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German Pages 351 [352] Year 2016
BUCH MACHT GESCHICHTE
BUCH MACHT GESCHICHTE Beiträge zur Verlags- und Medienforschung Festschrift für Siegfried Lokatis zum 60. Geburtstag Herausgegeben von Patricia F. Blume, Thomas Keiderling und Klaus G. Saur
ISBN 978-3-11-048089-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-048322-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-048096-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Niels Holger Blume Satz: Michael Peschke, Berlin Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Zum Geleit
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Autoren, Herausgeber, Verleger Thekla Kluttig Im Gewirr der Stimmen Briefe an den Leipziger Verlag J. C. Hinrichs
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Dorothea Trebesius und Hannes Siegrist Die Gründung der Zeitschrift Orient und Occident im J. C. Hinrichs Verlag 1928/1929 Publikationsstrategien und die Beziehung zwischen Herausgeber und Verleger 19 Melanie Mienert „Barmherzigkeit vor Recht“ Der Einsatz des Walter-de-Gruyter-Verlegers Herbert Cram für den Kriegsverbrecher Oswald Pohl 33 Franziska Galek „Die Tore nach draußen aufstoßen“ Das gemeinsame Ringen des Henschelverlags und Rudolf Leonhards um die Herausgabe moderner französischer Dramatik in der SBZ 47 Kerstin Schmidt Das Schicksal des Schweriner Petermänken-Verlags 1947−1964
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Thomas Gepp und Berthold Petzinna Friedhelm Baukloh. Dramaturg, Journalist, Lektor Eine Annäherung 69 Martin Hochrein Zur Gründung der Buchreihe Die Andere Bibliothek Ein Blick in die 1980er Jahre des bundesdeutschen Buchmarkts
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Inhalt
Buchhandel und Begegnungen Vera Dumont Buchgemeinschaft statt Volksgemeinschaft Zum Identifikationspotenzial der Lesering-Illustrierten in den 1950er Jahren 101 Patricia F. Blume Von Überzeichnungen, Schwerpunkttiteln und Blindbänden Die Rolle der Leipziger Buchmessen für den Buchhandel der DDR
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Klaus G. Saur Der Innerdeutsche Handel Meine Erfahrungen 129 Uwe Sonnenberg Wie dem Justiziar des Frankfurter Börsenvereins einmal die Haare zu Berge standen Eine Kriminalgeschichte aus den Akten 141 Hans Altenhein Deutsche Dienstreise 1988 Weimar, Leipzig, Halle, Dresden, Berlin (Ost)
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Werke und Editionen Krzysztof Żarski Die Bildungsideale des 18. Jahrhunderts im Werk Ernst Jüngers
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Detlef Haberland Nesthäkchens Verwandlungen Zum Verhältnis von Editionsphilologie und Verlagspolitik in der Kinder- und Jugendliteratur am Beispiel der jüdischen Schriftstellerin Else Ury 167
Inhalt
Carmen Laux Von Leipzig nach Stuttgart: Reclam und das Schachlehrbuch
VII
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Martin Sabrow Lebenserinnerung und Parteigedächtnis Zum paradoxen Charakter politischer Autobiografik in der DDR
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Ingrid Sonntag Wurde Hilbigs Stimme. Stimme auf der Leipziger Buchmesse ausgestellt? Ein Bericht aus dem Reclam-Projekt 203 Konstantin Ulmer Luchterhands Loseblatt Lyrik: Der Volksaktien-Traum
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Christoph Links Ein Buch und seine Konsequenzen Das Schicksal der DDR-Verlage – Eine nicht enden wollende Geschichte
Gestaltung und Ästhetik Thomas Glöß Die Antiquafrage Frühdruckformen und ihre epigrafische Entsprechung
227
Monika Estermann Die Leserin und der Kavalier Zur Wandlung eines Bildmotivs zwischen Ancien Régime und Biedermeier 239 Julia Rinck Und ewig lockt das Muster … Anmerkungen zu den Einbandpapieren der Insel-Bücherei
257
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VIII
Inhalt
Überwachung und Zensur Thomas Keiderling Konsequenter noch als die NS-Buchzensur Die Abgründe des Lexikons „Brauner Meyer“ (1936–1942)
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Marek Rajch Deutschsprachige Literatur und die Zensur in der Volksrepublik Polen in den Jahren 1945 bis 1956 287 Eyk Henze Im Schatten des Ulysses Zur Editionsgeschichte von James Joyces Dubliner in der DDR Nicole Moore Zola to Roth: Literature in the Dock in Australia
Anstelle eines Nachworts Elmar Schenkel Die Bücher und die Träume Autorinnen und Autoren
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Zum Geleit Der Verlags- und Zeithistoriker, Medien- und Buchwissenschaftler Siegfried Lokatis wird 60! Dies ist Kollegen und Freunden ein triftiger Anlass, dem Jubilar eine Sammlung aktueller Studien aus ihrer Forschungstätigkeit vorzulegen. Die hier versammelten Beiträge stehen im Kontext der Publikationen und Themen, die Siegfried Lokatis nun schon seit über drei Jahrzehnten beackert. Zum Teil sind sie direkt durch ihn angeregt worden. Jeder Aufsatz wirft nur ein Schlaglicht auf sein breites Spektrum der „Forschung rund um das Buch“, die sich methodisch aus der modernen Verlags- und Medienforschung ebenso speist wie aus der Literatur-, Zensur- und Zeitgeschichte. Ein Pluralismus der Schulen und methodischen Ansätze macht das Besondere der Buchwissenschaft aus, die in Leipzig auf nationaler wie auf internationaler Ebene eine wichtige Lehr- und Forschungsstelle besitzt. Siegfried Lokatis stammt aus dem Ruhrpott, studierte dort an der RuhrUniversität Bochum und mit Station in Pisa die Fächer Geschichte, Philosophie, Archäologie und Orientalistik. Richtungsweisend waren für ihn die Impulse, die er von seinem Doktorvater Hans Mommsen (1930–2015) erhielt. Die 1992 erschienene Dissertation zur Hanseatischen Verlagsanstalt im „Dritten Reich“ stieß das Tor auf zu einer Thematik, die ihn seitdem nicht mehr loslässt: Wie agieren Verleger, Herausgeber, Autoren und Leser auf eine Diktatur? Was macht Zensur aus, wie wirkt und was bewirkt sie? 1993 wechselte Siegfried Lokatis als wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Forschungsschwerpunkt Zeithistorische Studien in Potsdam, der 1996 als Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) weitergeführt wurde. Es war eine Zeit, in der er das sich gerade eröffnende Forschungsfeld der DDR-Verlags- und Zensurgeschichte entdeckte. Infolge der Schließung und „Abwicklung“ vieler DDR-Verlage, aber auch zentraler Überwachungseinrichtungen der Medienproduktion ergab sich die historische Chance und zugleich die Aufgabe, das Vermächtnis der untergegangenen Diktatur für die Nachwelt zu sichern und zu erschließen. In interdisziplinärer Teamarbeit mit Simone Barck (1944–2007) arbeitete er die Zensur- und Verlagsakten zur DDR-Literaturgeschichte auf, bewahrte Zeitzeugenerfahrungen und rettete bedrohte Bibliotheken wie Verlagsarchive. 2004 habilitierte er sich an der Universität Potsdam im Fach Neuere Geschichte. Kennzeichnend für die Arbeiten von Siegfried Lokatis ist eine umfassende Quellenarbeit. Er taucht über Wochen und Monate in historische Briefwechsel und Aktennotizen ein. Im analytischen Nachgang versteht er es, Gesetzmäßigkeiten, historische Eigenarten, Koinzidenzen und Winkelzüge der Akteure herauszuarbeiten. Scharfe Beobachtung, treffende Analyse und erzählerisch meister-
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hafte Darstellung kennzeichnen seine Vorgehensweise, etwa wenn er mit einem Augenzwinkern über den „zensierten Hund“, das „literarische Quintett“ der ersten Generation von DDR-Zensoren oder die gefürchtete Roman-Kassette des emsigen Ideologen Otto Gotsche aus dem Mitteldeutschen Verlag schreibt. Der rote Faden (2003) heißt seine publizierte Habilitationsschrift und zugleich sein Hauptwerk. Darin legt er die komplexen wie zähen Aushandlungsprozesse um die Entstehung parteigeschichtlicher Texte der SED dar, insbesondere um deren „Heilige Schrift“, der achtbändigen Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung von 1966, und dringt damit in den „ideologischen Kernbereich“ marxistisch-leninistischer Deutungsmacht vor. Selbstironisch stellt sich Lokatis gern auch als „Simone Barck und andere“ vor. Dies ist eine Anspielung auf zwei Publikationen, die das Autorentrio Simone Barck, Martina Langermann und Siegfried Lokatis in den 1990er Jahren herausgaben. Zum einen handelt es sich dabei um das Standardwerk zur Zensur in der DDR „Jedes Buch ein Abenteuer“ (1997, 2. Auflage 1998), in dem Lokatis die wesentlichen Kapitel zur Entwicklung der zentralisierten Literaturpolitik beisteuerte; und zum anderen um den Titel Zwischen Mosaik und Einheit (1999), in dem die Autoren die Zeitschriften der DDR untersuchen. Ebenfalls in Gemeinschaft mit Simone Barck entstand der Sammelband Fenster zur Welt (2003) zur Geschichte des Verlags für internationale Literatur Volk und Welt, in dem sie abermals zeigen konnten, wie sich die Grenzen des Erlaubten in der DDR nicht nur im Zuge politisch-ideologischer Kurswechsel, sondern auch durch engagierte Lektoren, Gutachter und Verleger erweiterten. Zusammen mit Mark Lehmstedt veröffentlichte er den Tagungsband Das Loch in der Mauer (1997), der den mannigfaltigen innerdeutschen Literaturaustausch thematisiert, ein Forschungsschwerpunkt, den Lokatis, gemeinsam mit Ingrid Sonntag, konsequent in Richtung der subversiven Formen und der Verbreitung illegaler Literatur sowie ihrer Kontrolle fortführte mit den Heimlichen Lesern in der DDR (2008). Eine weitere Verlagsgeschichte legte er zu 100 Jahren Kiepenheuer-Verlage (2011) ebenfalls mit Ingrid Sonntag vor. Im Jahr 2006 erhielt Siegfried Lokatis den Ruf an die Universität Leipzig auf den dortigen Lehrstuhl für Buchwissenschaft am Institut für Kommunikationsund Medienwissenschaft. Hier entfaltet er eine vielgestaltige Tätigkeit als beliebter Dozent, Kurator verschiedener Ausstellungen, als Initiator von Fachtagungen sowie als Anreger und Unterstützer zahlreicher Forschungsvorhaben. Er verlässt gern den wissenschaftlichen Elfenbeinturm und webt ein dichtes Netz an Kontakten zu Büchermachern, Autoren, Bibliothekaren, Archivaren, Museumsmitarbeitern und Lesern in- und außerhalb der „Buchstadt Leipzig“. Regelmäßig macht er auf seine Projekte aufmerksam. Es vergehen manchmal nur wenige Tage, bis Lokatis wieder für Präsenz der Buchwissenschaft in den regionalen und überregi-
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onalen Medien sorgt. Als ein Wissenschaftler, der nicht nur viele Bücher schreibt, sondern auch liest (und nebenbei ein passionierter Klavier- und Schachspieler ist), kann er auf einen schier unbegrenzt erscheinenden Vorrat an Lesefrüchten zurückgreifen, der jedes Gespräch belebt. Für seine Fähigkeit, Menschen zusammenzubringen und einen weiten Personenkreis für Projekte zu begeistern, erhielt er 2011 die begehrte und medienwirksame Auszeichnung „Leipziger Lerche“, die jährlich an eine Person oder Institution vergeben wird, durch die das Ansehen Leipzigs national und international gewachsen ist. Er reihte sich damit ein in eine Liste prominenter Personen und Institutionen wie Wolfgang Tiefensee, Neo Rauch und das Leipziger Gewandhausorchester. Ein besonderes Augenmerk gilt seit 2007 dem Auf- und Ausbau der buchwissenschaftlichen Bibliothek in der Leipziger Innenstadt, Hainstraße 11, die mittlerweile dank zahlreicher Spenden und Unterstützungen aus dem Freundeskreis der Leipziger Buchwissenschaft über eine der größten Sammlungen von buchwissenschaftlichen und verlagshistorischen Publikationen in Deutschland verfügt. Zu den Perlen zählen die Bibliotheken der Insel-Bücherei, der Sammlung Dieterich und Der Anderen Bibliothek, darüber hinaus umfassende Bestände von Enzyklopädien und Lexika aus der Redaktion des aufgelösten Verlags Bibliographisches Institut Leipzig und von Buchgemeinschaftsausgaben unter anderem des Bertelsmann Leserings. Dank der Initiative von Siegfried Lokatis sind in der Hainstraße auch Archive bzw. Teilarchive untergebracht. Zu nennen sind die Überlieferungen von Reclam Leipzig, vom Verlag Der Morgen sowie vom Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel (LKG). Seit Kurzem werden diese von einem Bestand zum DDR-Volksbuchhandel ergänzt, der zurzeit besonders intensiv genutzt wird in Anbetracht der anstehenden Herausgabe des DDR-Bandes der Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, den Siegfried Lokatis gemeinsam mit Klaus G. Saur und Christoph Links im Auftrag der Historischen Kommission des Börsenvereins vorbereitet. Nachdem 2015 die Sammlung Lewejohann hinzukam, erhielt das buchwissenschaftliche Archiv den klangvollen Beinamen „Bibliotop“, denn die originellen buchhändlerischen Werbeartikel und Devotionalien – vom Toaster über Schwimmringe, Krawatten und Marzipan bis hin zum Dart-Spiel – machen Archiv, Bibliothek und Ausstellung zu einem Ort, an dem es sich nicht nur ideal studieren und forschen, sondern sogar leben lässt. So herrscht im Bibliotop immer rege Betriebsamkeit: Studierende sichten die eindrucksvollen Schutzumschläge von DDR-Verlagen – ein von Lokatis jüngst gehobener sensationeller Schatz der Buchkunst aus dem Leipziger Grassimuseum –, arbeiten mit den Titeln der Anderen Bibliothek oder suchen die Bände der Insel-Bücherei für das neueste Insel-Plakat aus, von denen es inzwischen gut 30 verschiedene gibt. Die von Siegfried Lokatis initiierte Plakatedition ist in
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Zum Geleit
Ausstellungen sogar schon um die Welt gereist. Und im Bibliotop, dem heimlichen Headquarter der Buchwissenschaft, konnten auch wesentliche Impulse in die internationalen Kooperationen der Buchwissenschaft gegeben werden: Zu nennen sind das Forschungsprojekt von Nicole Moore (Canberra) zur australischen Literatur in der DDR sowie das zu den Breslauer Verlagen 1800 bis 1945 gemeinsam mit Urszula Bonter (Wrocław) und Detlef Haberland (Oldenburg), beide inzwischen erfolgreich mit Publikationen abgeschlossen. Wir bedanken uns mit dem vorliegenden Sammelband für die Inspirationen, die Siegfried Lokatis durch seine Arbeit gegeben hat. Und zugleich freuen wir uns auf weitere Impulse, die wir von ihm noch erhalten werden. Die Herausgeber danken weiterhin allen Autoren des Bandes, die sich die Zeit genommen haben, aus ihrer Forschung zu berichten. Außerdem bedanken wir uns bei den Sponsoren aus dem Umfeld unseres Freundeskreises, der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Leipziger Buchwissenschaft e. V., die die Publikation ermöglicht haben. Hierzu zählen: Jon Baumhauer, C.H. Beck, Thomas Bez, die Holtzbrinck Publishing Group, der Ch. Links Verlag, der Felix Meiner Verlag und Klaus G. Saur. Gedankt sei auch dem Verlag de Gruyter, der die Festschrift in sein Programm aufgenommen hat. Leipzig im Juni 2016 Die Herausgeber
Autoren, Herausgeber, Verleger
Thekla Kluttig
Im Gewirr der Stimmen Briefe an den Leipziger Verlag J. C. Hinrichs In der Nacht vom 3. zum 4. Dezember 1943 […] kam der schwerste Bombenangriff über Leipzig, der fast die ganze Innenstadt, besonders das Buchhändlerviertel, viele Verlage und Druckereien, zerstörte. Auch das Hinrichs’sche Verlagshaus wurde ein Raub der Flammen. […] Drei Stockwerke mit allen Vorräten, das Klisché[e]lager, und fast das ganze Verlagsarchiv brannten aus.1
Die Erzählung von der Zerstörung des Grafischen Viertels in Leipzig ist ein prägendes Narrativ der Leipziger Buchhandelsgeschichte. Vernichtet wurden Betriebsgebäude, Produktionsstätten und Maschinen, zerstört wurden aber auch unersetzliche Zeugnisse der bedeutenden Vergangenheit zahlreicher Leipziger Verlage und Druckereien: Verloren gingen zum Beispiel größtenteils die Geschäftsunterlagen der Verlage J. C. Hinrichs, B. G. Teubner, F. A. Brockhaus und Bibliographisches Institut und der Druckerei und Notenstecherei C. G. Röder. Und doch haben sich von all diesen Unternehmen auch jenseits ihrer Produkte – Bücher, Musikalien – Spuren der Tätigkeit erhalten, die vielfältige Einblicke in ihre Entstehungszeit bieten. Aber: „Wer nichts sucht, findet nichts, wer nichts fragt, erhält keine Antwort.“ Im Sinne Reinhart Kosellecks kann der Historiker „alles und jedes zu seiner Quelle machen, wenn er nur die richtigen Fragen zu formulieren versteht“.2 Dementsprechend sind die Briefe, Akten, Geschäftsbücher des Hinrichs Verlags gegenwärtige Überreste aus der Historie, zunächst stumme Zeugnisse vergangener Verlagsarbeit. Dass es diese Überreste noch gibt, ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil: Die Existenz historischer Zeugnisse ist immer die Ausnahme, ihr Verschwinden, sei es durch mangelnde Pflege oder fahrlässige Verstreuung und Vernichtung, die Regel. Achtloses – oder gezieltes – menschliches Handeln, Zeitläufte, widrige oder glückliche Umstände tragen ihren Teil dazu bei. Die Überlieferungslage bei den Leipziger Buchhandelsunternehmen zeigt dies in exemplarischer Weise und besonders augenfällig mit Blick auf die Archivalien im Staatsarchiv Leipzig, die die Tätigkeit des einst berühmten Leipziger Verlags J. C. Hinrichs dokumentieren. Sie überstanden den Bombenangriff vom 4. Dezem1 Geist, Lucie: „Ein Geschäft recht geistiger Natur“. Zum 200. Jahrestag der Gründung des J. C. Hinrichs Verlags Leipzig. Leipzig: Sachsenbuch 1991. S. 67. 2 Koselleck, Reinhart: Archivalien – Quellen – Geschichten. In: ders.: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Berlin: Suhrkamp 2010. S. 68–79, hier S. 74 u. 77.
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Thekla Kluttig
ber 1943 und weitere kleinere Luftangriffe auf Leipzig bis 1945 und wurden bis 1977 durch die langjährige Prokuristin Lucie Geist sorgsam gehütet. Überführt nach Berlin zum Akademie Verlag, gerieten sie dort in Vergessenheit – und nach der baubedingten Räumung eines Betriebsgebäudes in den Besitz eines Trödelhändlers. Dass am Ende rund sieben laufende Meter Verlagskorrespondenz mit bedeutenden Wissenschaftlern vor allem aus der Ägyptologie, Orientalistik und Theologie im Staatsarchiv ihre sichere Verwahrung fanden, ist schließlich dem beherzten Handeln mehrerer Menschen zu verdanken, die den historischen Wert dieser Dokumente erkannten. Über die bewegte, ja dramatische Geschichte des Bestandes wurde bereits an anderer Stelle berichtet; und auch die Geschichte der 1791 gegründeten Verlagsbuchhandlung J. C. Hinrichs kann und soll hier nicht vertieft behandelt werden.3 Bemerkt sei lediglich, dass sich die verlegerische Tätigkeit ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend auf die wissenschaftliche Theologie, Orientalistik und Ägyptologie konzentrierte. 1863 erschien erstmals die älteste ägyptologische Zeitschrift der Welt, die Zeitschrift für Ägyptische Sprache und Altertumskunde. J. C. Hinrichs brachte die Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche heraus und publizierte seit 1882 unter der Herausgeberschaft von Adolf von Harnack und Oscar von Gebhardt die Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur. Bereits 1876 nahm der Verlag die von Emil Schürer und Adolf von Harnack gegründete und noch heute existierende Theologische Literaturzeitung in Verlag. Die Orientalistik gewann unter der Verlagsleitung von Adolf Rost (ab 1891) zunehmende Bedeutung. So wurden 1900 die Wissenschaftlichen Veröffentlichungen der Deutschen Orient-Gesellschaft gegründet. Weitere Reihen waren (ab 1896) die Untersuchungen zur Geschichte und Altertumskunde Ägyptens und (ab 1899) Der Alte Orient, Gemeinverständliche Darstellungen. 1909 übernahm J. C. Hinrichs zusammen mit dem Selbstverlag Felix Peiser auch dessen Orientalistische Literaturzeitung (OLZ). Nur ein sehr kleiner Teil des einstigen Geschäftsarchivs ist erhalten geblieben – und doch sprechen aus den insgesamt rund 58.000 Dokumenten der im Staatsarchiv Leipzig vorhandenen Geschäftskorrespondenz die Stimmen von über 400 Autoren und Herausgebern und ermöglichen heute einen Einblick in 3 Zur Verlagsgeschichte siehe die Darstellung von Lucie Geist (wie Anm. 1). Zur Geschichte des heutigen Verlagsbestands im Staatsarchiv Leipzig siehe u. a. Kluttig, Thekla: Vom Trödelmarkt gerettet – der Wissenschaftsverlag J. C. Hinrichs, Leipzig. In: Sächsisches Archivblatt (2011) H. 1. S. 22f., online unter https://publikationen.sachsen.de/bdb/artikel/17395 (22.4.2016). Die Verzeichnungsangaben zum Bestand können im Archivinformationssystem des Sächsischen Staatsarchivs online recherchiert werden: http://www.archiv.sachsen.de/cps/bestaende. html?oid=09.22&file=22208.xml (22.4.2016). Weitere Informationen zur Bestandsgeschichte und -bearbeitung enthält die dortige Einleitung.
Briefe an den Leipziger Verlag J. C. Hinrichs
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wissenschaftliche Netzwerke des frühen 20. Jahrhunderts und die Funktion der Verleger in diesen Netzwerken. Ausgehend von drei Briefen an den Verlag sollen erste Fäden aufgenommen, erste Stimmen gehört werden.
„If the lithographer can be trusted“ Ab Mitte März 1909 hatte der 1879 geborene englische Ägyptologe Alan Gardiner mit dem Verlag J. C. Hinrichs Verhandlungen über die Herausgabe mehrerer Bände zu hieratischen Texten geführt. Bereits 1902 war Gardiner der Einladung Adolf Ermans gefolgt, in Berlin an dem international renommierten Wörterbuch der Ägyptischen Sprache mitzuarbeiten; seine Aufgabe lag vor allem in der Aufbereitung der hieratischen Texte für das Wörterbuch.4 Nun schrieb er Ende Juni 1910 in einem Brief an den Verlagsleiter Adolf Rost d. J.: „I am […] very glad to read your acceptance of my ‚Hieratic Texts‘ […]. I shall spare no pains to make the books as attractive and valuable as possible“.5 Gardiner unterbreitete präzise Vorschläge zum Aufbau einer Textseite für die geplante Heftreihe am Beispiel einer Schriftprobe des Papyrus Anastasi I. Jedes Heft sollte neben den Schriftproben eine Übersetzung der Texte mit kurzen inhaltlichen und philologischen Kommentaren enthalten. Und schon zwei Monate später konnte Gardiner den ersten Korrekturbogen an den Verlag zurücksenden. Die Materie – die korrekte Wiedergabe der hieratischen Zeichen im Druck – war diffizil: „If the lithographer can be trusted to execute these corrections without any error, I should not want any third proof – only the Reindruck Aushängebogen“ (Abb. 1).6 Im Folgejahr erschien das erste Heft der Serie Egyptian hieratic texts. Literary texts of the new kingdom bei J. C. Hinrichs. Der Kontakt zwischen Alan Gardiner und dem Verlag blieb – sporadisch – auch in den nächsten Jahrzehnten bestehen, nahm dann aber eine allmähliche Wendung. Mit „lebhaftem Bedauern“ hatte der Verlag im Januar 1939 zur Kenntnis genommen, dass Gardiner die Orientalistische Literaturzeitung abbestellt 4 Gertzen, Thomas L.: École de Berlin und „Goldenes Zeitalter“ (1882–1914) der Ägyptologie als Wissenschaft. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis von Ebers, Erman und Sethe. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2013. Zu Gardiner siehe S. 231–240. 5 Gardiner an J. C. Hinrichs, 26.6.1910, Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Leipzig (StA-L), 22208 J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig, Nr. 102, Bl. 4. Die teilweise in englischer Sprache verfasste Korrespondenz zwischen Gardiner und dem Verlag umfasst die Jahre 1910/11, 1913, 1928/29, 1934 und 1939, insgesamt 41 Blatt. 6 Gardiner an J. C. Hinrichs, 21.8.1910, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig, Nr. 102, Bl. 10 u. 14. Gardiner beanspruchte für diese Heftreihe kein Honorar, sondern lediglich 10 Freiexemplare.
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Thekla Kluttig
Abbildung 1: Schreiben Alan Gardiners an den Verlag J. C. Hinrichs, 21.8.1910. StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag, Nr. 102, Bl. 14.
hatte: Dies „berührt uns umso schmerzlicher, als mit Ihnen der Zeitschrift ein langjähriger Abonnent verloren gehen würde, den als Autor unseres Verlages wie auch als Mitarbeiter der ‚Aegyptischen Zeitschrift‘ jahrzehnte alte Beziehungen mit unserer Firma verbinden“. Und weiter: „Es wird Ihnen gewiss keine Überraschung bereiten, wenn wir es hier offen aussprechen, dass die OLZ seit Jahren ernstlich um ihren Fortbestand kämpfen muss und daher mit jedem einzelnen
Briefe an den Leipziger Verlag J. C. Hinrichs
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Bezieher zu rechnen hat“. Gardiner verwies darauf, dass er in England über 3 Pfund für die OLZ zahlen müsse, „a perfectly monstrous price. […] I should be quite satisfied to continue my subscription at [thirty shillings, T. K.], but I am not ready to pay more“.7 Die Kündigung blieb bestehen. Im Zweiten Weltkrieg distanzierte sich der Verlag von Gardiner: Als der Ägyptologe Eberhard Otto vorsah, im Vorwort zu seiner Topographie des thebanischen Gaues Gardiner zu danken, stellte J. C. Hinrichs gegenüber dem Herausgeber Hermann Kees fest, dass man Bedenken gegen die Erwähnung von Gardiner habe: „Wohl lag […] die Arbeit schon im Frühjahr 1939 […] vor, aber wir glauben, das würde heute keine Entschuldigung dafür sein, wenn jetzt während des Kriegszustandes einem Engländer Dank ausgesprochen werden würde.“8
„... bis zum 25. Februar brauche ich die Pflichtexemplare“ Nachdem es im Frühjahr 1910 erste Kontakte zwischen J. C. Hinrichs und dem Orientalisten Gotthelf Bergsträßer über die Drucklegung seiner Dissertation über Die Negationen im Ḳur’ān: ein Beitrag zur historischen Grammatik des Arabischen gegeben hatte, flogen Anfang des Jahres 1911 die Briefe zwischen der Verlagsbuchhandlung und dem Domizil Bergsträßers in der Dresdener Sedanstraße 12 nur so hin und her: Beide Seiten tauschten sich über die Korrekturfahnen aus und klärten Details der Drucklegung (Abb. 2). Ende Februar 1911 wurde die Dissertation bei August Pries, Buchdruckerei in Leipzig, gedruckt; der Verlag J. C. Hinrichs trat nicht in Erscheinung.9 Zu diesem Zeitpunkt war bereits vorgesehen, dass eine erweiterte Fassung der Arbeit als Heft 4 des fünften Bandes der Leipziger Semitistischen Studien bei J. C. Hinrichs erscheinen sollte.
7 Schreiben des J. C. Hinrichs Verlags an Alan Gardiner vom 18.1.1939 und Antwort vom 20.1.1939, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig, Nr. 102, Bl. 40f. 8 J. C. Hinrichs an Hermann Kees, 5.10.1943 sowie am selben Tag an Eberhard Otto, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig, Nr. 658, Bl. 76 sowie Nr. 266, Bl. 31. Der Band von Otto sollte in der von Kurt Sethe und Hermann Kees herausgegebenen Reihe Untersuchungen zur Geschichte und Altertumskunde Ägyptens erscheinen. 9 Rechnung von August Pries, Buchdruckerei, über den Satz und Korrekturänderungen von sieben Bogen, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig, Nr. 516, Bl. 7.
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Thekla Kluttig
Abbildung 2: Schreiben Gotthelf Bergsträßers an den Verlag J. C. Hinrichs, 12.11.1911. StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag, Nr. 516, Bl. 29.
Der 1886 geborene Gotthelf Bergsträßer hatte in Leipzig Philosophie, Sprachwissenschaft, klassische und semitische Philologie studiert und arbeitete bereits an seiner Habilitation. Zunächst aber zog der aufstrebende Wissenschaftler verlegerischen Unmut auf sich: Am 9. März 1911 schrieb der Verlag etwas indigniert an Bergsträßer:
Briefe an den Leipziger Verlag J. C. Hinrichs
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Wir erhielten soeben von Ihnen ein Exemplar Ihrer Dissertation zur Besprechung in der Orientalistischen Literaturzeitung. Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie uns mitteilen würden, ob und für welche Zeitschriften Sie bereits Exemplare versandt haben, und bitten Sie, keine weiteren Exemplare ohne vorherige Verständigung zur Besprechung zu versenden. Wie es wohl auch Ihnen bekannt ist, wird mit den Dissertationen ein ziemlicher starker Handel betrieben und es liegt daher auf der Hand, dass ein Bekanntwerden Ihrer Dissertation vor Ausgabe des Bandes, eine nicht unwesentliche Schädigung für den Absatz desselben bedeuten würde.10
Zu diesem Zeitpunkt hatte Bergsträßer Exemplare seiner Dissertation schon an zwölf Zeitschriften zur Besprechung versandt: In seiner Antwort vom 18. März 1911 nennt er unter anderem die Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft, die Orientalistische Literaturzeitung, das Literarische Zentralblatt [für Deutschland], die Jüdische Rundschau, die Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes, das französische Journal Asiatique, die schwedische Le Monde Oriental und das Journal of the American Oriental Society. Der Argumentation des Verlags mochte er nicht folgen: Da „wesentliche Teile der Abhandlung, insbesondere die zur Benutzung sehr unerlässlichen Übersichten und Register in den Dissertationsexemplaren fehlen“, glaubte er, „gerade auch im Interesse des Absatzes zu handeln“. Trotzdem bedauere er es, dass seine Vorgehensweise nicht den Wünschen des Verlags entsprochen habe, daher habe er auf die Absendung der noch nicht abgegangenen Exemplare verzichtet. In Aussicht genommen hatte Bergsträßer noch die Versendung an die französische Revue archéologique, das American Journal of Archaeology sowie die italienische Rivista degli studi orientali. J. C. Hinrichs lenkte umgehend ein und dankte „für die Einhaltung der Exemplare für die 3 noch in Aussicht genommenen Zeitschriften. Mit einer Versendung an diese nach Erscheinen des Heftes [der Semitistischen Studien, T. K.] sind wir durchaus einverstanden“.11 Der Verlag verfolgte das berufliche Fortkommen seines Autors interessiert: Als am 31. Oktober 1912 in den Leipziger Neuesten Nachrichten ein Hinweis auf die Ernennung Bergsträßers zum Privatdozenten und die Erteilung der Venia Legendi für semitische Sprachen erschienen war, ergänzte man im Verlag die „Mappe Bergsträsser“ um den Zeitungsausschnitt und nutzte den Anlass, Bergsträßer schon am folgenden Tag zur Habilitation zu gratulieren und anzufragen, „ob nicht Ihr gefl. Beitrag für die ‚Semitistischen Studien‘ zu Ende geführt werden 10 J. C. Hinrichs an Bergsträßer, 9.3.1911, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig, Nr. 516, Bl. 35. Die vorhandene Korrespondenz zwischen Bergsträßer und dem Verlag umfasst die Jahre 1910 bis 1934, fünf Akten mit insgesamt 969 Blatt. 11 J. C. Hinrichs an Bergsträßer, 20.3.1911, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig, Nr. 516, Bl. 38.
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könnte“.12 Das Erscheinen der erweiterten Fassung der Dissertation verzögerte sich dann bis in das Jahr 1914. Im Folgejahr wurde Bergsträßer als ordentlicher Professor nach Konstantinopel berufen – wiederum ein Anlass für den Verlag, ihm „verbindlichsten Glückwunsch“ auszusprechen. Gewiss dürfe man „die Berufung im gegenwärtigen Augenblick auch ganz im allgemeinen als ein sehr erfreuliches politisches Faktum bewerten, als ein Symptom dafür, dass unsere Staatsleitung zuversichtlich mit einer starken Festigung der deutschen Beziehungen in die Türkei rechnet“.13 Doch Bergsträßer zog es weiter: 1919 ging er als außerordentlicher Professor nach Berlin, noch im selben Jahr als ordentlicher Professor nach Königsberg. Es folgten Stationen in Breslau, Heidelberg und – seit 1926 – München. Mit dem Verlag J. C. Hinrichs blieb er bis zu seinem Tod 1933 in intensivem Austausch, der thematisch ein breites Spektrum bis hin zur letztlich nicht realisierten Überarbeitung der Hebräischen Grammatik von Wilhelm Gesenius umfasste. Beispielhaft sei das Engagement Bergsträßers für die Orientalistische Literaturzeitung genannt. So übersandte er dem Verlagsleiter Gustav Rost im Januar 1921 einen Plan für eine neue Gestaltung der OLZ. Die 1898 von Felix E. Peiser begründete Zeitschrift brauchte einen neuen Chefredakteur, da Peiser schwer erkrankt war. Bergsträßer erklärte, dass es seine Arbeitsüberlastung ihm unmöglich mache, die Chefredaktion zu übernehmen. Er sprach sich für Walter Wreszinski als Alternative aus.14 Der 1880 geborene Wreszinski war Ägyptologe und Professor in Königsberg. Er wurde noch 1921 Herausgeber der OLZ und blieb dies bis 1931. Peiser, der gerade aus der Leitung der Zeitschrift ausgeschieden war, starb am 24. April 1921 in Königsberg und erlebte das Erscheinen des ersten Heftes unter der neuen Leitung nicht mehr.15 In den 22 Jahren seit der Drucklegung seiner Dissertation hatte Bergsträßer Erfahrungen gesammelt, die ihm auch die verlegerische Perspektive einzunehmen halfen: Als es im April 1933 um die Herstellung eines gesonderten Registers zum „Hebräischen Verb“ ging, schlug Bergsträßer zur Herabsetzung der Herstellungskosten vor, „daß man das Register in Reproduktion von Schreibmaschinenschrift, etwas verkleinert, druckte; so ist z. B. das Register zu Schwarz, Iran im 12 J. C. Hinrichs an Bergsträßer, 1.11.1912, 22208 J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig, Nr. 516, Bl. 41. 13 J. C. Hinrichs an Bergsträßer, 15.9.1915, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig, Nr. 516, Bl. 52. Die Briefe Bergsträßers an den Verlag sind ab 1914 per Schreibmaschine verfasst – angesichts seiner Handschrift sicher zur Freude seiner Korrespondenzpartner. 14 Bergsträßer an J. C. Hinrichs, 5.1.1921, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig, Nr. 516, Bl. 63. 1934 wurde Wreszinski aufgrund seiner jüdischen Herkunft die Professur entzogen. 15 Siehe den Nachruf von Gotthelf Bergsträßer auf Felix Peiser. In: Orientalistische Literaturzeitung 24 (1921) Nr. 5/6. Sp. 97–102, Digitalisat online unter https://archive.org/stream/ orientalistische23deutuoft#page/n205/mode/2up (22.4.2016).
Briefe an den Leipziger Verlag J. C. Hinrichs
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Mittelalter, hergestellt, und es wirkt gar nicht übel“.16 – Knapp vier Monate später starb Bergsträßer, noch keine fünfzig Jahre alt, bei einer Bergtour am Watzmann.
Königsberg, Jerusalem, New York Der 1874 in München geborene Baruch Ascher Felix Perles war der Orientalistischen Literaturzeitung seit 1899 als Mitarbeiter verbunden und besprach zahlreiche Werke in der ab 1909 bei J. C. Hinrichs erscheinenden Zeitschrift. Seine letzte erhaltene handschriftliche Postkarte an den Verlag vom 30. Oktober 1932 zeigt im Schriftbild die Spur seiner schweren Erkrankung, der er im Oktober 1933 erlag (Abb. 3).17 Perles hatte Theologie und semitische Sprachen in München, Breslau, Wien, Paris und Berlin studiert. 1899 wurde er Honorarprofessor der AlbertusUniversität in Königsberg. Als Rabbiner der ostpreußischen Hauptstadt veröffentlichte er zahlreiche Publikationen zur jüdischen Geschichte und Literatur. Er bemühte sich, die „Wissenschaft des Judentums“ als ordentliches Lehrfach an den deutschen Universitäten zu etablieren und nahm selbst Gastprofessuren am Jewish Institute of Religion in New York (1922/23) und an der Hebräischen Universität Jerusalem (1927) wahr. Mit dem Assyriologen und Gründer der OLZ, Felix Ernst Peiser, war er freundschaftlich verbunden.18 Perles stand mit dem Verlag J. C. Hinrichs in regem Kontakt, unter anderem in Bezug auf sein Werk Boussets Religion des Judentums: Im neutestamentlichen Zeitalter kritisch untersucht, das 1903 zunächst beim Wolf Peiser Verlag in Berlin erschienen war. Da das Verlagsrecht inzwischen bei J. C. Hinrichs lag,19 bat er den Verlag in Leipzig im Oktober 1911 um eine Abdruckgenehmigung eines Abschnitts aus dieser Schrift. Für eine Reihe von Besprechungen in der OLZ habe ihm bereits Prof. Peiser die Erlaubnis erteilt. J. C. Hinrichs genehmigte den Abdruck ebenfalls, stellte aber hinsichtlich der OLZ-Besprechungen kritisch fest: Man erhebe keinen Widerspruch – „nur prinzipiell möchten wir dabei aussprechen, dass nach unserem Dafürhalten die Entscheidung darüber uns zum mindesten im gleichen Grade, wie dem Herrn Herausgeber, zustehen dürfte“.20 16 Bergsträßer an J. C. Hinrichs, 28.4.1933, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig, Nr. 516, Bl. 37. 17 Korrespondenzakte Perles, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig, Nr. 268, Bl. 132. 18 Menges, Franz: Perles, Felix. In: Neue Deutsche Biographie 20 (2001). S. 188f., online unter http://www.deutsche-biographie.de/pnd116079576.html (22.4.2016). 19 Vermutlich war das Verlagsrecht auf J. C. Hinrichs übergegangen, als dieser 1909 den Selbstverlag von Wolf Peisers Sohn Felix Ernst Peiser zusammen mit der OLZ übernommen hatte. 20 J. C. Hinrichs an Perles, 6.10.1911, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig, Nr. 268, Bl. 11f.
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Abbildung 3: Postkarte von Felix Perles an den Verlag J. C. Hinrichs, 30.10.1932. StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag, Nr. 268, Bl. 132.
Perles hingegen sah in Peiser seinen „Lehrer, Fachgenossen und persönlichen Freund“.21 Mit Unverständnis beobachtete er, dass die OLZ zwei Jahre nach dem Tod des ursprünglichen Herausgebers auf dem Titelblatt den Vermerk „Begründet von F. E. Peiser“ entfallen ließ. In einem dreiseitigen Brief an den neuen Herausgeber Walter Wreszinski äußerte er sein Befremden darüber, dass der Verlag J. C. Hinrichs „plötzlich im Mai 1923 […] nachträglich so energisch von ihm [Peiser, T. K.] abrückte“. Perles erinnerte daran, dass er sich während seines Aufenthaltes in New York sowohl bei Prof. [Franz] Boas22 als auch bei Dr. Kohut23 mit Nachdruck und Erfolg für die OLZ in der allerschlimmsten Zeit einsetzte. Damals trug aber noch die OLZ den erwähnten 21 Die folgenden Zitate aus: Perles an Wreszinski, 30.12.1928; Notiz von Wreszinski, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig, Nr. 268, Bl. 106–108 bzw. Bl. 109, H. i. O. 22 Franz Boas (1858–1942) war ein deutschstämmiger US-amerikanischer Ethnologe. Korrespondenz mit ihm ist aus den Jahren 1922 bis 1927 erhalten und dokumentiert seine Unterstützung der OLZ, siehe StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig, Nr. 605. 23 Vermutlich George Alexander Kohut, der Sohn des orientalistischen Lexikografen Alexander Kohut. Kohut hatte an der Universität Yale die Stiftung Alexander Kohut Memorial Publication Fund zur Herausgabe von Forschungswerken zur Semitistik errichtet.
