m e n alle bisher a n a l y s i e r t e n T e x t e d a r i n überein, d a ß d i e so v e r s t a n d e n e n C h a r i s m e n d e f i n i t i v erloschen sind. W i e auch d i e E r k l ä r u n g e n , die C h r y s o s t o m o s f ü r diesen T a t b e s t a n d a u f b i e t e t , t r o t z ihrer V e r s c h i e d e n a r t i g k e i t u n d t e i l w e i s e a u d i W i d e r s p r ü c h l i c h k e i t sämtlich d a r a u f h i n a u s l a u f e n , d a ß das A u f h ö r e n der C h a r i s m e n p r o v i d e n t i e l l u n d f ü r d e n G l a u 43

In ep. II ad Tim., h. 8 (Field, VI, 242 f.; MG 62, 649). Zur Beurteilung der Prophetie durdi Chrysostomos vgl. nur einerseits in ep. I ad Cor., h. 32 (Field, II, 393; MG 61, 269), wo er sie eindeutig zu den wunderhaften Phänomenen redinet („Prophetie und [wunderwirkender] Glaube" = die „Zusammenfassung" aller Charismen; „denn die Wunder [θαύματα] geschehen entweder in Gestalt von Weissagungen [λόγοι] oder von Madittaten [έργα]"), andererseits den Anfang derselben Homilie (388; 266), wonach Paulus solche Propheten meint und denen den Vorrang vor anderen Charismen und Charismatikern gibt [1. Kor. 12,28], τούς δια της προφητείας και διδάσκοντας καί είς τό κοινή συμφέρον απαντα λέγοντας). — Für ein solches Verständnis der Prophetie, das auch Diodor von Tarsos geteilt zu haben scheint (s. K. Staab, S. 106, wo es zu Rom. 12,6—8 folgendermaßen heißt: προφητεία μέν ου ν έστι προηγουμένως μεν ή των αφανών πραγμάτων φανέρωσις, είτε των μελλόντων, είτε των παλαιών [!], είτε των ένεστώτων καί λανθανόντων [!]. λέγεται δέ προφητεία και δταν τις τά τοϋ προφήτου έρμηνεύη), gab es bereits eine lange Tradition: s. Orígenes, in ep. I ad Cor. (Jenkins, JThS X, 1909, S. 31 f. 40 f.) und in ep. ad Eph. (Gregg, JThS III, 1902, 414: der Prophet des Neuen Bundes ist der, „der Ungläubige überführt und prüft"!). Darin wird sich nicht nur das von der Ausscheidung und Verurteilung des Montanismus ab datierende „ ,kirchliche' und später auch ,amtliche' Mißtrauen gegen alle krasseren Formen des religiösen Enthusiasmus und der Ekstase überhaupt" (H. von Campenhausen, Kirchliches Amt, S. 209), sondern audi ein gesunder christlicher Sinn widerspiegeln, „dem es instinktiv darum zu tun war, den Geist des Christentums vor der Vermischung mit dualistisch gerichteter, im Grunde heidnischer Mantik zu bewahren" (M. Lauterburg, S. 46). „Der urdiristlidie Begriff der Prophetie hatte" ja „das ekstatische Element nicht ausgeschlossen; aber hier wurde es audi nicht zur Rechtfertigung ihres übermenschlichen, geistlichen Wesens benutzt. Bei Paulus galt die Prophetie immer als Kraft der überführenden und überzeugenden Rede, die als solche mit .Vernunft' geübt werden muß und auch bei ihren Hörern an das wache, vernünftige Urteil appelliert" (H. v. Campenhausen, Kirchliches Amt, S 207). 3

Ritter, Charisma

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Das Charismaverständnis des Joannes Chrysostomos

ben ohne Nachteil, wenn nicht gar von Gewinn sei, eine Erkenntnis, an der dem Prediger offenbar sehr gelegen ist und auf die er deshalb mehrfach rekurriert. Anscheinend befürchtet er nämlich, daß, falls hier irgendeine Unsicherheit bestehen bliebe, bei seinen Hörern sowohl die Autorität des — nicht mehr wie zur Zeit der Apostel mit der Wundergabe als Vollmachtszeichen ausgestatteten! — Predigtamtes ins Zwielicht geraten, als auch der Entzug der „apostolischen" Charismen als Vorwand dienen könnte, sich von der vita apostolica, der „Nachfolge der Apostel" (vgl. 1. Kor. 4,16; 11,1) zu dispensieren44. Diese Apostelnachfolge aber ist für ihn bündigster Ausdruck, Ziel und Maßstab alles christlichen Lebens; zu ihr sind alle Glaubenden aufgerufen.

2. Charisma als gegenwärtige

Wirklichkeit

Allein, so sehr dies anscheinend in der Tat schon auf die Urkirche zurückgehende, spätestens jedoch im Montanismus1 ebenso wie bei seinen großkirchlichen Bestreitern2 greifbar werdende wunderhaft-„enthusiasti44 Vgl. nur in ev. Mt., h. 32 al. 33, 7 (M. VII, 375; MG 57, 386: „ . . . ihr verlangt, daß wir dieselben Wunder wirken, die jene", die Apostel, „wirkten . . .?"); in ep. ad Col., h. 10 (Field, V, 282; MG 62, 370: » . . . Wo sind nun diejenigen, die die Göttlichkeit des Predigtamtes leugnen . . . ?" Weil die Apostel Wunder taten?); in ev. Mt., h. 46 al. 47, 3 (M VII, 484; MG 58, 479: „Wie lange nodi wollen wir diese Wunder als Vorwand für unsre Trägheit gebraudien . . .?"); in inscr. act., 2, 3 (M. III, 65 f.; MG 51, 82: „Damit du nicht einwendest, oder vielmehr um den Leichtsinnigen, wenn wir sie zur Nachahmung der Apostel aufrufen, die faule Entschuldigung abzuschneiden: . . . Wir können's nicht; . . . jene haben ja Tote auferweckt . . . " , darum hat Lukas auch sein Werk nicht „Wunder", sondern „Taten der Apostel" betitelt. Denn nicht der Wunder, sondern eines entsprechenden Lebenswandels bedarf es, um in das Himmelreich einzugehen). 1 Nicht nur, daß auch im Montanismus Charisma durchaus nicht „etwas durch die Gemeinde hin Vorkommendes" (M. Lauterburg, S. 45), sondern einer Elite vorbehalten war und gerade hier sichtbar wurde, daß „charismatischer" Enthusiasmus nur zu leicht im Chaos oder aber in autoritärer Herrschaft mündet. Vielmehr hob auch die „neue Prophétie" Montans am „prophetischen Charisma", um dessen Anerkennung der Streit zwischen Montanisten und der Großkirche ja vor allem ging, gerade die enthusiastische Komponente hervor (vgl. das bekannte Montanzitat bei Epiphanios, Panar., haer. 48, 4, 1 [GCS 31, 224 f.; N. Bonwetsdi, Texte zur Geschichte des Montanismus, KIT 129, 1914, S. 17]). — Vor dem Ausbrudi des montanistischen Streits führte der Charismabegriff in der frühchristlichen Literatur ein ausgesprochenes Schattendasein und wurde, wenn überhaupt, dann nur in gänzlich abgeblaßtem Sinne gebraucht (s. die Nachweise bei F. Grau, S. 95 ff.; vgl. audi H . Conzelmann, Art. χάρισμα, ThW IX, S. 397; anders U. v. Balthasar, S. 263, und G. Ruhbadi, S. 408 f.). 2 Allerdings sahen die antimontanistischen Bestreiter von Melito von Sardes (vgl. Euseb, h. e., IV, 26: GCS 9, 1, 380 ff.) bis hin zu dem von Euseb ausführlicher zitierten antimontanistischen Anonymus (V, 16, 1 ff., bes. 6—10: GCS 9, 1, 458 ff., bes. 462—464) in dem ekstatischen Charakter der „neuen Prophetie" eine „Neuerung", die der „Überlieferung und Diadoche der früheren Kirche" widerspreche; gleichwohl teilten sie mit ihren

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sehe" Mißverständnis der Charismen auch bei Chrysostomos immer wieder durchschlägt und er geradezu als einen Skopos von l . K o r . 12—14 herausarbeiten kann, daß niemand „benachteiligt zu sein" (ήλλαττώσθαι) meine, weil er nicht im Besitz von Charismen sei3, so wenig ist ihm entgangen, daß die Fixierung des Charismenbegrifïes auf den Sinn der wunderhaften, „fremdartigen" Manifestation des Geistes am Wortlaut der Paulustexte schwerlich einen Rückhalt hat, ja der Tendenz der paulinischen Aussagen direkt zuwiderläuft. Ist es dodi Paulus entscheidend gerade darum zu tun, die Erkenntnis in den Mittelpunkt der Pneumatologie und Ekklesiologie zu rücken, daß der Geist als der Spender der Charismen „nicht bloß in den Aufsehen erregenden, ekstatischen oder in den außerordentlichen, für umschriebene Aufgaben befähigenden und aussondernden Pneumagaben wirksam" werde, „sondern daß er zuerst und vor allem jeden einzelnen Glaubenden und Getauften" durchdringe, erfülle und bewege 4 . So bemerkt denn auch Chrysostomos mit feinem exegetischem Gespür, daß Paulus immer wieder habe durchblicken lassen, daß für ihn der Glossolalie als dem Charisma, das „damals" als besonders „fremdartig" (ξένον)5 und darum audi besonders erstrebenswert galt, zumal es das den Aposteln als erstes verliehene σημεΐον gewesen sei, in der Rangfolge der Charismen der Gegnern im G r u n d e das „enthusiastische" Mißverständnis von Charisma, d. h. die „sdion in Korinth zu Tage getretene, aber von Paulus b e k ä m p f t e populäre Vorliebe f ü r das Auffällige und Seltsame" (M. Lauterburg, S. 43), wie z_ B. aus Irenäus von Lyon (Adv. haer., II, 48, 2; 49, 3; IV, 53, 2: H a r v e y I 370, 375;"II, 262 f.) erhellt (vgl. dazu F. Grau, S. 110 f.). Aus späterer Zeit vgl. etwa Euseb h. e., V, 3, 4 (GCS 9, 1, 432), wonach es nodi zur Zeit des Auftretens Montans „sehr viele andere mirakelhafte Betätigungen (παραδοξοποΐαι) des göttlichen Charisma in verschiedenen Kirchen" gab, weshalb es auch Montan und den anderen Repräsentanten der „neuen Prophetie" leicht gefallen sei, sich bei „vielen" als Propheten einzuführen. Zu den übrigen Charismastellen bei Euseb, in denen ein abgeblaßt — „hellenistischer" Wortgebrauch vorherrscht (Charisma = der — himmlische oder irdische, vor allem kaiserliche! — Gunsterweis), vgl. wiederum F. Grau, S. 119. — Die Verbreitung des „enthusiastischen" Mißverständnisses erhellt schließlich auch etwa aus Const. Apost., V I I I , 1, 9—20 (F. X. Funk, I, 462—466): „Als Charismen bezeichnen wir die Fähigkeiten, die sich in Wundern äußern" (χαρίσματα δε λέγομεν τά δια τ ω ν σημείων). Freilich wird hier auch dem, der das diristologische Dogma f ü r w a h r hält, „und z w a r nicht blindlings und grundlos, sondern mit Überlegung und aus voller Überzeugung (οΰχ ά π λ ώ ς ούδέ άλόγως, άλλά κρίσει και πληροφορία)", ein „Charisma von G o t t " zugesprochen, ebenso wie dem, „der sich von der Häresie ferngehalten hat". Nicht weniger unvermittelt ist aber auch vom Apostolat, vom Episkopat „und anderem" als von „Charismen oder W ü r d e n " (χαρίσματα ή αξιώματα) die Rede. 3 In ep. I ad Cor., h. 34 (Field, II, 419; M G 61, 286); zur παραμυθία der vermeintlich Zukurzgekommenen als Skopos von l . K o r . 12—14 neben dem ταπεινοΰν derer, die ihres Charismenbesitzes wegen zu Überheblichkeit neigen, s. ebd., h. 29 (354/356; 243 bis 244); h. 30 (364 f.; 249); h. 31 (376 f.; 257); h. 32 (389/391; 267). Freilich stößt sich dies mit der Annahme des Chrysostomos, d a ß „damals" alle G e t a u f t e n im Besitz der wunderbaren Sprachengabe gewesen seien! 4 O. K u ß , Der Römerbrief, 2. Aufl. 1963, S. 560 f. 5 In ep. I ad Cor., h. 35 (Field, II, 441; M G 61, 301). 3*

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unterste Platz zukomme 6 , weil es, ohne die Ergänzung durch das Charisma der „Glossenauslegung" (ερμηνεία των γλωσσών), im wesentlichen nur dem Glossolalen selbst inneren Gewinn bringe, für die Gemeinschaft der Gläubigen aber ohne sonderlichen Nutzen sei7. Auch räumt er wenigstens indirekt ein, daß die Gleichsetzung von χάρισμα und σημειον sich in der Einzelexegese der paulinischen Charismatexte gar nicht durchführen läßt, wenn er Paulus, ohne ihm sogleich ins Wort zu fallen, seine Aussagen abzuschwächen oder ihnen gewaltsam einen wunderhaften Sinn zu unterlegen, freilich auch ohne diese Erkenntnis sogleich exegetisch und homiletisch zu fruktifizieren, nachspricht, daß zu dem Kosmos der urchristlichen Charismen auch so unscheinbare Gaben wie die Fähigkeit zu „Hilfeleistungen" (άντιλήμψεις) aller Art und der Erweis von Verwaltungs- und Leitungsqualitäten (κυβερνήσεις)8 rechneten; ferner die scheinbar sehr viel anspruchsvolleren Charismen des λόγος σοφίας und des λόγος γνώσεως (1. Kor. 12,8), bei denen es sich jedoch für Chrysostomos im einen Falle, dem des λόγος γνώσεως, wohl einfach um den sehenden, verstehenden Glauben handelte, der „damals den meisten" Christen „eigen" gewesen sei, während das Charisma des λόγος σοφίας darüber hinaus das Vermögen enthielt, sich auch andern belehrend mitzuteilen 9 . Auch erschließt er — wie schon sein Lehrer Diodor 10 — aus Stellen wie ' Ebd., h. 29 (Field, II, 357; MG 61, 245); h. 32 (387. 389. 392; 265. 266. 268); h. 35 (434 f.; 296) u. ö. 7 Ebd., h. 35 (Field, II, 435 f.; MG 61, 297); vgl. audi die treffenden Bemerkungen über das Verhältnis der Prophetie im paulinischen Verständnis zur heidnischen Mantik: in ep. I ad Cor., h. 29 (350—354; 240—243). Daß sich dies freilich mit der im übrigen auch von ihm geteilten Auffassung der Glossolalie als eines sozusagen völlig normalen Sprechens in einer Fremdsprache (Lateinisch, Indisch etc.), die der Glossolale vorher nicht gelernt hat und selbst auch im Moment des „Zungenredens" nicht versteht, kaum vereinbaren läßt, hat sidi Chrysostomos anscheinend nidit klar gemacht. — Zum ursprünglichen Sinn der Glossolalie als einer „Wundersprache, wie sie im Himmel im vertrauten Umgang mit Gott von den Engeln gesprochen wird . . . , wie sie auch vom Geiste verzückten, in den Himmel entrückten . . . Betern . . . zugänglich werden kann", s. J. Behm, Art. γλώσσα κτλ., ThW I, 719—726 (Zitat S. 725). 8 Vgl. in ep. I ad Cor., h. 32 (Field, II, 388 f.; MG 61, 266). » Ebd., h. 29 (Field, II, 357; MG 61, 245); vgl. audi h. 2 (12 f.; 17: "Εστι γαρ γνώσις λόγου χωρίς, και εστι γνώσις μετά λόγου, γνώσις = die durdi das von Gott mitgeteilte Wort erkennbare „Lehre der Wahrheit"; λόγος = die Bezeugung dieser γνώσις, die Predigt), h. 32 (388; 276); h. 40 (513 f.; 352). Wenn Chrysostomos auf diese Weise — wohl vor allem wegen des φ μέν — ΐίλλω δέ in l . K o r . 12,8 — zwischen λόγος γνώσεως und λόγος σοφίας einen Unterschied sieht, so befindet er sich zwar in ehrenwerter Gesellschaft (s. schon Orígenes, C. Cels., VI, 13 [GCS Orígenes II, S. 83]; in ev. Joh. comm., t. II, 24 [GCS Orígenes IV, S. 81]; t. XIII, 53 [282]). Doch widerspricht diese Auffassung dem Sprachgebraudi des ganzen 1. Korintherbriefes. Beides ist vielmehr „die Gabe, belehrend (enthüllend [1. Kor.] 14,24 f.) zu reden" (H. Conzelmann, 1. Korinther, S. 246). 10 K. Staab, S. 92 f. (zu Rom. 8,16). Hier wird einmal der auch sonst — zumindest in exegeticis — wahrscheinliche Einfluß Diodors (s. dazu vor allem E. Schweizer, bes. S. 72) bis in den Wortlaut hinein nachweisbar! Die Voraussetzung für die Deutung von Rom.

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1. Kor. 14,26 und Rom. 8,26 und 27 noch an besonderen, wenn auch kaum besonders in die Augen springenden Geistesgaben den „(charismatischen) Psalmgesang" (χάρισμα "ψαλμών) und die Gabe des Gebets „für das ganze Volk" (χάρισμα ευχής), von der es heißt, daß sie angesichts der Tatsache, „daß wir oft nicht wissen, was uns heilsam ist, und auch um solches bitten, was nicht zu unsrem Heile dient", „damals auf einen (aus der Gemeinde) herabkam und ihn für alle unter Flehen für das, was der ganzen Kirche frommte, sich erheben und auch die anderen darin belehren" ließ. Daran habe sich noch jetzt eine „Erinnerung" (σύμβολον) erhalten in dem Brauch, daß der Diakon „die Gebete für das Volk (δήμος)" emporsende11. Nicht weniger irritierend und der Reduktion des Charismatischen auf das Wunderhafte widerstreitend mußte die Feststellung sein, daß Paulus seinen eigenen, wesentlich an der Verkündigung orientierten apostolischen Dienst auch als ein Charisma unter Charismen verstehen kann, wenn auch als deren wichtigstes (1. Kor. 12,27 f.) 12 . Gleichwohl nimmt Chrysostomos dies nicht nur terminologisch13, sondern auch der Sache nach im wesentlichen richtig in der Weise auf, daß er sagt, es kennzeichne den Apostolat im Verständnis der Apostel selbst, daß seine Träger nicht durch ihre Mühe und Arbeit bewirkt haben, daß sie Apostel geworden seien, sondern weil sie Gnade empfingen und ihnen „von oben als Geschenk dies Amt übertragen worden" sei14. Dementsprechend komme auch, vor allem in den Briefen des Paulus, das Bewußtsein zum Ausdruck, daß, ob sie etwas sagen oder tun, „alles" Gott tue, „alles der heilige Geist"15, daß sie nicht ihr Eigenes gäben und 8,16 im Sinne eines „Charismas des Gebetes" bildet die Annahme Diodors — oder ist sie schon älter? —, daß unter πνεύμα hier wie auch sonst im N T sehr häufig nicht der Hl. Geist, sondern seine Gabe, das χάρισμα του πνεύματος zu verstehen sei (ebd.), eine Annahme, die auch Chrysostomos teilt und recht exzessiv ausmünzt (s. unten S. 44, A. 39). 11 In ep. ad Rom., h. 15 (14: Field, I, 240 f.; MG 60, 533); vgl. auch in ep. I ad Cor., h. 35 (Field, II, 440; MG 61, 299: χάρισμα εύχής); in ep. ad Col., h. 9 (Field, V, 272; MG 62, 364): χάρισμα ψαλμών). 12 Vgl. Α. Μ. Ritter, S. 32. 250 f. (Α. 285), sowie etwa noch H . Schlier, Die neutestamentliche Grundlage des Priesteramtes, in: A. Deissler—H. Schlier—J.-P. Audet, Der priesterliche Dienst, I: Ursprung und Frühgeschichte ( = Quaestiones Disputatae 46), 1970, (S. 81—114; hier) S. 85 f. 1S S. in ep. ad Rom., h. 30 (29: Field, I, 450; MG 60, 655); in ep. ad Eph., h. 11 (Field, IV, 216; MG 62, 81); vgl. auch in ep. II ad Tim., h. 10 (Field, VI, 259; MG 62, 660), wo der Wunsch des Briefschreibers: „Die Gnade sei mit uns", so paraphrasiert wird: „Zum Sdiluß betet er also auch für sich selbst, und zwar darum, daß sie (Paulus und Timotheus) ihm (Gott) wohlgefällig sein, daß sie Gnade haben mögen bei dem Charisma (ώστε χάριν εχειν μετά του χαρίσματος); denn wo diese (Gnade) da ist, da wird nichts Widerwärtiges widerfahren können"; und zwar denkt wohl Chrysostomos bei „dem Charisma" an den Apostolat des Paulus einerseits und das in der Ordination verliehene Amtscharisma des (in den Gebetswunsch ja eingeschlossenen!) Timotheus andererseits. 14 In ep. ad Rom., h. 2. (1: Field, I, 12; MG 60, 398 : . . . προοδοποιοϋσα χάρις!); vgl. audi in ep. ad Tit., h. 1 (Field, VI, 266; MG 62, 665). 15 In ep. ad Rom., h. 30 (29: Field, I, 452; MG 60, 656).

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nicht in eigenem Namen sprächen, sondern, als „Abgesandte", nur das mitteilten, was sie selbst empfingen16. Aller „Erfolg" hingegen, alle Durchschlagskraft (δύναμις) ihrer Predigt gehe auf Gott zurück17, dessen Macht sich gerade in ihrer eigenen Unscheinbarkeit (ευτέλεια) und Schwäche erweise und von ihr nicht verdeckt, sondern gerade bezeugt werde 18 . Den Vorrang des apostolischen Charismas vor den übrigen Geistesgaben sieht Chrysostomos allerdings nicht nur wie Paulus in dem den Aposteln in einzigartiger Weise anvertrauten kirchengründenden Kerygma, sondern auch darin begründet, daß der Apostolat „sämtliche Charismen" in sich begriffen habe19. Um so mehr stimmt er mit Paulus schließlich darin überein, ohne anscheinend den Selbstwiderspruch zu bemerken, in den er sich damit verwickelt, daß die Liebe sowohl Krisis wie Maßstab aller Charismen sei, sie bestimmend und einend. Zugleich gilt sie ihm als ihre „Mutter" und „Wurzel" (ρίζα), als der „köstlichere Weg", der den Zugang zu ihnen allen eröffne. Ja er kann sie sogar als das größte und wichtigste, weil für die οικοδομή der Kirche nützlichste Charisma bezeichnen20. Ist aber der Bereich der Charismen mit Paulus als viel weiter anzusehen als der der „Zeichen" und „Wunder"21 und ist der Maßstab für ihre Be" Ebd., h. 3 (2: Field, I, 22; MG 60, 404); vgl. audi in ep. I ad Tim., h. 1 (Field, VI, 8; MG 62, 503 f.). " In ep. II ad Cor., h. 21 (Field, III, 219; MG 61, 543). 18 S. in ep. I ad Cor., h. 3 (Field, II, 26—29; MG 61, 26—28); h. 4 (42; 37); h. 5 (50. 54. 56; 42 f. 45 f. 46 f.); h. 7 (81—88; 62—68); in ep. II ad Cor., h. 8 (Field, III, 99—106; MG 61, 457—460); h. 21 (219 f.; 543); h. 26 (270—274; 576—578); in ev. Mt., h. 1,4 (M. VII, 8 f.; MG 57, 18); in ev. Joh., h. 2 al. 1,2 (M. V i l i , 9; MG 59, 31); ad popul* Antioch., h. 10, 4 (M. Il, 110; MG 49, 115); in diem natal. D. Ν . I. Chr., 1 (M. II, 355 f.; MG 49, 352); de laud. s. Pauli Αρ., 4 (Μ. II, 495 f.; MG 50, 492); in ep. ad Col., h. 4 (Field, V, 215; MG 62, 327 f.). 19 Vgl. in ep. I ad Cor., h. 32 (Field, II, 387; MG 61, 265); in ep. ad Rom., h. 2 (1: Field, I, 8; MG 60, 396); de util. lect. script. ( = in inscr. act. apost., 3), 3. 4 (M. III, 75 f.; MG 51, 92). Chrysostomos hat in dieser Anschauung, zu der immer wieder vor allem die in l . K o r . 12,27 scheinbar durchgeführte oder doch zumindest begonnene „hierarchische" Rangordnung der Charismen verführte, bis zur Gegenwart zahlreiche Nachfolger gefunden; zur Auseinandersetzung s. etwa A. M. Ritter, S. 32. 75. 229 (A. 84). 250 f. (A. 285). 20 Vgl. in ep. I ad Cor., h. 32 (Field, II, 391 f.; MG 61, 268); h. 34 (419 f. 424; 285. 289); in ep. ad Hebr., h. 3 (Field, VII, 44—47; MG 63, 35—38). Freilich ist die Frage, ob die Liebe nach Paulus — als Krisis und zugleich Krönung — zu den Charismen selbst rechne oder aber über sie hinausführe, exegetisch umstritten und hier kaum zu entscheiden. Die Antwort hängt wesentlich davon ab, ob 1. Kor. 13 überhaupt paulinisch, und wenn ja, ob es an seinem jetzigen Ort ursprünglich ist, womit zugleich eine Vorentscheidung fiele für das Verständnis von l . K o r . 14,1a im Verhältnis zu lb. Immerhin findet die von Chrysostomos vertretene Auffassung bis heute ihre Anhänger. Mich selbst allerdings haben inzwischen die Argumente von H . Conzelmann in seinem Kommentar z. St. (S. 254—275) sowie die (briefliche) Belehrung durch E. Lohse in meinem Urteil schwankend gemacht; anders noch A. M. Ritter, S. 30 f. 21 Die damit notwendig werdende terminologische Differenzierung zwischen χάρισμα

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wertung in Wahrheit gar nicht die eigene „Erbauung", sondern die der έκκλησία22, so ist die Frage nach dem Fortwirken des Charismatischen in der Kirche noch nicht mit der Feststellung erledigt, daß die „Zeichen" das Privileg der apostolischen Urzeit der Kirche seien 23 oder bestenfalls in veränderter, spiritualisierter Form weiterlebten 24 , während der Glaube jetzt nicht mehr der Bestätigung durch wunderhafte Manifestationen des Geistes bedürfe. Doch ist anscheinend nicht dies der entscheidende Gesichtspunkt, der Chrysostomos zu einer stillschweigenden Revision seines Urteils nötigt und ihm den Blick öffnet für die nicht bloß historische Bedeutung der Charismaaussagen des Paulus. Jedenfalls werden diese Konsequenzen in seinen Homilien zum Römer- und 1. Korintherbrief selbst allenfalls angedeutet. Vielmehr gelangt er, wie es scheint, vor allem von dem paulinischen Gedanken des Ursprungs der Charismen im Geist als dem Lebensprinzip der Kirche 25 her zu einer Bejahung des Charismatischen als einer auch noch gegenwärtigen Wirklichkeit, einem Gedanken, der in der früher bereits u n d σ η μ ε ΐ ο ν deutet sich bei C h r y s o s t o m o s e t w a d a r i n an, d a ß er gelegentlich v o n τ ω ν σ η μ ε ί ω ν τ ά χ α ρ ί σ μ α τ α sprechen k a n n (in ep. I I a d Cor., h. 7 [Field, I I I , 92; M G 61, 448]). D a b e i d ü r f t e der G e n i t i v ebenso wie in der V e r b i n d u n g π ί σ τ ι ς τ ω ν σ η μ ε ί ω ν (im Unterschied zu π ί σ τ ι ς τ ώ ν δ ο γ μ ά τ ω ν : in ep. I ad Cor., h. 29 [Field, V, 357; M G 61, 245]) nicht als G e n i t i v u s appositivus o d e r epexegeticus, sondern als G e n e t i v u s qualitatis zu verstehen sein. D a s aber hei£t, d a ß hiernach d a m i t zu rechnen w ä r e , d a ß es neben den τ ω ν σ η μ ε ί ω ν χ α ρ ί σ μ α τ α noch andere C h a r i s m e n gibt. Eben das scheint in ep. I ad Cor., h. 32 (Field, II, 403; M G 61, 275) ausgesprochen zu sein, w e n n es d o r t heißt, Paulus habe die Liebe „sowohl den W u n d e r n als auch den anderen C h a r i s m e n " vorgezogen (καί σ η μ ε ί ω ν καί τ ώ ν ά λ λ ω ν χ α ρ ι σ μ ά τ ω ν π ρ ο τ ί θ η σ ι ν ) ; vgl. auch in ev. Joh., h. 87 (86), 3 (M. V i l i , 517; M G 59, 471: die C h a r i s m e n sind nicht e t w a identisch mit der Vollmacht, T o t e zu erwecken, sondern umfassen auch ζ . B. die Vollmacht z u r S ü n d e n v e r g e b u n g ; „denn m a n n i g f a l t i g sind die Charismen des Geistes"!) und d a z u unten S. 53. 22 Vgl. in ep. I ad Cor., h. 35 (Field, II, 435 f. 437 f.; M G 61, 296. 297); h. 36 (450 f. 454; 307. 308). 23 So heißt es denn auch in ep. ad R o m . , h. 15 (14: Field, I, 240; M G 60, 533) a n d e r s als e t w a in dem Z i t a t aus den H o m i l i e n z u m 2. Thessalonicherbrief (s. oben S. 26, A. 15), d a ß „viele der w u n d e r b a r e n Erscheinungen v o n damals jetzt a u f g e h ö r t h a b e n " (πολλά τ ώ ν τότε γ ι ν ο μ έ ν ω ν θ α υ μ ά τ ω ν π ε π α ί σ & α ι νυν). 24 Vgl. in ev. M a t . , h. 32 al. 33, 8 (M. V I I , 376; M G 57, 387: „ W e n n d u aber auch Zeichen w i r k e n willst, so mache dich frei v o n den V e r f e h l u n g e n , u n d d u hast alles vollbracht. D e n n auch die Sünde, Geliebter, ist ein mächtiger D ä m o n . . ."); in resurrect, mort., 8 (M. II, 436; M G 50, 432: „Auch jetzt sind v o n dieser W u n d e r g a b e noch viele Wahrzeichen [σύμβολα] erhalten geblieben, die weit g r o ß a r t i g e r und w u n d e r b a r e r sind als all das, w a s ich eben a u f g e z ä h l t habe. D e n n nicht auf gleicher Ebene liegt es [ού γ ά ρ έστιν ϊ σ ο ν ] , einen toten Leib a u f z u e r w e c k e n u n d eine in Sünden erstorbene Seele aus dem V e r d e r b e n zu erretten, wie es in der T a u f e geschieht. N i c h t dasselbe ist es, leibliche K r a n k h e i t e n zu vertreiben u n d die Last der Sünde a b z u l e g e n ; nicht dasselbe, ein erblindetes Auge w i e d e r sehend zu machen [ δ ι ο ρ θ ώ σ α ι ] u n d eine u m d ü s t e r t e Seele mit Licht zu erfüllen"). 25 Vgl. in cp. ad R o m . h. 15 (14: Field, I, 240 f.; M G 60, 534); in ep. ad Eph., h. 11 (Field, IV, 220 f.; M G 62, 84).

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Das Charismaverständnis des Joannes Chrysostomos

zitierten Pfingstpredigt26 seine entschlossenste und konzentrierteste Aufnahme findet. Darin heißt es, daß es ohne den Geist keine Kirche gäbe, was für Chrysostomos zunächst meint, daß der Geist es ist, durch den „uns alles, was mit unserer Seligkeit zusammenhängt, zuteil" wird 27 . „Wäre" nämlich „der heilige Geist nicht unter uns, wie hätten dann die, die in dieser heiligen Nacht getauft (erleuchtet) wurden, von ihren Sünden befreit werden können? Denn ohne die Wirksamkeit des Geistes kann man nicht von seinen Sünden befreit werden." 28 „Gäbe es keinen heiligen Geist, so könnten wir nicht sagen: ,Herr ist Jesus'; denn ,niemand kann sagen: Herr ist Jesus, außer im heiligen Geist' (1. Kor. 12,3). Gäbe es keinen heiligen Geist, so könnten ferner wir, die Glaubenden, Gott nicht anrufen" und ihn „Vater" nennen. Heißt es dodi: „Weil ihr Kinder seid, hat Gott gesandt den Geist seines Sohnes in eure Herzen,'der da ruft: ,Abba, Vater' (Gal. 4,6)." 29 Kurzum: „Wenn der Geist nicht da wäre, so bestünde auch die Kirche nicht (El μή Πνεύμα παρήν, ουκ αν συνέστη ή Εκκλησία); besteht sie aber, so ist augenfällig, daß der Geist da ist"30, und zwar so, daß er über alle, die glauben und getauft sind, „reichlich ausgegossen ward" 31 . Nun aber empfangen wir, führt Chrysostomos diesen Gedankengang fort, all dies „nicht als schuldigen Lohn, noch auch als Vergeltung und Gegengabe für geleistete Arbeit". Vielmehr geschieht dies „alles aus Gnade", ohne uns allerdings von der „Pflicht" zu entbinden, hinfort ein „geordnetes Leben zu führen". Mit andern Worten: wir empfangen es als „Gnadengabe", als Charisma „Gottes" (Rom. 6,23)32. Charisma, als gegenwärtige Wirklichkeit verstanden, meint für ihn also zunächst die eine, allen Glau-

2 6 S. oben S. 27, A . 20. Was die Datierung anlangt, so bietet die Predigt selbst keine Anhaltspunkte, die mit völliger Bestimmtheit auch nur eine so ungefähre zeitliche A n setzung erlaubten wie, daß sie der antiochenisdien Presbyterzeit des Chrysostomos oder der Zeit seines Konstantinopler Episkopats angehöre. Immerhin liegt es — v o r allem wegen der Erwähnung „dieses eures gemeinschaftlichen Vaters und Lehrers" (d. h. des Bisdiofs), eine Apostrophe, die nicht so klingt, als meine sich Chrysostomos damit selbst — nahe, sie in Antiochena gehalten zu denken, so daß die Möglichkeit nicht a b zuschließen ist, daß sie annähernd gleichzeitig mit den Homilienserien zu den großen Paulinen entstand. Träfe dies zu, so wäre es ein weiteres Beispiel dafür, daß man in der Regel Spannungen und Widersprüchen innerhalb chrysostomischer Aussagen nicht auf die Weise beizukommen vermag, daß man sie auf eine Entwicklung im Denken des Chrysostomos zurückführt! 2 7 De s. Pentecoste, 2, 1 (M. II, 4 6 9 ; M G 50, 463). 2 8 De s. Pentecoste, 1, 3 (M. II, 462; MG 50, 457 f.). 29 Ebd., 4 (M. II, 462 f.; M G 50, 458). 3 1 Ebd., 3 (462; 457). Ebd. (463; 459). 5 2 In ep. ad Rom., h. 13 ( 1 2 : Field, I, 178; M G 60, 496).

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benden zuteil werdende Gnade 33 : die Sündenvergebung in der Taufe 34 , die Rechtfertigung35, die Versöhnung36, die Heiligung und Gotteskindschaft 37 , die in der Taufe ergehende Berufung zur Gemeinschaft des Eingeborenen Sohnes, die sich Gott „nicht gereuen" läßt (Rom. 11,29) 38 , die Gabe des Geistes39, wenn diese Gnade auch personhaft und „nicht nach einer Naturnotwendigkeit" uns zuteil wird, sondern „ein freier Willensentschluß sie uns zu eigen macht" (ελευθερία προαιρέσεως ένεχείρισεν)40, und sie darum bewahrt und bewährt werden muß 41 . 33 Ebd., h. 22 (21: Field, I, 359; M G 60, 601). Allerdings wäre nach Field hier mit der Mehrzahl der von ihm benutzten HSS zu lesen: καί γάρ καΐ χάρισμα εδειξεν ο ν τό δοθέν und nicht: ε ν 8 ν , wie es seit H . Savile's Edition (Eton, 1612) als Kombination verschiedener Lesarten in den Druckausgaben und so auch bei Migne geboten wird. D a f ü r aber ist von der einen, allen Glaubenden zuteil werdenden Gabe im Ansdiluß an Rom. 6,23 in ep. ad Rom., h. 13 (12: Field, I, 178; MG 60, 496) die Rede; vgl. audi in ep. ad Eph., h. 11 (Field, IV, 214—216; MG 62, 79 f.). 34 Vgl. in ep. ad Rom., h. 20 (19: Field, I, 342; M G 60, 592); in act. apost., h. 4,6 (M. IX, 11; MG 60, 22). An beiden Stellen deutet Chrysostomos Rom. 11,29 („Gott läßt sich seine Charismen und seine Berufung nicht gereuen") im Sinne der Verheißung der Sündenvergebung durch die Taufe und nicht in dem der Israel bereits gewährten Unterpfänder der Heilszuwendung Gottes (vgl. Rom. 9,4 f.); vgl. audi etwa in ep. I ad Cor., h. 2 (Field, II, 16; MG 61, 19) und dazu Κ. H . Sdielkle, Paulus, S. 402. Zur Sündenvergebung in der Taufe als Charisma s. ferner in ep. ad Rom., h. 11 (10: Field, I, 144 f.; M G 60, 475 f.); in ev. Mt., h. 11,6 (M. VII, 157; MG 57, 199). 35 De s. Pentecoste, 1, 2 (M. II, 461; M G 50, 456: Christus hat bei seiner A u f f a h r t „unsere Erstlingsgabe" [sc. seine Menschennatur] emporgetragen und uns stattdessen den Geist herabgesandt. „ W i r sandten [sc. im homo assumptus] den Glauben und empfingen von dort die Charismen; wir sandten Gehorsam und erhielten die Rechtfertigung [δικαιοσύνη]"). » Ebenda. " Vgl. in ep. ad Rom., h. 2 (1: Field, I, 15 f.; MG 60, 400). 38 In ep. I ad Cor., h. 2 (Field, II, 15 f.; M G 61, 19). 39 Vgl. in ep. I ad Cor., h. 29 (Field, II, 353 f.; MG 61, 244); h. 30 (366 f.; 251); in ep. ad Rom., h. 10 (9: Field, I, 134; M G 60, 470). In ep. ad Rom., h. 15 (14: Field, I, 230 f. 240 f.; MG 60, 527. 533) und in ep. I ad Cor., h. 35 (Field, II, 439 f.; MG 61, 350) interpretiert Chrysostomos — belehrt wohl durch Diodor von Tarsos (s. oben S. 36, A. 10) — das πνεύμα, dem „der h. Geist Zeugnis ablegt" (Rom. 8,16), das „selbst f ü r uns eintritt mit unaussprechlichem Seufzen" (Rom. 8,26c), das πνεύμα des Propheten, das dem Propheten Untertan ist (1. Kor. 14,32) bzw. das in der Glossolalie allein betet, während der νοΰς „müßig" bleibt ( l . K o r . 14,14), als das in der Taufe erstmalig verliehene χάρισμα des Geistes, eine Deutung, die er auch f ü r 1. Kor. 5,5, das πνεύμα des „Blutschänders", das „am Tage des H e r r n gerettet werden" soll, mindestens in Erwähnung zieht (in ep. I ad Cor., h. 15 [Field, II, 174; M G 61, 124]); zum Verständnis von π ν ε ΐ μ α im Sinne von χάρισμα s. ferner in ep. I ad Cor., h. 18 (Field, II, 208; M G 61, 147); in ep. I ad Thess., h. 11 (Field, V, 431; M G 62, 461 f.); in ep. ad Hebr., h. 29 (Field, VII, 332; MG 63, 205); zur Geistmitteilung in der Taufe als απαρχή künftiger Güter s. in ep. ad Rom., h. 10 (9: Field, I, 131 f.; M G 60, 468); h. 15 (14: 237, 531); de resurrect, mort., 8 (M. II, 435 f.; MG 50, 431 f.); in ev. Mt., h. 11, 6 (M. VII, 157; M G 57, 199). 40 In ep. ad Rom., h. 14 (13: Field, I, 213; MG 60, 517). 41 Ebd. (Field, I, 211. 218; MG 60, 515. 519); h. 15 (14: 227; 525); de s. Pentecoste, 1,6 (M. II, 467 f.; MG 50, 463 f.); 2,3 (474. 469 f.).

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Das Charismaverständnis des Joannes Chrysostomos

Exkurs Wäre der Interpretation — im ganzen wie im einzelnen — zuzustimmen, wie sie E. Hoffmann — Aleith zum „Paulusverständnis des Johannes Chrysostomos" vorgelegt hat, so müßte man freilich sagen, daß dies „alles . . . paulinischer" klinge, „als es gemeint oder besser gesagt aufgefaßt ist" 1 . Sehe man genauer zu, so trete in der „Auffassung vom Wesen der Gnade", im Sündenverständnis, hinsichtlich „der Bedeutung sittlichen Strebens" und im „Glaubensbegriff" zwischen Chrysostomos und Paulus eine unübersehbare Differenz zutage 2 . Einen ähnlichen Eindruck muß aber auch bereits Luther gewonnen haben, der sich über Chrysostomos durchweg sehr abfällig geäußert hat als über einen „Wescher", der ihm wenig gelte3. Als Maßstab diente ihm offensichtlich vor allem der „articulus remissionis peccatorum", jener „Hauptartikel" also, in dem für Luther „die Erkenntnis Christi" beschlossen liegt, „die allein zu trösten und aufzurichten vermag" 4 . Doch reicht im Grunde der Streit um den „Paulinismus" des Chrysostomos, speziell um sein Sünden- und Gnadenverständnis, noch viel weiter zurück. Soweit wir wissen, ist er der Sache nach zuerst zwischen Pelagius bzw. Julian von Eclanum und Augustin ausgetragen worden 5 . Selbstverständlich können wir diesen Streit hier nicht von neuem aufrollen. Auch müssen wir es uns versagen, das Taufverständnis des Chrysostomos nach seinen Voraussetzungen in der Anthropologie, der Sünden- und Gnadenlehre wie seinen Konsequenzen in der Ethik hier näher zu entfalten und mit dem des Paulus zu vergleichen, weil dies nur im Rahmen einer eigenen Monographie zu leisten wäre 6 . Wohl aber dürfte es möglich und nötig 1

E. Hoffmann-Aleith, S. 183. Ebd.; zum Sündenbegriff des Chrysostomos s. S. 185. s Vgl. WATR, I, S. 85 (Nr. 188); S. 106 (Nr. 252); II, S. 515 (Nr. 2544a); IV, S. 49 f. (Nr. 3975); S. 286 (Nr. 4387); S. 652 (Nr. 5089) u. ö. Aus eigener Lektüre kannte Luther, nach seinen Erklärungen in den Tischreden zu urteilen, nur die — bereits in der Hebräerbriefvorlesung von 1517/18 fast regelmäßig verglichenen — Homilien zum Hebräerbrief, die ihn anscheinend bitter enttäuscht haben, weil Chrysostomos „lest den text fallen" (WATR, I, S. 85), weil sie eine „eloquentia sine dialéctica, verba sine re" enthalten und ständig „a statu rei in aliam materiam" abschweifen (WATR, IV, S. 49 f.). 4 Vgl. WATR, I, S. 106 (Nr. 252). 5 Vgl. dazu Chr. Baur, L'entrée littéraire; ders., S. Jerome et S. Chrysostome; sowie vor allem B. Altaner, Augustinus und Johannes Chrysostomus, und F.-J. Thonnard, a.a.O. 6 Ebenso muß hier eine Auseinandersetzung mit der Literatur zur chrysostomischen Tauflehre unterbleiben, weil dabei auf ausführliche Textanalysen nicht verzichtet werden könnte, zu denen aber hier kein Platz ist. Idi begnüge mich mit dem Hinweis auf Einleitung und Anmerkungen in A. Wengers Ausgabe der acht im Codex Stauronikita 6 überlieferten Taufkatechesen des Chrysostomos (A. Wenger [SC 50], bes. S. 66—104) und den umfangreichen Anmerkungsteil bei P. W. Harkins, St. John Chrysostom: Baptismal Instructions, S. 205—338; vgl. ferner etwa S. Gosevic, S. 372 ff.; G. Fittkau, bes. S. 116. 151—166; H . Korbacher, S. 42 f.; P. Stockmeier, S. 172—183; G. Kretschmar, Geschichte, S. 170—198, passim; Β. Neunheuser, Taufe, S. 59—70, passim. 2

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Charisma als gegenwärtige Wirklichkeit

sein, n o d i ein w e n i g g e n a u e r z u f r a g e n , in w e l c h e m S i n n e C h r y s o s t o m o s das, w a s in d e r T a u f e

für

den Glaubenden

beschlossen

liegt, als

„Gnaden-

g a b e " , als C h a r i s m a bezeichnen k a n n , o d e r a n d e r s gesagt, i n w i e w e i t er in d e r L a g e ist, in seinem T a u f v e r s t ä n d n i s den „ I n d i k a t i v " d e r u m f a s s e n d e n Z u e i g n u n g des in C h r i s t u s v e r w i r k l i c h t e n H e i l s a n d e n Menschen, der S ü n d e r u n d in sich selbst nicht gerecht ist, a u f z u n e h m e n u n d z u r G e l t u n g z u bringen. K a n n C h r y s o s t o m o s ü b e r h a u p t so v o m Menschen r e d e n , d a ß er in seiner W i r k l i c h k e i t „ u n t e r die S ü n d e v e r s k l a v t " ( R o m . 7 , 1 4 ) u n d u n f ä h i g sei, aus sich selbst h e r a u s z u d e r

„Gerechtigkeit"

zu

finden,

die v o r

Gott

gilt?

