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German Pages 245 [248] Year 2002
Cassirer und Goethe Herausgegeben von Barbara Naumann und Birgit Recki
STUDIEN AUS DEM WARBURG-HAUS HERAUSGEGEBEN V O N
WOLFGANG KEMP GERT MATTENKLOTT MONIKA WAGNER MARTIN WARNKE
Band 5 Cassirer und Goethe Herausgegeben von Barbara Naumann Birgit Recki
Cassirer und Goethe Neue Aspekte einer philosophischliterarischen Wahlverwandtschaft
Herausgegeben von Barbara Naumann und Birgit Recki
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius
ISBN 3-05-003723-7
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2002 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Werksatz Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck: Primus Solvero, Berlin Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung VII
BARBARA N A U M A N N Umschreibungen des Symbolischen Ernst Cassirers Goethe 1 ROGER H. STEPHENSON ,Ein künstlicher Vortrag": Die symbolische Form von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften 25
KARL ROBERT MANDELKOW Bemerkungen zum Goethebild Ernst Cassirers 43
GERT MATTENKLOTT Cassirers Goethe-Lektüre im Kontext der deutsch-jüdischen GoetheRezeption 57
HANS GÜNTER D O S C H „Und seh' ein traurig dunkles Blau" Goethe und die exakte Naturwissenschaft 75
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Inhalt
ENNO RUDOLPH Logos oder Symbol? Cassirer über Goethes Piatonismus 97
GÜNTER PETERS Prometheus und die „Tragödie der Kultur" Goethe - Simmel - Cassirer 113
ERNST WOLFGANG ORTH Goethe als Therapeutikum Zu Ernst Cassirers Pathologie des Symbolischen 137
J O H N MICHAEL KROIS Die Goethischen Elemente in Cassirers Philosophie 157
MASSIMO FERRARI Was wären wir ohne Goethe? Motive der frühen Goethe-Rezeption bei Ernst Cassirer 173
BIRGIT RECKI „Lebendigkeit" als ästhetische Kategorie Die Kunst als Ort des Lebens bei Cassirer, Goethe und Kant 195
Personenregister 221
Einleitung
I. Das Jahr 1999 brachte ein denkwürdiges Doppeljubiläum. Zu begehen war Goethes 250. Geburtstag - ein Anlaß für eine große Anzahl von Versuchen der Neubestimmung, für die neuerliche Frage zumal nach der „Aktualität" Goethes am Ende des 20. Jahrhunderts. Die Frage nach dem Verhältnis des Philosophen Ernst Cassirer zum Dichter Goethe ließ in den Blick fallen, daß das „Goethe-Jahr" in gewissem Sinne auch ein „Cassirer-Jahr" war: Zum 70. Mal jährte sich die denkwürdige „Davoser Begegnung" zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger, bei der zwei philosophische Welten aufeinanderprallten, deren Spannungsverhältnis bis heute in der Auseinandersetzung fortwirkt. 1 In Cassirers Philosophie nimmt Goethe, neben Kant, eine äußerst prominente Rolle ein. Ebenso wie die Erforschung der Bedeutung des Philosophen wäre auch die der Auseinandersetzung mit dem Dichter immer noch ein Desiderat der Cassirer-Forschung. Für einen Philosophen des frühen 20. Jahrhunderts ist die intensive Befassung mit Goethe nicht ungewöhnlich; man kann darin sowohl ein generationentypisches Interesse als auch die durchaus verbreitete Verehrungshaltung des jüdischen Bildungs1 Siehe die Dokumentation der Auseinandersetzung bei D. Kaegi/E. Rudolph (Hg.): Cassirer - Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, Hamburg 2002.
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Einleitung
bürgertums erkennen. Doch diese Einstellungen erschöpfen, wie ein genauerer Blick zeigt, Cassirers Haltung zu Goethe keineswegs. Im Vergleich von Cassirers Goethe-Neigung etwa mit der solcher Autoren wie Simmel und Auerbach, oder andererseits mit Dilthey, Gundolf und George, wird der Unterschied unmittelbar evident: Cassirer erachtet Goethe als einen Autor von absoluter philosophischer Dignität. Nicht schlechthin in der intensiven Auseinandersetzung mit dem Dichter, wohl aber in ihrer methodischen Auszeichnung kommt Cassirers Goetherezeption in der Tat historische Auffälligkeit und philosophische Besonderheit zu. Diese Besonderheit und ihre Bedeutung für Cassirers Werk ist der systematischen Beschäftigung mit Cassirer bisher noch weitgehend entgangen. Die hier vorgelegten Beiträge des Symposions, das am 12. und 13. November 1999 im Warburg-Haus in Hamburg stattgefunden hat, versuchen jeder auf seine Weise, den blinden Fleck in der Forschung aus philosophischer wie literaturwissenschaftlicher Perspektive aufzuhellen. 2 Mit der Untersuchung des Verhältnisses von Cassirer und Goethe sucht der vorliegende Band in zweierlei Hinsicht wissenschaftliches Neuland zu betreten: Einerseits wird dem philosophischen Stellenwert eines Dichters
2 Wenige Ausnahmen seien kurz genannt, die meist in Artikelform vorliegen: J. M. Krois: „Urworte: Cassirer als Goethe-Interpret". In: E. Rudolph, B.-O. Küppers (Hg.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer. Hamburg 1995 (= Cassirer-Forschungen Bd. 1), S. 297-324. N. Janz: „Les métaphores optiques dans ,La Philosophie des Formes Symboliques' d'Ernst Cassirer". In: Etudes de Lettres. Janvier/Mars 1993, S. 12943. Dies.: „Die Transformation erkenntnitheoretischer Metaphern im Werk Ernst Cassirers". In: R. Faber, B. Naumann (Hg.): Literarische Philosophie philosophische Literatur. Würzburg 1999, S. 133-50. B. Naumann: „Talking Symbols: Ernst Cassirer's Repetition of Goethe." In: E. Rudolph, B.-O. Küppers (Hg.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer. A.a.O., S. 353-71. Dies.: „Kants Stil. Literarische Aspekte systematischer Philosophie". In: R. Faber, B. Naumann (Hg.): Literarische Philosophie ... A. a. O., S. 95-110. Lediglich eine Monographie ist unseres Wissens zu diesem Thema bisher erschienen, und nicht zufällig stammt diese Arbeit aus dem Kontext der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft: B. Naumann: Philosophie und Poetik des Symbols. Cassirer und Goethe. München 1998.
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Einleitung
im Werk desjenigen Philosophen nachgegangen, dem wir die elaborierteste Kulturphilosophie des 20. Jahrhunderts verdanken. Andererseits gilt es, eine Facette des Wirkens Goethescher Dichtung und Goethescher Theoreme in der Philosophie des 20. Jahrhunderts zu erkennen, die bisher kaum in Erscheinung getreten ist. Wenn auch das „Goethe-Jahr" 1999 mit seiner gebündelten Aufmerksamkeit auf die Aktualität des Dichters am Ende des 20. Jahrhunderts den sinnfälligen Anlaß für diese Untersuchung vorgegeben hat, bleibt doch die Bedeutung der Aufnahme Goethes durch Cassirer nicht auf ein solches markantes Datum beschränkt. Denn hier wird ein Themenbereich angesprochen, der - bestimmt durch den eigentümlichen und interdisziplinären Charakter beider Werke - aus sich selbst heraus die Notwendigkeit des interdisziplinären Zusammenspiels verschiedener Fächer herausfordert und damit paradigmatisch für die gegenwärtigen Debatten in den Geisteswissenschaften steht. Eine genaue Lektüre der Werke Cassirers, insbesondere der Philosophie der symbolischen Formen (1923-29), vermag zu zeigen, daß Cassirer philosophische und wissenschaftsgeschichtliche Quellen gerade nicht auf die Funktion von „Hintergrundmaterial" für seine Theorie reduziert: Seine Diskussion dieser Quellen stellt stets insofern mehr dar als bloßes „Referat", als sie durch die systematische Intention angeleitet ist. Auf allen Stufen der Darstellung vermeidet die symboltheoretische Kulturphilosophie eine Trennung zwischen „eigentlicher" Theorie und ihrer „uneigentlichen" Herleitung aus anderen Quellen. Sie versteht sich letztlich nicht als Meta-Theorie. Ihre performative und diskursive Orientierung ist dafür einer der Gründe und daher ein wesentlicher Baustein für das Verständnis ihrer Erkenntnisinteressen. 3 Denn diese Philosophie der symbolischen Formen beansprucht, die Verbindung philosophiegeschichtlicher, wissenschaftsgeschichtlicher und literargeschichtlicher Fragestellungen nicht nur zu denken, sondern auch zu sein.