Briefe an den Leipziger Verlag J. C. Hinrichs
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Vermerk. Wenn ich mich jetzt abermals für die Zeitschrift […] einsetzen soll, so sehe ich es als Pflicht gegen […] Peiser an, alles in meinen Kräften stehende zu thun, um das ihm angetane Unrecht abzustellen.
Wreszinski reagierte mit wenigen kühlen und abweisenden Zeilen: Ihre Zuschrift vom gestrigen Datum zeigt eine völlige Verschiedenheit unserer beiden Standpunkte. Sie stellen die persönliche Seite so in den Vordergrund, dass Sie die sachliche mit keinem Worte berühren, mir ist es allein um die Sache, den Dienst an der Orientalistik, zu tun.
Allerdings war es doch eher Wreszinski, der persönlich reagierte: Intern notierte er „Perles bekommt nichts mehr zum Referat“ für die OLZ, doch sei dies „vorläufig geheim zu halten“. Trotz dieser Turbulenzen blieb der Kontakt bestehen und Perles verfasste weiter Besprechungen für die OLZ. Dabei taten die großen räumlichen Distanzen der Schnelligkeit der wissenschaftlichen Kommunikation keinen Abbruch: Am 9. Mai 1927 fragte der J. C. Hinrichs Verlag bei Perles an, ob das ihm von Gotthelf Bergsträßer zugesandte Besprechungsexemplar eines Deutsch-Hebräischen Wörterbuches für die OLZ bestimmt sei. Die Anfrage wurde Perles von Königsberg nach Jerusalem nachgeschickt und bereits am 23. Mai von ihm beantwortet.24
„für alle Zeiten unersetzbar“ Walter Wreszinski war im April 1935 gestorben, seine Nachfolge als Herausgeber der OLZ trat Richard Hartmann an. Der 1881 geborene Hartmann hatte Theologie und Orientalistik in Tübingen und Berlin studiert. Nach seiner Habilitation 1914 erhielt er Berufungen an die Universitäten Leipzig, Königsberg, Heidelberg, Göttingen und schließlich 1936 an die Berliner Universität. Die Schriftleitung der OLZ hatte er von 1935 mit einer kriegsbedingten Unterbrechung bis 1961 inne.25 Am 15. Dezember 1943 berichtete Leopold Klotz, der seit 1937 den Verlag leitete, in einem Brief an Hartmann über die Zerstörungen des Bombenangriffs vom 4. Dezember 1943 im Grafischen Viertel von Leipzig.
24 StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig, Nr. 268, Bl. 84. 25 Die im Verlagsbestand vorhandene Korrespondenz mit Hartmann erstreckt sich über die Jahre 1929 bis 1954, zehn Akten mit insgesamt rund 1.300 Blatt.
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Wie Ihnen unser Rundschreiben schon gesagt hat, ist das Kriegsschicksal wider alles Erwarten auch über Leipzig hereingebrochen, und zwar in einer Auswirkung und Ausdehnung, für die es keine Worte gibt. […] Etwa neun Zehntel des ganzen Leipziger Buchhandels ist vernichtet. Alle grossen Verlagshäuser liegen in Schutt und Asche, z. B. Teubner, Brockhaus, Bibliographisches Institut, Reclam, Insel-Verlag, Joh. Ambr. Barth, Meiner, Breitkopf & Härtel, Quelle & Meyer usw., nicht zuletzt auch Hinrichs-Klotz. Auch die grossen Buchhandlungen wie Lorentz, Liebisch, Hinrichs, Harrassowitz sind vernichtet. […] Unser Verlagshaus stand fünf Tage und Nächte in Flammen […]. Am schwersten trifft mich der Umstand, dass die Verlagsarchive von Hinrichs und Perthes-Klotz, die für alle Zeiten unersetzbar, verloren gingen. Das kostbare Katalogmaterial, das mein Stolz war, persönlich zu besitzen, zurückgehend bis 1750, ist ebenfalls verloren, ebenso das Traditionsstück, der Schreibtisch des alten Friedrich Perthes. Und so viele, viele Dinge, an denen das Herz hängt, sind gewesen! […] An eine Fortführung regulärer Verlagsarbeit ist zunächst nicht zu denken.26
Richard Hartmann reagierte umgehend und sprach aus, „wie schmerzlich ich das Unheil empfinde, das mit dem Verlagshause Hinrichs, mit dem ich so lange und immer mit vollem Vertrauen zusammenarbeiten darf, zugleich auch unsere Wissenschaft betroffen hat“. Und doch sei er zuversichtlich, „dass in der grossen Vergangenheit der Firma J. C. Hinrichs und dem ehrenhaften Ruf, den sie erworben hat und mit Recht geniesst, eine Gewähr auch für eine günstige Zukunftsentwicklung liegt“.27 Hartmanns Hoffnung sollte sich nicht bewahrheiten. Nachdem die letzte Gesellschafterin 1959 in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt war, wurde der Verlag in staatliche Treuhandschaft übernommen, ab 1967 fungierte der Berliner Akademie Verlag als Treuhänder. 1977 wurde der Verlag J. C. Hinrichs liquidiert. Seine bedeutende Rolle in der Wissenschaftskommunikation der Orientalistik, Ägyptologie und Theologie bleibt für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts dauerhaft dokumentiert in den Briefen zwischen dem Verlag und seinen Autoren und Herausgebern. Noch harren diese stummen Zeugnisse vergangener wissenschaftlicher und verlegerischer Arbeit ihrer Re-Lektüre. Doch können dank der Ordnung und Verzeichnung im Archiv die Fäden aufgenommen, die Stimmen zum Sprechen gebracht werden.28
26 Klotz an Hartmann, 15.12.1943, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig, Nr. 108, Bl. 37f. Unklar ist allerdings, welche Unterlagen aus welchen Zeiträumen die genannten „Verlagsarchive von Hinrichs und Perthes-Klotz“ umfasst hatten. Siehe zum Perthes-Archiv die Ausführungen von Moldenhauer, Dirk: „Geschichte als Ware“. Der Verleger Friedrich Christoph Perthes (1772 bis 1843) als Wegbereiter der modernen Geschichtsschreibung. Köln: Böhlau 2008, hier S. 46–48. 27 Hartmann an Klotz, 17.12.1943, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig, Nr. 108, Bl. 40f. 28 Den Anfang machen Dorothea Trebesius und Hannes Siegrist in diesem Band mit der Gründung der Zeitschrift Orient und Occident.
Dorothea Trebesius und Hannes Siegrist
Die Gründung der Zeitschrift Orient und Occident im J. C. Hinrichs Verlag 1928/1929 Publikationsstrategien und die Beziehung zwischen Herausgeber und Verleger Im Jahr 1928 korrespondierten der Verleger Gustav Rost (1893–1934) vom Leipziger J. C. Hinrichs Verlag und Fritz Lieb (1892–1970), Privatdozent der Theologie aus Basel, intensiv über die Gründung einer Zeitschrift. Diese sollte nach dem Willen des zukünftigen Herausgebers das gegenseitige Verständnis zwischen westlichem und östlichem Kulturkreis befördern und der ökumenischen Einheit der christlichen Welt dienen. Die erste Nummer der Zeitschrift erschien 1929 unter dem Namen Orient und Occident. Blätter für Theologie, Ethik und Soziologie. Der Schriftwechsel über die Gründung dieser Zeitschrift ist Teil des im Sächsischen Staatsarchiv Leipzig liegenden Bestandes des ehemaligen Hinrichs Verlags.1 Er soll hier im Hinblick auf Publikationsstrategien und die Beziehung zwischen Herausgeber und Verleger analysiert werden. Welche Aufgaben übernahm der Herausgeber, welche der Verleger, wie gestaltete sich deren Beziehung zueinander und zu anderen Autoren bzw. Verlagen? Welche Strategien verfolgte der wissenschaftliche Herausgeber und Autor, der sich durch seine Publikationstätigkeit in der Wissenschaft, Öffentlichkeit und Gesellschaft positionierte und welche Optionen und Handlungsspielräume hatte er bei seinen Entscheidungen?
Der J. C. Hinrichs Verlag und die Gründung der Zeitschrift Orient und Occident Der J. C. Hinrichs Verlag,2 gegründet 1791 in Leipzig, wurde seit 1918 von Gustav Rost, Verleger in fünfter Generation, geleitet. Ursprünglich hatte sich der Verlag unter anderem mit mehreren Bibliografien zum deutschen Buchhandel, dem sogenannten Hinrichs’ Katalog (1851–1912), auf dem Buchmarkt etabliert. Im 19. Jahrhundert spezialisierte er sich auf Theologie und Kirchengeschichte sowie 1 Vgl. den Beitrag von Thekla Kluttig in diesem Band. 2 Vgl. Geist, Lucie: „Ein Geschäft recht geistiger Natur“. Zum 200. Jahrestag der Gründung des J. C. Hinrichs Verlags Leipzig. Leipzig: Sachsenbuch 1991.
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Dorothea Trebesius und Hannes Siegrist
auf Ägyptologie, Assyriologie und schließlich Orientalistik.3 J. C. Hinrichs gehörte zu den konfessionellen Verlagen, die die Hauptrichtung der protestantischen Theologie des Kaiserreichs repräsentierten.4 Gleich solchen Häusern wie J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) und Vandenhoeck & Ruprecht profilierte sich der J. C. Hinrichs Verlag im liberal-protestantischen Milieu durch die „enge Anbindung an die Wissenschaften und ihre Träger“.5 Gangolf Hübinger bezeichnet ihn als ein aus der „Tradition des älteren protestantischen Liberalismus kommende[s] und relativ modernitätsoffene[s]“ Verlagshaus.6 Im frühen 20. Jahrhundert gerieten die konfessionellen Verlage durch die ökonomische Krise im Gefolge des Ersten Weltkriegs und aufgrund des sich verschiebenden theologischen und wissenschaftlichen Feldes unter Innovationsdruck. Neue theologische Konzepte standen in offener Konkurrenz zueinander und mussten von den Verlagen aufgenommen werden. Zugleich drohten die Verlagsprogramme, nicht zuletzt durch eine überschaubare Anzahl an theologischen Fachautoren, immer ähnlicher zu werden.7 Im Gegensatz zu anderen Häusern konnte J. C. Hinrichs in dieser Zeit sein Profil aus dem 19. Jahrhundert weitgehend erhalten – ohne sich der notwendigen Innovation zu verschließen. Die Auffassung, dass sich der wissenschaftliche Buchmarkt mithilfe der Gründung von Zeitschriften dynamisieren lässt, hatte damals schon eine längere Tradition. Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war in allen Wissenschaftszweigen die Produktion von Zeitschriften gestiegen. Nach dem Einbruch der Produktionszahlen im Ersten Weltkrieg und in den ersten Nachkriegsjahren setzte in den 1920er Jahren erneut eine Aufwärtsbewegung ein. Wissenschaftliche Zeitschriften wurden zu Aushängeschildern, da sie regelmäßig erschienen und eine gute Plattform für die Bewerbung anderer Publikationen der Verlagshäuser boten.8 Besonders in den 1920er Jahren mehrten sich Zeitschriftengründungen, 3 Vgl. Jäger, Georg: Der wissenschaftliche Verlag. In: Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Band 1: Das Kaiserreich 1870–1918. Teil 1. Hrsg. v. Georg Jäger in Verbindung mit Dieter Langewiesche und Wolfram Siemann. Frankfurt a. M.: Buchhändler-Vereinigung 2001. S. 423–472, hier S. 460f. 4 Vgl. Blaschke, Olaf u. Wiebke Wiede: Konfessionelle Verlage. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Band 2: Die Weimarer Republik 1918–1933. Teil 2. Hrsg. v. Ernst Fischer u. Stephan Füssel. München: K. G. Saur 2007. S. 139–182, hier S. 149. 5 Hübinger, Gangolf u. Helen Müller: Politische, konfessionelle und weltanschauliche Verlage im Kaiserreich. In: Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Band 1: Das Kaiserreich 1870–1918. Teil 1. Hrsg. v. Georg Jäger in Verbindung mit Dieter Langewiesche und Wolfram Siemann. Frankfurt a. M.: Buchhändler-Vereinigung 2001. S. 347–405, hier S. 356. 6 Hübinger/Müller, Verlage (wie Anm. 5), S. 381. 7 Vgl. Blaschke/Wiede, Konfessionelle Verlage (wie Anm. 4), S. 149f. 8 Vgl. Stöckel, Sigrid: Medizinjournale – Foren der scientific community oder verlagseigene Publikationspolitik? In: Wissenschaftsverlage zwischen Professionalisierung und Popularisierung.
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-ankäufe und -verkäufe.9 Auch der Verleger Gustav Rost nahm neue Ausgaben in sein Programm auf. Die Gründung der Zeitschrift Orient und Occident schloss an eine Reihe von Neugründungen bzw. Aufkäufen bei J. C. Hinrichs an. Schon seit 1876 erschien dort die Theologische Literaturzeitung. Seit 1922 verlegte Rost die neu gegründeten und vom Theologen Karl Ludwig Schmidt herausgegebenen Theologischen Blätter. Und 1926 kaufte J. C. Hinrichs einem anderen Verlag die Asia Major ab. Orient und Occident (OrO) wurde von den beiden protestantischen Theologen Fritz Lieb und Paul Schütz (1891–1985) herausgegeben. Fritz Lieb studierte Assyriologie und Theologie in Basel, Berlin und Zürich und lernte nach der Russischen Revolution von 1917 die russische Sprache.10 Er galt als Spezialist für die orthodoxe Kirche und russische Geistesgeschichte. Während der Gründungsphase von OrO war er als Privatdozent an der Universität Basel tätig, wo er im Jahr 1923 habilitiert worden war. Von 1930 an wirkte Lieb an der Universität Bonn als außerordentlicher Professor für „Östliches Christentum in Vergangenheit und Gegenwart“, bis er 1933 von den Nationalsozialisten abgesetzt wurde und nach Paris emigrieren musste.11 Paul Schütz war seit 1925 im Pfarrberuf tätig, blieb jedoch weiterhin publizistisch und wissenschaftlich tätig. Er war seit 1930 Privatdozent für Theologische Ethik in Gießen.12 Schütz schied Ende 1933, nach Herausgabe des 15. Heftes, aus der Redaktion von Orient und Occident aus. Unter welchen Umständen Fritz Lieb und Gustav Rost einander kennenlernten, lässt sich anhand der vorliegenden Quellen nicht eruieren. Beide Männer müssen sich jedoch vor Beginn der überlieferten Korrespondenz über das Publikationsprojekt schon getroffen haben. Weiterhin ist nicht klar, auf wessen Initiative die Zeitschrift entstand. Beide Seiten betonten mehrfach die wissenschaftliche und politisch-gesellschaftliche Bedeutung dieses Projekts. Viel stärker als für den Verleger Gustav Rost war die Zeitschriftengründung für den Herausgeber Fritz Lieb eine Herzensangelegenheit. Hrsg. v. Monika Estermann u. Ute Schneider. Wiesbaden: Harrassowitz 2007. S. 147–166, hier S. 147. 9 Vgl. Schneider, Ute: Der wissenschaftliche Verlag. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Band 2: Die Weimarer Republik 1918–1933. Teil 1. Hrsg. v. Ernst Fischer u. Stephan Füssel. München: K. G. Saur 2007. S. 379–440, hier S. 425. 10 Vgl. Kanyar Becker, Helena: Lieb, Fritz. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), online unter http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D10735.php (10.5.2016). Vgl. Reichelt, Stefan G.: Nikolaj A. Berdjaev in Deutschland 1920–1950. Eine rezeptionshistorische Studie. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 1999. S. 119–127. 11 Buess, Eduard: Lieb, Fritz. In: Neue Deutsche Biographie 14 (1985). S. 472f., online unter http://www.deutsche-biographie.de/pnd118971662.html (11.5.2016). 12 Vgl. Reichelt, Berdjaev (wie Anm. 10), S. 121f.
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Die Suche nach Herausgebern, Autoren und Abonnenten Fritz Lieb interessierte sich seit den 1920er Jahren verstärkt für die „slawische Welt“, die russische Geistesgeschichte und die russische Orthodoxie.13 Schon als Privatdozent hielt er in ganz Europa Vorträge über Russland. Er begann, Bücher über die russische und slawische Kirchen- und Geistesgeschichte, Religionsphilosophie und Literaturwissenschaft systematisch zusammenzutragen. Als Sozial demokrat interessierte sich Lieb lebhaft für die politischen Entwicklungen in der Sowjetunion. Sein Selbstverständnis als Theologe, Wissenschaftler und politischer Publizist schlug sich in der Konzeption der Zeitschrift Orient und Occident nieder. Diese vereinte wissenschaftliche Aufsätze aus der Theologie, Religionswissenschaft, Soziologie und (Religions-)Philosophie mit religionsphilosophischen Betrachtungen, Übertragungen von künstlerischen Produktionen ins Deutsche, Berichten über die Sowjetunion und einer kritischen Bibliografie. Herausgeber und Verleger diskutierten intensiv über den Kreis der in Betracht kommenden Mitherausgeber. Das Ziel, den Dialog mit russischen Autoren und Interessenten für russische Religionsphilosophie zu vertiefen, sollte durch die intensivere Mitarbeit des damals im Pariser Exil lebenden Philosophen Nikolai Alexandrowitsch Berdjaev (1874–1948) erreicht werden. Lieb lag sehr daran, Berdjaev für die Zeitschrift zu gewinnen, um die „Mitarbeit und [das] Interesse der ganzen für uns in Betracht kommenden Orthodoxie“14 zu sichern. Auch Liebs theologische Überzeugung, dass Christentum und Orthodoxie voneinander lernen könnten, sollte durch die Beteiligung Berdjaevs in OrO realisiert und verbreitet werden. Berdjaev freute sich über die Zeitschriftengründung, die seiner Ansicht nach einem tiefen Bedürfnis der Zeit entsprach. Die Korrespondenz zwischen Lieb und Berdjaev, die anhand eines ausgewählten Schreibens im Anhang zu unserem Beitrag dokumentiert wird, ging als Abschrift an den Verleger Gustav Rost, der Berdjaevs Antwort auf die Anfrage Liebs zustimmend kommentierte. Nikolaj Berdjaev interessierte sich also von Beginn an für das Publikationsvorhaben und war schnell bereit, seinen Namen „dazu zu geben“. Er schlug vor, die Zuständigkeit für die russisch-orthodoxe Abteilung zu übernehmen, d. h. Aufsätze einzuwerben und zu redigieren. Nach den erfolgreichen Verhandlungen zwischen Lieb und Berdjaev erwähnte die erste Ausgabe der Zeitschrift Orient und 13 Lieb, Fritz: Die russisch-slawische Bibliothek Lieb in der Universitätsbibliothek Basel. In: Sophia und Historie. Aufsätze zur östlichen und westlichen Geistes- und Theologiegeschichte. Hrsg. v. Martin Rohkrämer. Zürich: EVZ-Verlag 1962. S. 19–30, hier S. 19. 14 Fritz Lieb an Gustav Rost, 19.11.1928, Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Leipzig (StA-L), 22208 J. C. Hinrichs Verlag Leipzig, Nr. 196, Bl. 7.
Die Gründung der Zeitschrift Orient und Occident
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Occident auf dem Titelblatt als Herausgeber Fritz Lieb und Paul Schütz in Verbindung mit Nikolaj Berdjaev. In seinem Brief an Lieb benannte Berdjaev weitere für ihn in Frage kommende Mitarbeiter. Er verwarf zugleich die Kooperation mit einigen Autoren, deren Arbeiten oder (religiöse) Ansichten seiner Meinung nach nicht dem Konzept der Zeitschrift entsprachen (vgl. Berdjaev an Fritz Lieb, 20.11.1928, s. Dokumentenanhang). Einer davon sei zwar „ein talentvoller, kluger und interessanter Mensch“, seine Auffassungen passten jedoch nicht in eine religiöse Zeitschrift. Ein anderer Autor sei kein Christ, sondern komme „eher auf den Judaismus zurück“. Der Philosoph Hans P. Ehrenberg wiederum sollte am besten Mitherausgeber werden, da er sich durch die Herausgabe seines Östlichen Christentums15 „bei der russischen Orthodoxie verdienstlich gemacht [habe] und es […] peinlich [wäre], ihn in solch einem Unternehmen gänzlich zu ignorieren.“ Berdjaev nannte ferner Professoren der damals wachsenden Fachrichtung Religionsphilosophie aus Paris, Dresden, London oder Kaunas. Er erweiterte so den Kreis möglicher Autoren und ergänzte die Kontakte der beiden Herausgeber. Aber auch Berdjaevs Werke wurden nun, vermittelt durch die Anfrage von Fritz Lieb und die Mitarbeit in Orient und Occident, Teil des Europa bedeckenden wissenschaftlichen „Kommunikationsstromes“16. Der russische Exilant wurde somit als Religionsphilosoph in ganz Europa bekannt.17 In Orient und Occident publizierten tatsächlich von Beginn an Theologen, Religionswissenschaftler und Pfarrer, aber auch Schriftsteller und Übersetzer aus Deutschland, der Schweiz, Russland, Rumänien und der Tschechoslowakei. Bei der Wahl der Autoren mussten die Herausgeber auf deren schon laufende Publikationsvorhaben Rücksicht nehmen. So sagte ein von Fritz Lieb angefragter Autor unter dem Vorbehalt zu, dass sein Artikel in englischer Sprache publiziert werde, worauf Lieb zu bedenken gab, dass dies nicht zuletzt wegen der dadurch entstehenden Konkurrenz zu The Christian East, einer seit 1920 in London erscheinenden Zeitschrift der Anglican and Eastern Churches Association, nicht zu realisieren sei. Auch Berdjaev hatte seine Mitarbeit unter dem Vorbehalt zugesichert, es sei „unangebracht, irgendwelche Teile meiner Philosophie des freien Geistes
15 Vgl. Ehrenberg, Hans u. Nicolai von Bubnoff (Hrsg.): Östliches Christentum. Dokumente. München: C. H. Beck 1923. 16 Vgl. zum Begriff den Artikel „Europäische Netzwerke“. In: Europäische Geschichte Online (EGO). Hrsg. v. Institut für Europäische Geschichte (IEG) Mainz, 16.5.2016. http://ieg-ego. eu/de/threads/europaeische-netzwerke?utm_source=ego&utm_medium=internal&utm_ campaign=billboard (16.5.2016). 17 Vgl. Reichelt, Berdjaev (wie Anm. 10), S. 119–127.
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in der Zeitschrift zu drucken, da mein Buch bald im Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) erscheinen soll, was ich Ihnen zu verdanken habe“.18 Alles in allem begründeten wissenschaftliche, wissenschaftspolitische und auch religiöse Motive die Wahl der Autoren. Es zeigte sich zudem, dass die Zeitschrift im Hinblick auf konkurrierende Publikationsvorhaben in einem schon differenzierten Feld platziert werden sollte. Vielleicht war dies einer der Gründe für die geringe Abonnentenzahl, mit der OrO von Beginn an zu kämpfen hatte.
Wie richtig werben? Obwohl OrO von Anfang an kräftig beworben wurde, blieb die Klage über geringe Abonnentenzahlen ein ständiges Thema in der Korrespondenz zwischen Heraus geber und Verleger. Angesichts der andauernden prekären finanziellen Lage der Zeitschrift diskutierten Gustav Rost und Fritz Lieb regelmäßig über die Abonnentenwerbung. Hierfür hatte Lieb dem Verlag Adressmaterial zur Verfügung gestellt. Zusätzlich wollte Rost die Abonnenten der früheren Zeitschrift Der Orient anschreiben. In einem Brief an Rost vom Oktober 1929 schlug Lieb darüber hinaus vor, für eine finanzielle Unterstützung der Zeitschrift zu werben. Er sei überzeugt, es gebe viele Leute, die erst dann die Zeitschrift abonnierten, wenn man ihnen zugleich klarmachte, dass es gelte, eine „gute Sache“ zu fördern. Das brauchte ja nicht im Heilsarmeeton zu geschehen. Ich bin überzeugt, dass viele Leute, die die Zeitschrift nicht im ersten Anlauf abonnieren, dies noch tun werden, wenn dieselbe immer wieder „da“ ist, d. h. immer wieder von sich reden macht. Wir dürfen darum auch Propagandakosten im Zeitalter der Reklame […] nicht scheuen.19
Auch Rost war sich dessen wohl bewusst und beruhigte Lieb mit den Worten, er würde es an erfolgreicher Propaganda nicht fehlen lassen. Tatsächlich ließen konkrete Maßnahmen nicht auf sich warten: Für Orient und Occident wurde in einem Prospekt über theologische Neuerscheinungen geworben, der in einer Auflage von 10.000 Exemplaren gedruckt wurde. Die Neugründung der Zeitschrift war darüber hinaus schon in den von J. C. Hinrichs herausgegebenen Wissenschaftlichen Neuigkeiten angekündigt worden, die in einer Auflage von 15.000 Exemplaren an „ausgewählte Adressen“ versandt wurden. Auch konkurrierende wissen18 Nikolaj Berdjaev an Fritz Lieb, 14.11.1928, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag Leipzig, Nr. 196, Bl. 8. 19 Gustav Rost an Fritz Lieb, 12.10.1929, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag Leipzig, Nr. 196, Bl. 87.
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schaftliche Verlage schrieb Rost an, um Werbung für OrO wirksam platzieren zu können und künftige Autoren zur Mitarbeit aufzufordern. Fritz Lieb regte Rost an, sich auch mit dem Verlag C. H. Beck in Verbindung zu setzen, da ein bei Beck erscheinendes Heft einen Vortrag des russischen Religionsphilosophen und OrO-Autors Georgij V. Florovskij enthielt und deswegen als ein für Werbung geeigneter Publikationsort auserkoren worden war.20 Auch bei J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) fragte Gustav Rost an, ob er im dort erscheinenden Buch von Fritz Lieb Das westeuropäische Geistesleben im Urteil der russischen Religionsphilosophie (1929) einen Prospekt für die neue Zeitschrift beilegen könne. Dieser schon weit gediehene Plan musste später aufgegeben werden, da der Mitherausgeber Paul Schütz mit den Entwürfen für den Prospekt nicht nachgekommen war. Rost bedauerte das, denn unmöglich könne er unter diesen Umständen die Ankündigung dem bei Mohr erscheinenden „Heftchen“ beilegen. Seiner Ansicht nach würde es OrO mehr schaden als nützen, wenn noch keine endgültigen Angaben über Inhalte gemacht werden könnten. Damit würde nur Unruhe in die Sache gebracht.21 Rost nutzte hier seine verlegerische Kompetenz und die Kenntnis des wissenschaftlichen Buchmarktes, um die Platzierung des neuen Produkts in aller Ruhe vorzubereiten. Auch bei der Wahl der stilistischen Mittel für die Werbung beanspruchte Rost seine Autorität und Zuständigkeit. Der von Paul Schütz verfasste Ankündigungstext werde keine potenziellen Abonnenten anziehen, monierte er in einer Notiz an Lieb. Später wurde er noch deutlicher: Herr Schütz ist sicher ein geistreicher Mann, aber manchmal zu geistvoll. Sein Text ist unbrauchbar, ich halte ihn glatt für unmöglich. Übrigens ein klassisches Beispiel für sophistische Spiegelfechterei und die Freude am pseudowissenschaftlichen Wortschwall. Umstellung des Textes durch eine zweite Hand nicht gut möglich, da ein Sicheinfühlen in die Sprache von Schütz geistige Selbstverleugnung bedeuten würde. Ich empfehle Herrn Schütz ganz offen zu sagen, daß der Text des nötigen Klarsinns entbehrt, er möchte einen neuen Text geben, in den ich dann gern den nötigen propagandistischen Schwung hinein bringen werde. Oder aber ich bitte um einen früheren Ankündigungstext für Orient und Occident, damit ich einen Text für die Neuigkeiten [d. h. die Wissenschaftlichen Neuigkeiten, D. T./H. S.] neu ausarbeiten kann.22
20 Vgl. Gustav Rost an Fritz Lieb, 18.7.1931, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag Leipzig, Nr. 197, Bl. 50. 21 Vgl. Gustav Rost an Fritz Lieb, 27.2.1929, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag Leipzig, Nr. 196, Bl. 31. 22 O. V. (Gustav Rost) an Fritz Lieb, 27.12.1929, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag Leipzig, Nr. 196, Bl. 123.
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Schon vorher hatte sich Gustav Rost an Fritz Lieb gewandt, da er mit der Schütz’schen Ausdrucksweise nicht einverstanden war und befürchtete, dessen Stil würde nicht die erhoffte „Propagandawirkung“ haben. Aufschlussreich ist hier die Argumentation von Gustav Rost, womit er definierte, was eine wissenschaftliche Publikation auszeichne: OrO will doch ein wissenschaftliches Organ sein, das in gründlicher sachlicher Form zu den Problemen in möglichst erschöpfender Weise Stellung nimmt. Dieses Ziel scheint mir in den Ankündigungszeilen nicht zum Ausdruck zu kommen. […] Was soll ich aber tun, wenn er [d. h. Schütz, D. T./H. S.] mir jetzt wieder, wie es geschehen ist, solche feuilletonistisch schön klingende Worte schickt. OrO will sich doch nicht an Leute wenden, die lediglich für leichte Feuilleton-Artikel Interesse haben. OrO will doch der Wissenschaft dienen.23
Klar grenzte Gustav Rost „seine“ Publikation gegen das Feuilleton und „schön klingende Worte“ ab, denen es an wissenschaftlicher Klarheit und Präzision mangele. Rost sprach Schütz die Wissenschaftlichkeit ab. Er bevorzugte, selbst im Falle eines Werbetextes, einen anderen Stil der wissenschaftlichen Argumentation und sprachlichen Darstellung, um die Zeitschrift symbolisch im wissenschaftlichen Feld zu positionieren. Wolf Lepenies hat für die Geschichte der Soziologie gezeigt, wie eng die Beziehung zwischen Wissenschaft und Literatur am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts noch war. Die Soziologie habe sich durch die publizistisch ausgetragene Konkurrenz sowie durch gegenseitige Bezugnahmen zwischen literarischen und wissenschaftlichen Autoren ausgebildet.24 Auf einen ähnlichen Differenzierungsprozess verweist der erwähnte Konflikt zwischen Rost und Lieb auf der einen, dem Mitherausgeber Schütz auf der anderen Seite. Der Verleger und Fritz Lieb lehnten jede Form von „Sprachesoterik“ ab, polemisierten gegen „alle Journalistik“, bei der „Tiefsinn zu Schönrednerei“ würde. Fritz Lieb wies Schütz schlussendlich an, „klarer, konkreter, verständlicher“ zu formulieren und verpflichtete ihn, die Dinge für den Prospekt „bei ihrem einfachsten Namen [zu] nennen“.25 Die Episode zeigt überdies, dass der Verleger Gustav Rost selbstbewusst redaktionelle Aufgaben wahrnahm. Auch bei anderen Gelegenheiten wies er Fritz Lieb auf sprachliche Schwächen von Aufsätzen hin oder berichtete ihm von neuesten wissenschaftlichen Publikationen. In der Zusammenarbeit zwischen Verleger und Autor wurde die Teilung von Aufgaben und Rollen, die entweder dem 23 Gustav Rost an Fritz Lieb, 24.12.1929, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag Leipzig, Nr. 196, Bl. 117. 24 Vgl. Lepenies, Wolf: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 2006. 25 Fritz Lieb an Gustav Rost, 29.12.1929, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag Leipzig, Nr. 196, Bl. 126.
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kommerziellen oder dem wissenschaftlichen Feld zugeordnet wurden, immer wieder verwischt. Das soll im Folgenden näher beleuchtet werden.
Die Zusammenarbeit zwischen Herausgeber und Verleger Obwohl Rost immer wieder betonte, wie sehr er das Publikationsvorhaben Liebs inhaltlich unterstützte, lagen der Zeitschriftengründung doch handfeste ökonomische Motive zugrunde. Fast alle ökonomischen Entscheidungen traf der Verleger. Gustav Rost kalkulierte den Preis der Zeitschrift und des Abonnements, und er übernahm die Verantwortung für die Werbung – zum Beispiel bestimmte er den Zeitpunkt der Herausgabe eines Werbeprospekts – sowie die Absprachen mit dem Sortimentsbuchhandel und anderen Verlagen. Auch bekannte Rost ganz offen seine Hoffnung, durch die gemeinsame Arbeit an der Zeitschrift tiefere verlegerische Beziehungen zwischen J. C. Hinrichs und den Herausgebern Fritz Lieb und Paul Schütz etablieren zu können. Rost zielte damit auch auf den erweiterten Kreis um Lieb und nicht zuletzt auf die russischen Intellektuellen wie Berdjaev. Er formulierte den Wunsch, dass diese Autoren bei künftigen Publikationsvorhaben zunächst an J. C. Hinrichs dächten, denn es liege „ja im Interesse der Sache, daß die Veröffentlichungen nicht zu zerstreut erscheinen.“26 Tatsächlich schlug Fritz Lieb in der Folgezeit immer wieder eigene oder fremde Publikationsprojekte vor, die Rost dann mit „gut“, „kleiner Interessentenkreis“ oder „aktuell“ kommentierte. Darüber hinaus wiesen sich Herausgeber und Verleger regelmäßig gegenseitig auf wichtige Neuerscheinungen oder mögliche Übersetzungen und Publikationsvorhaben hin. Schließlich sandte Lieb im thematischen Umfeld von OrO angesiedelte Publikationen anderer Verlage an Gustav Rost; so die schon erwähnte, bei J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) (1930) erschienene Berdjaev’sche Pu blikation Philosophie des freien Geistes. Umgekehrt übernahmen die Herausgeber bei der Werbung für die Zeitschrift quasi-verlegerische Aufgaben. Fritz Lieb und Paul Schütz entwarfen den Werbeprospekt für OrO und fragten, zusätzlich zu Gustav Rost, bei J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) an, ob es möglich sei, das Werbematerial einer seiner Publikationen beizulegen. Auch die Gewinnung von Autoren übernahmen Verleger und Autor gemeinsam, wobei die Aufgabe der Suche hauptsächlich bei den Herausgebern lag. Gustav Rost wiederum entschied, in welchem Heft Übersetzungen erscheinen sollten. Die Erlaubnis über die Veröffentlichung von Übersetzungen war im 26 Gustav Rost an Fritz Lieb, 4.3.1929, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag Leipzig, Nr. 196, Bl. 33.
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Rahmen des Verlagsvertrages geregelt. Selbst wenn Lieb aus Gründen der möglichst raschen und unkomplizierten Verbreitung seiner Ideen auf Übersetzungen und das Erscheinen seiner Aufsätze in fremdsprachigen Zeitschriften nicht verzichten konnte und wollte, musste er wegen der Übersetzungsrechte bei Rost anfragen. In der Regel stimmte Rost den Anfragen Liebs, ob seine Aufsätze etwa in russischen oder rumänischen Zeitschriften gedruckt werden dürften, ohne Zögern zu. Er wollte dafür nicht entschädigt werden und bestand nur darauf, dass die Quelle samt Angabe des Verlags genannt werden müsse. Das Urheberrecht wurde also unkompliziert im Rahmen des Verlagsvertrags und bei Übersetzungsfragen bemüht.27 Diese Beispiele zeigen, wie eng und partnerschaftlich Herausgeber und Verleger bei der Gründung der Zeitschrift zusammenarbeiteten und wie flexibel sie Aufgaben aus dem jeweiligen Bereich des anderen übernahmen. Schließlich lag auch die Finanzierung auf mehreren Schultern. Der Verleger Rost und der Heraus geber und Autor Lieb leisteten eigene Zuschüsse; Lieb war überdies ständig auf der Suche nach weiteren Unterstützern.
Wie (lange) finanzieren? Obwohl es sich schon früh abzeichnete, dass die Zahl der Abonnenten klein bleiben würde, reagierte Rost 1930 gegenüber Lieb zunächst gelassen auf die Frage, ob OrO ein Misserfolg sei. Man müsse „sachlich bei den heutigen Verhältnissen mit den bisherigen Erfolgen zufrieden sein“.28 Nichtsdestoweniger musste er Lieb schon nach Erscheinen der ersten beiden Ausgaben um einen höheren als den ursprünglich vereinbarten Druckkostenzuschuss bitten, da der Absatz bei Weitem nicht bei den von ihm benötigten 450 Exemplaren lag. Ein vorläufiger Kassensturz zeigte, dass von der ersten Ausgabe 186 und von der zweiten 175 Exemplare versandt worden waren und die tatsächliche Absatzzahl von OrO nicht mit der Zahl der 200 bis 250 Abonnenten übereinstimmte, die sich Rost noch im Oktober 1929 erhofft hatte.29 Dabei waren sowohl der Verleger als auch Fritz Lieb, der einen Druckkostenzuschuss an J. C. Hinrichs zahlte, zunächst optimistisch gewesen. Für die ersten beiden Jahre des Erscheinens der Zeitschrift hatte nämlich Fritz Liebs Schwieger27 Vgl. Siegrist, Hannes: Die Regulierung kultureller Beziehungen im Zeitalter des geistigen Eigentums. In: Zeitschrift für Geistiges Eigentum/Intellectual Property Journal (2014) H. 2. S. 1–33. 28 Gustav Rost an Fritz Lieb, 13.3.1930, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag Leipzig, Nr. 196, Bl. 156. 29 Vgl. Gustav Rost an Fritz Lieb, 12.10.1929, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag Leipzig, Nr. 196, Bl. 82.
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vater einen Beitrag von 600 Reichsmark zugesichert, der es möglich machte, dem Mitherausgeber Berdjaev jährlich 200 Schweizer Franken für seine Arbeit an OrO zu zahlen. Lieb wollte darüber hinaus den Zuschuss verwenden, um den Abonnementsbeitrag etwas herabzusetzen und durch einen geringeren Preis mehr Abonnenten zu gewinnen.30 Rost reagierte umgehend und sagte Lieb zu, den Preis bei einem Umfang von 12 Bogen jährlich von 12 Reichsmark auf 10 Reichsmark zu senken. Für die dritte Ausgabe der Zeitschrift, die für 1930 geplant wurde, musste Fritz Lieb 300 Reichsmark an Druckkosten aufbringen. Er war zuversichtlich, dass ihm dies gelingen würde. Tatsächlich stand schon 1930 angesichts der Abonnentenzahlen die Zukunft von OrO auf dem Spiel. Nicht zuletzt schlugen die Kosten für die vielen Übersetzungen aus dem Russischen ins Deutsche, die im Vorfeld nicht einkalkuliert gewesen waren, zu Buche. Rost behielt es sich jedoch vor, die endgültige Entscheidung erst im Jahr 1931 zu treffen, lag ihm doch daran, noch „durch[zu]halten“.31 Weder die Reduktion der Seitenzahl, um OrO öfter im Jahr erscheinen lassen zu können, noch die im Jahr 1932 erfolgte Umbenennung in Orient und Occident. Staat, Gesellschaft, Kirche brachte die erhoffte Wirkung. Fritz Lieb schoss immer wieder Druckkosten zu, und im Jahr 1934 musste schließlich eine endgültige Entscheidung getroffen werden, da der Absatz immer noch nicht hoch genug war, um die Produktionskosten zu decken. Rost notierte im Oktober, einen Monat vor seinem plötzlichen Tod, dass er bei keinem Heft der Zeitschrift die Herstellungskosten hereinbekommen habe, ganz abgesehen von den Kosten für Propaganda, Vertrieb und sonstige Spesen.32 Trotz der internationalen Ausrichtung der Zeitschrift liege der Absatzmarkt weiterhin vor allem in Deutschland. J. C. Hinrichs entschied sich daraufhin in enger Absprache mit Fritz Lieb, den Druck von OrO zum Ende des Jahres 1935 einzustellen. Im Jahr 1935 keimte allerdings noch einmal die Hoffnung auf, dass OrO vom Göttinger Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, der an J. C. Hinrichs herangetreten war, fortgesetzt werden würde. J. C. Hinrichs war dem Vorschlag nicht abgeneigt, die Verhandlungen scheiterten jedoch. Schließlich brachte der Berner GotthelfVerlag im Jahr 1936 noch einmal drei Hefte heraus, bevor die Zeitschrift endgültig eingestellt werden musste.