N i m m t m a n einzelne Ä u ß e r u n g e n f ü r sich u n d v e r a l l g e m e i n e r t sie, so w i e es nicht e t w a n u r in d e r pelagianisch-augustinischen K o n t r o v e r s e ,

sondern

i m G r u n d e auch noch in der a u f einer viel z u schmalen T e x t b a s i s b e r u h e n d e n A r b e i t v o n E . H o f f m a n n - A l e i t h u n d erst recht n a t ü r l i c h in den k n a p p e n S k i z z e n d e r klassischen D o g m e n g e s c h i c h t e n

mit ihren gängigen

Verallge-

m e i n e r u n g e n geschehen ist 7 , so scheint es, als sei diese F r a g e r u n d w e g zu v e r n e i n e n . N i c h t n u r , d a ß C h r y s o s t o m o s ebenso w e n i g w i e P a u l u s 8

eine

„ E r b s ü n d e " k e n n t u n d alle w o h l m e i n e n d e n V e r s u c h e A u g u s t i n s , i h m eine solche A n s c h a u u n g z u insinuieren u n d ihn d a m i t v o m V e r d a c h t des P e l a gianismus z u befreien, ins L e e r e g e h e n 9 . V i e l m e h r g e w i n n t m a n a u d i nicht 7 Zur Kritik an der Darstellung E. Hoffmann-Aleiths s. etwa auch G. Fittkau, S. 213, A. 1, sowie — mit Vorbehalten — J . Karavidopoulos, Das paulinisdie Sündenverständnis. 8 Vgl. nur G. Bornkamm, Paulus, S. 131 ff., bes. S. 143 f., und H. Conzelmann, Grundriß, S. 218 f.; unklar R. Bultmann, Theologie, S. 251—254. 9 Vgl. dazu besonders B. Altaner, Augustinus und Johannes Chrysostomus, S. 307, A. 2, dessen umsichtiges Urteil dahin geht, daß Augustinus „zweifellos von seinem theologisdien Standpunkt aus in sie (sc. die Chrysostomostexte) zu viel hineinliest, wenn er die Sache so darstellt, als ob Chrysostomus die Erbsündenlehre explizite in der augustinischen Fassung bezeuge". Andere katholische Forscher wollten hier freilich weitergehen. So erklärte etwa T. Spacil, es lasse sich „mit Bestimmtheit behaupten, daß Chrysostomos ein Zeuge für das Erbsündendogma sei, da er nicht nur häufiger von den Folgen (sequelae) des peccatum originale spricht, sondern auch dieser Sünde selbst Erwähnung tut" (T. Spacil, S. 184). Dodi sagen die Texte, die zur Stützung dieser Behauptung aufgeboten werden, bei näherem Zusehen nichts dergleichen. Spacil verweist (S. 184, A. 54) auf „ep. ad Olymp 33 (MG 52, 374)" — gemeint ist wohl ep. ad Olymp. III, 3 (Malingrey [SC 13], S. 156 f.; MG 52, 574) — ; in ep. Rom., h. 11 (10: Field, I, 141 f.; 147 f.; MG 60, 475. 478); in ev. Mt., h. 15, 2 (M. III, 186; MG 57, 224); in ep. I ad Cor., h. 9 (Field, II, 101 f.; MG 61, 76). Dazu käme noch etwa in Betracht die dritte der homiliae 9 in Genesin, 2 (M. IV, 456 f.; MG 54, 592), aus der Augustin 3 Zitate bringt und Julian entgegenhält (C. lui. I, 6, 25: M 44, 657). Doch wird an allen diesen Stellen nur gesagt, daß die Nachkommen Adams die Strafe für seine Verfehlung, seine Verurteilung teilen, und nicht, daß seine Sünde — durch Vererbung — auf das ganze Menschengeschlecht übergegangen sei. Die von Augustin abweichende Auffassung des Chrysostomos wird vielleicht am deutlichsten in seinem Kommentar zu Rom. 5,19: „Denn gleichwie durch den Ungehorsam des einen Menschen die vielen zu Sündern geworden sind, so werden audi durch den Gehorsam des einen die vielen zu Gerechten gemadit." Dazu bemerkt Chrysostomos: „Die Stelle sdieint keine geringe Schwierigkeit (ζήτημα

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selten den Eindruck, als sei Sünde für ihn lediglich die individuelle moralische Verfehlung, statt wie für Paulus „Tat und versklavende Macht in einem"10. So wenn er wiederholt von der των αμαρτημάτων άπειρος ηλικία der Kinder (νήπια) spricht11 oder an die paulinische Aussage, daß, „wie in Adam alle sterben, so audi in Christus alle zum Leben erweckt werden" ( l . K o r . 15,22), die Frage knüpft: „Wie denn das? Sind etwa alle . . . in Adam den Tod als Sündenstrafe (τον της αμαρτίας θάνατον) gestorben? Wie steht es aber mit Noah, der gerecht (δίκαιος) war in seinem Geschlecht? Wie mit Abraham? Wie mit Hiob? Und wie mit den andern allen" (πώς δέ οί άλλοι απαντες)? Nach seinem Dafürhalten kann diese Aussage des Apostels nur dann als konsistent gelten (εστηκεν ó λόγος), wenn in ihr von „leiblichem" Sterben und Auferwecktwerden die Rede sei; andernfalls aber nicht, nämlich dann, wenn man sie auf Sünde und Rechtfertigung (δικαιοσύνη) zu beziehen habe12. Dem steht jedoch eine Fülle von Aussagen entgegen, die nicht das geringste Interesse daran verraten, von der paulinischen Erkenntnis der Allgemeinheit der Sünde etwas abzumarkten, selbst wenn Chrysostomos diese Erkenntnis nicht so strikt und exklusiv wie Paulus von der Offenbarung der Gottesgerechtigkeit in Christus (Rom. 1,17) her gewinnt und sie ihm darum letztlich rätselhaft bleiben muß 13 . Zudem ist bei ihm von der „Unschuld" der Kinder höchstens beiläufig14 und, was noch mehr ins Gewicht fällt, eigentlich nie in anthropologischem Zusammenhang die Rede 15 , . . . οϋ μικρόν) zu enthalten . . . Daß jener selbst durch seine Sünde sterblich geworden und daß diese Sterblichkeit auf seine Nachkommen übergegangen sei, darin liegt nichts Ungebührliches (άπεικός). Daß aber durch seinen Ungehorsam ein anderer zum Sünder geworden sein soll, welche Folgerichtigkeit (ακολουθία) sollte darin liegen? Zur Verantwortung zu ziehen (δίκην όφείλων) ist dodi nur einer, der aus eigenem Sünder geworden ist (οίκοθεν γέγονεν αμαρτωλός). In welchem Sinne ist also hier das Wort ,Sünder' zu verstehen? Mir scheint, es sei (hier) im Sinne von ,der Strafe verfallen' (υπεύθυνοι κολάσει) und ,dem Tod überantwortet' (καταδεδικασμένοι θανάτφ) zu nehmen . . (in ep. ad Rom., h. 10 [9: Field, I, 147: MG 60, 477]). 10 G. Bornkam, Paulus, S. 135. 11 Ad pop. Antiodien., 3,4 (Μ. II, 41; MG 49, 52); weitere Stellen s. unten A. 14. " In ep. I ad Cor., h. 39 (Field, II, 493; MG 61, 366 f.). 15 Diesen Eindruck vermittelt besonders die Darstellung, die J. Groß der dirysostomisdien Sündenlehre gewidmet hat (J. Groß, I, S. 181—190) und die insoweit zutreffend sein dürfte; vgl. aber audi etwa W. Keudt, S. 116 ff. 226 ff. 277 ff. 297 f.; J. D. Karavidopoulos, S. 131 ff. Zur Kritik an Groß s. u. A. 15. 20. 14 Cat. bapt. (Stauronikita) III, 6 (Wenger [SC 50], S. 154); in ev. Mt., h. 28 al. 29, 3 (M. VII, 336 f., MG 57, 353); ad pop. Antiochen., 3, 4 (M. II, 41; MG 49, 52); vgl. dazu unten Α. 15. 19. Zu in ep. I ad Cor., h. 40, s. ebenfalls A. 15. 15 Vielmehr geht es Chrysostomos vorab darum, deutlich zu machen, daß sidi die Bedeutung der Taufe keinesfalls darauf beschränken könne, in den Getauften sozusagen eine „tabula rasa" zu sdiaffen. Denn wie würde man sonst audi Säuglinge taufen, „die noch keine (eigenen) Sünden begangen haben" (αμαρτίας ούκ έχοντα)? So Cat. bapt. (Stauronikita) III, 6 (Wenger [SC 50], S. 154) = Cat. bapt. (Papadopoulos — Kerameus) IV, 2 (Papadopoulos — Kerameus, S. 172) nach der Deutung Augustine C. Iul. Pelag.,

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während sich seine Bedenken hinsichtlich der paulinischen Formulierung 1. Kor. 15,22 vor allem gegen die Annahme eines Kausalnexus zwischen der Sünde Adams und der „aller" Menschen richten, wie sie bei einem undifferenzierten Verständnis des Todes als Sündenstrafe aus diesem Pauluswort herausgelesen werden könnte, so daß man auch das „Lebendig-gemacht-Werden" (ζωοποιεΐσθαι) „in Christus" ebenso undifferenziert als „Gerettet-werden" (σώζεσθαι) zu verstehen hätte, in das unterschiedslos auch die „Sünder" einbezogen wären 1 6 . I, 22 (ML 44, 655 f.). Um diese Deutung einleuchtend zu machen, entwickelt Augustin „seine berühmt gewordenen Gedanken darüber, wie man patristische Texte interpretieren solle. Chrysostomos habe propria fortgelassen und fortlassen dürfen, da er aus seinem katholischen Empfinden heraus in einer Zeit, in der man die Häresie des Pelagianismus noch nicht ahnen konnte, .unbekümmert', d. h. unter Umständen mißverständlich, gesprochen habe" (Vobis [Pelagianis] nondum litigantibus securius loquebatur [ML 44, 6 5 6 ] ) : „unter anderen Umständen hätte er sich klar und deutlich ausgedrückt" (B. Altaner, Augustinus und Johannes Chrysostomus, S. 305 f.). Nach J . Groß (S. 186) freilich erweist sich diese „scheinbar geschickte Parade" Augustins „als einen Bumerang, wenn man bedenkt, daß Johannes . . . die Existenz anderer als persönlicher Sünden nicht anerkannte". Zieht man jedoch die soteriologischen Aussagen des Chrysostomos mit in Betracht — daß dies bei Groß nur in ganz unzureichendem Maße geschehen ist, dürfte den Wert seiner Aufstellungen zur chrysostomischen Sündenlehre insgesamt entscheidend beeinträchtigen —, so wird zumindest sehr zweifelhaft, ob die Leugnung einer „Erbsünde" im strengen Sinne bei Chrysostomos praktisch auf ein pelagianisches Sündenverständnis hinausläuft, wie G r o ß meint (s. bes. S. 190); vgl. audi P. Stockmeier, S. 82, A. 144. In jedem Falle hebt Chr. an der zitierten Stelle ausschließlich darauf ab, daß, wie die Kindertaufpraxis lehre, mit der Taufe unmöglich nur die Vergebung vergangener Sünde verbunden sein könne. Vielmehr lassen sich statt nur einer (der der αφεσις αμαρτιών) nicht weniger als zehn τιμαί aufzählen, die wir der Taufe verdanken. — In einer Anmerkung verweist A. Wenger auch auf in ep. I ad Cor., h. 40 (Field, II, 509; M G 61, 349), wo er ausgesprochen findet, daß „die Seele des Neugetauften so rein" sei „wie bei seiner Geburt". Doch ist hier wohl mit dem „ursprünglichen Zustand" der Seele (οία έξ αρχής γεννηθεΐσα ήν), der in der Taufe wiederhergestellt, ja noch übertroffen werde — „erfreut sie (die Seele) sich doch des Geistes, dessen Feuer sie allenthalben umgibt und ihre Heiligkeit (άγιωσύνη) sich steigern läßt" — die „Urstandsgnade" gemeint, die ja auch nach Chrysostomos wenn nicht völlig verloren gegangen, so doch zumindest durch Adams Fall und als dessen das ganze Menschengeschlecht betreffende Folge schwere Einbußen erlitten hat (s. unten S. 47, A. 2 0 ) ; ähnlich versteht diese Stelle auch G. Fittkau, S. 163. — Wohl aber wäre nodi etwa hinzuweisen auf in ev. Mt., h. 28 al. 29, 3 (M. V I I , 336 f.; M G 57, 353): „ ,Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand' (Sap. Sal. 3, 1); wenn aber çûe der Gerechten, dann auch die der Kinder; denn auch diese sind noch unverdorben" (ουδέ γαρ έκείναι πονηραί). Der Prediger will hier dem „sinnlosen Altweibergeschwätz und kindischen Gerede" entgegentreten, daß die Seelen der Abgeschiedenen in Dämonen verwandelt werden und „viele Zauberer Kinder nehmen und schlachten, um sich nachher ihrer Seelen (bei ihren Zaubereien) zu bedienen". Wenn er in dem Zusammenhang, um zu beweisen, daß „eine Seele", auch die eines Kindes, „sobald sie vom Leib getrennt ist, nicht länger hienieden umherirren kann", von der „Unverdorbenheit" der kindlichen Seelen spricht, so wird man dies im Hinblick auf sein eigentliches Beweisziel schwerlich überbewerten und jedenfalls nicht außer acht lassen dürfen, daß er im übrigen äußerst rigoros die „Heilsnotwendigkeit" der Taufe vertritt (vgl. etwa in ep. ad Phil., h. 4 [ 3 : Field, V, 37; M G 62, 203]).

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Das Charismaverständnis des Joannes Chrysostomos

Was Chrysostomos jedenfalls nie leugnet oder abzuschwächen sucht, ist die Prävenienz der göttlichen Gnade, die uns in Christus „versöhnt" hat, „als wir nodi Feinde waren" (Rom. 5,10) 17 . Darum kann für ihn auch das, was in der Taufe geschieht, letztlich nicht anders beschrieben werden denn als „Rechtfertigung der Gottlosen" (Rom. 4,5), derer, die so tief in die „Bosheit" verstrickt (έν tfj κακία βεβαπτισμένοι) waren, daß sie sich nicht selbst davon zu befreien vermochten (ώς μή δύνασθαι καΟαρθήναι), und nicht nur einer „Ausbesserung", eines έ π ι σκευάζειν, sondern einer gründlichen Erneuerung durch Gott, eines άνωθεν κ α τ α σκευάζειν bedurften 18 , selbst wenn er sich dies allgemeine Verstricktsein in die „Bosheit"19 nicht wie le

Scheint sich Chrysostomos damit einer Anschauung zu nähern, nach der im Tod nicht eo ipso „der Sünde Sold" (Rom. 6,23), sondern etwas gleichsam Natürliches zu sehen wäre, sofern der Mensch von Anfang an als sterbliches Wesen erschaffen worden sei, eine Anschauung, wie sie — wohl nach dem Vorgang Diodors — Theodor von Mopsuestia vertreten hat (s. die Nachweise bei U. Wickert, S. 101—120), so herrscht bei ihm im übrigen durchaus die Meinung vor, daß dem Menschen ursprünglich die Unsterblichkeit zugedacht gewesen sei (in ep. I ad Cor., h. 17 [Field, II, 203; MG 61, 143]; in ep. ad Rom., h. 14 [13: Field, I, 199; MG 60, 507]; h. 15 [14: Field, I, 234 f.; MG 60, 530]; ad pop. antioch., 11,5 [Μ. II, 121 f.; MG 49, 126]; u. ö.), daß aber Adams Sünde für alle die Sterblichkeit zur Folge gehabt habe (in ep. I ad Cor., h. 9 [Field, II, 101 f.; MG 61, 76 f.]; in ep. ad Eph., h. 24 [Field, IV, 363; MG 62, 175]), eine Strafe, die sich freilich jeder der Nachkommen Adams durch seine eigenen Sünden immer wieder selbst verdiene (in ep. I ad Cor., h. 17 [Field, II, 203; MG 61, 144]; vgl. auch etwa homiliae 9 in Genesin, h. 5, 1 (M. IV, 664—666; MG 54, 599 f.: die „drei Knechtschaften") und dazu unten S. 88, A. 67. 17 In ev. Mt., h. 1,2 (Μ. VII, 4; MG 57, 15 f.); in ev. Joh., h. 27 al. 26,3 (M. V i l i , 157; MG 59, 160 f.); h. 76 al. 75, 1 (451; 413); in ep. II ad Cor., h. 3 (Field, III, 41; MG 61, 411); h. 11 (129 f.; 476); h. 30 (310 f.; 608); in ep. I ad Tim., h. 3 (Field, VI, 26 f.; MG 62, 518); in ep. II ad Tim., h. 2 (Field, VI, 175; MG 62, 608); in ep. ad Eph., h. 1 (Field, IV, 112; MG 62, 14); in ep. ad Hebr., h. 23 (Field, VII, 264; MG 63, 164); h. 32 (363; 224); in ascens. D. Ν . I.Chr., 2 (M. II, 449 f.; MG 50, 445); vgl. auch unten (S. 48, Α. 22) zu der göttlichen κλήσις „durch" die Hinopferung Christi, wie sie in der διακονία της καταλλαγής kundgemacht wird (in ep. II ad Cor., h. 11 [Field, III, 130; MG 61, 476]). 18 In ep. ad Tit., h. 5 (Field, VI, 309; MG 62, 692); vgl. ebd. (307; 691). Zum Verständnis des Taufgeschehens als iustificatio impiorum bzw. als Befreiung der Gefangenen, als Friedensschluß Gottes mit seinen Feinden, vgl. etwa in ev. Joh., h. 28 al. 27,1 (M. V i l i , 158 f.; MG 59, 161); de util. lect. script. ( = in inscript, act. 3), 6 (M. III, 81; MG 51, 98); cat. bapt. (Stauronikita) III, 5 (Wenger [SC 50], 153); in ep. II ad Cor., h. 12 (Field, III, 137; MG 61, 482); in ep. ad Phil., h. 12 (11: Field, V, 131 f.; MG 62, 269 f.); in ep. I ad Tim., h. 3 (Field, VI, 26 f.; MG 62, 518); in ep. II ad Tim., h. 2 (Field, VI, 175; MG 62, 608); in ep. ad Hebr., h. 12 (Field, VII, 153—157; MG 63, 99—102); h. 23 (264; 164); zu dem der δικαιοσύνη als „Glaubensgerechtigkeit" vgl. in ev. Mt., h. 16,2 (M. VII, 206; MG 57, 241); in ev. Joh., h. 14 al. 13,2 (M. V i l i , 80 f.; MG 59, 94); in ep. I ad Cor., h. 2 (Field, II, 12; MG 61, 17); in ep. II ad Cor., h. 11 (Field, III, 133; MG 61, 478 f.); in ep. ad Gal. comm., I, 6 (Field, IV, 13 f.; MG 61, 621); in ep. ad Phil., h. 12 (11: Field, V, 125 f.; MG 62, 265 f.); in ep. ad Eph., h. 6 (Field, IV, 159; MG 62, 45); in ep. ad Hebr., h. 8 (Field, VII, 100; MG 63, 67); h. 23 (259; 160). 19 Vgl. auch etwa ad pop. antiochen. 7, 4 (M. II, 89; MG 49, 95: Gott muß bei uns

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Paulus in der Weise zu verdeutlichen vermag, daß er in der einzelnen Verfehlung nur das Symptom der den „gegenwärtigen bösen Äon" (Gal. 1,4) von Adam her (Rom. 5,12) beherrschenden „Macht" der Sünde als des Selbstseinwollens des Menschen sähe20. wie bei Adam [„Adam, wo bist du?"] das Gespräch eröffnen, „weil den Sündern der Mund vernäht ist, weil die Sünde die Zunge zurückgewölbt hat und das Gewissen sie gefangenhält"); in ev. Joh., h. 14 al. 13,2 (M. V i l i , 81; M G 59, 94: „Alle haben nämlich gesündigt" [πάντες γαρ ημαρτον]. Alle sind wir darum aus Gnaden gerettet worden); in ep. II ad Tim., h. 3 (Field, VI, 189; M G 62, 617: „Es vergeht ja kein Tag, kein einziger Tag, der rein wäre von Sünden . . . " ) . Angesichts solcher Äußerungen, die sich schlecht zu dem „Optimismus" fügen, den J. Groß aus der Sünden- und „Gnadenlehre unseres Homileten" hat heraushören wollen (J. Groß, I, S. 189), stellt sich nodi einmal das Problem, wie jene Chrysostomostexte zu beurteilen seien, in denen die Allgemeinheit der Sünde, das πάντες γαρ ημαρτον, hinsichtlich der Kinder eine Einschränkung zu erfahren scheint. Falls man ihm nicht „zutrauen" zu können glaubt, je „das Geringste von dem preisgegeben zu haben, was er zum Glaubensbestand rechnete" (J. Groß, I, 186), so müßte man sich mit einem widersprüchlichen Gedankengebilde abfinden und annehmen, daß Chrysostomos sowohl die uneingeschränkte Verantwortlichkeit des Sünders als auch die Allgemeinheit der Sünde hat festhalten wollen, ohne das eine mit dem andern in Verbindung und Ausgleich bringen zu können. 20 Vgl. homiliae 67 in Genesin, h. 19, 3 (M. IV, 165; M G 53, 162: Die Sünde Kains — „viel schwerwiegender als die des Protoplasten"!); homiliae 9 in Genesin, h. 5, 1 (M. IV, 664 f.; MG 54, 599: „Hüte dich, eine Sünde zu begehen, die vielleicht schwerer wiegt als die Evas"). Immerhin kommt der überindividuelle Charakter der Sünde als „Macht" bei ihm — außer als negative Folie der Soteriologie! — insoweit in den Blick, als er im Sinne der alten Rekapitulationstheorie irgendeine geheimnisvolle Schicksalsgemeinschaft des Menschengeschlechts mit seinem Urahnen annimmt und dessen Fall irgendwie in den Adams involviert sieht, so daß er etwa sagen kann: „Gott schenkte uns im Anfang ein von Mühen und Sorgen freies Leben; wir aber machten von dem Geschenk nicht den geziemenden Gebrauch" und wurden deshalb „des Paradieses verwiesen" (in ev. Joh., h. 36 al. 35, 2: M. V I I I , 209; M G 59, 205), oder: „Am Anfang wollte Gott dich unsterblich machen, aber du hast nicht gewollt" (in ep. I ad Cor., h. 17 [Field, II, 203; MG 61, 143]). Und zwar wird diese Betroffenheit aller durch den Fall Adams so zu denken sein, wie es Chrysostomos in einer seiner Taufkatechesen formuliert, an einer Stelle, auf die sich auch bereits Augustin berufen hat und die diesem so signifikant zu sein schien, daß er sie in seinem Opus imperfectum contra Iulianum gleich sedismal anführte (op. imperi. I, 52. 96; VI, 7. 9. 20. 41 [ML 45, 1075. 1113. 1513. 1516. 1564. 1606]). Es heißt dort: „Seht zu, daß dieser Schuldschein nicht wieder in K r a f t tritt wider uns. Christus kam einmal und f a n d die Handschrift, die unsre väterliche Schuld verbriefte und Adams Unterschrift trug. Er (Adam) war es, der die Verbindlichkeit einging. Wir aber haben die Schuld vermehrt durch unsere (auf Adams Übertretung) folgenden Sünden. In diesem Schuldbrief waren Fluch, Sünde, Tod und Verdammung durch das Gesetz verzeichnet. Christus aber hat all dies aufgehoben und verziehen, wie auch Paulus (triumphierend) ausruft mit den Worten: ,Er hat das Verzeichnis unserer Sünden, das wider uns stand, beiseite geräumt und an das Kreuz genagelt' . . ." ('Οράτε μή πάλιν υποχείριοι γενώμεθα τω γραμματείω τούτω. Τ Ηλθεν απαξ ό Χριστός, εΰρεν ήμών Χειρόγαφον πατρωον δπερ εγραψεν ό 'Αδάμ. 'Εκείνος την άρχήν είσήνεγκε του χρέους, ημείς τό δάνειον ηύξήσαμεν ταΐς μετά ταϋτα άμαρτίαις. Κατάρα ήν έκεί και αμαρτία καί θάνατος και νόμου κατάκρισις · πάντα ταϋτα άνεΐλεν ό Χριστός και συνεχώρησε. Και βοφ ό Παύλος λέγων · ,Τό χειρόγραφον των αμαρτιών ήμών δ ήν ύπεναντίον ήμών, καί αΰτό ήρκεν άπο του μέσου, προσηλώσας αύτό τ φ σταυρφ': cat. bapt. [Stau-

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Folgerichtig geschieht für ihn in der Taufe mehr als nur eine Begnadigung der Schuldiggewordenen, geschweige denn, nur eine Begnadigung von der Art, wie Könige Ehebrecher und Mörder begnadigen (άφώσι) und sie wohl gar zu Amt und Würden erheben. Ein derartiger Gnadenakt bedeutete ja, wie Chrysostomos zu bedenken gibt, nichts anderes, als daß die Begnadigten von „zeitlicher Strafe" (της κολάσεως της παρούσης), aber nicht, daß sie von ihrer Sünde befreit würden. „Das tut" vielmehr „Gott allein", und zwar in der Taufe als dem „Bad der Wiedergeburt" (Tit. 3,5). Hier dringt die Gnade so weit in den Täufling ein, daß sie „die Seele selbst berührt (αυτής γαρ άπτεται της ψυχής ή χάρις) und die Sünde mitsamt der Wurzel aus ihr herausreißt" (κάκεΐϋεν πρόρριζον ανασπά την άμαρτίαν)21. Ohne Bild gesprochen heißt das doch wohl, daß dem Täufling die Frucht der „Hinopferung" (σφαγή) Christi, in dem Gott das All mit sich selbst versöhnte, durch Worte und Zeichen zugesprochen wird 22 . Unter den symbolischen Handlungen des Taufrituals, hinter denen nach einer schönen Formulierung des Chrysostomos „das Auge des Glaubens", der sich nicht seinem eigenen λογισμός und der menschlichen Vernunft (λόγος ανθρώπινος), sondern der διδασκαλία τής πίστεως überläßt, das Tun des „großen Hohepriesters" selbst sieht, welcher „vom Himmel her seine unsichtbare Hand ausstreckt, das Haupt des Täuflings zu berühren" 23 , wird dieser dem übereignet, der das „Verzeichnis" unserer Sünden, das wider uns stand, „aus dem Weg räumte und es ans Kreuz nagelte" (Kol. 2,14). Christus hat es also, wie Chrysostomos hervorhebt, nicht bloß „ausgewischt" (άπαλείψας) oder „durchgestrichen" (χαράξας), sondern es „ans Kreuz genagelt, damit auch nicht einmal mehr eine Spur davon übrigbleibe. Darum hat er es nicht einfach ausgewischt, sondern es zerfetzt (διέρρηξεν); denn die Nägel des Kreuzes haben es zerfetzt und vernichtet, damit es hinfort nicht mehr (wider uns) gebraucht werden kann" 24 . Oder wie sich die Auffassung des Chrysostomos auch umschreiben ließe: in der Begegnung mit der „unsagbaren" Menschenfreundlichkeit Gottes, der uns in Christus „sein innerstes Herz offenbarte" 25 , mit dem überfließenden, verschwenderischen Reichtum der ronikita] III, 21 = Wenger [SC 50], S. 163). Danach dürfte es kaum minder schwierig sein, Chrysostomos pauschal einer moralistischen Nivellierung des paulinisdien Sündenbegriffs zu zeihen, wie in ihm mit Augustin einen Zeugen des Erbsündendogmas zu sehen. 21 In ep. I ad Cor., h. 40 (Field, II, 509; MG 61, 348 f.). 22 In ep. II ad Cor., h. 11 (Field, III, 129 f.; MG 61, 476). 23 So auch die dritte der von Papadopoulos-Kerameus edierten Taufkatechesen (Papadopoulos-Kerameus, S. 169 f.); vgl. auch cat. bapt. (Stauronikita) II, 9—11. 26 (Wenger [SC 50], S. 138 f. 147 f.). 24 Cat. bapt. (Stauronikita) III, 21 (Wenger [SC 50], S. 163). 25 In ep. ad Eph., h. 1 (Field, IV, 113; MG 62, 15); vgl. exp. in Ps. 116,1. 2 (M. V, 316; MG 55, 327); in ep. I ad Cor., h. 7 (Field, II, 69 f.; MG 61, 55 f.); in ep. ad Hebr., h. 7 (Field, VII, 93; MG 63, 64); ad eos qui scandalizati sunt, c. 8 (M. III, 483 f.; MG 52, 498).

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Gaben und Zeichen seiner Liebe als dem „objektiven" Gehalt des Taufgeschehens liegt zugleich das „erschütternde" (φρικώδης) Motiv zur Verwirklichung des „Bildes Christi" im Leben des Getauften beschlossen27. In diesem Sinne aber ist Taufe in der Tat mehr als nur der Erlaß vergangener Sünden28. Vielmehr ist sie zugleich die Quelle der „Heiligung, Rechtfertigung, Kindschaft, macht, daß wir (miteinander) Erben, (untereinander) Brüder, Glieder Christi sind und zur Wohnung des (heiligen) Geistes werden"29. Und das alles „nicht als schuldigen Lohn, noch audi als Vergeltung und Gegengabe für geleistete Arbeit"30, sondern als Wirkung und Tat der „zuvorkommenden Gnade" Gottes31, dessen Verheißungen sich auch „auf jeden Fall erfüllen" werden, es sei denn, wir stellten uns ihnen voll Widerspenstigkeit und Ungehorsam entgegen oder verharrten in gänzlicher Gleichgültigkeit und Untätigkeit „wie Hölzer und Steine"32. Mit eben demselben Nachdruck betont freilich Chrysostomos, daß die göttliche Gnade nicht „zwängerisch" (αναγκαστική) sei33, daß sie die Frei» Vgl. in ev. Mt., h. 11, 4 (M. VII, 154; MG 57, 197); in ep. ad Rom., h. 10 (9: Field, I, 130—132; MG 60, 477 f.); in ep. I ad Cor., h. 5 (Field, II, 49; MG 61, 42: „Warum sagte er [Paulus] nicht, Christus habe uns zu Weisen gemacht [έσόφισεν ήμδς], sondern: ,er wurde uns gemacht zur Weisheit' [1. Kor. 1,30]? Um den verschwenderischen Reichtum der Gabe anzuzeigen [τό δαψιλές ένδεικνύμενος της δωρεάς], wie wenn er sagte, er habe sich uns selbst geschenkt"!); cat. bapt. (Stauronikita) I, 27. 28 (Wenger [SC 50], S. 122 f.: die φιλοτιμία der göttlichen κλήσις!); in s. Lucian. Mart., 2 (M. II, 526; MG 50, 522). 27 In ep. ad Gal. comm., III, 27. 28 (Field, IV, 65 f.; MG 61, 656: „Gibt es etwas Erschütternderes [φρικωδέστερον] als diese Worte? Der vordem ein Hellene, Jude oder Sklave war, geht nun einher in der Gestalt [μορφή] — nicht eines Engels oder Erzengels, nein, des Allherrschers selbst und macht Christus in seiner Person sichtbar [καί έν έαυτφ δεικνύς τον Χριστόν"!); in ep. I ad Tim., h. 11 (Field, VI, 86—88; MG 62, 555: . . . Έννόησον τό μυστήριον, και φρϊξαι εχεις . . . ! ) ; vgl. auch in ev. Mt., h. 12, 4 (M. VII, 165; MG 57, 206); h. 69 al. 70, 2. 3, (M. VII, 682 f.; MG 58, 651); in ep. II ad Cor., h. 11 (Field, III, 133 f.; MG 61, 478 f.); h. 30 (Field, III, 315 f.; MG 61, 610); in ep. I ad Thess., h. 9 (Field, V, 413 f.; MG 62, 451); in ep. ad Eph., h. 1 (Field, IV, 115; MG 62, 16). 28 In ep. ad Tit., h. 5 (Field, VI, 304. 309 f.; MG 62, 688 f. 692); in ep. ad Hebr., h. 19 (Field, VII, 222; MG 63, 139). » Cat. bapt. (Stauronikita) III, 6 (Wenger [SC 50], S. 154); vgl. cat. bapt. (Montfaucon) I, 3 (M. II, 229 f.; MG 49, 227); cat. bapt. (Stauronikita) IV, 12—16 (Wenger [SC 50], 189—191); u. a. m. »» S. oben S. 40, A. 32; vgl. ferner in ev. Joh., h. 26 al 25, 1 (M. V i l i , 148 f.; MG 59, 153); in ep. I ad Cor., h. 2 (Field, II, 12; MG 61, 17); in ep. II ad Cor., h. 11 (Field, III, 129; MG 61, 475); in ep. ad Eph., h. 6 (Field, IV, 157; MG 62, 44); in ep. ad Tit., h. 5 (Field, VI, 309 f.; MG 62, 692). 51 Zu diesem Begriff s. in ep. ad Rom., h. 2 (1: Field, I, 12; MG 60, 398). 3% In ep. I ad Cor., h. 2 (Field, II, 16; MG 61, 19: Πάντως γαρ τα παρά τοΰ ϋεοΰ Εψεται, αν μή σφόδρα ήμείς άφηνιάσωμεν) ; in ep. II ad Thess., h. 5 (Field, V, 484; MG 62, 492 f.); in ep. ad Phil., h. 2 (1: Field, V, 12; MG 62, 185 f.). 33 In ev. Joh., h. 5 al. 4,4 (M. V i l i , 40; MG 59, 58); h. 10 al. 9,1 (56; 73: Gott zwingt keinen, sondern „zieht" [ελκει] durch Oberzeugen [πείθειν] und Wohltun einen 4

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heit, das αύτεξούσιον des Menschen nicht antaste oder gar aufhebe, daß Gott seine Gaben niemandem aufnötige! Es käme ja auch, findet er, einer „Beschimpfung" dieser Gaben wie ihres Gebers gleich, bedürfte es solchen Zwangs und wären sie nicht vielmehr derart, daß man „freiwillig" auf sie zueilte und sie mit Dankbarkeit in Empfang nähme 34 . Nein, Gott zwingt niemanden und tut niemandem Gewalt an, sondern will, daß wir willentlich und aus eigenem Antrieb herzutreten 35 . Das aber heißt mit Blick auf die Taufe, daß es zu ihr unseres Glaubens bedarf. jeden, der will, zu sich); h. 46 al. 45,1 (269 f.; 257 f.: Daß niemand zu Jesus kommen kann, es sei denn, der Vater „ziehe" ihn [Joh. 6,44], ist nicht „manichäisch", als Leugnung unserer Willensfreiheit, sondern als Ausdruck unserer Hilfsbedürftigkeit zu verstehen. Gottes „Ziehen" geschieht in der Weise, daß entsprechend der Prophetie [vgl. Jes. 54, 13; Jer. 31, 33. 34] „alle διδακτοί θεοϋ" werden!); h. 47 al. 46, 2. 3 (278 f.; 266); in ev. Mt., h. 80 al. 81,3 (M. II, 491 f.; MG 50, 487 f.). Dementsprechend glaubt Chrysostomos, einem „manichäischen" Mißverständnis der biblisdien Prädestinationsaussagen nicht anders vorbeugen zu können, als daß er sie durchgängig im Sinne eines vorausgehenden allgemeinen Heilswillens und eines nachfolgenden Strafwillens Gottes abschwädit, der das vom Menschen „freiwillig" vollbrachte Böse ahndet. M. a. W. ordnet er die Prädestination der Präszienz unter und läßt den effektiven Heilswillen Gottes „bedingt" sein von der ihm im voraus bekannten Entscheidung des Menschen: vgl. in ep. ad Eph., h. 1 (Field, IV, 108; MG 62, 12 f.); h. 2 (15 f.; 17 f.); vgl. audi in ev. Mt., h. 30 al. 31, 3 (M. VII, 345 f.; MG 57, 361 f.) h. 64 al. 65, 3. 4 (638—640; MG 58, 613 f.); h. 79 al. 80,2 (759 f.; 719); cat. bapt. (Stauronikita) VIII, 8 (Wenger [SC 50], S. 252). Doch muß man sich hier wohl vor einem vorsdinellen Urteil hüten! Nicht nur bedürfen die biblisdien Aussagen über die göttliche Vorherbestimmung selbst der Interpretation und sind als Sdiibboleth ungeeignet (s. dazu etwa E. Dinkier, Art. Prädestination, II. Im NT, RGG 3 , V. 481—483). Sondern es wäre audi zuvor zu prüfen, ob nicht der wesentliche Gehalt der biblischen Aussagen über Vorherbestimmung und Gnadenwahl bei Chrysostomos anderweitig zur Geltung kommt. Wenn es richtig ist, daß der tiefere Sinn des Prädestinationsgedankens sowohl bei Paulus wie im Johannesevangelium der ist, den Glaubenden — „bei aller individuellen Verantwortung und Betonung der Glaubensentscheidung des einzelnen — aus dem Glaubendürfen heraus" bekennen zu lassen, „daß hier nicht Leistung zum Ruhm des Menschen vorliegt, sondern Gottes Gnade wirksam ist", und sidi für neutestamentlidies Verständnis die göttliche Vorherbestimmung im „Akt des Glaubens" offenbart und vollzieht, ohne sich als „kausales ,prius' objektivieren" zu lassen (E. Dinkier, a.a.O., Sp. 482), so steht dem Chrysostomos wesentlich näher, als seine Uminterpretation der paulinisdien und johannèisdien Prädestinationsaussagen zunächst vermuten läßt, da auch ihm der Leistungs- und Verdienstgedanke fernliegt (s. unten S. 59, A. 13) und sein Glaubensbegriff, wie die sorgfältige Analyse von E. Boularand gezeigt hat, nicht so defizient ist, wie etwa E. Hoffmann-Aleith (S. 183 f.) annimmt. M

In ep. I ad Cor., h. 2 (Field, II, 15 f.; MG 61, 19 f.). In ev. Joh., h. 5 al. 4,4 (M. Vili, 40; MG 59, 58); vgl. audi die dritte der von Papadopoulos-Kerameus wiederentdeckten und zuerst edierten Taufkatechesen (Papadopoulos-Kerameus, S. 172 f.: Wie bei irdischen Eheschlüssen ein Verzeichnis der Mitgift angefertigt werden muß, so ist es audi bei der Taufe als der geistlichen Hodizeit zwischen Christus und dem einzelnen Gläubigen. Christus „fand dich nackt, arm und hilflos [bzw. in unsdiicklidiem Zustand: άσχημονοϋσαν] vor und ging doch nicht an dir vorüber; es bedarf nur deiner festen Entschlossenheit [της προαιρέσεως σου δεϊται μόνης]. Anstelle einer Mitgift [πρόϊξ] steure diese Worte [sc. der Taufabsage, der άποταγή] 35

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U n d doch wäre es nach Chrysostomos höchstens die halbe Wahrheit, wenn wir meinten, dieser Glaube, in dem allein die Taufe empfangen werden kann, sei ausschließlich unser eigen 36 . In Wahrheit ist er bei aller Aktivität und Spontaneität zugleich „passives" Empfangen: Antwort auf das zuvor gehörte Wort (Rom. 10,17), Gehorsam gegenüber der göttlichen „Berufung" (κλήσις), welche unserem Glauben zeitlich und sachlich vorausgeht 37 , einem Ruf, der nicht aus einer plötzlichen Sinnesänderung

bei, und Christus wird sie als großen Reichtum ansehen, falls du an ihnen festhältst dein ganzes Leben lang"). Nichts anderes als solch entschlossenes Wollen ist wohl auch mit der „Würdigkeit" gemeint, die nach in ep. II ad Cor., h. 2 (Field, III, 21; M G 61, 397) und expos, in Ps. 115, 2 (M. V, 310; M G 55, 322) die Gnade bei uns „sucht" und voraussetzt, während sie an gänzlich Gleichgültigen [τοις ά ν α ι σ θ ή τ ω ς διακειμένοις] vorübergehe. 36 In ep. I ad Cor., h. 1 (Field, II, 6; M G 61, 13: . . . ούδέ ή πίστις ύμών ολόκληρος . · · !) 37 Ebenda (ού γ α ρ ύμεις έπιστεύσατε προλαβόντες, αλλά κληθέντες ΰπηκούσατε) ; vgl. auch h. 2 (Field, II, 15; M G 61, 19); h. 12 (134; 98: „ ,Was hast du, das du nicht empfangen hättest?' Den Glauben? Er ist der [göttlichen] Berufung zu verdanken [άπό της κλήσεως γ έ γ ο ν ε ] " ! ) ; h. 20 (232 f.; 164: Auch unser Gläubigwerden ist eine κτίσις wie die Erschaffung aus dem Nichts!); in ep. II ad Cor., h. 11 (Field, III, 130; MG 61, 476: . . . Nicht wir sind zu Christus gelaufen, sondern er hat uns gerufen!); in ep. I ad Tim., h. 1 (Field, VI, 5; MG 62, 507); in ep. II ad Tim., h. 2 (Field, VI, 174 f.; M G 62, 608); h. 4 (192; 619); in ep. ad Tit., h. 1 (Field, VI, 266; M G 62, 665); in ev. Joh., h. 29 al. 28, 3 (M. V i l i , 168; M G 59, 170); h. 45 al. 44, 3 (265; 254); h. 76 al. 75, 3 (449; 413); homiliae 67 in Genesin, h. 36,5 (M. IV, 370; M G 53, 339: „Das also heißt Glauben, wenn wir dem glauben, was wir nicht sehen, der uns die Verheißung gemacht h a t " ) ; de verbis Apostoli ,Habentes autem eundem spiritum fidei', 1,5 (M. III, 264; M G 51, 276); vor allem aber in ep. ad Eph., h. 4 (Field, IV, 140; M G 52, 33: „ . . . w ä r e Christus nicht gekommen, hätte er uns nicht gerufen, wie könnten wir dann glauben? [Rom. 10,14] . . . Also nicht einmal der Glaube ist unser Werk . . . " ! ) . — Wenn A. Kenny (S. 23—26) bei der Analyse dieser und ähnlicher Chrysostomostexte zwischen „allgemeiner Berufung" im Sinne des allgemeinen Heilswillens Gottes und „besonderer, wirksamer Berufung zum Glauben" unterscheiden möchte, so trägt er etwas in sie ein, was ihr Verständnis unnötig kompliziert. U n d u r c h f ü h r b a r ist jedenfalls eine Unterscheidung in dem Sinne, d a ß „die allgemeine Berufung dem menschlichen (Willens-)Akt vorausgeht, die besondere Berufung ihm dagegen folgt" (A. Kenny, S. 26). Das wird besonders augenfällig am Problem der „Berufung" des Judas, das Chrysostomos ausführlich in ev. Joh., h. 47 al. 46, 3—5 (M. V i l i , 279. 280—282; M G 59, 266. 267—270) erörtert. Zweifellos handelt es sich hierbei um eine „besondere Berufung". U n d doch läßt sich schwerlich sagen, sie sei durch den menschlichen Willensakt bedingt und „ex praevisa fide" erfolgt! A n der Berufung des Judas kann man sich vielmehr verdeutlichen, was es nach Chrysostomos um die göttliche κλήσις überhaupt ist, d a ß sie nämlich „keinen Z w a n g ausübt" (ού βιάζεται), d a ß sie die menschliche Glaubensentscheidung nicht überflüssig macht, sondern sie gerade freisetzt und auf sie abzielt. An ihr, der γ ν ώ μ η des Berufenen, liege es, wie dies Beispiel lehre, ob einer gerettet wird oder verlorengeht. U n d doch v e r d a n k t sich der Glaube, wie Chrysostomos nicht müde wird zu betonen, nicht sich selbst, sondern der zuvor ergangenen κλήσις Gottes, so d a ß es kein „Sich-rühmen" des Glaubens als einer eigenen Leistung und eines eigenen Verdienstes geben k a n n ; anders u. a. auch E. Boularand, S. 155 („La foi est un don de Dieu, mais en même temps, 4*

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Das Charismaverständnis des Joannes Chrysostomos

(μετάνοια) Gottes resultiert, sondern seinem von Ewigkeit her beschlossenen Heilsratschluß entspringt38 und nicht zuletzt in der Taufe selbst in „schauervoll-erschütternder" Weise laut wird, so daß der Glaube ebenso als Folge wie als Voraussetzung der Taufe bezeichnet werden kann. „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern idi habe euch erwählt" (Joh. 15,16), ist deshalb das Bibelwort, auf das Chrysostomos in diesem Zusammenhang immer wieder rekurriert39. Dabei ist ihm allerdings nicht minder wichtig die Fortsetzung. „ . . . damit ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibe"! Denn ein tatenloses Vertrauen und Sich-Verlassen auf die Taufe bringt sie um ihren Sinn und Nutzen 40 ; ja sie wird dem Getauften zum unnachsichtigen Gericht, wenn er sie in seinem Wandel verleugnet 41 . Umgekehrt aber „zieht" der, der die Taufgnade in einem „reinen Lebenswandel" festzuhalten sich bemüht, die „Hilfe des Geistes" auf sich herab und gelangt dank dieser Hilfe in den Besitz immer reicherer Gnaden 42 . Es wäre nun zu fragen, inwieweit Chrysostomos dieses sein Taufverständnis durchzuhalten vermag und von ihm auch seine Auffassung über die „Bedeutung sittlichen Strebens"43 durchgängig bestimmt sein läßt, womit nach allem, was wir bisher gesehen haben, nicht ohne weiteres zu rechun acte méritoire de l'homme"), dessen Darstellung der dirysostomischen Gnadenlehre (S. 138—180) idi jedoch im übrigen weitgehend zu folgen vermag. 38 In ep. ad Tit., h. 1 (Field, VI, 267; MG 62, 665 f.); in ep. ad Eph., h. 1 (Field, IV, 108 f.; MG 62, 12 f.). 30 Vgl. nur in ep. ad Hebr., h. 28 (Field, VII, 314; MG 63, 193); in ev. Joh., h. 77 al. 76, 1 (M. V i l i , 452; MG 59, 415); in ep. ad Phil., h. 5 (4: Field, V, 48; MG 62, 211). 40 De compunct., II, 7 (M. I, 152; MG 47, 421: ανωφελής χάρις); in ep. ad Rom., h. 14 (13: Field, I, 211; MG 60, 515: „Verwirf darum nicht ein so großes Geschenk, sondern bewahre dir diesen so kostbaren Schatz. Der Apostel zeigt dir ja hier, daß die Taufe allein zum Heil nicht genügt [ούκ άρκεϊ ε'ις σωτηρίαν], wenn wir nicht nach der Taufe ein Leben führen, das eines solchen Geschenkes würdig ist . . . " ) ; h. 15 (14: 227; 525); in ep. I ad Cor., h. 23 (Field, II, 274; MG 61, 190 f.); vgl. auch in ev. Mt., h. 11, 6 (Μ. VII, 156; MG 57, 198); in ev. Joh., h. 10 al. 9,3 (M. V i l i , 60 f.; MG 59, 76). 41 In acta apost., h. 1, 6 (M. IX, 11; MG 60, 22); vgl. auch in ev. Mt., h. 4, 7 (M. VII, 58—60; MG 57, 47 f.); h. 61 al. 62, 4 (M. VII, 6, 7; MG 58, 594: „Obwohl sidi Gott seine Charismen und Gaben nicht gereuen läßt, brachte es dodi die Bosheit so weit, daß audi diese Regel umgestoßen wurde." D. h. sofern uns die „Wohltat" nicht „besser" macht, bleibt Gott nur übrig, uns „durch Züchtigung zu bessern"); in ep. ad Rom., h. 12 (11: Field, I, 168; MG 60, 490); h. 14 (13: 211; 515); in ep. ad Col., h. 6 (Field, V. 240; MG 62, 343 f.). So kann Chrysostomos den ernsten Willen zur Oberwindung der „Bosheit" audi bereits zu den Voraussetzungen eines Taufempfanges rechnen, der etwas fruchten soll (in ep. ad Hebr., h. 9 Field, VII, 117; MG 63, 77 f.). 42 De verbis Apostoli ,Habentes autem eundem spiritum fidei', 1, 4—6. 9 (M. III, 263—265. 267 f.; MG 51, 276 f. 279 f.); expos, in Ps. 44,3 (M. V, 163 f.; MG 55, 186); de util. lect. script. ( = in inscr. act. 3), 1. 6 (M. III, 71 f. 80. 81; MG 51, 88. 96. 98); cat. bapt. (Stauronikita) II, 29 (Wenger [SC 50], 149 f.); IV, 11 (S. 188); V, 21. 22 (S. 211); VIII, 25 (S. 268); in ep. II ad Cor., h. 29 (Field, III, 302; MG 61, 601); in ep. ad Eph., h. 1 (Field, IV, 106 f.; MG 62, 11 f.); h. 15 (254; 105 f.); in ep. ad Hebr., h. 34 (Field, VII, 381; MG 63, 234 f.). 45 E. Hoffmann-Aleith, S. 183.

Die Vielfalt der Charsimen

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nen ist! Doch müssen wir auf eine solche Gegenprobe vorerst verzichten und damit in Kauf nehmen, nur einen Aspekt und nicht das Ganze des chrysostomischen Verständnisses von „Taufe und Ethik", und sei es auch nur in Umrissen, zu Gesicht zu bekommen zu haben, einen Aspekt immerhin, der bisher, zumal in der protestantischen Forschung44, kaum hinreichend realisiert worden ist. Zudem dürfte mit dem Gesagten wenigstens eine vorläufige Orientierung darüber gewonnen sein, in welchem Sinne und mit welchem sachlichen Recht Chrysostomos in der Taufe und ihren Gaben noch gegenwärtig fortwirken sieht, was Paulus als Charisma bezeichnet und beschrieben hat.

3. Die Vielfalt der

Charismen

In der gleichen Pfingstpredigt, die bisher den wichtigsten und ergiebigsten Beleg für das Wissen des Chrysostomos um die gegenwärtige Wirklichkeit des Charismatischen bildete, wird audi der Versuch gemacht, durch eine Differenzierung des Charismabegriffes die Behauptung des Fortwirkens des Charismatischen einerseits und die des definitiven Erlöschens der urchristlichen Charismen andererseits in Ausgleich zu bringen. Es heißt dort nämlich: „Von den Charismen des Geistes sind die einen unsichtbar und werden nur im Glauben erfaßt; andere dagegen sind auch von einem sicht44 So urteilt noch H . von Campenhausen, Griechische Kirchenväter, S. 140: „Für den Kern der paulinischen Rechtfertigungsbotschaft w a r Chrysostomos ohne Verständnis. Pelagius h a t sich gerade auf ihn als Gewährsmann b e r u f e n " ; vgl. auch A. Schindler, bes. S. 185, und J. Baur, I, S. 11—20, der zwar einräumt, d a ß die „Schwelle der Einsicht, an die er (Augustin) im pelagianischen Streit herankommt, d a ß G n a d e als Gnade das Ende der Bedingungsordnung überhaupt ist, in einigen kühnen Anläufen — zumindest als exegetischer Gewinn — schon vor ihm gewonnen w i r d " (S. 20), aber dies nur in der abendländischen Theologie, bei Jovinian und vor allem bei Marius Victorinus, geschehen sieht. S. dagegen etwa die eindrucksvolle, wenn audi die Probleme kaum voll erfassende Untersuchung von J. Coman. Aber audi schon R. Seeberg, II, S. 341, w a r der Meinung, d a ß die im Morgenland vertretene Auffassung von G n a d e und menschlicher Freiheit „kaum die verächtliche Beurteilung" verdiene, „die ihr bisweilen von Seiten der protestantischen Theologen zuteil" werde. — Ich leugne selbstverständlich nicht, d a ß Augustin tiefer in das paulinische Gnadenverständnis eingedrungen ist als Chrysostomos. Audi lasse ich dahingestellt sein, ob die dirysostomisdie Gnadenlehre nicht „doch im Rahmen einer .demütigen' Selbstbeurteilung" verbleibe, „wie sie auch Erasmus möglich w a r " (so — brieflich — H . von Campenhausen). Was mir aber sicher zu sein scheint, ist nicht nur, „daß im Rahmen einer östlichen Theologie das ganze Problem anders gestellt und gesehen werden m u ß " als bei Luthers W i d e r p a r t (H. von Campenhausen, ebd.), sondern auch, d a ß sich bei Chrysostomos Aussagen finden, f ü r die man selbst bei einem Mann wie Joh. Cassianus, um von Pelagius und den Pelagianern ganz zu schweigen, vergeblich nach Parallelen Ausschau hält (vgl. dazu neben der älteren Monographie von A. Hoch, Lehre des Johannes Cassianus von N a t u r und Gnade, 1894, jetzt vor allem O. Chadwick, John Cassian, 2. Aufl. Cambridge 1968, S. 110—136). Für die Einzelnachweise s. meinen Art. „Gnade", der im R A C erscheinen wird.

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Das Charismaverständnis des Joannes Chrysostomos

baren Zeichen (αίσ-θητόν . . . σημεΐον) begleitet, um den Ungläubigen zu völliger Gewißheit (πληροφορία) zu verhelfen." 1 Chrysostomos will damit begründen, daß aus dem Aufhören der sich sinnenfällig äußernden, wunderhaft wirkenden Charismen nicht auch auf das Erlöschen des Charismatischen überhaupt zu schließen sei. Nur, daß sich seine Erscheinungsformen und Wirkweisen mittlerweile gewandelt haben. Trat es einst, um der „Ungläubigen" willen, in „fremdartigen" Manifestationen zutage, so wirkt es jetzt „unsichtbar". Als Beispiel verweist er auf den dem „natürlichen" Auge entzogenen und nur dem des Glaubens erfaßbaren Vorgang der Sündenvergebung in der Taufe 2 . Allein, wenn damit eine Aporie zur Sprache kommt, die schon von den einstigen Hörern des Chrysostomos angesichts seines „schillernden" Charismabegriffs und seines scheinbar schwankenden Urteils über die Aktualität der paulinischen Charismenlehre empfunden worden sein mag, so wird der Versuch, sie zu lösen, weder dem Charismaverständnis des Paulus gerecht, noch gibt dieser Lösungsversuch und erst recht dessen Exemplifikation am verborgenen Geistwirken in der Taufe das voll wieder, was Chrysostomos selbst über Wirkungsweise und Wirkungsbereich des Charismas in der Gegenwart zu sagen weiß. Für Paulus ist ja der Charismabegriff wesenhaft mit dem der „Versichtbarung des Geistes" (φανέρωσις του πνεύματος) verknüpft (1. Kor. 12,7), in dem Sinne nämlich, „daß zwar der Ursprung der Charismen über die Sichtbarkeit hinaus in das überweltliche Gebiet des Glaubens weist, daß aber der Zweck, in dessen Erfüllung sie sich zu vollenden haben, ausgesprochenermaßen in dem Dienst an der da und dort in die Erscheinung tretenden Gemeinde ihnen gesetzt ist". „Nicht, was einer ,an und für sich' hat, kann ein Charisma heißen. Erst der transitive Charakter, die Ausrüstung zur Einwirkung auf andere Gemeindeglieder, vollendet den Begriff." 3 Aber auch Chrysostomos weiß den Gedanken, daß der Geist als der Spender der Charismen „Lebensprinzip der Kirche und ihrer Glieder" ist4, durchaus in Beziehung zu setzen zu den verschiedenen Diensten und Funktionen innerhalb der Kirche. 1 De s. Pentecoste, 1, 4 (M. II, 464; MG 50, 459). Vgl. audi de util. lect. script. (— in princ. act. 3), 4 (M. III, 76; MG 51, 92: νοητά χαρίσματα — αίσθητόν χάρισμα). 2 De s. Pentecoste, 1, 4 (M. II, 464; MG 50, 459). 3 M. Lauterburg, S. 13; vgl. auch R. Bultmann, Theologie, S. 326. 4 So die Überschrift eines Abschnitts in dem Buch von J. Korbacher (S. 41—52), in dem jedoch die chrysostomischen Charismaaussagen ebensowenig berücksichtigt werden wie in der von Korbacher (S. 19, A. 74) ganz unberechtigterweise als vornehmlich polemisch abqualifizierten Untersuchung des griechisch-orthodoxen Theologen K. D. Mouratides oder in der älteren Arbeit des Altkatholiken E. Michaud, die allerdings ein ausschließlich polemisch-apologetisches Ziel verfolgt und erweisen will, daß „das jetzige römische System ein vollständiger Widerspruch ist zur Lehre des h. J. Chrysostomos (von der Kirche)" (E. Michaud, S. 520).