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„Discours-pensée" ist Michel Foucaults eingängige Begriffsprägung für Cassirers Darstellung der Philosophiegeschichte als Formation symbolischer Formen. S. M. F o u cault: „Une histoire restée muette". In: La Quinzaine S. 3.
littéraire.
N r . 8, 1. Juli 1966,
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Einleitung
Diese Grundorientierung betrifft im eminenten Maße auch die Rolle, die Theoreme und Dichtungen Goethes in Cassirers Werk spielen. Bereits aus der Perspektive des nachidealistischen, des kritischen Wissenschaftsverständnisses der 50er und 60er Jahre wurde die zunehmend stärkere Trennung zwischen Philosophie und (Geistes-)Wissenschaften beklagt, und dieses Problem stellt sich heute in noch verschärfter Form. Cassirers Philosophie ist auch darin bedeutsam, daß sie sich eine solche Arbeitsteilung weder hat aufdrängen noch überhaupt zum Problem werden lassen. Schon in seinem 1916 erschienenen Buch Freiheit und Form präsentiert Cassirer, entschieden gegen die durch Dilthey und George geprägte zeitgenössische Tendenz gewandt, eine neue, philosophisch interessierte Seite Goethes. Dessen Denken kann in Cassirers Perspektive philosophische Dignität gewinnen, weil nur die Philosophie ihn „täglich mehr lehrte, sich von sich selbst zu scheiden", 4 das heißt, sein eigenes Denken kritisch zu reflektieren. Zum Dichter und Philosophen Goethe tritt bei Cassirer gleichgewichtig Goethe, der Naturforscher. Sie verbinden sich zu einer integralen Einheit, die unangefochten bis in Cassirers späte Arbeiten zu Goethe ihre Geltung bewahren wird. Es ist eine in der frühen geisteswissenschaftlichen Studie formulierte Grundthese Cassirers, daß Goethe Anschauung und Denken nicht trenne, sondern „die Anschauungen selbst in das Denken" einbeziehe, daß Goethe also die „Eigenart seiner symbolischen' Betrachtungsweise" gewinne, „indem er sich, gerade im Individuellen, zugleich einem bestimmten .Typus' angehörig fühlte, der ihm das Gesetz des eigenen Wesens erst völlig zum Verständnis brachte." 5 Diese Grundthese hat Cassirer in seinen Arbeiten zu Goethes Wissenschaft und zu seiner Dichtung immer wieder variiert, aber nie revidiert. In der Gegenwart, am Anfang des 21. Jahrhunderts, mag eine derartige Wendung des Philosophierens vielleicht als Anachronismus erscheinen. Generell steht die Wahrnehmung dessen, was bis in die jüngste Vergangen4 E. Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (= Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. von B. Recki. Bd. 7. Text u. Anm. bearb. von R. Schmücker). Hamburg 2001, S. 227. 5 Cassirer: Freiheit und Form, S. 227f.
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heit selbstverständlicher Quell bildungsbürgerlichen Wissens war, unter dem Zeichen des allmählichen Verblassens: Etablierte Größen der Schriftkultur büßen ihre Wirkungsmacht ein. Anders bei Cassirer: Sein Verhältnis zu Goethe kennt noch kein Verblassen der Schrift; er nimmt den historischen Abstand nur in einem eingeschränkten Sinne wahr. Für ihn besitzen die Gedankenfiguren des Dichters wie die seiner Kronzeugen generell fraglos Aktualität und Lebendigkeit - lebendige Gegenwart. Cassirer bringt Goethes Denkbilder und Figuren auf eine solche Weise zum Sprechen, daß er sie im Licht seiner eigenen Theorie lesen und mit ihnen verdeutlichen kann, was als symboltheoretisch begründete Kulturphilosophie im umfassenden Sinne zu verstehen sei. In dieser ungebrochenen Aktualität einer historischen Reflexionsform liegt daher auch ein problematischer Gegenwartsbezug, den einige der hier vorgelegten Beiträge näher untersuchen. Folgende Leitfragen untersuchen die Beiträge dieses Bandes: In welchem Sinne und in welchen Kontexten kann man bei Cassirers Goethe-Lektüre von einer „Rezeption" sprechen? Welche Texte Goethes nehmen einen prominenten Platz in Cassirers Goethe-Universum ein? Lassen sich gattungsspezifische, motivische, philosophisch-systematische Schwerpunkte feststellen? Wie bildet sich Goethes Verhältnis zu Naturwissenschaft und Dichtung in Cassirers Texten ab ? Welchen Einfluß haben die Erfahrungen des Faschismus und der Emigration auf Cassirer Einstellungen zu Goethes Werk? Wie stellt sich das Verhältnis zwischen dem Kantianer Cassirer und dem „Goetheaner" Cassirer dar? Gibt es Widersprüche, Ausschlüsse oder eher Anschlußfähigkeit zwischen beiden? Wie und zu welchem Ende bringt Cassirer die beiden „Klassiker" miteinander ins Spiel? Nutzt Cassirer die Einbettung Goetheschen Denkens zu metaphysikkritischen Einstellungen, oder setzt er vielmehr metaphysische Züge seiner Philosophie mit literarischen Mitteln fort? Lassen sich Verbindungen zwischen Cassirers Sprachkritik und der poetischen Schreibweise Goethe ziehen? Welche Verfahren Cassirers im Umgang mit Begriff und Metapher rekurrieren auf Goethes Schreibweisen? Welche Stiltheorie des philosophischen Schreibens bestimmt Cassirer, und wie wiederum bestimmen Goethes Einstellungen diese?
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Einleitung
Kann man von einer Stiltheorie Cassirers sprechen? Stellt Cassirers textueller Umgang mit Goethe eine aktuelle oder aktualisierbare Facette seines Werkes dar, oder liegt darin eher ein traditionalistischer Zug seines Denkens? Wie stellt sich das Verhältnis zwischen Cassirers Goethe-Studien und seinem Projekt einer Philosophie der Kultur dar?