30 Vgl. Fritz Lieb an Gustav Rost, 19.1.1929, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag Leipzig, Nr. 196, Bl. 23. 31 Gustav Rost an Fritz Lieb, 13.3.1930, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag Leipzig, Nr. 196, Bl. 156. 32 Vgl. Gustav Rost an Fritz Lieb, 13.10.1934, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag Leipzig, Nr. 199, Bl. 91.
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Dokumentenanhang Brief von Nikolaj A. Berdjaev an Fritz Lieb, 20.11.1928, StA-L, 22208 J. C. Hinrichs Verlag Leipzig, Nr. 196, Bl. 8. Die Abschrift dieses Briefes ging an den Leipziger Verleger Gustav Rost.
Lieber Feodor Iwanowitsch! Ihre Schrift ist schwer zu lesen, ich habe sie nur mit fremder Hilfe entziffern können. Das neue Projekt der Zeitschrift „Orient und Occident“ kann ich nur gutheißen. Vor der Abreise G. G. Kullmann’s [dazu notierte Rost: Sekretär der Russ. YMCA, Paris, von Febr. an Sekretär der Intern. Stud.hilfe in Dresden, D. T./H. S.] nach Indien haben wir beide viel darüber gesprochen und sind darüber ganz einig. Ich bin prinzipiell einverstanden, an der Zeitschrift mitzuarbeiten und bin event. bereit, meinen Namen dazu zu geben. Nur möchte ich meine Beziehung zu der Zeitschrift genauer definiert wissen. Werde ich für die russisch-orthodoxe Abteilung die ganze Verantwortung tragen? In diesem Falle müssen meine Pflichten genauer definiert werden. Werde ich die russisch-orthodoxen Aufsätze zusammenbringen und sie der Redaktion zustellen müssen? Daraus, wie die ersten Nummern geplant sind, schließe ich, daß Sie eine umfangreiche Ausnutzung der Aufsätze aus dem „Puth“ [Rost notierte: russisches religionsphilosophisches Organ, erscheint in Paris unter Redaktion von Berdjajew, Wyscheslawzeff, Florowsky, D. T./H. S.] vorhaben. Dies ist uns sehr erwünscht und willkommen. Doch wäre es unangebracht irgendwelche Teile meiner „Philosophie des freien Geistes“ in der Zeitschrift zu drucken, da mein Buch bald im Verlag Mohr-Siebeck erscheinen soll, was ich Ihnen zu verdanken habe. Mit P. S. Bulgakoff habe ich schon gesprochen und er ist natürlich prinzipiell einverstanden mitzuarbeiten an der Zeitschrift. Ich sprach auch mit B. Wyscheslawzeff, der sich sehr freuen wird, wenn seine „Tragische Theodizee“ in deutscher Sprache erscheint. G. Florowsky ist auch einverstanden. Müßten noch zur Mitarbeiterschaft herangezogen werden: G. Fedotoff, L. Karsawin, W. Iljin, B. Zenkowsky. F. Stepan hat sich uns sehr genähert. Swiotopalk-Mirsky ist meines Erachtens gänzlich unpassend. Er hat wenig Interesse für religiöse Fragen und schreibt nie darüber. Außerdem ist man bei ihm nie sicher, welcher Art seine Schriften sein werden. Auch ist es zweifelhaft, ob er einwilligt. Er ist ein talentvoller, kluger und interessanter Mensch, passt jedoch nicht in eine religiöse Zeitschrift hinein. Was meinen alten Freund L. Schestoff betrifft, so können seine Arbeiten zwar interessant sein, aber er ist kein Christ, er kommt eher auf den Judaismus zurück, und ist daher nicht ohne Einschränkung
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aufzufassen. Ich wünschte sehr, daß Hans Ehrenberg und Fr. Heiler zur Mitarbeiterschaft herangezogen würden. Ehrenberg hat sich durch die Herausgabe seines „Östlichen Christentums“ bei der russischen Orthodoxie verdienstlich gemacht und es wäre peinlich ihn in solch einem Unternehmen gänzlich zu ignorieren. Er hat starke Fühlung mit der Orthodoxie. Auch Heiler hat diese Fühlung in starkem Maße, und strebt zur oekumenischen christlichen Einheit. Höchst erstrebenswert ist es Schmiedhauser zur Mitarbeiterschaft zu überzeugen. Sehr wichtig ist es die Stellungnahme zum Katholizismus festzustellen. Ich lege großen Wert auf eine wohlwollende Einstellung zur katholischen Welt, was natürlich die Möglichkeit einer Kritik der offiziellen katholischen Politik und Theologie nicht ausschließt. Es wäre sehr zu wünschen, daß Katholiken mitarbeiten an der Zeitschrift, doch fürchte ich, dass dies schwer zu erreichen sein wird. Die Entstehung Ihrer Zeitschrift freut mich sehr. Sie entspricht einem tiefen Bedürfnis der Zeit. Wenn es Ihnen gelingt, sie zustande zu bringen, so wird dies Ihr großes Verdienst sein. Wir müssten zusammenkommen und alles besprechen, am besten in Straßburg, da es für mich schwieriger ist ins Ausland zu reisen, als für euch alle. Schreiben Sie mir, falls ich meinerseits etwas für die Zeitschrift unternehmen soll. Ich habe jetzt einen sehr netten Übersetzer für deutsche Briefe und deshalb kann ich leichter mit Ihnen korrespondieren. […] Als Titel für die Zeitschrift gefällt mir am besten „Orient und Occident“ – Zeitschrift für ökumenische Einheit der christlichen Welt. In herzlicher Freundschaft Ihr N. Berdjajew
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„Barmherzigkeit vor Recht“ Der Einsatz des Walter-de-Gruyter-Verlegers Herbert Cram für den Kriegsverbrecher Oswald Pohl Die Geschäftsführung des Berliner Verlagskonzerns Walter de Gruyter lag von 1923 bis 1967 in den Händen Herbert Crams (1890–1967), dem Schwiegersohn des Unternehmensgründers. Cram, selbst kein NSDAP-Mitglied, sorgte dafür, dass die Firma auch in der Zeit des Nationalsozialismus reüssierte, d. h. er zog durch raffinierte Anpassungsstrategien stets den besten Nutzen aus der jeweiligen Situation. Das betraf nicht nur teils vorauseilende ideologiekonforme Entscheidungen in einigen Bereichen der Programmpolitik, sondern auch den Einsatz von Kriegsgefangenen in der hauseigenen Druckerei, daneben vielfältige Kontakte zu NS-Entscheidungsträgern sowie die Arisierung jüdischen Verlagsbesitzes, um von Marktvorteilen und einer Gewinnsteigerung zu profitieren.1 Nach dem Krieg konnte das Unternehmen unter Crams Leitung fast nahtlos weiterarbeiten, der Verlag erhielt bereits am 3. Oktober 1945 eine der ersten Lizenzen in der britischen Zone.2 Bei der Beurteilung der Persönlichkeit Herbert Crams kommt man in den Verlagsakten nicht an seinem Engagement für den Kriegsverbrecher Oswald Pohl vorbei. Bei Pohl handelt es sich um einen prominenten Fall: Er wurde in den Nürnberger Nachfolgeprozessen zum Tode verurteilt und gehörte zu den letzten Hingerichteten. Bis 1945 hatte er das Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt (WVHA) der SS gleitet, das unter anderem die Konzentrationslager kontrollierte. Damit war Pohl nicht nur einer der wichtigsten Männer der SS und Berater des Reichsführers-SS Heinrich Himmler, sondern er hatte auch die wirtschaftliche Seite des Holocaust verwaltet. Das Engagement Herbert Crams für diesen „Schreibtischtäter“ ging – wie zu zeigen sein wird – sehr weit, obwohl er Pohl kaum kannte. Überhaupt lässt sich auf den ersten Blick keinerlei Verbindung zwischen beiden Männern feststellen. Die Schnittstelle findet sich jedoch im Verlag, da Pohl 1942 die ehemalige Walter-de-Gruyter-Mitarbeiterin Eleonore Pohl, geborene Holtz, heiratete.
1 Vgl. Mienert, Melanie: „Unzeitgemäß wie nur möglich“? Der Verlag Walter de Gruyter im „Dritten Reich“. In: Aus dem Antiquariat (2014) H. 2. S. 61–81. 2 Vgl. Mienert, Melanie: Herbert Cram, Fritz Homeyer und „Der Strick“ – Der Verlag Walter de Gruyter im „Dritten Reich“. In: Saur, Klaus G. (Hrsg.): Verlage im „Dritten Reich“. Frankfurt a. M.: Klostermann 2013. S. 51–60, hier S. 60.
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Die Kaufmannstochter Eleonore wurde 1904 in Davos (Schweiz) geboren. Bald nach ihrer Ausbildung zur Sekretärin fand sie eine Stelle als Schreibkraft beim Verlag Walter de Gruyter in Berlin. Dort fiel der Mitarbeiterin Helene Simon während eines Diktats auf, dass Eleonore ihren Schreibblock mit Zeichnungen ausgeschmückt hatte. Als sie ihrem Kollegen Fritz Homeyer davon berichtete, der das dem Verlag angegliederte Antiquariat leitete, holte er Eleonore in seine Abteilung, um ihr Talent künftig für Werbezettel und Aushänge zu nutzen. Homeyer entwickelte sich im Laufe der Zeit zur Vaterfigur für die künstlerisch begabte Mitarbeiterin. Helene Simon, mit der Eleonore bald eine enge Freundschaft verband,3 ermunterte sie später, sich an der Kunstgewerbeschule in Hamburg einzuschreiben, wofür sie ihre Stelle beim Verlag aufgab. Um finanziell über die Runden zu kommen, bemühte sie sich um freie Aufträge: Unter anderem illustrierte sie das Buch Litauische Märchen und Geschichten 1924 für de Gruyter. In Hamburg lernte Eleonore ihren ersten Mann, den Künstler Karl Maass, kennen; sie heirateten 1927. Finanzielle Engpässe trieben Eleonore dazu, nach Berlin zurückzukehren und bei de Gruyter als Gebrauchsgrafikerin anzufangen, was ihrem Mann missfiel. Die Katastrophe ereignete sich, als Eleonore schwanger wurde und Karl Maass sie daraufhin verließ. Sie versuchte, sich zu erschießen, und verletzte sich schwer; das ungeborene Kind starb. Eleonore stürzte sich aus Verzweiflung in die Arbeit, entwarf Bucheinbände, Prospekte und sogar ein neues Verlagssignet. Im Verlag schätzte man ihr Können und übertrug ihr die künstlerische Leitung der Werbeabteilung. Sie entwickelte sich mehr und mehr zur Schriftkünstlerin, aber kreierte auch ein Konzept für die Schaufensterwerbung in Buchhandlungen. Daraufhin richtete ihr der Verlag sogar eine eigene Werkstatt ein, wo sie für drei Mitarbeiterinnen die Verantwortung trug und in Eigenregie agieren konnte.4 Auf der Karriereleiter oben angekommen, schien Eleonore auch ihr privates Glück gefunden zu haben. Anfang der 1930er Jahre lernte sie den deutlich älteren Ernst Rüdiger von Brüning kennen, Sohn eines der Mitbegründer der Farbwerke Hoechst, und sie heirateten im Juni 1933. Kurz darauf beendete Eleonore ihre Tätigkeit für de Gruyter. Zwei Kinder erblickten das Licht der Welt. 1935 zog die Familie auf das Gutsanwesen nach Brüningsau in Bayern, doch schon bald darauf erfuhr Eleonore einen weiteren Schicksalsschlag: Rüdiger von Brüning starb kurz vor seinem 60. Geburtstag an einer Lungenentzündung. In dieser Zeit stand ihr besonders ihre Freundin Helene zur Seite, die sie mehrmals in Bayern
3 Vgl. Interview der Autorin mit Heilwig Weger am 6.5.2013. 4 Vgl. Schmitz-Köster, Dorothee: Kind L 364. Eine Lebensborn-Familiengeschichte. Berlin: Rowohlt 2007. S. 34–45 sowie Bescheinigung vom 1.9.1948, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz (SBB-PK), Dep. 42/Nr. 210.
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besuchte und dabei auch „von den Verhältnissen in Berlin, den Aufmärschen und der Begeisterung für die Nazis“ berichtete.5 Im Herbst 1936 begann Eleonore eine Affäre und wurde wieder schwanger. Erneut von diesem Mann sitzen gelassen, steckte sie abermals in Schwierigkeiten. Aber auf die Hilfe ihrer Freundin Helene konnte Eleonore nicht mehr hoffen, denn die politische Lage hatte sich dramatisch gewandelt. Helene folgte wegen ihrer jüdischen Herkunft 1938 ihrem Mann und Kollegen Fritz Homeyer, der wenige Monate vorher – nach seinem Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer – bereits nach London emigriert war.6 Eleonore war inzwischen NSDAP-Mitglied geworden.7 Um ihr uneheliches Kind zur Welt zu bringen, ging sie in ein sogenanntes Lebensbornheim in Steinhöring. Dort kam es zu der ihr Leben völlig verändernden Begegnung: Am 26. Dezember 1937 besuchte Heinrich Himmler, Reichsführer-SS sowie Initiator des Lebensbornvereins, Steinhöring und traf dort auch auf Eleonore. Ihr adliger Name und ihre stattliche Erscheinung beeindruckten ihn offensichtlich. Während eines ausgiebigen Gesprächs erfuhr Himmler von Eleonores Schicksalsschlägen und dem Schuldenberg, auf dem sie seit dem Tod Rüdigers von Brüning saß, und ermunterte sie, ihn über ihre künftige Lebenssituation auf dem Laufenden zu halten. Am 18. Februar 1938 brachte Eleonore ihre Tochter Heilwig Hadwiga zur Welt. Als Himmler erfuhr, dass das Mädchen das größte und schwerste Kind war, das je im Heim geboren wurde, schickte er seinen Adjutanten Karl Wolff mit einem Blumenstrauß zu ihr.8 Tatsächlich korrespondierten Eleonore und Himmler bald miteinander; in den Briefen sprach sie ihn mit „Mein lieber und guter Reichsführer“ an. Als die finanzielle Not Eleonore immer mehr zusetzte, wies Himmler, an den sie sich in dieser Angelegenheit gewandt hatte, die Abteilung Wirtschaftliche Hilfe im Persönlichen Stab Reichsführer-SS an, ihre Schulden zu tilgen.9 Außerdem fasste Himmler ins Auge, Eleonore mit einem seiner Mitarbeiter, Oswald Pohl, zusam-
5 Schmitz-Köster, Kind L 364 (wie Anm. 4), S. 45–56. 6 Vgl. Schmitz-Köster, Kind L 364 (wie Anm. 4), S. 58–65. Zu den Umständen, die zu Homeyers Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer und seiner Emigration führten, und Herbert Crams Engagement für das Ehepaar Homeyer vgl. Mienert, Herbert Cram (wie Anm. 2). 7 Vgl. Schmitz-Köster, Kind L 364 (wie Anm. 4), S. 20. 8 Vgl. Schmitz-Köster, Kind L 364 (wie Anm. 4), S. 14, 27f. Vgl. ferner Interview der Autorin mit Heilwig Weger am 6.5.2013. Siehe auch: Koch, Peter-Ferdinand (Hrsg.): Himmlers graue Eminenz. Oswald Pohl und das Wirtschaftsverwaltungshauptamt der SS. Hamburg: Facta Oblita 1988. S. 83–89. 9 Vgl. Schmitz-Köster, Kind L 364 (wie Anm. 4), S. 71f.
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menzubringen – so zumindest die Überlieferung.10 Aus diesem Grund bat er Pohl, Eleonore an seiner Stelle im Frühjahr 1942 zu besuchen. Noch im Dezember desselben Jahres heirateten sie – auf Himmlers ostpreußischer Feldkommandostelle, einer der beiden Trauzeugen war der Reichsführer-SS.11 Pohl adoptierte die uneheliche Heilwig – aus erster Ehe hatte er bereits drei Kinder –, 1944 kam noch eine gemeinsame Tochter zur Welt.12 Oswald Pohl, 1892 in Duisburg geboren, hatte seine militärische Karriere bei der Marine begonnen und war zu dem Zeitpunkt, als Himmler auf ihn aufmerksam wurde, NSDAP-Stadtverordneter im Kieler Stadtparlament. Als Marineoberzahlmeister war Pohl ein Fachmann für Verwaltungsfragen und wurde aufgrund dieser Qualifikation von Himmler 1934 zum Verwaltungschef der SS gemacht, ab 1939 leitete er das SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt. Auch sein Aufstieg innerhalb der SS verlief rasant.13 Pohl zählte zu den engsten Vertrauten des Reichsführers-SS und setzte als treuer Gefolgsmann alle dessen Befehle um. Er besaß, laut Peter-Ferdinand Koch, „eine allseits gefürchtete Autorität“.14 Jan Erik Schulte zufolge war er ein ideologisch motivierter Karrierist, der noch zu den „alten Kämpfern“ der nationalsozialistischen Bewegung gehörte.15 Am Aufbau der SS-Wirtschaft maßgeblich beteiligt, war Pohl mit seinem Amt auch für die Koordination des Arbeitseinsatzes der Häftlinge aus den Konzen trationslagern zuständig, um ihre Arbeitskraft systematisch für SS-Unternehmen auszubeuten. Auch auf die Expansion des Lagersystems und die Arbeitsbedingungen der Häftlinge hatte das Amt maßgeblichen Einfluss, ab 1942 oblag Pohl die Inspektion sämtlicher Konzentrationslager. Inzwischen spielte das WVHA auch für Himmlers Ostsiedlungspolitik eine wichtige Rolle. Pohl war zudem mitverantwortlich für die Erweiterungsbauten im Vernichtungslager Auschwitz und die Verwertung des Besitzes der ermordeten Juden. Das WVHA bündelte nicht nur die wirtschaftlichen Interessen der SS, sondern schuf auch die organisatorischen Voraussetzungen für den Holocaust.16 10 Vgl. Koch, Eminenz (wie Anm. 8), S. 81–94. Vgl. Schulte, Jan Erik: Zwangsarbeit und Vernichtung: Das Wirtschaftsimperium der SS. Oswald Pohl und das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt 1933–1945. Paderborn u. a.: F. Schöningh 2001. S. 40. 11 Vgl. Schmitz-Köster, Kind L 364 (wie Anm. 4), S. 82–87. Vgl. Himmler an von Brüning, 5.10.1942, Bundesarchiv Berlin (BArch), NS 19/495, Bl. 4. 12 Vgl. Koch, Eminenz (wie Anm. 8), S. 95. 13 Aufstieg vom SS-Standartenführer zum General der Waffen-SS im Zeitraum 1934–1942. Vgl. Koch, Eminenz (wie Anm. 8), S. 12, 41, 48, 72. Vgl. Schulte, Zwangsarbeit (wie Anm. 10), S. 32–45. 14 Koch, Eminenz (wie Anm. 8), S. 7. 15 Vgl. Schulte, Zwangsarbeit (wie Anm. 10), S. 32f. 16 Vgl. Tuchel, Johannes: Fall 4: Der Prozeß gegen Oswald Pohl und andere Angehörige des SSWirtschafts-Verwaltungshauptamtes. In: Ueberschär, Gerd R. (Hrsg.): Der Nationalsozialismus
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Währenddessen lebte Pohl mit seiner Frau Eleonore und den Kindern auf Gut Comthurey in der Nähe des Konzentrationslagers Ravensbrück. Tagtäglich waren sie von Häftlingen umgeben, die im Haus, auf dem Hof, den Feldern und im Wald arbeiteten und mit denen die Kinder unbekümmert umgingen17 – von Unwissenheit über das Schicksal der Inhaftierten, wie während des Prozesses und später von Pohl behauptet, kann folglich keine Rede sein. Oswald Pohl hatte bereits 1944 Vorsorge für seine Familie getroffen. Sein persönlicher Referent Leo Volk hatte die Aufgabe, Eleonore mit den Kindern im Frühjahr 1945 nach Bayern zu bringen. Pohl wusste, „daß alliierte Fahnder ihn auf Position sieben der Fahndungsliste gesetzt hatten.“18 Er versteckte sich vor den Alliierten. Leo Volk verriet ihn schließlich – vermutlich weil er sich dadurch selbst ein milderes Urteil erhoffte –, und Pohl wurde in Landsberg am Lech inhaftiert.19 In den Nürnberger Nachfolgeprozessen wurde die Strafsache Pohl im vierten Fall des Verfahrens vor einem US-amerikanischen Militärgericht verhandelt. Die Hauptanklagepunkte der am 13. Januar 1947 eingereichten Anklageschrift lauteten: Begehung von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie die Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen. Pohl plädierte auf „nicht schuldig“. Am 3. November fiel das Urteil: Oswald Pohl wurde zum Tod durch den Strang verurteilt. Die Revision scheiterte; im August 1948 wurde das Urteil gegen ihn bestätigt. Der Prozess gegen die im Verfahren angeklagten „Schreibtischtäter“ war in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit umstritten, weil viele die Vorgehensweise als anmaßende Siegerjustiz empfanden.20 Auch Pohl selbst fühlte sich zu Unrecht inhaftiert und schrieb einem Freund, dass es im Verfahren „unverkennbar und schlecht verholen zum Ausdruck [kam], daß nicht die Ermittlung der Wahrheit, sondern die Vernichtung möglichst vieler Gegner das Ziel der von blindem Haß und offensichtlicher Rachsucht getriebenen Anklagebehörde, in welcher jüdische Vertreter dominierten, gewesen“ sei.21 An dieser Darstellung wird deutlich, dass Pohl noch immer starr in der nationalsozialistischen Denkweise verhaftet war. Er versicherte stetig, dass auf seine Initiative hin „kein einvor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch-Verlag 1999. S. 110–120, hier S. 110–116. Vgl. Schulte, Zwangsarbeit (wie Anm. 10). 17 Vgl. Schmitz-Köster, Kind L 364 (wie Anm. 4), S. 114–122. Interview der Autorin mit Heilwig Weger am 6.5.2013. 18 Koch, Eminenz (wie Anm. 8), S. 28. 19 Vgl. Koch, Eminenz (wie Anm. 8), S. 22–25, 28–32. 20 Vgl. Schmitz-Köster, Kind L 364 (wie Anm. 4), S. 175–178. Koch, Eminenz (wie Anm. 8), S. 165– 167. 21 Pohl an einen Freund, 1.6.1948. Zit. n. Koch, Eminenz (wie Anm. 8), S. 158.
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ziger Jude deportiert oder vernichtet worden“ sei.22 In vollkommener Verklärung sah er sich als Opfer eines Justizirrtums. Nach dem Urteilsspruch setzte seine Frau Eleonore alles daran, das Todesurteil abzuwenden. Sie kümmerte sich darum, dass Pohl weiterhin Kontakte außerhalb des Gefängnisses pflegte und bat Freunde und Bekannte, ihm nach Landsberg zu schreiben.23 Sogar ihre alte Freundin Helene Homeyer, die noch immer im Londoner Exil lebte und erst 1951 nach Deutschland zurückkehrte, begann eine Korrespondenz mit Pohl. Eleonore hielt dies für ein Wunder. Vermutlich hatte jedoch im Hintergrund der Verleger Herbert Cram die Fäden gezogen und auf seine ehemalige Mitarbeiterin Helene Homeyer eingewirkt, denn seine Sekretärin schrieb Eleonore Pohl 1951: „Dass ein Briefwechsel zwischen Frau Dr. h. [sic] [Homeyer, M. M.] und Ihrem Gatten besteht, ist wirklich sehr schön; es ist wohl tatsächlich Herrn Crams Reden gewesen, dass [sic] Frau Dr. H. besiegt hat.“24 Wann genau der Kontakt zwischen Eleonore Pohl, ihrem Mann und Herbert Cram nach Kriegsende zustande kam, lässt sich aus den Akten nicht rekonstruieren. Cram selbst erwähnte in einem Schreiben, dass er aus der Presse von dem Urteil und über Umwege von dem erneuten Schicksalsschlag, der seiner ehemaligen Mitarbeiterin drohte, erfahren habe und sich deshalb mit ihr in Verbindung setzte. Er schrieb: „Aus dem Gebot der christlichen Nächstenliebe und eingedenk des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter habe ich die Frau aufgesucht, um ihre Not ein wenig zu mildern; ich habe aus den verschiedenen Unterhaltungen mit ihr die Überzeugung gewonnen, dass Pohl zu unrecht zum Tode verurteilt worden ist.“25 So kam Cram allein aus dem Gespräch mit der engsten Vertrauten eines Kriegsverbrechers zu einer Unschuldsvermutung und ließ ihm unbesehen der Millionen KZ-Toten seine Nächstenliebe angedeihen. Er sah sich veranlasst, sich in den kommenden Monaten intensiv für Pohl und dessen Begnadigung einzusetzen. Bedeutendstes Zeugnis davon war sein Schreiben an die klageführende Behörde, das Oberste Bundesgericht der USA. Darin bat Cram, dem eingereichten Gnadengesuch stattzugeben und begründete dies folgendermaßen: Die Akten Oswald Pohl sind mir nicht bekannt; den Menschen Oswald Pohl habe ich aber in persönlicher Begegnung und aus Mitteilungen aus der Zeit nach seiner Verurteilung als einen geläuterten Geist von höchster persönlicher Stärke kennengelernt. Wenn Sie Gnade
22 Koch, Eminenz (wie Anm. 8), S. 159. 23 Vgl. Schmitz-Köster, Kind L 364 (wie Anm. 4), S. 172, 183. Herbert Cram versorgte Pohl und seine Mithäftlinge zudem mit Büchern. Vgl. „Ein Bekenntnis Oswald Pohls“, 18.8.1949, SBB-PK, Dep. 42/K 335 Mp 3. 24 Seifert an E. Pohl, 19.1.1951, SBB-PK, Dep. 42/K 335 Mp 3. Siehe dort auch: E. Pohl an Seifert, 5.1.1951; Schmitz-Köster, Kind L 364 (wie Anm. 4), S. 183. 25 Cram an Bundespräsident Heuss, 28.11.1949, SBB-PK, Dep. 42/K 335 Mp 3.
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vor Recht ergehen lassen, wird sie tausendfältige Frucht tragen. […] Frau Pohl war meine langjährige Mitarbeiterin im Verlage Walter de Gruyter & Co. Durch diese Arbeit fühle ich mich ihr zur Hilfeleistung verpflichtet. Ich bin aber auch Mitglied der Bekennenden Kirche Deutschlands und habe wie viele Tausende Deutsche gerade in der Zeit der Gewaltherrschaft Hitlers erfahren, wie im Namen des Rechts Menschen vernichtet wurden, und erfahre weiter, wie in Russland, in Bulgarien und Ungarn im Namen des Rechts ein Gleiches geschieht. In Nürnberg versucht man, einem neuen Recht Geltung zu verschaffen. Über allem liegt menschliche Erkenntnis. Wer will sich vermessen, zu entscheiden, was vor Gott bestehen wird. In schweren Jahren, die hinter uns liegen, haben wir Christen in Deutschland gelernt, zu beten: „vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern“. – Die Bibel lehrt weiter, „liebet Eure Feinde und segnet, die Euch fluchen“ und „liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“. […] Hohes Gericht, eine Frau und 4 unmündige Kinder sind in höchster Not um den Mann, um den Vater; vermehren Sie durch Ihre Entscheidung nicht die Millionen Waisen und Witwen um weitere Unglückliche; üben Sie Barmherzigkeit vor Recht und geben Sie der leidenden Menschheit dadurch Hoffnung auf ein besseres Recht.
Seiner Bitte verlieh der Verlagsleiter zum Abschluss noch einmal mit eindringlichen Worten Nachdruck. Dabei instrumentalisierte er sogar den britischen Verleger Victor Gollancz, der sich als vehementer Gegner des Nationalsozialismus für einen gerechten Umgang der Alliierten mit den Deutschen einsetzte, aber keinesfalls für den Freispruch von Kriegsverbrechern plädierte: Ich spreche heute noch als Einzelner, weiss mich aber eins mit vielen Millionen Deutscher, die unter dem Kriege gelitten haben und im Glauben versuchen für die Besserung der Menschheit zu wirken. Ich appelliere an Ihren Willen zum Kampf um die Menschlichkeit, deren vornehmster Vertreter wohl heutzutage Victor Gollancz ist. Üben Sie Barmherzigkeit und begnaden Sie Oswald Pohl.26
Cram sprach in diesem Brief davon, dass er Pohl kennengelernt habe. Aus mehreren Schreiben geht hervor, dass es 1944 zu einem persönlichen, wenn auch kurzen Aufeinandertreffen gekommen war.27 In einem Brief an den Verleger schrieb Pohl salbungsvoll, dass Crams „unerwarteter Besuch in Brüningsau28 […] in mir Seiten angeschlagen [hat], die nicht verklingen wollen.“ Dieser Brief vom August 1949 trägt die Überschrift „Ein Bekenntnis Oswald Pohls“.29 Ausführlich schilderte der 26 Cram an das Oberste Bundesgericht der USA, 3.5.1949, SBB-PK, Dep. 42/Nr. 210. 27 Vgl. Cram an Bundespräsident Heuss, 28.11.1949 sowie „Ein Bekenntnis Oswald Pohls“, 18.8.1949, SBB-PK, Dep. 42/K 335 Mp 3. 28 Dass das Treffen in Brüningsau stattgefunden hat, ist laut Aussage Heilwig Wegers, Pohls Adoptivtochter, unwahrscheinlich. Damals lebte die Familie auf Gut Comthurey in Brandenburg. Interview der Autorin mit Heilwig Weger am 6.5.2013. 29 Dieser Brief liegt zum einen in gedruckter Form vor. Die Anrede des Empfängers des Schreibens erfolgt ohne Namensnennung: „Sehr verehrter Herr Dr. […]!“ Zum anderen existiert in den Verlagsunterlagen das gleiche Schreiben als Schreibmaschinen-Abschrift. Hier steht in der Anrede
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Schreiber darin seine Geschichte in Bezug auf seinen Werdegang bei der SS sowie seine Meinung über die Verurteilung der „sogenannten Kriegsverbrecher“. Er habe nach 1942 in seiner Position, mit der Lenkung des Arbeitseinsatzes der KZInsassen betraut, in Berlin „den Ereignissen draußen so fern [gestanden], daß ich die Ungeheuerlichkeiten niemals für möglich gehalten habe, wie sie mir in Einzelheiten nach 1945 bekannt geworden sind.“ Mit der tatsächlichen Ausführung irgendwelcher Anordnungen habe er als „militärischer Wirtschafter“ nichts zu tun gehabt. Lediglich seine Begeisterung für den Nationalsozialismus und eine allgemeine Mitverantwortung an der misslichen Lage Deutschlands gestand er ein: Ich bekenne aber ebenso freimütig, daß ich mich weit von jenen Vielen Allzuvielen distanziere, die höhere und weit einflußreichere Stellungen als ich im versunkenen Regime bekleidet haben und die sich heute gebärden wie neugeborene Kinder. Ich bekenne freimütig, daß ich mich dem Nationalsozialismus begeistert ergeben hatte, weil ich durch ihn die Befreiung meines Vaterlandes von unwürdigen Fesseln und die Wiedergewinnung seiner Größe erhoffte […]. Da ich Nationalsozialist war, bekenne ich mich auch mitschuldig an dem Unglück, das diese politische Doktrin über unser Land gebracht hat. […] Ich verzichte daher bewußt auf „Mildernde Umstände“, weil mir das die Achtung vor mir selbst und mein Stolz verbieten.30
Dieses Teilgeständnis verfehlte seine Wirkung bei Herbert Cram anscheinend nicht, zumindest erschien es ihm zwei Jahre später geeignet, um der Öffentlichkeit den Menschen hinter dem Kriegsverbrecher Oswald Pohl näherzubringen und zu erreichen, dass sich Widerstand gegen die Vollstreckung des Todesurteils formierte. Dazu ließ er es in Form eines Artikels drucken, den er mit einem Anschreiben an 75 Zeitungen sandte mit der Bitte, das Dokument zu veröffentlichen.31 Lediglich eine Reaktion auf diesen Aufruf ist in den Akten überliefert. Karl Korn, Journalist und Mitbegründer der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, begründete in seinem Antwortschreiben ausführlich, warum er der Bitte Crams auf Veröffentlichung des Dokuments nicht nachkommen könne: So schrecklich die private menschliche Situation Pohls auch sein mag, ich glaube nicht, dass man diese im juristischen Sinne unerheblichen Äusserungen der Zeitung und damit der Öffentlichkeit übergeben darf. Die Verwirrung würde nur noch grösser. Was wohl müssen die wenigen Angehörigen der sechs Millionen Opfer der Konzentrationslager denken und empfinden, wenn ihnen jetzt ein Pohl erklärt, er habe von der Massenvernichtung „Sehr verehrter Herr Dr. Cram!“, wobei versucht wurde, den Namen Cram hier sowie im restlichen Text unkenntlich zu machen. „Ein Bekenntnis Oswald Pohls“, 18.8.1949, SBB-PK, Dep. 42/K 335 Mp 3. 30 „Ein Bekenntnis Oswald Pohls“, 18.8.1949, SBB-PK, Dep. 42/K 335 Mp 3. 31 Vgl. Charlotte Seifert an E. Pohl, 16.2.1951, SBB-PK, Dep. 42/K 335 Mp 3.
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und Kadaververwertung und all dem Schrecklichen nichts gewusst, er habe verwaltet und damit basta. […] Mich hat, um es ehrlich zu sagen, diese Abwesenheit jeglichen Bewusstseins davon, dass Pohl eine der repräsentativsten Figuren des Schreckenssystems war, tief deprimiert. […] Aber so viel habe ich im Krieg gewusst über die Zustände in den Konzentrationslagern, dass dort unter grauenvollen Verhältnissen in Massen gestorben und gequält wurde und dass das Gold der Gebisse und die Haare der unglücklichen Opfer industriell „verwertet“ wurden. Das soll Pohl nicht gewusst oder doch geahnt haben? Und er soll nie das Bedürfnis gehabt haben, diesen Dingen nachzugehen?32
Die klar begründete Absage des Journalisten wäre geeignet gewesen, Cram von der Unverfrorenheit seines Ansinnens zu überzeugen. Doch auch in seiner Ant wort blendete Cram die von Korn vorgebrachten Argumente aus, obwohl ihm erschreckende Berichte von Heimkehrern aus den Konzentrationslagern durchaus bekannt waren, wie ein Brief an Eleonore Pohl belegt.33 Stattdessen vertrat er den Standpunkt, dass die bisherige Berichterstattung in den Zeitungen wenig objektiv gewesen sei und dass auch Korn „nur unter dem Einfluss der gesamten politischen Atmosphäre urteilen“ könne. Pohl stehe zu seinen Taten und wolle dafür „eine gerechte Sühne tragen“. Ihm, Cram, gehe es allein darum, zu verhindern, dass möglicherweise ein Urteil vollstreckt werde, bei dem sich im Nachhinein herausstellt, dass es sich um einen Justizirrtum handele.34 Bereits 1949 hatte der Verlagschef seinem Bruder Ralph in New York geschrieben, dass er fest davon überzeugt sei, dass Pohl „zu den sauberen und anständigen Charakteren gehört, die in der Lage sind, Deutschland wieder aufzubauen und dem Weltfrieden zu dienen; seine Hinrichtung wäre ein Unrecht, das vor Gott nicht zu verantworten wäre.“35 Ob Cram tatsächlich an Pohls Unschuld und Nichtwissen über Kriegsverbrechen glaubte? Zumindest spiegeln seine Argumentationen den vorherrschenden Zeitgeist: Der Täterkreis wurde minimiert, viele hohe Funktionsträger behaupteten, nichts von den NS-Verbrechen gewusst zu haben.36 Persönliche Gefälligkeiten wurden gerne zu angeblichen Widerstandsaktivitäten stilisiert, auch Pohl hatte solche Geschichten vorzuweisen und versuchte, sie für seine Entlastung zu nutzen:37 Annemarie Jaques, verheiratet Sieg, hatte bei Pohls Frau Eleonore im Atelier gearbeitet, beide waren gut befreundet. Annemaries Urgroßmutter war Jüdin, sie demnach „Mischling 2. Grades“ und somit eigentlich ungefährdet. Als 32 Karl Korn an Cram, 19.2.1951, SBB-PK, Dep. 42/K 335 Mp 3. 33 Vgl. Cram an E. Pohl, 26.1.1950, SBB-PK, Dep. 42/K 335 Mp 3. 34 Cram an Korn, 22.2.1951, SBB-PK, Dep. 42/K 335 Mp 3. 35 Abschrift aus einem Brief Crams an Ralph Cram in New York, 21.6.1949, SBB-PK, Dep. 42/K 335 Mp 3. 36 Vgl. Schildt, Axel u. Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart. München: Hanser 2009. S. 137. 37 Vgl. Schmitz-Köster, Kind L 364 (wie Anm. 4), S. 144.
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ihre Eltern 1944 jedoch von der Gestapo den Befehl zur unmittelbaren Räumung ihrer Wohnung erhielten, wandte sich Annemarie an Eleonore, welche wiederum ihren Mann um Hilfe bat. Der Befehl wurde rückgängig gemacht und die Eltern Annemaries erhielten falsche Papiere.38 Bei einer anderen Gelegenheit befreite Pohl angeblich einen seiner Abteilungsleiter aus den „Gestapo-Klauen“.39 Vermehrt war Pohls Religiosität und Glaubensbekenntnis Gegenstand von Diskussionen um seine Person sowie Inhalt zahlreicher Briefe zwischen Herbert Cram und Eleonore Pohl. 1936 war Pohl aus der evangelischen Kirche ausgetreten,40 1950 wurde er als Konvertit in die katholische Kirche aufgenommen. Unter dem Titel Credo. Mein Weg zu Gott publizierte Pohl unter der Herausgeberschaft von Karl Morgenschweis, dem katholischen Seelsorger im Landsberger Gefängnis, sogar sein Bekenntnis zum Christentum. Das Dokument erschien mit kirchlicher Druckerlaubnis in einer Auflage von 9.000 Exemplaren,41 ist ein Zeugnis, wie sich die deutschen Kirchen unter anderem für die Begnadigung von Nationalsozialisten einsetzten, und bietet auch heute noch Anlass zur Kontroverse. Der Historiker und Holocaust-Forscher Anton Posset vermutet, das Buch sei nicht allein von Pohl, sondern unter Mithilfe diverser Geistlicher verfasst worden, da „es sich um ein Werk aus einer theologisch erfahrenen Feder handelt“.42 Bemerkenswert ist außerdem, dass die Schrift keinerlei Reue in Bezug auf seine Verbrechen im „Dritten Reich“ beinhaltet. Mit dem Buch versuchte Pohl, Sympathien zu gewinnen. Gleichzeitig setzte sich sein amerikanischer Anwalt Frederick Wiehl, selbst römisch-katholischen Glaubens, beim Vatikan dafür ein, dass Pohl im Februar 1951 der letzte Segen erteilt werde – der Hinrichtungstermin stand kurz bevor. Dies geschah auch, was einen Skandal auslöste. Der Heilige Stuhl zog seinen per Telegramm erteilten Segen kurze Zeit später mit der Begründung zurück, dass man nicht gewusst habe, dass es sich um den Kriegsverbrecher Pohl handle. Wiehl bezeichnete die Vorgehensweise des Vatikans als ein Ausweichen aus rein politischen Gründen und verstieg sich zu dem bizarren Vergleich, dass auch Jesus unter falscher Anklage zum Tode verurteilt worden sei.43 38 Vgl. Schmitz-Köster, Kind L 364 (wie Anm. 4), S. 143f. Interview mit Heilwig Weger am 6.5.2013. Siehe auch: Lore Holtz an Seifert, 29.6.1955, SBB-PK, Dep. 42/Nr. 480; Koch, Eminenz (wie Anm. 8), S. 148. 39 Koch, Eminenz (wie Anm. 8), S. 148. 40 Vgl. Koch, Eminenz (wie Anm. 8), S. 62. 41 Vgl. Posset, Anton: Der Priester und der SS-General. Die Bekehrungsgeschichte des Oswald Pohl. In: Landsberg im 20. Jahrhundert. Bürgervereinigung Landsberg (1993) H. 1. S. 20–24, hier S. 21, 24. 42 Posset, Der Priester (wie Anm. 42), S. 21, 23. 43 Vgl. Frederick Wiehl an das Zentralbüro des Vatikans, 30.3.1951, SBB-PK, Dep. 42/K 335 Mp 3.