Die Vielfalt der Charsimen

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„Gäbe es keinen Geist", lautet darum die Fortsetzung des oben angeführten Passus aus der ersten seiner uns erhaltenen Pfingstpredigten, „so gäbe es weder weisheitsvolle noch Erkenntnis vermittelnde Rede (λόγος σοφίας και γνώσεως) in der Kirche; ,denn dem einen wird durch den Geist das Wort der Weisheit, dem andern das Wort der Erkenntnis verliehen' ( l . K o r . 12,8). Gäbe es den heiligen Geist nicht, so gäbe es in der Kirche keine Hirten und Lehrer; denn audi diese setzt der heilige Geist, wie Paulus lehrt: ,(So habt nun acht auf die Herde), in der euch der heilige Geist zu Hirten und Bischöfen gesetzt hat' (Apg. 20,28)." Ferner gäbe es, woran sich die Gemeinde durch ihre Antwort auf den Friedensgruß des zelebrierenden Priesters immer aufs neue erinnern läßt, ohne den Geist keine Gemeinschaft an den „schauervollen" Mysterien. In diesem Zuruf „Und mit deinem Geiste" kommt zum Ausdrude, „daß der, der da (am Altare) steht, nichts (von sich aus) tut, daß die Gaben (δώρα), die da liegen, nicht Menschenwerk (ουδέ ανθρωπινής . . . φύσεως κατορθώματα) sind, sondern daß die Gnade des Geistes gegenwärtig ist und sich, auf alle herniederlassend (πάσιν έφιπταμένη), dies mystische Opfer vollbringt" 5 . „Aus dieser Quelle", dem Geist, „fließen" endlich auch „Offenbarungs- und Heilungsgaben (αποκαλύψεων δωρεαί, και ίαμάτων χαρίσματα) und hat alles Übrige, was die Kirche Gottes zu schmücken pflegt, von daher seinen U r sprung", wie Paulus lobpreisend ausruft mit den Worten: „Dies alles wirkt ein und derselbe Geist, der einem jeden zuteilt, wie er will" (1. Kor. 12,II) 6 . Chrysostomos versucht also Paulus auch darin zu folgen, daß die Gnade „zwar in der Hauptsache (τα πάντων κεφαλαιωδέστερα) Gemeingut aller" ist, sofern sie in der Taufe, in der Glaubensgerechtigkeit (τό δια πίστεως σωθήναι), in dem Glück, Gott zum Vater zu haben, „alle desselben Geistes teilhaftig" werden läßt 7 , daß sie sich aber darüber hinaus in einer Vielfalt von besonderen Charismen konkretisiert und „versichtbart" und so den aus vielen verschiedenen „Gliedern" auf erbauten „Leib" der Kirche konstitutiert. a) χάρισμα und κατόρθωμα Allerdings hat es zunächst den Anschein, als seien in dieser Hinsicht einer Aufnahme des paulinischen Zeugnisses von vornherein enge Grenzen gezogen. Bereitet es Chrysostomos doch sichtlich Schwierigkeiten, mit Paulus den Bereich des Charismatischen als der Konkretisierung und Individualisierung der allen zuteilgewordenen Gnade — grundsätzlich — auf die gesamte Wirklichkeit menschlichen Lebens und Zusammenlebens auszu5

De s. Pentecoste, 1, 4 (M. II, 463; MG 50, 458 f.). • De s. Pentecoste, 2, 1 (M. II, 469; MG 50, 464). 7 In ep. ad Eph., h. 11 (Field, IV, 218 f.; MG 62, 81).

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Das Charismaverständnis des Joannes Chrysostomos 1

weiten und damit audi die eigenen sittlichen „Leistungen" (κατορθώματα2) wie z.B. die freiwillige Ehelosigkeit (1. Kor. 7,7), das Almosengeben, die Fürsorge für die Kranken oder andere Erweise „ungeheuchelter Liebe" (Rom. 12,8.9) als Auswirkungen eines je besonderen Charismas zu begreifen. Denn wie er in einem seiner frühen asketischen Traktate, der Schrift „Uber die Jungfräulichkeit" (Περί παρθενίας), unverblümt feststellt, liefe dies, streng genommen, auf eine Leugnung der menschlichen Willensfreiheit hinaus und müßte zwangsläufig eine Lähmung der sittlichen Energie zur Folge haben. Hängt dodi „die Austeilung der Charismen nicht von dem Vorsatz des Empfängers ab; vielmehr ist sie ganz in das Ermessen dessen gestellt, der sie schenkt" (των δέ χαρισμάτων ή διανομή ουκ έν τχ) τοΰ λαμβάνοντος κείται προαιρέσει, αλλ' έν τη τοΰ παρέχοντος κρίσει). Nun aber sagt Christus, so wendet Chrysostomos ein, es gebe „Verschnittene, die sich um des Himmelreiches willen selbst verschnitten haben", und fügt hinzu: „Wer es fassen kann, der fasse es" (Mt. 19,12), was schon seit langem in der Kirche als Ausdruck der Freiwilligkeit und besonderen „Verdienstlichkeit" des Eheverzichts „um des Himmelreiches willen" verstanden wurde 3 . In die gleiche Richtung gehe es, wenn Paulus „solche Frauen verdammt, die die (dauernde) Witwenschaft erwählt haben, bei ihrem Vorsatz jedoch nicht bleiben wollen". Wäre dies, die „Tugend" der Enthaltsamkeit, ein „Charisma" im eigentlichen Sinne, d. h. im Sinne des ungeschuldeten göttlichen Gnadenerweises, warum, fragt Chrysostomos, bedroht dann Paulus diese Frauen und sagt: „Sie fallen unter das Urteil, daß sie das frühere Gelöbnis gebrochen haben" (1. Tim. 5,12)? „Nirgends hat ja Christus diejenigen zurechtweisen wollen, die keine Charismen haben, sondern immer nur die, die keinen angemessenen Lebenswandel führen." 4 Madien wir uns die Schwierigkeiten, die für Chrysostomos mit der paulinischen Einbeziehung auch der menschlidien κατορθώματα in den Bereich der Charismen verbunden sind, noch ein wenig deutlicher, eher wir fragen, ob und wie er sie gelöst hat. Hätte man, will er sagen, die „Tugendwerke" in eben derselben Weise als „Gnadengaben" zu verstehen wie die scheinbar „blindlings" (απλώς) ausgeteilten, zumindest aber auch „Unwürdigen" zuteilgewordenen wunderhaft wirkenden Charismen (χαρίσματα των σημείων)5, so liefe dies auf die Annahme der Alleinwirksamkeit Gottes im 1 Vgl. Α. M. Ritter, S. 29, im Anschluß vor allem an E. Käsemann, Amt und Gemeinde, S. 113—119. 2 Zu diesem Begriff, den Cicero korrekt mit „recte factum" übersetzt, s. bes. de prophetiarum obscuritate, 2, 5 (Μ. VI, 188; MG 56, 182), w o κατορϋοΰν umschrieben wird mit πράττειν τι των τω ϋεφ δοκούντων (Α. Kenny, S. 17, Α. 1). 3 Vgl. dazu vor allem W. Bauer, Matth. 19,12 und die alten Christen, sowie etwa nodi P. Nagel, S. 48—50. 4 De virgin., 36, 2 (Musurillo [SC 125], S. 212/214; MG 48, 558 f.); vgl. auch de verbis Apostoli .Habentes autem eundem Spiritum fidei', 1, 4 (M. III, 263 f.; MG 51, 5 276). S. oben S. 31 f.

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Prozeß unserer „Heiligung" hinaus. Dann aber wäre nicht mehr zu sehen, mit welchem Recht noch Sünde bestraft und Tugend belohnt werden könnte 6 . Und weiter: wenn im Sinne dieser Annahme wirklich „alles bei Gott" stünde und er „uns wie Hölzer und Steine in Bewegung setzte und auf jegliche Mitwirkung unserseits verzichtete", so wäre er auch gewiß „in den Heiden, ja überhaupt in allen Menschen" mit dem Ziel und Effekt ihrer Heiligung „wirksam"7; „will" er doch, „daß allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen" (1. Tim. 2,4). Da dies jedoch offensichtlich nicht der Fall ist, könne hier auch jedenfalls nicht in einem nicht näher qualifizierten Sinn von einer Alleinwirksamkeit Gottes gesprochen werden. Noch absurder wäre es freilich, von einer Alleinwirksamkeit des Menschen zu reden, ganz auf dessen Fähigkeiten zu setzen und zu wähnen, daß er in seinem lebenslangen Kampf wider die Sünde, bei den immer wieder fälligen Akten der Reue und Buße, keiner „Hilfe von oben" bedürfe8. Vielmehr müsse man da, wo es, in der Begrifflichkeit des Konzils von Orange (529) ausgedrückt, um das „augmentum", nicht um das „initium fidei" geht9, von einem „Zusammenwirken" (συνεργεία, συμμαχία) zwischen Gott und Menschen reden. Hierbei habe Gott eben nicht auf unsere Mitwirkung verzichten wollen, „damit es nicht scheine, als kröne er uns völlig ohne Ursache (είκή)"10, und sei der Beitrag, den wir leisten, auch noch so gering". Chrysostomos hat diesem Gedanken immer wieder einen Ausdruck geben können, der ihn als Vertreter eines geradezu klassischen Synergismus er6 Vgl. audi in ev. Joh., h. 1, 3 (M. VIII, 5; MG 59, 28: Wie gäbe es die Möglichkeit einer Umkehr (μετάθεσις), wenn αρετή und κακία eine Sache der φύσις wären und nicht vielmehr jeglidier Zwang aus dem Spiel bliebe?); homiliae 67 in Genesin, h. 22, 1 (M. IV, 194 f.; MG 53, 187); de verbis Apostoli ,Habentes autem eundem spiritum fidei', 1, 4 (M. III, 263 f.; MG 51, 276); in ep. ad Hebr., h. 12 (Field, VII, 153; MG 63, 99: „Wenn es bei Gott steht . . . , wie kann er uns dann für schuldig erklären [τι ήμάς αιτιάται]"?). 7 In ep. ad Phil., h. 2 (1: Field, V, 12; MG 62, 185 f.); vgl. audi in ep. ad Eph., h. 1 (Field, IV, 109; MG 62, 12); in ep. I ad Tim., h. 3 (Field, VI, 23; MG 62, 515: „Siehst du, wie er [Paulus] allenthalben sein eigenes Werk verbirgt, und das Ganze Gott zusdireibt in dem Maße, wie die Willensfreiheit nicht beeinträditigt wird [επί τοσούτον, έφ'οσον τό αύτεξούσιον μή λυμήνασ&αι] ? Könnte dodi sonst möglicherweise ein Ungläubiger auf den Gedanken kommen zu sagen: Wenn das Ganze Gottes Werk ist und wir gar nichts beitragen, sondern [Gott] uns wie Hölzer und Steine von der Bosheit zur Philosophie hin bewegt [ώς ξύλα καί λίθους μετακινεί προς φιλοσοφίαν άπό κακίας], aus welchem Grund nur hat er Paulus zu einem solch ausgezeichneten Mann gemacht, den Judas aber nicht ebenso"?). 8 In ep. I ad Cor., h. 7 (Field, II, 76; MG 61, 60). • Concil. Araus. II, can. 5 (Denzinger, Nr. 178, S. 86 f.). 10 In ep. ad Hebr., h. 12 (Field, VII, 155; MG 63, 100); vgl. audi in ep. II ad Cor., h. 6 (Field, III, 79; MG 61, 439). 11 Vgl. etwa in ev. Mt., h. 16, 11 (Μ. VII, 220; MG 57, 254; „Darum will Gott, daß auch du ein wenig Teil hast an der Mühe, damit der Sieg audi wirklich dein sei . . . " ) ; in ep. ad Hebr., h. 7 (Field, VII, 93; MG 63, 63 f.).

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scheinen läßt. So etwa in seinen Homilien zum Matthäusevangelium, wo es zu dem „ungemein dunklen" Jesuswort: „Wer da hat, dem wird gegeben, und er wird Überfluß haben; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen werden, was er hat" (Mt. 13,12), folgendermaßen heißt: Diese Worte, so dunkel sie sein mögen, „zeigen doch eine unaussprechliche Gerechtigkeit (άφατος δικαιοσύνη) an. Ihr Sinn ist der: Wenn jemand Bereitwilligkeit (προθυμία) und Eifer (σπουδή) zeigt, so wird auch Gott seinerseits ihm alles geben, was an ihm ist (δοθήσεται αύτω και τα παρά του -θεού απαντα); ist er aber all dessen bar (κενός) und enthält er den Beitrag vor, den er leisten sollte, so wird ihm auch Gott nicht das Seine geben. ,Denn', heißt es, ,was er zu haben meint, wird ihm genommen werden', und zwar nicht etwa so, daß Gott es ihm nimmt, sondern so, daß er ihn seiner Gaben (gar) nicht (erst) würdigt." 12 12 In ev. Mt., h. 45 al. 46, 1 (M. VII, 475 f.; MG 58, 471 f.); ähnlich h. 82 al. 83, 4 (787 f.; 742 f.); in ev. Joh., h. 1, 4 (M. VIII, 6; MG 59, 28); de verbis Apostoli ,Habentes autem eundem spiritum fidei', 1, 4. 5 (M. III, 263—265; MG 51, 276); de laudibus s. Pauli Ap., 7 (M. II, 513 f.; MG 50, 510); in ep. ad Gal. comm., V, 22 (Field, IV, 90 f.; MG 61, 673 f.); in ep. ad Eph., h. 2 (Field, IV, 118; MG 62, 18 f.); in ep. ad Hebr., h. 12 (Field, VII, 153 f.; MG 63, 99: „ . . . Es steht also bei uns wie bei ihm [Gott] . . . Er kommt unseren Entschlüssen nicht zuvor [Οϋ προφθάνει τάς ημετέρας βουλήσεις], um unsre Willensfreiheit [αυτεξούσιοι*] nicht zu beeinträchtigen [λυμήνηται] ; wenn wir aber unsere Entscheidung getroffen haben [όταν ήμεϊς έλώμεθα], so läßt er uns in reichem Maße seine Hilfe [βοήθεια] zuteil werden"). Im Anschluß daran setzt sich Chrysostomos audi mit Rom. 9,16 („So liegt es nun nicht an jemandes Laufen oder Wollen, sondern an Gottes Erbarmen") auseinander und meint, Paulus wolle „damit keineswegs sagen, daß wir überhaupt umsonst laufen, sondern daß wir dann umsonst laufen, wenn wir meinen, das Ganze sei unser Werk, statt die Hauptsache [τό πλέον] Gott zuzuschreiben" [154 f.; 100])! Auch wird zur Genüge deutlich, daß Chrysostomos hier vom Prozeß des „augmentum fidei" spricht, wenn es im gleichen Zusammenhang abschließend heißt: „Groß ist also die Macht der Buße" (157; 102). Freilich unterlaufen dem um die „Erweckung des Herzens, der sittlichen Energie" (H. von Campenhausen, Griechische Kirchenväter, S. 140) bemühten Prediger, dessen Hörer wahrscheinlich „ran mudi less risk of succumbing to Pelagian pride than to the passivity and laxity of those, who referred everything to the will of God" (P. W. Harkins, ACW 31, S. 207, A. 12), immer wieder auch Formulierungen, die dem Menschen im gesamten Prozeß der Heilsverwirklichung die Initiative zuzuerkennen und in frappierender Nähe zu dem mittelalterlichen „facienti, quod in se est, deus dat gratiam" zu stehen scheinen, worin Chr. Baur (I, 300) gar das „ganze Kompendium" der chrysostomisdien Gnadenlehre sieht. Doch urteilt A. Moulard zum Sdiluß seiner Analyse der chrysostomisdien Aussagen zum Verhältnis von Gnade und freiem Willen (S. 140—157) wohl mit Recht: „selon les besoins de sa prédication, il envisage séparément tantôt l'un des deux termes, la grâce, tantôt l'autre, le libre-arbitre, et traite chacun d'eux pour lui-même, montrant son rôle indispensable dans le salut, avec une force telle, un tel exclusivisme — oserait-on dire — qu'il a l'air de sousestimer l'autre. Mais ce n'est . . . qu'une apparence. On a eu tort de ne pas toujours s'en rendre compte, et de l'accuser, les uns de fatalisme théologique, les autres de pélagianisme. Ces mots n'ont de sens — quand il s'agit de Jean — que pour des doctrinaires inattentifs ou de mauvaise foi, dont l'habilité consiste à dégager des textes ce qui les contredit" (S. 157). Auch kann sich Chrysostomos, wie A. Uleyn gezeigt hat, in seinem Kampf gegen die „passivity and laxity" seiner Gemeindeglieder

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Allerdings wird man dabei nicht übersehen dürfen, daß für Chrysostomos dem Beitrag, den wir mit dem Erweis unserer „Bereitwilligkeit" und unseres „Eifers" in Gestalt der „guten Werke" zu unsrer eigenen Heiligung leisten, keinerlei Verdienstlichkeit im strengen Sinne zukommt, daß sich für ihn Gott vielmehr aus Gnaden zu unserem Schuldner macht und unsre „guten Werke" lediglich als „Vorwand" (αφορμή) nimmt, um uns zu belohnen und zu „krönen"13. Am Ende unsres Tugendstrebens, nachdem wir „alles getan" haben, was uns „befohlen" war, müsse stets das Bekenntnis stehen: „Wir sind unnütze Knechte; wir haben nur getan, was wir zu tun schuldig waren" (Lk. 17,10), ein Wort, das Chrysostomos besonders geliebt zu haben scheint. Jedenfalls wird es von ihm häufig zitiert 14 und kann wohl des reichhaltigen Arsenals der diatribischen Moralpredigt bedienen. Allerdings läßt sich das Problem des Einflusses der kynisdi-stoisdien Diatribe auf die chrysostomische „Morallehre" wohl kaum allein anhand der meist rein paränetischen Schlüsse und „ N u t z a n wendungen" seiner Homilien zum Matthäusevangelium lösen (gegen Uleyn). O b man nicht, aufs ganze gesehen, dodi eher A. Puedi Recht geben muß, der meinte, „que l'influence hellénique est restée purement formelle diez Chrysostome, et que, malgré certains emprunts qu'il a faits aussi à la morale antique, il est peut-être, en tous les Pères du IV e siècle, le plus détaché de l'hellénisme, si l'on regarde au fond des dioses" (A. Puech, III, 1930, S. 533, A. 1)? Vgl. dazu audi etwa J. Dumortier, Culture profane, S. 62; W. M. Roggisdi, Piatons Spuren bei Basilius dem Großen, Phil. Diss. Bonn 1949, S. 174; anders A. Naegele, Johannes Chrysostomos und sein Verhältnis zum Hellenismus, und jetzt wieder E. A m a n d de Mendieta, bes. S. 379—381. 13 In ep. ad Philem., h. 1 (Field, VI, 334; M G 62, 707: Gott macht sich uns zum Schuldner [Mt. 6,12!] ού δια τ η ν του π ρ ά γ μ α τ ο ς φΰσιν, άλλα δια τήν του δεδωκότος φ ι λ α ν ϋ ρ ω π ί α ν [Von daher m u ß αφορμή hier „Vorwand" heißen, nidit „ A n l a ß " ! ] ) ; vgl. ebd., h. 2 (343 f.; 712); homiliae 67 in Genesin, 25, 7 (M. IV, 241; M G 53, 228: Δια τούτο γ α ρ αναμένει τ ά ς π α ρ ' ή μ ώ ν άφορμάς, ίνα πολλήν έπιδείξηται τήν φιλοτιμίαν) ; in ep. ad Rom., h. 19 (18: Field, I, 324; M G 60, 582: . . . du bist nach so vielen Wohltaten Gottes Schuldner geworden. T r o t z d e m nimmt er, was du an Gutem tust, „als eine G n a d e von dir an und f o r d e r t es nicht als Schuld ein, sondern krönt dich d a f ü r . . ."); in ep. I ad Cor., h. 5 (Field, II, 47; M G 61, 41); in ep. II ad Tim., h. 4 (Field, VI, 196; M G 62, 621); in ep. ad Col., h. 2 (Field, V, 191; M G 62, 312); in ep. ad Eph., h. 9 (Field, IV, 201; M G 62, 71 f.: „Was hast du, das du nicht empfangen hättest?"); cat. bapt. (Montfaucon) I, 2 (M. II, 227 f.; M G 49, 225); in ev. Joh., h. 27 al. 26, 3 (M. V i l i , 157; M G 59, 160 f.: Selbst wenn wir tausend Leben hingäben, hätten wir noch nichts der Liebe Gottes Entsprediendes, sondern nur unsere Schuldigkeit getan!). Anders dagegen scheint in ep. ad Rom., h. 9 (8: Field I, 110 f.; M G 60, 455 f.) „die Beziehung von Lohn und Schuld f ü r das Verhältnis von G o t t und Mensch a n e r k a n n t " zu sein (K. H . Schelkle, S. 436; vgl. auch S. 127). Doch wird Chrysostomos hier durch das in der patristischen Exegese weit verbreitete Mißverständnis des τ φ δέ έ ρ γ α ζ ο μ έ ν φ in Rom. 4,4, nach dem hier nicht vom menschlichen Arbeitsverhältnis, sondern vom alttestamentlidien Werk im Verhältnis zu G o t t (Κ. H . Schelkle, S. 436) oder gar generell vom Werk im Gegensatz zum Glauben die Rede wäre, in die Irre geführt worden sein. — Zu den systematischen und kontroverstheologischen Fragen, die sich angesichts eines solchen „a-meritorischen" Synergismusbegriffs stellen, s. P. E. Persson, Glaube und Werke in der Ostkirche. 14 Vgl. nur in ep. ad Rom., h. 8 (7: Field, I, 101; M G 60, 450); in ep. I ad Cor., h. 22 (Field, II, 261 f.; M G 61, 183); in ep. II ad Cor., h. 24 (Field, III, 251; M G 61, 565); in ep. ad Col., h. 2 (Field, V, 181; M G 62, 312); in ep. I ad Tim., h. 17

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als bündigster Ausdruck auch seiner eigenen Auffassung von Sinn und Wert der „guten Werke" gelten. Und zwar ist dieser Verzicht auf alles SichRiihmen eigener Leistungen und „Verdienste" vor Gott für ihn nicht nur das Resultat einer Selbstverdemütigung, zu der man sich gegebenenfalls — sozusagen „wider besseres Wissen" — zwingen müßte, wenn einen das „gute Gewissen wie ein Wogenschwall (ρεΰμα) emporreißen" will15, Frucht einer Demut, die wohl zu unterscheiden wäre von der von Jesus gepriesenen Gesinnung des Zöllners (Lk. 18,9—14). Denn „wer im Bewußtsein, nichts Gutes getan zu haben, bescheiden von sich spricht, der ist einsichtsvoll (ευγνώμων), nicht demütig; wer dagegen nach solchen Triumphen", wie sie etwa der Apostel Paulus errungen hat, „in solchem Tone redet, der (allein) weiß um die (wahre) Demut" 16 . Aber das ist eben nicht alles, was Chrysostomos hierzu zu sagen hat. Gilt für ihn doch ebenfalls, daß wir, „je scharfblickender unsere (geistigen) Augen sind, um so besser lernen, wie weit der Himmel von uns entfernt ist; und je mehr wir in der Tugend fortschreiten, um so mehr werden wir dahin gebracht (παιδευόμεθα) zu erkennen, welch ein Abstand besteht zwischen Gott und uns". Das aber sei „kein geringes Maß von Weisheit (φιλοσοφία), wenn wir unseren wahren Wert zu ermessen vermögen". Denn der erkenne sich am besten, „der sich selbst für nichts hält (ο μηδέν είναι εαυτόν νομίζων)" 17 . Audi ist für ihn der Prozeß des „augmentum fidei" nie von dem „initium fidei" dermaßen zu isolieren, daß je vergessen werden könnte und dürfte, was an Erweisen ungeschuldeter göttlicher Gnade am Anfang dieses Weges stand, so als wäre Gott in diesem Prozeß nur mehr der unparteiische Kampfrichter, der den Sieg im wesentlichen der Kraft des Kämpfers anheimstellte18, nachdem er ihn in der Taufe von der Last vergangener Sünde (Field, VI, 147; MG 62, 591); in ep. ad Hebr., h. 2 (Field, VII, 26 f.; MG 63, 25); in ep. ad Philem., h. 2 (Field, VI, 341; MG 62 711). Dem entspricht auch die paradoxe Formulierung, mit der Chrysostomos gelegentlich mit eigenen Worten seine Auffassung vom Sinn der „guten Werke" zu umschreiben sucht: „Es kommt darauf an, alles Gott anheimzustellen, aber als solche, die auch selbst tätig sind" (in ep. II ad Thess., h. 5 [Field, V, 484; MG 62, 492]: Δει μέν γάρ tò πάν έπ' αυτόν [τον θεόν] ρίπτειν, άλλ' ένεργοίντας καί αυτούς . . . ) . 15 In ep. I ad Tim., h. 3 (Field, VI, 22 f.; MG 62, 515); vgl. audi in ep. I ad Cor., h. 38 (Field, II, 480—482; MG 61, 328 f.); in ev. Joh., h. 23 al. 22, 3 (M. V i l i , 194; MG 59, 192). Weil gerade Paulus ein leuchtendes Vorbild der Demut gewesen sei, darum findet Chrysostomos die Aussage 2. Tim. 4,7 („Ich habe den guten Kampf gekämpft . . . " ) um so befremdlicher. „Sooft ich den Apostel zur Hand nahm und diese Stelle betrachtete, war idi ratlos [άπορων διετέλουν], warum sich Paulus hier so in die Brust wirft [μεγαληγορεϊ] . . ." (in ep. II ad Tim., h. 9 [Field, VI, 247; MG 62, 652])! 19 In ep. ad Gal. comm., I, 17 (Field, IV, 28; MG 61, 631); vgl. in ep. II ad Cor., h. 4 (Field, III, 62; MG 61, 426). 17 In ev. Mt., h. 25 al. 26, 4 (M. VII, 312; MG 57, 332). 18 Vgl. cat. bapt. (Stauronikita) III, 9 (Wenger [SC 50], S. 155 f.); homiliae 67 in Genesin, h. 42, 7 (M. IV, 422; MG 53, 385).

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freigemacht hat. Das „mächtigste Motiv zu jeglicher Tugend" (μέγιστον . . . είς προτροπήν αρετής άπάσης)19 ist für Chrysostomos vielmehr das Gedächtnis des „Übermaßes der Liebe, die Gott uns in allem erzeigt hat und" immer wieder „erzeigt" 2 0 , indem etwa Christus, aus dessen Fülle „wir alle an Leib und Seele geheilt werden können", vor uns hintritt wie einst vor den Kranken am Teich Bethesda (Joh. 5,1—9) mit den Worten: „Willst du gesund w e r d e n ? . . . Stehe auf, nimm dein Bett und wandle!" 2 1 Schließlich sind und bleiben wir nach Chrysostomos darum Gottes Schuldner, weil von uns nie mehr verlangt wird, als uns Gott (in der Taufe) bereits selbst geschenkt hat 2 2 . Wie auch wahr ist und bleibt, daß die „Mühen" (πόνοι) und „Leiden dieser Zeit nicht wert sind jener Herrlichkeit, die an uns soll offenbart werden" (Rom. 8,18) 2 3 . Von der so skizzierten Gesamtanschauung her ist es Chrysostomos nun auch möglich, dem paulinischen Verständnis der κατορθώματα als χαρίσματα einen tieferen Sinn abzugewinnen und nicht bei der Lösung des Problems stehen zu bleiben, die er in seiner Jugendschrift „Uber die Jungfräulichkeit" vorgeschlagen hatte. Danach wäre die Bezeichnung unserer eigenen sittlichen „Leistungen" als „Gnadengaben" durch Paulus im Grunde als reiner Demutsakt ohne weiteren sachlichen Anhalt, als Ausdruck echt „apostolischer D e m u t " zu verstehen. Paulus wolle damit, meint Chrysostomos zunächst, lediglich ein Beispiel seiner „Bescheidenheit", seines μετριάζειν geben, denke aber nicht daran, etwa die Enthaltsamkeit (εγκράτεια) im Ernst in den Katalog der Charismen einzureihen, w o doch „auf der H a n d " In ep. II ad Cor., h. 20 (Field, III, 213; M G 61, 538). In ep. II ad Cor., h. 30 (Field, III, 315; M G 61, 610); vgl. ebd. h. 11 (130. 133; 476. 478 f.); in ep. I ad Thess., h. 9 (Field, V, 414; M G 62, 451); de compunct. 2, 7 (M. I, 152; M G 47, 421 f.). Von daher kann Chrysostomos auch sagen, daß die μέλλοντα αγαθά, die ευαγγελική πίστις, die αρίστη πολιτεία „allesamt das Werk der göttlichen Gnade" seien (πάντα γαρ της τοΰ θεοΰ χάριτος έστι: in ep. ad Hebr., h. 31 [Field, V I I , 346; M G 63, 213]); vgl. audi die schöne Auslegung von Joh. 13,34 („Ein neu Gebot gebe idi euch . . . " ) in ev. Joh., h. 72 al. 71, 3 (M. VIII, 427; M G 59, 393 f.): Wieso ist dies Gebot neu? „Er madite es neu durch die Art, wie er es selbst erfüllte." Darum fügte er hinzu: „wie ich euch geliebt habe"; d. h. er hat selbst den Anfang gemacht! 2 1 In. ev. Mt., h. 67 al. 68, 4(M VII, 667; M G 58, 638). 2 2 Anders als beispielsweise Symeon von Mesopotamien sieht Chrysostomos in der Taufe nicht nur einen Anfang (s. oben S. 49 f.). Vielmehr ist für ihn in der Taufe bereits verwirklicht, was zugleich Ziel alles sittlichen Strebens ist („Indikativ — Imperativ"), so daß es nur „festzuhalten" und dem zu „folgen" gilt, was Gott in der Taufe geschenkt hat: das Totsein für die Sünde, die ζωοποίησις, δικαιοσύνη und αγιοσύνη (vgl. in ep. ad Rom., h. 11 [10: Field, I, 149—151; M G 60, 4 7 9 / 4 8 0 ] ; in ep. II ad Cor., h. 6 [Field, III, 78 f.; M G 61, 439]; h. 30 [315 f.; 610]; in ep. II ad Tim., h. 2 [Field, VI, 175; M G 62, 608]; in ep. ad Col., h. 2 [Field, V, 193; M G 62, 313 f . ] ; in ep. ad Hebr., h. 32 [Field, VII, 363; M G 63, 224]). 2 3 Vgl. in ep. I ad Tim., h. 4 (Field, VI, 40; M G 62, 526); ähnlich audi bereits Orígenes in ep. ad Rom., IV, 1 (Lommatzsch, VI, 239) und die griechischen Fragmente seines Römerbriefkommentars (Ramsbotham, J T h S X I I I , 1912, S. 358. 368). 19

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liege (παντί που δήλόν έστιν), daß es sich bei ihr um ein κατόρθωμα und nicht um ein χάρισμα handele, wenn auch gewiß nicht zu leugnen sei, daß es zu ihr auch eines „Anstoßes durch Gott" (του θεού ροπή) bedürfe24. Später dagegen kann Chrysostomos nicht nur sagen, daß wie die „künftigen Güter" und der „evangelische Glaube" (ευαγγελική πίστις), so auch (selbst) der „vortrefflichste Lebenswandel" (άριστη πολιτεία), recht besehen, der göttlichen Gnade zu verdanken 25 , „Frucht des Geistes" (Gal. 5,22) 26 und darum in der Dankbarkeit, wie sie einem „Knecht" (οίκέτης) Gottes wohl anstehe, dem Herrn selbst zuzurechnen sei27, dem, der „das Gute und durch dasselbe auch das Wollen" selbst bewirke, der uns „den Entschluß (προθυμία) wie seine Ausführung" (εργασία) schenke28. Vielmehr meint er nun auch zu erkennen, daß die Spontaneität, Einfalt, Freudigkeit und Selbstvergessenheit, die nach Paulus (Rom. 12,8 if.) alles rechte Tun des Guten kennzeichnen und es erst eigentlich zu „charismatischem" Tun werden lassen29, nur dann erschwinglich seien, wenn uns die „Anregung" (ροπή) und „Freundlichkeit" (εύνοια) des Himmels dabei zu Hilfe kommen, wenn wir uns selbst als beschenkt wissen, als solche, die eher gewinnen als verlieren, die eher empfangen als geben30. Darüber hinaus haben für ihn nun 24

De virgin., 36 (Musurillo [SC 125], S. 212/216; MG 48, 558 f.). Das Wort ροπή bezeichnet ursprünglich das Gewicht, das eine Waage sich nach der einen oder anderen Seite neigen läßt. „If this metaphor is to be taken seriously, we must say that, for Chrysostom, Gods influence is decisive, but by no means prevenient. He seems to picture the matter thus: our good will, and the difficulty of doing good, are in different pans of a balance. They are more or less in equilibrium; but God's ροπή comes and tilts the balance over to the right side" (A. Kenny, S. 20). 25 In ep. ad Hebr., h. 31 (Field, VII, 346; MG 63, 213). 28 In ep. ad Gal. comm., V, 22 (Field, IV, 90 f.; MG 61, 673 f.). 27 Vgl. in ep. ad Rom., h. 3 (2: Field, I, 23; MG 60, 404); in ep. I ad Cor., h. 32 (Field, II, 389; MG 61, 266); in ep. ad Eph., h. 6 (Field, IV, 161 f.; MG 62, 46 f.). 28 In ep. ad Phil., h. 9 (8: Field, V, 89; MG 62, 240). 29 Vgl. M. Lauterburg, S. 30—37. 30 Vgl. de eleemos., 4. 5 (M. III, 253—256; MG 51, 266—268); in ep. II ad Cor., h. 16 (Field, III, 182 f.; MG 61, 515 f.) h. 19 (204 f. 532); in ep. ad Phil., h. 2 (1: Field, V, 15—17; MG 62, 187—190); in ep. II ad Tim., h. 4 (Field, VI, 196; MG 62, 621: unsere Hingabe an den Nächsten ist eine άνταπόδοσις, keine χάρις!); vgl. auch in ep. ad Gal. comm., VI, 1 (Field, IV, 92; MG 61, 673: Paulus sagt [Gal. 6,1] bewußt nicht „in Sanftmut", sondern „im Geist der Sanftmut" [έν πνεΰματι πραότητος] „und stellt damit klar, daß . . . das Vermögen, die Sünder mit Nachsicht zurecht zu bringen, einem Charisma des Geistes entspringt [καί tò δύνασΦαι μετ' έπιεικείας διορθοΰν τούς άμαρτάνοντας, χαρίσματος έστι πνευματικοί]). — Gewiß gibt Chrysostomos diesem Gedanken gelegentlich eine rein eudämonistisch-utilitaristisdie Wendung (A. Uleyn, S. 120"' u. ö.) — das Wohltun ist im wohlverstandenen eigenen Interesse (himmlischer „Lohn") —, begleitet freilich von der Warnung, die Mildtätigkeit nicht zum Geschäft [έμπορία] depravieren zu lassen (in ep. II ad Cor., h. 16 [Field, III, 182; MG 61, 516]). Ausgeprägter jedodi ist das Motiv der Dankbarkeit, verschärft durch den Gedanken, daß in dem bedürftigen Nächsten Christus selbst begegnet (Mt. 25,31—46) und damit der, dem wir selbst unzählig viel Gutes verdanken (in ep. ad Philem., h. 1 [Field, VI, 330 f.; MG 62, 705]); vgl. audi P. Rentinck, S. 333 ff.; anders O. Plassmann, S. 92 u. ö.

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die „guten Werke", sofern sie in der Liebe geschehen , mit den Charismen nicht nur den Namen, sondern auch den „transitiven Charakter" 32 , also dies gemein, daß sie „Dienstleistungen" (διακονίαι) zum Nutzen des Nächsten sind 33 und sich auch in den vielfältig verschiedenen Erscheinungsformen und „Graden" (βαθμοί) der „Tugend" die Mannigfaltigkeit der Gliedschaft der Kirche als des „Leibes Christi" manifestiert 34 . 31 In ep. ad Col., h. 8 (Field, V, 256 f.; M G 62, 354); vgl. audi in ep. I ad Cor., h. 32 (Field, II, 394—400; M G 61, 267—271). 82 M. Lauterburg, S. 13. 33 Vgl. homiliae 67 in Genesin, h. 3, 4 (M. IV, 19; M G 53, 36); in ev. Joh., h. 13 al. 12, 4 (M. V i l i , 76 f.; M G 59, 90); in ep. ad Rom., h. 3 (2: Field, I, 20 f.; M G 60, 402); h. 22 (21: 365; 605); h. 27 (26: 428/430; 643 f.: das tugendhafte Leben — d a r u m so „erbaulich" und „missionarisch", weil es erweist, d a ß G o t t mit seinen Geboten nichts Unmögliches verlangt!); in ep. I ad Cor., h. 30 (Field, II, 371 f.; M G 61, 254). Zur Parallelisierung von χάρισμα und διακονία s. in ep. I ad Cor., h. 29 (Field, II, 355; M G 61, 243 f.). Danach handelt es sich bei χάρισμα, διακονία und ενέργημα ( l . K o r . 12, 4—6) nur um verschiedene Bezeichnungen f ü r ein und dieselbe Sache (ονομάτων διαφοραί μόνον, έπεί. π ρ ά γ μ α τ α τα αυτά) und ist speziell mit der Gleichsetzung von χάρισμα und διακονία von Paulus eine Ernüchterung beabsichtigt. „Denn wer χάρισμα hört, (selbst) aber nur eine geringe Gabe empfangen hat, ist möglicherweise schmerzlich berührt. Nicht so der, der διακονία hört. Ist doch mit diesem W o r t die Assoziation von Schweiß und Mühsal verbunden" (πόνου γ α ρ ένδεικτικόν τό π ρ ά γ μ α και ίδρώτος)! — D a ß Chrysostomos auch nach heutiger exegetischer Erkenntnis hier grundsätzlich richtig interpretiert, sei nur mit dem Hinweis auf E. Käsemann, A m t und Gemeinde, S. 111, und H . C o n zelmann, A r t . χάρισμα, belegt; anders etwa I. H e r r m a n n , Kyrios und Pneuma, Studien zum Alten und Neuen Testament, II, 1961, S. 71—76. 54 In ep. I ad Cor., h. 30 (Field, II, 370—376; M G 61, 254—258: „ N u n aber seid ihr, gerade weil ihr nicht alle dasselbe Charisma habt, ein Leib; weil ihr aber ein Leib seid, so seid ihr alle eines, und in Bezug auf das Leibsein ist zwischen euch kein Unterschied. Dies wollen nun auch wir bedenken und alle Mißgunst [βασκανία] verbannen. L a ß t uns weder jene beneiden, die größere Charismen empfingen, noch die verachten, denen geringere zuteil wurden. Denn so h a t es G o t t gewollt; darum dürfen wir nicht widerstreben. Gibst du aber noch immer keine Ruhe, so bedenke, d a ß ein anderer auch deine Funktion [έργον] vielfach nicht zu übernehmen vermag. Ist auch deine Gabe geringer: hierin hast du etwas voraus! H a t jemand auch eine größere G a b e : hierin steht er dir nach, und so wird der Ausgleich [ίσότης] bewerkstelligt" [S. 370], In der Kirche gibt es beispielsweise Chöre von Jungfrauen, Scharen von Witwen [χοροί, σύλλογοι], Phratrien [φρατρειαί] von solchen, die in keuscher Ehe leben [„leuchten": λαμπόντων], und vielerlei andere G r a d e der Tugend" [S. 371]. „Ähnlich ist es audi hinsichtlich der Mildtätigkeit [έλεημοσόνη] : die einen haben sich von allem [Besitz] losgesagt, die anderen kümmern sich nur um ein genügendes Auskommen [αυτάρκεια] und verlangen nichts weiter, als was unbedingt notwendig ist; andere wiederum geben von ihrem Uberfluß. U n d doch helfen sie alle einander aus [πάντες άλλήλοις κοσμοΰσι], und wenn der Größere den Kleineren verachtet, schadet er selbst sich am meisten. Was ist wertloser als die Bettler [προσαιτοΰντες] ? U n d doch erfüllen diese einen äußerst wichtigen Dienst [χρεία] in der Kirche, die da an den Türen des Tempels kauern und die schönste Zier [κόσμος] darstellen und ohne die die Kirche nicht in ihrer ganzen Fülle erschiene [τούτων &νευ ούκ αν α π α ρ τ ι σ θ ε ί ς τό πλήρωμα της έκκλησίας] . . . Denn gleichwie ich unter den Gliedern der Kirche Bischöfe, Presbyter, Diakone, J u n g f r a u e n und Enthaltsame zähle, so auch Witwen. Erfüllen dodi auch sie keine beliebige Funktion [τυχούσα χ ρ ε ί α ] . Denn w a n n immer du erscheinst, findest du sie T a g und Nacht zu-

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Nun hat allerdings schon Luther gefunden, daß Chrysostomos auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn „wohl zu Hofe gewesen" sei, daß er aber „die Hofweise, Sitten und Leben nicht" habe „können dulden noch leiden; es hat alles sollen mönchisch einher gehen". Wer dagegen „ein Lehrer und Prediger in der Kirche sein" wolle, der müsse „auch in der Welt sein gewesen und derselbigen Händel gesehen oder je zum Teil erfahren haben; denn es thut's nicht, daß ein Mensch mit Klostergedanken etwas regieren sollte"35. Daran ist gewiß vieles richtig oder doch zum mindesten nachdenkenswert. Wir greifen zunächst nur das Eine auf: Chrysostomos ist, namentlich zu Beginn seiner Laufbahn, zur Zeit der Abfassung der asketischen Schriften nach seiner Rückkehr aus dem Kloster- und Einsiedlerleben in der Nähe Antiocheias (378) und vor Übernahme des Presbyteramtes (385/386) 36 , in der Tat versucht, in der Kirche „alles . . . mönchisch einher gehen" zu lassen. Es fällt ihm zunächst sichtlich schwer, den Gedanken der Vielfalt der — nach Paulus gewiß nicht gleich nützlichen und ansehnlichen, aber doch grundsätzlich gleichwertigen, gleich unverzichtbaren und einander ergänzenden — Gaben zu Ende zu denken, ihn mit seinen „Klostergedanken" in Einklang zu bringen und — beispielsweise — „Jungfräulichkeit" und Ehe gleichermaßen als charismatische Möglichkeit und Berufung anzuerkennen. Nach Paulus ist es ja „für den Menschen" zwar „gut, kein Weib zu berühren" (1. Kor. 7,1). Vielmehr wünschte er es sehr, wenn „alle" wie er, d. h. ehelos bleiben könnten (1. Kor. 7,7.8.26). Dieser Wunsch und „Ratschlag" (1. Kor. 7,35.40) entspringt nicht nur eigenen asketischen Neigungen des Apostels oder, positiv gesagt, er hat nicht nur in dem Freisein des Unverheirateten für Gott ( l . K o r . 7,32—35) sein Motiv, sondern ist nicht zuletzt in der Sorge vor der in allernächster Zeit erwarteten endzeitlichen „Drangsal" (1. Kor. 7,26.28 f.) begründet. So sieht Paulus in der Ehelosigkeit fraglos eine ideale Möglichkeit des Abstandhaltens von dieser vergehenden „Welt" und zugleich der Bewährung in ihr. Er will sie aber nicht als allgemein verbindliches Gesetz auferlegen (1. Kor. 7,2.9.35.36—40) oder auch nur als allgemeine „Tugend eingeübt" wissen. „Sie ist nicht ein Wert, gegen und Psalmen singen. Und das tun sie nicht nur der Almosen wegen". Sonst stünde es ihnen ja auch frei, auf dem Markt oder den Straßen zu betteln [S. 372]. „Jener Arme, der da an den Türen der Kirche sitzt, predigt durch sein Schweigen, durch seinen bloßen Anblick nicht weniger eindringlich als wir, die Vorsteher des Kirchenvolks [του λαοί προκαθήμενοι], die wir euch zu dem mahnen, was euch nützlich ist. Denn Tag für Tag rufen wir euch zu: Sei nicht aufgeblasen, Mensch! Vergänglich und wandelbar ist das Wesen der Menschen . . . Eben dasselbe und noch mehr lehren diese durch ihren Anblick und ihre Erfahrung, die ja eine weit bessere Lehrmeisterin [σαφεστέρα παραίνεσις] ist . . . " [S. 373]); vgl. auch in ev. Mt., h. 39 al. 40, 4 (M. VII, 436; MG 57, 438); in ep. ad Eph. h. 10 (Field, IV, 206—209; MG 62, 75—77); in ep. I ad Tim., h. 14 (Field, VI, 124—126; MG 62, 578: . . . πολλαί της αρετής αϊ οδοί . . . ! ) . 35 WATR 2, Nr. 1330 (S. 52); vgl. auch ebd. Nr. 1620 b (S. 550). 3e Zur Chronologie s. R. E. Carter, bes. S. 364.