II. An Goethes Werken läßt sich eine historisch spezifische, höchst individuell gedachte Form der Interdisziplinarität nachvollziehen. Goethe meinte, in Begriffen wie „Bildung" und „Werden" oder „Polarität und Steigerung" ein Gemeinsames von Natur- und Kunstbetrachtung gefunden zu haben, und er begriff seine naturwissenschaftlichen Studien als symbolische Erkundungen. Barbara Naumann rekonstruiert in Umschreibungen des Symbolischen. Ernst Cassirers Goethe einen eminent produktiven Aspekt der Goethe-Lektüren Cassirers, nämlich die Umschreibung, die Aus- und Weiterdeutung der Wissenschaftsauffassung des Dichters in eine Theorie symbolischer Formen und interdisziplinärer Geschichtsschreibung. Die Eigenheit dieser folgenreichen Goethe-Lektüre bestehe darin, als Symbolphilosophie formuliert zu sein und doch nicht, oder vielmehr: gerade deshalb nicht, im Rahmen akademischer Disziplinengrenzen zu verharren. Anhand einer bisher unpublizierten Vorlesung zum Begriff der Geschichte (Hamburg 1925/26) untersucht die Verfasserin Cassirers Auseinandersetzung mit der unregelmäßigen Vielfalt und Lebendigkeit der historischen Entwicklung künstlerischer und kultureller Formen, eine Auseinandersetzung, die den Philosophen dazu führen werde, von der kantischen Leitidee „einer Vernunft" bzw. „eines Geistes" Abschied zu nehmen. Mit Nachdruck erhebe Cassirer in diesen Ausführungen zum Begriff der Geschichte, wie auch in der Philosophie der symbolischen Formen, Einspruch gegen die traditionelle Vorstellung eines geistesgeschichtlich informierten Verhältnisses von Idee und Geschichte. Naumann hebt hervor, daß Cassirer den Ideenbegriff der Geistesgeschichte verwerfe, da sich die Vorstellung des Geistes selbst kulturell vervielfältigt habe. Damit aber sei das
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Projekt von Cassirer s eigener Theorie der symbolischen Formen in nuce benannt. Roger H. Stephensons Beitrag „Ein künstlicher Vortrug": Die symbolische Form von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften widmet sich der Rhetorik von Goethes späten naturwissenschaftlichen Schriften. Die stilistische Raffinesse dieser Schriften besteht für Stephenson in der Entfaltung eines „künstlichen Vortrags", eines Vermögens, die begrifflichabstrakten Inhalte der Naturwissenschaft in einer Weise zur Darstellung zu bringen, die der Lebendigkeit und vielfältigen inneren Bezüglichkeit der beobachteten Naturobjekte gerecht zu werden vermag. Die Lyrik bilde dabei die Resymbolisierung eines primären symbolischen Ereignisses. Goethe habe sie als eine „naturgemäße Darstellung" erachtet und folgerichtig mehrere Gedichte in seine naturwissenschaftlichen Schriften eingeschlossen. Goethes Ziel war jedoch, in der Prosa mit dem Stilmittel eines „künstlichen Vortrags" ein wissenschaftliches Darstellungsproblem zu bearbeiten, das in der tendenziell unmöglichen Wiedergabe einer „allgegenwärtigen Gleichzeitigkeit widerstreitender Kräfte in der Natur" besteht. Simultanität und Synthesis des Heteronomen in sprachlich-diskursiver und zugleich anschaulicher Form zu entfalten - , so könne man das Stilproblem in Goethes naturwissenschaftlichen Aufsätzen, vor allem seit 1820, umschreiben. Darin sei zugleich ein Erkenntnisproblem im Sinne Ernst Cassirers angesprochen. Denn um zum Ausdruck zu bringen, daß Dinge und Prozesse als Gegenstände der Naturwissenschaft komplex aufeinander bezogen sind, müsse, wie Stephenson ausführt, „die schriftliche Darstellung der natürlichen Phänomene, deren wichtigstes Ziel es sein sollte, die Natur ,dem Leser [...] in lebhafter Phantasie gegenwärtig zu sein' zweifellos auf irgendeine Art ästhetisch sein; aber ebenso zweifellos wird die Bildersprache - also die Metaphorik - nicht die entscheidende Rolle spielen." Indem Goethe in genetisch-erzählender Weise logische und ästhetische Beziehungen der Gegenstände zugleich zu entfalten sucht, werde die alltägliche Welt menschlicher Gefühle und Bewertungen heraufbeschworen und der Leser, Goethes Ideal entsprechend, in eine „sittliche" Beziehung mit der Natur gesetzt.
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Einleitung
Karl Robert Mandelkow führt in seinem Beitrag Bemerkungen zum Goethebild Ernst Cassirers eine ideologiekritische Auseinandersetzung mit dem Philosophen. Er macht deutliche Spuren einer „konservativen" Goethe-Rezeption aus, die zu einer doppelten Verkennung des Dichters im Werk des Philosophen geführt habe. Mandelkow sieht vor allem Cassirers Reaktion auf das zeitgenössische Formproblem als Indiz dieses Konservatismus. So erkennt er in Cassirers, auf Goethes frühe Künstlertheorie bezogenen, Formulierung der „Naturformen des Menschenlebens" vor allem den gleichnamigen Titel eines Aufsatzes von Viktor Hehn (1887) wieder, eines „erzkonservativen Manifests" der Goetheforschung. Entgegen den Positionen der Moderne, die die Zertrümmerung des organischen Formbegriffs proklamierten, impliziere Cassirers Rückbezug auf Goethe eine „Rehabilitation des von der Moderne in Frage gestellten Formbegriffs". Da vor allem die naturwissenschaftlichen Schriften Goethes, nicht aber die Dichtung den Anknüpfungspunkt für Cassirers Goethe-Rezeption darstellten, lasse sich ein weiteres Problem im Kontext der Formdiskussion erkennen, das darin bestehe, „historische Formen als Naturformen" wahrzunehmen. Mandelkow wirft Cassirer eine durchgängige Verkennung der Differenz zwischen Natur und Geschichte vor und resümiert: „Es fehlt daher den Cassirerschen Goethearbeiten jegliche kritische Auseinandersetzung mit dem Dichter." Dies schlage sich schließlich negativ auch auf die im engeren Sinne literaturbezogenen Arbeiten nieder, wie etwa auf die Rezension zu Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar". Hier basiere Cassirer sein Argument vor allem auf naturwissenschaftliche Begriffe Goethes, indem er den Aspekt der „wiederholten Spiegelung" zum Kernbegriff des Romans erkläre. Völlig verkannt, so Mandelkow, werde dadurch die durchgängig ironische Zweideutigkeit und damit die Intention des Romans. Gert Mattenklott untersucht Hermann Cohens und Ernst Cassirers Verhältnis zu Goethe vor dem Hintergrund der im 18. Jahrhundert einsetzenden Aufklärung. In dem Beitrag Cassirers Goethe-Lektüre im Kontext der deutsch-jüdischen Goethe-Rezeption charakterisiert der Verfasser die deutsch-jüdische Kunsttheorie als eine Form des Handlungswissens, nicht also als eine bloße Gesinnungsethik, sondern „auf das Entschiedenste eine der Tat", die gerade auch im Verhältnis zu Goethe virulent geworden sei.
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Besonderes Augenmerk richtet Mattenklott auf Cohens Buch Religion der Vernunft, in dem ein genereller Vorbehalt gegen jegliche Kunstreligion - in Sonderheit die der zeitgenössischen ästhetizistischen Strömungen - mit einer Apologie der Künste im Dienst des Judentums verbunden wird. Der Vorbehalt gegen die Kunstreligion werde von Cohen theologisch begründet: „Der sittliche als der religiöse Mensch ist für Cohen in seiner entscheidenden Bestimmtheit, nämlich der Beziehung zu seinem Gott, nicht symbolfähig." Cohen habe, im kritischen Versuch, die Tendenzen Goethes zum Polytheismus zu entwerten, dessen Werke im Sinne einer Spiritualisierung interpretiert. Mattenklott hebt hervor, daß Goethes /^«5i-Dichtungen von Cohen weder anti-christlich noch anti-jüdisch verstanden wurden; Cohen akzentuiert demgegenüber am Werk Goethes eine Ethik der produktiven - intellektuellen - Tat, ein Deutungshorizont, den sich zahlreiche deutsch-jüdische Intellektuelle, unter ihnen Simmel und Cassirer, zu eigen gemacht haben. Auch Cassirers Lektüre der Faust-Dichtungen lasse Züge dieser Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition im Licht einer Ethik der Tat erkennen: So findet sich hier neben einer Aufwertung der „zeugenden Tat" auch der Gedanke der Aufhebung der individuellen Bestrebungen in der Idee der Menschheit. Beide Perspektiven aber ließen sich als Aspekte der Sabbat-Ethik verstehen. „Goethes naturphilosophisch begründete Lebensdynamik von Polarität und Steigerung übersetzt Cassirer in die produktive Balance von Arbeit und Muße, gemäß der jüdischen SabbatEthik, wie sie im Pentateuch angelegt ist." Handlung und Tat, wie er sie in der Faust-Dichtung erkennt, bedeuteten für Cassirer daher die Hervorbringung des eigentümlichen menschlichen Wesens überhaupt. Hans Günter Dosch sieht Cassirer auf Grund seines Verständnisses der modernen Naturwissenschaft in einem Dilemma, das sich aus dem Verhältnis von Goethes dichterischem Werk zur wissenschaftlichen Unzulänglichkeit von dessen Farbenlehre ergibt. Dosch stellt in seinem Beitrag „ Und seh' ein traurig dunkles Blau". Goethe und die exakte Naturwissenschaft den Grundgedanken von Goethes Farbenlehre im breiten Spektrum zurückhaltender und kritischer Reaktionen - der unmittelbaren Zeitgenossen wie der Wissenschaftler bis ins 20. Jahrhundert - dar. Die Gründe für