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Cram versuchte alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um Eleonore Pohl und ihrem Mann zu helfen. Dabei nutzte er jegliche Kontakte, die ihm zur Verfügung standen. Unter anderem bat er den Bundespräsidenten Theodor Heuss um Hilfe, wobei er alte Beziehungen zum Verlag und zum Kreis um den Liberalen Friedrich Naumann erwähnte, dem auch Walter de Gruyter nahegestanden hatte. Er appellierte an Heuss’ Menschlichkeit: „Helfen Sie mir, helfen Sie einer Mutter mit 4 Kindern, das Leben ihres Mannes und Vaters zu erhalten, der meines Erachtens zu unrecht durch die amerikanische Militärregierung in Nürnberg zum Tode verurteilt worden ist.“ Cram ersuchte den Bundespräsidenten, mit dem Hohen Kommissar für Deutschland zu sprechen und diesen zu bitten, das eingereichte Gnadengesuch in den USA zu unterstützen. Er selbst kenne Pohl: Er sei „ein grundanständiger Charakter, der einer unmenschlichen Handlung nicht fähig ist“. Und weiter: Seine Frau war unsere langjährige künstlerische Mitarbeiterin in unserer Werbeabteilung. Wir haben ihr nach ihrer Heirat mit Pohl zunächst schwere Vorwürfe gemacht, dass sie einen SS-Brigade-General heiraten konnte. Sie konnte uns aber schon damals davon überzeugen, dass ihr Mann mit den politischen Morden nichts gemein hatte und sie auch ablehnte. Bezeichnend für die damalige Unterhaltung war auch die Bemerkung von Frau Pohl, dass in nächster Nähe ihres Wohnsitzes in Mecklenburg ein Lager für Bibelforscher war, für dessen Insassen Frau Pohl sich nach Kräften und mit Unterstützung ihres Mannes einsetzte, um wenigstens unmenschliche Härten zu vermeiden.44
Dass Cram den Aussagen seiner ehemaligen Mitarbeiterin blind vertraute, selbst völlig uninformiert war oder absichtlich infame Fehlurteile platzierte, offenbart die beschriebene Unterstützung der Insassen des „Lagers für Bibelforscher“. Tatsächlich waren im KZ Ravensbrück vor allem Frauen inhaftiert, darunter auch Zeugen Jehovas. Das angebliche Engagement Pohls für eine Verbesserung der Lebensbedingungen in den Konzentrationslagern hatte auch sein Verteidiger als entlastendes Argument im Prozess angeführt. Die Anklage konnte aber mithilfe zahlreicher von Pohl unterschriebener Erlasse das Gegenteil beweisen.45 Die Antwort Heuss’ auf Crams Brief fiel ernüchternd aus. Er schrieb, dass er mit dem Hohen Kommissar John McCloy in einem Gespräch die Frage der in Landsberg einsitzenden verurteilten Kriegsverbrecher angeschnitten habe, inzwischen sei die Angelegenheit aber an das Bundesjustizministerium übergegangen. Es sei möglich, dass im Zusammenhang mit den deutschen Amnestiebemühungen eine Neuverhandlung bzw. Neubehandlung der Nürnberger Urteile aufseiten der Amerikaner angestoßen werden könne. „Eine individuelle Aktion zu Gunsten des Herrn Pohl zu unternehmen“, sei Heuss zeitlich aber nicht möglich und könne 44 Cram an Heuss, 28.11.1949, SBB-PK, Dep. 42/K 335 Mp 3. 45 Vgl. Tuchel, Prozeß (wie Anm. 16), S. 114.
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zudem für Verwirrung sorgen. Das von Cram eingesandte Material habe er an den Bundesjustizminister weitergeleitet – mehr könne er nicht tun.46 Tatsächlich setzten sich nach der Urteilsverkündung die Kirchen, zahlreiche Politiker der jungen Bundesregierung und Einzelpersonen in teils vehementer, drohender Art und Weise für die Begnadigung der Verbrecher ein. Sie forderten dazu auf, einen Schlussstrich zu ziehen, was dem Konsens in weiten Teilen der Öffentlichkeit entsprach. Unter diesem Druck rang sich McCloy Ende Januar 1951 dazu durch, viele der im Rahmen der Nürnberger Kriegsprozesse gefällten Urteile abzuwandeln. Zahlreiche Gefangene wurden daraufhin entlassen und die meisten Todesurteile in Haftstrafen umgewandelt. Sieben Todesurteile blieben bestehen, darunter jenes von Oswald Pohl.47 Daraufhin lobte die Presse zwar die Sorgfalt der amerikanischen Repräsentanten, doch kritisierte sie gleichzeitig die restlichen bestehenden Todesurteile. Genauso versuchte die Bundesregierung auf inoffiziellem Weg weiterhin, eine Begnadigung zu erwirken. „Der Fall dieser sieben Todesurteile ist zu einer großen nationalen Angelegenheit geworden“, schrieb Marion Gräfin Dönhoff seinerzeit. Menschen hätten Plakate geklebt, und Traktate seien von Hand zu Hand zirkuliert, in denen die Rede von Gnade und Gerechtigkeit gewesen sei.48 In diesem Duktus wandte sich auch Cram an Eric G. Gration, Mitglied der Hohen Kommission, um ihn davon zu überzeugen, dass das gesprochene Recht im Falle Pohls keines war und demzufolge eine nochmalige Prüfung des Falles unerlässlich sei. Als Begründung gab Cram an, dass es fast unmöglich sei, die Verhältnisse im „Dritten Reich“ korrekt zu beurteilen, wenn man selbst nicht dabei gewesen sei: wir erlebten immer wieder, dass selbst hohe Funktionäre des Staates und der Partei, von denen wir angenommen hatten, dass sie Machtbefugnisse oder Einfluss hätten, in der politischen Zielsetzung häufig machtlos waren. Ich weiss dies aus persönlicher Erfahrung von den Herren im Justizministerium, ich weiss das aus persönlichen Äusserungen des Obersten Richters der Partei, und so ist es auch bei Pohl gewesen, dass [sic] wohl ein Amt verwaltete, aber in politischer Beziehung gegenüber Himmler machtlos war.49
Auch hier ein zeittypisches Argumentationsmuster: Mit dem Verweis auf einen eng begrenzten Handlungsspielraum und die beschränkte Rolle eines bloßen
46 Heuss an Cram, 3.12.1949, SBB-PK (Dep. 42), Briefarchiv. Heuss, Theodor [Gr]. 47 Vgl. Wilmes, Annette: Die Begnadigungen. Die Nürnberger Prozesse, 17.11.2005. http://www. dradio.de/dkultur/sendungen/1945/438890/ (13.5.2013). 48 Dönhoff, Marion Gräfin: Todesurteile und Drohbriefe. Das Echo auf Landsberg im Inund Ausland. In: Die Zeit, 8.3.1951. http://www.zeit.de/1951/10/todesurteile-und-drohbriefe (30.4.2016). 49 Cram an Gration, 12.3.1951, SBB-PK, Dep. 42/K 335 Mp 3.
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Befehlsempfängers wurde maßgeblich beteiligten Mitverantwortlichen eine Opferrolle zugesprochen.50 In einem letzten Akt – und mit geradezu peinlich anmutender Vehemenz – appellierte Cram im Mai 1951 schließlich direkt an den Hohen Kommissar McCloy: Weite Kreise des deutschen Volkes erwarten Ihren persönlichen Einsatz dass die Landsberger Todesstrafen nicht vollstreckt wird [sic] da diese gegen jede christliche und rechtliche Empfinden verstoßen und nicht geeignet sind Ihre Befriedungsbestrebungen zu fördern [sic] Der Vollzug der Todesstrafe ist nach unserer Auffassung kein Ruhmesblatt in der Geschichte des amerikanischen Volkes.51
Pohl wurde am 7. Juni 1951 in Landsberg hingerichtet. Herbert Cram äußerte sich „tieferschüttert“ und sprach Eleonore Pohl und ihren Kindern sein herzlichstes Beileid aus.52 Auch nach der Vollstreckung des Todesurteils blieb Eleonore Pohl, die nun vermehrt im Briefkopf ihren Künstlernamen Lore Holtz verwendete, mit Herbert Cram und dessen Sekretärin Charlotte Seifert in Kontakt. Sie berichtete von den bescheidenen Verhältnissen und den Sorgen: „Ich lebe hier mit 2 Töchtern auf einer Bude mit Betten übereinander“53. Was die Tätigkeit für de Gruyter betraf, so arbeitete Eleonore Pohl nach 1950 nicht mehr für den Verlag, interessierte sich aber weiterhin für bestimmte Projekte. Ein besonderes Anliegen blieb ihr das Verlagssignet. Noch 1955 erzählte Pohl davon, dass sie vorhabe, das Signet umzuändern, welches sie vor 30 Jahren für de Gruyter entworfen habe.54 Davon sind keine Entwürfe überliefert. Was das Handeln des Verlegers Herbert Cram im Fall Oswald Pohls betrifft, mutet es aus heutiger Sicht unverständlich an. Unter völliger Ausblendung der im Prozess bewiesenen Mitverantwortung Pohls am Holocaust sah der Verlagsleiter nur den Menschen, Familienvater und Ehemann der ehemaligen Verlagsmitarbeiterin Eleonore Pohl. Besonders empfänglich muss Cram für Pohls Hinwendung zum christlichen Glauben gewesen sein. Denn bei all der Hilfe, die der Verleger für die Pohls leistete, spielte zweifelsohne sein eigener starker Glaube eine Rolle, der sich in seinen Äußerungen über die durchgängig präsenten Motive 50 Vgl. Schildt/Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte (wie Anm. 36), S. 135–137. 51 Cram an McCloy, 24. oder 25.3.1951, SBB-PK, Dep. 42/K 335 Mp 3. 52 Cram an E. Pohl, 7.6.1951, SBB-PK, Dep. 42/K 335 Mp 3. 53 Lore Holtz an Seifert, 28.2.1953, SBB-PK, Dep. 42/Nr. 480. Eine Tochter, das gemeinsame Kind mit Oswald Pohl, gab Eleonore 1953 in eine Nervenheil- und Forschungsanstalt. Vgl. Holtz an Seifert, 4.3.1953, SBB-PK, Dep. 42/Nr. 480. Sie wurde vermutlich mit einem Hirnschaden geboren und starb 1970 im Alter von 27 Jahren an einer Lungenentzündung. Vgl. Schmitz-Köster, Kind L 364 (wie Anm. 4), S. 241. 54 Vgl. Lore Holtz an Seifert, 29.6.1955, SBB-PK, Dep. 42/Nr. 480.
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der Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Vergebung offenbart. Diese persönliche Richtschnur lässt sich durchweg in der Biografie des Verlegers feststellen. Seine tiefe Loyalität zu von ihm geschätzten Mitarbeitern hatte er auch zu einem früheren Zeitpunkt schon unter Beweis gestellt: So hatte er dem Ehepaar Homeyer 1936 geholfen und seine Mitarbeiterin Helene Homeyer trotz ihrer jüdischen Abstammung vor den maßgeblichen Stellen verteidigt. Den Ausschluss ihres Ehemannes aus der Reichsschrifttumskammer hatte er dadurch allerdings nicht verhindern können.55 Herbert Crams Engagement für den Kriegsverbrecher Oswald Pohl spiegelt in seiner Argumentation und Vehemenz die vorherrschende öffentliche Meinung und Atmosphäre in der Nachkriegszeit exemplarisch wider. Es entsprach dem Zeitgeist, die Rechtsprechung der Alliierten in Zweifel zu ziehen, sich für eine Schlussstrich-Politik einzusetzen und Massenmörder unter apologetischen Vorwänden von ihrer Schuld freizusprechen. Warum Cram die Familie Pohl aber letztlich derart umfangreich unterstützte, muss auch in einer besonderen Verbundenheit mit seiner ehemaligen Mitarbeiterin zu suchen sein, über deren Ausmaß sich nur spekulieren lässt. Naheliegend wäre auch, dass der Verlag Walter de Gruyter in Kriegszeiten von der Position Oswald Pohls profitierte, dies ist aber nicht überliefert.
55 Vgl. Mienert, Herbert Cram (wie Anm. 2), S. 58.
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„Die Tore nach draußen aufstoßen“ Das gemeinsame Ringen des Henschelverlags und Rudolf Leonhards um die Herausgabe moderner französischer Dramatik in der SBZ Wie weltoffen ein verlegerischer Neuanfang nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland sein konnte, dokumentiert eine Serie von Briefen, die sich im Nachlass des Autors Rudolf Leonhard befinden. Von August 1946 bis Ende 1948 stand der in Paris lebende Schriftsteller im regen Austausch mit dem neu gegründeten Ostberliner Verlag Bruno Henschel und Sohn. Grund für die Kontaktaufnahme vonseiten der Theatervertriebsabteilung waren anfangs nicht, wie zu vermuten gewesen wäre, Leonhards eigene Dramen. Der Verlag wollte den Autor vielmehr als Vermittler für französische Dramatik einspannen. Erst nachdem er seine Unterstützung zugesagt hatte, sollten auch seine eigenen Theaterstücke Gegenstand von Verhandlungen werden. Die Korrespondenz für den Verlag führte hauptsächlich Harald Henschel, der nach Abitur, Kriegsdienst und -gefangenschaft Ende September 1945 nach Berlin zurückgekehrt war, um dort gemeinsam mit seinem Vater einen Verlag zu gründen (Abb. 1). Der junge Verleger, der ursprünglich einmal Medizin hatte studieren wollen und nun Leiter der Abteilung Buchverlag im väterlichen Unternehmen war,1 stürzte sich nach Jahren der literarischen Abschottung im Nationalsozialismus mit Vorliebe auf die aktuelle französische Literatur, in der Hoffnung, diese dem deutschen Theater- und Lesepublikum zugänglich machen zu können. Ohne Rücksicht auf neue ideologische Konzepte oder Reglementierungen durch die Besatzer fragte er bei Leonhard bedenkenlos und neugierig an, was er „in die Finger“ bekam. Seine Wunschliste vom Januar 1946 zeigt nicht nur, wie gut er über das aktuelle Dramenschaffen des Nachbarlandes informiert war, sie liest sich auch wie das Who’s Who existenzialistischer Dramatik. Henschel favorisierte Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Albert Camus.2 Außerdem hatte er das Gesamtwerk von Romain Rolland im Blick und hoffte auf Vertragsabschlüsse mit 1 Vgl. Harald Henschel (Verlag Bruno Henschel und Sohn): Lebenslauf, 31.1.1946, Landesarchiv Berlin (LAB), C Rep. 120, 3218, Bl. 88. 2 Die Aufstellung enthielt darüber hinaus einzelne Werke der Autoren Paul Claudel, Jean Cocteau, Roger Ferdinand, André Gide und Edmond Rostand. Vgl. Bühnenvertrieb und Verlag Bruno Henschel und Sohn an Rudolf Leonhard, 18.7.1946, Archiv Akademie der Künste Berlin (AdK), Rudolf Leonhard, 831.
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den erfolgreichen Bühnenautoren Jean Anouilh und Jean Giraudoux. In die Kulturpolitik der Sowjets passte keiner dieser Autoren, da diese als Vertreter einer spätbürgerlichen Ideologie aufgrund ihrer vermeintlich destruktiven Haltung und ihrer als formalistisch verschrienen Ästhetik für den gesellschaftlichen Wandel in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) als hinderlich und überholt galten.3 Umso erfrischender lesen sich die Briefe Harald Henschels, die er wohl in der Annahme schrieb, dass mit dem Ende der Naziherrschaft eine neue Phase der kulturellen Offenheit und Freiheit begonnen habe, in der es darum ging, sich möglichst schnell die Rechte an den bedeutendsten internationalen Autoren zu sichern. Im Oktober 1945 gingen Bruno Henschel, der in der Weimarer Republik bereits den Verlag der Volksbühne geleitet hatte, und sein Sohn Harald daran, einen Theatervertrieb aus den vorhandenen Restbeständen des Volksbühnenverlags aufzubauen.4 Sie erhielten im Juni 1946 eine sowjetische Lizenz für die Zeitschrift Theater der Zeit und das Informationsblatt Theaterdienst.5 Um die Buchverlagslizenz kämpfte Bruno Henschel einige Zeit länger, obwohl ihm die sowjetischen Kulturoffiziere schon im Winter 1945/46 ihre Unterstützung dafür zugesagt und sogar einen Kredit zur Verlagsgründung beigesteuert hatten.6 Am 18. Oktober 1947 erteilte die Sowjetische Militäradministration (SMAD) Bruno Henschel endlich die Verlagslizenz mit der Nr. 324.7 Der Verlag blieb bis 1951 als Privatverlag bestehen, bevor ihn Bruno Henschel der SED schenkte. Seither firmierte das Unternehmen unter Henschelverlag Kunst und Gesellschaft.8 Es erweiterte sein Zeitschriftenportfolio deutlich, baute seinen Theatervertrieb aus und publizierte bis zum Ende der DDR als zentraler Verlag der Künste Bücher auf den Gebieten Theater, Film, Musik, Tanz, Bildende Kunst, Ästhetik und Unterhaltungskunst.9 3 Vgl. Berger, Manfred u. a.: Theater in der Zeitenwende. Zur Geschichte des Dramas und des Schauspieltheaters in der Deutschen Demokratischen Republik 1945–1968. Erster Band. Berlin: Henschelverlag 1972. S. 149. 4 Vgl. Galek, Franziska: „Lesedramatik“ im Henschelverlag Kunst und Gesellschaft bis 1990. In: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 18 (2009). S. 245–306, hier S. 246. 5 Chefredakteur beider Zeitschriften wurde Fritz Erpenbeck. Vgl. Lizenz No. 58, 1.6.1946, LAB, C Rep. 120, 3218, Bl. 5. 6 Vgl. Steyer, Elfriede: Am Anfang ein Katajew. In: Wochenpost, 7.2.1975. S. 8. 7 Die Verlagslizenz ist nicht überliefert. Am wahrscheinlichsten ist das Datum dieser Verlagsgeschichte, in Abweichung vom Lizenzenhandbuch. Vgl. Cl. Seifert (Amt für Literatur und Verlagswesen): Bruno Henschel-Verlag Kunst und Gesellschaft – Kurzgefaßte Verlagsgeschichte, 4.7.1953, Bundesarchiv Berlin (BArch), DR 1/1929. 8 Vgl. Misterek, Susanne: Polnische Dramatik in Bühnen- und Buchverlagen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Wiesbaden: Harrassowitz 2002. S. 65. 9 Zur Geschichte des Verlags vgl. Misterek: Polnische Dramatik (wie Anm. 8), S. 63–76, vgl. Galek: Lesedramatik (wie Anm. 4), S. 246–260.
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Abbildung 1: Harald Henschel (um 1952) und Rudolf Leonhard (Anfang der 1950er Jahre). AdK, AdK-O, 7782 sowie AdK, Schriftstellerverband, 2160.
Den Kontakt zum Exilanten Rudolf Leonhard stellte ein Mitarbeiter des HenschelBühnenvertriebs im Juli 1946 her. Leonhard, 1889 in Lissa (Posen) geboren, war seit einer kurzzeitigen Kriegsteilnahme 1914 Pazifist. Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete er als freier Schriftsteller und Lektor in Berlin. Bereits 1927 siedelte Leonhard nach Paris über und wurde nach 1933 zu einem der „energischsten Aktivisten des antifaschistischen Exils und seiner verschiedenen Organisationen in Frankreich“.10 Seit 1939 war er in den Lagern Les Vernet, Les Milles und Castres interniert, bis ihm schließlich 1943 die Flucht gelang. Er lebte bis zum Ende des Kriegs versteckt in Marseille und kämpfte in der Résistance gegen das NaziRegime. Erst 1950 verließ Leonhard Paris und kehrte nach Deutschland zurück. Seinen Wohnsitz nahm er in Ostberlin, wo er Ende 1953 verstarb. Als Mitbegründer des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller im Exil, der seit 1933 in Paris wirkte, und als Kenner der französischen Literatur schien er wie kein anderer „geeignet, die Kontakte zu französischen Autoren zu erweitern“11 (Abb. 1). 10 Emmerich, Wolfgang: Leonhard, Rudolf. In: Neue Deutsche Biographie 14 (1985). S. 251–253, online unter http://www.deutsche-biographie.de/pnd118727559.html (17.1.2016). 11 Reinhold, Ursula u. a. (Hrsg.): Erster Deutscher Schriftstellerkongreß 4.–8. Oktober 1947. Protokoll und Dokumente. Berlin: Aufbau 1997. S. 22.
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Leonhard reagierte schon nach wenigen Wochen auf die Anfrage aus Berlin und sicherte seine Hilfe zu. Zwischen ihm und Harald Henschel entwickelte sich in der Folge ein intensiver und bald auch freundschaftlicher Briefverkehr. Zunächst machte der Verleger, der sich dankbar für die zugesagte Unterstützung zeigte, noch einmal deutlich, worum es ging: wir haben es uns hier mit unserem Verlag zur Aufgabe gemacht, besonders die Tore nach „draussen“, das heisst in Sonderheit nach Frankreich aufzustossen, in der Erkenntnis, dass wir bei den Bemühungen uns selbst in demokratischem Geiste umzuerziehen, besonders an unserem grossen Nachbarn im Westen viel lernen können und wir an diesem auch viel gutzumachen haben.12
Henschel interessierte sich beispielsweise für die Stücke Le Malentendu (Das Mißverständnis) und Caligula von Albert Camus, von denen er „ehrlich restlos begeistert“ gewesen sei, so schrieb er weiter. Letzteres habe ihn in besonderer Weise beindruckt, weshalb er nun hoffte, dass Rudolf Leonhard bei der Erwerbung dieses Stücks für Deutschland behilflich sein könne. Ein kurzer Blick auf eine Theaterkritik Paul Rillas, die anlässlich der Westberliner Inszenierung des Caligula im Rheingau-Theater im Juni 1948 erschien, verrät, wie sehr dieses Werk den kulturpolitischen und ästhetischen Konzepten der SBZ zuwiderlief: Der Fall Camus bleibt beklagenswert; er zeigt, wo heute in Frankreich die Verfallsliteratur hält. Das Drama „Caligula“ ist in der Tat ein Drama der Absurdität. Aber das Absurde liegt darin, daß ein dichterisch begabter Repräsentant der französischen Jugend alle Klarheit und Größe der französischen geistigen Tradition ebenso verleugnet, wie er die Geschichte und den Sinn einer sozialen Entscheidung verleugnet.13
Auf Vertragsabschlüsse hoffte Henschel im Fall von Camus vergebens. Gespielt wurden Caligula und Das Mißverständnis ausschließlich in den drei westlichen Besatzungszonen, etwa an den Bühnen in Wuppertal, Düsseldorf und Hamburg.14 In SBZ und DDR blieben sie bis zuletzt unaufgeführt. Es gelang weder dem Theatervertrieb des Aufbau-Verlags, der neben Henschel bis 1951 der einzige größere Theatervertrieb der SBZ/DDR war, noch dem späteren Monopolisten Henschel, je ein Theaterstück von Albert Camus ins Repertoire zu übernehmen. Als Buchausgabe erschienen die beiden Dramen erstmals 1990 in der Spektrum-Reihe des Verlags Volk und Welt, nachdem man den Nobelpreisträger dort zunächst mit 12 Dieses und das folgende Zitat aus Harald Henschel an Rudolf Leonhard, 26.8.1946, S. 1, AdK, Rudolf Leonhard, 831. 13 Rilla, Paul: Experiment mit der Fäulnis. „Caligula“ von Camus am Rheingau-Theater. In: Berliner Zeitung, 18.6.1948. S. 3. 14 Vgl. Rilla, Experiment (wie Anm. 13).
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Die Pest (1965) und Erzählungen (1974) „salonfähig“ gemacht hatte. Besonders nach seinen antikommunistischen Äußerungen im Zuge des Ungarn-Aufstands 1956 galt Camus in der DDR als nicht publizierbar. Gegenüber den Zensurbehörden „auf die Bedeutung seines Werkes für die französische und internationale Literatur hinzuweisen, reichte deshalb nicht aus“, meint Volk-und-Welt-Lektor Klaus Möckel rückblickend.15 Als zweiter Autor stand Jean-Paul Sartre auf Henschels Wunschprogramm des Jahres 1946, und zwar mit den Stücken Huis clos (Geschlossene Gesellschaft), Les Mouches (Die Fliegen) und Morts sans sépulture (Tote ohne Begräbnis) sowie dem Roman Le Sursis (Der Aufschub). Harald Henschel kannte nur die zwei erstgenannten Werke, war aber der Meinung, „dass beide Stücke ein lebhaftes Echo und eine starke Diskussion beim deutschen Publikum hervorrufen würden.“16 Mit dieser Einschätzung sollte der junge Verleger richtig liegen. Heftige Diskussionen vor allem um Sartres Die Fliegen begannen in der ostdeutschen Presse mit der Erstaufführung in Düsseldorf im November 1947. Sie erreichten ihren Höhepunkt im Januar 1948 mit Jürgen Fehlings Inszenierung am Westberliner HebbelTheater.17 Noch lange bevor es überhaupt zu einer Aufführung der Fliegen in Deutschland kam, schien es, als habe der Henschelverlag diesmal einen großen Wurf gelandet. Der Kurier informierte im Oktober 1946, dass der Bühnenvertrieb Bruno Henschel und Sohn die deutschen Rechte für Sartres Geschlossene Gesellschaft erworben habe, während die Übernahme der Fliegen desselben Autors kurz bevorstehe.18 Gegenüber Rudolf Leonhard vermeldete Harald Henschel etwa zur gleichen Zeit erleichtert, dass man neben diesen beiden Werken auch Tote ohne Begräbnis inzwischen vertraglich gebunden habe, womit die Rechtslage dieser Stücke nun geklärt sei. Er war sich mit Leonhard darin einig, dass „bezüglich der französischen Autorenrechte und der deutschen Übersetzungen ein ausserordentlich grosses Durcheinander“ herrsche und es nicht einfach war, eine Klärung der Rechtsfrage herbeizuführen. Doch Henschel konnte berichten: Es ist uns inzwischen gelungen, da etwas Klarheit zu schaffen und durch die besondere Intervention von Herrn General Hepp von der Groupe Français du Conseil de Contrôle konnte diesbezüglich grundsätzlich eine Wandlung geschaffen werden, sodass die deutschen
15 Möckel, Klaus: Vom Kleinen Prinzen bis zum Zimmer der Träume. In: Barck, Simone u. Siegfried Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDR Verlages Volk & Welt. Berlin: Ch. Links 2003. S. 125–131, hier S. 127. 16 Harald Henschel an Rudolf Leonhard, 26.8.1946, S. 2f., AdK, Rudolf Leonhard, 831. 17 Vgl. Schiller, Andrea: Die Theaterentwicklung in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) 1945 bis 1949. Frankfurt a. M.: Lang 1998. S. 269. 18 Der Bühnenvertrieb Bruno Henschel & Sohn. In: Der Kurier, 16.10.1946. S. 3.
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Verleger die Möglichkeit haben, sich direkt an eine Zentralstelle zu wenden, wenn Sie in Zukunft Autorenverträge abschliessen wollen. Noch ist es jedoch nicht so weit und ich bin daher diesbezüglich noch etwas skeptisch, [w]as den Termin der Realisierung dieser Idee betrifft. Mehr oder weniger wird doch nur private Initiative zum Erfolg führen.19
Den ersten Erfolgsmeldungen folgte schnell Ernüchterung. Von einer abschließenden Klärung der Rechtefrage konnte im Fall Jean-Paul Sartre keineswegs die Rede sein, wie aus der Bitte des Bühnenvertriebsleiters Fritz Schulz an Rudolf Leonhard ein Jahr später hervorgeht: „Bitte auf Sartre einwirken, dass er Orprecht [sic, Oprecht, F. G.] in Zürich veranlasst, uns die Subvertriebsrechte für die ‚Fliegen‘ zu überlassen. Die hiesigen Franzosen haben uns alle möglichen Zusicherungen gemacht, aber Orprecht [sic] selber ist kühl zu uns.“20 Offenbar hatte der Henschelverlag Verträge mit den französischen Vermittlern der Groupe français des Kontrollrats in Berlin abgeschlossen, ohne im Besitz einer entsprechenden Bestätigung des Schweizer Verlegers zu sein, der die Rechte für den deutschsprachigen Raum innehatte. Eine Übernahme besagter Stücke durch Henschel erfolgte trotz der öffentlichen Ankündigung zu keinem Zeitpunkt. Nach den durchweg negativen Kritiken der SBZ-Presse zu den Inszenierungen der Fliegen seit Ende des Jahres 1947, in denen vor allem Sartres „subjektivistische[n] Freiheitsvorstellungen“21 als schädlich eingestuft wurden, schienen weitere Bemühungen des Ostberliner Verlags kaum angebracht. Noch während die Verhandlungen zu den Subvertriebsrechten Sartres liefen, brachte Bühnenvertriebsleiter Schulz im November 1947 einen weiteren Text ins Gespräch. Für das Stück Die ehrbare Dirne wolle der Verlag nun „schrecklich gern“ die Buchveröffentlichungsrechte haben. Gegenüber Leonhard versicherte Schulz: „Wir hätten die Möglichkeit, dieses Buch sofort auszudrucken.“22 Doch auch dieser Versuch verlief im Sande. Erst 1955 konnte der Bühnenverlag erstmals mit Nekrassow ein Werk von Jean-Paul Sartre im Subvertrieb des Rowohlt Verlags übernehmen (Abb. 2).23 Es wurde kurz darauf am 27. Oktober 1956 von Fritz Wisten an der Berliner Volksbühne zur deutschen Erstaufführung gebracht.24
19 Harald Henschel an Rudolf Leonhard, 23.10.1946, S. 1, AdK, Rudolf Leonhard, 831. 20 Fritz Robert Schulz an Rudolf Leonhard, 6.11.1947, AdK, Rudolf Leonhard, 831. 21 Berger, Zeitenwende (wie Anm. 3), S. 146. 22 Fritz Robert Schulz an Rudolf Leonhard, 6.11.1947, AdK, Rudolf-Leonhard, 831. 23 Vgl. Internationale Dramatik im Henschel-Verlag. Angebot 1956. Berlin 1955. S. 87. 24 Vgl. „Gelungene ‚Nekrassow‘-Premiere“. In: Berliner Zeitung, 28.10.1956. S. 2.
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Abbildung 2: Sartre in der DDR. Bühnenmanuskript des Henschelverlags von 1955. AdK, Bibliothek.
Als Buch erschien Die ehrbare Dirne in der DDR erstmals zusammen mit dem Stück Die Fliegen und Nekrassow im Jahr 1956 in 5.000 Exemplaren – allerdings bei Aufbau statt bei Henschel.25 Einen Dramenband mit insgesamt sieben Theatertexten Sartres brachte der Aufbau-Verlag ebenfalls als Lizenzausgabe des
25 Vgl. Druckgenehmigungsakte Jean-Paul Sartre, Die Fliegen, BArch, DR 1/5067, Bl. 202–204.
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Rowohlt Verlags 1967 heraus.26 Klaus Täubert wies in seinem Verlagsgutachten, das er für den Druckgenehmigungsantrag verfasst hatte, deutlich auf die Pro bleme hin, die eine Veröffentlichung von Sartres Thesenstücken mit sich bringe, denn man habe „natürlich keine Veranlassung, in der DDR die existentialistische Philosophie zu propagieren, im Gegenteil.“ Da Sartre aber zu den „repräsentativsten Erscheinungen der zeitgenössischen französischen Literatur“ zähle, könne man „an seinem Werk nicht vorbeigehen.“ Des Weiteren gehöre „Sartre zu jenen Intellektuellen in der westlichen Welt, die unsere potentiellen bzw. tatsächlichen Verbündeten sind.“27 Auch 20 Jahre nach Henschels erstem Versuch, Sartre zu publizieren, mussten sich die Lektoren gute Argumente für die Zensoren zurechtlegen, um eine Veröffentlichung dieser Stücke zu rechtfertigen. Auf die Bühnen der DDR schafften es Die Fliegen und Geschlossene Gesellschaft erst 30 Jahre später. Die Erstaufführung der Fliegen inszenierte Friedo Solter an den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin. Die Premiere fand am 24. Januar 1987 statt.28 Geschlossene Gesellschaft wurde am 18. November 1989 am Deutschen Nationaltheater in Weimar unter der Regie von Frank Schubert erstaufgeführt.29 Dem Henschel-Bühnenverlag gelang es erst mit seinem letzten Vertriebskatalog des Jahres 1990, Sartres Theaterstücke anzubieten. Ein Subvertriebsabkommen mit dem Rowohlt Theater-Verlag machte es möglich.30 Auch an Simone de Beauvoir, von der erstmals 1967 bei Volk und Welt in der DDR mit Das Blut der anderen eine selbstständige Buchpublikation erscheinen durfte, war Harald Henschel schon 1946 interessiert. Der Roman L’Invitée (Sie kam und blieb) war ihm von guten Freunden „sehr warm empfohlen“ worden, ohne dass er bisher Gelegenheit gehabt hätte, ihn selbst zu lesen. Dafür hatte Beauvoirs einziges Theaterstück Les Bouches inutiles (Die unnützen Mäuler) auf ihn „einen sehr guten Eindruck gemacht“: Den etwas geteilten Meinungen über dieses Werk – in Theaterkreisen hält man es verschiedentlich für nicht so wesentlich, dass eine deutsche Aufführung sich lohnen würde – kann ich mich nicht anschliessen, wahrscheinlich schon aus dem Grunde nicht, weil mir das Werk sprachlich sehr zusagt. […] Ich habe angefangen, es zu übersetzen, kann mich aber noch nicht dazu entschliessen, die Arbeit zu beenden.31
26 Darin enthalten waren die Stücke Die Fliegen, Bei geschlossenen Türen, Tote ohne Begräbnis, Die ehrbare Dirne, Der Teufel und der liebe Gott, Nekrassow, Die Eingeschlossenen von Altona. 27 Klaus Täubert: Verlagsgutachten zu Jean-Paul Sartre: Dramen, o. D. [ca. 1966], BArch, DR 1/ 2090, Bl. 31. 28 Vgl. Programmheft Die Fliegen, AdK, Dokfonds-Theater, 1303. 29 Vgl. Programmheft Geschlossene Gesellschaft, AdK, Dokfonds-Theater, 1320. 30 Vgl. Dramatik im Henschelverlag 1990. Berlin: Henschelverlag 1989. S. 150. 31 Harald Henschel an Rudolf Leonhard, 26.8.1946, S. 4, AdK, Rudolf Leonhard, 831.
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Die Rechteinhaber hatte Harald Henschel schon ermitteln können, doch erbat er sowohl zum Roman als auch zum Drama vorab noch eine Einschätzung von Rudolf Leonhard. Wirklich sicher war sich Harald Henschel mit Simone de Beauvoir offenbar nicht. Eine Antwort von Leonhard ist nicht überliefert, sodass die Gründe für das Einstellen der Bemühungen offen bleiben. In der DDR konnte Sie kam und blieb bis zuletzt nicht erscheinen. Gleiches gilt für Die unnützen Mäuler, für die auch keine ostdeutsche Inszenierung nachweisbar ist. Die Existenzialisten Sartre, Camus und de Beauvoir, die der Henschelverlag ganz oben auf seiner Wunschliste hatte, erwiesen sich für das junge Verlagshaus als ungeeignet, um sich im Bereich der aktuellen französischen Theaterliteratur profilieren zu können. Da nützten auch die guten Kontakte zu Rudolf Leonhard nach Paris wenig. Noch in der Rückschau feierte die DDR-Theatergeschichtsschreibung es als großen Erfolg der SED-Kulturpolitik, dass der Existenzialismus wie auch die gesamte spätbürgerliche Moderne in der SBZ kaum Fuß fassen konnten: Vor allem der konsequenten Haltung der marxistischen Theaterkritik, die entschieden gegen „die politischen Auswirkungen des Nihilismus und Subjektivismus dieser Stücke“ gekämpft habe, sei es zu verdanken, dass sich diese Tendenzen nicht gegenüber dem realistischen, humanistischen und vor allem gesellschaftlich verantwortungsvollen Theater durchzusetzen vermochten.32 Als etwas produktiver erwies sich die Verbindung zwischen Leonhard und Henschel im Fall Armand Salacrous (1899–1989). Dieser hatte als erster französischer Dramatiker die filmische Rückblende als Mittel für die Bühne entdeckt, um damit unter anderem die vergeblichen „Bemühungen um Korrektur des Lebens“33 darstellen zu können. In Kombination mit der „Gottverlassenheit“ seiner Figuren nahm Salacrou existenzialistische Ideen bereits vorweg. Aufgrund seiner Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Frankreichs wurde er in der SBZ/DDR dennoch als Gesinnungsgenosse wahrgenommen. Im Henschelverlag war man auf den Autor wiederum durch französische Freunde aufmerksam geworden.34 Die Erde ist rund, ein monologreiches Werk,35 in welchem Salacrou sein Leitthema Theodizee verarbeitete, war das erste Stück, welches Harald Henschel zu lesen bekam und für das er umgehend einen Regisseur vom Deutschen Theater zu interessieren wusste. Allerdings war es auch in diesem Fall nicht ganz einfach, die Rechte zu erwerben. Im Briefverkehr stellte sich alsbald heraus, dass Leonhard mit dem französischen Autor gut befreundet war, sodass Henschel wie-
32 Vgl. Berger, Zeitenwende (wie Anm. 3), S. 153f. 33 Engler, Winfried: Lexikon der französischen Literatur. Stuttgart: Kröner 1974. S. 842. 34 Harald Henschel an Rudolf Leonhard, 26.8.1946, S. 2, AdK, Rudolf Leonhard, 831. 35 Vgl. Engler, Lexikon (wie Anm. 33), S. 842.
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derum auf aktive Unterstützung hoffen konnte.36 Tatsächlich übernahm der Henschelverlag spätestens im Sommer 1947 die beiden Stücke Die Erde ist rund und Die große Liebe in seinen Vertrieb. Anschließend strebte Bühnenvertriebsleiter Schulz danach, die Rechte am gesamten dramatischen Werk Salacrous zu erwerben – und das, obwohl die beiden ersten Stücke noch gar nicht platziert werden konnten. Dazu schrieb Schulz an Leonhard: Besonders das erste Stück [Die Erde ist rund, F. G.] ist wegen der hohen personellen und dekorativen Schwierigkeiten unter Berücksichtigung der heutigen äusseren Umstände, unter denen die deutschen Bühnen arbeiten, nicht leicht anzubringen. Es wird überhaupt noch einer regen propagandistischen Arbeit bedürfen, um Salacrou in Deutschland zur verdienten Anerkennung zu bringen. Dieser Mühe wollen wir uns gern unterziehen und bitten deshalb, unseren Wunsch nach der Übernahme des gesamten dramatischen Werkes bei Salacrou bezw. seinem französischen Verleger zu unterstützen und uns erfüllbare Bedingungen zu erwirken, die uns unsere Arbeit für die Popularisierung Salacrou’s erleichtern. Dass wir mit Eifer und Überzeugungskraft ans Werk gehen, bedarf zwischen uns keiner besonderen Versicherung.37
Schulz war sich indessen bewusst, dass einige frühere Werke des Autors bereits bei anderen deutschen Verlagen unter Vertrag waren und deshalb erwogen werden müsse, ob eine Überleitung auf den Henschelverlag überhaupt möglich sei. Schließlich wandte sich Harald Henschel brieflich an Salacrou, um die Absicht des Verlags kundzutun, die gesamten theatralischen Werke „für Deutschland, nach Möglichkeit auch für Österreich und die Schweiz (in deutscher Sprache)“ mit Option auf alle künftig entstehenden Arbeiten übernehmen zu wollen. Mit einem solchen Generalvertrag, schrieb Henschel, „wäre eine klare Basis gegeben, um Ihre Werke hier in Deutschland in der würdigsten Weise bekannt zu machen und auf den deutschen Bühnen durchzusetzen.“38 Der französische Kulturattaché in Berlin sei über dieses Vorhaben ebenfalls unterrichtet. Nur drei Wochen später konnte Schulz den Gesamtabschluss mit Salacrou vermelden.39 Als gedruckte Bühnenmanuskripte lagen Die Nächte des Zorns etwa 1948 und Boulevard Durand erst 1961 unter Henschels Signet vor. Den Plan, Die Nächte des Zorns, ausgestattet mit einem Vorwort Rudolf Leonhards, in der Dramenfolge Internationale Dramatik zu publizieren,40 musste Harald Henschel nach der Währungsumstellung im Sommer 1948 aufgeben, da sich die Absatzchancen für Dramatik so drastisch verschlechtert hatten, dass er sich dazu gezwungen sah, die ganze Reihe nach 36 Vgl. Harald Henschel an Rudolf Leonhard, 26.8.1946, S. 2, AdK, Rudolf Leonhard, 831. 37 Fritz Robert Schulz an Rudolf Leonhard, 7.8.1947, AdK, Rudolf Leonhard, 831. 38 Harald Henschel an Armand Salacrou, 6.3.1948, S. 1f., AdK, Rudolf Leonhard, 831. 39 Vgl. Fritz Robert Schulz an Rudolf Leonhard, 31.3.1948, AdK, Rudolf Leonhard 831. 40 Vgl. Harald Henschel an Rudolf Leonhard, 1.4.1948, S. 6, AdK, Rudolf Leonhard, 831.