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der erarbeitet werden soll und an allgemeinen Kriterien gemessen wird, sondern individuelle Gabe, die nicht durch Imitation zu gewinnen ist." 3 7 J a , wenn er formuliert, ein „jeder habe ein eigenes Charisma von Gott, der eine so, der andere so" (1. Kor. 7,7), so schließt dies, wie schon Orígenes bemerkte 38 , nicht aus, sondern im Gegenteil wohl ein, daß Paulus auch die Ehe als charismatische Möglichkeit ansieht, selbst wenn er darüber nicht näher reflektiert und unter Verzicht auf jede positive Begründung und Wesensbestimmung der Ehe ausdrücklich nur so viel sagt, daß man sich in der Ehe nicht versündige und sie dazu da sei, um den „Unzuchtssünden" zu wehren (1. Kor. 7,2.5). Doch dürfte es der Kontext (bes. 1. Kor. 7,17 ff.) zur Genüge deutlich machen, daß für ihn an den „Verhältnissen", sozialen Gegebenheiten und menschlichen Unterschieden und Gegensätzen als solchen wenig, um so mehr dagegen am „Verhalten der Christen in ihnen" 3 9 gelegen ist. Berücksichtigt man schließlich die paulinischen Charismaaussagen insgesamt, so wird man in der Tat in seinem Sinne wohl sagen können, daß nicht das Daß, sondern das Wie, „nicht die Faktizität, sondern die Modalität . . . über echtes Charisma" entscheide. Nicht, „daß Männlichkeit und Weiblichkeit, Geschlechtlichkeit und Virginität, Familienstand und soziale Verhältnisse, Essen und Trinken, das Stehen unter oder außer der Tora als solche und von vornherein charismatisch wären. Sie können es aber werden, und jede dieser Verhaltensweisen wird es dann, wenn über sie der Schatten des μόνον έν κυρίω von 1. Kor. 7,39 fällt, wenn man nadi Rom. 14, 4 ff. in ihnen dem Herrn steht oder fällt, dem Herrn zuliebe Vorschriften hält oder bricht, ißt oder fastet, lebt oder stirbt" 4 0 . H . Conzelmann, 1. Korinther, S. 144. In ep. I ad Cor. (Jenkins, J T h S I X , 1908, S. 502 f.); vgl. audi in ep. ad Rom., I, 12 (Lommatzsch, V I , S. 4 0 ; vgl. Ramsbotham, J T h S X I I I , 1912, S. 213 f . ) ; in Matth., X I V , 16 (Klostermann, G C S 40, 324). Danach geht aus der paulinischen Formulierung 1. Kor. 7,7 unzweideutig hervor, daß audi die Ehe ein χάρισμα ist, freilich nidit ein χάρισμα πνευματικόν (Rom. 1,11) wie das „donum fidei", das „donum sapientiae et scientiae et virginitatis similiter", sondern nur ein χάρισμα von der Art wie „Reichtum", „Körperkraft" etc. Denn ein χάρισμα πνευματικόν könne ja kaum wie die έπί το αΰτό σύνοδος ανδρός καΐ γυναικός vom Gebet abhalten (1. K o r . 7,5)! Ohne eine solche Differenzierung wird dagegen im Matthäuskommentar aus 1. K o r . 7,7 gefolgert, daß sowohl die άγνή αγαμία als audi der κατά λόγον Φεοΰ γάμος eine „Gnadengabe", ein χάρισμα, sei, eine Deutung, die allerdings bis heute unter den Exegeten kontrovers ist: vgl. nur H . Conzelmann, 1. Korinther, S. 143, und H . Baltensweiler, Die Ehe im N T , A T h A N T 52, 1967, S. 163 f. 3 9 G . Bornkamm, Paulus, S. 214. 4 0 E. Käsemann, Amt und Gemeinde, S. 1 1 6 ; vgl. audi G . Hasenhüttl, S. 157—159. Ähnlich urteilte bereits M . Lauterburg, S. 6 f., es könne „gewiß nadi Meinung des Paulus weder bei dem Leben in noch außer der Ehe von vornherein von einer Gnadengabe gesprochen werden, sondern nur dann, wenn die χάρις zu diesem oder jenem Stand einen Menschen heiligend bestimmt. Und das Endziel, worauf es dabei abgesehen ist, ist weniger das geistliche Wohl des betreffenden Menschen, als seine Zuriistung zur individuellen Arbeit an den gemeinsamen Aufgaben des Gottesreichs". 37

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Chrysostomos dagegen hat von der so verstandenen und begründeten „libertas Christiana" zunächst nur wenig zu Gesicht bekommen. Gewiß verwirft er schon in seinen ersten Schriften die dualistisch motivierte Diskriminierung der Ehe durch Markion, Valentinos und Mani mit aller Schärfe, weil damit deren „Anhängern hier auf Erden eine unerträgliche Last auferlegt" werde 41 . Im Gegensatz zu dieser häretischen Ehefeindlichkeit gelte die geschlechtliche Enthaltsamkeit (έγκράτεια), der Eheverzicht, dem Apostel Paulus wie dem gesamten übrigen Neuen Testament als eine so „sublime Tugend", daß sie nirgendwo zum Gesetz erhoben, sondern durchweg und ohne Einschränkung der freien Wahl des einzelnen anheimgestellt werde 42 . Nur darum habe sie übrigens auch einen besonderen „Lohn" zu gewärtigen 43 . Doch begnügt er sich anfangs eben nicht damit, nach Kräften für das — zunächst fast als Selbstwert betrachtete, zumindest aber ganz „individualistisch" verstandene 44 und auf die persönliche Heiligung des einzelnen bezogene — Ideal des „jungfräulichen Lebens" zu werben, zu ihm zu „locken" und einzuladen 45 , sondern er läßt auch für eine andere — „ehrenvolle"! — Möglichkeit nur wenig Raum. Unter kräftigen Anleihen bei der griechischen Sophistik und der kynisch-stoischen Diatribe, speziell unter Verwendung des beliebten Topos von den „molestiae nuptiarum"46, malt 41 So etwa de virgin., 3 (Musurillo [SC 125], S. 101/103; MG 48, 536); vgl. zum folgenden die vielfach abweichende Darstellung von R. Goeden, Zur Stellung von Mann und Frau, Ehe und Sexualität im Hinblick auf Bibel und Alte Kirche, Theol. Diss. Göttingen 1969, S. 150—155, die sich jedoch i. w. auf De virg. stützt, dessen rhetorischer Charakter zudem kaum wirklich berücksichtigt ist. D a ß die „anderen Schriften des Chrysostomos . . . die Auffassungen" bestätigten, die uns in De virg. entgegentreten (S. 155), wird zwar behauptet, aber nicht bewiesen. 42 Vgl. in ev. Mt., h. 7, 7 (Μ. VII, 116 f.; MG 57, 81 f.); h. 47 al. 48, 4 (M. VII, 492; MG 58, 486); h. 62 al. 63, 2—4 (621—626; MG 58, 597—602); h. 77 al. 78, 6 (749 f.; 710); expos, in Ps. 113,2 (M. V, 295 f.; MG 55, 307 f.); in ep. I ad Cor., h. 17 (Field, II, 196; MG 61, 152); h. 19 (218; 153 f.); in ep. ad Tit., h. 1 (Field, VI, 268 f.; MG 62, 666). 43 In ep. I ad Cor., h. 21 (Field, II, 251; MG 61, 176). 44 Ähnlich auch B. Grillet in seiner Einleitung zu der Musurilloschen Ausgabe von De virginitate (SC 125, S. 65: „.. . conception trop individualiste en apparence des fins de la virginité"); vgl. dazu nur de virgin., 81 (Musurillo [SC 125], S. 380/382; MG 48, 593: Die Jungfräulichkeit ist imstande, die Wurzel der Habsucht verdorren zu machen und uns dafür eine andere Wurzel einzupflanzen, „und zwar die beste, der alles Gute entsprießt: Freiheit, Parrhesie, Mannhaftigkeit, glühender Eifer, feurige Liebe zu den himmlischen und Verachtung der irdischen Dinge") mit einer späteren Äußerung wie de verbis Apostoli ,Habentes autem eundem spiritum fidei', 1, 7. 8 (M. III, 266; MG 51, 278: „Die Würde der Jungfräulichkeit liegt nicht allein in dem Verzicht auf die Ehe, sondern darin, daß man menschenfreundlich, bruderliebend und mitempfindend ist" [Παρθενίας γαρ αξίωμα ούκ άποσχέσθαι γάμων μόνον, άλλα το φιλάνθρωποι είναι και φιλάδελφον και συμπαθητικόν]). 45 Vgl. in ep. I ad Cor., h. 19 (Field, II, 218; MG 61, 153 f.); in ep. I ad Tim., h. 12 (Field, VI, 96 f.; MG 62, 560). 46 S. Th. Camelot, Les traités „De virginitate", bes. S. 278—281, und vor allem G. Chr. Hansen, Molestiae nuptiarum; vgl. dazu etwa de virgin 37. 40. 57. 65 (Musurillo

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er vielmehr das Kontrastbild des ehelichen Lebens in den schwärzesten Farben. Bezeichnend für den Tenor vor allem seines frühen Enkomion der „Jungfräulichkeit" (Περί παρθενίας) ist es etwa, wenn er zu den paulinischen Ausführungen über Ehelosigkeit und Ehe (1. Kor. 7) bemerkt, die Art und Weise, wie Paulus die Ehe scheinbar billige, sei eher dazu geeignet, einen „errötend und beschämt alsbald die jungfräuliche Lebensweise ergreifen zu lassen, um einer solchen Schmach zu entgehen"47. Es sei dies „nicht die Konzession eines, der (die Ehe) billigt und empfiehlt", sondern klinge eher nach „Sarkasmus und Tadel" 48 . Wie viel in diesen und ähnlichen Äußerungen an echter asketischer Begeisterung, an lebendiger Erinnerung an die eigenen Erfahrungen als Klostermönch und Eremit mitschwingen und nicht einfach ein Tribut an die literarischen Gewohnheiten der Zeit, an die Gesetze der Rhetorik 49 , sein mag, feststeht jedenfalls, daß sich der junge [SC 125], S. 218/224. 232/236. 306/316. 332; M G 48, 559 f. 562 f. 577—579. 583). Chrysostomos gibt hier eine rein utilitaristische Begründung; d. h. er versteht die „bevorstehende N o t " (1. Kor. 7,26) nicht als endzeitliche Bedrängnis, sondern als die mit dem Eintritt in den Ehestand zu gewärtigenden Mühseligkeiten und Beschwernisse (de virgin., 42. 47. 49; Musurillo [SC 125], S. 248. 266/268. 274/276; M G 48, 566. 569 f. 571)! « De virgin., 27 (Musurillo [SC 125], S. 182; M G 48, 552). 48 Ebenda, 34 (204; 557). 49 S. B. Grillet bei Musurillo (SC 125), S. 70: „L'éloge de la virginité supposait la dépréciation de son contraire!" D a ß De virginitate nicht zuletzt als rhetorisches Elaborat zu würdigen ist, lehrt schon der Vergleich mit dem etwa gleichzeitigen Ad Theodor, laps., II, 3 (Dumortier [SC 117], S. 60; M G 47, 312), w o Chrysostomos viel vorbehaltloser stehen lassen kann, d a ß die Ehe etwas „Gutes", ein καλόν, d a ß sie „ehrenhaft" (τίμιος) ist, weil es hier um den drohenden Bruch des Mönchsgelübdes geht, den er als μοιχεία b e k ä m p f t ! Uberhaupt dürfte, was sich schon von der jeweiligen literarischen G a t t u n g her nahelegt, bei den chrysostomischen Frühschriften — nicht nur bei dem Erstlingswerk, dem „Vergleich zwischen König und Mönch" (M. I, 116—121; M G 47, 387—392), das in der T a t ganz den Eindruck macht, als verdanke es einer (von D i o d o r gestellten?) Schulaufgabe seine Entstehung mit dem Ziel, ein christliches Gegenstück zu Piatons Vergleich zwischen Philosoph und T y r a n n im neunten Buch der Sdirift „Über den Staat" zu schaffen (Chr. Baur, I, S. 91), sondern namentlich auch bei dem umfangreichen Werk „Wider die Feinde des Mönchtums" (M. I, 43—115; M G 47, 319—386) — der Anteil der Rhetorik viel höher sein als in den Gelegenheitsreden, Predigtreihen und Briefen der Reife- und Spätzeit. Es ist erstaunlich, wie ein Kenner der Antike wie A. J. Festugière dies hat übersehen und in seinem Buch „Antioche païenne et chrétienne" die teilweise überspannten, ja absurden Urteile und Vorschläge der monastischen Frühschriften des Chrysostomos, besonders von Adv. opp. vit. monast., ohne weiteres f ü r bare Münze nehmen können (s. bes. S. 192 ff. 211 ff.). Wenn dagegen in einigen neueren katholischen Arbeiten — gleichsam entschuldigend — darauf hingewiesen wird, d a ß De virginitate an „Jungfrauen" gerichtet und es darum nur „natürlich" sei, wenn Chrysostomos darin „die Wahl der Lebensweise" lobe, „die sie getroffen haben und die f ü r einen Christen die würdigste ist" (B. Grillet bei Musurillo [SC 125], S. 71; ähnlidi auch J.-M. Leroux, S. 155), so läßt sich dies nicht nur nicht beweisen, sondern wohl auch zwingend widerlegen. E r k l ä r t doch Chrysostomos in der 19. Homilie zum 1. Korintherbrief (Field, II, 227; M G 61, 160): „Wenn wir uns hier nicht länger über den jungfräulichen Stand verbreiten, so soll uns niemand der Nachlässigkeit zeihen; denn wir haben ein ganzes Buch 5*

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Chrysostomos die Vielfalt der Gaben und „ethischen Möglichkeiten" (K. Barth) und ihr Verhältnis zueinander nicht wirklich im Bild des lebendigen Organismus und seiner verschiedenen und doch notwendig einander ergänzenden Teile und „Glieder" (1. Kor. 12,12 ff.) vorzustellen vermag, sondern eher im Bild einer Wertpyramide, deren „hierarchische" Spitze die „Mönchstugenden" der freiwilligen Ehelosigkeit und des Eigentumsverzichtes (άκτημοσύνη) bilden50. Im Laufe der Zeit jedoch „humanisiert" sich seine Einstellung zu Ehe und Ehelosigkeit51. Und zwar macht er wohl nicht einfach aus der Not, daß bei einer gar zu kompromißlosen, rigoristischen Haltung der ethischen Forderung unvermeidlich „enge Grenzen gewiesen" und die Mehrzahl der Menschen „dem Untergang und dem Verderben geweiht" wären 52 , eine Tugend. Vielmehr dürfte diese „Humanisierung" nicht zuletzt eine Frucht seiner seelsorgerlichen Erfahrungen als Großstadtpfarrer und -bischof und eines vertieften Schriftstudiums sein. In jedem Fall betont er nun nachdrücklicher als zuvor, daß die Jungfräulichkeit nicht schon als solche „die Vollkommenheit" sei, sondern ein „Stand" (πολιτεία), eine „Lebensweise" (βίος), „d. h. ein Mittel, das man wählt, zu dem Zweck, am sichersten die Vollkommenheit: πδσαν άρετήν zu erlangen" 53 und am ungehindertsten dem Nächsten nützlich zu sein. Denn wie er nun findet, ist im Gleichnis Jesu Mt. 25,1 ff. nicht zufällig gerade von „Jungfrauen" die Rede! Jesus wolle damit sagen, daß einem selbst der jungfräuliche Stand gar nichts helfe, wenn einem das „ ö l " der Nächstenliebe ausgehe. Die „Krämer" aber, zu denen man „hingehen" und bei denen man das ö l „kaufen" könne, seien „die „Armen". „Und wo finden sich diese? Hier auf Erden!" 54 M. a. W.: wer die Jungfräulichkeit wähle, um frei zu sein für Gott und den Dienst am Nächsten, um ganz und gar „Christo gekreuzigt" zu sein, dann aber die „Muße" nicht dementsprechend nutze, der habe der Ehe aus Mißachtung über diesen Gegenstand verfaßt mit so viel Sorgfalt und Gründlichkeit, wie uns nur möglich war, und hielten es daher für müßig, darauf wieder zurückzukommen. Vielmehr verweisen wir den Hörer (!) auf dies Buch und sagen hier nur so viel, daß es nötig ist, der Enthaltsamkeit nachzustreben." Mag sein, daß sich Chrysostomos auch gescheut hat, Aug' in Auge mit seinem antiochenischen Auditorium einige der Spitzensätze von De virginitate zu wiederholen! Aber daß dies Buch sozusagen nur für den internen monastischen Gebrauch bestimmt gewesen sei und nicht vielmehr auf eine breitere Lesersdiaft gerechnet und dort protreptische Absichten verfolgt habe, wird man nach diesem chrysostomischen Selbstzeugnis wohl nicht behaupten können. 50 Vgl. bes. Adv. opp. vit. monast., III, 5 (M. I, 83 f.; MG 47, 356), aber auch etwa noch in ep. I ad Cor., h. 9 (Field, II, 103 f.; MG 61, 77); anders ebd., h. 30 (Field, II, 370—376; MG 61, 253—258; s. dazu oben S. 58, A. 34). 51 B. Grillet bei Musurillo (SC 125), S. 72. 52 In ep. ad Hebr., h. 7 (Field, VII, 99; MG 63, 67 f.). 53 Chr. Baur, Der Weg der christlichen Vollkommenheit, S. 29. 54 In ev. Mt., h. 78 al. 79, 1 (M. VII, 750—752; MG 58, 711 f.); vgl. in ep. ad Hebr., h. 28 (Field, VII, 326 f.; MG 63, 201 f.).

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e n t s a g t , als w ä r e sie u n r e i n u n d u n h e i l i g 5 5 , u n d w e r d e g e w i ß einst d e n e n nachstehen m ü s s e n , „ d i e sich i m übrigen", i n w e l c h e m S t a n d e auch i m m e r , „durch christliche T u g e n d u n d W e i s h e i t a u s g e z e i c h n e t h a b e n " 5 0 . G l e i c h z e i t i g v e r t i e f t sich, a u d i w e n n C h r y s o s t o m o s z e i t l e b e n s ein „ g r o ß e r L i e b h a b e r " (σφόδρα εραστής) der „ j u n g f r ä u l i c h e n " L e b e n s w e i s e b l e i b t 5 7 , sein V e r s t ä n d n i s f ü r d i e E h e , ihr „ G e h e i m n i s " (μυστήριον) u n d ihren S e g e n : f ü r d i e L i e b e z w i s c h e n d e n Geschlechtern u n d ihr gegenseitiges S i c h - E r g ä n zen58, für die „heiligenden" K r ä f t e , die v o n den einzelnen Ehepartnern u n d F a m i l i e n m i t g l i e d e r n a u f ihre A n g e h ö r i g e n a u s g e h e n k ö n n e n 5 9 , f ü r d e n R e i c h t u m menschlicher E r f a h r u n g e n u n d e i n z i g a r t i g e r „missionarischer" M ö g l i c h k e i t e n , die i n der e n g e n L e b e n s g e m e i n s c h a f t v o n E h e u n d F a m i l i e a n g e l e g t s i n d 6 0 . A u c h k a n n f ü r i h n n u n k e i n e R e d e m e h r d a v o n sein, als sei d i e E h e n o t w e n d i g e i n T u g e n d h i n d e r n i s 6 1 u n d als gebe es s o z u s a g e n v e r schiedene „ K l a s s e n " v o n C h r i s t e n , eine je v e r s c h i e d e n e E t h i k f ü r M ö n c h e u n d f ü r „ W e l t l e u t e " , f ü r „ V o l l k o m m e n e " u n d f ü r Durchschnittschristen. 55

In ep. I ad Tim., h. 14 (Field, VI, 117; MG 62, 573). Ep. II (VIII) ad Olymp., 4 (Malingrey [SC 17], S. 121 f.; MG 52, 559 f.); vgl. ferner in ev. Mt., h. 47 al. 48, 4 (M. VII, 493; MG 58, 486: „ohne die Jungfräulichkeit kann man Gott schauen, ohne die Barmherzigkeit aber nicht!"); h. 78 al. 79, 2 (752 f., 713: „Es gibt nichts Düstereres als Jungfräulichkeit, der das ö l der Nächstenliebe fehlt!"). 57 In ev. Joh., h. 57 al. 56, 3 (M. V i l i , 336; MG 59, 315). 58 Es gibt in dieser Hinsicht Äußerungen des Chrysostomos von einer Zartheit und Einfühlsamkeit, die einen bei einem Asketen und „Liebhaber des jungfräulichen Lebens" wie ihm in Erstaunen versetzen und seinen seelsorgerischen Qualitäten ein glänzendes Zeugnis ausstellen: vgl. nur in ev. Mt., h. 11, 8 (M. VII, 159 f.; MG 57, 202); bes. aber in ep. ad Eph., h. 20 (Field, IV, 306—321; MG 62, 139—150); in ep. ad Col., h. 12 (Field, V, 307—310; MG 62, 387—389); ferner etwa noch in ev. Joh., h. 19 al. 18, 1 (M. V i l i , 110 f.; MG 59, 119 f.); de inani gloria etc., bes. § 10,81 (Exarchos, S. 83); ad vid. iunior. II ( = Περί μονανδρίας), 4 (Β. Grillet — G. Η . Ettlinger [SC 138], S. 180—186; MG 48, 614—616); cat. bapt. (Stauronikita) I, 11—15 (Wenger [SC 50], S. 114—116) sowie die Textzusammenstellung bei R. Flacelière, Amour humain, parole divin. Recueil de textes des Pères de l'Église sur le mariage, Paris 1947, S. 160 f., und Β. Grillet bei Musurillo (SC 125), S. 69, Α. 1, und dazu bes. A. Moulard, S. 170—182; P. Rentinck, S. 251—280, und Th. Zeses. Daß diese Wendung zu einer positiveren Einschätzung der Ehe als Reaktion auf die Gefahr anzusehen wäre, die die ertkratitische Bewegung für die katholische Kirche darstellte (so G. Blond, S. 208 ff.), dafür vermag ich bei Chrysostomos selbst keinen Hinweis zu entdecken. 59 S. dazu unten S. 86, A. 58. 60 Vgl. in ev. Joh., h. 61 al. 60, 3, 4 (M. V i l i , 365—368; MG 59, 340—342); de inan. gloria etc., passim; de Anna, 1 (M. IV, 701—611; MG 54, 631—643); in illud .Vidua eligatur etc.', 6—11 (M. III, 316—321; MG 51, 326—332); de Maccab., bes. or 1 u. 2 (M. II, 623—626. 627. 630; MG 50, 617—622. 625 f.); in ep. ad Eph., h. 21 (Field, IV, 321—327; MG 62, 149—153). 61 S. etwa in ev. Mt., h. 43 al. 44, 5 (M. VII, 466; MG 57, 464); h. 51 al. 52, 5 (M. VII, 617—619; MG 58, 594—596); in ep. ad Phil., h. 13 (12: Field, V, 137 f.; MG 62, 274); in ep. I ad Tim., h. 14 (Field, VI, 117; MG 62, 573); in ep. ad Tit., h. 2 (Field, VI, 276; MG 62, 671); in ep. ad Hebr., h. 33 (Field, VII, 369; MG 63, 227 f.). 58

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Das Charismaverständnis des Joannes Chrysostomos

Demgegenüber erklärt er nun rundheraus: „Wer in der Welt lebt, soll vor den Mönchen nichts voraus haben als allein dies, daß er mit einem Weibe zusammenleben darf; in dieser Hinsicht trifft er auf Nachsicht (συγγνώμη), in allem übrigen jedoch ist er zu demselben verpflichtet wie der Mönch62. Auch sind die Seligpreisungen Christi nicht allein an die Mönche gerichtet. Andernfalls ginge die ganze Welt (οικουμένη) zugrunde, und wir müßten Gott", den „Stifter des Ehestandes" (αυτός δέ τόν γάμον επέτρεψεν), „der Grausamkeit bezichtigen . . . Wie wäre sonst die Ehe als ehrenhaft (τίμιος) zu bezeichnen, wenn sie für uns ein solches Hindernis wäre"? Nein, „es ist möglich, durchaus möglich, auch im Ehestande der Tugend nachzujagen, wenn wir nur wollen. Wie denn? Wenn die, die Frauen haben, sind, als hätten sie keine (Έάν εχοντες γυναίκας, ώς μή εχοντες ώσιν); wenn wir über irgendeinen Besitz uns nicht in Freude verlieren; wenn wir diese Welt brauchen, als gebrauchten wir sie nicht (vgl. 1. Kor. 7,29—31). Wenn aber manche in der Ehe ein Hemmnis entdecken, so mögen sie wissen, daß nicht die Ehe das Hemmnis ist, sondern die eigene Gesinnung und Handlungsweise (προαίρεσις), die von der Ehe einen miserablen Gebrauch macht . . . Führe du nur die Ehe in angemessener Weise (μετά συμμετρίας), so wirst du der Erste im Himmelreich sein und alle Güter genießen . . ." 63 . b) Die Vielfalt des „Charismas der Lehre" Noch „erbaulicher", nützlicher und notwendiger aber als das den Anforderungen der Tugend genau entsprechende Leben (βίος ήκριβωμένος)1, als beispielhaft vorgelebte Weltüberwindung und tätige Nächstenliebe, ist für Chrysostomos das „Wort" der Verkündigung, die „Lehre" 2 , also die Funk62

Πάντα έξ ϊσης τφ μονάζοντι πράττειν αύτόν προσήκε. In ep. ad Hebr., h. 7 (Field, VII, 98 f.; MG 63, 67 f.); vgl. audi ebd., h. 28 (326 f.; 201 f.); h. 30 (341; 210); ferner etwa in ep. II ad Cor., h. 23 (Field, III, 235; MG 61, 553 f.); in ev. Mt., h. 7,7 (M. VII, 116—118; MG 57, 81 f.); in ep. ad Eph., h. 1 (Field, IV, 105 f.; MG 62, 9 f.). Allerdings vertritt Chrysostomos auch bereits in seiner frühen Apologie des Mönditums die Ansicht, daß an das Leben in der Welt dieselben Anforderungen zu stellen seien wie an das des Mönches (adv. opp. vit. monast., III, 14 [M. I, 100—103; MG 47, 372—375]), doch nur, um im selben Atemzuge zu sagen, daß ein Leben der „Philosophie" inmitten der „Welt" praktisch unmöglich sei (ebd. III, 7. 21 u. ö.: 86—88. 114; 359 f. 385). „Solltest du aber unter Hinweis auf die Menge der Stadtbewohner mich beschämen und einschüchtern zu können glauben, weil idi es dodi nicht gut auf mich nehmen könne, die ganze Welt verloren zu geben, so werde idi mich an den Ausspruch Christi halten und midi mit ihm gegen deinen Einspruch zur Wehr setzen . . . ,Eng', spricht er, ,ist die Pforte und schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind es, die ihn finden' (Mt. 7,14). Wenn es aber wenige sind, die ihn finden, so gewiß nodi weniger, die ihn bis zu Ende zu gehen vermögen . . . " (adv. opp. vit. monast., I, 8 [M. I, 55; MG 47, 329 f.])! 1 In ep. I ad Cor., h. 32 (Field, II, 395; MG 61, 270). 2 Vgl. in ep. ad Rom., h. 22 (21: Field, I, 362; MG 60, 604); in ep. I ad Cor., h. 32 63

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tion, die sich nach Paulus genauso wie die „Diakonie" oder die „Gemeindeleitung" in einer Vielfalt von „freien" Charismen realisiert3, zur Zeit des Chrysostomos jedoch wie alle übrigen wesentlichen kirchlichen Funktionen auch längst im institutionellen Amt der Gemeindeleitung monopolisiert schien. Und damit ist die zweite, fast nodi entscheidendere Barriere genannt, die Chrysostomos die Aufnahme des paulinischen Zeugnisses erschweren mußte. Hatte er doch, obwohl anfänglich Mönch, im Dienst des Priesters inmitten der Welt für sich selbst die höhere Berufung erkannt4 und war ihm die hierarchische Verfassung der Kirche anscheinend eine — grundsätzlich — nie in Frage gestellte Selbstverständlichkeit5. So fehlt es denn nicht an Texten, die unzweideutig zu belegen scheinen, daß die von Paulus konstatierte charismatische Vielfalt auch bei Chrysostomos zu dem Antagonismus von „Führen" (αρχειν) und „Geführtwerden" (αρχεσθαι), „Lehren" und „Belehrtwerden", verkümmert ist oder, anders gesagt, daß auch für ihn der „Leib" der Kirche ein Monstrum ist, das statt aus vielen verschiedenen „Gliedern" praktisch nur noch aus zweien besteht: aus dem „Haupt", von dem alle Lebensregungen ausgehen und das Recht und Pflicht hat zu „gebieten", und aus den „Füßen", die dazu da sind, zu „dienen" und zu „gehorchen"6. Bezeichnend scheint in diesem Zusammenhang etwa folgender mißglückter Vergleich aus den Homilien zum I. Timotheusbrief zu sein: „Gleichwie in der Armee nicht alle nach ein und derselben Weise (είδος) kämpfen, sondern in verschiedenen Waffengattungen (τάγματα) Dienst tun, so ist es auch in der Kirche: der eine fungiert (Field, II, 387 f.; M G 61, 265); de sacerdot., II, 4; IV, 3—8 (Nairn, 36. 109—125; M G 48, 636. 665—672); in act. apost., h. 45, 2 (M. IX, 339 f.; M G 60, 316). 8 Vgl. Α. M. Ritter, S. 31 f. 33. 69 f. 227 f. (A. 79). 251 f. (A. 286). 253 f. (A. 296). ' Vgl. de sacerdot., VI, 5—7 (Nairn, 150—154; M G 48, 682—684) und dazu bes. I auf der Maur, S. 116—118. 5 S. etwa in ep. ad Phil., h. 2 (1: Field, V, 8; M G 62, 181 f.); in ep. I ad Tim., h. 13 (Field, VI, 104; M G 62, 565); in ep. ad Tit., h. 2 (Field, VI, 275; M G 62, 671); ferner in ep. I ad Cor., h. 30 (Field, II, 372; M G 61, 254); cum presbyter f u i t ordinatus (M. I, 436—443; M G 48, 693—700); de sacerdot., passim, bes. II, 1, 2 (Nairn, 27 f.; M G 48, 632); vgl. dazu vor allem A. Moulard, S. 117—121; K. D . Mouratides, S. 186 bis 191. 197—202; J. Korbacher, S. 74 f. 76—79. 197 f. sowie unten S. 121 ff. Zu der vor allem zwischen römisch-katholisdien, altkatholisdien und griediisdi-orthodoxen Theologen umstrittenen Frage, ob Chrysostomos ausdrücklich (so etwa noch S. Tromp, S. 180, mit vielen älteren katholischen Forschern) oder ansatzweise (so T. Spacil, S. 355—376, und Chr. Baur, I, S. 289—291) den Rechtsprimat des römischen Bischofs über die Gesamtkirche gelehrt oder ihn wenigstens „irgendwie im Bewußtsein" getragen habe, ihn aber nicht — „vermutlich", um nicht „seinen geliebten Heimatbischof Flavian, der im Gegensatz zu Rom stand", zu „kompromittieren" — deutlich ausgesprochen habe (so J. K o r bacher, S. 77 f.), s. — m. E. abschließend — K. D . Mouratides, S. 224—237, der zu einem eindeutig negativen Ergebnis kommt. ' Vgl. de sacerdot., III, 10 (Nairn, 64 f.; M G 48, 647); in illud .Salutate Priscillam et Aquilam', 2, 5 (M. III, 188; M G 51, 203); in ep. ad Rom., h. 15 (14: Field, I, 229; M G 60, 527); in ep. I ad Cor., h. 30 (Field, II, 368 f.; M G 61, 251 f.); in act. apost., h. 37, 3 (M. I X , 283 f.; M G 60, 265 f.).

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als Lehrer, der andere als Schüler, der dritte als Laie (ιδιώτης), du (schließlich) in deiner Stellung!" 7 Die hier — wohl wider Willen — offenkundig werdende Unfähigkeit, das Bild von der Vielfalt militärischen Dienstes in die Wirklichkeit der Kirche zu übersetzen, scheint in der Tat darauf hinzudeuten, daß sich das „Ordnungsgefüge der Kirche als Ganzes . . . nach Chrysostomos . . . im Großen als ein Gegenüber der Hierarchie und der Laien dar(stellt)" 8 . Dies ist insbesondere audi der Eindruck, der aus der wohl berühmtesten und durch die Jahrhunderte hindurch meistgelesenen chrysostomischen Schrift, den sechs Büchern „Über das Priestertum" (Περί ίερωσύνης), zu gewinnen ist9. Danach scheinen sich für Chrysostomos die vielfältigen kirchlichen Aufgaben, die zu seiner Zeit audi — etwa auf dem Gebiet des Zivilrechts und der öffentlichen Fürsorge — auf den staatlich-bürgerlichen Bereich übergegriffen hatten, dermaßen im Priester- bzw. Bischofsamt zu konzentrieren, daß kaum zu sehen ist, welche Aktivitäten sich daneben noch entfalten könnten. Freilich ist zum Verständnis dieses wohl noch aus seiner Diakonatszeit, d. h. aus den Jahren zwischen 380/381 und 385/386 stammenden Traktats 10 unbedingt erforderlidi, daß man sich dessen Charakter und Zielsetzung deutlich macht. Wie man in der Forschung längst erkannt hat, ohne aus dieser Erkenntnis freilich immer auch die nötigen Konsequenzen zu ziehen, handelt es sich bei ihm sowenig wie bei irgendeinem anderen Chrysostomostext im eigentlichen Sinn um eine Lehrschrift, etwa um eine „Pastoraltheologie". Vielmehr verfolgt Chrysostomos in ihm sichtlich ein viel begrenzteres Ziel, nämlich, wie schon sein Zeitgenosse und Verehrer Isidor von Pelusion gesehen hat, zu zeigen, „wie ehrwürdig und wie überaus schwer zu verwalten das priesterliche Amt" sei. „Johannes, Bischof von Byzanz, jener weise Interpret der göttlichen Mysterien, das Licht der ganzen Kirche, ver7 In ep. I ad Tim., h. 5 (Field, VI, 42; MG 62, 527); vgl. audi de sacerdot., IV, 4 (Nairn, 111 f.; MG 48, 666). 8 J. Korbacher, S. 78. 9 Zeugnisse für die gleichbleibende Wertschätzung dieser Chrysostomosschrift durch die Jahrhundert hindurch, nicht zuletzt auch im Pietismus, wie beispielsweise die sorgfältige und bis zu Beginn dieses Jahrhunderts vielfach nachgedruckte Edition J. A. Bengels (Stuttgart 1725) beweist, finden sich bei A. Naegle im Vorwort seiner Übersetzung (BKV 2 , Bd. 27, 1916), S. 4—6, verzeichnet. 10 Diese Datierung, die sdion von Sokrates (h. e. VI, 3; MG 67, 668 f.) vertreten wurde darf heute als so gut wie allgemein angenommen gelten; vgl. zur älteren Diskussion A. Naegle, BKV 2 , Bd. 27, 1916, S. 3—57, bes. 47 ff. Dort ist (S. 51 ff.) audi das Nötige zu der Erwägung A. Nairns gesagt, der aufgrund einer Stelle in der 5. Homilie „In Oziam" oder „In illud ,Vidi dominum' (Jes. 6, 1)" für eine spätere Ansetzung (387 und später) plädieren zu müssen meinte (Nairn, S. X I I — X V ) . T. Sinkos Vorschlag einer noch späteren Datierung — am wahrscheinlichsten auf das Jahr 404 — (T. Sinko, bes. 544) scheitert sdion daran, daß diese Schrift bereits 392 durch Hieronymus (De vir. ill. 129 [ML 23, 754]) bezeugt ist (R. E. Carter, S. 358, A. 7).

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faßte dies Werk mit so viel Geschick und Akkuratesse, daß die, die das Priesteramt so führen, wie es Gottes Willen entspricht, und die, die es nachlässig verwalten, in ihm ihre Tugenden und ihre Laster porträtiert finden."11 Genauer gesagt tritt Chrysostomos mit dieser Schrift auf den Plan zu einer Zeit, da noch immer wegen des Massenansturms von Taufbewerbern im Gefolge der Anerkennung und Privilegierung des Christentums durch die Reichsgewalt ein akuter Priestermangel bestand, dem man oft nur durch die Weihe von nicht genügend qualifizierten und theologisch ausgebildeten Kandidaten beizukommen vermochte. Ferner füllten sich jetzt die Reihen des höheren und höchsten Klerus auch mit solchen Männern, denen es in erster Linie um die gesellschaftliche Reputation oder aber, weil sie infolge der immer rücksichtsloseren und kurzsichtigeren staatlichen Finanz- und Steuerpolitik in materielle Schwierigkeiten geraten waren, um die mit dem Empfang der höheren Weihen verbundene Steuerimmunität zu tun zu sein schien. Aus diesen und ähnlichen Gründen drohte das theologische und moralische Niveau des Klerus bedenklich abzusinken. Dem sucht Chrysostomos entgegenzuwirken, indem er von der Würde und Bürde des Priesteramts ein Bild entwirft, das dazu geeignet ist, nach Möglichkeit „Unwürdige" von ihm fernzuhalten 12 . Daß dabei die Maßstäbe, die er setzt, so ausfallen, daß ihnen im Grunde niemand mehr zu genügen vermag, ist nicht etwa als Mißgeschick zu verstehen und dem jugendlichen Ubereifer des Verfassers zuzuschreiben, sondern verrät eher den geübten, seine Mittel mit Bedacht einsetzenden antiken Rhetor 13 . Wäre doch nach seinem Dafürhalten schon 11

Isidor. Peius., Ep. lib. I, 156 (MG 78, 288). In dieser Absicht geht Chrysostomos so weit, d a ß er selbst den Gedanken fast völlig unterdrückt, mit dem Gregor von N a z i a n z in seiner „Rechtfertigung seiner Flucht und Rückkehr" (or. 2 [MG 35, 408—513]), die bei der Abfassung von „De sacerdotio" ebenso Pate gestanden haben d ü r f t e wie bei der des Liber regulae pastoralis Papst G r e gors d. Gr. (ML 77, 13—128), seine Rückkehr begründet und somit seiner „Betrachtung über den priesterlichen Beruf" einen versöhnlichen Abschluß gibt. Danach schickt sich Gr. am Ende in die Übernahme des Presbyteramtes aus der Erwägung heraus, d a ß es ebenso verkehrt wäre, eine Würde, die einem nicht angeboten wird, zu erstreben, wie die Berufung in ein kirchliches A m t abzulehnen. „Das eine wäre Verwegenheit, das andere Ungehorsam, beides Torheit", zumal man hoffen dürfe, d a ß „Gott in seiner Güte den Glauben belohnt und denjenigen zu einem vollkommenen Vorsteher bildet, der auf ihn vertraut und all seine H o f f n u n g auf ihn setzt" (MG 35, 509 B). Chr. hingegen läßt den Leser buchstäblich bis auf den allerletzten Satz von „De sacerdotio" ohne einen solchen tröstenden Ausblick! 13 Leider ist die Schrift d a r a u f h i n noch nie einer zusammenhängenden Analyse unterzogen worden. Vielmehr beschränkten sich die bisherigen rhetorischen Studien zu De sacerdotio auf die einzelnen Tropen und Topoi. Natürlich soll nicht, schon gar nicht, bevor einer solche Gesamtanalyse vorliegt, die neben dem rhetorischen Schmuck auch C h a r a k ter, Tendenz und Argumentationsweise im ganzen zum Gegenstand haben müßte, behauptet werden, alles in De sacerdotio sei „rein rhetorisch" und verdiene bei dem Versuch, die „wirkliche Meinung" des Chrysostomos zu erheben, weiter keine Beachtung. Im Gegenteil ist und bleibt diese Schrift, schon wegen ihrer enormen Wirkungsgeschichte, im höchsten Maße beachtenswert. N u r wird man ihre Zielsetzung bei der Würdigung ihrer 12

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viel damit gewonnen, wenn ein jeder „eine solche Scheu vor diesem hohen Amt" empfände, „daß er zunächst vor der schweren Bürde die Flucht ergreift" 14 ! Diese Tendenz dürfte nun auch die Erklärung dafür liefern, daß die Bücher „Über das Priestertum" den Eindruck erwecken, als gleiche das Verhältnis des Priesters zu seinen „Untergebenen" dem des „Vaters" zu seinen noch „ganz unmündigen Kindern"15, daß in ihnen jedenfalls auf die Mitwirkung und Mitverantwortung der Gemeinde, den „freien", charismatischen Zeugendienst, wenig Wert gelegt zu werden scheint, ja daß darüber, genau genommen, mit keinem Wort etwas verlautet 16 . Anscheinend war ihr Verfasser der Meinung, daß sie durch eine Betonung der Wechselbeziehung und Wechselwirkung zwischen Amt und Gemeinde an „abschreckender" oder richtiger wohl heilsam beunruhigender Wirkung einbüßten, daß das priesterliche Amt aus seiner einsamen, schier unerreichbaren Höhe in den Augen der Leser wieder auf ein Normalmaß zurücksänke und verunklärt würde, daß die, die sich zum Dienst des Priesters berufen fühlen, „über die gewöhnliche menschliche Tüchtigkeit bei weitem herausragen" müssen17. Unbestreitbar ist zumindest, daß Chrysostomos in dieser Schrift keineswegs alles gesagt hat, was er über Amt und Gemeinde und die in ihr wirksamen Charismen zu sagen weiß. Auf gar keinen Fall ist es seine Meinung, als bedeute die Gegenüberstellung von „Hierarchie" und Laienschaft, wie sie hier — freilich nicht nur hier! — das Kirchenbild zu beherrschen scheint, die Verabsolutierung des Amtes. Vielmehr spricht er es andernorts oft genug Einzelaussagen nie aus dem Auge verlieren und auf eine Gegenprobe anhand von Aussagen nicht nur aus späteren, sondern auch aus ganz anderen literarischen Gattungen angehörigen Chrysostomosschriften keinesfalls verzichten dürfen. 14 De sacerdot., III, 10 (Nairn, 65; MG 48, 647). Danach dürfte auch der literarisch-fiktive Charakter der historisch-biographischen Einleitung und Einkleidung des — meisterlich in Dialogform komponierten — Werkes, nach der Chrysostomos in seiner Jugend das Bischofsamt zugedacht bekommen, ihm sich jedoch durch die Flucht entzogen und dann einem Freund, Basileios mit Namen, im Gespräch die Gründe für diesen seinen Schritt im einzelnen dargelegt haben will, vollends wahrscheinlich sein (vgl. dazu wiederum vor allem A. Naegle, BKV 2 , Bd. 27, 1916, S. 6—47). 15 De sacerdot., V, 4 (Nairn; MG 48, 674). 16 Man fühlt sich an die aus heutigen Mitbestimmungsdiskussionen sattsam bekannte Klage darüber, wie anstrengend die Demokratie sei, erinnert, wenn Chrysostomos auf die Frage, ob wirklich der Bischof alles selbst erledigen müsse, antwortet, es sei in der Tat „viel vorteilhafter für ihn, wenn er alles selbst besorgt und sich so von Vorwürfen freihält, die er andernfalls um der Versehen anderer willen auf sich nehmen müßte . . . Zudem wird der, der diese Angelegenheiten in eigener Person erledigt, mit allem sehr leidit fertig, wer aber, um das Gleiche zu erreichen, erst die Ansichten anderer zu beeinflussen sich bemüßigt fühlt, findet dadurch, daß er sich einer Arbeit entledigt, nicht sowohl Erleichterung als vielmehr Verdrießlichkeiten und Aufregungen seitens derer, die ihm entgegenhandeln und seine eigene Meinung bekämpfen" (ebd., III, 17 [Nairn, 91 f.; MG 48, 658])! 17 Ebd., IV, 2 (Nairn, 109; MG 48, 665).

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aus, daß „jeder des Nächsten bedarf" 1 8 : die „Lehrer" und „Vorsteher" der „Schüler" und „Untertanen" nicht minder als umgekehrt die Laien der Amtsträger, die ja „um ihretwillen überhaupt da" sind, daß „niemand, auf sich gestellt" (καθ' εαυτόν), so viel vermag wie die „Gesamtheit der Gliedschaft der Kirche" (tò κοινόν της Εκκλησίας) und die Amtsträger darum — wie Paulus (2. Kor. 1,11) — auf die Fürbitte und Mitverantwortung der ihnen Anbefohlenen angewiesen sind 19 . Heißt es doch, wie er findet, nicht von ungefähr: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen" (Mt. 18,20) 20 . Wie Christus uns auch nicht umsonst zu beten lehrt: „Vater unser . . ." 21 , und der Friedensgruß in der Liturgie aus gutem Grund eben lautet: „Friede sei mit allen" (Ειρήνη πασιν) 22 . Das alles will ständig im Bewußtsein festhalten, daß Gott „den Vorteil eines jeden dem Nächsten anvertraut hat (τό εκάστφ συμφέρον τω πλησίον εδωκεν), auf daß wir einander nachgehen (κατατρέχωμεν) und keine Trennung unter uns herrsche" 23 . Wie er die „großen" und „wichtigen" Charismen „nicht allen gleichermaßen, sondern dem einen dies, dem andern jenes verlieh, so tat er es audi mit den geringeren, indem er auch sie nicht allen gewährte. Dies tat er, um dadurch Eintracht und Liebe zu fördern, damit ein jeder, weil er seines Nächsten bedarf, sich mit dem Bruder vereine" 24 . Auch trifft es nach Chrysostomos ebenso wie auf unseren Leib, so auch auf den „Leib Christi", die Kirche zu, daß für sie die Vielfalt der „Glieder" konstitutiv ist. Erweist doch bereits ihr Name „Εκκλησία", ein Name, der an eine „Menge", ein „organisches" Ganzes, einen „bereits festgefügten Zusammenschluß" vieler denken läßt (όνομα πλήθους . . . , ώς τα πολλά, . . . 18

In ep. I ad Cor., h. 32 (Field, II, 390; MG 61, 267); h. 34 (427—430; MG 61, 291—294); in ep. II ad Cor., h. 17 (Field, III, 188—190; MG 61, 520 f.); in ep. II ad Tim., h. 7 (Field, VI, 222 f.; MG 62, 637). Ein Ausdruck dieses Aufeinanderangewiesenseins aller Glieder des Leibes der Kirche, wenn auch natürlich nicht der tiefste und wesentlichste, ist für Chrysostomos, daß die Prediger von Gott „nicht bedürfnislos gemacht", sondern auf den Unterhalt durch die Gemeinden angewiesen sind (in ep. ad Phil., h. 10 [9: Field, V, 109; MG 62, 254 f.]); vgl. zum folgenden auch etwa P. Rentinck, S. 235—250. 19 In act. apost., h. 37, 3 (M. IX, 283 f.; MG 60, 265 f.); vgl. homiliae 9 in Genesin, h. 2, 1 (M. IX, 651 f.; MG 54, 587); in ep. II ad Cor., h. 2 (Field, III, 17—20; MG 61, 396 f.); in ep. ad Phil., h. 4 (3: Field, V, 29 f.; MG 62, 198 f.); in ep. I ad Thess., h. 11 (Field, V, 435; MG 62, 463 f.); in ep. II ad Thess., h. 4 (Field, V, 478—483; MG 62, 490—492); in ep. ad Tit., h. 1 (Field, VI, 270; MG 62, 667 f.). 20 In ep. II ad Thess., h. 4 (Field, V, 481; MG 62, 491). 21 In ep. ad Eph., h. 14 (Field, IV, 251 f.; MG 62, 104); in ev. Mt., h. 19, 4. 7 (M. VII, 249 f. 255; MG 57, 278 f. 283). 22 In ep. ad Col., h. 3 (Field, V, 207 f.; MG 62, 322 f.). 23 In ep. I ad Cor., h. 33 (Field, II, 410; MG 61, 280); vgl. audi in ep. II ad Thess., h. 5 (Field, V, 492—496; MG 62, 498—500). 21 In ep. I ad Cor., h. 32 (Field, II, 390; MG 61, 267).

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και συστήματος ήδη συγκεκροτημένου)25 und die Assoziation von „Ubereinstimmung" und „Eintracht" hervorruft (συμφωνίας όνομα και ομονοίας!)26, den „gliedschaftlichen", den Gemeinschaftscharakter als zum Wesensbild der Kirche gehörig27. Gäbe es nun aber, bemerkt er im Anschluß an 1. Kor. 12,19.20, unter den „Gliedern" der Kirche nicht eine „vielfältige Differenzierung" (πολλή ή διαφορά), so bildeten sie auch keinen „Leib". Wären sie kein Leib, so wären sie auch nicht eins. Wären sie nicht eins, so wären sie auch nicht gleicher Ehre teilhaftig (ισότιμοι)28. 25

In ep. I ad Thess., h. 1 (Field, V, 314; MG 62, 393); vgl. auch hom. ante exsil. hab. (M. III, 411—417; MG 52, 427—430). 20 In ep. ad Gal. comm., I, 3 (Field, IV, 8; MG 61, 616). 27 Ähnliche Assoziationen sind für Chrysostomos audi mit dem traditionsreichen Bild der Kirche als der „gemeinsamen Mutter unser aller" (vgl. dazu bes. J. C. Plumpe, Mater Ecclesia) verbunden: s. ad pop. antiochen., 6, 1 (Μ. II, 73; MG 49, 81); cat. bapt. (Montfaucon) I, 1 (Μ. II, 225 f.; MG 49, 224); in inscript, act., 2, 1 (M. III, 60—62; MG 51, 77 f.), wobei für ihn die „Mütterlichkeit" der Kirche konkret wird besonders im Trostamt der Prediger (ad pop. antiochen., 10, 1 [M. II, 105 f.; MG 49, 111]). Im übrigen kann er die Kirche definieren als auf dem Bekenntnis Petri (Mt. 16,18 f.), dem „Glauben", „erbaut" (in ev. Joh., h. 21 al. 20, 1 [M. VIII, 120; MG 59, 128]; in demissionem Chanaan., 1 [M. III, 431—433; MG 52, 449]; in ev. Mt., h. 54 al. 55, 2 [M. VII, 547 f.; MG 58, 534]), als durch das Verheißungswort Christi (Mt. 16,18; 18,20; 28,20) gegründet und „gesichert", welches, da es Gottes άπόφασις sei, nicht „ungültig" (άκυρος) gemacht werden könne (in inscript, act., 2, 1 [M. III, 60—62; MG 51, 77 f. 79]; hom. de capt. Eutrop., 1 [M. III, 386 f.; MG 52, 397]; hom. ante exsil. hab. [M. III, 411—417; MG 52, 427—430]), als aus der „Seite Christi" (vgl. Joh. 19,34) wie Eva aus der „Seite" Adams entstanden, d. h. als durch Taufe und Eucharistie („Wasser"—„Blut") ins Leben gerufen und am Leben erhalten (in ev. Joh., h. 85 al. 84, 3 [M. V i l i , 507 f.; MG 59, 463]; cat. bapt. [Stauronikita] III, 16—22 [Wenger, SC 50, S. 160—164]). Eben dieser „heilsnotwendigen" Funktionen wegen kann er schließlich audi sagen, daß es „die Ordinationen" (zum priesterlichen Amt der Sakramentspendung) seien, „die die Kirche allermeist in ihrem Bestand erhalten" (δ μάλιστα συνέχει τήν Έκκλησίαν), weshalb bei ihnen besondere Umsicht, vielfältige δοκιμασία und έξετασις geboten sei (in ep. I ad Tim., h. 16 [Field, VI, 141; MG 62, 587]). Das aber rechtfertigt wohl nicht die Behauptung der beiden Katholiken S. Tromp und J. Korbacher, Chrysostomos habe „bisweilen die Kirche mit der Hierarchie identifiziert" (J. Korbacher, S. 78) bzw. die Priester seien für ihn „gleichsam die Kirche selbst" (S. Tromp, S. 179). Auch geht aus der einzigen Stelle, die sie selbst zur Stützung dieser Behauptung namhaft machen (in ev. Mt., h. 60 al. 61, 2 [M. VII, 607; MG 58, 586]: Έ ά ν δέ και τούτων παρακούστ), είπέ τχ) Έκκλησί^· τουτέστι τοις προεδρεύουσιν), nichts dergleichen, sondern allein dies hervor, daß für Chrysostomos die Mt. 18,17.18 der έκκλησία zugeschriebene Binde- und Lösegewalt — „natürlich", möchte man fast sagen — den Priestern zukommt. 28 In ep. I ad Cor., h. 30 (Field, II, 370; MG 61, 257); zur Kirche als dem „einen σώμα" s. auch etwa in ev. Joh., h. 65 al. 64, 1 (M. V i l i , 390; MG 59, 361 f.); in ep. ad Gal. comm., VI, 2 (Field, IV, 92; MG 61, 674 f.: „Wie bei einem Gebäude nicht alle Steine denselben Platz [εδρα] einnehmen, sondern der eine wohl zum Eckstein taugt, aber nimmermehr zum Fundamentstein . . . , so ist es auch beim σώμα der Kirche. Selbst bei unserem Fleisch [σάρξ] kann man die gleiche Wahrnehmung machen; und doch erträgt eines das andere, und nicht von allen Gliedern verlangen wir alles. Denn nur der Beitrag, den die Gesamtheit leistet, konstituiert den Leib wie den Bau [ Ό γαρ έκ τοΰ

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Gewiß haben sich, wie Chrysostomos einräumt, von der charismatischen Fülle und Mannigfaltigkeit zur Zeit der Apostel vielfach nur noch „Wahrzeichen" (σύμβολα), „Spuren" (σημεία) und mehr oder minder dunkle „Erinnerungen" (υπομνήματα) erhalten 29 , ja, gleicht die Kirche einer ehemals wohlhabenden, nun aber verarmten Frau, die nur noch die „Symbole" ihres einstigen Reichtums, Schmuckkästchen und Schränke, herzeigen kann, der Schätze selbst aber weithin verlustig gegangen ist 30 . Gewiß gibt es — heute wie einst — innerhalb der Gliedschaft der Kirche ein Mehr und ein Weniger an besonderen Gnadengaben 31 . D o d i ist audi heute keiner ohne jedes „Talent", ein Talent, mit dem es zu „wuchern", das es zumindest — durch die „Gewinnung" wenigstens eines anderen Menschen — zu „verdoppeln" gilt (Mt. 25,14—30). Denn wie er immer wieder mit dem größten Nachdruck einschärft, vermag der schwerlich „gerettet" zu werden, „der sich gar nicht um das Heil des Nächsten kümmert" 32 . Ist doch das für ihn der entscheidende „Maßstab vollkommenen Christentums, das dessen exakte Definition und höchste, durch nichts zu überbietende Verwirklichung: zu suchen, was dem Wohl der Gemeinschaft dient" 33 . Hören wir, wie Chrysostomos dies näher ausführt, ehe wir unsre Schlüsse ziehen. So heißt es etwa in der Auslegung des Gleichnisses von den „anvertrauten Pfunden" in der 78. Homilie zum Matthäusevangelium: „Unter den ,Talenten' ist hier die Fähigkeit (δύναμις) eines jeden zu verstehen, sei es zum Beistandleisten (προστασία), zum Almosengeben, zum Belehren (δικοινοϋ γινόμενος έρανος, καί σώμα και ο'ικοδομήν συνίσταται]"!); in ep. ad Eph., h. 3 (Field, IV, 129; MG 62, 26: „ . . . wenn wir nicht viele Glieder sind, der eine Hand, der andere Fuß, der dritte wieder ein anderes Glied, so kommt nidit der ganze Leib zu seiner Vollendung. Durch alle zusammen also wird erst sein Leib vollendet . . . " ) ; h. 10 (207 f.; 75 f.); h. 20 (305 f.; 139); in ep. ad Col., h. 3 (Field, V, 203 f.; MG 62, 319 f.). a » In ep. I ad Cor., h. 36 (Field, II, 458; MG 61, 312); vgl. audi in ep. ad Rom., h. 15 (14: Field, I, 241; MG 60, 533). 30 In ep. I ad Cor., h. 36 (Field, II, 458; MG 61, 312). Chrysostomos leitet damit — nach dem bekannten Sdiema „Einst-Jezt" — zur moralisdi-paränetischen „Nutzanwendung" über. Freilich ist audi sonst sein Urteil über die tatsächliche innere Verfassung der Kirche seiner Zeit und speziell auch seiner eigenen Gemeinden nicht eben optimistisch (vgl. nur in ep. ad Eph., h. 6 [Field, IV, 163—165; MG 62, 47 f.]; in ep. II ad Cor., h. 27 (Field, IV, 284—286; MG 61, 588—590: Faktisch gleicht die Kirche eher als dem aus vielen lebendigen Gliedern bestehenden Leib einem Leichnam, aus dem eben das Leben entwichen ist [σώμα νεκρωθέν προσφάτως] : Augen, Hände etc. sind noch zu sehen, aber keines der Glieder versieht mehr seinen Dienst!). Um so beachtlicher, daß er, statt in Kleinmütigkeit zu versinken oder — das „Bild" einfach „niedriger" zu hängen, sich immer wieder an der paulinischen Ekklesiologie aus- und aufgerichtet hat! 31 In ep. ad Eph., h. 11 (Field, IV, 215 f. 221; MG 62, 81. 84). 38 De sacerdot., VI, 10 (Nairn, 159; MG 48, 686). 33 In ep. I ad Cor., h. 25 (Field, II, 302; MG 61, 208: Τοΰτο κανών Χριστιανισμού του τελειοτάτου, τοΰτο δρος ήκριβωμένος, αΰτη ή κορυφή ή άνωτάτω, τό τα κοινή συμφέροντα ζητείν); vgl. auch ebd., h. 36 (454; 310: Ό ρ φ ς του Χριστιανισμού την κρηπίδα καί τον κανόνα; "Ωσπερ γάρ τεχνίτου έργον τό οίκοδομεΐν, οΰτω καί τοΰ Χριστιανού τό τους πλησίον δια πάντων ώφελεϊν).