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Goethes schwer verständlichen Widerstand gegen Newtons Optik wie für das Scheitern seiner beabsichtigten Alternative sieht Dosch jedoch nicht in Goethes von Helmholtz geltend gemachter Unkenntnis der Wellentheorie des Lichtes, sondern in der Insistenz auf intuitiver Naturerkenntnis und der mit ihr verbundenen offensiven Zurückweisung der mathematischen Methode. In dieser hartnäckig verteidigten Einstellung vermutet er das Bedürfnis nach einer intakten Einheit von Natur als dem ideellen Korrektiv fragiler menschlicher Verhältnisse. Enno Rudolph unternimmt einen ersten Schritt zur genaueren Auswertung von Cassirers andauernder und vielschichtiger Beschäftigung mit der Platonischen Philosophie, für deren Ambivalenz die Auseinandersetzung mit Goethes „Piatonismus" wie ein Brennglas wirken könnte. Sein Text Logos oder Symbol? Cassirer über Goethes Piatonismus fokussiert Cassirers symboltheoretische Interpretation der Platonischen Ideenlehre. Cassirer hat sie in seinem großen Artikel für Dessoirs Lehrbuch von 1925 entwickelt; sie ermöglicht es ihm, mit dessen Begriff eines „Kosmos der Bedeutungen" zugleich eine „Theodizee der Sinneswahrnehmung" zu erkennen, die sich bei Piaton zwischen dem Phaidon und dem Timaios entwickle. Zwar ist der metaphysische Dualismus des Piatonismus damit unterlaufen, zwar ist nach Cassirers Lesart auch der Platonische Begriff der Mimesis auf der Folie einer bedeutungstheoretischen Dynamisierung als Methexis - und damit eben nicht als unselbständiges Nachmachen - zu verstehen und Goethes Künstler nach Art des Platonischen Demiurgen aus dem Timaios zu beschreiben. Doch macht Cassirer von solchen Differenzierungen in seiner Abhandlung über Goethe und Piaton keinen Gebrauch. In einer Weise, die nach weiterer Klärung verlangt, exponiert er Goethe hier trotz dessen dokumentierter Vorliebe für den Timaios als modernen Antipoden eines vom zuvor entwickelten Piatonverständnis nicht mehr abgesetzten Piatonismus. In den vielen Facetten des Prometheus-Mythos hat Goethe nicht nur sein literarisches Schaffen, sondern auch sein Selbstbild als Dichter immer wieder zu spiegeln gesucht. Die griechische Erzählung vom feuerraubenden Titanen faszinierte Goethe als Mythos der Kultur, wird doch in ihm der Konflikt zwischen individueller Gesetzesübertretung und kultureller
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Verbindlichkeit sichtbar. Nicht zufällig bezeugt auch Ernst Cassirer ein besonders ausgeprägtes Interesse an Goethes Pandora-O'ichxnng, einem der Texte zum Prometheus-Komplex, in dem der Widerstreit zwischen einem mythisch und einem kulturell geprägten Weltverhältnis beispielhaft verhandelt wird. Günter Peters diskutiert in Prometheus und die „ Tragödie der Kultur". Goethe - Simmel - Cassirer die Deutung der Pandora-Dichtung durch Cassirer als Indiz für eine kritische Auseinandersetzung mit der These von der notwendigen Tragik des kulturellen Prozesses. Peters weist darauf hin, daß Cassirer die Pandora-Figur als eine symbolische Gestalt verstand, die „aus den Sackgassen einer sich verhärtenden objektiven Welt und einer in den Traum sich verlierenden Innerlichkeit herausführt". Pandora werde in Cassirers Sicht zu einer „Allbegabten" und „Allgebenden", eine Qualifizierung, die Cassirer entgegen den vorherrschenden allegorischen Interpretationen des Dramas mit einer Deutung der Pandora als einer symbolischen Gestalt verbindet. Im Gegensatz zu Georg Simmel, der die Kultur als unausweichlich tragisch ansieht, vertritt Cassirer im Jahr 1918 die Ansicht, „daß die Kultur ihre höchste Form dort erreicht, wo der Einzelne die Tragik seiner Endlichkeit entsagend verwindet". Cassirers Deutung des kulturellen Prozesses sei eine dezidert nichttragische. Darin liege auch Cassirers Hauptargument gegen Simmel: Statt stets nur den kulturellen Wandel der ganzen Gattung zu betrachten, liefere die individuelle Perspektive eine Möglichkeit, das Nicht-Tragische in der Kultur zu erkennen. „In den Kulturphänomenen", so Cassirer in „Die Tragödie der Kultur", „hat der Mensch durch die symbolischen Formen', die das Eigentümliche seines Wesens und seines Könnens sind, gewissermaßen die Lösung einer Aufgabe vollzogen, die die organische Natur als solche nicht zu lösen vermochte." Vom Konfliktpotential der Kultur handelt in seinen grundsätzlichen Reflexionen auch Ernst Wolfgang Orth. Im Anschluß an die Orientierungsstörungen bei der Transposition und Transformation von Bedeutung, die Cassirer im Dritten Teil der Philosophie der symbolischen Formen unter dem Titel einer „Pathologie des Symbolbewußtseins" erörtert, stellt er sich in seinem Aufsatz Goethe als Therapeutikum. Zu Ernst Cassirers Pathologie
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des Symbolischen der grundsätzlichen Frage nach den Defizienzen, den Ausfällen, den Brüchen und Krisen, welche den Prozeß der Kultur bedrohen: Ist der symboltheoretische Ansatz imstande, das Pathologische in der Kultur angemessen zu situieren? - An Cassirers Verhältnis zu Goethe betont Orth dessen exemplarische Funktion für die „Sanierung des Kulturbewußtseins": In der beispielhaften Kapazität seiner poetischen Lebensgestaltung verkörpere Goethe für Cassirer nicht allein den Grundgedanken einer Philosophie der symbolischen Formung, die den Menschen als Schöpfer und Geschöpf der Kultur begreifen will; es sei zugleich der beständige Seitenblick auf Goethe, der Cassirer auch in seiner Bemühung um das Verständnis des Pathologischen in der Kultur anleitet. Für John Michael Krois ist es Cassirers Ziel in seiner Kulturphilosophie, „dem Gefühl der Befreiung, das Goethes Werk in ihm hervorrief, philosophische Form zu geben." Krois sieht in seinem Beitrag Die Goethischen Elemente in Cassirers Philosophie das, was man Cassirers „Konstruktivismus" nennen darf, in der frühen Prägung durch Goethes poietischen Primat des Tuns begründet, durch welche sich auch Cassirers Interesse am Kantianismus der Marburger Schule erklären lasse. Die Philosophie der symbolischen Formen liest er als den Versuch, im Anschluß an Goethes Konzepte von Form, Metamorphose und Morphologie eine „ideelle Morphologie" der Kultur und darin eine Antwort auf den Hegeischen Idealismus zu entwickeln. Es ist diese Front der Auseinandersetzung mit Hegel und dem Deutschen Idealismus, die auch Massimo Ferrari in seinem Aufsatz Was wären wir ohne Goethe ? Motive der frühen Goethe-Rezeption bei Ernst Cassirer als entscheidendes Motiv herausstellt. Den starken Einfluß von Goethes dynamischem Formbegriff auf jene „Formenlehre des Geistes", die Cassirer mit seiner Philosophie der symbolischen Formen intendiert, begreift er jedoch im größeren Kontext der Trias Leibniz - Goethe - Kant, da sich Goethes Morphologie in der Linie von Leibniz wie sein Begriff der Urpflanze als regulative Idee im Sinne von Kants Reflexionen in der Kritik der teleologischen Urteilskraft lesen lasse. Entscheidend an der Art und Weise, wie Cassirer die auf Natur und Geist gleichermaßen bezogene Vorstellung einer „bildenden Kraft" symboltheoretisch auslegt, sei ihm in letz-
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ter Instanz jene konstruktivistische Auffassung des erzeugenden Denkens, die nach seiner Auffassung Kant und Goethe gemeinsam ist. Diese Betonung einer für Cassirers Denken typischen Verflechtung von Kant und Goethe bildet auch die Quintessenz des Beitrags von Birgit Recki: „Lebendigkeit" als ästhetische Kategorie. Die Kunst als Ort des Lebens bei Cassirer, Goethe und Kant. Sie umreißt jene eigenständige Theorie der Kunst, welche Cassirer in systematischer Konsequenz seiner poietisch-praktisch ausgelegten symboltheoretischen Kulturkonzeption als eine rezeptionsästhetisch reflektierte Werkästhetik entwickelt. Kunst sei für Cassirer „Intensivierung von Wirklichkeit", und sie könne dies sein durch die gesteigerte Lebendigkeit, mit der die Werke in der Eigendynamik ihrer Formung die Wahrnehmung fordern. In diesem ästhetischen Begriff der Lebendigkeit verschränkten sich als gleichursprünglich die Einflüsse Goethes, der in der Lebendigkeit das Natürliche und Naturanaloge des Schaffens wie des Werkes herausstellt, und Kants, für den das ästhetische Urteil über das Schöne sich auf das Lebensgefühl des Subjekts bezieht.