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nur acht Bänden einzustellen.41 Erst 1968 brachte Volk und Welt das Stück im Sammelband Französische Dramen heraus. Zur Aufführung gelangten von Armand Salacrou 1947 das Stück Vertauschte Welten, welches damals allerdings beim Berliner Drei Masken-Verlag unter Vertrag war, sowie zwei Jahre später Nächte des Zorns. Beide Inszenierungen liefen am Schiffbauerdamm-Theater in Ostberlin unter der Regie von Heinrich Goertz, der in Bezug auf Letzteres nach Einschätzung der Kritik vor allem „der schwierigen Technik des Stücks nicht gewachsen“ gewesen sei.42 Das Stück Die große Liebe, welches seit 1946 als Bühnenmanuskript bei Henschel vorlag, wurde im Frühjahr 1948 in Tübingen zur deutschen Erstaufführung gebracht.43 Darüber hinaus konnten keine weiteren Inszenierungen ermittelt werden. Henschel bewarb die Nächte des Zorns nur in seinem ersten Gesamtkatalog von 1956 – ansonsten war Salacrou in den Vertriebs- und Werbematerialien nicht präsent. Somit bleibt fraglich, inwiefern besagter Gesamtvertrag, der im Übrigen in den Archiven nicht überliefert ist, tatsächlich wirksam wurde. Trotz einiger Rückschläge erwarb Bruno Henschel mit seinem Verlag bis 1951 schließlich neben den Stücken Armand Salacrous auch einzelne Werke von Jean Anouilh, Jean-Richard Bloch, Jean Cocteau sowie Charles Vildrac.44 Im Vergleich zum Aufbau-Theatervertrieb konnte sich der Bühnenvertrieb von Bruno und Harald Henschel deutlich als Verlag aktueller französischer Dramatik profilieren. Wenn es auch nicht die Existenzialisten um Sartre und Camus waren, die sie in ihr Repertoire aufnehmen konnten, so vereinten sie doch fast die gesamte „fortschrittliche“ und in der SBZ spielbare französische Theaterliteratur in ihrem Haus. Da sie zunächst keinerlei Erfahrung oder Anhaltspunkte hatten, was in dem neuen Gesellschaftssystem spielbar war und was nicht, mussten sie durch Ausprobieren und Herantasten erst lernen, dass nicht alle modernen französischen Dramatiker tatsächlich erwünscht waren und dass Vertragsabschlüsse mit ausländischen Originalverlegern kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine echte Herausforderung darstellten. Rudolf Leonhard half unterdessen nicht nur dem Henschelverlag bei der Akquise französischer Autoren, sondern ebenso den Verlagen Dietz und Aufbau. Er leistete damit bedeutende Vermittlungsarbeit in einer Zeit, in der sich das Netzwerken in die französische Literaturgesellschaft als eine „äußerst komplizierte Aufgabe“ darstellte, denn die „Vorbehalte gegenüber Deutschland und 41 Vgl. Harald Henschel an Rudolf Leonhard, 22.11.1948, AdK, Rudolf Leonhard, 831. 42 Berger, Zeitenwende (wie Anm. 3), S. 155. 43 Vgl. Harald Henschel an Armand Salacrou, 6.3.1948, AdK, Rudolf Leonhard, 831. 44 Vgl. Verlag Bruno Henschel und Sohn: Die Produktion unseres Bühnenvertriebes, o. D. [ca. 1951], BArch, DR 1/6104.
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seiner Literatur waren in Frankreich noch größer als in anderen ehemals von Deutschen besetzten Ländern.“45 Dies zeigt sich beispielsweise auch in Harald Henschels vergeblichem Bemühen um das Gesamtwerk Romain Rollands. Noch ehe er in Verhandlungen über die Rechte des Nobelpreisträgers ging, versuchte er, im Dezember 1946 Fördermitglied in der Association des Amis de Romain Rolland zu werden. Dieses Ansinnen stellte die Witwe Rollands allerdings mit der Begründung zurück, dass man mit einer Aufnahme noch bis zur Unterzeichnung eines Friedensvertrags warten wolle.46
45 Reinhold u. a., Schriftstellerkongreß (wie Anm. 11), S. 22. 46 Vgl. Harald Henschel an Rudolf Leonhard, 30.1.1947, AdK, Rudolf Leonhard, 831.
Kerstin Schmidt
Das Schicksal des Schweriner Petermänken-Verlags 1947−1964 „Die Übernahme des Petermänken-Verlages in Volkseigentum ist […] gesichert“,1 verkündete Bruno Haid im Juli 1964 Lucie Pflug von der Abteilung Wissenschaften des ZK der SED. Der Leiter der Hauptverwaltung (HV) Verlage und Buchhandel schien sichtlich erleichtert, dass die Auflösung des Verlags schließlich ohne große Komplikationen vonstattengegangen war, hatte sie doch seit Beginn der 1950er Jahre wiederholt auf der Tagesordnung gestanden. Denn seit Jahren lautete die Frage: Petermänken oder Hinstorff? Die Existenz zweier mecklenburgischer Verlage mit fast gleichen Editionsgebieten war der Literaturbehörde ein Dorn im Auge gewesen. Nun aber wurde Petermänken auf den Rostocker VEB Hinstorff Verlag „übergeleitet“. Das Ende des Schweriner Verlags war damit besiegelt, und die Behörde konnte sich neuen Aufgaben widmen. Ins Leben gerufen wurde der Petermänken-Verlag am 18. Juni 1947 in Schwerin. Zu dieser Zeit nannte er sich noch Mecklenburgischer Heimatverlag. Da es jedoch immer öfter zu Verwechslungen mit dem ebenfalls in Schwerin ansässigen Mecklenburger Verlag und dem nicht lizenzierten, zu der Zeit aber noch existierenden Heimatverlag kam, entschlossen sich die Inhaber 1948, den Verlag in Petermänken-Verlag umzubenennen.2 Namensgeber war der legendäre Schweriner Schlossgeist Petermännchen – der Sage nach ein gutmütiger Kobold (Abb. 1). Die Gründung des Petermänken-Verlags ging auf die Initiative Willi Bredels zurück, der ihn in seiner Funktion als Landesvorsitzender des mecklenburgischen Kulturbundes ins Leben rief und ideologisch leitete. Willi Bredel, geboren 1901 in Hamburg, war 1945 aus der sowjetischen Emigration nach Mecklenburg gekommen. Der Schriftsteller und KPD-Funktionär gehörte der von Gustav Sobottka geleiteten Initiativgruppe an, die neben der Gruppe Walter Ulbricht in Berlin und Anton Ackermann in Dresden Anfang Mai 1945 aus Moskau kommend die Durchsetzung der kommunistischen Hegemonie in der Sowjetischen Besatzungszone zum Ziel hatte. Als Instrukteur der KPD war Bredel in Rostock für den Aufbau der Partei zuständig, wo er bis Ende Juli 1945 blieb. Anschließend übernahm er in Schwerin das Amt des Landesleiters des mecklenburgischen Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. 1949 siedelte Bredel nach
1 Bruno Haid an Lucie Pflug, 13.7.1964, Bundesarchiv Berlin (BArch), DY 30/IV A 2/9.04/484. 2 Vgl. Rösler, Reinhard: Autoren, Debatten, Institutionen. Literarisches Leben in Mecklenburg-Vorpommern 1945 bis 1952. Hamburg: von Bockel 2003. S. 168.
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Berlin über, wo er 1962 zum Präsidenten der Deutschen Akademie der Künste gewählt wurde.3 Am 24. Februar 1947 hatte der Mecklenburgische Heimatverlag von der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) eine Lizenz erhalten. Er war damit einer von lediglich fünf Verlagen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in MecklenburgVorpommern zugelassen wurden.4 Die von dem Leiter der Propagandaverwaltung der SMAD in Berlin-Karlshorst, Sergej Iwanowitsch Tjulpanow, unterschriebene Lizenzurkunde war auf Willi Bredel, den Grafiker Herbert Bartholomäus sowie den Reporter Otto Oehmcke ausgestellt und trug die Nummer 185.5 Die Lizenzträger, die sich mit dem Schweriner Domprediger Karl Kleinschmidt, Mitglied der Landesleitung des mecklenburgischen Kulturbundes, zu einer GmbH zusammenschlossen, gründeten am 18. Juni 1947 den Mecklenburgischen Heimatverlag. Laut des Gesellschaftsvertrags betrug das Stammkapital der GmbH 20.000 Mark, wobei sich die Einlagen auf Willi Bredel und Karl Kleinschmidt mit jeweils 6.000 Mark, auf Bartholomäus und Oehmcke mit jeweils 4.000 Mark verteilten. Den größten Geschäftsanteil besaß demnach die Landesleitung des Kulturbundes mit 12.000 Mark. In den folgenden Jahren vergrößerte sich vor allem der Einfluss Willi Bredels, der zuletzt 60 Prozent der Anteile am Geschäftskapital hielt und damit bei Beschlüssen die Mehrheit der Stimmen besaß.6 Aus rechtlicher Perspektive war der Verlag, in dem zu Beginn lediglich drei Mitarbeiter beschäftigt waren,7 ein privates Unternehmen. Da jedoch die Gesellschafter dem mecklenburgischen Kulturbund angehörten, kann man den Petermänken-Verlag auch als Verlag des Kulturbundes sehen.8 Mitglied des mecklenburgischen Kulturbundes war zudem der als Geschäftsführer und Verlagsleiter fungierende Ernst Wähmann. Er gehörte jedoch nicht zu den Gesellschaftern des Verlags. Wähmann, 1904 geboren, hatte mehrere Jahre im Verlagsgeschäft gearbeitet, bevor er 1947 die Leitung des Mecklenburgischen Heimatverlags über-
3 Vgl. Seidel, Jürgen: Bredel, Willi. In: Röpcke, Andreas (Hrsg.): Biographisches Lexikon für Mecklenburg. Bd. 7. Rostock: Schmidt-Römhild 2013. S. 54. 4 Dazu gehörten neben dem Schweriner Verlag der Carl Hinstorff Verlag Rostock, der PeterPaul-Verlag Feldberg (Kinderliteratur), der Musikverlag Schimanke Schwerin (Musikgeschichte, Noten, Volksliederbücher) und der Mecklenburger Verlag Schwerin (sozialpolitische u. belletristische Literatur). Vgl. Rösler, Autoren (wie Anm. 2), S. 153. 5 Vgl. Abdruck der Lizenzurkunde in: Bendig, Ulrike: Die Entwicklung des Verlagswesens in Mecklenburg-Vorpommern zwischen 1945 und 1998. Diplomarbeit im Fachbereich Buch und Museum, HTWK Leipzig 1998. Anhang A18. 6 Vgl. Rösler, Autoren (wie Anm. 2), S. 167f. 7 Vgl. Fragebogen zur Erfassung der Verlage in der sowjetischen Besatzungszone, 3.2.1947, Landeshauptarchiv Schwerin, 6.11-21 Ld. Meckl., MfVobi, Nr. 3087. 8 Vgl. Bendig, Verlagswesen (wie Anm. 5), S. 31.
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nahm.9 Mit ihm hatte sich Willi Bredel einen erfahrenen Fachmann geholt, der sich in den folgenden Jahren um ein anspruchsvolles und attraktives Programm bemühte.
Abbildung 1: Werbung des Petermänken-Verlags mit dem Signet aus dem Jahr 1960. Börsenblatt (Leipziger Ausgabe), Sondernummer Frühjahrsmesse 1960. S. 181.
Wie die Namen „Mecklenburgischer Heimatverlag“ und „Petermänken“ verraten, verstand sich der Verlag hauptsächlich als regionales Unternehmen, das vor allem stofflich und thematisch in Mecklenburg angesiedelte Werke regionaler Autorinnen und Autoren förderte. Zunächst erschienen im Verlag Zeitschriften, darunter 1947 die Demokratische Erneuerung, das Mitteilungsblatt des mecklenburgischen Kulturbundes, später die von Willi Bredel gegründete und geleitete literarische Monatsschrift Heute und Morgen (1947–1954). 1948 folgten erste Buchtitel. Der Schwerpunkt lag dabei auf Belletristik und heimatkundlichen Werken unterschiedlichen Genres. Das gesamte Buchprogramm umfasste Gegenwartsund Erbeliteratur, Kinder- und Jugendliteratur, vereinzelt niederdeutsche Literatur sowie regionalhistorische Buchreihen.
9 Vgl. Rösler, Autoren (wie Anm. 2), S. 166.
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Eine der ersten Buchveröffentlichungen war die 1948 in einer Startauflage von 10.000 Exemplaren herausgegebene Novelle Das Vermächtnis des Frontsoldaten von Willi Bredel.10 In den nachfolgenden Jahren erschienen weitere seiner Werke,11 wovon der Störtebeker-Roman Die Vitalienbrüder mit insgesamt zwölf Auflagen von 1950 bis 1964 der erfolgreichste Buchtitel des Verlags wurde. Neben Willi Bredel prägte die Schweriner Jugendbuchautorin Ann-Charlott Settgast das Profil des Verlags, deren Erzählungen um die historischen Persönlichkeiten Johannes Gutenberg, Hans Sachs und Johannes Kepler sich größter Beliebtheit erfreuten und mehrere Auflagen erlebten.12 Zu den Petermänken-Autoren zählten des Weiteren Hans Schönrock, dessen Indianergeschichte Mein Freund Chinino von 1955 bis 1964 in elf Auflagen herausgegeben wurde und vor allem bei jungen Lesern beliebt war, Alfred Buckowitz, von dem die Erzählbände Tiere und ich von 1952 bis 1963 in neun und Überraschungen mit Tieren von 1956 bis 1964 in acht Auflagen veröffentlicht wurden, sowie Benno Voelkner, dessen historischer Roman Jacob Ow von 1951 bis 1956 vier Auflagen erlebte. Eine Reihe weiterer Autorinnen und Autoren ließe sich an dieser Stelle nennen, doch soll dies als Einblick genügen. Hervorgehoben werden soll noch, dass sich im Erbeprogramm des Verlags auch Namen bedeutender Autoren der Weltliteratur und der deutschen Literatur finden, so zum Beispiel Guy de Maupassant, Leo Tolstoi, William Makepeace Thackeray, Theodor Fontane und Bettina von Arnim. Große Verdienste erwarb sich Petermänken zudem mit regionalhistorischen Buchreihen wie zum Beispiel den Veröffentlichungen des Mecklenburgischen Landeshauptarchives, den Veröffentlichungen des Stadtarchives Stralsund, dem Greifswald-Stralsunder Jahrbuch, herausgegeben unter anderem vom Kulturhistorischen Museum Stralsund, sowie der Reihe Vor- und frühgeschichtliche Denkmäler und Funde im Gebiet der DDR, herausgegeben von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin und dem Museum für Ur- und Frühgeschichte Schwerin. Darüber hinaus erschienen Bildbände und Kalender. Besonders beliebt war der Bildkalender Land am Meer, der jährlich in einer bemerkenswerten Auflage von 30.000 Stück herausgegeben wurde13 und sich nicht nur in Mecklenburg, sondern über die Grenzen der DDR hinaus gut verkaufte.14 10 Vgl. Rösler, Autoren (wie Anm. 2), S. 170. 11 Willi Bredel: Sieben Dichter, 1. Aufl. 1950; Die Vitalienbrüder. Ein historischer Roman für die Jugend, 1. Aufl. 1950; Unter Türmen und Masten. Geschichte einer Stadt in Geschichten, 1. Aufl. 1960. 12 Ann-Charlott Settgast: Meister der schwarzen Kunst. Erzählung um Johann Gutenberg, 1. Aufl. 1954; Schuhmacher und Poet dazu … Roman um Hans Sachs, 1. Aufl. 1954; Weisheit – Narrheit – Gold. Um Johannes Kepler und seine Zeit, 1. Aufl. 1956. 13 Vgl. Rösler, Autoren (wie Anm. 2), S. 171. 14 Vgl. Verlagsprogramm Petermänken 1963. S. 10.
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Wie allen anderen kleineren Verlagen stand auch dem Petermänken-Verlag kein hohes Papierkontingent zur Verfügung – im Jahr 1958 waren es beispielsweise nur 35 Tonnen, 1959 lediglich 30,5 Tonnen.15 Aufgrund des begrenzten Papierkontingentes war die jährliche Buchproduktion des Verlags im Vergleich zu den staatlichen, partei- und organisationseigenen Verlagen auch nicht sonderlich hoch. Der letzte Verlagskatalog verzeichnet in einer Übersicht aller bis 1964 erschienenen Titel etwas mehr als 130 Werke.16 Zählt man die Nachauflagen und alle Bände der vom Verlag herausgegebenen Reihen dazu, kommt man auf ca. 280 Titel, die von 1948 bis 1964 ediert wurden,17 das sind jährlich etwa 16 veröffentlichte Titel. Die Gegenwartsliteratur machte einen beachtlichen Teil der Produktion des Verlags aus, dominierte sie jedoch nicht. Offenbar war eine stärkere Ausrichtung auf diesem Gebiet schwierig, da sich auch der Rostocker Carl Hinstorff Verlag seit 1947 der Pflege dieses Editionsgebietes widmete. Auch wenn das Wort im offiziellen DDR-Sprachgebrauch nicht vorkam, kann man sagen, dass Petermänken und Hinstorff von Beginn an in Konkurrenz zueinander standen. Ebenso wie der Petermänken-Verlag hatte sich auch der Carl Hinstorff Verlag auf die Gebiete Belletristik und Heimatliteratur spezialisiert. Anders als Petermänken war Hinstorff jedoch keine Neugründung, sondern ein Verlag, der auf eine lange Geschichte zurückblicken konnte. Der Inhaber des Carl Hinstorff Verlags, Peter E. Erichson, geboren 1881 in Schwedt an der Oder, hatte die im 19. Jahrhundert von Detloff Carl Hinstorff in Rostock gegründete Druckerei 1907 erworben und nach dem Ankauf einer Ludwigsluster Verlagsfirma Mitte der 1920er Jahre ein Verlagsgeschäft unter dem Namen Carl Hinstorffs Verlag in Rostock begründet. Spezialisiert hatte sich der Verlag in dieser Zeit hauptsächlich auf wissenschaftliche Reihen, Sachbücher und Zeitschriften aus den Bereichen Landwirtschaft, Rechtswissenschaft sowie Kunst- und Kulturgeschichte. Erst nach der Wiedereröffnung des Verlags nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Schwerpunkt auf Belletristik und Heimatliteratur gelegt. Aufgrund der fast gleichen Editionsgebiete von Hinstorff und Petermänken kam es häufig zu Überschneidungen, was der Literaturbehörde im Begutachtungsverfahren immer wieder Schwierigkeiten bereitete. In beiden Verlagen erschienen beispielsweise Titel, wenn auch unterschiedliche, von Fritz MeyerScharffenberg und Käthe Miethe, zwei bekannten Schriftstellern aus dem Bereich 15 Vgl. Planvorschlag 1960 Sektor Schöne Literatur, Abt. Literatur u. Buchwesen, 20.4.1959, BArch, DR 1/7794. 16 Vgl. Verlagsprogramm Petermänken Herbst 1964. 17 Ausgezählt anhand des Verleger- und Institutionenkataloges (VK) der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) in Leipzig, Petermänken-Verlag, Schwerin. Nicht mitgezählt wurden Zeitschriften und Kalender.
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der zeitgenössischen mecklenburgischen Heimatliteratur, sowie Bücher von und über Fritz Reuter, einem der meistgelesenen niederdeutschen Dichter des 19. Jahrhunderts. In den Nachkriegsjahren hatte man es zwar mit Absprachen versucht – so wollte sich Hinstorff auf Schöne Literatur und Petermänken auf den heimatkundlichen Bereich spezialisieren –, wie sich der Petermänken-Lektor und Autor Hermann Glander erinnerte,18 doch konnte man sich nicht auf eine Schwerpunktsetzung innerhalb des Verlagsprogramms einigen. So widmeten sich beide Verlage weiterhin heimatkundlicher und belletristischer Literatur, obgleich die stärkere Orientierung auf den Bereich der Gegenwartsliteratur für den Petermänken-Verlag schwierig blieb.19 Dass zwei norddeutsche Verlage mit fast gleichen Editionsgebieten nicht dauerhaft nebeneinander bestehen konnten, sollte sich bald zeigen. Bereits 1951, im Zuge der sogenannten Neulizenzierung der Verlage, hatte die Frage Petermänken oder Carl Hinstorff zur Entscheidung gestanden. Die von der SMAD erteilten Lizenzen liefen Ende des Jahres aus und mussten durch neue ersetzt werden. Den Vorgang nahm das im August 1951 neugegründete Amt für Literatur und Verlagswesen zum Anlass, die Zahl der Privatverlage zu begrenzen. Für Mecklenburg war vorgesehen, nur einem Verlag eine Lizenz zur Herausgabe schöngeistiger Literatur zu erteilen.20 Man bat Willi Bredel um Rat. Schließlich war er nicht nur Lizenzträger des Petermänken-, sondern auch des Carl Hinstorff Verlags. Bredel, der Peter E. Erichson seit seiner Zeit als Instrukteur in Rostock kannte, hatte sich 1946 für die Lizenzierung des privaten Verlags eingesetzt. Folglich galt er als erster Ansprechpartner, wenn es um Fragen zu Hinstorff oder Petermänken ging. So auch im Sommer 1951, als er von Heinz Mißlitz, Sektorenleiter Verlage in der Abteilung Wissenschaft und Propaganda des ZK der SED, in der Angelegenheit Hinstorff/Petermänken um eine Stellungnahme gebeten wurde. Bredel antwortete dem Sektorenleiter schriftlich. In seinem Brief stellte er die Entwicklung und Vorzüge beider Verlage gegenüber, ergriff jedoch insgesamt überwiegend Partei für den Petermänken-Verlag. Eine Fusion beider lehnte Bredel entschieden ab, da er befürchtete, dass „der Hinstorff-Verlag die Vermögenswerte und dergl. vom Petermänken Verlag [sic] aufschluck[t]“.21 Dem Amt für Literatur und Verlagswesen schien die Antwort Bredels nicht zu gefallen, hatte man doch insgeheim gehofft, die Angelegenheit in Form einer Fusion schnell 18 Hermann Glander in einem Gespräch mit Reinhard Rösler am 17.3.1985. Vgl. Rösler, Autoren (wie Anm. 2), S. 173. 19 Vgl. Rösler, Autoren (wie Anm. 2), S. 172. 20 Vgl. Willi Bredel an Heinz Mißlitz, 26.8.1951, Akademie der Künste (AdK), Willi-Bredel-Archiv, Nr. 3234. 21 Willi Bredel an Heinz Mißlitz, 26.8.1951, AdK, Willi-Bredel-Archiv, Nr. 3234.
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über die Bühne bringen zu können. Die Entscheidung wurde also zunächst vertagt. Doch einigte man sich am 3. November 1951 darauf,22 sowohl dem Petermänken- als auch dem Carl Hinstorff Verlag eine neue Verlagslizenz zu erteilen.23 Höchstwahrscheinlich hatte die Stellungnahme Bredels, der sich für den Erhalt des Petermänken-Verlags ausgesprochen hatte, gewichtigen Anteil daran, dass der Schweriner Verlag neu lizenziert wurde. Im Fall Hinstorff schien man sich ein schnelles Ausscheiden des mittlerweile 70-jährigen Peter E. Erichsons zu erhoffen und damit die Schließung des Unternehmens oder den Übergang an den Staat. So merkte man in einer Aktennotiz zum Hinstorff Verlag an: „Perspektive: Keine Forcierung, Erlöschen der Lizenz.“24 Das Fortbestehen beider Verlagshäuser blieb für das Ministerium für Kultur ein niemals befriedigend gelöstes Problem. 1955 schlug das Amt für Literatur und Verlagswesen vor, beide Verlage zu einem „Heimatverlag für den Norden“25 zusammenzulegen, der sich ausschließlich auf die Herausgabe von Heimatliteratur konzentrieren sollte. Zwar wurde dieser Plan nicht realisiert, jedoch blieb er auf der Tagesordnung und rückte mit dem Übergang des privaten Carl Hinstorff Verlags 1959 in Volkseigentum erneut in den Fokus der Aufmerksamkeit. Doch nun änderten sich die Vorzeichen. Hinstorff gehörte jetzt zum volkseigenen Sektor und genoss als verstaatlichter Verlag Priorität. Petermänken hatte angesichts dieser Tatsache kaum eine Chance. Im Fokus stand folglich nicht mehr die Zusammenlegung beider Verlage, sondern die Angliederung des Petermänkenan den Hinstorff Verlag,26 denn nach wie vor bestand Einigkeit darüber: „Beide Verlage mit einer fast gleichen Aufgabenstellung weiter bestehen zu lassen, ist volkswirtschaftlich nicht tragbar.“27 Allerdings wurde das Vorhaben erneut zurückgestellt, wobei sich die Gründe aus den überlieferten Dokumenten nicht ermitteln lassen. Die Angliederung blieb jedoch weiterhin Thema, wie aus den Quellen hervorgeht. Bis 1963 sollte sie vollzogen sein.28 Tatsächlich erfolgte die Überleitung auf den Hinstorff Verlag nicht 1963, sondern erst ein Jahr darauf. Sie war Ergebnis der zu Beginn der 1960er Jahre einsetzenden, politisch gelenkten Umstrukturierung des Verlagswesens der DDR, 22 Vgl. Mitteilung Amt für Literatur und Verlagswesen, 1.11.1951, BArch, DR 1/1938, Bl. 1437. 23 Vgl. Aktennotiz Amt für Literatur und Verlagswesen, 5.11.1951, BArch, DR 1/1938, Bl. 162. 24 Aktennotiz Amt für Literatur und Verlagswesen, 5.11.1951, BArch, DR 1/1938, Bl. 162. 25 Analyse zur Profilierung der belletristischen Verlage (Entwurf), 31.10.1955, BArch, DR 1/1118, Bl. 80. 26 Vgl. Entwurf einer Profilierung der belletristischen Verlage, Abteilung Literatur und Buchwesen, o. D. [1960], BArch, DR 1/7214. 27 VVB Verlage an den Rat des Bezirkes Rostock (Entwurf), 4.11.1958, BArch, DR 1/996. 28 Vgl. Entwurf einer Profilierung der belletristischen Verlage, Abteilung Literatur und Buchwesen, o. D. [1960], BArch, DR 1/7214.
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der sogenannten „Profilierung“, und der damit einhergehenden Zusammenlegung und Schließung mehrerer privater Verlage. Petermänken, in dem mittlerweile sieben festangestellte Mitarbeiter – die Reinigungskraft nicht mitgezählt – beschäftigt waren,29 befand sich zu der Zeit auf der Höhe seines Schaffens. Er hatte sich zu einem bemerkenswerten Unternehmen entwickelt, dessen Ruf über die mecklenburgischen Grenzen hinausreichte. Der Verlag hatte in der Vergangenheit mit über 80 Autoren zusammengearbeitet.30 Die Bücher, häufig in einer sehr anspruchsvollen buchkünstlerischen Aufmachung, verkauften sich gut. Am 13. Januar 1964 legte Erich Wendt, Staatssekretär und Erster Stellvertreter des Ministers für Kultur, Willi Bredel die Vereinigung beider Verlage eindringlich nahe, als er ihm schrieb: „Das Ministerium für Kultur hält eine Vereinigung des Petermänken-Verlages in Schwerin mit dem Hinstorff-Verlag in Rostock für zweckmäßig.“31 Bredel beugte sich dem Druck des Ministeriums. Noch 1951 hatte er sich mit aller Kraft gegen eine Vereinigung mit dem Rostocker Verlag eingesetzt, nun willigte er ein. Die Gesellschafter schlossen sich an und stimmten der Verschmelzung mit Hinstorff zu.32 Warum Willi Bredel und die Gesellschafter quasi widerstandslos, so scheint es, zustimmten, lässt sich nicht mehr eindeutig sagen. „Es war einfach nicht erwünscht, daß ein hoher Funktionär der DDR Inhaber eines privaten Unternehmens […] war“,33 schreibt Ulrike Bendig. Man muss jedoch auch die schwierige Situation, in der Bredel sich seinerzeit befand, berücksichtigen. 1962 wurde er zum Präsidenten der Deutschen Akademie der Künste gewählt. Es waren die bedeutendsten Jahre seiner kulturpolitischen Laufbahn, zugleich jedoch die konfliktreichsten und körperlich anstrengendsten für den seit Mitte der 1950er Jahre an Herzbeschwerden leidenden Funktionär.34 Zwei große Auseinandersetzungen, zum einen die Entlassung Peter Huchels als Chefredakteur der Zeitschrift Sinn und Form, zum anderen der Konflikt um die Veranstaltung „Junge Lyrik“ Ende 1962, hatten Bredel als Akademiepräsidenten heftig unter Druck gesetzt.35 Es folgten Selbstdisziplinierung und Schweigen. Bredel war angreifbar geworden, höchstwahrscheinlich auch in seiner Rolle als Inhaber eines Privatverlags.
29 Vgl. Aktennotiz über ein Gespräch im Petermänken-Verlag, 6.4.1964, AdK, Willi-Bredel-Archiv, Nr. 4017. 30 Vgl. VK der DNB in Leipzig, Petermänken-Verlag, Schwerin (wie Anm. 17). 31 Erich Wendt an Willi Bredel, 13.1.1964, AdK, Willi-Bredel-Archiv, Nr. 4017. 32 Vgl. Notiz der Gesellschafter-Versammlung, 13.3.1964, AdK, Willi-Bredel-Archiv, Nr. 4017. 33 Bendig, Verlagswesen (wie Anm. 5), S. 36. 34 Vgl. Seidel, Bredel (wie Anm. 3), S. 55. 35 Vgl. Braun, Matthias: Kulturinsel und Machtinstrument. Die Akademie der Künste, die Partei und die Staatssicherheit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. S. 157–181.
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Im Juni 1964 gab es kein Zurück mehr: „Der Petermänken-Verlag wird seine Produktion mit der Erfüllung des von der HV Verlage und Buchhandel bestätigten Themenplanes für 1964 […] beenden“36, legte die Literaturbehörde fest. Vorgesehen war die Liquidation des Verlags. Die Gesellschafter stimmten diesem Entwurf zu und fassten im Juli 1964 den Beschluss zur Auflösung. Die Problematik Hinstorff/Petermänken war damit vom Tisch. Die Abwicklung des Schweriner Verlags vollzogen Ernst Wähmann und Konrad Reich, der neue Verlagsleiter des VEB Hinstorff Verlags. Als Zeitpunkt für die Eröffnung der Liquidation wurde der 31. Juli 1964 festgelegt.37 In der ersten Jahreshälfte 1965 erschienen die letzten Werke des Verlags, und am 30. September 1965 war die Liquidation vollzogen.38 Willi Bredel erlebte das Ende seines Verlags nicht mehr. Am 27. Oktober 1964 starb er im Alter von 63 Jahren an den Folgen eines Herzinfarktes. Hinstorff übernahm gemäß der im Juni getroffenen Festlegungen der HV Verlage und Buchhandel „die Verlagsvorhaben und die Verlagsaufgaben“39 von Petermänken und führte sie weiter, sodass in den darauffolgenden Jahren mehrere Petermänken-Titel in Rostock erschienen.40 Und auch ein Teil der Autoren blieb schließlich bei Hinstorff. Die Buchbestände des Petermänken-Verlags kamen in Kommission zu Hinstorff. Für die Übernahme der Verlagsrechte entstanden Hinstorff gemäß den Festlegungen der HV Verlage und Buchhandel keine Kosten.41 Das bedeutete, dass die „Übernahme des Petermänken-Verlages in Volkseigentum“42 letztlich ohne Kaufpreis vollzogen wurde. Das Rostocker Unternehmen profitierte jedoch nicht nur in finanzieller und materieller Hinsicht, sondern auch personell, da zwei der Lektoren zu Hinstorff wechselten.43 Während Hinstorff also seine Stellung im volkseigenen Sektor im Zuge der „Profilierung“ der Verlage ausbauen konnte, endete die Geschichte des PetermänkenVerlags an diesem Punkt von der Öffentlichkeit praktisch unbemerkt, zum einen, da unter der Lizenznummer des Hinstorff Verlags weiterhin Titel mit der Firmenbezeichnung „Petermänken“ erschienen. Anders als im Fall des Altberliner und des Alfred Holz Verlags, deren Produktion nach der Eingliederung in den Kin36 Rösner: Abschrift vom Protokoll-Entwurf, 15.6.1964, BArch, DY 30/IV A 2/9.04/484. 37 Vgl. Aktenvermerk HV Verlage und Buchhandel, 8.7.1964, BArch, DY 30/IV A 2/9.04/484. 38 Vgl. Ernst-Wähmann-Verlag in Schwerin. Petermänken-Verlag stellt seine Produktion ein. In: Norddeutsche Zeitung, 11.2.1965. [S. 6] sowie Rösler, Autoren (wie Anm. 2), S. 170. 39 Rösner: Abschrift vom Protokoll-Entwurf, 15.6.1964, BArch, DY 30/IV A 2/9.04/484. 40 Darunter z. B. Willi Bredel: Vitalienbrüder; Alfred Buckowitz: Tiere und ich; die Veröffentlichungen des Stadtarchivs Stralsund (1966); das Greifswald-Stralsunder Jahrbuch (bis 1967) u. v. m. 41 Vgl. Rösner: Abschrift vom Protokoll-Entwurf, 15.6.1964, BArch, DY 30/IV A 2/9.04/484. 42 Bruno Haid an Lucie Pflug, 13.7.1964, BArch, DY 30/IV A 2/9.04/484. 43 Vgl. Aktenvermerk HV Verlage und Buchhandel, 8.7.1964, BArch, DY 30/IV A 2/9.04/484.
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derbuchverlag unter der alten Firmenbezeichnung weitergeführt wurde,44 endete die Publikation der unter dem Namen des Petermänken-Verlags herausgegebenen Titel in Rostock jedoch wenige Jahre später, 1967. Zum anderen wurde kaum über das Ende des Schweriner Verlags in Zeitungen informiert.45 Das Kapitel Petermänken-Verlag wurde auf diese Weise nahezu lautlos beendet.
44 Der Alfred Holz Verlag wurde als Edition Holz im Kinderbuchverlag weitergeführt. 45 Vgl. Ernst-Wähmann-Verlag in Schwerin (wie Anm. 38); Zentralblatt der Deutschen Demokratischen Republik, 26.9.1964. S. 432.
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Friedhelm Baukloh. Dramaturg, Journalist, Lektor Eine Annäherung Als Friedhelm Baukloh im Dezember 1970, nur 43 Jahre alt, an den Folgen eines Blutsturzes starb, war das Presseecho auf den Tod des katholischen Journalisten ungewöhnlich groß. Dass die Presse des Ruhrgebiets und seines Umlandes davon Notiz nahm – wie etwa Westdeutsche Allgemeine Zeitung, Ruhr-Nachrichten oder Westfälische Rundschau – war angesichts des lokalen Engagements dieses gebürtigen Dortmunders verständlich.1 Auch die Resonanz der Stuttgarter Zeitung erklärt sich leicht, sie war die neue Wirkungsstätte eines langjährigen RevierKollegen. Die weitere Resonanz dürfte zunächst Bauklohs großer Produktivität und der Vielseitigkeit seiner Interessen, Themen und Interventionen zu verdanken sein (Abb. 1). In den Worten des Dortmunder Schriftstellers Wolfgang Körner: „Die westdeutsche Publizistik hat eine ihrer schillerndsten Persönlichkeiten verloren.“2 Die linksorientierte Deutsche Volkszeitung lobte die Feuilletonbeiträge des Verstorbenen zu Theater und Literatur, dem sie zugleich ein engagiertes, auf innerkirchliche Reformen im Sinne Papst Johannes’ XXIII. bedachtes Christentum attestierte.3 Deutlicher politisch konturierte Unsere Zeit, die Parteizeitung der zwei Jahre zuvor in der Bundesrepublik (wieder)gegründeten Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), den Toten: „Er war ein kompromissloser Verteidiger des Anspruchs der Arbeiterklasse auf eine selbständige, der bürgerlichen Manipulation entgegengesetzte Kultur.“4 Ähnlich erklärte der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt in seinem Zirkular: „Jeder, der sich mit dem Wiederentstehen einer gesellschaftskritischen, engagierten Arbeiterliteratur in Westdeutschland intensiver befasst, stößt auf die Arbeit des Kollegen Baukloh.“5 1 Nach anderen Angaben wurde Baukloh in Epsingen bei Soest geboren: Bamberg, HansDieter: Friedhelm Baukloh zum Gedächtnis. In: Kritischer Katholizismus (1971) H 1. S. 2. 2 Körner, Wolfgang: Friedhelm Baukloh zum Gedenken. In: Westfalenspiegel (1971) H. 1. Fritz Hüser-Institut 200-533/1. 3 Vgl. Ein kritischer Geist. Zum Tode von Friedhelm Baukloh. In: Deutsche Volkszeitung, 10.12.1970. S. 11. 4 Co.: Friedhelm Baukloh gestorben. In: Unsere Zeit, 12.12.1970. S. 11. 5 C. B.: Zum Tod von Friedhelm Baukloh. In: Werkkreis Literatur der Arbeitswelt (Hrsg.): Info 6/7 Dezember 1970 – Januar 1971. S. 2. Fritz Hüser-Institut 200-533/1.
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Diese Nähe zur Literatur war bei dem aus einer bürgerlichen Familie stammenden Baukloh bereits früh angelegt, schon aus seiner Zeit auf einer Oberrealschule stammen erste literarische Versuche.6 Weitere Lebensstationen waren ebenso typisch wie prägend für große Teile der männlichen Jugend seines Jahrgangs in Deutschland. 1943, die alliierte Luftoffensive gegen Deutschland und speziell das Ruhrgebiet intensivierte sich, folgte eine Zeit als sogenannter Flakhelfer dem regulären Schulbetrieb nach, ihrerseits gefolgt von Reichsarbeitsdienst und Wehrmacht, in deren Reihen er noch Kriegserfahrungen in Polen machte. Die Jahrgänge dieses letzten Aufgebots sollten ab den 1960er Jahren eine wachsende und weitreichende Geltung insbesondere im politischen und kulturellen Bereich der Bundesrepublik erlangen.7 Nach Kriegsende in seine Heimatstadt zurückgekehrt, knüpfte Baukloh an seine literarischen Neigungen an – er debütierte als Dramaturgieassistent an den Städtischen Bühnen in Dortmund. Die Lage des Theaters war ebenso wie die des gesamten Reviers von materiellem Mangel beherrscht, mal fehlten Leinwand und Nägel, mal blieb eine zugesagte Holzlieferung aus. Dennoch wurde bereits 1945 mit dem Spielbetrieb wieder begonnen.8 Das Programm war ein Mix aus klassischen und aktuellen Stücken; größter Publikumserfolg der unmittelbaren Nachkriegszeit war auch hier Carl Zuckmayers ambivalentes Stück Des Teufels General. Dessen Helden, General Harras, verkörperte Willem Hoenselaars, der erste Intendant nach Kriegsende. Er war während des „Dritten Reiches“ der letzte Schauspieldirektor in Dortmund gewesen, sodass allenfalls ein halber Neuanfang vorlag, wenngleich seine Inszenierung von Nathan der Weise dies signa lisierte. Bauklohs Tätigkeit dort endete 1947, dem Jahr von Hoenselaars Ablösung. Eine weitere Stippvisite am Theater schloss sich 1951 als Dramaturg am Bonner Theater Contra-Kreis, einer Neugründung der Nachkriegszeit, an. Diese beiden praktischen Tätigkeiten an Bühnen setzten einen bleibenden publizisti-
6 Vgl. Reding, Josef: Chronisten des Ruhrgebiets. Albert Schulze-Vellinghausen – Helmuth de Haas – Friedhelm Baukloh. In: ders: Der Mensch im Revier. Essays. Köln: Pahl-Rugenstein 1988. S. 120. 7 Die Literatur zu dem Thema ist umfangreich, hingewiesen sei auf die richtungweisende Studie von Bude, Heinz: Deutsche Karrieren. Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Generation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987. Ferner Herwig, Malte: Die Flakhelfer. Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden. München: DVA 2013. Polemisch gegen Herwigs Wertung aus rechter Perspektive Maschke, Günter: Die Verschwörung der Flakhelfer. In: ders.: Das bewaffnete Wort. Aufsätze aus den Jahren 1973– 93. Wien u. a.: Karolinger 1997. S. 72–90. 8 Vgl. Karhardt, Sigrid: Auferstanden aus den Trümmern. Die Interimszeit des Dortmunder Theaters nach dem Krieg. In: Theater Dortmund (Hrsg.): 100 Jahre Theater Dortmund. Rückblick und Ausblick. Dortmund: Ed. Harenberg 2004.