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δασκαλία) oder zu irgendeinem anderen derartigen Werk. Sage keiner: Ich habe (nur) ein Talent erhalten und kann deshalb nichts leisten. Auch mit einem Talent kannst du Gutes tun. Du bist gewiß nicht ärmer als jene Witwe (Mk. 12,41—44), nicht ungebildeter als Petrus und Johannes, die einfache und ungebildete Leute waren und dennoch den Himmel gewannen, weil sie eben Eifer zeigten und alles, was in ihren Kräften stand, für das Wohl des Nächsten einsetzten . . . Dazu hat uns Gott nämlich die Sprache, Hände, Füße, Leibeskraft, Vernunft und Verstand verliehen, damit wir alle diese Gaben zum eigenen Heil wie zu Nutz und Frommen des Mitmenschen gebrauchen. Unsere Sprache dient uns nicht nur dazu, Hymnen zu singen und Dank zu sagen, sondern ist auch zur Belehrung und Ermahnung geeignet. Gebrauchen wir sie zu diesem Zweck, so ahmen wir den Herrn nach, sonst aber den Teufel (vgl. Mt. 4,1—II)." 3 4 Oder er gibt in seinen Homilien zum 1. Korintherbrief unter Aufnahme des paulinischen Gedankens von der „Haushalterschaft" des Christen „über die Geheimnisse Gottes" (1. Kor. 4,1 f.), dazu folgende Erläuterung: Wenn Paulus hier von „Haushaltern" (οικονόμοι) spricht, so tut er dies, um anzuzeigen, daß man die göttlichen Geheimnisse nicht allen unterschiedslos anvertrauen darf, sondern nur denen, denen es gebührt und die der Haushalterschaft „würdig" sind. Mit der vom „Haushalter" erforderten „Treue" aber ist gemeint, daß er, „was dem Herrn gehört, nicht sich selbst anmaßen und als das Seine gebrauchen darf", sondern das ihm Anvertraute gut zu verwalten hat. „Das möge ein jeder bedenken, sowohl der, der die Gabe des Wortes besitzt (δ λόγον εχων), als auch der, der reich ist an Geld, daß ihm nämlich das Gut des Herrn anvertraut ist, daß er es nicht als sein eigen behalten, noch sich selbst zuschreiben darf, sondern Gott, der ihm ja alles gegeben . . . Nichts ist nämlich dein eigen, nicht das Geld, nicht die Redegabe (λόγος), nicht einmal deine Seele; denn auch diese gehört dem Herrn. Wenn es daher die Not erheischt, so gib auch diese hin . . . Bist du zu einer hohen Würde, zu einem kirchlichen Amt (αρχή εκκλησιαστική) gelangt, so sei nicht stolz darauf; denn nicht du hast dir diese Ehrenstellung (δόξα) erworben, sondern Gott hat dich damit bekleidet (ένέδυσεν). Gehe also behutsam damit um als mit einem fremden Gut . . . Sei nicht undankbar in 34 In ev. Mt., h. 78 al. 79, 3 (M. VII, 754 f.; MG 58, 714 f.); vgl. auch in ep. I ad Cor., h. 5 (Field, II, 56; MG 61, 46 f.: Solche Reden wollen wir nun „nicht nur unter uns, sondern auch mit anderen führen. Wähne nicht, weil du ein Handwerker seiest, gehe dich solche Beschäftigung [μελέτη] nidits an. Denn audi Paulus war ein Handwerker . . . ,Aber er erfreute sich dodi', wendet einer vielleicht ein, ,auch damals schon einer großen Gnade, und aus deren Fülle redete er alles.' Allein, er saß, noch ehe er diese Gnade empfing, zu Füßen des Gamaliel . . .", womit Chrysostomos wohl den Ort bezeichnen will, an dem auch jetzt in erster Linie der Geist empfangen werden und das Charisma aufbrechen kann: die Predigt, das Hören des Wortes Gottes); homiliae 67 in Genesin, h. 41, 1. 2 (M. IV, 411—414; MG 53, 375—377: Die Besitzer der Talente = οί τον λόγον της διδασκαλίας δεχόμενοι!).

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bezug auf die Güter des Herrn, sondern teile sie unter deine Mitknechte aus; erhebe dich nicht über sie, als wären sie (diese Güter) dein Eigentum, und sei nicht sparsam bei ihrer Verteilung . . . Wir sind Fremdlinge und Beisassen. Denn alles Mein und Dein sind nichts als leere Worte . . . Laßt uns also Dank sagen, daß wir gewürdigt wurden, zu diesem Werk etwas beizutragen (ύπηρετήσαι τω πράγματι)." 35 Eingehender ist von der Vielfalt des charismatischen Zeugendienstes, und zwar wiederum in Anlehnung an das Gleichnis von den „anvertrauten Pfunden", in einer der Homilien zum Hebräerbrief, wohl der letzten Predigtserie des Chrysostomos 86 , die Rede, wo es gegen Ende der 30. Homilie zu der Mahnung Hebr. 12,15.16 heißt: „Siehst du, wie er (,Paulus') allenthalben einem jeden das Heil der Gesamtheit in die H ä n d e legt (έκάστω τήν κοινήν εγχειρίζει σωτηρίαν)? .Ermähnt', heißt es, ,einander alle Tage, solange es heute heißt' (Hebr. 3,13). Bürdet darum nicht alles den (amtlich bestallten) Lehrern, nicht alles den Vorstehern (ήγούμενοι) auf; audi ihr, meint Paulus, vermögt einander zu erbauen (άλλήλους οίκοδομεϊν) . . . Dazu ermuntern wir auch jetzt. Ihr könnt unter einander, wenn ihr wollt, sogar noch mehr ausrichten als wir (eure Vorsteher und Lehrer); denn ihr seid öfter beisammen und kennt einer des anderen Verhältnisse besser als wir; audi bleiben euch die gegenseitigen Verfehlungen nicht unbekannt, und ihr habt mehr Freimut, mehr Liebe einer gegenüber dem anderen und seid einander mehr vertraut. Das aber sind wahrlich nicht geringzuschätzende Voraussetzungen f ü r eine (heilsame) Belehrung (ού μικρά δέ ταϋτα είς διδασκαλίαν) . . . Darum ermahne ich euch: vernachlässigt nicht dies Charisma (μή αμελείτε του χαρίσματος τούτου: vgl. 1. Tim. 4,14!). Jeder hat ja entweder ein Weib oder einen Freund, einen Diener oder einen Nachbar. Diesen vermahne er, den ermuntere er . . . Und zum besseren Verständnis wisse: Der, der die fünf Talente empfing, ist der Lehrer, und der das eine empfing, der Schüler (der Laienchrist). Wenn nun der Schüler spräche: Ich bin Schüler und laufe keine Gefahr, und vergrübe (sein Talent, nämlich) das Redevermögen (λόγος), das er von Gott erhielt, weil es ihn gewöhnlich und zu nichts nütze dünkte, und ermunterte weder, noch redete er frei heraus, 55

In ep. I ad Cor., h. 10 (Field, II, 113—115; MG 61, 84 f.). M. von Bonsdorff, S. 101—117; anders I. Opelt, nach der die betr. Homilien vor 393 gehalten sein müssen, weil Chr. darin an einer bislang übersehenen Stelle (h. 14, 4) an eine „bei den Olympischen Spielen geübte Verhaltensregel" erinnere; das aber sei nicht möglich, „nachdem Kaiser Theodosius die Olympischen Spiele offiziell verboten hat, also nicht nach dem Jahre 393" (I. Opelt, S. 67). Dodi beruht die diesbezügliche Nachricht des byzantinischen Historikers Kedrenos mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf einem Irrtum. Ich verweise nur auf des Palladlos Chrysostomosvita (16, 54: ed. Coleman-Norton, S. 96), der die Abhaltung der Spiele für das Jahr 404 bezeugt; vgl. auch G. Downey, S. 439 ff. Andererseits erzwingen namentlich die in den Hebräerhomilien enthaltenen Hinweise darauf, daß der Prediger das Bischofsamt innehabe, in der Tat die Ansetzung auf die Konstantinopler Zeit. 3β

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überführte nicht und tadelte nicht, wo er könnte, sondern vergrübe es in der Erde — denn Erde und Asche ist in Wahrheit ein Herz, das Gottes Charisma verbirgt37 —, sei es aus Faulheit oder Böswilligkeit, so hülfe ihm die Ausrede nichts: Ich habe nur ein Talent empfangen. Denn du besaßest ein Talent und solltest (wenigstens) eins dazugewinnen und es so verdoppeln. Hättest du (nur) eines hinzugewonnen, so träfe dich keine Schuld; denn zu dem, der zwei gewonnen hatte, sprach der Herr nicht: Warum hast du nicht fünf gewonnen? Vielmehr erhielt er denselben Lohn wie der, der fünf (Talente) hinzugewonnen hatte. Und warum? Weil er so viel gewann, als er besaß ("Οτι δσον είχεν είργάσατο). Und er wurde nicht darum, weil er weniger empfing als der, dem die fünf Talente anvertraut wurden, leichtsinnig und nahm nicht die geringere Zahl zum Anlaß, träge zu werden . . . Wenn dem, der Reichtümer besitzt und nicht davon mitteilt, Bestrafung droht, wie sollte nicht den, der in irgendeiner Weise (zum Guten) ermahnen könnte, es aber nicht tut, die schlimmste Strafe ereilen? Dort wird der Leib ernährt; hier aber die Seele. Dort wehrst du dem zeitlichen, hier aber dem ewigen Tod. Aber ich habe keine Redegabe (λόγος) erhalten, sagst du? Nun, es bedarf gar keiner (besonderen) Redegabe und keiner Zungenfertigkeit (εύγλωττία)." Wichtig ist nur, daß wir Geduld miteinander haben, dem andern Freund und Bruder sind, statt den „Vollkommenen" und Lehrmeister zu spielen! „ ,Einer trage des andern Last', heißt es, ,so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen' (Gal. 6,2). So also können wir, indem wir einander zurechtweisen und tragen, die Erbauung (des Leibes Christi) vollführen. Uns (den kirchlichen Lehrern) werdet ihr auf diese Weise die Last (πόνος) leicht machen, indem ihr euch in allem unserer annehmt (συλλαμβανόμενοι) und uns die Hand bietet und Teilhaber und Genossen sowohl des Heils der andern als audi des eigenen Heiles werdet. Harren wir also aus und tragen wir einer des anderen Last und helfen einander zurecht.. ."38 37

γή γάρ δντως έστί καΐ σποδός καρδία tò χάρισμα του ΰεοϋ κατακρύπτουσα. In ep. ad Hebr., h. 30 (Field, VII, 342—345; MG 63, 210—214); vgl. auch ebd., h. 3 (42—44; 34 f.: Gott richtet alles zu unserem Besten ein, was man auch in der Kirche wahrnehmen kann. „Denn der eine besitzt die Lehrgabe [λόγος διδασκαλικός], der andere hingegen ist nicht imstande, auch nur den Mund aufzumachen. Niemand betrübe sich deswegen, denn ,jedem wird die Versichtbarung des Geistes zum Nutzen zuteil'! . . . Sage nicht, warum habe ich nicht das Lehrcharisma erhalten [χάρισμα διδασκαλικόν]? Oder: wenn ich es besäße, so würde ich Unzählige erbauen. Du weißt nicht, wenn du es besäßest, ob es dir nicht zum Gericht sein würde, ob nicht Mißgunst oder Trägheit dich dahin bringen würde, das Talent zu vergraben . . . Übrigens bist du audi jetzt nicht ganz ohne dies Charisma [ουδέ νΰν έκτος εΐ του χαρίσματος]. Zeige im kleinen, wie du dich verhalten würdest, wenn du jenes Charisma [in vollem Umfang] besäßest . . . Zeige, daß du dich deiner Worte bedienst, wie es sich ziemt, indem du aufmunterst und Rat erteilst. Du bist nicht im Besitz der weltlichen Beredsamkeit [εύγλωττία ή εξωθε-ν] ? Du leidest an Gedankenarmut? Nun, so weißt du dodi, was alle wissen [müßten: άλλ' ομως ταΰτα τα κοινά οιδες] . . . Wenn du auch nicht in der Kirche einen großen Vortrag zu halten vermagst, so kannst du doch in deinem persönlichen Lebensbereich [Ιδίςι] heilsame Mahnungen erteilen . . . Grübeln wir also nicht über Gottes Rat38

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Weitere Möglichkeiten, wie dieser von allen erwartete Zeugendienst konkret werden könnte, deutet Chrysostomos in der nächsten, der 31. seiner Hebräerhomilien mit den Worten an: Halte mir nicht entgegen, du seist zu arm und habest nichts mitzuteilen; „mag deine Armut auch nodi so groß sein, so hast du doch (wie die Witwe von Mk. 12,41 ff. wenigstens) zwei Pfennige (λεπτά): zwei Füße, um Kranke zu besuchen und in die Gefängnisse zu gehen . . ." 39 . Den Kommentar hierzu liefern die 59. und vor allem die 60. Homilie aus der etwa zehn Jahre früher, in Antiocheia, gehaltenen Predigtreihe zum Johannesevangelium 40 , in denen auch ein grelles Licht auf die Trostlosigkeit der Verhältnisse fällt, denen die Gefangenen, Schuldige wie schuldlos Verdächtigte, damals ausgeliefert waren. Dagegen finden sich in einer der Homilien zum 1. Korintherbrief zur Mitverantwortung eines jeden f ü r die Mission der Kirche an den „Ungläubigen", mit denen man damals ja noch weithin, zumal in einer Großstadt wie Antiocheia 41 , tagtäglichen Umgang hatte, folgende bemerkenswerten Ausführungen: „So also (d. h.wehrlos, statt auf weltliche, menschliche Weisheit wie die Apostel gestützt allein auf die „ K r a f t Gottes") wollen wir sie (die Heiden) bekämpfen und überwinden; aber mehr noch als durch Worte laßt sie uns durch unseren Lebenswandel (βίος) schlagen (καταπληξώμεθα). Denn das ist der . . . unwiderlegliche Beweis (συλλογισμός ό αναντίρρητος), der (Beweis) der T a t . . . Richte du dich zunächst nach deinen eigenen Worten, und dann ermahne andere!" Laßt uns also die Heiden nicht zuletzt durch unsern Lebenswandel „fangen" (θηρώσωμεν) „und durch ihre Seelen die Kirche auferbauen (οίκοδομώμεν) . . . ; denn wer dies tut, der wird Paulus, der Petrus ähnlich (κατά Παΰλον γίνεται και Πέτρον). Es ist durchaus möglich, ihnen (Petrus und Paulus) im Verkündigungsdienst nachzufolgen (άναδέξασθαι τό εκείνων κήρυγμα), auch ohne sich in dieselben Gefahren zu begeben . . . ; denn es ist jetzt friedliche Zeit . . . Wir können zu Hause sitzen und doch diesem Fischfang (άλεία) nachgehen. H a t jemand einen Freund, einen Verwandten, einen Hausgenossen, der rede, der handle so, und er wird Petrus und Paulus ähnlich sein. Ja, was sage idi Petrus und Paulus; er wird ein Mund Christi sein! Denn ,wenn du Edles und nicht Gemeines (aus deinem Mund) hervorgehen läßt, so sollst du mir als Mund dienen' (Jer. 15,19). Und wenn du ihn heute nicht überzeugst, so wirst du ihn morgen überzeugen. Und wenn du ihn gar nicht überzeugen kannst, so wirst du doch vollkommenen Lohn erhalten. Und wenn du auch nicht alle gewinnst, so wirst du doch aus den vielen wenigstens einige überschluß, sondern bewahren wir treu, was er uns verliehen, und wäre es audi gering . . . ; in Wahrheit ist freilich keine der göttlichen Gaben [δωρεαί] gering . . ."). 39 Ebenda, h. 31 (Field, VII, 354; MG 63, 218). 40 In ev. Joh., h. 59 al. 58, 4 (M. V i l i , 350 f.; MG 59, 327 f.); h. 60 al. 59, 4—6 (356—361; 332—336). Zum Datum s. M. von Bonsdorff, S. 25—31 (vermutlich 391). 41 S. unten S. 87, Α. 61. 6

Ritter, Charisma

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zeugen können; denn audi die Apostel haben nicht alle bekehrt (επεισαν), aber sie haben sich mit ihrem Zeugnis an alle gewandt und haben auch für alle den Lohn empfangen. Denn Gott pflegt die Siegeskronen zu bestimmen nicht nach dem Erfolg (τέλος) unsrer Bemühungen, sondern nach der Absicht (γνώμη), die uns dabei leitet. Hast du auch nur zwei Pfennige geopfert, so nimmt er auch diese an, und wie bei jener Witwe (Mk. 12,41 fF.), so verfährt er bei denen, die da lehren (και επί των διδασκόντων). Da du also nicht die ganze Welt zu gewinnen vermagst, so verachte nicht die wenigen und entziehe dich nicht dem Geringen aus Begierde nach dem Großen. Kannst du nicht für hundert sorgen, so sorge für zehn, und kannst du nicht für zehn sorgen, so verschmähe nicht fünf; und kannst du nicht fünf gewinnen, so verachte auch den einen nicht. Und kannst du selbst den einen nicht retten, so laß den Mut nicht sinken und es an deiner Mitwirkung nicht fehlen . . . Denn wenn wir das Geringe nicht verschmähen, so werden wir auch das Größere erlangen . . . So wird jeder reich, wer das Geringe wie, wer das Große sammelt.. ."42. Freilich kann die Mitverantwortung für die Mission der Kirche noch auf andere Weise wahrgenommen werden, etwa so, wie es Chrysostomos in einer seiner Predigten zur Apostelgeschichte den in Konstantinopel ansässigen Besitzern von Latifundien in noch ganz oder überwiegend heidnischen Gegenden des Reichs ans Herz legt: Sie möchten nicht versäumen, sich audi um das Seelenheil derer zu kümmern, die dort als Sklaven, Tagelöhner oder Verwalter für sie arbeiten. D. h. konkret, sie möchten „eine Kirche errichten, einen Lehrer (Priester) herbeischaffen, auf daß er das Werk mit auf sich nehme (διδάσκαλου λαμβάνειν προς τό σ υ ν αίρεσθαι)"; kurzum, sie sollten vor allem darauf sehen, „daß alle Christen seien", statt immer nur daran zu denken, wie sie den wirtschaftlichen Nutzen ihrer Besitztümer zu steigern vermöchten. „Darum bitte ich", schließt der bischöfliche Prediger hier sehr charakteristisch, „(darum) flehe ich (sie an), begehre idi (von ihnen) die Gnade, mache es (ihnen) vielmehr auch zum Gesetz (μάλλον δέ και νόμον τίθημι)", daß hinfort keine Länderei (χωρίον) mehr ohne Kirche sei43. Vorbildlicher aber findet er wohl das Verhalten jener Bauern aus der Umgebung Antiocheias, die sich dort gelegentlich, wohl geschäftehalber, einfanden und nicht versäumten, an dem von ihm geleiteten Gottesdienst teilzunehmen. Chrysostomos belohnt sie dafür mit einer überaus wohlgelungenen, wiewohl extemporierten Eloge, von der sie selbst freilich in ihrer Mehrzahl wenig hatten, da sie anscheinend zumeist nur des Syrischen 42 In ep. I ad Cor., h. sostomos gerade audi im vor Aufdringlichkeit und 290 f.; MG 62, M. 376 f.)! 43 In acta apost., h. 18,

3 (Field, II, 29—31; MG 61, 28—30). Freilich warnt ChryUmgang mit heidnischen Freunden und Bekannten dringend mangelnder Diskretion: in ep. ad Col., h. 11 (Field., V, 4. 5. (M. IX, 149—152; MG 60, 146—150 [Zitat: 149, 147]).

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mächtig waren! Er lobt darin ihre bescheidene und fromme Lebensart, frei aller Ziigellosigkeiten verweichlichter Stadtleute, die nicht zuletzt ihrem mühevoll — arbeitsamen Leben zu verdanken sei. „Sie haben", meint der Prediger, „am Ackerbau eine Schule der Tugend und Bescheidenheit", an der τέχνη, „die Gott als erste der Künste in unser Leben einführte" (vgl. Gen 2,15). — Man fühlt sich unwillkürlich an Vergils berühmtes „Lob des Landlebens" erinnert, in dem der Topos von der Poesie des bäuerlichländlichen Daseins seine klassische Gestalt gefunden hat 4 4 . Doch dann folgt eine Bemerkung, die uns hier vor allem interessiert: „An jedem dieser Landleute kannst du sehen, wie er bald die Ackerochsen anspannt, den Pflug führt und eine tiefe Furche zieht, bald aber das heilige βήμα (d. h. die Terrasse vor dem Altarraum) betritt und die Seelen seiner Untertanen beackert, wie er bald mit der H i p p e (δρεπάνη) die Disteln auf dem Feld ausrottet, bald aber durch seine Unterweisung (λόγος) die Sünden aus den Seelen tilgt (έκκαθαίρων)." 45 Oder wie es in einer anderen Predigt, in der offenbar ein ähnlicher Besuch begrüßt wird, heißt: „Sie (die heute anwesenden Leute vom Land) haben es sich wahrlich von Paulus gesagt sein lassen: ,Wir mühen uns ab, indem wir arbeiten mit unseren eigenen Händen' (1. Kor. 4,12). Und wiederum: ,Diese H ä n d e da haben meinen eigenen Bedürfnissen wie denen meiner Begleiter gedient' (Apg. 20,34). Indem sie dies werktätig zu befolgen trachten, reden sie eine Sprache, die beredter ist als Reden (allein zu sein vermöchten) . . . Jeden unter diesen Männern kannst du abwechselnd am heiligen βήμα stehen, die göttlichen Gesetze verlesen, seine Untergebenen gründlich unterweisen (έκπαιδευοντα) und dann wieder dem Ackerboden seine Sorgfalt und Mühen zuwenden sehen; einmal spannt er sich vor den Pflug, reißt die Erde auf, streut entlang den Furchen die Samenkörner aus und vertraut sie dem Schoß der Erde an, ein anderes Mal nimmt er stattdessen den Pflug der Unterweisung (διδασκαλία) in die H a n d und hinterlegt in den Seelen der von ihm Unterwiesenen den Samen der göttlichen Wissenschaften (μαθήματα)." 46 44 Vergil, Georg. II, 458—540. Vgl. den Kommentar von W. Richter, Vergil. Geórgica, Das Wort der Antike, V, 1957, S. 250—260, mit weiterer Literatur; dazu etwa nodi die Dissertation von R. Visdier, Das einfache Leben. Wort- und motivgeschichtliche Untersuchungen zu einem Wertbegriff der antiken Literatur ( = Studienhefte zur Altertumswissenschaft, H . 11), 1965. Zur Geschichte dieses Topos und seinem Fortwirken in der europäischen Literatur vor allem des Mittelalters s. E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, S. 189 ff. („Die Ideallandschaft"). " Ad pop. antiochen., 19, 1 (M. II, 188—191; MG 49, 188—190). " Cat. bapt. (Stauronikita) VIII, 1—6 (Wenger [SC 50], S. 247—251). D a ß es sich bei diesen „Philosophen" vom Lande um Mönche handelte und nicht ebenso wie in der 19. „Säulenhomilie" (s. die vorige Anm.) um asketisch lebende Bauern (so A. Wenger [SC 50], S. 60—63; S. 247, A. 1. 3; S. 248, A. 1; S. 249, A. 2; S. 250, A. 1; ebenso P. W. Harkins, ACW 31, S. 280—282, A. 1. 4), ist durch nichts zu beweisen. Nicht nur fehlt jede spezifisch monastische Terminologie, sondern es wäre auch für altkirchliche Ver-

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Das Charismaverständnis des Joannes Chrysostomos

Halten wir hier zunächst inne und ziehen wir eine Zwischenbilanz, so ist einmal als Ergebnis zu buchen, daß nach Chrysostomos „jeder zur οικοδομή" der Kirche als des Leibes Christi „beiträgt, jeder bei deren Vollendung mithilft (Eph. 4,12), jeder dient"47, was bei ihm sowenig wie bei Paulus „im Sinne der statistischen Nachweisbarkeit" 48 , wohl aber in dem der „Berufung" und Bestimmung jedes Christen gemeint ist. Und zwar gründet diese Berufung in der Taufe, dem Sakrament der „Salbung" und „Versiegelung" zum Priester-, König- und Prophetentum aller Christen49, und wird in der Verkündigung immer aufs neue aktualisiert. Hier wird, wie Chrysostomos sagen kann, immer wieder ein „Talent" hinterlegt, mit dem es zu „wuchern" gilt, von dem Gott „Zinsen" einfordert dergestalt, daß man sich um die „Rettung" der „Brüder" bemüht50. Zum anderen entnimmt Chrysostomos zwar dem Neuen Testament, daß die „Austeilung der Charismen nicht blindlings (ούχ . . . απλώς)" erfolge 51 , „sondern der eine mehr, der andere weniger" empfange, „nicht aufgrund hältnisse vollkommen ungewöhnlich, wenn von „ύπήκοοι" von Mönchen gesprochen werden könnte. Dagegen werden „Philosophie" und „engelgleiches Leben" (cat. bapt. VIII, 4; ad pop. antiochen., 19, 1) auch sonst bei Chrysostomos selbst „von Christen in der Welt ausgesagt« (I. auf der Maur, S. 72, Α. 1, mit Belegen); vgl. nur cat. bapt. (Stauronikita) II, 27 (Wenger [SC 50], S. 148 f.); ad Eph., h. 1 (Field, IV, 115; MG 62, 16: „laßt uns einen engelgleichen Wandel, engelgleiche Tugend und engelgleiches Verhalten an den Tag legen [άγγελικόν βίον έπιδειξώμεθα, άγγελικήν άρετήν και πολιτείαν] "). Nicht besser ist es mit der Annahme D. Attwaters bestellt, es habe sich bei den fraglichen Besuchern um „country clergy" (S. 55), also um „Amtsbrüder" und Standesgenossen des Chrysostomos gehandelt. Hätte es sich dieser aber leisten können, das mit keinem Wort zu erwähnen? Und ist es Zufall, daß von kultischen Funktionen der hier Angeredeten nichts verlautet? 47 In ep. ad Eph., h. 11 (Field, IV, 216. 218; MG 62, 81. 83); vgl. auch h. 21 (329 f.; 154 f.); in ev. Mt., h. 77 al. 78, 3. 4 (M. VII, 745—747; MG 58, 706 f.); h. 78 al. 79, 2. 3 (752—755; 712—715). 48 M. Lauterburg, S. 19. 48 Vgl. in ep. II ad Cor., h. 3 (Field, III, 41—43; MG 61, 411 f.). Allerdings ist hier der Gedanke des „allgemeinen" Priestertums weitgehend privatisiert und moralisiert (vgl. A. M. Ritter, S. 88. 261 f.). Doch wird man diese Stelle zusammenhalten müssen mit den übrigen Aussagen des Chrysostomos über Taufe und göttliche κλήσις (s. oben S. 40 f. 49—53). s » Homiliae 67 in Genesin, h. 41, 1. 2 (M. IV, 411—414; MG 53, 375—377: Gott fordert von denen, die als „Empfänger des λόγος της διδασκαλίας" ein „Talent" anvertraut erhielten, Zinsen. Vernachlässigen wir also weder unser eigenes Heil noch das der Brüder); in illud ,Si esurierit inimicus etc.', 1. 2 (M. III, 157—159; MG 51, 173 f.); de util. lect. script. ( = in princ. act. 3), 1 (M. III, 71 f.; MG 51, 88: Der aus der Schrift genährte Glaube — Quelle der Charismen!); adv. lud., 8, 9 (M. I, 687 f.; MG 48, 941 f.: Der Prediger hat seine Worte als Talent bei seinen Hörern hinterlegt; den Zins sollen sie Gott darbringen in der Rettung ihrer Brüder. — Ob freilich in diesem Fall mit dem von Chrysostomos „hinterlegten" Wort ein „irrender Bruder", ein Ίουδαΐζων, geschweige denn ein Jude zu „gewinnen" war, kann mit Fug bezweifelt werden!); in ep. I ad Cor., h. 5 (Field, II, 56; MG 61, 46 f.). 51 In ep. ad Eph., h. 11 (Field, IV, 218; MG 62, 82).

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seines eigenen Verdienstes" — hätte doch in diesem Fall „keiner erhalten, was er wirklich erhalten hat"! —, „sondern um der andern willen, wie Gott es eben zugemessen hat"52, daß das „Charisma des Wortes und der Lehre"53 so wenig wie die anderen besonderen Charismen etwa allen gleichmäßig, sondern in erster Linie denen zuteil werde, die Gott selbst „der Kirche . . . zu Hirten und Lehrern bestellt" hat (Eph. 4,11), also den „Vorstehern", Bischöfen und Presbytern54. Dennoch versteht er diese Bindung der „Lehr"Funktion an die bestallten Amtsträger der Kirche nicht exklusiv. Vielmehr versucht er, den paulinischen Gedanken der Vielfalt auch in der Gestaltung der „Lehre", des missionarischen Zeugnisses wie der brüderlichen Paraklese und Paränese, zumindest in der Weise festzuhalten, daß er sagt, kein Glaubender müsse ganz ohne dies „Charisma der Lehre" (χάρισμα διδασκαλικόν) auskommen55, sondern es könne und solle ein jeder die ihm verliehene Gabe der Sprache „auch zur Belehrung und Ermahnung" gebrauchen56. Ohne Frage denkt er dabei, vor allem, was die Frauen anlangt (1. Kor. 14,34.35; 1. Tim. 2,12!), weniger an das „Lehren in der öffentlichen Versammlung, das allerdings nur den (bestallten) Lehrern" der Kirche zukomme 57 , als vielmehr an einen Zeugendienst im privaten 52

Ebenda (Field, IV, 216; MG 62, 81). In ev. Mt., h. 78 al. 79, 3 (M. VII, 754; MG 58, 714). 54 Zum Bischofs- und Presbyteramt als „Lehramt" vgl. nur einerseits de sacerdot., IV, 3—9; V, 1—8 (Nairn, 109—139; MG 48, 665—678), wo unter dem „Priester" wie wohl durchgängig in De sacerdotio der Bischof zu verstehen ist, andererseits die Rede, die Chrysostomos unmittelbar nach seiner Presbyteratsweihe im Jahre 385/386 gehalten hat (M. I, 436—443; MG 48, 693—700) sowie etwa noch in act. apost., h. 37, 3 (M. IX, 283 f.; MG 60, 265 f.); h. 44, 3 (334; 311: Aufgabe des Priesters ist es, „zu verkündigen, zu predigen, zu lehren, nichts zu unterschlagen, Tag und Nacht zu ermahnen . . ."). Daß die „Vorsteher", denen nach Chrysostomos das Charisma der διδασκαλία in der Charismentafel 1. Kor. 12,28 zuzuordnen ist (s. in ep. I ad Cor., h. 32 [Field, II, 387; MG 61, 265]), auch die Erben des prophetischen Charismas seien, ist in ep. I ad Cor., h. 36 (458; 312) angedeutet; wie Chrysostomos überhaupt eine gewisse Konzentration der Charismen im Amt schon im Neuen Testament selbst präfiguriert findet, so, wenn er es wiederholt als exegetische Erkenntnis bucht, daß der Apostolat „alle Charismen in sich begriffen" habe (s. oben S. 38, A. 19), oder meint, in Rom. 12,7.8 das Charisma der Paraklese als eine „eigene Form" der Lehrgabe (διδασκαλίας είδος) und diese wiederum als Funktion und „Äußerung" des Vorsteheramtes (προστασία . . . δια της διδασκαλίας) verstehen zu sollen (in ep. ad Rom., h. 22 [21: Field, I, 361. 362; MG 60, 603. 604]). Dagegen habe das Erbe des aus Rom. 8,26.27 und 1. Kor. 14,15 ff. zu erschließenden und mit der Glossolalie zwar verwandten, aber nicht identischen χάρισμα εύχής der Diakonat angetreten (in ep. ad Bom., h. 15 [14: 240 f.; 533]; in ep. I ad Cor., h. 35 [Field, II, 440; MG 61, 300]). " In ep. ad Hebr., h. 3 (Field, VII, 43; MG 63, 34: so oben S. 80, Α. 38); vgl. dagegen S. Tromp, S. 186: „sie Christus suppediat Spiritum suum omnibus organis et membris Ecclesiae, fidelibus caritatem, doctoribus charismata doctrinae . . . " . Doch sagt dies Chrysostomos so nirgends. 56 S. oben S. 78, A. 34. « In ep. ad Rom., h. 32 (31: Field, I, 474 f.; MG 60, 669); in ep. I ad Thess., h. 10 (Field, V, 421; MG 62, 455 f.: Paulus fordert die Gläubigen auf, einander zu erbauen, 53

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Bereich, in Familie, Nachbarschaft, Berufs- und Erwerbsleben58, speziell audi an die christliche Erziehung und biblische Unterweisung der Kinder, zu der sich in seinen Schriften höchst bemerkenswerte Überlegungen und und schickt sogleich die Mahnung zur Anerkennung der Lehrer [1. Thess. 5,11—13] hinterher, „damit sie nicht meinen, er übertrage ihnen die Würde offiziell bestallter Lehrer [τό των διδασκάλων αξίωμα] . . . " ! ) ; de laud. s. Pauli Apost., 7 (M. II, 514 f.; MG 50, 511); exp. in Ps. 109,1 (M. V, 250; MG 55, 265: . . . οίίτε ιερεύς ó λαός γέγονεν, οΰτε τα ετερα τα ε'ιρημένα όυνηϋείη ποτέ αύτφ άρμόσαι . . . ) . Vgl. immerhin in act. apost., h. 18, 4 (M. IX, 149—152; MG 60, 146—150: s. oben S. 82, Α. 43); cat. bapt. (Stauronikita) VIII, 1—6 (Wenger [SC 50], S. 247—251) und ad pop. antiochen., 19, 1 (M. II, 188—191; MG 49, 188—190). Man hat sich die an den beiden letztgenannten Stellen vorausgesetzte Situation wohl so vorzustellen, daß diese Bauern zwar über eine Kirche (s. die Erwähnung des ιερόν βήμα), aber nicht über einen eigenen Priester verfügten und so die Aufgabe der Belehrung und Unterweisung ihrer Familienangehörigen und ihres Gesindes selbst in die Hand genommen hatten, während sie zur Feier der Eucharistie und zur Vornahme der Taufe einen Priester von auswärts kommen ließen oder eine Nachbarkirche aufsuchten. — Uberhaupt aber ist Chrysostomos, aufs ganze gesehen, auffallend frei von allem ängstlichen Insistieren auf den Privilegien des Klerus, wie etwa auch aus folgendem Passus einer seiner letzten Schriften, des im Exil in Kukusos geschriebenen Traktats „Über die göttliche Vorsehung", hervorgeht: „Wenn du einen solchen Reichtum, einen solchen Gewinn, eine solche der Kirche zugeführte Beute siehst, so viele (in ihr) hinterlegte Schätze (an Bekennermut und Duldersinn): Menschen, die früher den Mut haben sinken lassen, nun aber feuriger sind als Feuer, die zuvor nicht aus den Theatern zu verscheuchen waren, nun aber in die Einöden hinausziehen und Waldschluchten und Berge (Einsamkeiten) zur Kirche machen, Sdiafe, die, weil sonst niemand da ist, der die Herde führte, die Funktion (τάξις) der Hirten übernehmen, und Soldaten, die in die Stellung des Heerführers einrücken um ihres Freimuts (παφφησία) und ihrer Mannhaftigkeit willen, und alle feiern die Gottesdienste mit der gehörigen Inbrunst, Beflissenheit und Sorgfalt, (και πάντας μετά της προσηκούσης θερμότητος, σπουδής, έμμελείας, τάς συνάξεις έπιτελοΰντας), bist du da nicht betroffen und verwundert darüber, wieviel dies (sc. der lebendige Glaube an die göttliche Providenz) zuwege gebracht hat?" (de prov. Dei, 19: Malingrey [SC 79], S. 240; MG 52, 520). Mit Recht sieht die Herausgeberin A.-M. Malingrey darin eine Anspielung auch auf die Verfolgung der Chrysostomosanhänger („Johanniten") nach seiner endgültigen Verbannung aus Konstantinopel und verweist auf den Bericht bei Sozomenos, h. e. VIII, 24 (GCS 50, 281—283). Was aber für uns vor allem wichtig ist, ist die Tatsache, daß dieser Stelle zufolge für Chrysostomos im Notfall eine vollgültige σύναξις gefeiert werden kann auch ohne Priester! 58 In ep. ad Rom., h. 1 (vulgo argumentum: Field, I, 6; MG 60, 394); h. 32 (31: 474 f.; 669); de sacerdot., IV, 8 (Nairn, 124; MG 48, 671); in illud .Salutate Priscillam et Aquilam' 1, 3. 4 (M. III, 176 f.; MG 51, 192: Unterscheidung zwischen διδασκαλία έν τω βήματι, έν κοινφ bzw. κατά τον ίερωσύνης λόγον und dem lÔ'm παραινείν und συμβουλεύειν. Aber: die Pflicht zum Zeugnis umgreift άρχοντες wie αρχόμενοι, Ιερείς wie των λαϊκών την τάξιν εχοντες!); vgl. auch in ep. ad Rom., h. 21 (20: Field, I, 351 f.; MG 60, 597); h. 30 (29: 459 f.; 660 f.); in ep. ad Eph., h. 21 (Field, IV, 329 f.; MG 62, 154 f.); in ep. II ad Thess., h. 5 (Field, V, 492—496; MG 62, 498—500: „ . . . so groß ist die Macht der [beispielhaft vorgelebten] Tugend, daß oft schon ein Knecht auf seinen Herrn und sein ganzes Haus den heilsamsten Einfluß ausgeübt hat . . . Teilt euch also, idi bitte euch, mit mir in dieses Amt [Διανείμασθε προς έμέ, παρακαλώ, ταύτην την διακονίαν]. Ich rede zu euch allen; ihr aber könnt zu jedem einzelnen sprechen, und so sei einem jeden das Heil des Nächsten anvertraut [καΐ έκαστος έγχειριζέσθω

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Vorschläge finden . Doch ist auch diesem „nichtamtlichen" und den der offiziell bestallten „Lehrer" ergänzenden und vertiefenden Dienst, wie Chrysostomos etwa am Beispiel der Maria aufzeigt, deren Paulus gegen Ende des Römerbriefes gedenkt (Rom. 16,6), die volle Würde der „Apostel- und Evangelistenarbeit", des (missionarischen) „Sich-Mühens (κοπιδν) um die Verbreitung der Wahrheit" zuzuerkennen60, zumal er damit rechnet, daß viele seiner Hörer tagtäglichen Umgang mit Heiden oder Juden haben oder gar in ihren eigenen Häusern mit „Ungläubigen" zusammenleben61, daß also die Grundsituation der urchristlichen „Familienmission" weithin noch immer gegeben ist. Schließlich ist nicht zu verkennen, daß das Zeugnis, zu dem alle lebendigen „Glieder" am „Leib Christi" aufgerufen sind und das, wie Chrysostomos wohl begriffen und seinen Hörern gegenüber nicht verschwiegen hat, niemals nur in Worten bestehen kann, sondern vor allem auch in tätiger Solidarität und Brüderlichkeit Gestalt gewinnen muß 62 , bei ihm eine την σωτηρίαν των πλησίον]". Es gilt nicht nur, dem kirchlichen Lehrer die Last zu erleichtern, sondern audi, d a ß aus den „Schülern" alsbald selbst „Lehrer" werden, wozu insbesondere dem Hausvater ein weites Betätigungsfeld gegeben ist. Wie das H a u p t des Leibes, so zeichne sich auch der H a u s v a t e r gegenüber den Seinen eher durch seine πρόνοια als durch seine „Ehrenstellung" [τιμή] aus. E r selbst h a t den größten Gewinn davon. „Denn um nur eins zu nennen: Wer einen anderen belehrt, bleibt davon selbst nicht ungerührt [έν τω λέγειν κατανύσσεται], zumal wenn er Fehler rügt, deren er sich selbst schuldig weiß!") vgl. dazu vor allem S. Tromp, S. 321—372 („De Actione C a t h o lica in Corpore Christi"), bes. 329 ff., sowie K. D . Mouratides, S. 208—215, und A. Moulard, S. 191—194. 59 Vgl. insbesondere „Über H o f f a r t und Kindererziehung" (Περί κενοδοξίας" κα'ι οπως δει τούς γονέας άνατρέφειν τ ά τέκνα), zu deren Erwägungen und Vorschlägen in der Ausgabe von Β. K. Exarchos eine Fülle von Parallelen im übrigen Corpus Chrysostomicum notiert ist, so d a ß sich das Bild kaum wesentlich verändern und die Bedeutung des Chrysostomos f ü r die Geschichte der Pädagogik (vgl. dazu vor allem Η . I. Marrou, S. 456 u. ö.) k a u m mindern würde, wenn man Zweifel an der Echtheit von D e inani gloria etc. hegen sollte (zur Geschichte und zum gegenwärtigen Stand der Debatte über dies Problem s. die Einleitung von B. K. Exarchos, S. 9—26), wozu aber m. E. kein zwingender A n l a ß gegeben ist. Hinzuweisen ist besonders auf die eindrucksvollen Muster einer Kinderkatechese, § 8, 39—46 (Exarchos, S. 58—62). 60 In ep. ad Rom., h. 32 (31 : Field, I, 474 f.; M G 60, 669). 61 Vgl. homiliae 67 in Genesin, h. 40, 4 (M. IV, 409 f.; M G 53, 374); in ev. Mt., h. 46 al. 47, 2 (M. V I I , 483 f.; M G 58, 478 f.); h. 59 al. 60, 5 (602; 581: „ . . . Es k o m m t vor, d a ß wir eher mit Heiden und Juden Freundschaft schließen als mit den Kindern der Kirche"); in ev. Joh., h. 21 al. 20, 3 (M. V i l i , 124 f.; M G 59, 132); in ep. ad Rom., h. 27 (26: Field, I, 525—530; M G 60, 642 f.); in ep. ad Col., h. 11 (Field, V, 290 f.; M G 62, 376 f.); in ep. I ad Tim., h. 10 (Field, VI, 81 f.; M G 62, 551); vgl. auch in ev. Mt., h. 43 al. 44, 5 (M. V I I , 465 f.; M G 57, 463 f.); homiliae 67 in Genesin, h. 3, 4 (M. IV, 18 f.; M G 53, 36 f.) und dazu I. auf der Maur, S. 134, A. 4, mit weiteren Belegen. 62 D a dies fast in allen zuvor zitierten Texten eigens betont wird, erübrigen sich hier die Belege. A m bündigsten kommt die Auffassung des Chrysostomos vielleicht in folgendem Zitat aus der 10. Homilie zum I. Timotheusbrief zum Ausdruck (Field, VI, 81;

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etwas einseitige Ziel- und Stoßrichtung bekommt, sofern es allzu sehr auf das „Missionarische", das „Christuszeugnis" im engeren Sinne beschränkt bleibt und nicht ebenso den Gehorsam inmitten der Welt umschließt (Rom. 12,1.2) 63 . M. a. W. hat Chrysostomos, worauf auch Luthers oben zitierter Einwand im Grunde bereits abzielte64, von Paulus — oder wenigstens unserem modernen Paulusverständnis! — aus geurteilt, nicht genügend ernst genommen, daß Christus Kosmokrator ist, daß Gott „nicht nur als der Erlöser, sondern audi als der Welterhalter unseren Gehorsam" fordert 65 . Allerdings ergeben die im voraufgehenden vorgeführten und analysierten Texte in dieser Hinsicht kein ganz vollständiges Bild. In Wahrheit hat nämlich Chrysostomos durch all die Jahre seiner Wirksamkeit als Presbyter und Bischof hindurch so beständig, eindringlich und unerschrocken wie kaum ein anderer altkirchlicher Theologe zu den Fragen der sozialen Gerechtigkeit Stellung bezogen, so daß man in ihm gar einen Vorläufer sozialistischer Ideen hat sehen wollen 66 . So hat er beispielsweise die „Herrschaft des Menschen über den Menschen", wie man heute sagen würde, speziell die Sklaverei, nicht etwa als „Schöpfungsordnung" glorifiziert, sondern unverblümt als Sünde oder vielmehr als Sündenfolge bezeichnet, die aus Habsucht, Neid und Unersättlichkeit geboren sei67. Und nicht nur das. Sondern er hat MG 62, 554): „Es bedürfte keiner Worte, wenn unser Leben eine solche Strahlkraft hätte; es bedürfte keiner Lehrer, wenn wir Taten vorzuweisen hätten. Es gäbe keine Heiden mehr, wenn wir wirklich Christen wären (Ουδείς αν ήν "Ελλην, εί ήμεΐς ήμεν Χριστιανοί, ώς δει): wenn wir daran festhielten, was Christi Willen und Art entspricht..."! 63 S. dazu bes. E. Käsemann, Gottesdienst im Alltag der Welt. 95 " S. oben S. 64. E. Sdilink, S. 235. «· So vor allem Th. Sommerlad, S. 148 u. ö.; R. von Pöhlmann, Bd. 2, S. 476 f. 484 ff. 488 ff.; K. Farner, Christentum und Eigentum, S. 80; ders., Theologie des Kommunismus?, S. 56 ff. Sachgemäßer dürfte es jedoch gewesen sein, wenn ihn Dante Alighieri im 12. Gesang seines „Paradiso" zwischen den Propheten Nathan auf der einen und Anselm von Canterbury auf der anderen Seite einordnete, wobei Dante wohl an Anselms entschiedenes Eintreten gegen die Sklaverei dachte, unter dessen Führung eine Synode von Westminster den Menschenhandel untersagte (D. Attwater, S. 69). 87 Vgl. insbesondere homiliae 9 in Genesin, h. 4 (M. IV, 658—664; MG 54, 593—598, Thema: „Daß die Sünde drei Arten von Knechtschaft eingeführt hat . . D a n a c h gibt es nur eine Form der Über- und Unterordnung, die nicht Sündenfolge, sondern in der Ordnung der Natur selbst begründet ist, die „Herrschaft" der Eltern über ihre Kinder. Grund: „Wie dich die Eltern geboren haben, so kannst du sie nicht gebären"); h. 5 (664 bis 670; 599—604: Drei Knechtschaften — die Unterjochung der Frau unter den Mann anstelle der ursprünglich ihr zugedachten „Gehilfenschaft", die Sklaverei und schließlich die Zwangsherrschaft des Staates, die Chrysostomos, was ein bezeichnendes Licht auf seine Staatsauffassung und -erfahrung wirft, als die drückendste Knechtschaft empfindet [s. dazu St. Verosta, bes. S. 238 fF. 341 ff.]. Diese Sündenfolgen sind für ihn „in Christus" nicht einfach aus der Welt geschafft, wohl aber für den „Tugendhaften" letztlich wesenlos geworden und durch die von Christus verheißenen Heilsgüter reichlich aufgewogen); ferner in ep. I ad Cor., h. 40 (Field, II, 515—517; MG 61, 353 f.: Danach

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auch gelegentlich konkret dazu auffordern können, seine Sklaven, wenn anders man sie wirklich liebe „wie sich selbst", in eine handwerkliche Lehre zu geben oder ihnen eine andere Ausbildung zuteil werden zu lassen, die ihnen erlaube, auf eigenen Füßen zu stehen, und sie dann freizulassen68. Schließlich hat er sich zu den Fragen des Eigentums in einem Sinne äußern können, als hielte er Eigentum schlechthin für „Diebstahl" 69 . Dodi ist dies nur die spektakuläre Seite seines sozialen Engagements. Die andere, für ihn wohl nodi charakteristischere Seite ist, daß er sich in seinen Predigten bei jeder sich bietenden Gelegenheit zum Anwalt und Bittsteller des „armen Christus" (Mt. 25,31—45) gemacht hat, um auf diese Weise die Verantwortung für die sozial Deklassierten bei seinen Hörern wachzurufen und wachzuhalten70. Freilich sind es auch hier eher „Mönchsgedanken", die ihn leiten, als daß es ihm um das „Bauen und Bewahren" (Gen. 2.15) der dem Menschen anvertrauten „Welt" als solcher ginge. Doch war der We/iaspekt und Weltbezug des Glaubens eine im Christentum wohl schon zu lange verschüttete wurde seine Attacke gegen die Sklaverei seitens seiner Zuhörer mit solchen Unmutsäußerungen quittiert, daß Chrysostomos erschrocken abbrach — „Doch ich sehe, idi bin im Begriff, Euren Unwillen zu erregen" — „like a preacher who should in Detroit or Birmingham advocate before a well-to-do congregation the abolition o f the industrial — capitalist system on the ground that it is evil in its origins as well as in its results" [ D . Attwater, S. 7 0 ] ! ) ; in ep. ad Eph., h. 22 (Field, I V , 3 3 3 — 3 3 5 ; M G 62, 157 f . ) ; in ep. I ad Tim., h. 16 (Field, V I , 1 4 2 — 1 4 6 ; M G 62, 5 8 8 — 5 9 0 ) ; in ep. ad Tit., h. 4 (Field, V I , 2 9 9 — 3 0 3 ; M G 62, 6 8 5 — 6 8 8 ) ; in ep. ad Philem., h. 1 (Field, V I , 330; M G 62, 705); h. 2 ( 3 4 0 — 3 4 5 ; 7 1 1 — 7 1 4 ) ; de terrae motu et de Lazaro, 6, 7 (M. I, 7 8 4 ; M G 48, 1038 f.). 6 8 In ep. I ad Cor., h. 40 (Field, II, 5 1 6 ; M G 61, 354). 6 9 S. bes. in ep. I ad Tim., h. 12 (Field, V I , 9 0 — 1 0 2 ; M G 62, 5 6 1 — 5 6 4 ) . 7 0 Von ihm selbst gilt, was er an Paulus rühmt: daß er überall hierauf die Rede bringe und regelmäßig mit der Aufforderung zur tätigen Nächstenschaft seinen übrigen Mahnungen gleichsam die Krone aufsetze (De eleemos., 1: M. I I I , 2 4 9 ; M G 51, 2 6 2 ) ; vgl. auch unten S. 106 f. — Wenn O . Plassmann in seiner Untersuchung über das Almosen bei Chrysostomos u. a. zu dem Ergebnis kommt, das Almosen sei hier als „eine Art der Askese" verstanden „und somit nicht auf den Nächsten, sondern auf die Vervollkommnung der eigenen Person gerichtet" (S. 96), oder, anders gesagt, es komme Chr. „nicht darauf an, daß dem Armen geholfen werde, sondern darauf, daß der Reiche seine Tugend bewähre" (S. 97), so dürfte dies so ziemlich das schlimmste Mißverständnis sein, das sich denken l ä ß t ! Wie hier, aber audi an anderen Punkten kräftige Korrekturen an dem von PI. gezeichneten Bild anzubringen wären, so wäre es m. E. auch eine lohnende Aufgabe und zugleich von einigem aktuellem Interesse, die sozialen Ideen des Chrysostomos insgesamt nach ihren Motiven wie ihren Konsequenzen einer sorgfältigen A n a lyse zu unterziehen und sich dabei einerseits heutige soziologische und sozialgeschichtliche Erkenntnisse zu nutze zu machen, andererseits darauf zu achten, welche Einflüsse sich bei ihm geltend machen, inwieweit zum Beispiel antik-kommunistische Vorstellungen bei ihm nachwirken, wie sie sich im Ideal der „Isonomia" verdichtet haben; vgl. einstweilen vor allem Th. Sommerlad, S. 1 4 2 — 1 6 5 ; E. F. Bruck, Kirchenväter und soziales Erbrecht, S. 2 1 — 2 9 , ders., Kirchlich-soziales Erbrecht, passim; Κ . Farner, Theologie des Kommunismus?, S. 5 6 — 6 4 ; P . Rentinck, S. 3 1 0 — 3 4 2 .