Einen wichtigen Bezug bei der Organisation der Tagung, aus der die hier vorgelegten Beiträge hervorgingen, bildeten die Edition der Gesammelten Werke Cassirers unter der Leitung von Birgit Recki in Hamburg und die Edition seines Nachlasses in Berlin unter der Leitung von Oswald Schwemmer und John Michael Krois, an der Barbara Naumann mit einem Goethe-Band beteiligt ist. Ort der Tagung war das Warburg-Haus, die ehemalige Kulturhistorische Bibliothek Warburg - der Ort, an dem Cassirer nach eigenem Bekunden wesentliche Anregungen für die Anlage seiner Kulturphilosophie fand. Er nutzte die Bibliothek intensiv zur Weiterentwicklung seiner kulturtheoretischen Werke und stellte diese häufig bei Vorträgen in der Kulturhistorischen Bibliothek Warburg auch zum ersten Mal der Öffentlichkeit vor. Wir freuen uns, daß mit Unterstützung der Warburg-Stiftung und der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius nicht
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nur die Tagung, sondern auch die Publikation dieses Bandes ermöglicht wurde, und wir danken diesen Institutionen sehr herzlich. Ebenso geht unser Dank an die Universität Hamburg für die Unterstützung des Symposions.
Barbara Naumann und Birgit Recki Zürich und Hamburg, im Mai 2002
Umschreibungen des Symbolischen Ernst Cassirers Goethe BARBARA NAUMANN
In jüngster Zeit haben kulturgeschichtlich orientierte Studien zu Goethe erneut Fragen aufgegriffen, die die geisteswissenschaftlichen Disziplinen in grundsätzlicher Hinsicht beschäftigen. Aus der interdisziplinären Neuorientierung der Literaturwissenschaft und anderer geisteswissenschaftlicher Fächer erwächst, wieder einmal, die alte Besorgnis, inwiefern man von Goethe als einem „aktuellen" Autor sprechen könne. Nun sind Multiperspektivik und die Orientierung an diversen Wissenschaftsdisziplinen und -typen in der Tat in einem ganz spezifischen Sinne wesentliches Merkmal der Arbeiten Goethes. Aufgrund der künstlerischen und wissenschaftlichen Vielfalt und vor allem aufgrund der expliziten Suche nach Synthesen zwischen künstlerischen und wissenschaftlichen Bereichen erschließen sich zahlreiche Werke Goethes unmittelbar als ein geeignetes Studienobjekt für interdisziplinäre Fragen, und dies in einem doppelten Sinne. Goethes variierende und umfassende Interessen lassen sich zum einen als Lektüren der Natur in disziplinenübergreifenden Studien rekonstruieren. Zugleich aber kann man an seinem Werk nachvollziehen, wie ein individueller, fast idiosynkratischer Typus von Interdisziplinarität konstruiert wurde. Allerdings ist dies nicht ganz unproblematisch: Denn ausgerechnet in Goethes Suche nach übergreifenden Erklärungsmustern lassen sich noch Elemente einer Wissenschaftsauffassung erkennen, die vormoderne Züge trägt, oder zumindest deutliche Skepsis gegenüber der modernen Differenzierung der Naturwissenschaf-
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Barbara
Naumann
ten zu erkennen gibt.1 Goethe meinte, in Begriffen wie „Bildung" und „Werden" oder „Polarität und Steigerung" ein Gemeinsames von Naturund Kunstbetrachtung gefunden zu haben und zielte bekanntlich darauf ab, seine naturwissenschaftlichen Studien als symbolische Erkundungen zu begreifen. In den literarischen Texten die Ergebnisse seiner Naturstudien als Krisen des Werdens und der bedrohlichen Wandelbarkeit menschlicher Verhältnisse zu inszenieren, bildet ein allgemeines Darstellungsziel seiner Prosa. Betrachtet man aber Goethes wissenschaftliche Forschungen als pluralistisch und interdisziplinär, läuft man Gefahr, eine heutige Vorstellung, vielleicht sogar Wunschvorstellung, von Interdisziplinarität auf das Werk eines historischen Wissenschaftstypus zu projizieren.2 Die Vielfalt und innere Bezüglichkeit der Arbeiten Goethes bilden, da sie zumindest teilweise auf historischen Auffassungen von noch nicht spezialisierten Disziplinen beruhen, durchaus noch kein aus sich selbst verständliches Modell für moderne Auffassungen von /«ierdisziplinarität. Trotz dieses Vorbehalts ist aber unmittelbar deutlich, daß gerade in der Vielbezüglichkeit des Werks der Anschlußpunkt für das gegenwärtige Interesse an Goethe als einem Denker jenseits von Disziplinengrenzen liegen muß. Offenbar kann es nicht genügen, schon in der Ansammlung der Fakten und Probleme, die Goethe zutage gefördert und behandelt hat, einen Schlüssel zur Aktualisierbarkeit des Dichters zu sehen. Das innere Verweisungsspiel seiner Schriften ist vor allem bemerkenswert aufgrund der eigentümlichen Konstruktion der Wissensform, die sie entfalten. Wo
1 Zu Zügen vormodernen Denkens und von Schicksalsgläubigkeit bei Goethe vgl. etwa H. Schlaffer: Exoterik und Esoterik in Goethes Romanen, in: Goethe-Jahrbuch, L X X X X V , 1978, S. 2 1 2 - 2 6 . - Für die Naturwissenschaften vgl. das umfangreiche Material bei: P. Matussek (Hg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur, München 1998. 2 Zu Goethes Verhältnis zur Pluralisierung und Differenzierung der Wissenschaften seiner Zeit und den damit einhergehenden Ängsten, umfassende Synthesen nicht mehr leisten zu können, vgl. die Studie von E. von Thadden: Erzählen ais Naturverhältnis - „Die Wahlverwandschaften". Zum Problem der Darstellbarkeit von Natur und Gesellschaft seit Goethes Plan eines „Roman über das WeltallMünchen 1993.