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schen Schwerpunkt in seinem Werk, bereits zu dieser Dramaturgenzeit arbeitete Baukloh auch journalistisch bei der Wochenzeitung Das freie Wort. Vorangegangen war 1949 ein Volontariat beim Europa-Kurier in Aachen, ebenfalls einem Wochenblatt. Hier lagen womöglich die Ursprünge seiner zahlreichen Texte zum Theater und Aufführungskritiken. Zur Inszenierung des Faust I im Rahmen der Ruhrfestspiele in Recklinghausen schrieb der junge Volontär mit dem auch späterhin häufigen Aktualitätsbezug: „Der Mensch in der Zelle, muß dieses Bild nicht unserer Situation gemäß sein, wenn wir immer wieder in der Kunst, im Alltag, ja bis in unsere Träume hinein darauf als auf die Formel schlechthin stoßen?“9 Bauklohs Leben verstetigte sich (zumindest nach außen hin) 1953 mit der Aufnahme seiner Tätigkeit beim Echo der Zeit, das in Recklinghausen erschien. Auch hier handelte es sich nicht um eine Tretmühle des Tagesjournalismus, sondern um ein weiteres Wochenblatt, diesmal konfessionell katholisch orientiert. Die Zeitung war 1952 auf Diözesanebene aus der Taufe gehoben worden und verstand sich als katholische Führungszeitung.10 Als solche suchte sie einen Schwerpunkt der Leserschaft im katholischen Bürgertum, insbesondere unter Geistlichen, Lehrern und sonstigen Akademikern. Die herausgebende Echo der Zeit GmbH in Münster hatte dabei einen bestimmenden Einfluss auf die journalistische Arbeit und Personalangelegenheiten. Gleichwohl rechnete Baukloh das Periodikum zu den positiven Erscheinungen im katholischen Blätterwald und attestierte ihm neben dem Essener RuhrWort, das nach Gründung des Bistums ab 1959 erschien, die Stellung eines Sonderfalls. Es handele sich um den Versuch, „ein von Bischöfen subventioniertes Blatt, etwas links von der Mitte, parteipolitisch ungebunden, der katholischen Soziallehre und dem ökumenischen Dialog verpflichtet, im Gespräch zu halten“. Überdies bemühe sich die Zeitung, „die Alternativen zwischen CDU und SPD herauszustellen, ohne sich für die CDU bedingungslos zu engagieren.“11 Echo der Zeit erschien von Beginn an bis zu seiner Einstellung 1968 im Paulus-Verlag in Recklinghausen. Das Unternehmen, entstanden im Milieu des politischen Katholizismus der Weimarer Republik, wurde von dem Zentrums- und späteren CDU-Politiker Wilhelm Bitter aufgebaut, geprägt und in ein Familien-
9 Baukloh, Friedhelm: Faust I der Ruhrfestspiele. In: Europa-Kurier, 3.7.1949. S. 8. 10 Vgl. Bericht über die Entwicklung von Echo Der Zeit (5.7.1955). S. 2, Stadtarchiv Recklinghausen. Bestand Bitter 23. 11 Baukloh, Friedhelm: Für und wider das Bistumsblatt. Das Dilemma der katholischen Kirchenpresse. In: Greinacher, Norbert u. Heinz Theo Risse (Hrsg.): Bilanz des deutschen Katholizismus. Mainz: Grünewald 1966. S. 219–247, hier S. 242f.
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unternehmen überführt.12 An der Ausgestaltung des Verlagsprogramms und der Wochenzeitung hatte insbesondere sein Sohn Georg Bitter starken Anteil. Die deutlich sozialkatholische Färbung auch des Verlagsprogramms macht verständlich, dass Baukloh nach seinem Ausscheiden aus dem Verlag 1964 häufiger Autor beim Echo blieb. Sein Publikationsraum war jedoch auch nach Arbeitsantritt bei der Zeitung nicht auf dieses Organ beschränkt. Es finden sich bereits früh Beiträge im Düsseldorfer Mittag und anderen Regionalzeitungen wie etwa den Aachener Nachrichten oder der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Einzelne Beiträge sind in der Hamburger Zeitung Die Welt zu finden wie auch in dem konservativen Stuttgarter Wochenblatt Christ und Welt.13 Die in Köln erscheinende Zeitschrift SBZ-Archiv war ebenso gelegentlicher Druckort von Beiträgen aus seiner Feder. Herausgeber war der im Kontext des Kalten Krieges klar auf der westlichen Seite positionierte Verleger Joseph Caspar Witsch, der seinen Autor 1963 mahnte, nicht leichtfertig den Ostteil Berlins zu betreten: Da die andere Seite eine Zeitschrift wie das SBZ-Archiv nur mit ihren eigenen Augen ansehen kann, kann sie sich unter dem SBZ-Archiv nichts anderes vorstellen als ein Organ der gezielten Subversion und hält infolgedessen Herausgeber, Mitarbeiter, Verleger, kurzum alle, die damit beschäftigt sind, wenn sie sie in die Hand bekäme, der vielen Gesetzesverletzungen für schuldig, die eine Diktatur in ihrer hysterischen Nachrichtenfurcht ständig begeht.14
In der Tat machte Baukloh im Archiv aus seiner Ablehnung des DDR-Systems, des „Zonenregimes“, kein Hehl.15 Charakteristischer für das intellektuelle und politische Selbstverständnis des engagierten Journalisten ist jedoch seine Mitarbeit an den Frankfurter Heften und späterhin – seit den mittleren 1960er Jahren – auch den Blättern für deutsche und internationale Politik. Er verdankte sie der Förderung durch Eugen Kogon und Paul Neuhöffer.16 Kogon, als NS-Gegner im KZ Buchenwald inhaftiert, hatte 1946 mit Der SSStaat eine frühe bahnbrechende Publikation vorgelegt. Kogons linkskatholische Position lieferte auch das politische Design für die monatlich erscheinenden Frankfurter Hefte, die er gemeinsam mit Walter Dirks in jenem Jahr ins Leben rief. 12 Eine Darstellung der Unternehmensgeschichte durch die Verfasser ist in Arbeit. 13 Vgl. Auswahlbibliografie von Käufer, Hugo Ernst (Hrsg.): Baukloh. Texte eines entschiedenen Liberalen. Köln: Pahl-Rugenstein 1972. S. 162–197. 14 Zit. n. Möller, Frank: Das Buch Witsch. Das schwindelerregende Leben des Verlegers Joseph Caspar Witsch. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014. S. 320f. 15 Baukloh, Friedhelm: Ulbricht bekommt keine Staatskirche. In: SBZ-Archiv (1961) H. 23. S. 364–367, hier S. 364. 16 Vgl. Käufer, Baukloh (wie Anm. 13), S. 10.
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Anlässlich des Verschwindens der Hefte blickte Kogon 1984 auf seine politischen Motive zurück: Wir waren Christen, die sich für die Erneuerung der Kirche einsetzten; für die gesellschaftlichen Strukturen aber, die alle angehen, Christen, Juden und Heiden alter und neuer Prägung, hatten wir nicht spezifisch christliche, wohl aber übergreifende humane Lösungen anzubieten. Sie liefen auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ hinaus, wie er bisher noch von keinem Staat der Welt verwirklicht worden ist: auf eine demokratische genossenschaftliche Gesellschafts- und Staatsordnung sowohl jenseits des Leninismus als auch jenseits des traditionellen Sozialdemokratismus.17
In seinem Nachruf auf den Hefte-Mitarbeiter und ehemaligen Suhrkamp-Lektor Walter Maria Guggenheimer attestierte Baukloh dem Frankfurter Periodikum, „für die geistige Formierung der Kräfte gegen die Restauration unentbehrlich“ zu sein.18 Ohne konfessionelle Ausrichtung und insgesamt schärfer politisch links profiliert, dabei jedoch in zahlreichen Einzelzügen den Heften parallel waren in der frühen Bundesrepublik die nach wie vor existenten Blätter für deutsche und internationale Politik. Entstanden war die Monatszeitschrift, die Paul Neuhöffer mit gegründet hatte, aus einer Initiative Karl Graf von Westphalens, dessen 1954 gegründeter Deutscher Klub eine gegen die Westbindungspolitik des Kanzlers Konrad Adenauer gerichtete national-neutralistische Politik verfocht.19 In den 1960er Jahren bildeten die Blätter einen Rückhalt für die Deutsche Friedensunion (DFU) und eine intellektuelle Begleitung der nach links hin offenen Liberalisierung der bundesdeutschen Gesellschaft. Die deutlich sozial ausgeprägte Profilierung des jungen Friedhelm Baukloh hat ihre besondere Tönung aus seiner Heimatregion, dem Ruhrgebiet, empfangen: „Für persönliche Freunde wie für viele Leser gehörte er sozusagen zum festen ‚Ruhrgebietsinventar‘. Als Automobil-Verächter und passionierter Bundesbahnbenutzer war er zumeist auf Bahnhöfen und in Wartesälen anzutreffen, unterwegs 17 Kogon, Eugen: An die Abonnenten, die Leser und die Freunde der Frankfurter Hefte. Zit. in ders.: „Dieses merkwürdige, wichtige Leben“. Begegnungen. Weinheim u. a.: Beltz Quadriga 1997. S. 269. 18 Baukloh, Friedhelm: Nie von gestern. Walter Maria Guggenheimer. In: Echo der Zeit, 2.7.1967. S. 12. 19 Vgl. Gallus, Alexander: Die Neutralisten. Verfechter eines vereinten Deutschland zwischen Ost und West 1945–1990. Düsseldorf: Droste 2001. Zu den Blättern s. a. Naumann, Klaus: Nachrüstung und Selbstanerkennung. Staatsfragen im politisch-intellektuellen Milieu der Blätter für deutsche und internationale Politik. In: Geppert, Dominik u. Jens Hacke (Hrsg.): Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960–1980. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. S. 269–290.
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zu Premieren, Ausstellungseröffnungen, Autorenlesungen, Gruppengründungen, Tagungen.“20 Das Revier stand in den 1950er Jahren im Zenit seiner Entwicklung als Industrieregion und war von den dominierenden Branchen Kohle und Stahl geprägt, doch erste Symptome der heraufziehenden Krise zeigten sich bereits mit den einsetzenden Problemen des Steinkohlenbergbaus zum Ende des Jahrzehnts. Zugleich war das kulturelle Bild des Ruhrgebiets umstritten, wie die Reaktionen auf das Buch des Fotografen Chargesheimer und des Schriftstellers Heinrich Böll verdeutlichten.21 Bereits früh war Baukloh auf die besondere kulturelle Lage der Arbeiterschaft aufmerksam geworden.22 Diese Interessenrichtung des beim Echo der Zeit auch für das Kulturressort zuständigen Mitarbeiters hielt an und veranlasste den Dortmunder Bibliotheksdirektor Fritz Hüser, Baukloh die von ihm betreute Anthologie von Arbeiterdichtern Wir tragen ein Licht durch die Nacht ans Herz zu legen: „Vielleicht können Sie diese Sammlung – die erste dieser Art nach 1933 – in den verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften besprechen? […] Ich hoffe, daß Sie den Wert dieser Anthologie richtig erkennen und entsprechend würdigen.“23 In der logischen Verlängerung dieses Engagements liegt seine Anwesenheit bei der Gründung der Dortmunder Gruppe 61.24 Ziel der um Hüser im März 1961 gebildeten Gruppe war die (Re-)Etablierung der industriellen Arbeitswelt und ihrer Protagonisten als literarischen Gegenstand. Es wäre jedoch verfehlt, in den Dortmundern einen West-Ableger des Bitterfelder Weges in der DDR zu sehen. Noch Jahre später beharrte auch Baukloh auf Distanz: „Der neue soziale Realismus (der nichts mit dem ‚Sozialistischen‘ Realismus zu tun hat, wie sehr auch, dabei in holder Eintracht, industriefromme Schreiber und der Ostberliner ‚Sonntag‘ die ‚Dortmunder Gruppe 61‘ auf den Bitterfelder Weg lotsen möchten) hat auch weniger politisch engagierte Varianten.“25 Nunmehr im Recklinghauser Paulus-Verlag auch als Lektor tätig, erwies sich der Echo-Autor als wichtiger Förderer der neu einsetzenden Arbeiterliteratur – Max von der Grün verdankte ihm den Einstieg in die Schriftstellerexistenz.
20 Reding, Chronisten (wie Anm. 6), S. 133. 21 Vgl. Böll, Heinrich u. Chargesheimer: Im Ruhrgebiet. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1958. Siehe hierzu auch den Ausstellungskatalog: Grütter, Heinrich Theodor u. Stefanie Grebe (Hrsg.): Chargesheimer. Die Entdeckung des Ruhrgebiets. Köln: König 2014. 22 Baukloh, Friedhelm: Was lesen die Jungarbeiter des Reviers? In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 16.11.1954. [S. 4]. 23 Fritz Hüser an Friedhelm Baukloh, 2.8.1960, Fritz Hüser-Institut, Hue 260. 24 Reding, Chronisten (wie Anm. 6), S. 133. Siehe zur Gruppe 61 z. B. Gerhard, Ute u. Hanneliese Palm (Hrsg.): Schreibarbeiten an den Rändern der Literatur. Die Dortmunder Gruppe 61. Essen: Klartext-Verlag 2012. 25 Baukloh, Friedhelm: Wirklichkeit einfangen. Ein Versuch über Max von der Grün und andere neue Realisten. In: Tank, Lothar (Hrsg.): Eckart-Jahrbuch 1965/1966. Witten u. a.: EckartVerlag. S. 276–286, hier S. 282.
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Abbildung 1: „Hommage à Friedhelm Baukloh“. Göhre, Frank: Lesebuch. Literarisches Informationszentrum: Bottrop 1972. S. 115.
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Den gebürtigen Franken hatte es nach dem Zweiten Weltkrieg ins Revier verschlagen, wo er im Bergbau arbeitete. Nebenher entstand seit 1955 ein erstes Romanmanuskript. Die Verlage Desch und Kiepenheuer & Witsch lehnten die Publikation ab.26 Von der Grün und Baukloh kannten sich privat, es war eine lose Kneipenbekanntschaft. Über diese Verbindung reichte von der Grün sein Manuskript bei Paulus ein. Von den drei eingeholten Gutachten war dasjenige Bauklohs für die Annahme des Manuskripts ausschlaggebend. Auch am Lektorat des Textes, der 1962 unter dem Titel Männer in zweifacher Nacht erschien, war von der Grüns neuer Förderer beteiligt.27 Der Autor erinnert sich: Da habe ich wieder Glück gehabt, dass ich Leuten wie Hüser in die Finger gefallen bin, oder Friedhelm Baukloh, den ich sehr geschätzt habe. Er war, menschlich gesehen, ein ungeheuer unzuverlässiger Mensch, aber dieser Mann hatte Sprachgefühl, Stilgefühl, er wusste, worauf es ankam. Ich werde nie vergessen, wie ich die erste Diskussion mit ihm hatte.28
Hilfreich war auch, dass die Ruhrnachrichten einen Vorabdruck dieses Erstlingswerks brachten. Vorangegangen waren der bloßen Ankündigung des Buches ohnehin bereits empfindliche Reaktionen der Bergbauindustrie, eine große Resonanz in der regionalen Öffentlichkeit folgte alsbald der Buchpremiere. Des Autors Mentor resümierte: „Der Roman wirkte als Politikum im dichtesten Industriegebiet der Bundesrepublik.“29 Ein weiterer Vorabdruck, diesmal in Echo der Zeit und aus dem Nachfolgeroman des Autors, Irrlicht und Feuer, führte zu heftigen Auseinandersetzungen. Der Auszug handelte von bewusst in Kauf genommenen Arbeitsunfällen, darunter einem tödlichen. Sowohl der Autor als auch sein Verlag wurden unter Druck gesetzt; von der Grün schrieb seinem Lektor: „Sie drohen mir mit wirtschaftlichen Repressalien, sie sagen ganz offen, daß sie mich schikanieren können und daß es an ihnen liegt, mich wirtschaftlich kirre zu machen, zumal ich immerhin ein Eigenheim habe, das noch für fünf Jahre an den Arbeitgeber
26 Nach Bauklohs Ansicht trotz wohlwollender Beurteilung, da die Lektorate die Mühe scheuten, „es in gemeinsamer Arbeit mit dem Autor druckreif zu machen“. Baukloh, Friedhelm: Der Dortmunder Weg. In: Der Monat, November 1965. S. 58–68, hier S. 63. 27 Vgl. Georg Bitter an Martin H. Ludwig, 14.7.1977, Fritz Hüser-Institut, Grü 119. Baukloh schreibt abweichend, Hüser habe von der Grün zum Paulus-Verlag geschickt. Vgl. Baukloh, Dortmunder Weg (wie Anm. 26), S. 63. 28 Max von der Grün im Interview mit Egon Clute-Simon, 10.11.1989. Zit. n. Scholz, Rüdiger: Max von der Grün. Politischer Schriftsteller und Humanist. Würzburg: Königshausen & Neumann 2015. S. 485f. 29 Baukloh, Friedhelm: Unter Tage. In: Frankfurter Hefte (1963) H. 6. S. 430–432, hier S. 430.
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gebunden ist.“30 Der Paulus-Verlag wurde rechtlich von einer sich geschädigt sehenden Firma angegangen, doch das Bistum Münster und die Partei des Altverlegers Wilhelm Bitter meldeten Bedenken an.31 Auch in den Reihen der Gewerkschaften stieß das Bild, das von der Grün von ihnen im Buch hinterlassen hatte, nicht auf Begeisterung.32 Friedhelm Baukloh nutzte seine publizistischen Möglichkeiten nicht nur zu Verteidigungszwecken. Er verwies auf einen Vorstoß der Kohleindustrie, eine Art Vorzensur im Verlag zu etablieren, sowie auf einen Versuch des damit befassten Verbandsfunktionärs, den Autor zu korrumpieren. Überdies sorgte er en passant für eine historische Rahmung: „Dr. Grosse vom Unternehmensverband Ruhrbergbau, sozusagen der zentrale Einsatzleiter beim Feldzug gegen Max von der Grün […] mußte im Auftrag der Reichsregierung in jenen Jahren die Auslandspresse betreuen.“33 Natürlich blieben in der aufgeheizten Atmosphäre des Kalten Krieges und der Systemkonkurrenz die Ausgrenzungs- und politischen Instrumentalisierungsversuche der neuen westdeutschen Arbeiterliteratur und speziell von der Grüns nicht aus. Seitens der DDR interessierte Max von der Grüns kritische Haltung verständlicherweise, Irrlicht und Feuer erschien im renommierten Aufbau-Verlag. Die Aufbau-Lektorin Annie Voigtländer nahm 1965 an Tagungen der Gruppe 61 teil, und eine von ihr besorgte Anthologie erschien zwei Jahre darauf in dem DDR-Verlag.34 In Düsseldorf diskutierten von der Grün und Erwin Strittmatter auf Einladung einer CDU-Landtagsabgeordneten öffentlich über „Arbeiterdichtung in West und Ost“. Die Begegnung war von wechselseitiger Fremdheit der Ansätze und der Erwartungen an Literatur getragen. Es hätte schlimmer kommen können, so Bauklohs tristes Resümee, gleichwohl ließ er politische Hoffnungen auf eine Überwindung des Status quo in Bundesrepublik wie DDR in Richtung der „Utopie eines Arbeiter- und Bauernstaates“ nicht gänzlich fahren: „Eine Utopie, die unsere Zukunft braucht in Ost wie West und die unserer Gegenwart fehlt, obwohl sie sich im Unbehagen der schreibenden Arbeiter Deutschlands anzukündigen 30 Zit. n. Kühne, Peter: Max von der Grüns Erfahrungen mit den Tarifparteien. In: Reinhardt, Stephan (Hrsg.): Max von der Grün. Materialienbuch. Darmstadt u. a.: Luchterhand 1978. S. 59–76, hier S. 61. 31 Vgl. Kühne, Erfahrungen (wie Anm. 30), S. 62–65. 32 Vgl. Baukloh, Friedhelm: Neue Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. Der Streit um den Kumpel Max von der Grün. In: Frankfurter Hefte (1964) H. 8. S. 530–532. 33 Baukloh, Friedhelm: Berghauptmann Funder hält Literaturappell. In: Atomzeitalter, Juli/ August 1964. S. 223–225, hier S. 224. 34 Jahresberichte 1963–1965, Staatsbibliothek Berlin, Archiv des Aufbau-Verlags 3196, Bl. 25; Voigtländer, Annie (Hrsg.): Seilfahrt. Eine Anthologie der Arbeit der „Dortmunder Gruppe 61“. Berlin: Aufbau-Verlag 1967.
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scheint, wie Parteisekretäre und Industriemanager sehr wohl empfinden.“35 Diese scharf kritische Position gegenüber Ost wie West hielt Baukloh auch Jahre später aufrecht.36 Mit den mittleren 1960er Jahren, im Gleichklang mit dem Auftakt des kulturrevolutionären „Roten Jahrzehnts“ der Bundesrepublik, wurde auch Friedhelm Bauklohs Leben unstet und hektischer. 1964 ging er für ein Jahr nach Hamburg, wo er als Redakteur des Spiegel arbeitete. Unterdes war er jedoch weiterhin für das Lektorat des Paulus-Verlags tätig. Dabei lag ihm nach wie vor die Arbeiterliteratur am Herzen, insbesondere Max von der Grüns Reise in die DDR begleitete er mit taktischen Ratschlägen.37 Die Gründe für sein Ausscheiden aus der Lektoratsarbeit 1967 sind vage, politische und wohl auch persönliche Unstimmigkeiten dürften eine Rolle gespielt haben. Jedenfalls waren der Auflösung seines Arbeitsverhältnisses bereits Jahre zuvor Misshelligkeiten im Rahmen seiner Tätigkeit bei Echo der Zeit vorausgegangen. Baukloh resümierte die Entwicklung gegenüber Fritz Hüser: „Die Entscheidung, zum 31. 3. aus dem Paulusverlag auszuscheiden, stand plötzlich vor mir und ich konnte ihr nicht mehr in Kompromisse ausweichen, wenn ich zu meinen bisherigen Zielen und literarischen Auffassungen stehen wollte.“38 In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre beschleunigte sich in der Bundesrepublik ein Politisierungsprozess, der zunehmend Teile der Bevölkerung, insbesondere in den jüngeren Jahrgängen, zu einer umfassend kritischen Position gegenüber dem politischen System und den sozialen Verhältnissen in diesem Nachfolgestaat des „Dritten Reiches“ gelangen ließ. Ein Indiz hierfür war der Bucherfolg – in den ersten fünf Wochen wurden 30.000 Exemplare verkauft –, den der Philosoph Karl Jaspers mit seiner Schrift Wohin treibt die Bundesrepu blik? erzielte. Ein Spiegel-Vorabdruck mit ausgewählten Passagen signalisierte die dem professoralen Mahner im kritischen Spektrum beigemessene Bedeutung.39
35 Baukloh, Friedhelm: Schreibende deutsche Arbeiter – ein Disput. In: Frankfurter Hefte (1964) H. 11. S. 815–817, hier S. 817. 36 So formulierte Baukloh: „In der kritischen Literatur aus der Arbeitswelt sehen die Manager der unterschiedlichen Wirtschaftssysteme Europas heute noch übereinstimmend einen gefährlichen Widerpart, den sie mit Firmenprozessen hier, mit staatlichen Verweisen gegen Zersetzung der Arbeitsmoral drüben einzuschüchtern versuchen.“ Baukloh, Friedhelm: Wettkampf der Systeme. Industrieliteratur in Ost und West. Manuskript, Westdeutscher Rundfunk, Hauptabteilung Politik, 15.5.1967, Sendung 10.5.1967, Fritz Hüser-Institut 200-533/2. 37 Vgl. Friedhelm Baukloh an Heinz Blievernicht, 6.11.1964, Fritz Hüser-Institut 200-533/2. 38 Friedhelm Baukloh an Fritz Hüser, 20.3.1967, Fritz Hüser-Institut Hue 361. Vgl. auch Georg Bitter an Fritz Hüser, 17.3.1967, Fritz Hüser-Institut, Hüser 1521. 39 Vgl. Kadereit, Ralf: Karl Jaspers und die Bundesrepublik Deutschland. Politische Gedanken eines Philosophen. Paderborn u. a.: Schöningh 1999. S. 164.
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Der bahnbrechende und langwährende erste Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main, der 1965 zur Urteilsverkündung kam, hatte das Seine dazu beigetragen, die Kontinuitäten zur NS-Zeit in den Medien zum Thema zu machen. Sowohl Jaspers Kritik als auch die virulente NS-Vorgeschichte wurden für Baukloh zu politischen Orientierungspunkten. Die lebensgeschichtliche Prägung des ehemaligen Flakhelfers bildete das Fundament des zunehmend entschiedenen Engagements. Im Rückblick sah er in der fehlenden antifaschistischen Geschlossenheit der neu entstandenen Parteien „die Tragödie, die nach der Befreiung begann“. Das Resümee der anschließenden Entwicklung geriet bitter: Aber ob man das Wunschland seiner rebellischen Sehnsucht nun in der Schweiz oder anderswo vermutete, die Desillusionierung blieb keinem aus unserer Generation erspart, der mit Vorstellungskraft belastet ist. Denn neu erstand, wenn auch halbiert und nur zum Schein, in alter Gründerherrlichkeit das Reich unserer Großeltern. Das hatten wir, was immer wir auch kommen sahen, nicht im Traum befürchtet.40
Zugleich diagnostizierte er einen „verborgenen Klassencharakter“ des neuen Staatsgebildes und die „Beziehungen seiner Geldsäcke zum Jahre 1933“.41 Eine neuerliche, für die politische Interpretation der bundesdeutschen Entwicklung bestimmende Zuspitzung erhielt diese Deutung durch die von Adenauers Nachfolger im Kanzleramt, Ludwig Erhard, verwendete Floskel von der „Formierten Gesellschaft“ als Politikziel im Bundestagswahlkampf 1965. Die auch im Erhard-Lager Verwirrung auslösende Losung weckte im wachsenden kritischen Spektrum Befürchtungen und Empörung: Man argwöhnte ein antiliberales Gesellschaftskonzept mit totalitärem Potenzial.42 In der „Formierten Gesellschaft“ witterte Baukloh das Instrument einer neuen deutschen „Machtpolitik in allen Bereichen“ und sprach vom „Gleichschaltungswillen der Ära Erhard“.43 Dirigiert sah der Kritiker, der in der Etikettierung nicht wie manche Spötter eine missglückte Wahlkampf-Windbeutelei sehen mochte, diese Strategie durch Wirtschaftskräfte im Hintergrund, als deren Akteur 40 Baukloh, Friedhelm: Jahrgang 1927. In: Frankfurter Hefte (1962) H. 8. S. 566f., hier S. 567 (Rezension über Fabris, Franz: Helden-Karussell. Frankfurt a. M.: ner-tamid-verlag 1962). 41 Baukloh, Friedhelm: Es brennt in Endesleben. In: Frankfurter Hefte (1962) H. 3. S. 214–216, hier S. 216 (Rezension über Beckelmann, Jürgen: Der goldene Sturm. Hamburg: Gala-Verlag 1960). 42 Vgl. Wolfrum, Edgar: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Bonn: BpB 2007. S. 218f. 43 Baukloh, Friedhelm: Ludwig Erhard II. In: Blätter für deutsche und internationale Politik (1966) H. 2. S. 118–127, hier S. 124. Vgl. ferner Baukloh, Friedhelm: Gleichschaltung der Länder und Gemeinden? In: Blätter für deutsche und internationale Politik (1966) H. 7. S. 596–605, hier S. 600.
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seit den Tagen des „Dritten Reiches“ er Erhard ebenso porträtierte wie als „Mann der Amerikaner“. Nicht allein Erhard erschien in dieser Beleuchtung als Vertreter von Kapitalinteressen, die CDU-Politik insgesamt traf das Verdikt, als außengesteuerte Lobby zu agieren. Als Transmissionsriemen dieser Einflusskräfte galt Baukloh der CDU-Wirtschaftsrat. Der 1963 gegründeten Vereinigung, die sich die CDU „als Kontrollorgan“ zur Seite gestellt habe, schrieb er eine dominante Stellung in der Ausprägung der bundesdeutschen Gesellschaftspolitik zu, das Gremium diene als „Hebel“ der Industrie in der Bundespolitik.44 Die wachsende Sorge der kritischen Intelligenz, im Zuge der 1966 gebildeten Großen Koalition von SPD und CDU/CSU einer schleichenden Transformation des politischen Systems in Westdeutschland ausgeliefert zu sein, ließ auch Baukloh historische Parallelen argwöhnen: „Unter den Neben- und Überregierungen, die sich zusehends in der Bundesrepublik etablieren, ist der ‚Wirtschaftsrat e. V.‘ ein Verein, der mit seinem Streben nach einer ‚formierten Gesellschaft‘ immer mehr an gewisse Herren- und Herrschaftsclubs der Industrie aus den frühen dreißiger Jahren erinnert.“45 Ungleich schwächer nahm sich die Position der als innerparteiliche Opposition verstandenen Sozialausschüsse der CDU aus. Sie seien bereits 1949 durch Adenauer marginalisiert, zu einer „Statistenrolle“ verurteilt worden.46 Gleichwohl begleitete der Kritiker die Sozialausschüsse mit Sympathie und nicht gänzlich ohne Hoffnung, was bereits sein Versuch zeigt, der Gruppe 61 dort einen Resonanzraum zu öffnen.47 Die Hoffnung auf einen Einbruch in den scheinbar geschlossenen Raum der Großkoalitionäre motivierte sein Lob der Ausschüsse, sie hätten 1967 das „Undenkbare“ getan, sich nämlich mit der außerparlamentarischen Opposition in gesellschaftlichen Strukturfragen zu verbünden – in dem nämlichen heißen Sommer, der die außerparlamentarische Opposition ohnehin zu einem Alpdruck des Establishment gemacht hat. […] Denn hier ist offensichtlich ein Einbruch in das System der Parteien-Oli garchie erfolgt, und dies bei der CDU, dem Hauptträger des Systems.48
44 Vgl. Baukloh, Friedhelm: Auf dem Wege nach rechts. In: Blätter für deutsche und internationale Politik (1967) H. 4. S. 344–354, hier S. 346. Vgl. ferner Baukloh, Friedhelm (unter Pseudonym Günther Schreiber): Neuformierung der CDU. In: Blätter für deutsche und internationale Politik (1966) H. 2. S. 99–104, hier S. 100. 45 Baukloh, Friedhelm: Wird die Mitbestimmung der Großen Koalition geopfert? In: Frankfurter Hefte (1968) H. 10. S. 669–671, hier S. 671. 46 Baukloh, Ludwig Erhard II (wie Anm. 43), S. 119. 47 Er nutzte dabei das Organ der Sozialausschüsse. Vgl. Baukloh, Friedhelm: Arbeiterdichtung 1961. Hoffnung der Dortmunder Gruppe. In: Soziale Ordnung. Christlich-demokratische Blätter der Arbeit (1962) H. 1. S. 18f. 48 Baukloh, Friedhelm: Erfreuliche Initiative. Der Arbeitnehmerflügel der CDU aktiviert sich. In: Frankfurter Hefte (1967) H. 10. S. 664–666, hier S. 665.
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Die Vorstellung einer die formale Demokratie unterschwellig transformierenden Parteienoligarchie war ein zentraler Gesichtspunkt der Kritik von Karl Jaspers an den bundesdeutschen Verhältnissen. Im Spiegel war aus seiner Feder in Großauflage nachzulesen: „Welcher Wandel vollzieht sich in der Struktur der Bundesrepublik? Es scheint: von der Demokratie zur Parteienoligarchie, von der Parteien oligarchie zur Diktatur.“49 Dieser Ansatz, der seine Befürchtungen grundierte, ließ für Baukloh notwendig auch die SPD als andere „Volkspartei“ in den kritischen Blick geraten. Der konstatierte „Substanzverlust“ der SPD kontrastierte dabei mit einer Anerkennung ihres Wirkens an der politischen Basis, dem auch die allgemeine Hoffnung auf Gewerkschaftsarbeit, insbesondere im kulturellen Bereich, entsprach.50 Der Argwohn konzentrierte sich – neben Aspekten des politischen Handelns der Partei wie der zögerlichen Ostpolitik im großkoalitionären Kabinett des Kanzlers Kurt Georg Kiesinger – auf das Führungspersonal, neben Herbert Wehner, der aus der SPD „die beste CDU zu machen“ versuche,51 insbesondere auf Helmut Schmidt. Ihm maß Baukloh eine herausragende Rolle in der Deformierung seiner Partei zu, ihn stellte er immer wieder in wechselnden Kontexten an den Pranger. Er starb über einem Buchprojekt zu Helmut Schmidt.52 Eng verklammert mit diesem Machtkartell sah Baukloh das von der Großen Koalition betriebene Projekt einer Notstandsgesetzgebung – in seiner Beleuchtung ein Element im Gesamtkonzept eines neuerlichen (west)deutschen Großmachtstrebens, als dessen Teil er auch das wirtschaftliche Erstarken der Bundesrepublik, das sogenannte Wirtschaftswunder, ansah. Im inneren Notstand erkannte er die Möglichkeit, „die Formierte Gesellschaft herbeizuzwingen“.53 So schloss sich der Kreis seiner Diagnose eines antidemokratischen Transformationsprozesses in der Bundesrepublik, in dessen Zentrum er das strategische Handeln der CDU und der hinter ihr stehenden wirtschaftlichen Interessengruppen erblickte.54 Die scharfe Wendung gegen den als imperialistische Aggression
49 Jaspers, Karl: Wohin treibt die Bundesrepublik? In: Der Spiegel, 18.4.1966, online unter http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46266482.html (19.4.2016). 50 Baukloh, Friedhelm: In Nordrhein-Westfalen – Koalition gegen Bonn? In: Frankfurter Hefte (1967) H. 1. S. 6–8, hier S. 7; zur SPD-Tätigkeit in Ländern und Gemeinden vgl. die Wertung in Baukloh, Gleichschaltung (wie Anm. 43), S. 604; bzgl. der Gewerkschaften siehe u. a. ders.: Kritische Erwachsenenbildung – ein neuer Versuch. Das Bildungszentrum der IG Metall. In: Frankfurter Hefte (1968) H. 4. 51 Baukloh, Neuformierung (wie Anm. 44), S. 101. 52 Vgl. Bamberg, Baukloh (wie Anm. 1), S. 2. 53 Baukloh, Friedhelm: Bonns Ostpolitik – kein Weg zur Entspannung. In: Blätter für deutsche und internationale Politik (1968) H. 6. S. 607–611, hier S. 608. 54 Vgl. Baukloh, Auf dem Wege (wie Anm. 44), S. 344–354.
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verstandenen Krieg der USA in Vietnam komplettierte auch in seinem Fall das Verdikt.55 Im Horizont dieser Diagnose gewannen gegen den vermeintlichen Trend zur Restauration des autoritären Obrigkeitsstaates gerichtete Kräfte in Bauklohs Engagement ihren Stellenwert. Insbesondere dem gegen die Notstandsgesetzgebung mobilisierenden Bündnis galt seine den programmatischen Ansätzen im Umkreis der 68er Bewegung entsprechende Hoffnung auf die Etablierung einer „Gegenöffentlichkeit“.56 Die Ansätze zu einer von den etablierten Medien unabhängigen, systemkritischen Sphäre der politischen Diskussion und Aufklärung waren dabei breit angelegt und trafen auch im bestehenden Mediensystem auf Unterstützung und Kooperationsbereitschaft vornehmlich bei nachwachsenden Kräften aus Bauklohs eigener Altersgruppe. Namentlich in der zunehmenden Politisierung des Theaters war ein Trend zum Verständnis kultureller Produktionen als Mittel der politischen Intervention erkennbar.57 Der nach wie vor dem Theater verbundene Kritiker, dessen Aufführungsbesprechungen Legion sind, begrüßte diese Entwicklung. In Peter Weiss erkannte er einen der bedeutendsten Gegenwartsdramatiker. Dessen auf dem Sprachmaterial des ersten Auschwitz-Prozesses in Frankfurt am Main fußendes Stück Die Ermittlung sah er dabei in direkter Anknüpfung an eine in den 1960er Jahren wiederentdeckte Traditionslinie: „Die Schlichtheit, mit der Peter Weiss die Zeugenaussagen in seiner Sprache zusammenfasst, hat ein unleugbares Vorbild bei Brecht.“58 Dessen in der Bundesrepublik wachsender Einfluss und Erfolg verdankte sich insbesondere dem Frankfurter Suhrkamp Verlag und der Arbeit des dortigen Theaterchefs Harry Buckwitz – eine politisch im Theaterbereich prägende, von Baukloh gleichwohl ambivalent, als mögliche Vereinnahmung gewertete Entwicklung. Die politische Zuspitzung des kulturellen Selbstverständnisses außerhalb des Theaters erreichte auch die Dortmunder Gruppe 61. Dort wuchsen interne Spannungen. Der literarische Förderer und Lektor Baukloh konstatierte eine Krise der Gruppe und beklagte eine Randrolle der schreibenden Arbeiter gegenüber experimentierenden Autoren.59 So gelangte er an die Seite der um klares 55 Vgl. Baukloh, Friedhelm: Vietnam-Wahrheiten. In: Gewerkschaftliche Umschau (1968) H. 12. S. 279. 56 Baukloh, Friedhelm: Neues Bündnis der Notstandsgegner. In: Frankfurter Hefte (1968) H. 12. S. 813–815, hier S. 814. 57 Vgl. Kraus, Dorothea: Theater-Proteste. Zur Politisierung von Straße und Bühne in den 1960er Jahren. Frankfurt am Main u. a.: Campus-Verlag 2007. 58 Baukloh, Friedhelm: Dante in Auschwitz. In: Blätter für deutsche und internationale Politik (1965) H. 11. Zit. n. Käufer, Baukloh (wie Anm. 13), S. 107. 59 Vgl. Baukloh, Kritische Erwachsenenbildung (wie Anm. 50), S. 251–258.
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politisches Engagement bemühten Autorengruppe, aus der der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt hervorging.60 Die auf einen Abbau rigider Autoritätsstrukturen gerichteten kulturellen und politischen Aufbrüche der westdeutschen 1960er Jahre machten auch vor dem Binnenraum der katholischen Kirche nicht halt. Dort kollidierten sie mit dem überkommenen hierarchischen Bauprinzip der Amtskirche und aktuell mit der als Bevormundung empfundenen Enzyklika „Humanae vitae“ Papst Pauls VI., die sich gegen Empfängnisverhütung wandte. Der Essener Katholikentag 1968 lieferte die Bühne der anstehenden Auseinandersetzung. Als hervorstechende Gruppierung der Neuerer trat der „Kritische Katholizismus“ in Essen hervor. Die aus jüngeren Katholiken bestehende Fraktion war vorwiegend studentisch geprägt und politisch linksstehend im Sinne der Außerparlamentarischen Opposition (APO), von der sich auch ihre – vielleicht polemisch getönte – Apostrophierung als KAPO ableitete.61 Mit einem programmatischen Papier umriss die KAPO vorab ihre Agenda. Darin merkte man kritisch zur katholischen Kirche unter anderem an: „Die mangelnde Bereitschaft, die Rolle der Kirche im Dritten Reich objektiv zu analysieren, die Unterstützung der Remilitarisierung und Atombewaffnung durch den Militärseelsorgevertrag, die Haltung gegenüber den Vertriebenen, zur Notstandsgesetzgebung, zum Vietnamkrieg, zur Strafjustiz gegen Kommunisten, Homosexuelle usw.“62 Außer stark beachteten Auftritten in mehreren thematischen Foren, in denen die Diskussionen des Kirchentages geführt wurden, brachte der Kreis eine aktuelle schmale Zeitung heraus. Das Zirkular wurde im Folgenden ausgebaut zu einer Zeitschrift, die das Anliegen der kritischen Katholiken weitertrug. Die Redaktion bestimmte als ihr Ziel: „Kritischer Katholizismus“ wird herausgegeben in Zusammenarbeit mit Gruppen der antihierarchischen Opposition in der Bundesrepublik und Österreich. Sie versuchen, die Übereinstimmung von Kirche wie Theologie mit der politischen Herrschaft aufzuheben. Statt dessen arbeiten sie für eine Organisation von Christen, die kritische Impulse des Evangeliums und gesellschaftliche Utopien aufnehmen und sich für die Verwirklichung einer nicht nur formal, sondern auch inhaltlich demokratischen Gesellschaft einsetzen.63
60 Vgl. Strasser, Alfred: Der Übergang von der Dortmunder Gruppe 61 zum Werkkreis Literatur der Arbeitswelt. In: Cepl-Kaufmann, Gertrude u. Jasmin Grande (Hrsg.): Schreibwelten – Erschriebene Welten. Zum 50. Geburtstag der Dortmunder Gruppe 61. Essen: Klartext-Verlag 2011. S. 230–236. 61 Vgl. Seeber, David Andreas (Hrsg.): Katholikentag im Widerspruch. Ein Bericht über den 82. Katholikentag in Essen. Freiburg i. Br.: Herder 1968. S. 150. 62 Seeber, Katholikentag (wie Anm. 61), S. 154. 63 Kritischer Katholizismus (1969) H. 7/8. S. 16.