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Erkenntnis, wenn man nicht überhaupt sagen muß, daß sie erst neuzeitlichem Denken voll zugänglich geworden sei, als daß man Chrysostomos daraus billigerweise einen Vorwurf machen dürfte. c) Mönchtum und Kirche In den durch den Grundsatz des „Alles zum gemeinen Nutzen" (πάντα προς τό συμφέρον) abgesteckten Rahmen bemüht sich Chrysostomos nicht zuletzt das Mönchtum mit seiner besonderen Berufung und seinen besonderen Gaben und Möglichkeiten einzuordnen 1 . Wie er selbst eine „viel zu aktive Natur" war, „um in der reinen asketischen Vollkommenheit dauernd Genüge zu finden"2, so verlangt er auch von den Mönchen insgesamt, höher als das Streben nach eigener „Seelenruhe" (ήσυχία) und Weltüberwindung das Heil des Nächsten zu stellen. Gerade ihnen hält er das Beispiel „jenes Bedauernswerten" (Mt. 25,24 fï.) vor, dem es „nichts geholfen" habe, „daß er sein Talent nicht verminderte, sondern weil er es nicht vermehrte", habe er es „vollständig eingebüßt" 3 . Von daher sucht er die Mönche dazu zu gewinnen, sich nicht in die Einsamkeit der Berge und Wüsten zu flüchten, sondern inmitten oder doch wenigstens in der Nähe der Städte und Dörfer, da, wo das alltägliche Leben gelebt wird und wo immer aufs neue die „Erfüllbarkeit" der göttlichen Gebote wie der „Grund" der christlichen „Hoffnung" (1. Petr. 3,15) in Frage steht, Pflanzstätten der „Tugend" zu errichten4 entsprechend dem Gebot Christi: „Laßt euer Licht leuchten vor den Menschen" (Mt. 5,16), „nicht vor den Bergen", wie Chrysostomos hinzufügt, „nicht in den Wüstenein und an unzugänglichen Orten" 5 ! Oder wo sie angesichts der „ungeheuerlichen Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit" in der „Welt" 6 nicht zur Auf1 Vgl. dazu vor allem die Arbeiten von L. Meyer, I. auf der Maur, J.-M. Leroux und P. Rentindc, S. 206 fî. A. Chr. Lymperes, Das mönchische Leben nach Johannes Chrysostomos ( Ό μοναχικός βίος κατά τον Ί ω ά ν ν η ν τον Χρυσόστομον), Nea Sion, 57, 1962, S. 178—206, war mir nicht zugänglich. 2 H. von Campenhausen, Griechische Kirchenväter, S. 139. 3 De sacerdot., VI, 10 (Nairn, S. 158; MG 48, 686). 4 Vgl. de poenitent., 6, 3 (M. II, 321 f.; MG 49, 318); homiliae 67 in Genesin, h. 43, 1 (M. IV, 435 f.; MG 54, 396: „. . . ich möchte . . . , daß vor allem die tugendhaften Menschen in der Stadt wohnen, damit sie für die anderen zum Sauerteig werden . . . " ) ; in ev. Mt., h. 43 al. 44, 5 (M. VII, 465 f.; MG 57, 463 f.); h. 72 al. 73, 4 (707; MG 58, 672: die Mönche als die λύχνοι πανταχού της γης); in ep. I ad Cor., h. 6 (Field, II, 65 f.; MG 61, 53 f.); in ep. ad Rom., h. 27 (26: Field, I, 429 f.; MG 60, 643 f.); in ep. ad Eph., h. 6 (Field, IV, 163; MG 62, 47 f.). 5 In ep. ad Rom., h. 27 (26: Field, I, 429; MG 60, 644). 6 Adv. opp. vit. monast., I, 7 (M. I, 53 f.; MG 47, 328). Hiernach wäre Chrysostomos freilich selbst der Meinung gewesen, daß „die Städte der Philosophie so unzugänglich und feindselig" seien, „daß diejenigen, die gerettet werden wollen, gezwungen sind, die Einsamkeit aufzusuchen"; anders etwa in ep. I ad Cor., h. 6 (Field, II, 65 f.; MG 61, 53 f.), wonach das Urteil über die „Welt" zwar kaum weniger pessimistisch aus-

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gäbe ihres „Ports der Ruhe" zu bewegen seien, möchten sie wenigstens aus der Ferne vor allem den „Vorstehern der Kirche nach Kräften H i l f e leisten und mit Gebet, einträchtiger Gesinnung und Liebe sie stärken", andernfalls sie gegenüber der „wichtigsten Anforderung an das Leben" nicht nur des Asketen, sondern des Christen überhaupt (τό κεφάλαιον . . . του βίου) versagten und ihre ganze „Weisheit" (σοφία) „verstümmelt würde" (ήκροτηριάσθη), d. h., um ihr Bestes gebracht, notwendig verkümmerte 7 . Ob man deshab Chrysostomos eine zunehmend „reservierte Haltung gegenüber dem Mönchtum" 8 zuschreiben darf, ist freilich mehr als fraglich. Falls damit gemeint ist, daß er je von den monastischen Idealen als solchen innerlich abgerückt wäre oder gar die Existenzberechtigung des Mönchtums überhaupt in Frage gestellt hätte, wird es sogar rundheraus zu verneinen sein. H a t er doch zeitlebens, selbst nodi als Bischof von Konstantinopel, inmitten all des höfischen Getriebes und Prunks, an einer streng asketischen Lebensweise festgehalten — sehr zum Leidwesen vieler, Geistlicher wie Laien, fallen muß, der Rüdezug aus der Welt (άναχώρησις) jedoch — in der Absicht und mit der Begründung, nicht selber zugrunde gehen und im Vollkommenheitsstreben nicht nachlassen zu wollen —, keinesfalls zu billigen, sondern eher zu raten ist, „in der Tugend etwas nachzulassen" und d a f ü r die Aussicht zu haben, andere zu gewinnen! 7 De incomprehens. Dei natur., VI, 3 (M. I, 496 f.; MG 48, 752). Wie J.-M. Leroux vermutet, geht die hier in Umrissen sichtbar werdende Konzeption des „einsiedlerischen" Lebens inmitten der Welt auf Anstöße zurück, die der junge Chrysostomos in dem von Diodor inspirierten asketischen Zirkel, dem sogen. „Asketerion" Diodors empfangen habe (J.-M. Leroux, S. 150; vgl. auch S. 147—149). Freilich wissen wir über dies „Asketerion" wie auch darüber, wie lange Chrysostomos ihm angehörte, wenig genug (s. einerseits etwa L. Meyer, S. Jean Chrysostome, maitre de perfection chrétienne, S. 16—26; andererseits R. Leconte, L'Asceterium de Diodore; St. Schiwietz, S. 254—266; vgl. auch A. J. Festugière, S. 181—192). N u r so viel scheint sicher zu sein, daß es ihn dort nicht lange hielt, sondern daß er sich für sechs Jahre in die Einsamkeit zurückzog, um dort die verschiedenen Stufen eines immer strengeren asketischen Lebens zu durchlaufen (s. dazu Chr. Baur, I, S. 81 ff. 106 ff.; St. Schiwietz, S. 290—293), was doch auf alle Fälle ein Ungenüge an der im Kreis um Diodor geübten Askese verrät, selbst wenn dieser „Bruch" zumindest nicht auf Dauer sein Verhältnis zu Diodor zu trüben vermochte, wie die später von Diodor bei Gelegenheit eines Besuchs in Antiocheia gehaltene Lobrede auf Chrysostomos und die „Laus Diodori" zeigen, mit der sich Chrysostomos revanchierte (M. III, 747—749; M G 52, 761—766). So müssen wir uns wohl mit einem „Non liquet" begnügen. Entscheidend für die Einschätzung des Mönchtums erscheint mir in jedem Fall der biblische Sinn des Chrysostomos gewesen zu sein, der ihn sowohl zu einem immer tieferen Verständnis des „sozialen Charakters" des Christentums gelangen, als audi die Tatsache ernstnehmen ließ, daß es „damals", zur Zeit des Neuen Testaments, „noch keine Spur von einem Einsiedler gab" (ουδέ γαρ ϊχνος τότε μονάζοντος ήν), sondern alle biblischen Weisungen sich an „Weltleute" (κοσμικοί) richteten (in ep. ad Hebr., h. 25 [Field, VII, 286 f.; MG 63, 177]). Damit war zwar f ü r sein Verständnis die Existenzberechtigung des Mönchtums nicht in Frage gestellt, wohl aber die Etablierung einer mönchischen Sonderwelt ausgeschlossen! 8 So B. Lohse, S. 41, A. 104, unter Berufung auf J.-M. Leroux. Doch ist dies schwerlich Leroux' Fazit (s. nur J.-M. Leroux, S. 164 f. 182 f.); vgl. auch L. Meyer, Perfection chrétienne, S. 250 f.

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aus seiner Umgebung 9 ! — und darüber hinaus in Predigten und Briefen mit seiner Meinung über die positive Rolle und bleibende Bedeutung des Mönchtums nicht hinter dem Berge gehalten. Sie läßt sich vielleicht in Kürze so umschreiben, daß für ihn die Mönche inmitten einer ständig von der Gefahr der Verweltlichung bedrohten, ständig Kompromisse schließenden und mit den — vermeintlichen oder wirklichen — „Realitäten" paktierenden Christenheit schon durch ihre bloße Existenz ein Moment der heilsamen Irritation und ein „Zeichen" sind: ein lebendiges Momento der Vorläufigkeit all dessen, was die „Welt" fasziniert und in Atem hält oder bedrückt und quält, eine ständige Erinnerung daran, daß Christen auf Erden „Fremdlinge" sind und sich auf der „Pilgerschaft" befinden, und eine unaufhörliche Mahnung zu der von allen geforderten „Vollkommenheit", die, wie ihr Beispiel lehrt, keine bloße Utopie ist. Und das heißt für Chrysostomos eben auch, daß in den Klöstern die „societas perfecta" in dem Sinne verwirklicht und anschaubar ist, daß es dort keinen Unterschied zwischen „Mein" und „Dein", keine Herrschaft von Menschen über Menschen mehr gibt, sondern nur noch wechselseitiges Sich-unter-Ordnen und freiwilligen Dienst 1 0 . Wohl aber zielen seine an die Adresse der Mönche gerichteten kritischen Bemerkungen darauf ab, daß das Mönchtum nicht ein totes Kapital im Haushalt der Kirche bleibe, sondern nach Kräften für deren geistliche E r neuerung nutzbar gemacht werde. Das aber macht es in seinen Augen allerdings erforderlich, energisch auch den Gefahren und Entartungserscheinungen im Mönchtum selbst entgegenzutreten. Gemeint ist einmal die allen 9 So lautet denn auch einer der Vorwürfe, die die auf der „Eichensynode" (403) versammelten Chrysostomosgegner gegen den vielerorts mißliebig gewordenen Patriarchen erhoben, er esse allein und lebe „wie ein Z y k l o p " (s. die Akten dieser Synode bei Photios, Bibliothek 59 [ M G 103, 1 0 5 — 1 1 3 ; abgedruckt auch unter den Testimonia veterum bei M . X I I I , 2 8 0 — 2 8 4 ; M G 64, 1 0 5 — 1 0 8 ] ) . 1 0 Vgl. dazu die bei A. J . Festugière, S. 3 3 0 — 3 4 4 , zusammengestellten Texte, die sich freilich nodi beträchtlich vermehren ließen. Auch dürfte, aufs ganze gesehen, die „nur das hellenistische Thema der Poesie des Landlebens" aufnehmende Idyllik (Festugière, S. 345) nicht dermaßen im Mittelpunkt des von Chrysostomos gezeichneten Bildes vom Mönditum stehen, wie Festugière annimmt. Dagegen ist es richtig, daß vor allem in den in Antiocheia gehaltenen Chrysostomospredigten die Mönche den „Gegenpol" bilden: will Chrysostomos „irgendein Laster der Antiothener geißeln, so präsentiert er ihnen als Kontrast das entgegengesetzte Verhalten der Mönche. Umgekehrt entdeckt er bei diesen das V o r bild der Tugenden, die seine Zuhörer praktizieren sollen" (Festugière, S. 330). Zu diesem Zweck erfährt das seiner Gemeinde präsentierte Bild mönchischen Lebens (vgl. dazu auch St. Sdiiwietz, S. 3 0 6 — 3 1 2 ) , wie I. auf der Maur, S. 175, und vor allem J . - M . Leroux, S. 158 f., gut beobachtet haben, gewissermaßen eine Stilisierung (s. dazu auch unten S. 160). M. a. W. haben seine Bezugnahmen auf das Mönchtum durchweg „erzieherischen C h a r a k t e r " , und Auswahlprinzip ist die Entfaltung der „Spiritualität" seiner Gemeinde ( J . - M . Leroux, S. 158). — Wie ein solches von der mönchischen „Spiritualität" inspiriertes und bestimmte monastische Übungen und Gebräuche übernehmendes christliches Leben aussehen soll, hat Chrysostomos etwa cat. bapt. (Stauronikita) V I I I , 1 6 — 1 8 (Wenger [ S C 5 0 ] , S. 256 f.) skizziert.

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großen Mönchstheologen wohlbewußte Gefahr der Verwechslung von Form und Inhalt, von Mittel und Zweck der Askese, die vergessen macht, daß es mit körperlichen Anstrengungen und „Abtötungen" allein nicht getan ist11. Wogegen Chrysostomos zum andern ankämpft, ist der sublime „Heilsegoismus" als eine spezifische Gefahr des mönchischen Vollkommenheitsstrebens, ein Egoismus, der, wie er gelegentlich überpointiert sagen kann, sofort zutage tritt, „wenn man je einen Mönch bittet, ein Amt (οικονομία) zu übernehmen". Dann fragen sie „fast alle ohne Ausnahme zu allererst", damit offenbarend, woran ihnen am meisten gelegen ist, „ob sie da auch Ruhe (zur Kontemplation) finden, ob ihnen der Bittsteller auch Muße zur Beschauung (άνάπαυσις) garantieren könne, und von Anfang bis Ende hört man nichts anderes als das Wort Ruhe!" Dem aber hält Chrysostomos mit Schärfe entgegen: „Was redest du da, o Mensch! Du sollst den engen und steilen Weg gehen (vgl. Mt. 7,13.14), und bist besorgt um deine Ruhe! . . . Läßt sich eine vollständigere Perversion (aller Maßstäbe) vorstellen?"12 M. a. W. geht es Chrysostomos um die rechte Rangordnung innerhalb der Hierarchie der monastischen Wert- und Zielvorstellungen und ihre konsequente Ausrichtung an der οικοδομή der Kirche als des „Leibes Christi", darum, daß der Dienst an der Gemeinschaft unter die Motive der Askese selbst aufgenommen werde und dort — zusammen mit der ungeteilten Hingabe an Gott oder vielmehr als deren vorzüglichster Ausdruck — an erster Stelle rangiere13. 11

De compunct., II, 2 (M. I, 142 f.; M G 47, 413). Ebenda, I, 6 (M. I, 132; M G 47, 403); vgl. ferner etwa in ep. I ad Cor., h. 6 (Field, II, 66; M G 61, 53 f.); anders dagegen adv. opp. vit. monast., I, 8 (M. I, 55 f.; M G 47, 329 f.: „ . . . Idi fürchte", d a ß ich die Möndie „in dem Bemühen, sie ihrer Vaterstadt zurückzugeben, statt dessen den bösen Geistern ausliefere und sie, indem ich beabsichtige, sie aus ihrer Einsamkeit zurückzuholen und sie bei ihrer Flucht aufzuhalten, um alle Philosophie und Ruhe bringe . . . " ) . Es wird wohl nicht zuletzt mit diesen seinen Ansichten über den Vorrang des „Apostolats" vor der Kontemplation zusammenhängen, d a ß sich Chrysostomos w ä h r e n d seines Episkopats manch wütende Gegnerschaft auch in mönchischen Kreisen zuzog, z. B. die des aus Syrien stammenden Hegoumenos Isaak (L. Meyer, Perfection chrétienne, S. 248 ff.; zum Streit mit Isaak s. Chr. Baur, II, S. 58 ff.). 13 Vgl. etwa in ev. Mt., h. 77 al. 78, 5. 6 (M. V I I , 748—750; M G 58, 708—710); in ep. I ad Cor., h. 25 (Field, II, 302—307; M G 61, 209—212); in ep. ad Tit., h. 6 (Field, VI, 319 f.; M G 62, 698). Freilich kann Chrysostomos auch bereits in adv. opp. vit. monast., III, 2 (M. I, 77 f.; M G 47, 350 f.) unter Verweis auf l . K o r . 10,24; Gal. 6,1 u. a. m. davor warnen zu sagen: „Was liegt mir an der Sorge f ü r das Heil anderer?" D o d i dient ihm diese W a r n u n g hier als Begründung f ü r die Empfehlung an die christlichen Eltern, ihre Kinder wenigstens zeitweise, am besten aber auf Dauer, in die Klöster zu schicken! Die Frage aber, ob das empfohlene Mönchsideal den genannten biblisdien Weisungen — zitiert werden nodi 1. Thess. 5,11.14; Rom. 15,1; Rom. 8,12; Mt. 18,6; 1. Tim. 5,8 und Mt. 25,14 ff. — selbst entspreche, wird nicht gestellt, ein Zeichen, wie austauschbar die Argumente beim jungen Chrysostomos sein können. Anders liegen die Dinge in ep. I ad Tim., h. 14 (Field, VI, 125; M G 62, 578). Hier werden „diejenigen, die sidi selbst (in der Weltentsagung) üben" (ol έαυτούς άσκοίσιν) wie „die, die 12

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So darf für ihn das Ideal des „engelgleichen Lebens" (αγγελικός βίος) eben nicht rein individualistisch, als Ziel der eigenen Vervollkommnung und „himmlischen" Existenzweise schon hier auf Erden verstanden werden. Vielmehr ist es erst in der Gemeinschaft voll realisierbar14 und stellt, recht verstanden, in den Dienst an den Brüdern. Denn „worin besteht der Dienst (λειτουργία) der Engel? Darin, daß sie Gott dienstbar sind um unseres Heiles willen. Folglich ist das (wahrhaft) ein Engelswerk, daß man alles tut zum Heil der Brüder"15. Dasselbe gilt vom Motiv der „Nachfolge", der „Nachahmung Christi". "Wer sich diesem Ideal verschreibt, muß nach Chrysostomos wissen, daß „nichts uns so zu Nachahmern Christi macht wie, wenn wir uns um den Nächsten kümmern"16. Oder wie er im Blick auf das Charisma des λόγος σοφίας ( l . K o r . 12,8) sagen kann, das anscheinend, wohl unter origenistischem Einfluß, gerade in Mönchskreisen besonders geschätzt und erstrebt wurde 17 : „Bei irdischem Reichtum (έν τοις χρήμασιν) ist es nicht möglich, auch die Kirchen (darin) anzuleiten suchen" (oí και τάς Εκκλησίας [άσκοΰσιν]) gleichberechtigt nebeneinander gestellt als Exempel der Mannigfaltigkeit der „Tugendwege". Doch ist mit dem „Sich-selbst-Üben" schwerlich ein solipsistisches, nur um die eigene „Heiligung" bemühtes Christsein gemeint. Weist Chrysostomos dodi gerade zu Beginn dieser Homilie die Meinung „vieler" entschieden zurück, als „genüge zum Heil die eigene Tugend" (114 f.; 571 f.). Vielmehr will er hier wohl einfach sagen, daß man nicht nur als Mönch, sondern auch als einer, der ein kirchliches Amt innehat und Verantwortung für andere trägt, „heilig" und „vollkommen" sein könne. — Zum Verhältnis von Gottesliebe und Nächstenliebe im Verständnis des Chrysostomos s. unten S. 98, A. 39. 14 Vgl. adv. opp. vit. monast., III, 11 (M. I, 94; MG 47, 366) und dazu I. auf der Maur, S. 20, A. 2; S. Frank, S. 56 f.; ferner etwa noch in act. apost., h. 3, 1 (M. IX, 23 f.; MG 60, 34: Ί δ ο ΰ Εκκλησίας αξίωμα, καί αγγελική κατάστασις · ουδείς ήν έκεϊ διεφρηγμένος . . . Τοιαύτας βούλομαι τάς 'Εκκλησίας είναι καί νυν . . . ) . 15 In ep. ad Hebr., h. 3 (Field, VII, 35; MG 63, 30). Wenn S. Frank (S. 62, A. 4) moniert, daß in „den bisherigen Darstellungen zum αγγελικός βίος . . . dieser Punkt fast unberücksichtigt" geblieben sei, so dürfte das einfach die Quellenlage widerspiegeln. Denn soweit ich sehe, ist die Funktionalität des „engelgleichen Lebens" in der Mönchsliteratur nirgends so klar ausgesprochen wie bei Chrysostomos. Die nächste Parallele unter den von Frank durchmusterten Zeugnissen bietet der erste der beiden pseudoklementinisdien Briefe „Ad virgines" (I, 12, 1: ed. F. X. Funk, Opera patrum apostolicorum, II, 1901, S. 11), wonach die Liebestätigkeit „sine controversia" ein „officium servorum Dei" ist. Dodi ist selbst hier die Verknüpfung des Apostolats im weitesten Sinne mit dem Ideal des „engelgleichen Lebens" nur locker, weil dem die Liebestätigkeit umfassenden jungfräulichen Leben lediglich „die Teilhabe am Leben der Engel fürs Jenseits versprochen" wird (S. Frank, S. 156). 18 In ep. I ad Cor., h. 25 (Field, II, 302; MG 61, 208 f.: „Wenn du auch fastest, auf dem nackten Boden schläfst, [ja] dich [sogar] erwürgst [άπαγχονίσης], dich aber um den Nächsten nicht sorgst, so hast du noch immer nichts Großes vollbracht, sondern befindest dich mit solchen [asketischen] Leistungen noch in weitem Abstand von diesem [Vor-]Bild [είκών] . . . ! " ) ; de laud. s. Pauli Apost., 3 (M. II, 487; MG 50, 483); in ev. Joh., h. 15 al. 14, 3 (M. VIII, 88; MG 59, 101); de incomprehens. Dei nat., VI, 3 (M I, 496 f.; MG 48, 752). 17 Orígenes, c. Cels. III, 46 (GCS Orígenes 1, 242 f.); VI, 13 (GCS Origenes 2, 83);

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daß einer reich werde, es sei denn, daß zuvor ein anderer arm geworden wäre (!); wo es hingegen um Dinge des Geistes (πνευματικά) geht, ist es nicht ebenso, sondern findet das genaue Gegenteil statt! Hier ist es nicht möglich, (selber) reich zu werden, ohne daß man einen anderen reichgemacht hat . . . Geistgeschenkte Weisheit (πνευματική σοφία) bleibt nicht dieselbe (ού γαρ όμοια μένει), wenn sie (andern) mitgeteilt wird und — wenn sie nicht mitgeteilt wird." Nicht anders steht es mit den übrigen Charismen, wie es überhaupt f ü r Chrysostomos im Bereich des Geistes als „unumstößliche Regel" (ακίνητος κανών) gilt, daß alles ohne Ausnahme auf Mitteilung (μεταδιδόναι) angelegt ist 18 . Dieser „soziale" Charakter des Christentums, demzufolge das eigene Heil auf Gedeih und Verderb mit dem des Nächsten verknüpft ist 19 , läßt nun in seinen Augen besonders den Dienst der Verkündigung, der „Lehre", nicht nur als Gott wohlgefälliges Werk, sondern geradezu als religiöse Pflicht des Mönches erscheinen 20 . Ist doch nichts so „erbaulich" und dem Heil des Nächsten dienlich wie das „Wort" 2 1 , zumal wenn es sich mit einer „vollkommenen" Lebensweise, dem mönchischen Leben der „Philosophie" und Weltentsagung verbindet 22 . Dabei hat er nicht so sehr die Übernahme „normaler" kirchlicher Funktionen durch Mönche im Auge, obwohl auch in seinem Wirkbereich „der kühne Weg vom Mönchtum zum Bischofsamt" bereits „eine fest gebaute Straße zu werden" beginnt 23 . Allein, wenn bestimmte Äußerungen in seiner Schrift „Uber das Priestertum" wörtlich zu nehmen sind, so ist er hier verhältnismäßig zurückhaltend und sieht in der mönchischen Berufung nicht ohne weiteres eine hinreichende Qualifikation f ü r ein kirchliches Amt. Erfordere doch die Verantwortung namentlich f ü r eine großstädtische Kirchengemeinde Eigenschaften und Tugenden, f ü r die nicht gerade das Kloster oder gar das völlig weltabgeschiedene Leben des

hom. in lerem., 8, 5 (GCS Orígenes 3, 60); in ev. Joh., II, 24 (GCS Orígenes 4, 81); XIII, 53 (282); X X , 32 (369); X X X I I , 9 (439 f.); de prínc. I, praef., 3 (GCS Origenes 5, 9); 3, 8 (61); in ev. Mt., t. XV, 37 (GCS Origenes 10, 460); besonders ausgeprägt ist die Vorliebe für die „gnostisdien" Charismen audi bei Basileios, Gregor von Nyssa und Evagrios, wie ich in meiner oben S. 17, A. 18, angekündigten Untersuchung zeigen werde. Vgl. auch die Beobachtungen von K. Schlütz zum Verständnis von Jes. 11,2 (Die „sieben Gaben des H. Geistes«), S. 103 ff. bes. S. 146 (bei Origenes finden „die intellektuellen Gaben Weisheit, Einsicht [Gnosis] und Verstand besondere Beachtung . .."). 18 In ep. I ad Cor., h. 40 (Field, II, 513; MG 61, 352). 19 In ep. I ad Cor., h. 25 (Field, II, 305—307; MG 61, 211 f.). » S. ep. 55 (M. III, 624; MG 52, 639 f.); ep. 123 (663 f.; 676—678); ep. 126 (671 f.; 685—687); vgl. dazu I. auf der Maur, bes. S. 148. 21 S. oben S. 70 f. » Vgl. in ep. I ad Cor., h. 6 (Field, II, 65—67; MG 61, 53 f.); in ev. Mt., h. 43 al. 44, 5 (M. VII, 465 f.; MG 57, 463) und dazu I. auf der Maur, S. 156. îS H. von Campenhausen, Griechische Kirchenväter, S. 139.

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Eremiten die beste Schule zu sein pflegen24. Auf der anderen Seite will er die Mönche auch nicht grundsätzlich von den kirchlichen Ämtern ausgeschlossen wissen, und das um so weniger, als für ihn das Priestertum neben den besonderen Anforderungen, die es stellt, dieselben Tugenden voraussetzt, wie sie den Mönchen eignen, nämlich „Reinheit, Seelenruhe, Heiligkeit, Selbstbeherrschung und Nüchternheit"; ja ein Priester müsse darin, meint er, die Mönche sogar nodi übertreffen 25 ! Dem entspricht auch, soweit wir wissen, seine spätere Praxis, sofern er nur verhältnismäßig selten oder doch jedenfalls nicht häufiger als zu seiner Zeit üblich Mönche mit normalen kirchlich-seelsorgerischen Aufgaben betraute 26 . Sein Ideal ist eher die Verbindung von Mönchtum und Heidenmission 27 . Und zwar empfiehlt sich ihm diese Aufgabe wohl einmal darum besonders für Mönche, weil sie noch immer — trotz der Privilegierung des Christentums durch die römische Reichsgewalt oder, wo sich die christliche Mission über die Grenzen des Imperium hinauswagte, vielfach gerade wegen ihr! — die höchsten Anforderungen an die Opferbereitschaft, den Duldersinn derer stellte, die sie auf sich nahmen 28 . Zum anderen kommt seiner Meinung nach gegenwärtig genau so wie zur Zeit der Apostel „den meisten ein rechter Lebenswandel (ορθός βίος) glaubwürdiger (άξιοπιστότερος) vor" zumindest als Wundertaten 29 , so daß eine von einem Leben der Entsagung begleitete und getragene Verkündigung am ehesten die „Ungläubigen" zu gewinnen verspricht 30 . Weil Chrysostomos dabei auch an Traditionen syrischen Wanderasketentums anknüpfen kann, wie sie sich vom vierten Jahrhundert bis in die 24 Vgl. de sacerdot., III, 15 (Nairn, 77 f.; MG 48, 652 f.); VI, 3 (145; 679 f.); VI, 10 (159; 686); in acta apost., h. 3, 4 (M. IX, 28 f.; MG 60, 38 f.). 25 De sacerdot., VI, 8 (Nairn, 154; MG 48, 684). 2e Vgl. I. auf der Maur, S. 118 ff. 27 Dies zum ersten Mal klar herausgearbeitet zu haben, ist das besondere Verdienst der Arbeit von I. auf der Maur. 28 Von blutigen Verfolgungen hören wir aus dem phönikisdien Missionsgebiet des Chrysostomos in ep. 53 (M. III, 621 f.; MG 52, 637 f.); ep. 54 (623 f.; 638 f.); ep. 55 (624; 639 f.); ep. 123 (663 f.; 676—678); ep. 126 (671 f.; 685—687); ep. 221 (721 f.; 732 f.); vgl. audi die „Vita Prophyrii" des Diakons Markos, Kap. 21—24. 26. 27 (edd. Soc. Phil. Bonn. Sodales, 1895, S. 20—23. 24—26). Die Reichsgewalt war offenbar zu dieser Zeit — nach Markos' Meinung nicht zuletzt aus Gründen der Staatsräson, die es als geboten erscheinen ließ, sich das Wohlwollen audi der heidnischen und jüdischen Steuerzahler zu erhalten (Vita Prophyrii, 41, ed. cit., S. 36 f.) •— nur zögernd bereit, etwaige Widerstände gegen die christliche Mission durch Schließung der Tempel und Synagogen gewaltsam zu brechen. Aber auch beispielsweise die Mission unter den nomadisierenden Skythen verlangte von den Missionaren ein Maß an Entsagung, zu dem sich kaum ein verheirateter Weltkleriker imstande gesehen haben wird (I. auf der Maur, S. 131). 29 In ep. I ad Cor., h. 6 (Field, II, 66; MG 61, 54). 30 Vgl. dazu I. auf der Maur, S. 138 ff., über die „Missionsmethode" des Chrysostomos; zu den Belegen s. S. 156 f.

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Anfänge der syrischen Kirchengeschichte zurückverfolgen lassen 31 , darum bleibt sein Ruf nicht ohne Echo. So kann er in der kurzen Zeit seines Konstantinopler Episkopats, vor allem dank seiner — zunächst! — ungetrübt guten Beziehungen zu Klerikern und Mönchen seiner syrischen Heimatkirche, auf der Krim wie unter den Skythen, Persern, Phönikiern und Kilikiern ein imponierendes Missionswerk beginnen und großenteils Mönchen anvertrauen 3 2 . Damit schließt sich der Kreis, und wir sind zum Abschluß dieses Kapitels über die Vielfalt der Charismen in der Sicht des Chrysostomos wohl zu dem Urteil berechtigt, daß es schwerlich Zufall oder purer „Biblizismus" bzw. nur die Pflicht des Exegeten ist, die Chrysostomos zur Beschäftigung mit dem paulinischen Zeugnis von der Kirche als dem aus vielen Charismen und Charismatikern gebildeten „Leib Christi" führt. Sondern wie dies Zeugnis dem durch und durch „aktiven Zug" 3 3 in seiner Geistigkeit entgegenkommt, so bestimmt es auch, ohne daß in diesem Fall nennenswerte Schwankungen, Widersprüche oder auch nur Akzentverschiebungen zu konstatieren wären, seine Verkündigung wie sein kirchliches Handeln. Zum andern hat sich gezeigt, daß die Konzentration des „Apostolats" der Laien auf den „privaten" Bereich und die Hinzuziehung von Mönchen vornehmlich zum Werk der Heidenmission bei Chrysostomos nicht auch die Isolierung dieses „nichtamtlichen" Zeugendienstes vom Sendungsauftrag der Kirche bedeutet. Denn Kirche und Mission gehören f ü r ihn auf eigentümlich enge Weise zusammen! Dies erhellt neben vielem anderen auch aus seinem Verständnis der Perikope Joh. 21,15—23, eines locus classicus, auf den er ebenso wie auf das Gleichnis von den „anvertrauten Pfunden" und die paulinischen Charismatexte immer wieder zurückkommt, wenn es um Wesen und Bestimmung der Kirche wie des Christseins des einzelnen und seine „Vollkommenheit" geht. Danach gilt Christi Hirtenauftrag („Weide meine Schafe") in Petrus allen, die Christus „liebhaben" 34 . Sind doch alle zur „Nachahmung der Apostel" (1. Kor. 4,16) aufgerufen, und dies nicht nur im Sinne des mönchischen — f ü r Chrysostomos freilich nicht nur mönchischen, sondern allen Glaubenden vor die Augen zu rückenden! — Ideals der „vita apostolica", der ethischen Angleichung an das Vorbild ihrer Heiligkeit und Vollkommenheit, oder wie Chrysostomos gelegentlich pointiert und beziehungsvoll sagen kann, der διαδοχή ihrer ευσέβεια35. Vielmehr schließt f ü r ihn die allen gebotene Apostelnachfolge auch die „Übernahme" 31 Vgl. dazu G. Kretsdimar, Ein Beitrag zur Frage nach dem Ursprung der frühchristlichen Askese, sowie A. Vööbus, II, S. 342—360. S! S. dazu Chr. Baur, II, S. 326 ff.; P. Andres, bes. S. 1—14; R. Heiß, passim; J. Dumortier, S. Jean Chrysostome et les missions, passim; D. Attwater, S. 156 ff.; bes. aber I. auf der Maur, S. 124 ff. 33 S. I. auf der Maur, S. 159. 34 In ev. Mt., h. 77 al. 78, 6 (M. VII, 749 f.; MG 58, 709 f.). 35 Ad pop. antiochen., 16, 2 (M. II, 174; MG 49, 175).

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Ritter, Charisma

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(άναδέχεσθαι) ihres „Kerygma", ihrer apostolischen Tätigkeit und ihres missionarischen Wirkens ein. Jeder kann und soll darin Petrus und Paulus ähnlich werden36, daß er sein Hirtenamt an der ihm zugewiesenen „Herde" erkennt und wahrnimmt, und sei diese Herde auch noch so klein37. Und wie der Hirtenauftrag an Petrus allen gilt, so schließt er auch alle ein, bezieht er sich auf die „Brüder" und die „vielen", für die Christus, der wahre Hirte, sein Leben gab und für deren Heil es Sorge zu tragen gilt38, ebenso wie die Nächstenliebe, die von der Gottesliebe nicht geschieden werden kann („Simon, . . . hast du mich lieb? . . . Weide meine Schafe" Vf9, nach Chrysostomos universal ist und sich auf Christen und Nichtchristen, Heiden und Juden, richtet40. 4. Charisma

und Amt

Das Bild bliebe jedoch noch immer in wesentlichen Zügen unfertig, und die Tragweite des Gesagten ließe sich kaum voll ermessen, wenn nicht zum Schluß auch die Aussagen des Chrysostomos über das Amt in die Uberlegungen einbezogen würden. Wir haben nun also zu fragen, wie sich nach ihm dies zwar mannigfaltig gegliederte, aber doch im Episkopat zentrierte und voll repräsentierte und darum auch einheitlich als „Priestertum" (ίερωσΰνη), als „Lehr-" oder „Vorsteheramt" benennbare kirchliche Amt zur 3 « In ep. I ad Cor., h. 3 (Field, II, 29—31; MG 61, 28—30); vgl. audi in ep. ad Hebr., h. 18 (Field, VII, 220 f.; MG 63, 138). 37 In ev. Mt., h. 77 al. 78, 6 (M. VII, 749 f.; MG 58, 709 f.); in ep. ad Rom., h. 30 (29: Field, I, 459 f.; MG 60, 660). 38 De incomprehens. Dei nat., VI, 2 (M. I, 495 f.; MG 48, 751 f.); ep. 53 (M. III, 622; MG 52, 637 f.). 3 » In ev. Mt., h. 16, 9 (M. VII, 216; MG 57, 250 f.); h. 71 al. 72, 1 (694 f.; 661 f.); h. 77 al. 78, 6 ( 749; 709); vgl. auch h. 27 al. 28, 4 (341; 358); in ev. Joh., h. 88 al. 87, 1 (M. V i l i , 525 f.; MG 59, 477—479); in ep. ad Rom., h. 1 (vulgo argmentum: Field, I, 6; MG 60, 394); h. 16 (15: 263—266; 546 f.); h. 30 (29: 455—460; 658—660). 40 Vgl. homiliae 67 in Genesin, h. 3, 4 (M. IV, 18 f.; MG 53, 36 f.); h. 40,4 (409 f.; 374); de laud. s. Pauli Apost., 3 (M. II, 487 f.; MG 50, 483 f.); in illud ,Si esurierit inimicus etc.", bes. 5—7 (M. III, 165—171; MG 51, 181—186); in ev. Mt., h. 18, 3. 4 (M. VII, 237—240; MG 57, 268—270); h. 29 al. 30, 3 (346; 362); h. 79 al. 80, 3—5 (M. VII, 762—765; MG 58, 721—724); in ep. I ad Cor., h. 4 (Field, II, 31 f.; MG 61, 29 f.); h. 25 (301; 208); h. 33 (413—415; 281—283); in ep. II ad Cor., h. 5 (Field, III, 71; MG 61, 433); in ep. ad Gal. comm., VI, 9. 10 (Field, IV, 96 f.; MG 61, 677); in ep. ad Eph., h. 7 (Field, IV, 170—174; MG 62, 53. 55 f.); in ep. II ad Thess., h. 5 (Field, V, 490; MG 62, 496); in ep. I ad Tim., h. 6 (Field, VI, 47—54; MG 62, 529—534); h. 7 (54—62; 534—537); in ep. ad Hebr., h. 3 (Field, VII, 46 f.; MG 63, 36—38); h. 10 (135 f.; 88—90). — Zur Frage des „Antisemitismus" des Chrysostomos s. meine Göttinger Probevorlesung „Zum Antisemitismus in der alten Kirche: J . Chrysostomos, ,Acht Reden wider die Juden' die in überarbeiteter Fassung demnächst im Drude erscheinen wird.

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Vielfalt und Fülle der Charismen außerhalb seiner verhält, ja, inwiefern es bei ihm selbst charismatisch verstanden ist. Wenn die Beobachtung zutrifft, daß es in der Geschichte der alten Kirche wie in der Kirchengeschichte überhaupt „gerade die Nichtanerkennung der Charismen außerhalb des Amtes" gewesen sei, die allmählich „auch denen, die sich im Amte rechtmäßigerweise hätten finden sollen, den Tod" bereitete1, so kann es umgekehrt nicht ohne Konsequenzen sein, wenn Chrysostomos wie alle „Gaben", die die „Kirche Gottes zu schmücken" pflegen2, so auch das Amt auf den Geist als den Spender der Charismen und das Lebensprinzip der Kirche zurückführt. Es ist vielmehr von vornherein damit zu redinen, daß sich bei ihm nodi etwas von der ursprünglichen, freilich nur aus dem Ganzen des neutestamentlichen Zeugnisses heraus zu entwickelnden3 Verhältnisbestimmung von rechtlich geordnetem Amt und „freier" geistlicher Vollmacht erhalten hat, da er das hierarchisch gegliederte und mit den entscheidenden kirchlichen Funktionen betraute Amt gleichwohl eingebettet sieht in den aus vielen verschiedenen „Gliedern" bestehenden „Leib" der Kirche, in dem jeder zum Nutzen des Ganzen beiträgt und „niemand, auf sich gestellt, so viel auszurichten vermag" wie in der Gemeinschaft der Gliedschaft der Kirche4. Dies ist nun in Kürze auf seine Richtigkeit zu überprüfen, wobei wir die wichtigsten Funktionen des Amtes zum Leitfaden nehmen. a) Die kultisch-sazerdotale Funktion Die Würde des kirchlichen Amtes findet für Chrysostomos ihren höchsten Ausdruck ohne Frage in seiner Funktion bei der Feier der „sdiauererregenden" göttlichen Mysterien. Hier rückt es für ihn, obwohl auf Erden ausgeübt, zum „Range himmlischer Einrichtungen" empor 1 . Ist doch diese Funktion, wie es an einer vielzitierten Stelle in seiner Schrift „Über das Priestertum" heißt, nichts Geringeres als ein „Dienst von Engeln". Denn „o des Wunders! O der Menschenliebe Gottes! Der mit dem Vater in der Höhe thront, wird in jener Stunde (des eucharistischen Opfers) von den Händen aller gefaßt und gibt sich selbst denen dar, die ihn umfangen . . . wollen". „Wenn du darum den Herrn geopfert daliegen siehst und den (bischöflichen) Zelebranten (άρχιερεύς) vor dem Opfer (θΐμα) dastehen und beten und alle (Kommunizierenden) mit Seinem kostbaren Blut gerötet werden, glaubst du da noch, unter Menschen zu sein und auf Erden zu weilen? Fühlst du dich da nicht vielmehr geradewegs in den Himmel entrückt.. .?"2 Die hier zum Ausdruck kommende liturgische Haltung der ehrfurchts1

2 M. Lauterburg, S. 75. De s. Pentecoste, 2, 1 (M. II, 469; MG 50, 464). Vgl. Α. M. Ritter, S. 53—77. 239—255. * In act. apost., h. 37, 3 (M. IX, 283 f.; MG 60, 265 f.). 1 1 De sacerdot., III, 4 (Nairn, S. 51; MG 48, 642). Ebenda (Nairn, S. 52). s

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vollen Scheu vor dem eucharistischen Mysterium, dem infolge seiner Verbindung mit der Gottheit „schauervollen", ja „furchteinflößenden" Leib des Herrn, wie sie nicht nur für Chrysostomos charakteristisch, sondern für die zeitgenössische antiochenische und später für die altkirchliche Theologie überhaupt typisch ist, hat in der modernen Liturgie- und Dogmengeschichtsforschung starke Beachtung gefunden 3 . Man hat in ihr wohl zu Redit vor allem eine Auswirkung des Kampfes gegen den Arianismus gesehen und gemeint, daß die häretische Bestreitung der Gottheit Christi in der Kirche zu einer immer stärkeren Hervorhebung seiner göttlichen Majestät geführt habe 4 . Sehr viel weniger wahrscheinlich ist dagegen, daß die „kerygmatische Situation am Ende des 4. Jahrhunderts", vor allem in noch immer halbheidnischen Großstädten wie Antiocheia und Konstantinopel, hierfür von ausschlaggebender Bedeutung gewesen sein sollte. Zumindest vermag sie allein keine zureichende Erklärung für die plötzlich einsetzende, massierte Hervorkehrung der „schauervollen" Seite des eucharistischen Mysteriums zu liefern 5 . Wenn man freilich meinte, daß darüber die Motive der „Furcht und Scheu" in der Sakramentsfrömmigkeit das erdrückende Übergewicht gegenüber denen der Liebe und des Vertrauens gewonnen haben 6 und die Eucharistie aus einem „mysterium fascinosum" ein „Geheimnis des Schauders und des Schreckens" geworden sei7, so trifft dies zumindest für Chrysostomos nicht zu. Dies sei nur durch folgendes Zitat aus der 15. Homilie zum 1. Timotheusbrief belegt, wo Christi Herabkunft zur Menschwerdung und zur Opferhingabe in der Eucharistie als Zeichen seiner den Menschen suchen3 S. E. Bishop, Fear and awe; J. A. Jungmann, Stellung Christi, S. 217 ff. mit den Nachträgen S. X X I * ; ders., Missarum Solemnia, I, S. 49 ff.; II, S. 577 f.; K. Adam, S. 68 ff.; J. Quasten, „Mysterium tremendum"; ders., Liturgical Mysticism.; G. Fittkau, S. 122 ff.; J. Betz, I, 1, S. 121 ff., bes. 126; G. Kretsdimar, Geschichte, S. 155 ff. bes. S. 159. 4 So bes. J. A. Jungmann, Stellung Christi, S. 217 ff.; vgl. audi J. Quasten, „Mysterium tremendum", S. 72. Nach Quasten wäre jedoch der Hauptgrund darin zu sehen, daß, zunächst in der antiodienisdien Schule, das Verhältnis zu Christus allzu sehr als das des Dieners zum erhabenen König dargestellt worden sei. In diese Richtung weise audi die Tatsache, daß seit dem 4. Jahrhundert vielfach Prädikate des Kaisers und des ihm gebührenden Hofdienstes auf Christus übertragen worden seien. Qu. beruft sich hierfür auf J. Kollwitz, Christus II (Basileus), RAC, 1259 f. 5 Gegen G. Fittkau, S. 143; vgl. auch J. A. Jungmann, Stellung Christi, S. X X I * . Zu dem plötzlich einsetzenden, massierten Auftreten der Termini φρίκη, φρικτός, φρικώδης, φρίσσω etc. in solchen Texten, die als Zeugen der Liturgie antiodienisdien Typs um das Jahr 380 gelten dürfen, darunter freilich auch die von Haus aus arianischen „Apostolischen Konstitutionen«, s. die bei G. W. H . Lampe, s. vv., verzeichneten Stellen. • So vor allem E. Bishop und im Anschluß an ihn J. A. Jungmann, Stellung Christi, S. 217 ff., allerdings mit der Einschränkung, „daß auch kaum irgendwo die Bilder fehlen, die zu kindlichem Vertrauen und inniger Dankbarkeit laden", und das „Vorherrschen der Furcht" nicht bedeute, „daß das Motiv der Liebe dadurch ausgeschlossen wäre" (S. 222). 7 So K. Adam, S. 57 ff.

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den Liebe gedeutet wird und der Prediger Christus sagen läßt: „Deinetwegen habe ich mich anspeien und ins Angesicht schlagen lassen, habe ich mich meiner (himmlischen) Herrlichkeit entledigt, habe ich den Vater verlassen und bin zu dir gekommen, (zu dem), der mich haßte, der sich von mir abkehrte und nicht einmal meinen N a m e n hören wollte. Ich habe dich verfolgt, bin dir nachgelaufen, um dich festzuhalten. Ich habe dich mit mir verbunden und geeint. Iß midi, sprach ich zu dir, trink mich! Ich halte dich oben (in meinem „angenommenen" und erhöhten Menschenleib) und umschlinge dich auf Erden. Genügt es dir nicht, daß idi oben deinen Erstling festhalte? Stillt dies nicht deine Sehnsucht? U n d wiederum stieg ich herab und verbinde midi (nun) nicht einfach mit dir (οΰχ απλώς μίγνυμαί σοι), sondern . . . lasse mich von dir kauen, in kleine Stüdte zermalmen (τρώγομαι, λεπτύνομαι κατά μικρόν), damit die Vermischung (άνάκρασις), Verbindung (μϊξις) und Einung völlig sei." 8 Allein, wenn auch Beweis der „innigsten Liebe", mit dem Christus audi uns zu immer größerer Liebe locken und erwecken will 9 , offenbart die eucharistische Selbstvergegenwärtigung Christi, die Darreichung „eben jenes Leibes, der in der Höhe thront, der von den Engeln angebetet wird und der unverwelklichen (göttlichen) Macht (ακήρατος δύναμις) selbst nahe ist" 1 0 , für Chrysostomos zugleich die K l u f t zwischen dem, der durch die H a n d des Priesters das eucharistische Opfer selbst vollzieht, und dem von ihm um Unendlichkeiten geschiedenen sündigen Menschen, ist sie zugleich „mysterium tremendum", dem man sich nur in „Furcht (φρίκη) und völliger Reinheit" nahen darf 1 1 . U n d eben dieser Aspekt ist es auch, der Chrysostomos nicht nur den Blick öffnet für die Erhabenheit, den wahrhaft „überirdischen" Charakter priesterlichen Dienstes, sondern ihn auch der Frage konfrontiert, wie ein Mensch zu solchem Dienst überhaupt tauglich sei, zu dem man ja wohl so „rein" sein müsse, wie wenn man „im Himmel selbst mitten unter den Engelmächten stünde" 1 2 . Als Antwort auf diese ihn sichtlich bedrängende Frage verweist er bemerkenswerterweise nicht auf die Ordination, dank deren der Geweihte — so bekanntlich die augustinische Lösung des Problems 1 3 — ein für alle8 In ep. I ad Tim., h. 15 (Field, VII, 138; M G 62, 586); vgl. dazu G. Fittkau, S. 124 ff., bes. 132. 9 In ep. I ad Cor., h. 24 (Field, II, S. 293—297, bes. 295; M G 61, 204); vgl. audi etwa in ev. Ait., h. 25 al. 26, 3 (M. VII, 310 f.; M G 57, 331). 10 In ep. ad Eph., h. 3 (Field, IV, S. 131; M G 62, 28). 11 In ep. I ad Cor., h. 24 (Field, II, 293; M G 61, 203); vgl. audi etwa cat. bapt. (Montfaucon) I, 2 (M. II, 227 f.; M G 49, 225); de poen., 9 (M. II, 349 f.; M G 49, 345 f.); in diem natal. D. Ν . I. Chr., 7 (M. II, 364—366; M G 49, 360—362); de prod, lud., 2, 6 (M. II, 394—396; M G 49, 389—393); in ev Mt., h. 50 al. 51, 3 (M. VII, 517 f.; M G 58, 507—508); h. 82 al. 83, 5 (788 f.; 743 f.); in ep. ad Eph., h. 3 (Field, IV, 132—135; M G 62, 28—30); h. 14 (251—253; 104—106). 1 1 De sacerdot., III, 4 (Nairn, 54; M G 48, 642). 13 Vgl. A. M. Ritter, S. 81 ff. 258 (bes. A. 328). Die Behauptung T. Spacils, daß auch

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mal die Fähigkeit für den korrekten Sakramentsvollzug besitzt. Die Ordination spielt bei ihm in diesem Zusammenhang höchstens insoweit eine Rolle, als sie die „rechtliche", ordnungsgemäße Voraussetzung für den Dienst am Altar bildet, der audi für ihn allein den geweihten Priestern zukommt. Aber das wird von ihm in diesem Zusammenhang eher vorausgesetzt als eigens und ausführlich erörtert. Jedenfalls ist für ihn mit dem Hinweis auf die Ordination die Frage nach der inneren, „geistlichen" Vollmacht und Berechtigung zum kultischen Dienst offenbar noch nicht wirklich beantwortet. Vielmehr erhebt er im Blick auf die „Heiligkeit" des Altardienstes einerseits die Forderung eines heiligmäßigen Wandels der Priester, der ihrer hohen Aufgabe entspricht, so als hinge alles von ihrer „peinlichen Reinheit und außerordentlichen Gewissenhaftigkeit (ευλάβεια)" ab 14 . Auf der anderen Seite ist es wohl auch im Blick auf sie gesagt, wenn es im selben Zusammenhang heißt, daß „keine menschliche Seele" die „Flamme" des göttlichen Geistes, die der Priester auf das eucharistische Opfer herabfleht, „auf daß durch dasselbe die Seelen aller entflammt werden und in hellerem Glanz erstrahlen als im Feuer geläutertes Silber", „je ertragen" könnte, sondern „daß alle vollständig vernichtet würden" (vgl. l . K ö . 18!), „wenn ihnen nicht Gott zu Hilfe käme mit seiner mächtigen Gnade" 1 5 . An einer anderen Stelle, in den Homilien zum Johannesevangelium, drückt sich Chrysostomos noch unmißverständlicher aus. So sehr er gerade im Blick auf den Dienst am Altar auf eine ernstliche Prüfung und Selbstprüfung der Priesteramtskandidaten dringen zu müssen glaubt, so verständlich er es findet, wenn man am „leichtsinnigen Lebenswandel" (ραθυμία) von Priestern und Bischöfen Anstoß nimmt, so wenig will er auf der anderen Seite der Meinung Vorschub leisten, als sei es der „Reine", der sittlich untadelige Priester, der „kraft seiner eigenen Reinheit" (άπό της οικείας . . . καθαρότητος) den Hl. Geist „herabziehe" (έπισπαται). Vielmehr sei es allein „die Gnade", die alles wirke (vgl. 1. Kor. 3,22). „Doch was rede ich von den Priestern", fährt Chrysostomos fort. „Weder Engel noch Erzengel vermögen etwas selbständig auszurichten hinsichtlich dessen, was ihnen anvertraut ist (έργάζεσθαι . . . ε'ις τα δεδόμενα). Sondern Vater, Sohn und Geist sind es, deren Anordnung und Walten (οίκονομείν) alles zu verdanken ist. Der Priester leiht (δανείζει) lediglich seine Zunge (bei der Epiklese) und bietet seine Hand (bei der Darbringung des Opfers) dar." 1 6 Chrysostomos die Auffassung geteilt habe, daß das sacramentum ordinis ein donum permanens et indelebile per modum characteris verleihe, so daß ein einmal geweihter Bischof oder Presbyter niemals seiner Würde völlig beraubt werden könne (T. Sparii, S. 192), entbehrt, soviel idi sehe, jeglidier Grundlage. 14 De sacerdot., VI, 4 (Nairn, 147; M G 48, 681). 1 5 De sacerdot., III, 4 (Nairn, 53; M G 48, 643). " In ev. Joh., h. 87 al. 86, 4 (M. V i l i , 518; M G 59, 472).