Umschreibungen des Symbolischen
Goethe
Probleme
der Naturbeschreibung
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und -geschichte
behandelt,
geschieht dies stets auch im Interesse einer breiten historischen und kulturellen - und in diesem Sinne symbolischen
- Lektüre der Natur. V o r
allem ist es die eigentümliche symbolische Auffassung des Faktischen und des Poetischen, die Goethes Werke im ganzen auszeichnet. So lassen sich etwa seine Kommentare zu Theorien der Erdentstehung versus Plutonismus
Neptunismus
- als Kommentare einer Doppelperspektive lesen, die
mit der naturwissenschaftlichen These zugleich eine historische, kulturelle, mitunter auch ethische Position umreißt. 3 Ein Beispiel für diese disziplinenübergreifende Perspektive sei hier aus dem Fragment Über den
Granit
(1784) zitiert: „Die ungeheuren Massen dieses Steins flößten Gedanken zu ungeheuren Werken den Ägyptiern ein. [...] Die Neuern gaben dieser Gesteinsart den Namen, den sie jetzt trägt, von ihrem körnigen Ansehen, und sie mußte in unsern Tagen erst einige Augenblicke der Erniedrigung dulden, ehe sie sich zu dem Ansehen, in dem sie nun bei allen Naturkündigern steht, emporhob. [...] Jeder Weg in unbekannte Gebirge bestätigte die alte Erfahrung, daß das Höchste und das Tiefste Granit sei, daß diese Steinart, die man nun näher kennen und von andern unterscheiden lernte, die Grundfeste unserer Erde sei, worauf sich alle übrigen mannigfaltigen Gebirge hinaus gebildet. [...] Ich fühle die ersten festesten Anfänge unseres Daseins; ich überschaue die Welt, ihre schrofferen und gelinderen Täler und ihre fernen fruchtbaren Weiden, meine Seele wird über sich selbst und über alles erhaben und sehnt sich nach dem nähern Himmel."4 In diesem Text vollzieht Goethe in einem Absatz für Absatz sich wandelnden Perspektivwechsel kühne Volten von der Kultur- zur Naturgeschichte, weiter zur Bestimmung der künstlerischen Individualität, um schließlich bei der subjektiven Erfahrung des Erhabenen zu enden. D e r Text ist zugleich ein Kommentar zur Natur- und Geistesgeschichte, und auch die Künstlerproblematik des Sturm und Drang bleibt in der Leitmetaphorik
3 Vgl. z.B. die unter der Überschrift „Neptunismus und Plutonismus" zusammengestellten Beiträge Goethes in: Sämtliche Werke (= Artemis-Gedenkausgabe), München 1977, Bd. XVII, S. 604-14. 4 J. W. Goethe: [Über den Granit] (1784), in: Sämtliche Werke [wie Anm. 3], Bd. XVII, S. 478-83, hier: S. 479 und S. 481.
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der geognistischen und geohistorischen Untersuchungen eigentümlich impliziert. Goethe zielt darauf, ein zunächst schwer zu bestimmendes Neues, eine ganz eigene Position erschreiben zu wollen. Die Sprache der Steinbeschreibung verweist auf ein anderes Sprechen jenseits der Themas Granit, ohne doch den geognostischen Diskurs jemals ganz zu verlassen. Aus solcher Vielbezüglichkeit, die Goethe in anderem Kontext auch mit der Metapher der „wiederholten Spiegelung" belegt hat, schlägt dieser Text einen erkenntniskritischen Funken. Die Ungerichtetheit und simultane Implikation von verschiedenen Erkenntnisweisen generiert eine komplexe Aussage, die den Dingen eine symbolische Ordnung zuerkennt. Es wird unmittelbar evident, daß es zur genauen Beschreibung einer solchen symbolischen Form des Denkens unerläßlich ist, sich mit den Formen der Darstellung - der Dichtung, der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Dichtung - auseinanderzusetzen. 5 Die gegenseitige Durchdringung der Interessen in Goethes Prosa tritt zugunsten der übergreifenden symbolischen Auffassung des Dargestellten von der strengen Scheidung zwischen Wissenschaftsprosa und Dichtung ebenso zurück wie von der Scheidung in Natur- und Geistesgeschichte. Sie legt dem Leser nahe, in der eigentümlichen Verquickung von Darstellungs- und Erkenntnisweisen die symbolische Chiffre einer Suche nach Vergegenwärtigung des Wissens zu sehen.6 Einen dieser Spezifik in Goethes Interdisziplinarität angemessenen Weg der Rezeption, nämlich den Weg der Aktualisierung der symbolischen Strukturen, ist Ernst Cassirer gegangen. Es soll im folgenden Cassirers
5 Vgl. im Kontrast folgenden Aufsatz, der die darstellungstheoretischen Aspekte mit den zeithistorischen und kunsttheoretischen Bezügen des Textes für nicht vereinbar hält: C. Münzer: Goethes .Uber den Granit' and his Aesthetics of Monuments, in: Ethik und Ästhetik. Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Festschr. für W. Wittkowski zum 70. Geb., Frankfurt/M. etc. 1995, S. 181-98. 6 Zu den Darstellungsweisen und den Erkenntnisformen bei Goethes vgl. vor allem den Aufsatz von R. H. Stephenson in diesem Band sowie seine Monographie: Goethe's Conception of Knowledge and Science, Edinburgh 1995 (= Edinburgh Studies in European Romanticism).
Umschreibungen
des
Symbolischen
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philosophisch-kritischer Umgang mit Goethes Denken als ein ungewöhnlicher, höchst individueller und zugleich gegenwartsbezogener, nämlich zu kulturwissenschaftlichen Fragen sich wendender Weg der Aktualisierung skizziert werden. Cassirer unternimmt ein Lektüreverfahren - dies sei vorausgeschickt - , das nicht aus aktuellen Fragen im Sinne politischer Konjunkturen oder moralischer Haltungen seine Rechtfertigung gewinnt, sondern vielmehr auf die eigentümliche Goethesche Konstruktion von Wissens- und Erkenntnisformen blickt, um daraus Grundsätzliches für die symbolische Konstruktion von Kunst, Geschichte, für die Philosophie und die Kulturtheorie im weitesten Sinne zu gewinnen. Diese Konstruktion der wissenschaftlichen und kulturellen Pluralität hat Cassirer im Werk Goethes zu erkennen gemeint, und er hat dieses Werk für uneingeschränkt aktuell und zeitgemäß gehalten. Ernst Cassirers Weg zu Goethe nimmt dort seinen Ausgangspunkt, wo ihn auch die meisten seiner Zeitgenossen gesucht haben: in einer Haltung der Klassiker-Verehrung, mit der das aufgeklärte jüdischen Bildungsbürgertum, dem die Familie Cassirer angehörte, zugleich weltbürgerliche Intellektualität garantiert sah; in einer Erziehung, die die Goethe-Lektüre von den Schultagen an zum selbstverständlichen Bestandteil der Bildung machte, ganz gleich zu welcher Ausbildung sie dienen sollte. In dieser Tradition bewegt sich auch Cassirer, aber damit endet schon das Zeitgenössisch-Typische seiner Goethe-Lektüren. Das Ungewöhnliche seines Zugangs zum Dichter ist von größerem Interesse. Die Besonderheit einer Goethe-Lektüre, die sich als philosophische versteht und sich doch nicht, oder: deshalb nicht, im Rahmen einer Fachbegrenzung aufhalten will, läßt sich vielleicht an einem eher unauffälligen, formalen Detail aufspüren: Cassirer eröffnet zahlreiche seiner Goethe-Vorträge mit dem gleichen Goethe-Zitat, einem Zitat, das bei aller Goethe-Verehrung als Unabhängigkeitserklärung zu lesen ist. Besonders oft findet sich dieses Zitat bei dem späten Ernst Cassirer, d.h. dem Autor, der seit 1933 als Emigrant zunächst in England, dann in Schweden und den USA zahlreiche Goethevorträge und -Vorlesungen hielt und seine eigene Rezeption des Dichters stets noch weiter entwickelte. Es handelt sich dabei um folgendes „zahmes Xenion":
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,„Was willst du, das von Deiner Gesinnung Man dir nach ins Ewige sende?' Er gehörte zu keiner Innung Blieb Liebhaber bis ans Ende."7
In dieser knappen Formulierung zeigt sich eine Haltung gegenüber Autoren und Disziplinen, die Cassirer bei Goethe vorgeprägt sah und die in der Tat Konsequenzen gezeitigt hat für die spezifische Form seines Denkens: In quasi-platonischer Neigung zum Wissenwollen, im liebenden Erkennen der Dinge besitzt diese Haltung ihr eines Charakteristikum. Ihr anderes liegt aber in einer stets aufrechterhaltenen Distanz. Denn in diesem Xenion ist die Weigerung formuliert, eine Gesinnung je in eine Logik der Ausschließung, in ein Gesinnungsgenossentum münden zu lassen. Dies gilt im engeren philosophischen Sinne für Cassirers Weigerung, eine schulmäßig enge Auffassung der Philosophie zu etablieren und Kunst und Naturwissenschaften aus dem philosophischen Gebäude auszuschließen. Gerade im Gegenteil versucht er, diverse Fachrichtungen unter der Leitformel der „symbolischen Formen" zu Aspekten einer kohärenten pluralen Kulturphilosophie zusammenwachsen zu lassen. An anderer Stelle formuliert Cassirer: „Ich selbst bin vielleicht niemals ein guter und eigentlicher philosophischer ,Lehrer' gewesen - denn mir fehlte der Glaube an die Möglichkeit und Notwendigkeit schulmässiger Bindungen im Gebiet der Philosophie." 8 Die Haltung einer in Freiheit zugeneigten Nicht-Vereinnahmung ist Cassirer aber auch in einem durchaus politischen Sinne eigen geblieben, denn selbst in den bedrückenden Jahren der Emigration hat er seine Neigung der deutschen Literatur und Kultur gegenüber nicht aufgegeben. Diese Haltung, in zugeneigter und zugleich kritischer Freiheit einen Autor, eine Sache, eine Problemstellung sich zu eigen zu machen, kennzeichnet auch Cassirers Weg zu Goethe. Sie ermöglichte es Cassirer zu-
7 J. W. Goethe: Zahme Xenien I, in: Gedichte in zeitlicher Folge, hrsg. von H. Nicolai, 2 Bde., Frankfurt/M. 1978, Bd. II, S. 123. 8 Cassirer an Kristeller, 29.07.1934. Zit. nach: J. M. Krois: Cassirer als Goethe-Interpret, in: E. Rudolph, B.-O. Küppers (Hg.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995, S. 298-324, hier: S. 312.