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Die kurzzeitige Mitherausgeberschaft der Zeitschrift 1970 war der letzte politische Akzent, den Friedhelm Baukloh vor seinem Tod am 1. Dezember jenes Jahres setzen konnte. In einem dortigen Nachruf heißt es: „Von uns wird der frühe Tod Friedhelm Bauklohs […] besonders schmerzhaft empfunden, weil das Profil dieser Zeitschrift, deren Herausgeber er nach der Neuorganisation im Herbst 1970 war, mit seinem politischen Engagement übereinstimmte.“64 Der Jahrgang 1927, dem Friedhelm Baukloh angehörte, zählt wie eingangs erwähnt zur sogenannten „Flakhelfer-Generation“. Ein wenig unscharf werden unter diesem Rubrum die Jahrgänge von (etwa) 1927 bis (etwa) 1930 zusammengefasst. Unabhängig vom Einsatz dieser männlichen Jugendlichen als – wie es offiziell hieß – Luftwaffenhelfer, bezieht sich der Ausdruck auf einen geteilten generationellen Erfahrungshintergrund. Darin wird zugleich die Kontur eines politischen Kollektivs angenommen, das in seiner Wirkung umstritten ist. Während der Soziologe Helmut Schelsky in ihm eine, wie der Titel seines bekannten Buches lautet, „skeptische Generation“ zu erblicken meinte, sahen andere Interpreten politisch offensivere Züge walten. Der vom linken studentischen Flügel zum Rechtsintellektuellen gewandelte Günter Maschke wies der „Verschwörung der Flakhelfer“ die Hauptschuld für sein politisches Dekadenzpanorama der bundesdeutschen Zustände der 1980er Jahre zu: Diese Generation, zu jung um die Prügel zu verstehen, die sie empfing, wurde ein Opfer der Gemeinschaftskundewelt, der Care-Pakete, der amerikanischen Stipendien für „Demokratiewissenschaft“ (Politologie) und der Legenden vom britischen Parlament. […] Die Mitglieder dieser Schicht [sic] sind entweder Bejaher der Republik, weil sie, nehmt alles nur in allem, die proklamierten Ziele, die jetzt bedroht sind, erreicht habe. Oder sie sind enttäuschte, aber hartnäckige Liebhaber dieser Republik, weil diese ihre Versprechen nicht eingelöst habe.65
Baukloh wäre in diesem Raster dem letztgenannten Flügel zuzuordnen. Dies bringt ihn in Zusammenhang mit einer auch mediengeschichtlich in den Blick genommenen Formation, den „45ern“.66 In ihrer groß angelegten Untersuchung über die Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit hat Christina von Hodenberg auf das seit den 1960er Jahren markante Profil dieser Altersgruppe im bundesdeutschen Journalismus hingewiesen.67 Friedhelm Baukloh, der Hoden64 Bamberg, Baukloh (wie Anm. 1), S. 2. 65 Maschke, Verschwörung (wie Anm. 7), S. 87. 66 Vgl. Moses, Dirk: Die 45er. Eine Generation zwischen Faschismus und Demokratie. In: Neue Sammlung (2000) H. 2. S. 233–266. 67 Vgl. Hodenberg, Christina von: Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973. Göttingen: Wallstein-Verlag 2006.
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bergs Umrisszeichnung nicht ganz entspricht,68 wäre im linken Flügel dieses kritischen, um eine soziale und liberaldemokratische Entwicklung der bundesdeutschen Gesellschaft bemühten Spektrums zu verorten. Er veranschaulicht überdies die Verbindung von Journalismus und Lektoratstätigkeit, für die auch der von ihm gewürdigte Walter Maria Guggenheimer stand.
68 So dürfte bei Baukloh das Kriegsende nicht den Stellenwert gehabt haben, den Hodenberg den 45ern als typisch zuweist. Vgl. Hodenberg, Konsens und Krise (wie Anm. 67), S. 251f.
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Zur Gründung der Buchreihe Die Andere Bibliothek Ein Blick in die 1980er Jahre des bundesdeutschen Buchmarkts Da […] ein vielbeschäftigter Verleger Wichtigeres zu tun hat, als sich jeden Tag hunderte von Seiten zu Gemüte zu führen, weiß er gewöhnlich selber nicht, was er drucken läßt. Das erklärt vielleicht, warum es so viele Bücher gibt, um die sich nie jemand gekümmert hat, so viele Pflichtübungen; so viel Gleichgültigkeit; Vielleicht erklärt es auch, warum so viele Erzähler ans Licht treten, die nichts zu erzählen haben; […] so viele Langweiler und Wiederholungstäter.1
Kritische Worte ist man in den 1980er Jahren von Hans Magnus Enzensberger gewohnt, und mit solchen begleitete er die Buchproduktion, die sich vom Blei verabschiedet und auf den Fotosatz umgerüstet hatte. Damit empfahl er sich unbewusst als Komplize für den Buchgestalter Franz Greno. Dessen Urteil fiel ähnlich aus, er wollte jedoch den Beweis erbringen, dass es auch anders geht. Die beiden fanden rasch einen gemeinsamen Nenner und riefen eine Buchreihe ins Leben, deren Titel genau diese Absicht ausdrückt: Die Andere Bibliothek. Ihre Gründung durch das Duo Greno/Enzensberger und deren Rahmenbedingungen stehen im Zentrum des vorliegenden Textes.2 Mit einer Buchreihe, die das Andere im Namen trägt, kann man antizyklische Ansätze, innovative Ideen und ein provokantes Pendant zur gewöhnlichen Masse an Medien assoziieren. Wenn dieser Anspruch 30 Jahre später nach wie vor formuliert wird,3 scheint das Konzept jedoch nicht auf kurzlebige Trends gesetzt zu haben, sondern eine tragfähige Möglichkeit des Verlegens darzustellen. Greno und Enzensberger haben mit der Anderen Bibliothek eine solche Unternehmung geschaffen. Bereits 1985, zum Start der Buchreihe, sah der Kulturredakteur Norbert Denkel in ihr vielleicht „kein Modell, aber doch eine Möglichkeit, für die viele zu blind waren, sind und wahrscheinlich auch bleiben werden.“ Was
1 Enzensberger, Hans Magnus. In: Die Andere Bibliothek: Magazin, 1984-0. 2 Dieser Beitrag stellt einen Ausschnitt meiner Masterarbeit dar, die unter dem Titel „Die Andere Bibliothek“ – Geschichte einer Buchreihe im Januar 2016 im Fachbereich Buchwissenschaft der Universität Leipzig unter Erstbetreuung von Prof. Dr. Siegfried Lokatis eingereicht wurde. 3 Vgl. Döring, Christian: Vorwort. In: Boehncke, Heiner u. Hans Sarkowicz (Hrsg.): Wir drucken nur Bücher, die wir selber lesen möchten. Die Geschichte der Anderen Bibliothek in Gesprächen. Berlin: Die Andere Bibliothek 2014. S. 7.
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zu Beginn noch kaum zu fassen sei, könne nachvollziehbar werden, „wenn man alles einmal aufdröselt.“4 Doch die „Geschichte der Anderen Bibliothek wurde noch nie geschrieben. Es gibt kein Archiv, aus dem sich die Daten und Fakten und das Geschick der mitspielenden Akteure allumfassend zusammentragen ließen.“5 Mit diesen Sätzen begründet Christian Döring, seit 2011 Herausgeber der Reihe, das Bemühen, „die wechselvolle Geschichte des für Bücherfreunde nach wie vor faszinierenden verlegerischen Unternehmens“6 in Gesprächen mit beteiligten Zeitzeugen zu rekonstruieren. Die Zusammenstellung von Gesprächen und Feuilletonartikeln stellt jedoch eher eine Quellensammlung als wissenschaftliche Sekundärliteratur dar und steht damit exemplarisch für den Forschungsstand zur Geschichte der Buchreihe. In Fachzeitschriften, Branchenmagazinen und den Feuilletons der Massenmedien finden sich Hinweise, die es ermöglichen, ein virtuelles Verlagsarchiv zu erschaffen und damit die Geschichte der Buchreihe zu rekonstruieren.7 Als stumme Zeugen stehen zudem die über 370 bisher erschienenen Bände der Anderen Bibliothek zur Verfügung. Diese Forschungslücke ist kein Einzelfall: Die jüngere deutsche Buchgeschichte gilt als unzureichend erforscht und ist über weite Strecken als Herausforderung für die Wissenschaft zu sehen.8 Grundlegende Strukturen und Techniken der Buchproduktion, die heute selbstverständlich sind, haben sich in dieser Zeit vollkommen verändert und neu etabliert. In den 1980er Jahren hielt beispielsweise der Computer Einzug in die Unternehmen der Buchbranche und veränderte die Arbeitsabläufe der Druckvorstufe, des Drucks, aber auch der Bestellung sowie des Vertriebs radikal. Bücher konnten so schneller und günstiger produziert werden, doch ermöglichte die neue Technik auch, alte Satz- und Gestaltungsregeln zu brechen. Bei der Verkündung der schönsten deutschen Bücher des Jahrgangs 1980 nutzte Philipp Bertheau, Sekretär des von der Stiftung Buchkunst ausgerichteten Wettbewerbs, die Plattform, um das Niveau der Buchgestaltung grundsätzlich zu kritisieren. Er meinte, dass auch im Fotosatz alte Setzergebräuche und Grundregeln der Typogra4 Denkel, Norbert: Hans und Franz im Bücherglück. In: Die Zeit, 29.11.1985. Literaturbeilage S. 2. 5 Döring, Vorwort (wie Anm. 3), S. 5. 6 Engler, Jürgen: Monate und Freuden. In: Marginalien 217 (2015). S. 3. 7 Vgl. Gastell, Daniela: Verlagsgeschichtsschreibung ohne Verlagsarchiv. In: Norrick, Corinna u. Ute Schneider (Hrsg.): Verlagsgeschichtsschreibung. Modelle und Archivfunde. Wiesbaden: Harrassowitz 2012. S. 56f. 8 Vgl. Lokatis, Siegfried: Moderne deutsche Buchwissenschaft als Medienwissenschaft. In: Estermann, Monika u. a. (Hrsg.): Parallelwelten des Buches. Beiträge zu Buchpolitik, Verlagsgeschichte, Bibliophilie und Buchkunst. Wiesbaden: Harrassowitz 2008. S. 301.
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fie bei der Produktion von lesbarem Text unentbehrlich seien. Als Einstieg zitierte er Hans Magnus Enzensberger, der die negative Beurteilung der Buchproduktion teilte und bereits ein Jahr zuvor – erst in der Jahresgabe der Typographischen Gesellschaft München, dann in der Wochenzeitung Die Zeit – publik gemacht hatte:9 Der Fließsatz erscheine schlecht ausgeglichen und löchrig, Schrift werde wahllos skaliert, eine geringe Auswahl von Schriftschnitten lasse die Produktionspalette uniform aussehen. Ligaturen, Buchstabenabstände und Zeilenumbruch schienen niemanden zu interessieren. Enzensberger äußerte den sarkastischen Verdacht, viele Publikationen seien in Blindenanstalten geschaffen worden, und drohte: „Ich ärgere mich über diese Zumutungen, ich lasse mir die Fähigkeit zu sehen nicht austreiben, aber ich möchte es nicht dabei bewenden lassen, die Verluste zu beklagen.“10 Als Fürsprecher der Leser hielt der Schriftsteller ein Plädoyer für eine Typografie, die nicht nur Lust auf Lesen macht, sondern dieses überhaupt augenfreundlich ermöglicht. Enzensberger wollte auf den Untergang der „Schwarzen Kunst“ – des Handwerks der Schriftgießer, Setzer und Drucker – aufmerksam machen. Dazu verglich er das mit fotomechanischen Verfahren hergestellte Buch mit der geschmacksneutralen, klebrigen Masse, die moderne Brotfabriken liefern. In beiden Bereichen herrsche eine Logik der Rationalisierungsprozesse, die zu einer „Zerstörung der Sinnlichkeit“ beitrügen.11 Die Verlage scheinen sich daran bisher nicht gestört zu haben. Die neue Technik des Fotosatzes hat die Kosten gesenkt und die Produktionszeiten gestrafft.12 „Daß der Vormarsch des Fotosatzes und die vielen mit ihm verbundenen, noch ungelösten Probleme an einem Qualitätsverlust beteiligt sind, ist ein offenes Geheimnis.“13 Dem Absatz bescherte das jedoch keinen Einbruch, und aus heutiger Sicht lässt sich sogar sagen: „Die 80er Jahre, als unter anderem ‚Die Andere Bibliothek‘ gegründet wurde, waren insgesamt gute Zeiten für die Buchbranche.“14 Zu Beginn der 1980er Jahre arbeitete Franz Greno als freier Hersteller und bediente sich je nach Projekt des Blei-, Composer- oder Fotosatzes.15 Der Schrift9 Vgl. Bertheau, Philipp: Die schönsten Bücher 1980. In: Stiftung Buchkunst (Hrsg.): Die schönsten Bücher der Bundesrepublik Deutschland 1980. Frankfurt a. M.: Stiftung Buchkunst 1980. S. 13–19. 10 Enzensberger, Hans Magnus: Das Brot und die Schrift. In: Die Zeit, 22.5.1981. S. 41. 11 Enzensberger, Das Brot und die Schrift (wie Anm. 10), S. 41. 12 Vgl. Stiebner, Erhard: Bruckmannʼs Handbuch der Drucktechnik. München: Bruckmann 1992. S. 26–32. 13 Bertheau, Philipp: Gestern, heute, morgen. „Schön“ – was ist das? In: Börsenblatt (Frankfurter Ausgabe), 10.11.1980. S. 2821. 14 Cronau, Sabine: „Die halbe Miete ist eben nicht die ganze.“ Interview mit Rainer Groothuis, 28.4.2012. http://boersenblatt.net/artikel-corso__insolvenzverfahren.524029.html (20.4.2016). 15 Vgl. Gespräch des Autors mit Reinhard Kaiser am 19.1.2016.
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steller und der Buchgestalter wussten bereits seit Ende der 1960er Jahre voneinander, als Enzensbergers Kursbuch von Suhrkamp zum Wagenbach Verlag wechselte, wo Greno für die Herstellung verantwortlich war.16 Falls er Enzensbergers Essay über Das Brot und die Schrift wahrgenommen hatte, begann dabei vielleicht ein Gedanke in seinem Kopf zu keimen. Möglicherweise erfuhr die Idee für Die Andere Bibliothek ihre Initialzündung, als er bei Enzensberger las, dass manche „noch weiter gegangen [sind]: sie haben sich in der deutschen Provinz zum Schrottpreis mit Bleisatz, Hand- und Schnellpressen eingedeckt und produzieren damit, nach dem Augenmaß einer halbverlorenen Kunst, minoritäre Publikationen.“17 Die Enzensberger-Polemik wirkte wie ein Blick in die nahe Zukunft und kann damit „als Vorgriff auf die 1984 angekündigte und 1985 […] ins Leben gerufene ‚Andere Bibliothek‘ gesehen werden.“18 Greno wurde dann auch zum Initiator der Buchreihe. Im Herbst 1984 besuchte er Hans Magnus Enzensberger in dessen Münchner Wohnung und machte ihm den simplen wie folgenreichen Vorschlag, gemeinsam jeden Monat ein Buch zu veröffentlichen (Abb. 1). Was erscheinen solle, müsse der Herausgeber in spe aber selber entscheiden. Damit erteilte der Verleger und Buchgestalter dem Heraus geber direkt bei der ersten Anfrage die „Carte blanche“ für die Titelauswahl der Reihe.19 Unter welchen Vorzeichen beide die Idee fortan weiterentwickelten, lässt Greno vermuten, als er im Oktober 1984 im Buchreport ankündigte: „Wenn Enzensberger und ich uns Ende November erklären, wird deutlich werden, daß das mit der heutigen üblichen Idee des Verlegens wenig zu tun hat. Wir kehren vielmehr in die Zeit von Göschen zurück, der gemeinsam mit Klopstock den ersten deutschen Genossenschaftsverlag gegründet hat.“20 Grenos unternehmerischer Mut lässt sich anhand seines beruflichen Werdegangs erklären. Bevor er sich in der Herstellungsabteilung des S. Fischer Verlags mit den späten Typoskripten Arno Schmidts einen Namen machte, hatte er kurzzeitig bei Georg Thieme in Stuttgart und in Berlin bei Wagenbach gearbeitet. Die 16 Vgl. Delius, Eberhard: „Ein ziemlich genialer und produktiver Büchermacher.“ In: Boehncke, Heiner und Hans Sarkowicz (Hrsg.): Wir drucken nur Bücher, die wir selber lesen möchten. Die Geschichte der Anderen Bibliothek in Gesprächen. Berlin: Die Andere Bibliothek 2014. S. 69f. 17 Enzensberger, Das Brot und die Schrift (wie Anm. 10), S. 41. 18 Dietschreit, Frank und Barbara Heinze-Dietschreit: Hans Magnus Enzensberger. Stuttgart: Metzler 1986. S. 143. 19 Vgl. Enzensberger, Hans Magnus: „Die Andere Bibliothek war nie eine One-Man-Show.“ In: Boehncke, Heiner und Hans Sarkowicz (Hrsg.): Wir drucken nur Bücher, die wir selber lesen möchten. Die Geschichte der Anderen Bibliothek in Gesprächen. Berlin: Die Andere Bibliothek 2014. S. 9, 15. 20 Schmidt, Uwe: Sortimenter dürfen nicht nach dem Rabatt einkaufen, sondern nach dem Objekt. Interview mit Franz Greno. In: Buchreport, 18.10.1984. S. 8.
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ersten bemerkenswerten Erfolge gelangen ihm ab 1975 in seiner Zeit bei Zweitausendeins, während er sich nicht nur um die Herstellung, sondern auch um das Programm und den Vertrieb kümmerte. An der Seite des Verlagsgründers und Erfinders des Merkheftes Lutz Reinecke (später Kroth) setzte Greno eine Vielzahl an Projekten um, von denen der junge Bibliophile viel lernen konnte. „Er hat dort billige und doch hochwertig gedruckte und gebundene Reprints der Fackel von Karl Kraus herausgebracht, die aufwendigen Text-Bild-Collagen von Negt/Kluge und opulente Bildbände […] zu Spottpreisen hergestellt.“21 Greno wurde zum Alleskönner, agierte „als Hersteller, Programmgestalter, Vertriebsmensch, Ideenproduzent“ und war sich im Rückblick sicher, dass er ohne die Erfahrungen und Erfolge bei Zweitausendeins nicht riskiert hätte, was er schon bald wagen sollte.22
Abbildung 1: Hans Magnus Enzensberger und Franz Greno 1986 in München. Thomas Kohnle, Greno. In: Boehncke, Heiner u. Hans Sarkowicz (Hrsg.): Wir drucken nur Bücher, die wir selber lesen möchten. Die Geschichte der Anderen Bibliothek in Gesprächen. Berlin: Die Andere Bibliothek 2014. S. 11.
21 Lau, Jörg: Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. S. 334. 22 Gerlach, Walter: „Am liebsten hätte ich mit Weihwasser gedruckt.“ In: Börsenblatt (Frankfurter Ausgabe), 20.1.1987. S. 181.
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Seine Zusammenarbeit mit Reinecke endete 1984 aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen bezüglich der Programmausrichtung. Greno zog daraufhin mit Frau und Kindern nach Nördlingen. Seinen eigenen Verlag hatte er bereits am 1. April 1975 ins Handelsregister eintragen lassen, als er noch bei S. Fischer tätig gewesen war. Verlagsort war damals Heusenstamm in der Nähe von Frankfurt am Main, doch die Aktivität hielt sich zu dieser Zeit noch in Grenzen. Das änderte sich Anfang der 1980er Jahre mit Grenos Engagement für die Herstellung und Vermarktung der Gesamtausgabe von Christoph Martin Wieland. Das 15-bändige Werk wurde für 148 Mark innerhalb von vier Wochen 7.500 Mal verkauft. Das ermöglichte Greno, Jan Philipp Reemtsma, der in das Projekt investiert hatte, umgehend auszuzahlen,23 und erweckte den Eindruck, dass sich der Erfolg von Zweitausendeins auch im selbstständigen Schaffen Grenos wiederholen könnte. Die Werkstatt Grenos lag im schwäbischen Nördlingen. Der Ort mit seiner stark im Druckgewerbe verwurzelten Tradition war für den Start des Projekts von großer Bedeutung, wie Eberhard Delius, Verlagsleiter bei Greno von 1986 bis 1989, nahelegt. Dies bescherte der Unternehmung gleich zwei Standortvorteile: Zum einen befanden sich in den Kellern von eingesessenen Verlagen und Druckereien ausgegliederte Setz-, Tast- und Druckmaschinen, die von den neuen Errungenschaften des Fotosatzes abgelöst worden waren. Diese erwarb Greno ab den frühen 1980er Jahren. Zum anderen waren Menschen vor Ort, die den Umgang mit diesen Maschinen gelernt hatten und einen Reiz darin sahen, ihr Können in Grenos Werkstatt erneut unter Beweis zu stellen. Obendrein boten die dort ansässigen Druckereien Leistungen im Offset- und Lithografie-Druck, die der Greno Verlag regelmäßig nutzte.24 Der Blick auf die Rahmenbedingungen lässt folglich vermuten, dass Greno zur rechten Zeit am rechten Ort war, um die alte Drucktechnik für ein ambitioniertes Verlagsprogramm noch einmal zu entstauben. Sein Publikationskonzept für Die Andere Bibliothek präsentierte das Gründungsduo Ende 1984 in Form eines 16-seitigen Magazins. In diesem Manifest erklärten beide dem Publikum, welche Ideen hinter ihrer Planung standen, warum sie gegen die Regeln der Büchermacher verstoßen wollten und dennoch dachten, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Ganz oben auf der Titelseite des Magazins stand der Name der Buchreihe. Bereits in der Titelwahl Die Andere Bibliothek zeigte sich „erhebliches Geschick, indem sie das Versprechen kultureller Gediegenheit und Beständigkeit alternativ einfärbt.“25 Dabei war das „A“ bewusst als Majuskel gesetzt, um das Adjektiv 23 Gerlach, Weihwasser (wie Anm. 22), S. 181. 24 Gespräch des Autors mit Eberhard Delius am 16.6.2015. 25 Vogt, Jochen: Buch & Wein. In: Arnold, Heinz-Ludwig (Hrsg.): Hans Magnus Enzensberger. 2. erw. Aufl. München: Edition Text + Kritik 1985. S. 104.
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semantisch aufzuladen und Irritation zu provozieren. Dominiert wurde die Seite jedoch von einem Abdruck des „Bibliothekars“ von Giuseppe Arcimboldo (Abb. 2).
Abbildung 2: Titelseite des Gründungsmagazins. BANK™. In: Boehncke, Heiner u. Hans Sarkowicz (Hrsg.): Wir drucken nur Bücher, die wir selber lesen möchten. Die Geschichte der Anderen Bibliothek in Gesprächen. Berlin: Die Andere Bibliothek 2014. S. 13.
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Im Innenteil des Gründungsmagazins festgehalten, können die einzelnen Entscheidungen – in bester Buchgestaltungsmanier von innen nach außen – nachvollzogen werden. Greno begann in seiner Beschreibung des Produkts mit den Buchstaben und der Schrift: „Die Typographie eines Buches soll sich immer nach dem Inhalt richten. […] Wir verfügen über zahlreiche verschiedene Monosatz-Bleischriften in zahlreichen Größen. Das erlaubt eine Vielfalt, die heute nicht mehr selbstverständlich ist.“26 Die künstlerische Entscheidung, deren zugrundeliegende Überlegung Greno hier darlegte, beschreibt den Kern der Buchgestaltung, der in den folgenden Jahren immer wieder hervorgehoben wurde: Schriftsatz in Blei, auf anspruchsvollen Monotype-Maschinen. Die Erfindung des Linotype-Systems 1886 und des Monotype-Systems 1897 hatten einen entscheidenden Sprung nach vorne bedeutet, weil sie schneller, effizienter und günstiger waren als der bis dato übliche Handsatz.27 1985 hingegen, fast 100 Jahre später, war die Entscheidung für das Monotype-Satzverfahren jedoch ein Schritt zurück. Wie bereits erwähnt wurde die Produktion in der absoluten Mehrzahl der Druckereien bereits auf Composer- und Fotosatz umgestellt.28 Diesen Schritt in die Vergangenheit begründete Greno mit der verfügbaren Vielfalt an Schriften. In den 1980er Jahren war es tatsächlich so, dass für den Fotosatz neu entworfene Werksatzschriften in der Buchherstellung kaum Anwendung fanden. In Layoutsetzereien kamen diese Schriften in der Werbung durchaus schon zum Einsatz, nur den Weg in das Buch fanden sie noch ausgesprochen selten.29 Zu dieser Zeit standen im Fotosatz weniger Schriftarten zur Auswahl als kurz zuvor im Bleisatz und viel weniger als kurze Zeit darauf im Computersatz.30 Um diesen Zustand heute zu verstehen, hilft ein Blick auf die Gestaltung von E-Books. Zwar steht den Gestaltenden heute eine unüberschaubare Menge an Schriftarten zur Verfügung, im responsive Design – wie die E-Pub-2 Technik sie bietet – können jedoch nur Schriftarten angezeigt werden, die auf dem Endgerät bereits installiert sind. Als Konsequenz beschränken sich E-Book-Gestalter auf eine Handvoll Schriften, während ihre Druck-Kollegen die komplette Auswahl nutzen können. So wie heute das gedruckte Buch gegenüber dem E-Book in Sachen Schriftauswahl im Vorteil ist, so übertraf Grenos Schriftensammlung das, was die meisten Druckereien im Fotosatz der 1980er Jahre zu bieten hatten. Obendrein wuchs seine Auswahl stetig weiter, was den angestellten Setzern in der Werkstatt zu ver26 Die Andere Bibliothek: Magazin, 1984-0. 27 Vgl. Garfield, Simon: Just my type. Berlin: Ullstein 2012. S. 251. 28 Vgl. Hudetz, Walter u. a.: Druckindustrie im Wandel. Entwicklung und Perspektiven unter dem Einfluss der Informations- und Kommunikationstechnologien. Stuttgart: LOGX 2000. S. 109f. 29 Bertheau, Bücher (wie Anm. 9), S. 13–19. 30 Gespräch des Autors mit Eberhard Delius am 16.6.2015.
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danken war: Sie hatten Matrizensätze aus verschiedenen eingelagerten Beständen zusammengesammelt und unvollständige Sätze nach und nach komplettiert.31 Auf diese Weise zahlten sich das Können und die Erfahrung der engagierten Setzer für Greno zusätzlich aus. Augenzeuge Rainer Schmitz erinnert sich begeistert: „Er verfügte seinerzeit über die größte private Offizin Europas: Greno – das war unbestritten der ‚Großmeister der schwarzen Kunst‘!“32 Neben dem Text sollten dem Magazin zufolge Abbildungen das Innenleben der Bücher bereichern. In der Ankündigung versprach Franz Greno: „Viele Bände werden illustriert sein; die Bilder sollen aber nicht einfach wiederholen, was im Text steht, sondern selber etwas zu sagen haben.“33 Mehr Worte verlor er dazu nicht, doch die reiche Bebilderung des Magazins, die die Buchproduktion in der Nördlinger Werkstatt darstellte, unterstrich das gegebene Versprechen. Auf der imaginären Wanderung vom Buchinneren nach außen zählte Greno die weiteren Merkmale der Buchreihe auf: Spezielle Vor- und Nachsatzpapiere, Fadenheftung, holzfreies Papier, Kapitalband und Lesebändchen sollten für eine hochwertige Ausstattung sorgen. Das schlanke Format von 12 x 22 Zentimetern fiel in die Gruppe der Oktav-Formate; außen „keine Uniform“, kein werbender Schutzumschlag, sondern Pappbände im Stil des 18. und 19. Jahrhunderts; ab und an ein farbiger Kopfschnitt und zu guter Letzt ein rotes Rückenschild aus Leder, das sich schnell zum Erkennungszeichen der Anderen Bibliothek entwickelte. Auch nach der eigentlichen Gestaltung wurde das Erscheinungsbild weitergedacht und auf ein Einschweißen der einzelnen Bücher verzichtet, da sie zum Aufschlagen gemacht seien. Diese Entscheidungen stehen für eine persönliche Note, die sich Franz Greno als Buchgestalter bereits zuvor angeeignet hatte und die im Feuilleton schon zum Start der Reihe wahrgenommen wurde: Mehr als fünfzig der von ihm gestalteten Bücher sind bislang prämiert im jährlichen Wettbewerb der „Schönsten Bücher“. […] Er ist neugierig auf neue Wirkungen, freut sich, wenn etwas gelang, was sonst jeder Verlag „aus Kostengründen abschmettern würde“ – eingeklebte Bilder zum Beispiel (wofür er mit dem Buchbinder zusammen eine neue Maschine konstruierte), Stahlstich als Frontispiz, Titelbogen auf Vorsatzpapier gedruckt und ähnliches mehr. Er sucht den Vorsprung, hat Appetit auf den ersten Platz.34
31 Gespräch des Autors mit Eberhard Delius am 16.6.2015. 32 Schmitz, Rainer: Band 44 – Oder: Mein turbulentes Jahr mit Franz Greno. In: Boehncke, Heiner und Hans Sarkowicz (Hrsg.): Wir drucken nur Bücher, die wir selber lesen möchten. Die Geschichte der Anderen Bibliothek in Gesprächen. Berlin: Die Andere Bibliothek 2014. S. 77. 33 Die Andere Bibliothek: Magazin, 1984-0. 34 Denkel, Bücherglück (wie Anm. 4), Literaturbeilage S. 2.
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Die besagte Ausstattung kam den von Enzensberger gewählten Inhalten zugute. So fand sich im ersten Magazin außerdem der Satz, der immer wieder bemüht wurde, um das schwer Fassbare zu beschreiben und damit zu einem Slogan der Buchreihe avancierte: „Wir drucken nur Bücher, die wir selber lesen möchten.“ Kaum greifbar sein zu wollen, scheint dabei ebenso programmatisch, wenn Enzensberger sich weigerte, das Feld abzustecken, auf dem sich Die Andere Bibliothek bewegen würde. Das mag auch an seiner Vorstellung idealer Literatur gelegen haben, die er bereits 1980 mit TransAtlantik – einem Kulturmagazin, das mit anspruchsvollen Reportagen als Gegenstück zu den damaligen grellen Fotostrecken auf Hochglanzpapier gedacht war – bedienen wollte und die „eine Mischung aus journalistischer und schriftstellerischer Arbeit herstellen“35 sollte. Der Literaturwissenschaftler Jochen Vogt sieht in Enzensbergers „programmatische[m] Nicht-Programm“ eine „Absage an die Willkür und Zufälligkeit des literarischen Marktes.“36 „Anything goes“37 – ein weiteres Zitat, das oft wiederholt wurde und vielleicht mit dem Wechsel ins Englische schon andeuten sollte, dass Sprachen für den vielgereisten Herausgeber keine Grenzen darstellten. Der Literaturwissenschaftler Heiner Boehncke erkennt in der Aussage ebenso keinen Ausdruck postmoderner Beliebigkeit, sondern „die bewährten enzyklopädisch-interkulturellen Interessen und das notorische Finderglück des Herausgebers.“38 Um die volle Bandbreite zu unterstreichen, nannte Enzensberger alle inhaltlichen Kategorisierungen, die einem Buchhändler zur Verfügung standen, und beanspruchte sie ausnahmslos für die eigene Buchreihe. Das galt überdies sowohl für die Genres als auch auf der Zeitachse. Den Lesern wurden keinesfalls nur Novitäten von lebenden Autoren versprochen, ganz im Gegenteil sollte gerade bereits Gedrucktes dem Datum des Vergessens entrissen werden. Nicht nur bei der Auswahl, auch bei der Erscheinungsweise wollte der Intellektuelle weder im bekannten Turnus ein Frühjahrs- und Herbstprogramm auf die Beine stellen noch sich an den Terminen der Buchmessen orientieren. Die Andere Bibliothek sollte – wie Greno bereits im ersten Gespräch in München vorgeschlagen hatte – einem anderen Rhythmus folgen: zwölf Bücher pro Jahr, jeden Monat eines. Dass all diese Bemühungen bezüglich Ausstattung und Programm nicht im luftleeren Raum stattfanden, bewies das Duo mit einer ambivalenten Einschät35 Kim, Kyung-Nan: Enzensbergers medienkritische Positionen im Spiegel seiner Essays über Medien. Aachen: Shaker 2002. S. 228. 36 Vogt: Buch & Wein (wie Anm. 25), S. 107. 37 Die Andere Bibliothek: Magazin, 1984-0. 38 Boehncke, Heiner: Die Andere Bibliothek. In: Gesellschaft der Bibliophilen (Hrsg.): Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde N. F. 20 (2007). S. 224.
Zur Gründung der Buchreihe Die Andere Bibliothek
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zung der Buchbranche und deren Publikum. Sie meinten, die Einwohner der Bundesrepublik seien mit Büchern gut versorgt, hätten jedoch ein Verlangen nach gedrucktem Wissen und ein haptisches Bedürfnis, das durch den zunehmenden Einfluss der Computertechnik genährt werde. Auch in die strukturelle Aufstellung gewährte das Gründerduo einen Einblick: Auf den Versuch, alle beteiligten Akteure – Herausgeber, Lektoren, Übersetzer, Korrektoren – in einem Bürohaus zu versammeln, wurde verzichtet. Hans Magnus Enzensberger wohnte und arbeitete in München, Bernd Bexte als Bildredakteur, Reinhard Kaiser als Lektor und Uwe Gruhle mit den Aufgabengebieten Marketing und PR in Frankfurt. Peter Bexte übernahm redaktionelle Arbeiten von Berlin aus. In der Nördlinger Werkstatt sollten vier Schriftsetzer und zwei Buchdrucker arbeiten. Sogar die Werbeidee machten sie transparent, indem sie verrieten, dass so, wie das 16-seitige Magazin die gesamte Buchreihe ankündigte, alle Bände durch jeweils ein kostenloses Magazin angekündigt werden würden. Sie planten, es jeweils zusammen mit dem Band des Vormonats an die Buchhandlungen auszuliefern und darin Informationen zu den Autoren zu geben, außerdem Leseproben, kritische Urteile und manches andere, was zu wissen nützlich sei. Von der angekündigten, untypisch ungeraden Zahl von 31 Seiten wurde die Seite für eine Weinwerbung – durch die das Magazin überhaupt finanziert werden konnte – bereits abgezogen.39 Denkel sah besonders in den Magazinen „einen Aspekt, den viele, die ähnliche Buchqualität anstreben, stets in edlem Verzicht außer Acht lassen: Die Werbung. […] Man muß lange suchen, um auf einen ähnlich guten Werbeeinfall zu stoßen.“40 Das Gründungsmagazin stand damit als praktisches Beispiel für das Werbekonzept und zeigte, was von diesem Format zu erwarten sein würde. Als Quelle für die buchwissenschaftliche Forschung ist dieses Magazin – trotz seiner subjektiven Färbung und seines werbenden Charakters – eine interessante Momentaufnahme und ein ertragreiches Fundstück. Der erste Band, Lukians Lügengeschichten und Dialoge, stand ab dem 18. Januar 1985 in den Buchhandlungen, und damit begangen turbulente Jahre für Franz Greno. Trotz mehrerer Bestseller musste er die Buchreihe 1989 an den Eichborn Verlag verkaufen. Während dort 269 Bände erschienen, wurde 1997 die Herstellung auf den Computersatz umgestellt. Das Gründungsduo beendete seine Arbeit an der Buchreihe; Enzensberger 2004, Greno 2007. Heute erscheint sie im eigens gegründeten Verlag AB – Die Andere Bibliothek unter dem Dach der Aufbau-Gruppe. Sie wird von Christian Döring herausgegeben und von wechselnden
39 Die Andere Bibliothek: Magazin, 1984-0. 40 Denkel: Bücherglück (wie Anm. 4), Literaturbeilage S. 2.
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Designern gestaltet. Der Ideen der Gründungsväter sind sich alle Beteiligten nach wie vor bewusst. „Die Vorstellung, daß irgend etwas anders sein könnte, als es ist, wird von allen, die etwas zu sagen haben, für aberwitzig gehalten, was zur Folge hat, daß der Aberwitz unangefochten regieren kann.“41 Diese Sentenz aus dem Jahre 1982 formulierte Hans Magnus Enzensberger mit Blick auf das Bildungssystem, doch könnte sie in ähnlicher Weise sinnbildlich für Die Andere Bibliothek stehen. Die Bedeutung von Akteuren, Ort und Zeit unterstreicht Eberhard Delius im Rückblick deutlich: Die Erfolgsgeschichte der Anderen Bibliothek lässt sich nur begreifen, wenn man versteht, mit welchen Donnerschlägen der Verlag gegründet wurde, dass er nur in Nördlingen und nur von einer so kreativen, abenteuerlustigen und mit vielen Talenten gesegneten Person wie Franz Greno in Fahrt gebracht werden konnte und dass das alles nur in den technologischen und historischen Bedingungen der 1980er Jahre so passieren konnte.42
Auch der Herausgeber ist sich in der Retrospektive sicher: „Kein Großverleger hätte ein solches Vorhaben auch nur mit der Zange angefaßt.“43 Im Gründungsmagazin schrieben Franz Greno und Hans Magnus Enzensberger ihre theoretischen Überlegungen fest und gaben den öffentlichkeitswirksamen Startschuss der Buchreihe. In den mehr als 30 Jahren, die seitdem vergangen sind, hat sich scheinbar alles verändert – Verlag, Personal, Herstellungstechnik –, und dennoch wächst die Buchreihe weiterhin jeden Monat, ohne dass ihr diese wechselvolle Geschichte anzusehen wäre, wenn die einzelnen Bände Rücken an Rücken nebeneinander stehen.
41 Enzensberger, Hans Magnus: Plädoyer für den Hauslehrer. In: ders.: Nomaden im Regal. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003. S. 70. 42 Delius, Büchermacher (wie Anm. 16), S. 48. 43 Enzensberger, Hans Magnus: Meine Lieblings-Flops. Berlin: Suhrkamp 2011. S. 137.
Buchhandel und Begegnungen
Vera Dumont
Buchgemeinschaft statt Volksgemeinschaft Zum Identifikationspotenzial der Lesering-Illustrierten in den 1950er Jahren Im Frühling 1954 wurde in der Lesering-Illustrierten zwischen Buchankündigungen und Bestellhinweisen eine etwas ungewöhnliche Heiratsanzeige abgedruckt: „Ihre Vermählung zeigen an: Die Mitglieder des Leseringes ‚Das BertelsmannBuch‘ bei Fa. Max Büchner Buchhandlung, Hannover, Nr. 5125 und Nr. 369“ (Abb. 1).
Abbildung 1: Heiratsanzeige, abgedruckt in der Lesering-Illustrierten des zweiten Quartals 1954. S. 15.