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Dieser rein instrumentale Charakter des priesterlichen Dienstes wird auch sonst von Chrysostomos mit Nachdruck betont und herausgestellt. Er gilt f ü r ihn übrigens keineswegs nur vom Dienst am Altar. Wie vielmehr Christus in der Eucharistiefeier „gegenwärtig ist und das Mahl ausrichtet" und „nicht ein Mensch" bewirkt, „daß das, was (vor ihm auf dem Altar) liegt, zum Leib und Blut Christi wird", sondern der am Altar stehende und das Bittgebet darbringende Priester Christus, den eigentlich Handelnden, „lediglich vorstellt" (σχήμα μόνον πληρών), während die „Gnade und Macht Gottes" es ist, „die alles wirkt" 1 7 , so ist es, erklärt Chrysostomos, beispielsweise auch bei der Taufe. „Wir (Priester) bewirken nicht aus uns selbst die (Wieder-)Geburt, sondern das Ganze ist das Werk der göttlichen Gnade." 1 8 Wie bei Isaaks Geburt aus Sara, der Unfruchtbaren, aufgrund der göttlichen Verheißung, so hat „auch bei unserer Wiedergeburt (άναγέννησις) die (menschliche) N a t u r nichts zu schaffen; vielmehr waltet . . . das durch den Priester gesprochene Wort Gottes (τά δέ ρήματα τοΰ θεοϋ δια του ιερέως λεγόμενα) im Taufbecken (κολυμβήθρα) wie in einem Mutterschoß und gestaltet und gebiert den Täufling zu neuem Leben" 19 . Ebenso steht es schließlich mit der Segensspendung. Auch hier ist es nach Chrysostomos „nicht ein Mensch, der segnet (ό εύλογων), sondern durch seine (des segnenden Priesters) H a n d und Zunge bieten wir die Häupter der Anwesenden dem (himmlischen) König selbst zum Segnen dar" 2 0 . Für diesen Sachverhalt findet er in der biblisdien Geschichte Alten und Neuen Testamentes eine Fülle illustrativer Beispiele. So verweist er in diesem Zusammenhang mit Vorliebe auf die Geschichte von Bileam und seiner Eselin (Num. 22—24), an die er etwa folgende Erwägung anschließen kann: „Auch durch Bileam wirkte Gott, wie er auch dem Pharao und Nebukadnezar eine Offenbarung zuteil werden ließ; und auch Kaiphas weissagte, obwohl er nicht wußte, was er sagte; endlich haben auch mandi andere, die es nicht mit Jesus hielten, Dämonen ausgetrieben in seinem Namen. Denn weil solches nicht um derer willen geschieht, die es wirken, sondern 17

De prod. lud., 2, 6 (Μ. II, 394 f.; MG 49, 389 f.). In ep. II ad Thess., h. 4 (Field, V, 483; MG 62, 492). 19 In ep. ad Gal. comm. IV, 28 (Field, IV, 75; MG 61, 663); vgl. audi cat. bapt. (Papadopoulos-Kerameus) III (Papadopoulos-Kerameus, S. 169 o.); cat. bapt. (Stauronikita) II, 10. 26 (Wenger [SC 50], S. 138 f. 147 f.): „Nidit der Priester ist es nur, der dein Haupt berührt, sondern auch die rechte Hand Christi. Das erhellt audi aus den Worten des Taufenden selbst; sagt er dodi nicht: ,Idi taufe den Soundso' [Βαπτίζω έγώ τόν δείνα], sondern: ,Es wird getauft der Soundso" [Βαπτίζεται ό δείνα], womit er deutlich macht, daß er nichts als ein Diener der Gnade [διάκονος . . . της χάριτος] ist und lediglich seine Hand darbietet, weil er dazu vom Geist verordnet worden ist [τέτακται]. Der dagegen alles vollführt, ist Vater, Sohn und Hl. Geist . . . " ) ; in ev. Mt., h. 50 al. 51, 3 (M. VII, 517; MG 58, 507). 10 In ep. II ad Cor., h. 2 (Field, III, 31; MG 61, 404). 18

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u m d e r a n d e r e n willen, ist dergleichen o f t auch d u r c h U n w ü r d i g e geschehen. W a s w u n d e r t es dich auch . . .

? P a u l u s s a g t j a : .Alles ist euer, sei es P a u -

lus, sei es A p o l l o s , sei es K e p h a s , sei es . . . L e b e n o d e r T o d ' ( 1 . K o r . 3 , 2 1 . 2 2 ) ; u n d ein a n d e r e s M a l : , E r selbst bestellte einige z u A p o s t e l n , a n d e r e z u P r o p h e t e n , a n d e r e z u H i r t e n u n d L e h r e r n , d a m i t die H e i l i g e n z u g e r ü s t e t w ü r d e n z u m W e r k des D i e n s t e s ' ( E p h . 4 , 1 1 . 1 2 ) . D e n n w e n n es nicht so w ä r e , so h ä t t e nichts es v e r h i n d e r t , d a ß alle ( l ä n g s t ) z u g r u n d e

gegangen

w ä r e n ! . . . W e d e r w ü r d e es die T a u f e , noch d e n L e i b C h r i s t i geben, noch d u r c h jene (die P r i e s t e r ) d i e O p f e r d a r b r i n g u n g geschehen, w e n n die G n a d e a l l e n t h a l b e n die W ü r d i g k e i t v o r a u s s e t z t e (εί πανταχού τήν άξίαν ή χάρις έζήτει) . . . I d i sage dies, d a m i t n i e m a n d u n t e r den A n w e s e n d e n a r g w ö h n i s c h d e n L e b e n s w a n d e l des P r i e s t e r s u n t e r die L u p e n e h m e (τόν βίον περιεργαζόμενος του ιερέως)" u n d d a n n in seinem G l a u b e n a n die H e i l s w i r k s a m k e i t d e r S a k r a m e n t e i r r e w e r d e (σκανδαλίζεται περί τά τελούμενα). „ D e n n

der

M e n s c h t r ä g t nichts bei z u d e m , w a s h i e r geschieht; s o n d e r n das G a n z e ist d a s W e r k d e r M a c h t G o t t e s , u n d er ist es, d e r euch in die Geheimnisse einw e i h t (κάκεΐνός έστιν υμάς ό μυσταγωγών)." 2 1 D a m i t ist auch bereits deutlich g e w o r d e n , in w e l c h e m Sinne C h r y s o s t o m o s den priesterlichen D i e n s t i n s t r u m e n t a l v e r s t e h t u n d d a h i n t e r G o t t selbst a m W e r k sieht, ein G e d a n k e , den m a n in d e r T a t als H e r z s t ü c k d e r c h r y s o stomischen S a k r a m e n t s t h e o l o g i e 2 2 w i e seines A m t s v e r s t ä n d n i s s e s bezeichnen 2 1 In ep. I ad Cor., h. 8 (Field, II, 90 f.; M G 61, 68 f.); vgl. auch in ep. I ad Thess., h. 11 (Field, V, 434; MG 62, 463); in ep. ad Col., h. 3 (Field, V, 207—209; MG 62, 322 f.); in ep. ad Hebr., h. 24 (Field, VII, 276 f.; MG 63, 170—172). 2 2 Vgl. A. Wenger, SC 50, S. 96; P. W. Harkins, A C W 31, S. 226. — Wenn T. Spacil (S. 187) und J . N. D. Kelly (S. 427) darin allerdings die efficacia sacramentorum „ex opere operato" mindestens implizite bezeugt sehen, so wird man ihnen nur teilweise zustimmen können. Wohl wehrt Chrysostomos die Herleitung der Heilswirksamkeit der Sakramente „ex opere operantis" mit gleicher Entschiedenheit ab wie die antidonatistische Theologie des Westens, ohne darüber jedoch in das entgegengesetzte Extrem zu verfallen, d. h. vor allem, ohne die Bedeutung des Glaubens auf Seiten des Sakramentsempfängers auf ein „non ponere obicem" (vgl. Cone. Trident., Sess. V I I ; Denzinger, 843 äff.) zu beschränken. Vielmehr ist für ihn der Glaube „die unabdingbare Voraussetzung der objektiven Verwirklichung und Aneignung" des „Heilsgehalts" der Sakramente (G. Fittkau, S. 118). Ebenso wenig wird man sich, meine ich, damit zufrieden geben können, wenn J . Lécuyer aus seiner Analyse der chrysostomischen Aussagen über Christus als den Herrn des eudiaristischen Mahles, eines Gedankens, den J . Betz bei Chrysostomos „in einem Maße" betont findet wie bei keinem zweiten Autor „in der gesamten griechischen Patristik" ( J Betz, I, 1, S. 102), das Fazit zieht: „Auf Erden erneuert sich das Opfer Christi, wenn auch unter Zeichen, unter Symbolen; und wenn der himmlische Hohepriester fortfährt, sich hier zu opfern, so geschieht es durch die Hände seiner Diener, die mit seiner Macht und Autorität ausgestattet sind" (J. Lécuyer, Sacerdoce céleste, S. 579). Denn hier dürften die Akzente doch etwas anders gesetzt sein als bei dem Autor selbst. Chrysostomos geht es weniger um die Betonung des priesterlichen Mittlertums, der den Priestern „ein für alle Mal . . . (verliehenen) Konsekrationsgewalt" (G. Fittkau, S. 202), als vielmehr um die Hervorkehrung der „göttlichen Hauptursächlichkeit" (G. Fittkau, ebd.) als Gewähr für die objektive, von der Person und Beschaffenheit des priesterlichen

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kann. Dies will erstens besagen, daß Gott es ist, der zu „Hirten und Lehrern" bestellt, in dessen Namen Priesterweihen erteilt werden, so daß der Dienst der Sakramentsspendung immer wieder geschieht. Die Vollmacht und Gültigkeit dieses Dienstes aber beruht, zweitens, allein auf dem „Wort Gottes", dem Wort, so dürfen wir es wohl interpretieren, mit dem Christus die Sakramentsspendung befohlen 23 und zur Bitte um den Geist in der Gewißheit ihrer Erhörung ermächtigt hat, dessen Gnadenwirken alles selbst verrichtet. Drittens hängt die Heilswirksamkeit der Sakramente nicht von der „Heiligkeit" des Spenders, sondern vom Glauben des Empfängers ab. „Auf deinen Glauben", kann Chrysostomos sagen, „ist sein (des Priesters) ganzes Wirken ausgerichtet (προς τήν πίστιν την σήν τό πάν ενεργείται). Weder wird dir ein Gerechter etwas nützen, wenn du nicht gläubig bist, noch ein Sünder etwas schaden, wenn du nur Glauben hast . . . Das Opfer (προσφορά) ist dasselbe, ob es nun der erste beste (Priester) oder aber ein Petrus darbringt; es ist immer dasselbe Opfer, das der Herr seinen Jüngern darreichte und das die Priester heute vollziehen. In nichts ist dieses geringer als jenes, weil es ja nicht Menschen konsekrieren (άγιάζουσιν), sondern derselbe, der auch jenes (erste Abendmahl) konsekrierte. Ebenso wie die Worte, die aus Gottes Mund kamen, dieselben sind, die der Priester heute spricht, so ist auch das Opfer dasselbe und die Taufe, die er gestiftet hat (δπερ έ'δωκεν). Auf diese Weise beruht alles auf dem Glauben (Οΰτω τό παν της πίστεώς έστιν) . . , " 2 4 . Und indem man so hinter dem priesterlichen Tun allenthalben die „Gnade" am Werk sieht, ist für Chrysostomos nicht nur gewährleistet, worauf es

Heilsmittlers unabhängige Heilswirksamkeit der Sakramente, und zwar in der Weise und mit der Konsequenz, daß der Glaube als das „volle Vertrauen" zu Gott, als das unbeirrbare „Sichklammern" an sein Wort (in ev. Mt., h. 82 al. 83, 4 : M. V I I , 787 f.; M G 58, 743) dank der im „ W o r t " verheißenen und verbürgten alleinigen Heilsursächlichkeit Gottes als des im Sakrament eigentlich Handelnden das wirklich empfängt und „hat", was er glaubt. Damit aber scheint mir Chrysostomos nicht einfach „altsyrische" Traditionen „wenig verändert" aufgenommen haben (gegen G . Kretschmar, Geschichte, S. 189), eben weil mit der — sicher älteren — Vorstellung der „realen" Mittlerschaft des Priesters (zu den Belegen s. G . Kretschmar, a.a.O., S. 125 ff.) der Skopos der chrysostomischen Aussagen noch gar nicht getroffen ist. Ebenso erscheint es mir als sehr zweifelhaft, ob es für die sich bei Chrysostomos artikulierende „Wort-Theologie" selbst im antiochenischen Bereich wirkliche Parallelen gibt (gegen G . Kretschmar, a.a.O., S. 174, A. 92). D a ß schließlich Chrysostomos nicht wesentlich weitergegangen und zu einer „tieferen Durchdringung des gegenseitigen Verhältnisses der beiden Elemente des Heilsprozesses", nämlich „des menschlichen und des göttlichen Elements in den priesterlichen Kulthandlungen" vorgestoßen ist (G. Fittkau, S. 207), mag man als Katholik kritisieren und als „Unausgewogenheit" empfinden (G. Fittkau, ebd.). Eine Theologie des Wortes jedoch kann solcher „Präzisionen" durchaus entra ten! 2 3 S. de prod. lud., 1, 6 (M. I I , 3 8 4 ; M G 49, 3 8 0 ) ; vgl. auch 2, 6 (394 f . ; 3 8 9 — 3 9 0 ) und in ev. Mt., h. 82 al. 83, 4 (M. V I I , 787 f.; M G 58, 743). 2 4 In ep. I I ad Tim., h. 2 (Field, V I , 182; M G 62, 6 1 4 ) ; vgl. expos, in Ps. 115,2 (M. V , 3 1 1 ; M G 55, 322); in ev. Mt., h. 82 al 83, 4 (M. V I I , 787 f.; M G 58, 743); dazu G . Fittkau, S. 101—118.

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ihm wohl vor allen Dingen ankommt, daß um der offen zutage liegenden oder auch unerkannten Sünde eines anderen, des Priesters, willen „diejenigen, die im Glauben herzutreten, keinen Schaden nehmen" hinsichtlich des Gebrauchs der Sakramente, der „Symbole unseres Heils" 25 . Vielmehr folgt daraus auch, daß der Dienst, der die Würde des Priestertums schier ins Ungeheuerliche zu steigern scheint, gleichwohl nach Meinung des Chrysostomos keinen Habitus voraussetzt oder begründet, der den Kultdiener wesenhaft — qualitativ aus der Gesamtheit der Gliedschaft der Kirche heraushöbe, sondern gerade in der Solidarität derer festhält, die vom Geiste leben und auf den Geist bleibend angewiesen sind. Dies kommt auch in der Liturgie, in der priesterlichen Salutation „Friede sei mit allen" (Ειρήνη πάσιν) und der Antwort der Gemeinde „Und mit deinem Geiste" (και τφ πνεύματί σου) zum Ausdruck, deren Sinn Chrysostomos immer wieder ins Bewußtsein zu heben sucht26. Und noch ein Letztes ist hier zu sagen. So bedeutsam die Eucharistie für Chrysostomos, den „Doctor Eucharistiae", ohne Frage ist, wie er in der neueren katholischen Theologie — allerdings nodi immer ohne kirchenamtliche Sanktionierung dieses Ehrentitels — gern bezeichnet wird 27 , so wenig darf sie für ihn vom Lebensgottesdienst des Christen isoliert werden, wenn anders ihr Sinn und ihr Nutzen nicht gefährdet werden sollen. Hier aber sind die Laien, deren Rolle bei der sakramentalen Opferhandlung als rein passiv gekennzeichnet wird 28 , zu höchster Aktivität aufgerufen. Zielt die Eucharistie dodi auf den „Frieden" und die Gemeinschaft unter den Kommunizierenden ab. Wer daher diesen Frieden mit dem Nächsten nicht aufrechtzuerhalten oder von neuem herzustellen sucht, der mag nach Chrysostomos immerhin am eucharistischen Opfer teilnehmen. Doch wird ihm diese Teilnahme gar nichts fruchten 29 . Ja, Chrysostomos kann, um diesen Zu25

In ev. Joh., h. 87 al. 86, 4 (M. V i l i , 518 f.; MG 59, 472 f.). De s. Pentecoste, 1, 4 (M. II, 463; MG 50, 458 f.); vgl. auch in ev. Mt., h. 32 al. 6 (M. VII, 372—374; MG 57, 384 f.); in ep. I ad Cor., h. 36 (Field, II, 458; 61, 312); in ep. II ad Cor., h. 18 (Field, III, 198; MG 61, 528); in ep. ad Col., (Field, V, 207—209; MG 62, 322 f.). !7 Für dessen Anerkennung hat sich besonders A. Naegle eingesetzt, wie sdion aus dem Titel seiner Monographie über die Eucharistielehre des Chrysostomos hervorgeht. Dodi konnte er sich bereits auf eine feste Tradition stützen, einsetzend wohl mit dem berühmten antikalvinistischen Werk der beiden Franzosen Antoine Arnauld und Pierre Nicole, La Perpétuité de la foi de l'Eglise catholique touchant l'Eucharistie (2. Aufl. in 3 Bden Paris 1670—1674; Bd. 4 und 5, hg. v. R. Eusebius 1711—1713), nach dem Chrysostomos neben Kyrill von Alexandreia zu den Vätern zu rechnen ist, „qui semblent choisis de Dieu pour être les principaux Témoins de la foi de l'Eucharistie" (t. III, 1. 7, 8; S. 523; zit. bei A. Naegle, S. 6, A. 1). Statt dessen hat das päpstliche Lehramt Chrysostomos inzwischen zum Vorbild und offiziellen Patron der christlichen Prediger proklamiert (ASS, 41, 1908, S. 594—595), womit seiner wirklichen Bedeutung audi eher 28 Rechnung getragen sein dürfte. Vgl. G. Fittkau, S. 203. 28 D e prod. lud., 2, 6 (M. II, 395; MG 49, 390); vgl. auch in ev. Mt., h. 16, 9 (M. VII, 216 f.; MG 57, 250 f.). « 33, MG h. 3

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sammenhang als möglichst eng und unlöslich erscheinen zu lassen, den von allen Glaubenden erwarteten Lebensgottesdienst, die Hinwendung zum Nächsten, in derselben Kultterminologie umschreiben wie das liturgische Opfer: „ . . . Willst du", heißt es etwa in einer der Homilien zum zweiten Korintherbrief, „den Altar (θυσιαστήριον) dieses Priesters sehen", des Barmherzigen nämlich, den die Liebe zum Nächsten zu priesterlicher Würde erhebt, angetan mit dem Mantel der Barmherzigkeit und gesalbt mit vom H l . Geist selbst bereitetem ö l ? „Nicht Bezaleel hat ihn gebaut (vgl. Exod. 35) oder sonst ein Künstler, sondern Gott selbst, und zwar nicht aus Steinen, sondern aus einem Stoff, der weit herrlicher ist als der Himmel . . . Dieser Altar besteht aus Christi Gliedern selbst, und des Herrn Leib wird dein Opferaltar . . . Dieser Altar ist schauererregender selbst als der, (an dem wir) jetzt (opfern)", weil er nicht nur den Leib des Herrn „aufnimmt", sondern „der Leib Christi selbst isti Darum ist dieser (Altar), an dem du als Laie amtierst (φ συ παρέστηκας ό λαϊκός), schauererregender (φρικωδέστερον) als jener (eucharistische Altar) . . . Diesen Altar kannst du überall errichtet finden, auf Straßen und Märkten; an ihm kannst du zu jeder Stunde opfern; ja, auch hier wird ein O p f e r zelebriert (τελείται). Und wie der Priester (am Altar) steht und den Geist herabfleht, so rufst auch du den Geist an, zwar nicht mit Worten (διά φωνής), wohl aber mit Werken. Denn nichts erhält und entfacht so sehr das Feuer des Geistes wie dieses ö l , wenn es nur reichlich ausgegossen wird (vgl. Mt. 25,1—13)". Endlich sind der „Rauch" und der „Wohlgeruch", der von diesem Opfer aufsteigt, Lobpreisung (δόξα) und Danksagung (ευχαριστία), und sie dringen weiter als bis zum Himmel. „Denn deine Gebete und deine Almosen", heißt es, „sind aufgestiegen vor das Angesicht Gottes" (Apg. 10,4) 30 . Weder wird es sich hier um bloße Rhetorik handeln, die darauf abzielt, zum Almosengeben willig zu machen, obwohl das sicher eine Rolle spielt; noch liegt hier lediglich die bekannte Spiritualisierung «/itestamentlicher Kultbegriffe vor, wie sie zuerst im hellenistischen Judentum praktiziert und dann vom Neuen Testament an audi in der christlichen Theologie gang und gäbe geworden ist. Dient bei Chrysostomos doch gerade auch der christliche Kultus, das eucharistische Opfer, als Gegenüber und tertium compara30 In ep. II ad Cor., h. 20 (Field, III, 214—216; MG 61, 539 f.); vgl. auch in ev. Mt., h. 45 al. 46, 3 (M. VII, 479 f.; MG 58, 474 f.: „Hältst du es denn nidit für etwas Großes, den Bedier zu halten, aus dem Christus trinken, den er zu seinem Mund führen will? Weißt du nicht, daß es sonst nur dem Priester erlaubt ist, den Kelch des Blutes zu reichen? . . . Bedenke (also) wohl, wer es ist, dem du zu trinken gibst, und sei voll heiliger Scheu (φρίξον). Bedenke, daß du zum Priester Christi wirst, indem du mit eigener Hand nicht Fleisch, sondern Brot, nicht Blut, sondern einen Bedier frischen Wassers reichst. Christus . . . hat dir die Herrlichkeit des Himmels verliehen; befreie du ihn wenigstens von Kälte, Blöße und Scham. Er hat dich zum Mitbürger der Engel gemadit; teile du wenigstens dein Dach mit ihm . . . " ) ; vgl. dazu jetzt vor allem P. Rentinck, S. 71 f. 334 f.

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tionis. So werden wir diese Aussagen wohl, was immer sonst noch zu ihnen zu sagen sein mag, in der T a t als Ausdruck des unlösbaren Zusammenhangs zwischen Eucharistie und der λογική λατρεία (Rom. 12,1.2), dem Gottesdienst im Alltag der Welt, zu nehmen haben, welcher das ganze Leben des Christen zu einem priesterlichen macht. Dies wird nicht zuletzt auch dadurch nahegelegt, daß Chrysostomos hier wie an vielen anderen Stellen von der Gegenwart Christi im notleidenden Nächsten ebenso „realistisch" reden kann wie von seiner Selbstvergegenwärtigung unter den Gestalten von Brot und Wein 3 1 , was auch seinen vielbeschworenen „Abendmahlsrealismus" — vielleicht — in einem neuen Licht erscheinen läßt 3 2 ! 3 1 Vgl. in ev. Mt., h. 7,5 (M. V I I , 113; M G 57, 7 9 ) ; h. 49 al. 50, 5 (M. V I I , 510 f.; M G 58, 502 f . ) ; h. 50 al. 51, 3. 4 (518 f.; 5 0 8 — 5 1 0 ) ; h. 88 al. 89, 3 ( 8 2 7 — 8 2 9 ; 778 f . : „ . . . L a ß t uns also so gesinnt sein und uns so verhalten, als wäre es Christus selbst, dem wir unsre Gaben darreichen. Seine Worte sind j a viel glaubwürdiger als das, was wir sehen! Wenn du also einen Armen siehst, so gedenke der Worte, durch die er kundtat, daß er es sei, der gespeist wird. Ist es auch Christus nicht dem Augenschein nach, so ist er es dennodi, der in der Gestalt dieses [Bettlers] selbst [die G a b e ] empfängt und erbittet"); in ev. J o h . h. 40 al. 39, 4 (M. V i l i , 2 4 2 ; M G 59, 2 3 4 ) ; h. 59 al. 58, 4 (350 f.; 3 2 8 ) ; in ep. I ad Tim., h. 14 (Field, V I , 117 f.; M G 62, 573 f . ) ; in ep. ad Col., h. 1 (Field, V. 178 f.; M G 62, 304); h. 7 (250; 349); vgl. auch etwa noch die Textzusammenstellung in der Ekloge „De eleemosyna et hospitalitate" ( M G 63, 7 1 5 — 7 3 2 ) und dazu die A u f schlüsselung bei J . A . de Aldama, Repertorium, S. 104 f. 3 2 I n der Annahme eines massiven Realismus bei Chrysostomos ist sich die ältere wie neuere Forschung über alle Konfessionsgrenzen hinweg weitgehend einig. O b man nun mit den Verfassern der „Perpétuité" (s. o. S. 106, Α. 27) und in neuerer Zeit vor allem mit A . Naegle (S. 65 ff.) in den Aussagen des Chrysostomos die Lehre von der Transsubstantiation präfiguriert sieht (dagegen katholischerseits etwa P. Batiffol, Études d'histoire et de théologie positive, 2 ^ m e série: L'Eudiaristie, la présence réelle et la transsubstantiation, 8. Aufl. Paris 1920, S. 409 ff.; G . Fittkau, S. 105 f.) oder mit O. Casel und seiner Schule (vgl. dazu Th. Filthaut, Die Kontroverse über die Mysterienlehre, 1947, und neuerdings etwa B. Neunheuser, Mysteriengegenwart) der Meinung ist, er habe die Weise der Vergegenwärtigung des Heilswerks Christi im Abendmahl der Kirche im Sinne des „Kulteidos Mysterium" als „Mysteriengegenwart" verstanden (dagegen vor allem G . Fittkau, bes. S. 145 ff.), oder ihm endlich die Anschauung einer „kommemorativen Aktualpräsenz" zuschreibt (so J . Betz, I, 1, S. 183 ff. 293 ff.), in jedem Fall ist es so gut wie allgemeine Ansicht, daß Chrysostomos die „vollkommene Identität" der konsekrierten Abendmahlselemente mit dem wirklichen (verklärten) Leib Christi gelehrt und sich dabei „selbst vor den verwegensten und schauderhaftesten Ausdrücken nicht gescheut" habe (A. v. Harnack, Dogmengeschichte, I I , S. 4 6 2 ; vgl. auch etwa J . N . D . Kelly, S. 2 4 4 : „ . . . Chrysostome exploits the materialist implications of the conversion theory to the full"). F. Loofs freilich erklärte sich von der Richtigkeit dieser Annahme nicht wirklich überzeugt (F. Loofs, Abendmahl, S. 54 f.); er meinte vielmehr, daß es sich dabei eher um vulgäre Rhetorik als um dogmatische Theorie handele. D a r a n ist, meine ich, so viel richtig, daß man die chrysostomischcn Abendmahlsaussagen nicht, wie es meist geschehen ist, für sich betrachten und etwa übersehen darf, daß er einerseits nicht nur bei der Eucharistie, sondern audi bei der Taufe, j a bei jedem nur der Glaubenserkenntnis zugänglichen Mysterium ein αίσθητόν und ein νοητόν unterscheidet (s. G . Fittkau, S. 105 f.), so daß es ganz abwegig wäre, in dieser Formel „einen direkten Beweis der Lehre von der Transsubstantiation zu sehen" (G. Fittkau, S. 105, A. 3), und

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b) Die Funktion der Wortverwaltung N u n aber ist die kultische Funktion für Chrysostomos zwar die erhabenste, keineswegs aber die Amtsverrichtung κατ' έξοχήν, die alle anderen in den Schatten stellte. Vielmehr ist das Bild des kirchlichen Amtsträgers, wie es uns in den chrysostomischen Schriften entgegentritt, ungleich stärker geprägt von den Funktionen der Seelsorge, der Predigt, der „Lehre". D a ß dies, die Wortverwaltung im weitesten Sinne, die προστασία mittels der διδασκαλία und der παράκλησις1, für Chrysostomos in Wahrheit nicht nur die anspruchsvollste 2 , sondern auch die wichtigste und sinngebende A u f gabe des Amtes sei, ist sowohl der Geläufigkeit zu entnehmen, mit der er die Begriffe „Bischof" („Presbyter") und „Lehrer" parallelisiert 3 , als auch Äußerungen wie der: „Wo die Belehrung durch das Wort (ή δια τοΰ λόγου διδασκαλία) fehlt, da fällt auch alles andere dahin" (πάντα οίχήσεται τά λοιπά) 4 . Wie es für ihn audi schon zur Zeit der Apostel vorzüglich das „Wort" gewesen ist, durch das „wie durch Blutadern und Arterien" allen „Gliedern" des „Leibes" der Kirche „ewiges Leben" zuströmte 5 . So kann er es auch ohne weiteres den Pastoralbriefen nachsprechen, daß die spezifische Eigenschaft der Bischöfe (τό των έπισκόπων έξαίρετον) die sei, zum andern, daß er von der Gegenwart Christi im notleidenden Nächsten ebenso „realistisch" reden kann wie von seiner eucharistischen Selbstvergegenwärtigung. Im einen wie im andern Falle dürfte es sich aber nicht um bloße Rhetorik handeln, sondern das durch den Augenschein nicht beirrte „Sichklammern" an das „Wort" Christi die Hauptwurzel des chrysostomischen „Realismus" sein (vgl. nur in ev. Mt., h. 88 al. 89, 3 [s. die vorige Anm.] mit h. 82 al. 83, 4 [oben A. 24]: „Da nun sein Wort lautet: ,Dies ist mein Leib', wollen wir uns dem beugen und vertrauensvoll glauben und ihn", den Leib Christi, „mit unseren geistigen Augen schauen . . . " ! ) . Diese im Wort verheißene und verbürgte „reale" Gegenwart Christi wird dann allerdings von Chrysostomos bis in die letzten Konsequenzen hinein festgehalten und als Motiv der Ethik in einer Weise ausgebeutet, die für modernes Empfinden in der Tat gelegentlich als geschmacklos und vulgär erscheinen mag. Ober das Wie? der Gegenwart des νοητόν im αίσθητόν ist er dagegen nie zur völligen Klarheit gelangt oder hat er auch nur die Neigung zu einer dogmatischtheoretischen Klärung zu erkennen gegeben. 1 In ep. ad Rom., h. 22 (21: Field, I, 362; MG 60, 604). * Vgl. in ep. I ad Cor., h. 3 (Field, II, 24 f.; MG 61, 25—27). 3 Vgl. S. 85, A. 54; ferner etwa noch in ascens. D. Ν. I. Chr., 1 (Μ. II, 447 f.; MG 50, 443); in ep. I ad Thess., h. 10 (Field, V, 421; MG 62, 455); h. 11 (84; 553: Paulus übergeht in l . T i m . 3 das τάγμα der Presbyter und geht von den Bischöfen sogleich zu den Diakonen über. Warum? Weil der Unterschied zwischen ihnen und den Bischöfen nicht sonderlich groß ist. Sie haben ja gleichfalls das Lehr- und Vorsteheramt der Kirche übernommen!); de prov. Dei, 13 (Malingrey [SC 79], S. 188. 192; MG 52, 509); cat. bapt. (Stauronikita) VI, 2 (Wenger [SC 50], 216). 4 De sacerdot., IV, 3 (Nairn, 110; MG 49, 665). Von daher kann er auch die Kirche als διδασκαλεΐον πνευματικόν bezeichnen: in ev. Mt., h. 17, 7 (Μ. VII, 232; MG 57, 264); vgl. auch in ev. Joh., h. 29 al. 28, 3 (M. V i l i , 168; MG 59, 170); cum presb. fuit ordin., 1 (M. I, 437 f.; MG 48, 693 f.). 5 In ep. ad Eph., h. 11 (Field, IV, 221; MG 62, 85); vgl. auch oben S. 28 mit A. 24. 26.

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daß sie die „Lehrgabe" besitzen, daß sie διδακτικοί sind (1. Tim. 3,2; vgl. 2. Tim. 2,24)®, während alle übrigen in den „Bischofsspiegeln" dieser Briefe genannten Eigenschaften billigerweise von allen Christen gleichermaßen zu verlangen seien7. Denn „was wäre von größerem Wert (τί γαρ . . . τιμιώτερον)" als das „Sich-Mühen im Wort und in der Lehre" (κοπιάν έν λόγω και διδασκαλία), „was von größerem Nutzen (τί δέ χρησιμώτερον)"8? Enthält dodi das κήρυγμα „alles" in sich: „Gegenwärtiges und Zukünftiges, Leben, Gottesfurcht (ευσέβεια), Glauben, alles miteinander (πάντα όμοΰ)"9, und trägt nichts so sehr zur οικοδομή der Kirche bei wie die „vom Wort der Verkündigung ausgehende Belehrung" (ή άπό των λόγων διδασκαλία), auf die der Glaube, um „fortschreiten" (προκόπτειν) zu können, ständig angewiesen ist10. Wer die Predigten des Chrysostomos liest, gewinnt freilich leicht den Eindruck, als gehe es in ihnen vorwiegend darum, die Laster zu geißeln und die Tugenden zu preisen, so, wie Chrysostomos selbst einmal Inhalt und Aufgabe der Predigt umschrieben hat 11 . Bei genauerem Hinsehen aber erweist sich dieser Eindruck als zu vordergründig und oberflächlich, so daß es nicht überrascht, den Prediger gelegentlich gegenüber seiner antiochenischen Gemeinde klagen zu hören: „Seht, es ist nun schon das zweite Jahr, daß ich zu eurer Liebe so rede, und doch bin ich noch nicht imstande gewesen, euch hundert Verse (στίχοι) der heiligen Schrift zu erklären. Schuld daran ist, daß ihr das von uns lernen mußtet, was ihr von Haus aus (wissen solltet) und selbst hättet zuwege bringen können (απερ οίκοθεν και παρ* εαυτών δύνασθε κατορθοϋν); und den größten Teil meiner Unterweisung verwende ich notgedrungen auf die Sittenlehre (είς τον ήθικώτερον . . . λόγον). Das hätte nun keineswegs so sein sollen . . .; vielmehr hätten uns (nur) die Schrifterklärungen und -betrachtungen (των Γραφών δέ τα νοήματα και τάς •θεωρίας) überlassen bleiben sollen . . ." 12 Das aber heißt nichts anderes, als daß Chrysostomos die Aufgabe der Predigt vornehmlich in der Schrift6

In ep. I ad Tim., h. 10 (Field, VI, 76 f.; MG 62, 547 f.); h. 15 (131 f.; 581 f.); in ep. ad Tit., h. 2 (Field, VI, 279; MG 62, 673). 7 In ep. I ad Tim., h. 10 (Field, VI, 76 f.; MG 62, 547 f.). 8 Expos, in Ps. 44, 2 (M. V, 161; MG 55, 184). • In ep. ad Tit., h. 1 (Field, VI, 268; MG 62, 666); vgl. in ep. I ad Cor., h. 3 (Field, II, 24 f.; MG 61, 25 f.: Das εύαγγελίζεσθαι „umfaßte alles" [8 καΐ πάντα συνείχε, τοΰτο ήν] ; darum war audi Paulus damit beauftragt und nicht mit dem Taufen [1. Kor. 1,14.17]!). 10 In ep. I ad Tim., h. 15 (Field, VI, 131 f.; MG 62, 581 f. Allerdings ist der Text hier unsicher überliefert [s. den App. bei Field z. St.]. Immerhin böte die von zwei wichtigen HSS gebotene und auch bei Montfaucon und Migne aufgenommene Lesart: [δει γαρ και της από των λόγων διδασκαλίας] είς προκοπήν einen guten und durch andere Aussagen des Chrysostomos sehr wohl gedeckten Sinn); vgl. in act. apost., h. 44, 3 (M. IX, 333 f.; MG 60, 311) sowie oben S. 70 m. A. 2. 11 In ev. Joh., h. 23 al. 22, 1 (M. VIII, 131; MG 59, 137 f.). 1! Ad pop. antioch., h. 16, 2 (M. II, 162 f.; MG 49, 164).

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erklärung sieht: im „Zuspruch" (παράκλησις), in der Tröstung (παραμυθία) der Betrübten, da „die ganze Schrift" nichts als Tröstliches und Aufrichtendes enthalte, „auch wo es sich um geschichtlichen, erzählerischen Stoff handelt" 13 ; im „Dienst der Versöhnung" (διακονία της καταλλαγής), wie Paulus (2. Kor. 5,18) es formuliert hat 14 , darin, daß hörbar gemacht und weitergegeben werde, was durch den Mund der Apostel und Propheten Gott selbst geredet hat 15 . Und weil es sich dabei um klare und elementare Erkenntnis handelt 16 und nicht um die Aufdeckung geheimnisvoller Sachverhalte und Zusammenhänge, die nur dem „Eingeweihten" erkennbar wären und nur die intellektuelle Neugierde befriedigten, eine Geisteshaltung und ein Schriftverständnis, die Chrysostomos völlig fremd sind, darum kann und soll für ihn die Predigt auch darauf hinarbeiten, daß die Hörer selbst zu „Lehrern" werden, die wissen, woran und warum sie glauben und darum auch zum Zeugnis vor anderen taugen 17 . So verstanden aber ist die Wortverwaltung, wie Chrysostomos wohl bewußt ist, weit mehr als der Mysteriendienst dem „rauhen Luftzuge" der „kontrollierbaren Erfahrungswelt ausgesetzt"18. Darum widerstrebt es ihm auch, sie ebenso uneingeschränkt wie den Dienst am Altar oder gar wie die Wundercharismen der Urkirche als geistgewirkt zu bezeichnen. Sondern wie für ihn das von Paulus erwähnte Charisma der διδασκαλία zumindest nicht so ausschließlich wie das der Prophetie auf der Eingebung des Geistes beruhte, sondern auch mit „menschlicher Bemühung" (ανθρώπινος πόνος) verknüpft war, wie der charismatische „Lehrer" der Urkirche „auch vieles von sich aus" redete (και οίκοθεν πολλά φθέγγεται), wenn es auch mit den göttlichen Schriften übereinstimmen" mußte (συμβαίνοντα μέντοι ταϊς θείαις " Ebd., h. 8, 1 (91; 97); vgl. audi h. 7, 1.2 (85 f.; 92 f.). » Vgl. in ep. ad Col., h. 3 (Field, V, 209 f.; MG 62, 323 f.); h. 4 (214; 327). 15 Vgl. in ep. ad Eph., h. 13 (Field, IV, 234; MG 62, 93); in ep. II ad Thess., h. 3 (Field, V, 469; MG 62, 484: Meine niemand, der die gottesdienstlichen Versammlungen besucht, er höre hier nur Mensdien reden. Vielmehr begibt er sich zu Gott, der selbst mit ihm redet [διαλέγεται] ! „Wenn sich der Lektor erhebt und seine Lesung einführt mit den Worten: ,So spricht der Herr' und der Diakon allen Schweigen gebietet, so nidit, um ihn zu ehren, sondern den, der durch ihn zu allen redet [τφ δι' έκείνου πασι διαλεγομένω] . . . Tag für Tag erreichen uns Briefe vom Himmel her und werden [hier] verlesen..."); hom. 67 in Genes., h. 44, 1 (M. IV, 447 f.; MG 54, 406: . . . τα παρά του Πνεύματος δι' ήμών ϋμϊν πεμφθέντα λόγια . . . !) 18 Vgl. in ep. II ad Cor., h. 21 (Field, III, 223; MG 61, 545 f.); de util. lect. script. ( = in princ. act. 3), bes. 2 (M. III, 71—81, bes. 72—74; MG 51, 87—98, bes. 89 f.); in Lazarum, 3, 3 (M. I, 740; MG 48, 995); hom. 67 in Genes., h. 35, 2 (M. IV, 352; MG 53, 324). " In ep. II ad Thess., h. 5 (Field, V, 492; MG 62, 498—500); in ep. ad Col., h. 9 (Field, V, 268 f.; MG 62, 361 f.); in ev. Joh., h. 9 al. 8, 1 (M. VIII, 52 f.; MG 59, 69); h. 17 al. 16, 4 (101—103; 112—114); hom. 67 in Genes., h. 8, 1 (M. IV, 57 f.; MG 53, 69 f.); de incomprehens. Dei, III, 6 (R. Flacelière — F. Ca vallera — J. Daniélou, [SC 28], 196; MG 48, 726). 18 M. Lauterburg, S. 75.

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Das Charismaverständnis des Joannes Chrysostomos

Γραφαΐς) 19 , so wagt er erst recht für sich selbst und seine eigene „ L e h r tätigkeit keinen höheren Anspruch geltend zu machen, als er in seiner „eigenen Weisheit" (οικεία σοφία) begründet ist20. Gleichwohl sieht er auch das Lehramt als Charisma an21, und zwar einmal darum, weil es Dienst zur „Erbauung" anderer ist22, nicht ein Verdienst, aufgrund dessen man sich über andere erheben dürfte, sondern „Gnadengabe", die nur in Demut empfangen und ausgeübt werden kann 23 ; weniger ein Privileg als eine Pflicht! Denn wem diese Gabe des „Wortes der Weisheit und der Erkenntnis" (λόγος σοφίας και γνώσεως) zuteil wurde und wer damit mehr empfing als andere — die „fünf Talente" des Gleichnisses Mt. 25,14 ff. (par.) — der hat auch mehr zu leisten24. Zum andern ist Gott für ihn der Geber audi dieser Gabe. Gottes Geist ist es, der der Kirche „Hirten" und „Lehrer" bestellt (Eph. 4,11) und „Bischöfe" einsetzt, auf daß sie „die Gemeinde des Herrn weiden" (Apg. 20,28) 25 . Und das heißt für Chrysostomos, daß sie vom Geist die Ordination empfangen, die allein zum „Lehren in der öffentlichen Versammlung" berechtigt. „Denn das ist gemeint mit dem: ,er hat bestellt'."26 Weil sich in den kirchlichen Wahl- und Weihehandlungen zugleich ein göttlicher „Willensentscheid" (ψήφος) vollzieht und kundtut (vgl. Acta 1,15—26; Num. 17), weil Gott es ist, der hinter den Ordinationen steht (-θεού . . . χειροτονοΰντος)27, darum kann es für Chrysostomos so wenig eine „Widerrede" gegen 18

In ep. I ad Cor., h. 32 (Field, II, 387; MG 61, 265). In ep. I ad Cor., h. 36 (Field, II, 458; MG 61, 312). Im Gegensatz zu seiner sonstigen Ausdeutung des Friedensgrußes der Liturgie erklärt er hier: „Wenn wir darum mit der Verkündigung beginnen, so respondiert das Volk ,Und mit deinem Geiste' und zeigt damit an, daß man vor alters [tò παλαιόν] so verkündigte, nicht kraft eigener Weisheit, sondern vom Geist bewegt. Jetzt aber [ist das] nicht [mehr so], sondern einstweilen bringe idi mein Eigenes vor [τό έμαυτοΰ λέγω τέως] . . . ! " Vgl. damit jedoch unten S. 115 ff. 21 De s. Pentec., 1, 4.6 (Μ. II, 463. 468; MG 50, 459. 464); de util. lect. script. ( = in princ. act. 3), 3 (M. III, 75; MG 51, 91 f.); in ep. I ad Cor., h. 12 (Field, II, 134; MG 61, 98); h. 32 (388; 265 f.); in ep. ad Eph., h. 24 (Field, IV, 353 f.; MG 62, 169); in ep. I ad Tim., h. 13 (Field, VI, 104; MG 62, 565. Danach ist 1. Tim. 4,14 mit dem „Timotheus" innewohnenden Charisma, das ihm „durch Prophetie zuteil" wurde, die „Lehre" [διδασκαλία] gemeint). 22 In ep. ad Eph., h. 11 (Field, IV, 219; MG 62, 83); vgl. in ep. I ad Thess., h. 11 (Field, V, 434; MG 62, 463). 23 Ebd. (Field, IV, 216; MG 62, 81 f.); vgl. auch in ep. I ad Cor., h. 12 (Field, II, 134; MG 61, 98). 24 Ebd. (Field, IV, 216; MG 62, 81). 25 In ep. I ad Cor., h. 8 (Field, II, 90; MG 61, 69); h. 32 (386 f.; 264 f.); in ep. ad Eph., h. 11 (Field,IV, 217 f.; MG 62, 82); in ep. I ad Tim., h. 5 (Field, VI, 42; MG 62, 527). 26 In act. apost., h. 44, 2 (M. IX, 333; MG 60, 310); vgl. in ep. ad Rom., h. 32 (Field, I, 474; MG 60, 669). 27 In ev. Joh., h. 87 al. 86, 4 (M. VIII, 518; MG 59, 472). Wie locker hier allerdings der Sprachgebrauch des Chrysostomos ist, lehrt die Tatsache, daß er einerseits auch von 20

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diesen Entscheid wie ein „Irrewerden" (σκανδαλίζεσθαι) an denen geben, die ihr A m t „unwürdig" verwalten und durch ihren Wandel ihr eigenes Wort Lügen zu strafen scheinen. Vielmehr, meint er, sei in jedem Fall der „Geber" des Amtes zu ehren und um seinet- wie um des faktisch geschehenden priesterlichen Dienstes willen den „Vorstehern" und „Lehrern" Gehorsam zu leisten gemäß der Weisung Jesu: „Alles, was sie euch sagen, das tut und befolgt; aber nach ihren Werken handelt n i c h t . . ( M t . 23,3) 2 9 . Bei aller Kritik, zu der ein Priester Anlaß geben möge, dürfe man „jenen Tag" nie vergessen, sondern habe ihn stets „in Ehren" zu halten, „an welchem er uns erleuchtet (getauft) hat. H a t jemand einen Vater, so deckt er (ja auch) alles zu, selbst wenn er tausend Fehler hätte . . . " . „Bedenke", so kann Chrysostomos seinen Hörern gelegentlich geradezu beschwörend zurufen, „daß er, der Priester, dir Tag für Tag dient, dir die heiligen Schriften verlesen läßt, . . . deinetwegen auf den Schlaf verzichtet, für dich betet, für dich fürbittend vor Gott tritt, für dich (Gott) um Erbarmen anfleht, daß ihm für dich der ganze Gottesdienst (θρησκεία) obliegt. Das halte in Ehren, das bedenke, und (dann) nahe dich ihm mit aller Ehrfurcht." 30 Allerdings ist nach Chrysostomos den kirchlichen Wahl- und Weihehandlungen nicht ohne weiteres der Rang eines göttlichen ψήφος zuzuerkennen und in der Ordination als solcher — etwa dank der potestas ordinandi der bischöflichen Ordinatoren — eine Garantie dafür zu sehen, daß sich auf das, wie er findet, oft genug aus alles andere als „geistlichen" Motiven erstrebte und übertragene Amt nun audi unweigerlich (ex opere den Aposteln sagen kann, sie seien άρχοντες . . . ΰπό τοΰ θεοΰ χ ε ι ρ ο τ ο ν η θ έ ν τ ε ς (de util. lect. script. [ = in princ. act. 3], 4: M. III, 77; M G 51, 93), daß er aber andererseits zu R o m . 13,1 bemerkt: „Was sagst du (Paulus) da? Jede obrigkeitliche Person ist von G o t t eingesetzt [κεχειροτόνηται] ? So meine idi das nicht, will der Apostel sagen: idi spreche jetzt nicht von jeder einzelnen obrigkeitlichen Person, sondern von der Obrigkeit generell. D a ß es überhaupt obrigkeitliche Personen gibt, d a ß . . . nicht alles drunter und drüber geht . . . , das, sage idi, ist ein Werk der Weisheit Gottes. D a r u m sagt er nicht: ,Denn es gibt keine obrigkeitliche Person [ ά ρ χ ω ν ] , außer von Gott', sondern von der Institution spricht er [περί τοΰ π ρ ά γ μ α τ ο ς ] , wenn er sagt: ,Denn es gibt keine Obrigkeit, außer von G o t t ' " (in ep. ad Rom., h. 24 [23: Field, I, 381; MG 60, 615]). Danach kann von göttlicher „Cheirotonie" sowohl da gesprochen werden, wo die Sendung und Bevollmächtigung ohne menschliche Vermittlung erfolgt wie bei den Aposteln — mit Ausnahme höchstens des Paules: Acta 13, 1 ff. —, als auch da, w o nicht die Bevollmächtigung des einzelnen Amtsträgers, sondern die göttliche „Stiftung" des Amtes als solchem ausgesagt werden soll. 28 In ep. ad Eph., h. 11 (Field, IV, 218; MG 62, 82); vgl. in act. apost., h. 3, 4 (Μ. I X , 28—30; M G 60, 38 f.: keine Widerrede speziell auch seitens derer, die nach dem A m t streben [ α ρ χ ή ς έφιέμενοι], bei den „Wahlen" jedoch übergangen worden sind!). 29 In ev. Joh., h. 87 al. 86, 4 (M. V I I I , 517 f.; M G 59, 471 f.); in illud .Salutate Priscillam et Aquilam', 2, 5.6 (M. III, 188—192; M G 51, 203—208); vgl. auch in ep. ad Hebr., h. 34 (Field, V I I , 376; M G 63, 231 f.: Im sittlichen Bereich ist jeder genügend urteilsfähig und wissend, so d a ß er durch eventuelles sittenloses Leben der Vorsteher nicht ernstlich v e r w i r r t werden kann. So versteht sich die Mahnung Mt. 23,2.3!). 30 In ep. II ad Tim., h. 2 (Field, VI, 181; M G 62, 612). 8