Umschreibungen
des
Symbolischen
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nächst, als Schüler und Kollege Georg Simmeis dessen Goethe-Aufsätze als Anregung aufzunehmen, sich philosophisch mit dem Dichter zu beschäftigen und doch gerade die philosophische Positionierung Goethes durch Simmel zu verwerfen. Cassirer war nicht bereit, die Dichotomie zu akzeptieren, die Simmel zwischen dem Dichter-Genie einerseits und einem mehr oder weniger dilettantischen Philosophen Goethe andererseits aufmachte. Ahnliche Dichotomien charakterisieren im übrigen die Klassikerrezeption der Jahrhundertwende überhaupt. Wilhelm Dilthey und Friedrich Gundolf etwa waren ihre prominenten Vertreter. 9 Mit Gundolf korrespondierte Cassirer freundschaftlich, ohne jedoch eine konzeptionelle Annäherung an ihn oder an die Position des George-Kreises damit verbinden zu wollen. Cassirer verwirft die metaphysische Konstruktion eines Denkens in Dichotomien und tut stattdessen einen philosophisch ungewöhnlichen Schritt: im Literaten und im Naturforscher zugleich den Denker, den Philosophen zu sehen und seine Schriften als Kennzeichnung dringender philosophischer Fragestellungen ernst zu nehmen. Daß damit eine andere Art des philosophischen Blicks auf die Literatur verbunden sein muß als die begriffliche Rekonstruktion ihrer literarischmetaphorischen Darstellung oder, umgekehrt, die Applikation philosophischer Terminologie auf nicht-begrifflich orientierte Texte, wird schon aus der breiten Orientierung Cassirers an Goethes vielseitigem Werk deutlich. Vielleicht könnte man dieses Lektüreverfahren folgendermaßen beschreiben: Interessiert an Korrespondenzen und Konstellationen der gegenseitigen Erhellung und Kommentierung, sucht Cassirer die Perspektivwechsel nachzuzeichnen, die bestimmte Fragestellungen Goethes der Philosophie nahelegen, um aus eben diesen Perspektivwechseln dann wiederum eine genuin philosophische, genauer: kultur-philosophische Valenz hervorgehen zu lassen. Auf welche Art von Fragen sucht Cassirer nun bei Goethe Antworten, und wie sieht deren philosophische Aktualisierung aus? Im folgenden soll
9 Vgl. W. Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung, dolf: Goethe, Berlin 1920 (1. Aufl. 1916).
Leipzig/Berlin 19061, sowie F. Gun-
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ein Auszug aus einer Vorlesung wiedergegeben werden, die Cassirer in Hamburg im Winter-Semester 1925/26 zum Thema Probleme und Tendenzen der deutschen Geistesgeschichte gehalten hat. Das Manuskript der ersten Sequenz ist bisher unveröffentlicht und stellt den einzigen erhaltenen Teil dieser Vorlesung dar. Cassirer beginnt: „Die folgenden Behandlungen wollen keine Entwicklung der deutschen Geistesgeschichte in ihrem einfachen historischen Verlauf geben, sondern sie wollen aus dem vielfältig verschlungenen Gewebe, das wir die deutsche Geistesgeschichte nennen, nur einen Faden herauslösen und an ihm fortgehend einen Uberblick über das Ganze zu gewinnen suchen. Sie wollen aber nicht versuchen, den vollen Gehalt der deutschen Geistesgeschichte in seiner unmittelbaren Konkretion vor Ihnen hinzustellen, sondern sie fragen nach dem Begriff, oder allgemein gesprochen, nach der Idee die dieser Entwicklung zu Grunde liegt. Hier aber erhebt sich sofort ein methodischer, ein prinzipieller Einwand. Ist diese Fragestellung in sich selbst überhaupt möglich - oder tut sie nicht vielmehr dem Gegenstand, auf den sie sich bezieht, in unerträglicher Weise Gewalt an? Gehört es nicht gerade zum Wesen des .Geistes', dass er nur in seinen konkreten Gestaltungen, in seiner konkreten Unmittelbarkeit, oder in der Unmittelbarkeit seines Lebens fassbar ist?"10 [Hvh. von Ernst Cassirer]
Wie kann man den Begriff der Geistesgeschichte denken?, so fragt Cassirer. Um zu erläutern, wie sich die Problematik des Verhältnisses von Idee und Geschichte genauer fassen ließe, greift Cassirer nicht etwa zuerst auf philosophische Erörterungen zurück, sondern zitiert vor den Philosophiestudenten eines der Gespräche Goethes mit Eckermann. Das Gespräch dient Cassirer als Ausgangspunkt, um auf die zentrale Problematik seiner Vorlesung zuzusteuern, die im übrigen auch eines der Hauptmomente der Philosophie der symbolischen Formen darstellt: die Problematik der Vielfalt, Lebendigkeit und historischen Entwicklung künstlerischer und kultureller Formen, die nicht mehr unter einer Leitidee, der „einer Vernunft" - im kantischen Sinne - oder der „eines Geistes" subsumiert werden können. Goethes Position wird in mehrfachen Brechungen wiedergegeben: so, wie Eckermann meinte, daß er seinen Eindruck des Goethe-Gesprächs schriftlich wiedergeben konnte. Bereits hierin ist indirekt eine Perspek10 E. Cassirer: Probleme und Manuskript B. 47, 941.
Tendenzen
der deutschen
Geistesgeschichte
(1925/26).
Umschreibungen
des Symbolischen
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tivierung und Vervielfachung der Geistesidee indiziert. Solche perspektivischen Verschiebungen bilden ein wichtiges Element der in der V o r lesung vorgetragenen Überlegungen. Folgende Passage aus Goethes Gesprächen mit Eckermann gibt Cassirer in seinem Vortrag wieder: „Goethe zu Eckermann. 6. Mai 1827: „Das Gespräch wendete sich auf den ,Tasso' und welche Idee Goethe darin zur Anschauung zu bringen gesucht „Idee"? sagte Goethe - „das ich nicht wüßte! Ich hatte das Leben Tassos, ich hatte mein eigenes Leben und indem ich zwei so wunderliche Figuren mit ihren Eigenheiten zusammenwarf, entstand in mir das Bild des Tasso [...] Die weiteren Hof-, Lebens- und Liebesverhältnisse waren übrigens in Weimar wie in Ferrara, und ich kann mit Recht von meiner Darstellung sagen: sie ist Bein von meinem Bein, und Fleisch von meinem Fleisch. Die Deutschen sind aber wunderliche Leute! - [ . . . ] Da kommen sie und fragen, welche Idee ich in meinem ,Faust' zu verkörpern gesucht. Als ob ich das selber wüßte und aussprechen könnte! [...] Es hätte auch in der Tat ein schönes Ding werden müssen, wenn ich ein so reiches buntes und so höchst mannigfaltiges Leben, wie ich es im .Faust' zur Anschauung gebracht, auf die magere Schnur einer einzigen durchgehenden Idee hätte reihen wollen!' " 1 1 [Hvh. von Ernst Cassirer]
So weit Eckermanns Wiedergabe des GoethischenVorbehalts gegen eine die Differenzen subsumierende, eine die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen verschlingende „Idee". Cassirer setzt mit der Auslegung dieser Stelle ein, indem er eine unauffällige, doch äußerst bedeutsame Akzentverschiebung vornimmt. Nicht allein um „Mannigfaltigkeit" und „Anschauung"
der
Geschichte wird es ihm im Folgenden gehen, sondern um Grundbegriffe, die eine Konstruktion des Geschichtsdenkens erlauben, ohne ein apriorisch gefaßtes geschichtliches Telos vorauszusetzen.
Er
sucht, mit
anderen
Worten, nach einer Vermittlung zwischen faktischer Mannigfaltigkeit und Anschauung - einer Vermittlung, die Cassirer an anderer Stelle wiederum mit dem Goetheschen Begriff „symbolisch" belegen wird. Es sei noch einmal aus Cassirers Hamburger Vorlesung zitiert: „Ist das Geistesleben, das was es ist, nicht nur durch die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit, sondern geradezu durch den Gegensatz der Grundkräfte, die in ihm wirksam
11 MSK. 47, 94; Auslassungen und Hvh. von Cassirer.
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sind? Und vernichten wir nicht diese Gegensätzlichkeit, die der Quell des Lebens ist, indem wir all diese Kräfte auf eine einzige reduzieren? Opfern wir damit nicht die spezifische Eigenart jedes einzelnen? Die Kunst, die Religion, die politische Geschichte nähren sie sich nicht von Tatsachen, stehen sie nicht unter Gewalten, an die die Kraft des Begriffs, die Kraft der .ratio', auf der die Philosophie doch letztlich beruht, nicht heranreicht? Der Historiker zum mindesten würde aufhören, Historiker zu sein, wenn er versuchen wollte, diese spezifische Eigenart zu verwischen. Ihm ist als Kunsthistoriker die Besonderheit, die Kraft und Eigenheit der künstlerischen Phantasie und der künstlerischen Gestaltung, ihm ist als politischem Historiker der .Wille zur Macht', der sich in allen politischen Gestaltungen regt, ein Letztes, Ursprüngliches, nicht weiter zu Analysierendes - ein geistiges Urphaenomen. v o r dem er Halt macht. Die konkrete Mannigfaltigkeit dieser Urphaenomene und der Kampf, der Gegensatz zwischen ihnen das eben bedeutet ihm Geschichte." [Hvh. v o n Ernst Cassirer]
Es geht Cassirer um eine Geschichte des Geistes, die zu den organisierenden Erkenntnisprinzipien der nach-hegelianischen Geschichtsphilosophie eine Alternative formuliert. Cassirer verschiebt auf subtile Weise nicht allein die Akzente seiner Ausgangsfrage nach der Geistesgeschichte - : er verschiebt die ganze Frage selbst. Indem er den Ideenbegriff der Geistesgeschichte verwirft, weil sich die Vorstellung des Geistes selbst kulturell vervielfältigt habe, läßt er letztlich auch die Möglichkeit der Geistesgeschichte als solche hinter sich. Er sucht nach neuen Begriffen zur Beschreibung des historischen und kulturellen Wandels. Damit ist das Projekt von Cassirers eigener Theorie der symbolischen Formen in nuce benannt. Cassirer hat hier, wie so oft in unauffälliger Weise und scheinbar an einem Nebenschauplatz des Denkens, einen Schritt von philosophischer Tragweite getan. Er liegt in Folgendem: In einer Vorlesung über Geistesgeschichte wird demonstriert, warum es nicht mehr möglich sei, eine singulare Geschichte des Geistes zu schreiben. Mit anderen Worten: Cassirer verläßt die konventionelle Geistesgeschichte. Im gleichen Zuge zeigt er die Notwendigkeit einer Geschichtsbetrachtung auf, die sich den Transformationen der kulturellen Formen zuwendet. Zu diesen kulturellen Einheiten gehören die Formen der symbolischen Organisation der Kultur, unter denen Cassirer an anderer Stelle bekanntlich Sprache, Religion und Technik nennt, des weiteren aber auch Kunst, Geschichtsschreibung, Philosophie, Recht; mit ihrer je spezifischen diskursiven und strukturellen
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des Symbolischen
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Eigendynamik und Kohärenz. Was in Goethes Granit-Fragment, aus der Vielbezüglichkeit der Erkenntnisweisen und Betrachtungsgegenstände heraus, zu einer Erkenntnis der symbolischen Ordnung der Darstellung verdichtet wurde, entsteht - analogisch gesprochen - bei Cassirer als symbolische Ordnung verschiedener kulturellen Felder. Das symbolische Vorverständnis avanciert zur erkenntniskritischen Bedingung auch der Geschichtlichkeit der Kultur. Am Ende des eben zitierten Passus steht deshalb die Aufzählung einiger der symbolischer Formen, die Cassirer in den Jahren 1923-29 in seinem Hauptwerk Philosophie der symbolischen Formen diskutiert: Kunst, Religion, (Mythos), Politik. Außerdem wird hier ein weiterer Goethescher Begriff eingeführt, der seine Herkunft dem morphologischen Teil der botanischen Studien verdankt, doch von Cassirer immer dann eingesetzt wird, wenn es darum geht, eine für jede symbolische Form spezifische Ursprünglichkeit der Erkenntnis- und Darstellungsweise zu bestimmen: das Urphänomen. Wenn man von einem „Urphänomen" der Geistes-Geschichte sprechen wollte, so das Argument, könne deren Ursprünglichkeit nicht mehr in der Idee der Geschichte gefunden werden, sondern in der Form der Bedeutungskonstruktion, der symbolischen Konstruktion, mit der wir über Geschichte in ihren je wandelbaren Beziehungen nachdenken. Folglich gilt das philosophische Interesse an der Geschichte der Konstruktion von Bedeutung und nicht in erster Linie dem Phänomen des Geistes oder dem Bewußtsein.12 Cassirer formuliert eine Kritik an der Geistesgeschichte zugunsten einer Kritik der Kultur; er verfolgt den Gedanken einer kulturell informierten Philosophie, deren einer Bestandteil unter vielen, deren eine symbolische Form, die Philosophie selbst ist. Cassirer verabschiedet, man möchte sagen, leise, konziliant, und doch radikal, die philosophische Metasprache und die Rolle der Philosophie als Meta-Theorie. Er gewinnt zugleich für die Philosophie eine Freiheit zurück, die er selber nutzt, um zu einem erweiterten Kulturbegriff zu gelangen: die Freiheit, in nicht-philosophischen Formen wie den Werken Goethes nach philosophisch bedeut12 Vgl. dazu J. Krois: Cassirer. Symbolic Forms and History, New Haven/London 1987, bes. S. 72ff., hier S. 73.
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samen Momenten zu suchen. Das Philosophische der symbolischen Formen, so könnte man diesen Gedanken vielleicht erweitern, begegnet im Denken der Kunst, des Alltags, der Wissenschaft. Die philosophische Aufmerksamkeit benötigt nicht den Rahmen der „schulmässig engen" Philosophie, um an ihre wichtigsten Fragen zu kommen. Ein solches offenes Konzept der Kulturphilosophie impliziert, daß in einem Zuge mit der leitenden „Idee" der Geschichte auch kausallogische Erklärungen des historischen Wandels ihre Geltung verlieren. Cassirer fragt deshalb in seiner Hamburger Vorlesung: „Wo aber giebt es hier überhaupt ein Erstes, wo ein Zweites? was ist >GrundFolge