Ritter, Charisma

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operato) das göttliche Charisma herabsenke. Eine derartige Ansicht liegt ihm so fern, daß er gelegentlich auf den Einwand, ob etwa seiner Meinung nach Gott „alle" weihe, „auch die Unwürdigen", in scheinbarem Widerspruch zu dem, was wir soeben von ihm hörten, erwidern kann: „Nein, Gott ordiniert nicht alle; wohl aber wirkt er durch alle (Πάντας μεν ό θεός ού χειροτονεί, δια πάντων δέ αυτός ενεργεί), auch wenn sie unwürdig sind, und zwar um des Heils des Volkes willen (δια τό σωθήναι τον λαόν)", das auf ihren Dienst angewiesen ist31. Freilich bestreitet er auch sonst nicht, daß es tatsächlich Ordinationen gibt, die, von den Motiven der daran beteiligten Ordinatoren und Ordinanden her gesehen, dem Wort und Willen Gottes widerstreiten 32 . Auch enthält der Gedanke, daß es im letzten Gott selber sei, der ordiniere, daß „die Ordinationen (χειροτονίαι) unmöglich erteilt werden könnten ohne die Assistenz (έπιφοίτησις) des heiligen Geistes"33, für ihn, zumindest was die Wählenden und die Gewählten selbst anlangt, eher einen moralischen Appell: den Appell an die Wählenden nämlich, sich bei der Wahl jedes „menschlichen Affektes" (ανθρωπίνου πάθους), allen Schielens nach „weltlichen" Vorzügen zu enthalten und persönliche Freundschaften und Feindschaften tunlichst aus dem Spiel zu lassen34, und den Appell an die Gewählten, „zufolge (bzw. nach Empfang) der Gnade Gottes" (μετά δέ τήν του θεού χάριν) nichts zu tun, „was dieser Gabe (der Wortverwaltung) und des göttlichen Spenders unwürdig wäre" 35 . Die „Untergebenen" allerdings dürfen daraus die Zuversicht schöpfen, daß Gott als der Geber des Amtes ihnen nichts vorenthalte, was ihnen zum Heil nötig sei, auch wenn er sich „unwürdiger" Werkzeuge bedient. Wenn sie von dieser Voraussetzung (υπόληψις) nicht ausgehen, so ist, meint Chrysostomos, alle ihre Hoffnung dahin 36 ! 31 Ebd. (Field, VI, 178; MG 62, 610). D a ß Chrysostomos der Gedanke eines ex opere operato wirkenden Weihesakramentes fernliegt, lehrt audi etwa in ep. I ad Tim., h. 5 (Field, VI, 41; MG 62, 527 f.); „Groß und wunderbar ist die Würde des Lehr- und Priesteramts, und es bedarf wahrhaftig des ψήφος Gottes, um den Würdigen zu ermitteln . . . Wenn wir auch nicht mehr in dem Maße am Geist teilhaben (wie die urchristlichen Ordinatoren), so vermag doch ein guter Vorsatz (seitens der Wählenden wie der Gewählten)" Gott zu veranlassen, sich seinerseits zu dieser Wahl zu bekennen (πρόθεσις αγαθή τοΰ ϋεοϋ τήν χειροτονίαν έπισπάσασθαι). Hiernach wäre also nur an eine tendenzielle Einheit der von Menschen vollzogenen χειροτονία einerseits und der χειροτονία, dem ψήφος Gottes andererseits zu denken. 32 De sacerdot., III, 15 (Nairn, 79—81; MG 48, 653 f.) u. ö. 33 De resurrect, mort., 8 (M. II, 436; MG 50, 432); vgl. auch de s. Pentec., 1, 4. 6 (M. II, 463. 468; MG 50, 458. 464); 2, 1 (M. II, 469; MG 50, 464). 34 In ep. I ad Tim., h. 5 (Field, VI, 41; MG 62, 527 f.); vgl. audi h. 16 (140; 587: s. oben S. 76, Α. 27). 35 De sacerdot., IV, 2 (Nairn, 103; MG 48, 663); vgl. in ep. I ad Tim., h. 5 (Field, VI, 42; MG 62, 527). 38 In ep. II ad Tim., h. 2 (Field, VI, 178; MG 62, 610). Der Zusammenhang lautet: „Weißt du nicht, was es um einen Priester ist? Er ist Bote (άγγελος) des Herrn. Denn

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Schließlich kann das Amt des kirchlichen „Lehrers" nach Chrysostomos darum als Charisma angesehen werden, weil es seine K r a f t und Substanz aus dem „Wort" bezieht, dem „nichts hinzugefügt und nichts weggenommen werden darf", weil es seinem Wesen nach „Heroldsdienst" ist. „Aufgabe eines Heroldes ist es ja, daß er meldet, was ihm aufgetragen wurde. Darum wird auch der Priester ,Engel', d. h. Überbringer einer Kunde, oder ,Bote* genannt (vgl. Maleachi 2,7; Apk. 2,1.8.12.18; 3,1,7.14), weil er nicht sein Eigenes verkündet, sondern das, was er von dem hat, der ihn sendet" 37 , weil er als „Diener" (υπηρέτης) 38 und „Bote (άγγελος) des Herrn" 3 9 lediglich in einem „Auftrag" (κατ'έπιταγήν) handelt, über den er nicht H e r r ist und nicht verfügen kann 4 0 . Seine Sache ist es nur, zu „pflanzen" und zu „begießen", während ein anderer „sät" und Fruchtbarkeit gibt (1. Kor. 3,6), dem darum auch allein der „Erfolg" seines Wirkens zugeschrieben werden muß 4 1 . In dieser „Wortbedingtheit" liegt f ü r Chrysostomos freilich zugleich die einzigartige Vollmacht (εξουσία) des kirchlichen „Lehramts" beschlossen. Weil die Träger dieses Amtes „Herolde", „Überbringer einer Kunde" sind, kann und soll ihr Dienst „öffentlich" (φανερώς) und „mit Freimut" (μετά παρρησίας) geschehen42. Weil sie in göttlichem Auftrag handeln, sind sie gehalten und ermächtigt, gegebenenfalls mit Festigkeit und „aller Autorität" (μετά αυθεντίας, και μετά εξουσίας πολλής) aufzutreten, dann nämlich, wenn es offenbarer Sünde oder drohendem Abfall vom Glauben zu begegnen gilt oder wenn man sie an ihrer Pflichterfüllung hindern will 43 . Weil bringt er etwa sein Eigenes vor (τα έαυτοΰ λέγει)? Verachtest du ihn, so verachtest du nicht ihn, sondern Gott, der ihn ordiniert hat (τοΰ χειροτονοΰντος αυτόν θεοί). Und woraus ist ersichtlich, daß Gott ihn ordiniert hat? Nun, wenn du diese Voraussetzung nicht machst, so ist alle deine Hoffnung dahin. Wenn nämlich Gott durch ihn nichts wirkt, so hast du weder die Taufe empfangen, noch an den Mysterien Anteil, noch erfreust du dich der Segensspendungen (εΰλογίαι) ; dann bist du also gar kein Christ . . . " Auch hier ist also letzten Endes alles auf den Glauben als das Zutrauen in die Wahrheit des durch Priestermund verkündigten „Wortes" abgestellt. 57 In ep. ad Rom., h. 3 (2: Field, I, 19. 22; MG 60, 402. 404); vgl. auch in ev. Mt., h. 72 al. 73, 3 (M. VII, 704; MG 58, 670: „Einer ist euer Meister, ihr aber seid alle Brüder!" Denn „keiner hat etwas vor dem andern voraus, niemand weiß etwas aus sich s e l b s t . . . " ) ; in act. apost., h. 3, 5 (M. IX, 32; MG 60, 42); hom. 67 in Genes., h. 44, 1 (M. IV, 447 f.; MG 54, 406). '» In ep. I ad Thess., h. 3 (Field, V, 469; MG 62, 484). »· In ep. II ad Tim., h. 2 (Field, VI, 178; MG 62, 610). *« In ep. ad Tit., h. 1 (Field, VI, 268; MG 62, 666); vgl. in ep. I ad Cor., h. 10 (Field, II, 113—115; MG 61, 84 f.); in ep. II ad Cor., h. 11 (Field, III, 130; MG 61, 477); in ep. ad Col., h. 12 (Field, V, 300; MG 62, 382 f.). " In ep. II ad Tim., h. 6 (Field, VI, 215; MG 62, 632 f.); vgl. auch in ep. ad Col., h. 4 (Field, V, 213—215; MG 62, 326 f.). " In ep. ad Tit., h. 1 (Field, VI, 268; MG 62, 666). " Vgl. in ep. I ad Tim., h. 13 (Field, VI, 102 f.; MG 62, 563—565); h. 17 (146 f.; 591); in ep. ad Tit., h. 2 (Field, VI, 277 f.; MG 62, 672); h. 5 (307 f.; 691). 8*

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(und insofern) sie in der „Nachfolge" der „Lehre" Christi stehen44 und solange sie die Würde als „Gesandte" Christi bekleiden, erheben sie von jener καθέδρα herab ihre Stimme, „von der aus auch Christus in unserer Mitte das Amt der Versöhnung gestiftet hat" (εθετο), und genießen sie, nicht um ihret-, wohl aber „um der Würde der Gesandtschaft willen", Ehre45. Wer sie verachtet (Lk. 10,16), wer die Botschaft geringschätzt, die sie „an Christi Statt" (2. Kor. 5,20) auszurichten haben, und sich ihrem „Gebieten" (έπιτάττειν) entzieht und verschließt, verachtet in Wahrheit nicht sie, sondern den, der sie ordiniert hat oder sich vielmehr ihrer bedienen will, wie „unwürdig" sie auch immer dieses Botendienstes sein mögen 46 . Ist es aber das „Wort", das das Amt trägt und in Pflicht nimmt und für das dessen Träger als für ein „hinterlegtes Pfand" (παρακαταθήκη) Rechenschaft schuldig sind47, so läßt es auch das Amt nicht im einseitigen Gegenüber zur „Menge" der „Untergebenen" verbleiben, sondern gliedert es zugleich den übrigen Charismen ein, die ja ebenfalls, wenn auch in unterschiedlichem Maße, zumindest wort bezogen sind48. Weiterhin folgt daraus, daß dem Amt des kirchlichen „Lehrers" nur eine 44

In ev. Joh., h. 86 al. 85, 4 (M. V i l i , 518; MG 59, 472: Die Priester sitzen auf der καθέδρα nicht Moses, sondern Christi. „Haben sie dodi seine Lehre überkommen" [Την γαρ εκείνου διεδέξαντο διδασκαλίαν]. Darum gilt [2. Kor. 5,20], daß sie „an Christi Statt" „bitten"); vgl. auch in ep. ad Col., h. 3 (Field, V, 210; MG 62, 324: Wir Priester haben den θρόνος Christi überkommen [διεδεξάμεθα] . . . ) . Wenn darin audi ohne Frage der Gedanke der apostolischen Sukzession anklingt, so dürfte gleichwohl, nach allem, was wir gesehen haben, keinem Zweifel unterliegen, in welchem Abhängigkeits- und Bedingungsverhältnis für Chrysostomos Amt und διδασκαλία Christi zueinander stehen, so daß er als Traditionszeuge für das nachtridentinisdie römisch-katholische Amtsverständnis schwerlich in Frage kommt (gegen S. Tromp, S. 181). 45 In ep. ad Col., h. 3 (Field, V, 210; MG 62, 324); vgl. auch etwa in ep. I ad Cor., h. 14 (Field, II, 163; MG 61, 116 f.: Es gibt eine legitime Amtsautorität, wie sie etwa Paulus l . K o r . 4,21 in Anspruch genommen hat, έπΐ τόν διδασκαλικόν λοιπόν άναβαίνοντος θρόνον, κάκεϊθεν αύτοΐς διαλεγομένου, καί τήν έξουσίαν άναλαβόντος πάσαν!). 46 In ep. II ad Tim., h. 2 (Field, VI, 178. 179; MG 62, 610. 611). 47 In ep. I ad Tim., h. 5 (Field, VI, 41 f.; MG 62, 521: . . . Tò δέ παραθέσθαι της φυλακής το ακριβές δηλοί, καί το ούχ ήμέτερον . . . ) ; h. 18 (158; 598); in ep. II ad Tim., h. 2 (Field, VI, 176; MG 62, 608 f.) or. cum presb. fuit ordin., 4 (M. I, 443; MG 48, 700). 48 S. oben S. 32, Α. 41; vgl. in ep. II ad Thess., h. 4 (Field, V, 482; MG 62, 492: „Alles haben wir gemein, gerade audi die höchsten Güter nicht ausgenommen. Ich empfange keinen größeren, ihr keinen geringeren Anteil am Tisch des Herrn . . . Und wenn ich auch zuerst davon genieße, so ist das von keiner sonderlichen Bedeutung, da auch von den Kindern einer Familie der ältere zuerst die Hand nach der Speise ausstreckt . . . Wir alle haben dieselbe Taufe empfangen, sind eines und desselben Geistes gewürdigt worden [πνεύματος ήξιώθημεν ενός], pilgern alle nach demselben Himmelreich, sind gleichermaßen Brüder Christi, kurzum, wir haben alles gemeinsam [πάντα ήμών κοινά]. Worin bin ich euch nun voraus? [Lediglich] in bezug auf Sorgen, Mühen, Kümmernisse und Leiden eurethalben. Doch ist mir nichts süßer als diese Mühsal . . ."!).

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abgeleitete, keine selbständige Autorität (αυθεντία) 49 zukommt und daß es zwar dem menschlichen „Richtgeist" (Mt. 7,2) 50 , nicht aber der Kontrolle durch die allen aufgetragene „Prüfung der Geister" ( l . J o h . 4,1) entzogen ist. Gewiß sind das Konsequenzen, die bei Chrysostomos allenfalls angelegt sind. Statt des „Prüfet die Geister!" dominiert bei ihm viel eher die Mahnung zum Gehorsam, zur Ehrerbietung (τιμή) und Rücksichtnahme (θεραπεία) gegenüber „Vorstehern" und „Lehrern", „um ihres Werkes willen" (1. Tim. 5,13), und sei es audi, daß solch ehrerbietiges Verhalten gegebenenfalls nur unter Aufbietung des „Dennoch" des Glaubens erschwinglich wäre 51 ! Immerhin kann er an einer in diesem Zusammenhang zentralen Stelle, in der 18. Homilie zum 2. Korintherbrief, in der er die Größe der „Macht der Gemeinschaft (σύνοδος)" innerhalb der Kirche preist, betonen, daß das „Votum" der Kirchenglieder „kein nebensächlicher Zierat auch für die" sei, „die zu den geistlichen Ämtern gelangen" (ή τούτων ψήφος, ούχ ώς ετυχε, και τους επί τάς πνευματικός αρχάς έρχομένους κατακοσμεΐ), daß alle zusammen „einen einzigen Leib" bilden und sich von einander „nur soweit unterscheiden wie Glieder von Gliedern" (σώμά έσμεν άπαντες εν, τοσαύτην εχοντες προς αλλήλους διαφοράν, δσην μέλη προς μέλη)52! Audi ist es während seiner gesamten uns überblickbaren Predigttätigkeit seine beständige Sorge, seine Hörer zum eigenen intensiven Studium der Bibel anzuhalten und anzuleiten. So heißt es etwa in einer der in Konstantinopel gehaltenen Predigten zum Kolosserbrief : „Hört auf midi, ich bitte eudi, alle, die ihr in der Welt lebt (πάντες οί βιωτικοί), und schafft euch Bibeln an . . . Und wenn ihr schon nicht mehr tun wollt, so k a u f t euch 49

Der Begriff αυθεντία (vgl. dazu jetzt vor allem K.-H. Lütcke, „Auctoritas" bei Augustin, Tübinger Beiträge zur Altertumswissenschaft, H . 44, 1968, S. 59—62, sowie die patristischen Belege bei G. W. H. Lampe, s. v.) schwankt also auch bei Chrysostomos zwischen der Bedeutung „Vollmacht zu etwas" (s. die oben A. 43 angeführten Stellen, nach denen die Amtsträger die Vollmacht, Redit und Pflidit haben, gelegentlich zu „gebieten", „autoritativ" [μετά αυθεντίας] aufzutreten [Gegensatz: επιείκεια, προσηνία]) und „unumschränkter Gewalt" im pejorativen Sinne der „Eigenmächtigkeit". So verstanden kommt dem kirchlichen Lehramt nach Chrysostomos keine αύθεντία zu, und zwar aus sachlichen Gründen. Denn die Unterscheidung in „Hirten" und „Schafe" gilt nur ad hominem [προς τήν άνθρωπίνην . . . διαίρεσιν] ; im Blick auf Christus dagegen sind alle „Schafe" (in ascens. D. Ν . I. Chr. et in princ. act., 2, 12: M. III, 768 f.; MG 52, 784). 50 Vgl. in ev. Joh., h. 86 al. 85, 4 (M. V i l i , 518; MG 59, 472); in ep. I ad Cor., h. 11 (Field, II, 119—123; MG 61, 87—90); in ep. ad Gal. comm. I, 7 (Field, IV, 18; MG 61, 624); in ep. ad Phil., h. 10 (9: Field, V, 104—110; MG 62, 251—256); in ep. ad Tit., h. 5 (Field, VI, 308 f.; MG 62, 691 f.); in ep. ad Hebr., h. 23 (Field, VII. 266—269; MG 63, 165 f.); h. 34 (376—378; 231—233); in illud .Salutate Priscillam et Aquilam*, 2, 5. 6 (M. III, 188—192; MG 51, 203—208). 51 Vgl. bes. in ep. I ad Thess., h. 10 (Field, V, 420 f.; MG 62, 456); in ep. II ad Tim., h. 2 (Field, VI, 178 f.; MG 62, 609 f.). 52 In ep. II ad Cor., h. 18 (Field, III, 197 f.; MG 61, 527 f.).

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Das Charismaverständnis des Joannes Chrysostomos

wenigstens das Neue Testament, den Apostel (sc. die paulinischen Briefe), die Apostelgeschichte und die Evangelien, und die seien eure beständigen Lehrer." 53 Und zwar soll ihnen diese regelmäßige Bibellektüre, allein oder in der Haus- und Familiengemeinschaft, nicht nur zur privaten „Erbauung", Tröstung, moralischen Festigung und Gewissensschärfung dienen54, sondern gerade auch zum besseren Verständnis der Gemeindepredigt und zu einem selbständigen Urteil in Glaubensdingen55, so daß es ihnen auch möglich ist zu erkennen, wo die Prediger von der Glaubenswahrheit abirren 56 oder von dem in der Bibel enthaltenen Gotteswort, das für jedermann der beste Lehrmeister sei, etwas „aus Eitelkeit oder Neid" unterschlagen57, wo es ihnen also zu widerstehen gilt und um der Wahrheit willen, vor der es 53 In ep. ad Col., h. 9 (Field, V, 268; MG 62, 361); vgl. in ev. Mt., h. 1 (M. VII, 1—18; MG 57, 13—24); h. 5, 1 (71 f.; 55); h. 85 al. 86, 1 (M. VII, 803 f.; MG 58, 757); in ev. Joh., h. 11 al. 10, 1 (M. V i l i , 62; MG 59, 77); h. 14 al. 13, 2 (80: 94); h. 17 al. 16, 4 (101—103; 112—114); h. 18 al. 17, 4 (108—110; 118—120); h. 32 al. 31, 3 (187—189; 186—188); h. 37 al. 36, 1 (211; 207); h. 53 al. 52, 3 (313 f.; 295 f.); h. 84 al. 83, 3 (501—503; 458—460); h. 88 al. 87, 3 (529 f. 481 f.); in ep. I ad Thess., h. 7 (Field, V, 393; MG 62, 438 f.); in ep. I ad Tim., h. 13 (Field, VI, 104 f.; MG 62, 565 f.); in ep. II ad Tim., h. 8 (Field, VI, 237—241; MG 62, 647—650); h. 9 (243 f.; 650); de util, lect. script. ( = in princ. act. 3 [M. III, 71—81; MG 51, 87—98]); de poenit., 4, 1 (M. II, 302 f.; MG 49, 299—301) u. a. m. Vgl. dazu R. Seeberg, II, S. 321 f.; Chr. Baur, I, S. 267 ff., und vor allem A. Harnack, Gebrauch, S. 63 ff., bes. S. 81 f. Nach Harnack ist Chrysostomos „der eigentliche Bibelmann des 4. Jahrhunderts" (S. 81); „ . . . während sich Hieronymus in seinen Ermahnungen schon auf Christen erster und zweiter Klasse einrichtet, kämpft der wahrhaft große Chrysostomos mit aller Kraft seines Herzens, seines Willens und seiner Beredsamkeit noch für die Durchführung eines eindeutigen und strengen christlichen Ideals. Keine Waffe scheint ihm dabei wirksamer als die Bibel. Inmitten einer Großstadt, die angefüllt war von Namenchristen, wird er nicht müde, die Bibel in die Häuser zu pflanzen in der festen Überzeugung, daß, wenn er nur regelmäßige Schriftlesung in den Familien und bei den Einzelnen durchsetzte, er den festen Grund zu einem wirklich christlichen Leben damit legte" (S. 82) ! 54 Vgl. de util. lect. script. ( = in princ. act. 3), bes. 2 (M. III, 73 f.; MG 51, 89 f.); in ev. Mt., h. 2, 6 (M. VII, 30—32; MG 57, 30—32); h. 74 al. 75, 4 (M. VII, 720 f.; MG 58, 684 f.); h. 85 al. 86, 1 (804 f.; 757 f.); h. 87 al. 88, 1. 2 (817—820; 769—772); in ev. Joh., h. 1, 1 (M. V i l i , 2; MG 59, 25); h. 32 al. 31, 3 (187—189; 186—188); h. 37 al. 36, 1 (211; 207); h. 53 al. 52, 3 (313 f.; 295 f.); h. 84 al. 83, 3 (501—503; 458—460); h. 88 al. 87, 3 (529 f.; 481 f.); in ep. II ad Cor., h. 21 (Field, III, 223 f.; MG 61, 545 f.); in ep. ad Col., h. 9 (Field, V, 267 f.; MG 62, 361); in ep. I ad Tim., h. 13 (Field, VI, 104 f.; MG 62, 565 f.); h. 17 (146—148; 591 f.); in ep. II ad Tim., h. 8 (Field, VI, 237—241; MG 62, 647—650); h. 9 (243 f.; 650 f.). 65 Vgl. in ev. Mt., h. 1, 6 (M. VII, 12—14; MG 57, 20 f.); h. 5, 1 (71 f.; 55 f.); in ev. Joh., h. 3 al. 2, 1 (M. VIII, 16; MG 59, 37); h. 11 al. 10, 1 (62; 77) h. 14 al. 13,2 (80; 94); h. 17 al. 16, 4 (101—103; 112—114); in ep. ad Col., h. 9 (Field, V, 268 f.; MG 62, 361 f.); in ep. ad Hebr., h. 8 (Field, VII, 108—113; MG 63, 73—76); ad pop. antiochen., 6, 7 (M. II, 83 f.; MG 49, 90—92); de incomprehens. Dei, III, 6 (R. Flacelière — F. Cavallera — J . Daniélou [SC 28], 196; MG 48, 726). 5« Vgl. in ep. II ad Tim., h. 2 (Field, VI, 178; MG 62, 610); in ep. ad Hebr., h. 34 (Field, VII, 376; MG 63, 231). " In ep. ad C o l , h. 9 (Field, V, 268; MG 62, 361).

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„kein Ansehen der Person" gibt, die „Unterordnung" unter sie ihre Grenze hat 58 . Solche Wachsamkeit und solch „kritischen" Gehorsam hat sich Chrysostomos selbst immer wieder gewünscht und als Zeichen, daß die Sorge für die Kirche insgesamt nicht den Priestern allein überlassen bleibe, uneingeschränkt begrüßt, während unkritische Zustimmung, Unterwürfigkeit (δουλοπρέπεια) und Nachbeterei für ihn nur in die Irre führen 59 und das wechselseitige Verhältnis zwischen Amt und Gemeinde nicht minder belasten können wie Kritik hinter dem Rücken des Kritisierten 60 . Nach seinem Dafürhalten ist jedem „Lehrer", sei er Bischof oder Presbyter, dringend anzuraten, den Vorstellungen seiner „Untergebenen" aufmerksam zuzuhören. Nähmen wir uns, heißt es in der gleichen 18. Homilie zum 2. Korintherbrief, aus der wir eben zitierten, den Zusammenhalt (συνάφεια) zum Vorbild, wie er in einem Leibe herrscht, so wären wir uns darüber im klaren, „daß der Höhergestellte auch von dem Gewinn haben kann, der an Rang unter ihm steht" (και παρά του έλάττονος ό μείζων κερδαναι δυνήσεται), so wie Mose einst von seinem Schwiegervater etwas Nützliches lernte, auf das er selbst nicht gekommen war. „So soll auch jetzt, wenn irgend jemand nicht das sagt, was nottut, ein anderer aufstehen und reden. Und wenn er auch an Rang unter dir steht, bringt aber etwas Nützliches vor, so bekräftige seine Meinung (κύρωσον την γνώμην) . . . Verlangen wir nicht, es müsse gerade das, was wir vorbringen, um jeden Preis zur Geltung kommen. Vielmehr soll das, was sich als nützlich erweist, von allen beschlossen werden. Denn oftmals hat ein schwaches Auge etwas besser erfaßt als ein scharfblickendes, weil es mit Eifer und Anspannung auf etwas hinschaute. Sage jedoch nicht: Was ziehst du mich überhaupt zu Rate, wenn du nicht (sogleich) befolgst, was ich sage. Denn das sind Vorhaltungen nicht eines Ratgebers, sondern eines Tyrannen!" 61 Endlich kann sich Chrysostomos zur Kennzeichnung der Eigenart und spezifischen Autorität des kirchlichen Lehramts das Pauluswort zueigen machen: „Nicht, daß wir Herren wären eures Glaubens, sondern wir sind 58

In ep. ad Gal. comm. I, 8. 9 (Field, IV, 18 f.; MG 61, 624 f.); in ep. II ad Tim., h. 2 (Field, VI, 178; MG 62, 610: Wenn der Priester eine verkehrte Glaubenslehre vorträgt [δόγμα . . . διεστραμμένον], „so gehorche nicht [μή πείθου], audi wenn er ein Engel wäre . . . " ) ; in ep. ad Hebr., h. 34 (Field, VII, 376; MG 63, 231: „Wenn du ihn [sc. den Vorsteher] des Glaubens wegen böse [πονηρός] nennen mußt, so fliehe ihn und sage ihm die Gefolgschaft auf [παραίτησαι] . . . " ) . D a ß Chrysostomos auf „kritischen" Gehorsam aus ist und für die Unterordnung der Laien unter die Kleriker durchaus eine Grenze kennt, wird in der Darstellung von J. Korbacher leider unterschlagen (vgl. J. Korbacher, S. 79). 59 Vgl. de ferend. reprehens. et de mut. nom., III, 1 (M. III, 115—118; MG 51, 131—134); in ep. II ad Cor., h. 18 (Field, III, 198; MG 61, 527). 60 Vgl. in ep. II ad Thess., h. 4 (Field, V, 481—483; MG 62, 491 f.). 61 In ep. II ad Cor., h. 18 (Field, III, 199; MG 61, 527).

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Gehilfen eurer Freude" (2. Kor. 1,24). Und zwar sieht er diese Autorität nicht nur durch die „Wortbedingtheit" des Amtes62, sondern auch durch die gottgewollte Freiheit der menschlichen Glaubensentscheidung und Umkehr begrenzt und relativiert. Er sagt: „Ein Lehramt ist es, das uns übertragen ist, nicht eine Herrschaft (αρχή) und nicht eine unumschränkte Gewalt (αυθεντία)." Es steht den kirchlichen „Lehrern" eher an zu ermahnen, zu raten, als „despotische Befehle" zu erteilen. Sie tragen nur dafür die Verantwortung, wenn sie nicht nach bestem Wissen und Gewissen sprechen. Aber Zwang auszuüben und die Hörer der Entscheidungsmöglichkeit für oder gegen das Gesagte zu berauben oder sie audi nur darin zu beschneiden, ist ihnen verwehrt. Denn „Gott krönt nicht diejenigen, die aus Zwang, sondern nur die, die freiwillig" sich von der Sünde zur Wahrheit bekehren 63 . Damit sind zugleich die Grenzen aufgezeigt, die nach Chrysostomos selbst bei der Wahrnehmung der „Schlüsselgewalt" zu respektieren sind. Gewiß tritt für ihn darin gerade der „herrscherliche" Charakter des Amtes zutage. Kennzeichne es doch den άρχων, daß er Macht habe, zu „binden" und zu „lösen" 64 . Und dodi darf nach ihm der qualitative Unterschied zwischen der priesterliehen άρχή und der des „weltlichen Herrschers" (εξωθεν άρχων) nie übersehen werden. Übt dieser seine Herrschaft aus „mit Hilfe von Gesetz und Zwang" (νόμω . . . και άνάγκτ]), ohne auf die Meinung seiner Untertanen Rücksicht nehmen zu müssen65, so ist eben diese Zwangsgewalt dem Priester verwehrt, auch bei kirchenzuchtlichen Maßnahmen. Breche jemand den „Bann" (τα δεσμά), d. h. den zumindest zeitweiligen Ausschluß von der Eucharistiegemeinschaft, der über ihn verhängt wurde zum Zeichen dessen, daß die Gebote Christi kein Scherz sind, sondern unbedingten Gehorsam verlangen, in der Absicht, Schaden von der Gemeinde (το κοινόν) fernzuhalten, und vor allem auch, ihn selbst zu bessern, so habe der Priester das Seinige getan und trage keine Verantwortung dafür. Wohl aber schulde «2 S. oben 115 ff.; vgl. dazu etwa nodi in ev. Mt., h. 32 al. 33, 7 (M. VII, 375; MG 57, 386: „Wir reden ja nicht aus uns selbst; habt ihr doch keinen bloß irdischen Lehrmeister. Vielmehr teilen wir mit, was wir empfangen haben . . . " ) ; in ep. ad Phil., h. 2 al. 1 (Field, V, 14; MG 62, 187). 63 In ep. ad Eph., h. 11 (Field, IV, 224 f.; MG 62, 87); vgl. de sacerdot., II, 3 (Nairn, 32 f.; MG 48, 634); in ep. ad Rom., h. 30 (29: Field, I, 449 f.; MG 60, 655); in ep. II ad Cor. h. 4 (Field, III, 41; MG 62, 418); h. 15 (168—175; 505—512); in act. apost., h. 3, 4. 5 (M. IX, 28—30; MG 60, 39 f.: das Amt — eine άρχή und προστασία αδελφών, nidit aber eine τιμή und άνάπαυσις. Es ist ein Verhängnis, wenn man es erstrebt wie die εξωθεν άρχαί!); in ep. ad Tit., h. 1 (Field, VI, 271 f.; MG 62, 668 f.: der kirchliche άρχων in Wahrheit oft genug der „Sklave unzähliger Despoten" [δουλεύει μυρίοις δεσπόταις], nämlich der von unbändiger Kritiksudit erfüllten αρχόμενοι!); h. 2 (277 f.; 672: s. unten Α. 65). " De util. lect. script. ( = in princ. act. 3), 4 (M. III, 77; MG 51, 94). 65 In ep. ad Tit., h. 2 (Field, VI, 272 f.; MG 62, 672).

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der Exkommunizierte dem Rechenschaft, der dem Priester befohlen habe zu „binden" (δήσαι)66. Allein, wie bereits diese wenigen Zitate deutlich machen, handelt es sich f ü r Chrysostomos bei der „Schlüsselgewalt" gar nicht um eine selbständige Funktion neben der der Sakramentsverwaltung, dem Kultdienst, auf der einen und der Wortverwaltung im weitesten Sinne auf der anderen Seite, sondern im Grunde nur um eine spezielle Form der „Lehr"-gewalt. Wem diese Gewalt anvertraut wurde, dem steht, wie wir hörten, eben beides zu: zu „lehren" wie zu „gebieten", und er hat sorgsam zu bedenken, wo das eine am Platz ist und wo das andere 67 . Aus diesem Grunde ist auch nicht damit zu rechnen, daß sich an dem bisher gewonnen Bild etwas Wesentliches ändern würde, wenn wir hierbei länger verweilten und die versprengten chrysostomischen Äußerungen zum Problem der „Schlüsselgewalt" 68 im einzelnen analysierten. Vielmehr können wir unsern Überblick wohl an dieser Stelle abbrechen und das Ergebnis unserer Untersuchung über das Verhältnis von Charisma und Amt in der Sicht des Chrysostomos folgendermaßen zusammenfassen: Wie kaum anders zu erwarten, geht Chrysostomos aus von der kirchlichen Ordnung, die er vorfindet und die zu seiner Zeit längst auch reichsrechtlich verankert und sanktioniert war, also von einem festgefügten, hierarchisch gestuften und gegliederten System mit einer auf bestimmte Organe und Instanzen beschränkten Leitungs- und Befehlsgewalt, gipfelnd im Bischofsamt als seiner hierarchischen Spitze. Das verwehrt es ihm von vornherein, sich die paulinische Auffasung von der Kirche als „freier Gemeinschaft, die sich im lebendigen Zusammenspiel der geistlichen Gaben und Dienste ohne amtliche V o l l m a c h t . . . entfaltet" 6 9 , voll zueigen zu machen. Ja, Chrysostomos setzt die hierarchische Struktur der Kirche nicht nur allenthalben voraus, sondern er bejaht sie auch. Denn wie er in Übereinstimmung mit allen maßgebenden Staatstheoretikern der Antike in der Demokratie, zumindest in ihrer reinen, „ungemischten" Form, das Ende alles geregelten, auf der „Gerechtigkeit" basierenden Zusammenlebens der Bürger sieht 70 , so kann er sich offenbar auch im kirchlichen Bereich, so wie die Dinge liegen, die völlige „Gleichheit des Ansehens" (ισοτιμία) nur als Quelle von Aufruhr und Streit vorstellen und ist der „Friede" f ü r ihn nur in einem ββ

In ep. ad Hebr., h. 4 (Field, VII, 61 ; MG 63, 44—46). In ep. I ad Tim., h. 13 (Field, VI, 102 f.; MG 62, 563—565). 88 Vgl. dazu etwa P. Rentinck, S. 285—289. Neben in ep. ad Hebr., h. 4 (s. oben A. 66), ist in der Hauptsache nur noch in ep. ad Col., h. 7 (Field, V, 251 f.; MG 62, 349—352) und h. 8 (253; 351—353), ein allerdings besonders interessanter Text, zu nennen. 69 H. von Campenhausen, Kirchliches Amt, S. 76. 70 Vgl. dazu bes. T. A. Sinclair, A. history of greek political thought, (1952), 3. Aufl. 1961; Κ. von Fritz, The theory of the mixed constitution, 1954; Α. A. T. Ehrhardt, Politische Metaphysik von Solon bis Augustin, Bd. I, 1959, bes. S. 103 ff. 67

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System vorgegebener, institutionell abgesicherter Uber- und Unterordnungsverhältnisse gewährleistet, wo einer „herrscht" und der andere sich „unterordnet" 71 . Anders wäre es, wenn das Doppelgebot der Liebe regierte und „strikt" (μετά άκριβείας) befolgt würde. Dann gäbe es audi keinen Herrscher und keinen Untertan mehr. „Denn wer liebt, gehorcht lieber, als daß er befiehlt . . ."72 Dodi das ist, wie Chrysostomos anscheinend überzeugt ist, auch in der Kirche zwar ein zu erstrebendes Ideal; es läßt sich aber nicht einfach allgemein voraussetzen und zur Grundlage der kirchlichen Ordnung machen. Im Rahmen dieses vorgegebenen und von ihm bejahten Systems jedoch ist er darum bemüht, dem paulinischen Verständnis der Kirche, ihrer Dienste und Funktionen soweit wie irgend möglich Rechnung zu tragen und Geltung zu verschaffen. Und das heißt zunächst, daß er dem nachdenkt, was es bedeute, daß Paulus sowohl die kirchlichen „Ämter" (διακονίαι) selbst als auch die einzelnen im Laufe der Kirchengeschichte ihnen zugeordneten Funktionen wie etwa die „Lehre" (διδασκαλία) oder die „Kirchenleitung" (κυβέρνησις) als Charismen verstehen und bezeichnen kann (1. Kor. 12,4—6; Rom. 12,7.9). Gewiß lautet die paulinische Fragestellung genau umgekehrt. Nicht, wie die „Dienste", verstanden im Sinne von institutionellen „Ämtern", für die in der Konzeption des Paulus gar kein Platz ist, zugleich als „Gnadengaben" aufzufassen seien, ist bei diesem die Frage. Vielmehr zielt seine Parallelisierung von χάρισμα, διακονία und ενέργημα in l . K o r . 12,4—6 darauf ab, deutlich zu machen, daß sich jedes Charisma einzig dadurch legitimiere, daß es zum „Dienst", zum Gehorsam führe und zur Auferbauung der Gemeinde als des einen „Leibes Christi" beitrage. Und dodi dürfte es zumindest in der Konsequenz der paulinischen Charismaaussagen liegen zu sagen, daß wie jeder „Stand", in dem ein jeder „berufen" wird (vgl. 1. Kor. 7,7 mit 17—24), so auch das Amt zwar nicht an und für sich ein Charisma sei, wohl aber zur charismatischen Möglichkeit und „Berufung" werden könne! Sind doch für Paulus die Grenzen des Charismatischen weniger im Daß als im Wie, weniger in der „Faktizität" als in der „Modalität" 73 gelegen. In jedem Fall wird man kaum bestreiten können, daß es den Intentionen des Paulus, seinem für die Beurteilung des Charismatischen geltend gemachten Maßstab und Echtheitskriterium sehr nahe komme, wenn Chryso71 In ep. I ad Cor., h. 26 (Field, II, 311; MG 61, 221); vgl. ebd. h. 34 (425; 289 f.); in ep. I ad Tim., h. 10 (Field, VI, 78 f.; MG 62, 549); in ep. ad Hebr., h. 34 (Field, VII, 375 f.; MG 63, 231 f.). — D a ß die „Ordnung innerhalb der Kirche" (τάξις της Εκκλησίας) noch „viel straffer" (άρμοδιωτέρα) sei als „die innerhalb des Militärs" (τάξις στρατιωτική: in ep. I ad Thess., h. 10 [Field, V, 423; MG 62, 456]), meint freilich, was S. Tromp (S. 180) und K. D. Mouratides (S. 154 f.) übersehen haben, daß in ihr kein ατακτος, d. h. kein Schmäh-, Trunk- und Habsüchtiger geduldet werden könne! 72 In ep. I ad Cor., h. 32 (Field, II, 399; MG 61, 272). 73 E. Käsemann, Amt und Gemeinde, S. 116.

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stomos mit erstaunlicher Entschiedenheit und Folgerichtigkeit den „Dienstcharakter" des kirchlichen Amtes hervorhebt. Damit ist für ihn nicht nur über die Weise entschieden, wie von der Vollmacht des Amtes Gebrauch zu machen sei, sondern auch dessen Wesen und spezifische Vollmacht selbst gekennzeichnet. Denn wie die kultisch — sazerdotale Funktion, in der er die Würde des Amtes ihren höchsten Ausdruck finden sieht, für ihn gleichwohl rein instrumentalen Charakter hat und ihre Gültigkeit, Vollmacht und Heilswirksamkeit ausschließlich auf dem göttlichen Stiftungs- und Verheißungswort und dem an dies Wort sich klammernden und sich ihm vertrauensvoll beugenden Glauben beruht, so gilt auch für sein Verständnis nicht minder von der Wortverwaltung als der wichtigsten und sinngebenden Amtsfunktion, daß sie ihrem Wesen nach nichts anderes ist als ein „Dienst" zum „Nutzen", zur „Erbauung" anderer, ein Dienst, der seine Kraft und Substanz ganz aus dem zu verkündigenden Wort bezieht, in welchem durch den Mund der Apostel und Propheten Gott selbst geredet hat. Dieser „Dienstcharakter" des Amtes erweist sich für Chrysostomos weiterhin darin, daß es eingegliedert ist in den vielgliedrigen „Leib" der Kirche, daß seine Träger, obwohl durch die Ordination ausgesondert und für ihren Dienst — ordnungsgemäß — legitimiert, sich von der „Menge" ihrer „Untergebenen" gleichwohl nicht stärker unterscheiden als „Glieder" von „Gliedern" eines einzigen lebendigen Organismus. Und das bleibt bei ihm nicht ein erbaulicher Gedanke, sondern hat einen klar angebbaren Grund. Es ist die Konsequenz eben der „Wortbedingtheit" des Amtes, die ihm nur eine abgeleitete, keine selbständige Autorität (αυθεντία) zukommen und es grundsätzlich der Kontrolle durch die allen Kirchengliedern aufgetragene „Prüfung der Geister" unterworfen sein läßt. Ermöglicht wird diese Kontrolle in seinen Augen dann, wenn es der Gemeindepredigt, deren Hauptaufgabe in der „Schriftbetrachtung und Schrifterklärung" besteht, darüber hinaus gelingt, die Hörer zum regelmäßigen, intensiven Studium der Bibel zu ermuntern und anzuleiten, die für jeden Christen dasselbe sei, was für den Handwerker das Handwerkszeug! Indem sich Chrysostomos, der „eigentliche Bibelmann des 4. Jahrhunderts", wie ihn A. Harnack mit Recht genannt hat 7 4 , „mit aller Kraft seines Herzens, seines Willens und seiner Beredsamkeit" für die „regelmäßige Schriftlesung in den Familien und bei den Einzelnen" einsetzt, kämpft er nicht nur „für die Durchsetzung eines eindeutigen und strengen christlichen Ideals", die Grundlegung eines „wirklich christlichen Lebens" 7 5 . Vielmehr erhofft er sich nicht zuletzt dies davon, daß, wo die Verkündigung solchermaßen nicht in ein Vakuum hinein ergehe, sondern das „Wort" auf fruchtbaren, wohlvorbereiteten Boden falle, je und je audi die Charismen auf74 75

A. von Harnadc, Über den privaten Gebrauch der heiligen Schriften, S. 81. So ebenfalls A. von Harnack (ebd., S. 82).

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Das Charismaverständnis des Joannes Chrysostomos

brechen, die das Amt umgeben, ergänzen und kontrollieren müssen, wenn anders es nicht verkümmern soll. Wird doch in der Verkündigung immer wieder ein „Pfund" hinterlegt, mit dem es zu „wuchern" gilt, von dem Gott „Zinsen" einfordert! Damit stößt Chrysostomos bis zu einem Punkt vor, an dem die Schranken zwischen institutionellem Amt und „freien" Charismen durchlässig, wenn nicht gar wesenlos zu werden beginnen. An eine Beseitigung dieser Schranken oder auch nur an eine vorsichtige Reform der rechtlichen Struktur, eine Neuverteilung der Kompetenzen, etwa der Entscheidungsbefugnis über Ein- und Absetzung der Kleriker, kann und will er freilich nicht denken. Er kann es nicht wegen der bestehenden, durch kirchlich-synodale Entscheidungen wie staatliche Gesetze sanktionierten Rechtsverhältnisse. Und er will es wohl auch gar nicht, nicht zuletzt deshalb, weil er sich, als Kind seiner Zeit von einem tiefgewurzelten Mißtrauen und Vorurteil gegen alles „Demokratische" erfüllt, davon wenig Gutes zu versprechen vermag. Dies Vorurteil führt ihm sichtlich die Feder, wenn er etwa schreibt, daß die Entscheidung über die Ein- und Absetzung der Kleriker bei der „Gesamtheit des Episkopats" (σώμα της ίερατείας), dem „Chor der Priester ( = Bischöfe)" liege und nicht bei den Laien. Und das sei auch gut so. „Denn wenn die Untertanen diese Befugnis (εξουσία) erhielten, so würde man alsbald erleben, wie sie die gesamte Priesterschaft für abgesetzt erklären und (die Prediger) mit Gewalt von den Kanzeln zerren . . . !"76 Von heutiger Warte aus geurteilt ist in dieser prinzipiellen Weigerung, auch die überlieferte Rechtsstruktur auf ihre Sachgemäßheit kritisch zu reflektieren, gewiß ein Mangel zu sehen. Spricht dodi alle Wahrscheinlichkeit dafür, daß jede Bemühung um eine Aktivierung der Kirchengliedschaft und jeder Appell zur Mitarbeit so lange ohne nachhaltige Wirkung bleibt, als nicht auch die institutionellen Voraussetzungen dafür geschaffen sind. Aber auch aus neutestamentlicher und insbesondere aus paulinischer Sicht ist die Verabsolutierung und Tabuisierung der geschichtlich gewordenen kirchlichen Ordnung zweifellos als Fehlentwicklung zu beurteilen. Davon abgesehen aber ist es Chrysostomos in einem überraschend weitgehenden Maß gelungen, zumindest wesentliche Motive und Aspekte der paulinischen Charismenlehre zu Gesicht zu bekommen und für sein eigenes Kirchen- und Amtsverständnis fruchtbar zu machen. Er ist hierbei zu Einsichten vorgestoßen, die auch heute noch aller Beachtung wert sein dürften.

» In illud .Salutate Aquilani et Priscillam . . .*, 2, 6 (M. III, 190; MG 51, 205).

II. Charisma in der zeitgenössischen antiochenischen und alexandrischen Theologie 1. Theodor von

Mopsuestia

Unter den Zeitgenossen des Chrysostomos, von deren Lebensumständen und geistiger Physiognomie wir uns noch ein einigermaßen deutliches Bild zu machen vermögen, weist keiner seinem äußeren Lebens- wie seinem Bildungsgang nach mit ihm so viel Gemeinsamkeiten auf wie Theodor von Mopsuestia 1 . Wie Chrysostomos entstammte der etwa gleichaltrige oder höchstens wenig jüngere Theodor einer vornehmen und wohlhabenden Familie Antiocheias. Wie dieser studierte er Philosophie und Rhetorik bei den gefeierten heidnischen Lehrern seiner Vaterstadt, darunter dem berühmten Libanios, bis er sich nach seiner „Bekehrung", die auch f ü r ihn wie überhaupt „gerade f ü r die tiefsten Geister des Jahrhunderts die Entscheidung für ein asketisches Leben" einschloß 2 , einem Kreis Gleichgesinnter, dem sog. άσκητήριον unter Leitung Diodors, des späteren Bischofs von Tarsos, zugesellte, in welchem er sich zugleich geistlichen Übungen und strenger theologischer Arbeit unterzog. Wie Chrysostomos gehörte er ferner von den siebziger Jahren an bis 392, wo er — vielleicht nach einem kurzen Zwischenaufenthalt bei Diodor in Tarsos — als Bischof in das kilikische Mopsuestia ging, dem antiochenischen Klerus an. Schließlich zählt er wie Chrysostomos zu den bedeutendsten Repräsentanten der antiochenischen Exegetenschule. D a ß beide einander gut gekannt haben, versteht sich danach von selbst. In welcher persönlichen Beziehung sie allerdings zu einander standen, ob sie, wie Spätere wissen wollten, befreundet waren 3 und ihre Freundschaft sich 1 Zur Biographie Theodors s. vor allem R. Devréesse, Essai, S. 1—4, und C. Fabricius, 2 Adressat, bes. S. 84—90. G. Kretschmar, Geschichte, S. 147. 3 Als Hauptstütze für die Annahme einer lebenslangen Freundschaft zwisdien Theodor und Chrysostomos, die J. M. Vosté etwa als so gesichert ansieht und der er solches Gewicht beimißt, daß es vor allem dem Einfluß des Chrysostomos zuzuschreiben sei, „que le malheureux évêque de Mopsueste n'ait donné gravement scandale que dans les dernières années de sa vie, privé, hélas!, du conseil de son saint ami" (J. M. Vosté, Chronologie, S. 75), gelten seit jeher neben ep. 112 (s. dazu die nächste Anm.) die chrysostomischen „Briefe an Theodor" (Ad Theodorum lapsum I/II), d. h. die Epistula ad Theodorum monadium (ed. Dumortier [SC 117], S. 46—79; MG 47, 309—316) und der Traktat De reparatione lapsi (ebd. S. 80—219; 278—308) samt der Responsio Theodori (ebd. S. 220—239; MG 48, 1063—1066). Doch dürfte neuerdings namentlich C. Fabricius gezeigt haben: a. daß die Responsio Theodori unecht ist, b. daß der Traktat ursprünglich ohne Adressatennamen in Umlauf war und c. daß der Theodor des Briefes „ein junger

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Charisma in der zeitgenössischen Theologie

bewährte, als Chrysostomos in Konstantinopel scheiterte und sein „ F a l l " die Geister in Ost und West selbst noch über seinen T o d hinaus aufwühlte und entzweite, läßt sich nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Weder kann es als ausgemacht gelten, daß unter den uns erhaltenen mehr als 200 Briefen, die Chrysostomos aus seinem Exil seinen Anhängern im Orient und in Konstantinopel zukommen ließ, auch nur ein einziger an den Bischof von Mopsuestia gerichtet war 4 . Noch wissen Palladlos, der Vertraute und Biograph der letzten Lebensjahre des Chrysostomos 5 , oder andere zeitgenössische Quellen von einer offenen Parteinahme Theodors für seinen einstigen Studiengenossen und Mitpresbyter in Antiocheia zu berichten, den er um über zwanzig Jahre überlebte. Mönch" ist, „von dem wir eben nicht mehr wissen, als was der Brief besagt" (C. Fabricius, Adressat, S. 94; zur Diskussion s. auch J . Dumortier, Question, passim, und G. Jouassard, A d Theodorum lapsum, passim). * Unter diesen findet sich zwar als N r . 112 auch ein Brief „an den Bischof Theodor" (Θεοδώρω επισκοπφΐ M. III, 655; M G 52, 668—669), dessen Adressat schon im Altertum ganz allgemein mit dem Bischof von Mopsuestia identifiziert worden zu sein scheint, was die Gegner Theodors auf dem Konzil von 553 bezeichnenderweise bewog, die Echtheit dieses für Theodor günstigen Dokuments anzuzweifeln (s. R . Devréesse, Essai, S. 240); wie es umgekehrt nach G. Jouassard und C. Fabricius enragierte Theodorfeinde waren, die die Identität des „(Theodorus) lapsus" der beiden chrysostomischen Jugendschriften mit dem Mopsuestener aufgebracht hatten, um ihn zu kompromittieren (s. G. Jouassard, Ad Theodorum lapsum, S. 144—150; C. Fabricius, Adressat, S. 92 f.). Aber daß der Theodor von ep. 112 mit dem Mopsuestener identisch sei, wäre wohl nur dann, wenn nicht völlig sicher, so doch zumindest sehr wahrscheinlich, wenn man am Ende zu lesen hätte: . . . ού γαρ την τυχοϋσαν, και εν έρημί