Ein derartiger Ausdruck der Zugehörigkeit zu einem damals nahezu eine Million Mitglieder organisierenden Unternehmen scheint auf den ersten Blick verwunderlich für die 1950er Jahre – hatte doch ein Großteil der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft auf die Erfahrungen mit der Volksgemeinschaftspropaganda und der Zwangsmitgliedschaft in Massenorganisationen der NS-Zeit mit dem Rückzug ins Private reagiert.1 Buchgemeinschaften erlebten in dieser Zeit einen zweiten Boom, und Bertelsmann ließ bald alle Mitbewerber auf dem hart umkämpften Markt hinter sich. Dies wird im Allgemeinen mit einem durch die Zeitumstände bedingten, besonders ausgeprägten Verlangen der Deutschen nach Büchern erklärt, das mit den günstigen Buchpreisen der Buchgemeinschaft besonders leicht gestillt werden konnte und noch dazu mit lukrativen Werbeprämien belohnt wurde.2 Die Mitgliederzeitschrift wurde in der Forschung dagegen bisher kaum beachtet, aber gerade sie war ein wichtiges Bindeglied zwischen 1 Vgl. Schildt, Axel: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 50er Jahre. Hamburg: Christians 1995. S. 110–119. 2 Umfassend zur Erfolgsgeschichte des Leserings siehe: Lokatis, Siegfried: Ein Konzept geht um die Welt. Vom Lesering zur Internationalisierung des Clubgeschäfts. In: Bertelsmann AG (Hrsg.): 175 Jahre Bertelsmann: Eine Zukunftsgeschichte. München: Bertelsmann 2010. S. 132–171.
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dem Unternehmen und seinen Kunden. Bertelsmann experimentierte sogar mit unterschiedlich gestalteten Versionen, um mögliche Zusammenhänge zwischen Darstellung und Bestellverhalten herauszufinden.3 Über die Werbung für die angebotenen Titel hinaus bietet die Mitgliederzeitschrift Raum für die Selbstdarstellung der Buchgemeinschaft und die Kommunikation mit den Mitgliedern, etwa in Form von Editorials und anderen Textsorten, darunter auch oben genannte Anzeige, die der Redaktion gut ins Konzept passte. Der redaktionelle Kommentar schließt mit den Worten: „Uns bewies das Kärtchen aufs neue, daß es viele Menschen gibt, denen die Mitgliedschaft im Lesering weit mehr bedeutet als eine nüchterne Geschäftsbeziehung.“4 War der Lesering – wie es die gerne präsentierte Selbstsicht suggeriert – für seine Mitglieder tatsächlich mehr als nur ein kontinuierlicher Bücherlieferant? Dass obiger Fund dahingehend keinerlei Beweiskraft besitzt, versteht sich von selbst. Wie stark aufseiten der Mitglieder tatsächlich eine emotionale Bindung an den Lesering oder ein Gemeinschaftsgefühl empfunden wurde, lässt sich kaum rekonstruieren. Eine Betrachtung der Diskursebene der Mitgliederzeitschriften bietet aber die Chance, Strategien aufzuspüren, die geeignet waren, solche Gefühle herzustellen, und die viel darüber verraten, worin der Mehrwert des Leserings bestanden haben könnte. Dadurch soll in diesem Aufsatz der Erfolgsgeschichte des Leserings eine bisher unbeachtete Facette hinzugefügt werden. Da das Geschäftsprinzip einer Buchgemeinschaft auf der möglichst langfristigen Bindung der Buchkäufer an das Unternehmen beruht, gehören die Schlagworte „Vertrauen“ (aufseiten der Mitglieder) sowie „Versprechen“ und „Verpflichtung“ (aufseiten der Buchgemeinschaft) zum grundlegenden Vokabular einer Mitgliederzeitschrift, so auch bei Bertelsmann.5 Grundsätzlich kennzeichnet die Editorials, aber auch die Werbetexte, die sich konkreten Autoren und Titeln des Programms widmen, ein emotionaler Stil, der Anknüpfungspunkte zwischen Unternehmen und Mitgliedern genauso wie zu Autoren, Titeln und Themen schafft und dessen gemeinschaftsstiftendes „wir“ Leser und Buchgemeinschaft sprachlich zu einer Einheit zusammenschweißt, die gemeinsame Erfahrungen, Interessen und Aufgaben suggeriert. Dabei wird in den ersten Jahrgängen häufig auf Kriegs- und Nachkriegserfahrungen Bezug genommen, so etwa Flucht, Verlust des Eigentums und Tod, Heimkehr, Leid durch Krieg und Zerstörung. Wohlgemerkt wird das Leid der vom Nationalsozialismus Verfolgten dabei zunächst – 3 Vgl. Tielebier-Langenscheidt, Florian: Werbung für deutsche Gegenwartsliteratur: Ein Beitrag zur Theorie und Praxis der Literaturvermittlung. Frankfurt am Main: Buchhändler-Vereinigung 1983. S. 90. 4 Lesering-Illustrierte (1954) H. II. S. 15. 5 Vgl. Lesering-Illustrierte (1951) H. I. S. 2; (1951) H. II. S. 2; (1951) H. III. S. 2.
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der in der Nachkriegsgesellschaft vorherrschenden Verdrängung des Holocaust entsprechend – ausgeklammert, auch bei der Vorstellung jüdischer Autoren.6 Zu den in der Lesering-Illustrierten ausgiebig bedienten zeittypischen Narrativen gehört das der „Schicksalsgemeinschaft“7, in der die Menschen aufopferungsvoll und heroisch die Härten der als schicksalhaft auferlegt empfundenen historischen Situation ertragen. Insbesondere bei der Vorstellung aktueller Zeitromane, die von Anfang an Bestandteil des Programms waren, bietet sich dies geradezu an: Dorothea Hollatz’ Roman Wer unter euch ohne Sünde ist, Hauptvorschlagsband im zweiten Quartal 1951, widmet sich der Heimkehrer-Problematik, dem „Frauenlos unserer Tage“8. Hanna Stephans Werk Engel, Menschen und Dämonen aus demselben Jahr, angekündigt als erster Roman der großen Flucht von 1945 aus den ostpreußischen Gebieten, handelt davon, so die Buchankündigung, „was Menschen wie Du und ich erlebt, erlitten und überwunden haben“9. Ähnlich sind auch die Porträts der heutzutage völlig in Vergessenheit geratenen Autorinnen gestaltet, die die traurigen Erfahrungen vieler Menschen der Nachkriegszeit teilten: Witwe mit einem in Russland verschollenen Sohn die eine – Ostflüchtling, die alles zurücklassen musste, die andere.10 Wo dies möglich ist, laden durch Auswahl und Gewichtung biografischer Informationen auch andere Autorenporträts den Nachkriegsleser zur Identifikation ein, so etwa das des Abenteuer- und Reiseschriftstellers A. E. Johann, der in „dieser Wirrnis des Nachkrieges die tausendundeine Sache“ treibt „wie wir alle“, nachdem ihm „alles früher Erworbene verbrannt und verloren ist“.11 Mit zunehmender zeitlicher Entfernung von der unmittelbaren Nachkriegszeit rücken bei Johann später wieder andere biografische Details in den Mittelpunkt, so seine ausgedehnten Reisen durch viele Länder der Erde.12 Sogar in Werbetexten zu älteren Titeln finden sich Bezugnahmen auf den Erfahrungshorizont der Mitglieder, so etwa bei Tolstois Roman Auferstehung, Hauptvorschlagsband des dritten Quartals 1950: Die Buchankündigung bezeichnet den Autor als „Künder der Güte und Menschenliebe, der im geistigen Chaos seiner Zeit mit Ernst dem nachleben wollte, was er predigte“ und schließt mit dem auffordernden Satz: „Also sollten auch wir tun und mit Nech-
6 Vgl. das Autorenporträt von Max Brod, Lesering-Illustrierte (1952) H. IV. S. 15. 7 Vgl. Bajohr, Frank u. Michael Wildt (Hrsg.): Volksgemeinschaft: Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 2009. S. 22. 8 Lesering-Illustrierte (1951) H. II. S. 10. 9 Lesering-Illustrierte (1951) H. IV. S. 6. 10 Vgl. Lesering-Illustrierte (1951) H. II. S. 8; (1951) H. IV. S. 6. 11 Lesering-Illustrierte (1951) H. II. S. 8. 12 Vgl. Lesering-Illustrierte (1955) H. IV. S. 18; (1957) H. IV. S. 15; (1959) H. IV. S. 15.
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ljudoff [dem Protagonisten des Romans, V. D.] sprechen: ‚Das ist sie, die neue Aufgabe meines Lebens, die eine ist beendet, die andere beginnt!‘“13 Doch nicht nur die Ebene der autor- und titelbezogenen Texte der ersten Jahrgänge bemüht das Identifikationspotenzial der „Schicksalsgemeinschaft“: Entsprechend gestaltet sind auch die Präsentationen der Gewinner der häufig veranstalteten Preisausschreiben, so beispielsweise die Preisträger im Herbst 1952, die außer mit Namen und Foto noch als „Ostflüchtling“ und „kriegsgeschädigter Eisenbahner“ vorgestellt werden. Letzterer habe „sich unter vielen persönlichen Opfern gerade ein Häuschen gebaut“ und könne den Preis, einen „KüppersbuschLuxus-Herd“, gut gebrauchen.14 Aus der Anonymität der Massenorganisation im Lesering möglichst oft Namen, Gesichter und persönliche Geschichten herauszuheben, ist eine häufig angewendete Strategie. Regelrecht inszeniert werden die runden Zahlen beim Mitgliederzuwachs, meist verbunden mit einer öffentlichkeitswirksamen Veranstaltung im zugehörigen Betrieb mit Lesung und Auslosung des prämierten neuen Mitglieds aus einer kleinen Zahl von Neuzugängen, über die dann im nächsten Quartal berichtet werden kann: Über das 200.000. Mitglied des Leserings, einen Mitarbeiter der Gummiwarenfabrik „Phoenix“ aus Harburg, heißt es: „Keinem wurde die Prämie neidloser und herzlicher von der vielhundertköpfigen Gästeschar […] gegönnt als Herrn Alb. Hebenbrock, der, durch eine Kriegsverletzung an der Ausübung seines erlernten Berufes verhindert, jetzt als Mann des Werkschutzes unverzagt und aufrecht seine Pflicht tut.“15 Dass Bertelsmann sich bei den Prämien sehr großzügig zeigte – im letzten Beispiel eine große Büchersammlung, kostenlose Mitgliedschaft auf Lebenszeit und eine Deutschlandreise –, erhöhte die Werbewirkung sicherlich beträchtlich. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Lesering bereits auf der Überholspur und war kurz davor, Deutschlands größte Buchgemeinschaft zu werden. Mit der Mitgliederwerbung in Firmen war er nun auch erfolgreich in das ureigene Terrain der traditionsreichen Büchergilde Gutenberg vorgestoßen. Als Bertelsmann 1950 seine zweistufige Buchgemeinschaft in enger Zusammenarbeit mit dem Reise- und Versandbuchhandel gegründet hatte, war diese noch Marktführer gewesen.16 Inzwischen ist bekannt, dass die rasante Erfolgsgeschichte des Leserings firmenintern nicht so unproblematisch war, wie sie nach außen erschei-
13 Lesering-Illustrierte (1950) H. IV. S. 7. 14 Lesering-Illustrierte (1952) H. IV. S. 2. 15 Lesering-Illustrierte (1952) H. II. S. 2. 16 Vgl. Dumont, Vera: „Gratulation zur Wiederauferstehung. Und viel viel Erfolg!“. Kontinuität im Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Büchergilde Gutenberg und von Holtzbrincks Stuttgarter Hausbücherei. In: Zeckert, Patricia F. (Hrsg.): Flachware. Fußnoten der Leipziger Buchwissenschaft 3. Leipzig: Plöttner Verlag 2013. S. 55–74, hier S. 71.
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nen mag.17 Einen besonders kritischen Moment erreichte man im Frühling 1951 mit der starken Erhöhung der Preise auf dem angespannten Papiermarkt und ganz hauseigenen Liquiditätsproblemen durch das unerwartet rasche Wachstum des Leserings. Im Editorial zum einjährigen Bestehen der Buchgemeinschaft im dritten Quartal 1951 heißt es: „wie das so ist im Leben, machte uns unser Geburtstagskind im ersten Lebensjahr viel Freude, aber doch auch mancherlei Sorgen.“ An die Mitglieder hatten diese finanziellen Sorgen durch unerfreuliche Zuzahlungsbeiträge bei umfangreicheren Titeln weitergegeben werden müssen, was den Zustrom jedoch keineswegs bremste. Angesichts der Notwendigkeit, im selben Heft die unvermeidbar gewordene Erhöhung des Mitgliedsbeitrags ankündigen zu müssen, tat eine Beschwörung des Zusammenhalts not: „Wir erkannten dankbaren Herzens, daß das Band unserer Gemeinschaft viel stärker war, als wir es bis dahin zu hoffen gewagt hatten.“ Sogar „die Lösung des Problems“ sei „aus dem Kreis der Lesering-Mitglieder gewiesen“ worden, viele Stimmen hätten „eine geringfügige Erhöhung des Monatsbeitrages“ statt der das Bestellprozedere verkomplizierenden Zuzahlungsbeiträge vorgeschlagen.18 Für die gar nicht so kleine Erhöhung um 60 Pfennig, um die intern lange gerungen worden war,19 wurden nun also rhetorisch geschickt die Mitglieder mit ins Boot geholt. Auch an anderen Stellen wurde ihnen eine Mitarbeiterfunktion suggeriert, so etwa mit der Bitte, der Buchgemeinschaft Titelwünsche für das Programm mitzuteilen.20 Bei der Ausrichtung des Angebots am Geschmack der Buchkäufer konnte das nur von Nutzen sein. Ein wichtiger Schachzug in dieselbe Richtung war die ab dem Geburtstagsquartal 1951 massiv beworbene Freundschaftswerbung: „Wenn Sie, verehrtes Mitglied, uns nun noch mithelfen, unserer großen Gemeinschaft neue Freunde zuzuführen, dann schaffen Sie hierdurch die besten Voraussetzungen für eine weitere Erhöhung unserer Leistungen.“21 In der Folge nahm die Mobilisierung der Mitglieder immer mehr Raum in der Lesering-Illustrierten ein: Zur Mithilfe wurden sie – vor dem Hintergrund des ständigen Wettlaufs auf dem Buchgemeinschaftsmarkt – bald in geradezu penetranter Frequenz aufgerufen, die allerdings in der herrschenden Aufbau-Mentalität des beginnenden Wirtschaftswunders auf offene Ohren gestoßen zu sein scheint. Eifrige Werber wurden mit Buchprämien belohnt, später sogar lukrative Geldund Sachpreise verlost und besondere Verdienste für die Buchgemeinschaft mit 17 Vgl. Lokatis, Konzept (wie Anm. 2), S. 144. Vgl. Mohn, Reinhard: Von der Welt lernen. Erfolg durch Menschlichkeit und Freiheit. München: Goldmann 2008. S. 46–48. 18 Lesering-Illustrierte (1951) H. III. S. 2. 19 Vgl. Mohn, Von der Welt lernen (wie Anm. 17), S. 45f. 20 Vgl. z. B. Lesering-Illustrierte (1952) H. II. S. 6. 21 Lesering-Illustrierte (1951) H. III. S. 2.
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Foto und Namen herausgestellt, so zum Beispiel der Rekord von 85 Neumitgliedern, die Wilhelm Hücker bis zum Herbst 1952 geworben hatte.22 Wie groß der Anteil der durch Bemühungen der Mitglieder gewonnenen Neuzugänge tatsächlich war, muss an dieser Stelle offen bleiben, aber rhetorisch boten sich dadurch ganz neue Möglichkeiten: Der zunehmende Erfolg konnte nun als gemeinschaftliches Werk von Unternehmen und Mitgliedern dargestellt werden. Die in der Lesering-Illustrierten anfänglich beschworene „Schicksalsgemeinschaft“ wich in zunehmendem Maße der Rede von der „Leistungsgemeinschaft“.23 Beide Narrative waren den Menschen der Nachkriegszeit vertraut, sie hatten bereits zu den „mobilisierenden Mechanismen“24 des Nationalsozialismus gehört. Doch im Gegensatz zur diskreditierten, unter politischen Vorzeichen formierten Volksgemeinschaft der NS-Zeit handelte es sich beim Lesering um das Konstrukt einer Gemeinschaft, die vorgab, der – zumindest vordergründig – nicht kompromittierten Kultur gewidmet zu sein. Dass sie mit der bald erreichten Marktführerschaft in Deutschland zur „Erfolgsgemeinschaft“ wurde und wenig später sogar „weit über die Grenzen unserer Heimat“ expandierte, die „größte Buchgemeinschaft Europas“ werden konnte und die Buchpreise weltmännisch auch in Schilling, Franken und Francs anzeigte,25 war vermutlich Balsam für das angekratzte Selbstwertgefühl der Deutschen in der Nachkriegszeit – vielleicht vergleichbar mit dem Fußballwunder von Bern 1954. Dass dem Superlativ der „größten Buchgemeinschaft Europas“ breite Werbewirkung beigemessen wurde, zeigt die stereotype Wiederholung dieser Formel in den Heften der folgenden Jahrgänge.26 Wer wollte an dieser Erfolgsgeschichte nicht beteiligt sein? Dem (potenziellen) Mitglied wurde die Identifikation mit dem Lesering so leicht wie möglich gemacht: Wenn runde Mitgliederzahlen zelebriert wurden, bekam „Maschinensetzer Willi Klann“ (150.000. Mitglied) in Hamburg die gleiche Aufmerksamkeit wie „Jungbergmann Werner Moldenhauer“ in Recklinghausen (250.000. Mitglied) oder „Dipl. Ing. Architekt Herbert Preisinger“ (350.000. Mitglied) in München.27 Das Lesering-Mitglied durfte sich einer inszenierten Gemeinschaft zugehörig fühlen, die den „Normalbürger“ unterschiedlichster Herkunft ebenso einschloss wie bekannte Schauspieler, Sportler und andere Prominente 22 Vgl. Lesering-Illustrierte (1952) H. IV. S. 32. 23 Vgl. die mehrfache Betonung von Leistungssteigerung bereits in Lesering-Illustrierte (1951) H. III. S. 2. 24 Thießen, Malte: Schöne Zeiten? Erinnerungen an die „Volksgemeinschaft“ nach 1945. In: Bajohr, Frank u. Michael Wildt (Hrsg.): Volksgemeinschaft: Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 2009. S. 165–187, hier S. 176. 25 Lesering-Illustrierte (1953) H. III. S. 2. 26 Vgl. u. a. Lesering-Illustrierte (1953) H. IV. S. 2; (1954) H. III. S. 2; (1955) H. I. S. 2. 27 Vgl. Lesering-Illustrierte (1952) H. I. S. 2; (1952) H. III. S. 2; (1953) H. I. S. 2.
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der Zeit, deren Mitgliedschaft mit der Abbildung von lobenden Zuschriften und Fotos werbewirksam in der Zeitschrift präsentiert wurde.28 Die Lesering-Illustrierte bediente sich positiv assoziierter Elemente, die auch schon zum Konzept der NS-Volksgemeinschaft gehört hatten – so etwa des Ideals einer klassenübergreifenden Gemeinschaft, deren Erfolg durch die Mitarbeit aller ermöglicht wird –, und gab dadurch vielen Menschen der Nachkriegszeit die Möglichkeit, durch eine Mitgliedschaft im Lesering weiterhin vorhandene Gemeinschaftssehnsüchte dort auszuleben, wo angeblich „die größten und edelsten Geister der Menschheit“29 versammelt waren – und noch dazu bequem von zu Hause aus. Der Nimbus des Buches war durch seinen pauschal zugewiesenen Status eines im Nationalsozialismus verfolgten Kulturgutes in der Nachkriegsgesellschaft groß.30 „Eine ausgewählte Bücherei ist das einzige Parkett, auf dem wir uns mit den größten Geistern der Vergangenheit und Gegenwart zwanglos unterhalten können“31 – mit Zitaten wie diesem von Novalis war die Lesering-Illustrierte gespickt. Denn in dieser „echten Gemeinschaft im Buch“32 sollten sich die Mitglieder nicht nur mit den zeitgenössischen Autoren identifizieren können, die das Nachkriegsschicksal ihres Publikums teilten, sondern auch vor ihnen bisher ganz unbekannten Autoren oder Klassikern nicht zurückschrecken. Biografische Schicksals- oder Skandalgeschichten halfen bei der Überwindung einer eventuell bestehenden Distanz: Wenn Dante als politischer Flüchtling und Cervantes als Soldat vorgestellt wurden, sollte das Publikum „erkennen, dass sie Menschen waren wie wir, daß sie sich bewähren mußten wie jeder von uns“.33 Die starke Hervorhebung biografischer Informationen bei der Präsentation von Autoren ist ein durchgängiges Charakteristikum der Lesering-Illustrierten. Dabei wurden in erster Linie Aspekte ausgewählt, die möglichst vielen zeitgenössischen Lesern der Zeitschrift Anknüpfungspunkte boten: Häufig wurden einem Autor verschiedene Rollen zugewiesen, wenn möglich sogar betont, dass er mehr als nur Schriftsteller sei: So war zum Beispiel Matthias Claudius in der Darstellung der LeseringIllustrierten „nicht nur ein freundlicher Dichter“, sondern auch ein „fröhlicher
28 Vgl. u. a. Lesering-Illustrierte (1953) H. I. S. 16; (1952) H. I. S. 1; (1952) H. II. S. 1. 29 Weihnachts-Lesering-Illustrierte 1953. S. 2. 30 Vgl. Lokatis, Siegfried: Moderne deutsche Buchgeschichte als Medienwissenschaft. In: Estermann, Monika, Ernst Fischer u. Reinhard Wittmann (Hrsg.): Parallelwelten des Buches. Beiträge zu Buchpolitik, Verlagsgeschichte, Bibliophilie und Buchkunst. Wiesbaden: Harrassowitz 2008. S. 289–301, hier S. 295. 31 Lesering-Illustrierte (1951) H. IV. S. 2. 32 Weihnachts-Lesering-Illustrierte (1953). S. 2. 33 Lesering-Illustrierte (1960) H. II. S. 15.
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Familienvater“ und außerdem ein „Gelehrter und Kämpfer“.34 Weitere Identifikationsmöglichkeiten mit den Autoren wurden über die Angabe populärer Hobbys oder Neigungen gegeben und mit der Verwendung entsprechender Autorenfotos unterstrichen35: Knut Hamsun mit seinem Enkelkind, Ernest Hemingway auf seinem Kutter, Ernst Jünger mit einem Kätzchen auf dem Arm36 – letzteres Beispiel zeigt, dass gängige Autorenimages dabei gerne auch unterwandert wurden, um ein möglichst sympathisches Bild des Autors zu vermitteln. Literarischen Aspekten wurde dagegen kaum Raum gegeben. Dass allen Titeln „die gleiche verkaufsfördernde ‚Kritik‘ übergestülpt“37 würde und dies zu einer gefährlichen „Verzerrung literarischer Dimensionen“38 führe, kritisierten Literaturwissenschaftler in den 1960er und 1970er Jahren. Fragwürdiger erscheint jedoch, dass in den frühen Jahrgängen unter das „Schöne, Wahre und Gute“, das „Trost und Kraft und neue Daseinsfreude“39 versprach, auch Autoren und Titel subsumiert wurden, die weltanschaulich als durchaus ambivalent einzustufen sind. Mit dem „Wertvollsten, […] was uns die deutsche Dichtung bescherte“ und „schon Generationen eine echte Lebenshilfe war“40, wurde im Editorial des ersten Quartals 1951 nicht etwa Goethe oder ein anderer kanonisch gewordener Autor angepriesen, sondern Ina Seidels knapp 20 Jahre zuvor erschienener Roman Das Wunschkind, der zu den erfolgreichsten Titeln auf dem deutschen Buchmarkt der 1930er und 1940er Jahre gehört hatte und durchaus Anklänge an die Blut-und-Boden-Romantik enthielt.41 Dass dem Publikum viele alte Bestseller im Programm des Leserings angeboten wurden, ist nicht verwunderlich – bedenkt man den Erfolg konservativer Traditionen und die Neuauflage NS-naher Autoren im Buchhandel der Nachkriegszeit und die diesbezüglich günstige Ausstattung des C. Bertelsmann Verlags mit entsprechenden Verlagsrechten.42 Aufschlussreich für das Identifikationspo34 Lesering-Illustrierte (1951) H. I. S. 9. 35 Vgl. Oster, Sandra: Das Autorenfoto in Buch und Buchwerbung. Autorinszenierung und Kanonisierung mit Bildern. Berlin u. a.: de Gruyter 2014. S. 201f. 36 Vgl. Lesering-Illustrierte (1955) H. III. S. 7; (1955) H. I. S. 4; (1954) H. I. S. 7. 37 Hohendahl, Peter Uwe: Die Freude des Wählens: Die Programm-Illustrierten der Buchgemeinschaften. In: Kaes, Anton u. Bernhard Zimmermann (Hrsg.): Literatur für viele. Studien zur Trivialliteratur und Massenkommunikation im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975. S. 121–132, hier S. 124. 38 Neven DuMont, Reinhold: Die Kollektivierung des literarischen Konsums in der modernen Gesellschaft durch die Arbeit der Buchgemeinschaften. Dissertation. Köln 1961. S. 200. 39 Lesering-Illustrierte (1953) H. I. S. 2 (Ausgabe T). 40 Lesering-Illustrierte (1951) H. I. S. 2. 41 Vgl. Adam, Christian: Lesen unter Hitler. Autoren, Bestseller, Leser im Dritten Reich. Berlin: Galiani 2010. S. 262f. 42 Vgl. Lokatis, Konzept (wie Anm. 2), S. 142.
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tenzial der Buchgemeinschaft ist hier wiederum vor allem die Präsentation der Autoren und Titel in der Mitgliederzeitschrift, deren Bandbreite an dieser Stelle nur angedeutet werden kann. So wurde beispielsweise Gustav Schröer, der auflagenstärkste Belletristikautor des C. Bertelsmann Verlags vor 1945, mit seinem völkisch nationalistischen Heimatroman Heimat wider Heimat, der zu den bestverkauften Büchern des „Dritten Reichs“ zählte,43 im Lesering angeboten. Allerdings tauchen seine Titel – insgesamt fünf – lediglich im Katalogteil der Mitgliederzeitschrift auf. Die Kurzbeschreibungen beschränken sich auf den Inhalt, auf Informationen zum Autor wurde ganz verzichtet.44 Symptomatisch für den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ist die Präsentation der Romane des in der Nachkriegszeit hochangesehenen Ernst Wiechert, dem mit zwei Hauptvorschlagsbänden in den ersten beiden Jahrgängen ein prominenter Programmplatz zugewiesen wurde. Der verfolgte Autor der „Inneren Emigration“, dessen Werk in der Zeit des Nationalsozialismus überaus beliebt war und deshalb von der Literaturpolitik geduldet wurde, war 1951 zunächst mit einem frühen Roman vertreten. Der dort propagierte Mythos vom einfachen Leben hatte auch Anknüpfungspunkte für die NS-Ideologie geboten. Dieser Ambivalenz konnte und wollte die Lesering-Illustrierte allerdings keineswegs gerecht werden: Der Ankündigungstext, der die Verbundenheit mit der ostpreußischen Heimat sowie das „Bekenntnis zu Arbeit und Treue“45 als wesentliche Merkmale des Romans akzentuierte, hätte auch zehn Jahre früher publiziert werden können. Als 1952 Wiecherts Alterswerk Missa sine nomine als Hauptvorschlagsband angeboten wurde, verschweigt die Lesering-Illustrierte die Handlung des Romans bezeichnenderweise völlig. Eine Zusammenfassung der tragischen Erlebnisse eines aus dem KZ heimkehrenden Mannes, dessen Leben auch in der Nachkriegszeit noch vom anhaltenden Fanatismus seiner Mitmenschen und der Existenz eines untergetauchten NS-Schergen überschattet wird, wurde den Lesern der Zeitschrift erst bei einer Neuauflage des Titels 1957 zugemutet. Auch hier betont der Text allerdings, dass der Autor „Worte der Versöhnung für jeden“ finde, „der in unserer Gegenwart schuldig oder unschuldig gelitten“ habe.46 Mit dem im Rückblick auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft allgemein diagnostizierten, auf sich selbst bezogenen Opfer-Diskurs, der Mitläufer und Täter gleichermaßen integrierte, wurde auch hier versucht, ein Identifikationsangebot für ein Publikum mit unterschiedlichen Erfahrungen und Einstellungen 43 Vgl. Friedländer, Saul u. a.: Bertelsmann im Dritten Reich. München: Bertelsmann 2002. S. 159f. 44 Vgl. Lesering-Illustrierte (1950) H. IV. S. 11. 45 Lesering-Illustrierte (1951) H. IV. S. 4. 46 Lesering-Illustrierte (1957) H. I. S. 13.
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zu schaffen. Das Beispiel Wiechert zeigt, dass sowohl die selektiven als auch die integrativen Strategien im Werbediskurs die Mitgliederzeitschrift zum Sammelbecken einer weltanschaulichen Gemengelage machten, in der jeder Leser etwas Passendes finden konnte. In der Selbstdarstellung gab sich der Lesering zunehmend völkerverbindend und international: „Bücher aus aller Welt im Lesering […] sind Botschafter für Friede und Verständigung unter den Völkern“47, hieß es 1953 im Editorial. So konnten die Mitglieder sich – in Zeiten der Westintegration und des Kalten Krieges – als Teil einer fortschrittlichen, um Völkerverständigung bemühten und allem Fremden gegenüber aufgeschlossenen Gemeinschaft empfinden. Schon 1950 wurde dem Leser in der Ankündigung von A. E. Johanns Abenteuerroman „die Kameradschaft gedrückter Menschen aller Rassen und Erdteile“48 vor Augen geführt. Die ausländischen Schauplätzen und Protagonisten möglicherweise innewohnende Fremdheit wurde entweder als spannende Exotik angepriesen oder für den Leser reduziert, meist mit dem Hinweis auf das „Allgemein-Menschliche“, wie bei der Ankündigung des Hauptvorschlagsbands im Frühjahr 1955: Pearl S. Bucks Roman Die Frauen des Hauses Wu spielt in China, einem „Riesenreich mit Menschen wie du und ich […]. Das Menschliche allein ist imstande, die künstlich gezogenen Grenzen zwischen Nationen und Erdteilen niederzureißen, und das Menschliche an Madame Wu ist es, was sie uns nahebringt, als wäre sie unsere weiße, unsere europäische Schwester.“49 An der zunehmenden Internationalisierung des deutschen Buchmarktes nahm auch der Lesering mit einem schnell wachsenden Anteil ausländischer Titel teil. Symptomatisch für die Zusammenstellung dieses Programmsegments ist bereits das Hauptvorschlagsband-Doppel im dritten Quartal 1951: Knut Hamsuns Gedämpftes Saitenspiel und Betty MacDonalds Das Ei und ich, das „fröhliche Buch einer Amerikanerin“50. Neben die internationalen Longseller, die schon in den Buchgemeinschaften der Weimarer Republik Erfolg gehabt hatten und nun im Lesering ihre x-te Auflage erlebten, wurde ganz selbstverständlich aktuelle, in erster Linie amerikanische Unterhaltungsliteratur gestellt. Dabei störte kein literaturpädagogischer Impetus vonseiten der Buchgemeinschaft das Mitglied bei der Wahl von Unterhaltungsliteratur, da allem nicht nur eine Existenzberechtigung, sondern auch pauschal ein Wert zugesprochen wurde: Exemplarisch verdeutlicht dies die größte Rubrik im Katalogteil „Wertvolle Romane – Gute Unterhaltungsliteratur“, die mit A. E. Johann, Louis Bromfield oder Thyde Monnier bis 47 Lesering-Illustrierte (1953) H. III. S. 2. 48 Lesering-Illustrierte (1950) H. IV. S. 3. 49 Lesering-Illustrierte (1955) H. II. S. 4. 50 Lesering-Illustrierte (1951) H. III. S. 3.
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Hamsun, Tolstoi oder Zola nicht nur literarisch eine große Bandbreite umfasste.51 In einigen Quartalen ist hier sogar Hans Friedrich Blunck vertreten, allerdings mit seinem Nachkriegsroman Die blaue Erde.52 Im Gegensatz etwa zu nationalsozialistischen Vorstellungen von guter Unterhaltungsliteratur, die immer auch implizierten, dass es schlechte Literatur gab, die verworfen werden musste,53 oder älteren literaturpädagogischen Konzepten, die Unterhaltung lediglich als Vorstufe für das Emporlesen zu kanonisch anerkannter Literatur zuließen, schloss der höchst integrative Diskurs der LeseringIllustrierten (fast) alles mit ein: Einzige Ausnahme war eine Verdammung der Groschenhefte, die der zeitgenössischen Neuauflage der Schmutz-und-SchundDebatte entsprach – und im Sommer 1955 dazu diente, den Start des Bertelsmann Jugend-Leserings zu befördern. Liest man unter dem pathetischen Titel „Schicksale in unserer Hand“ von der „große[n] Verantwortung gegenüber der Jugend“54, erscheint das bis Ende 1953 vorhandene Angebot der Spannenden Geschichten im Lesering sehr fragwürdig, da diese Bertelsmann-Heftromanreihe in der NS-Zeit zahlreiche kriegsverherrlichende und antisemitische Texte enthalten hatte.55 Es gab nur wenige Titelüberschneidungen mit der alten Serie, ein neuer Reihentitel wäre also durchaus angebracht gewesen. Doch hätte dies eine eindeutige Distanzierung von der Vergangenheit bedeutet, die auch mit dem Verzicht auf die Werbewirkung der alten, seit 1926 bestehenden Marke einhergegangen wäre. Insgesamt erweist sich der Lesering sowohl in seinem Programm als auch auf der Diskursebene seiner Mitgliederzeitschrift als ebenso janusköpfig wie es Georg Bollenbeck und Gerhard Kaiser für die bundesrepublikanische Gesellschaft der 1950er Jahren insgesamt konstatierten56 – und genau darin kann eine wesentliche Ursache für den Erfolg dieser Buchgemeinschaft gesehen werden. Im Vergleich zu Konkurrenten wie der Büchergilde Gutenberg, die mit der Auswahl der Autoren und Titel sowie der weltanschaulichen und literarischen Positionierung in der Mitgliederzeitschrift eindeutiger Stellung bezog,57 hatte der Bertelsmann Lesering einen entscheidenden Marktvorteil beim Wettlauf auf dem hart umkämpften Buchgemeinschaftsmarkt: In der weltanschaulichen Gemengelage der Nachkriegszeit bot das breit angelegte Identifikationspotenzial des Lesering51 Hier Beispiele aus Lesering-Illustrierte (1953) H. III. S. 20–22. 52 Vgl. Lesering-Illustrierte (1953) H. II. S. 20. 53 Vgl. Linthout, Ine van: Das Buch in der nationalsozialistischen Propagandapolitik. Berlin u. a.: de Gruyter 2012. S. 329. 54 Lesering-Illustrierte (1955) H. III. S. 9. 55 Vgl. Friedländer u. a., Bertelsmann im Dritten Reich (wie Anm. 43), S. 252– 263. 56 Vgl. Bollenbeck, Georg u. Gerhard Kaiser (Hrsg.): Die janusköpfigen 50er Jahre. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000. 57 Vgl. Dumont, Kontinuität im Wiederaufbau (wie Anm. 16).
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Diskurses im Hinblick auf die Bindung einer größtmöglichen Mitgliederzahl einen Mehrwert, dessen Anteil am Erfolg der Buchgemeinschaft zwar nicht messbar ist, aber auch nicht unterschätzt werden darf.
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Von Überzeichnungen, Schwerpunkttiteln und Blindbänden Die Rolle der Leipziger Buchmessen für den Buchhandel der DDR Als eine der „beglückendsten Erfahrungen“ der 1950er Frühjahrsmesse befand das Börsenblatt diese Beobachtung: Dieselben Menschen, […] die sich heute gerechte gesellschaftliche Verhältnisse schaffen, ja, die sich in völliger Demokratie einen neuen Staat errichten und sich mit diesen friedlichen Leistungen wieder einen gleichberechtigten Platz unter den friedliebenden Völkern der Welt erobern – diese Menschen finden sich auch auf geistiger Ebene in wachsendem Maße zu den echten Werten unserer Literatur.1
Diese Wahrnehmung korrespondiert damit, dass Buchhändler in der DDR ihre Arbeit nicht länger als kaufmännische Tätigkeit betrachten sollten, sondern als kulturpolitische Verpflichtung. Dahinter stand eine Buchkonzeption, die die Funktion als Handelsobjekt des Mediums in der DDR-Gesellschaft negierte und es stattdessen zu einem rein kulturellen Element stilisierte: „Denn jede materielle Einschätzung des Buches als Ware zieht die Gefahr nach sich, seine kulturpolitische Wirksamkeit zu schmälern.“2 Nach diesem Verständnis war ein Buchhändler eingebunden in die parteipädagogische Agitation: Das Idealbild zeichnete seine Rolle eines Erziehers, Volksbildners und Kulturfunktionärs. Im Sinne der von Johannes R. Becher Mitte der 1950er Jahre entworfenen „Literaturgesellschaft“ sollte er „das gute Buch an alle Menschen [der] Republik herantragen“.3 Dieser Entwurf manifestierte sich insbesondere in Form der DDR-Buchmessen, weil sie mit dem Anspruch stattfanden, eine Leistungsschau des sozialistischen Buchschaffens zu sein. Wenngleich die Realität von dieser Vorstellung abwich und die Messe weitere Funktionen etwa für den Außenhandel übernahm, zeigt ihre Rolle für den Binnenhandel, wie sie zwischen Sortiment, Verlag, Zwischenbuchhandel und Literaturbehörde als Motor des Buchsystems der Republik wirkte. Die wichtigste Information der Buchhändler war das Messebörsenblatt, das die Anzeigen der Neuerscheinungen der einzelnen DDR-Verlage enthielt. Nur in
1 Börsenblatt (Leipziger Ausgabe), 25.3.1950. S. 118. 2 Börsenblatt (Leipziger Ausgabe), 19.8.1950. S. 353. 3 Börsenblatt (Leipziger Ausgabe), 2.10.1962. S. 590.
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den seltensten Fällen konnte es rechtzeitig vor der Messe ausgeliefert werden. War das der Fall, arbeitete der Sortimenter die Angebote durch und besuchte die Messe mit festen Bestellwünschen. Ein Ruhlaer Einkäufer beschrieb seinen Gebrauch des Messebörsenblatts wie folgt: Ich notiere jeweils alle offenstehenden Bestellungen mit Anzahl und Datum auf den Anzeigenseiten des jeweiligen Verlages. Außerdem schneide ich noch das Verlagsregister aus und klebe es auf den äußeren Umschlag – während des Messebesuches ist das eine große Erleichterung. Am Messestand trage ich die Bestellzahlen und die Termine in den entsprechenden Anzeigen ein und kann so das Messebörsenblatt ein halbes Jahr lang im täglichen Arbeitsablauf als wertvolles Nachschlagewerk und Auskunftsmittel verwenden. Bei jedem Verlag frage ich nach von meinen Kunden gewünschten älteren Titeln und einer eventuellen Nachauflage. Nach all diesen Auskünften kann dann die Bestellkartei zu Hause wieder vervollständigt werden.4
Weil es im Hansahaus in der Grimmaischen Straße, wo die Buchmesse zwischen 1949 und 1963 stattfand, so voll war, mussten Buchhändler nicht selten zwei Stunden warten, um an den Kojen der Verlage vorsprechen zu können. Dort war die lieferbare Literatur ausgestellt, und die Verlagsmitarbeiter erwarteten mit gezücktem Bestellblock die Bestellungen, gaben Hintergrundinformationen zur Abwicklung oder leisteten für den einen oder anderen Titel Überzeugungsarbeit. Wie die Verkaufsgespräche aus Sicht eines Verlags abliefen, verdeutlicht der folgende Messebericht aus dem Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig: Der Kunde stellt sich vor, seine Karte wird aus der Zuteilungskartei herausgesucht. […] Man führt den Kunden, und möglichst auch schon den nächsten, zum Stand und stellt ihm die 4 Neuerscheinungen vor. Kurze Erläuterungen der einzelnen Werke, und Hinweis, dass man diese zuteilen wolle. Des Weiteren dass man auch die letzten Neuerscheinungen (Kleist, Hoffmann, Robinson, Swift) nochmal mitsenden werde. […] Es wird auch U. B. [Universal-Bibliothek] mitgeschickt. Der Kunde wünscht zu wissen, wieviel. Steht noch nicht fest. […] Nun Erklärung der Klassiker-Sache. Warum die Pappausgabe so billig, Vorwort entfernt. Welche Menge. Kleine Anzahl notiert, unter Vorbehalt. [Im] Buchverkauf wird es nicht angeboten. […] Bis hierhin das allgemeine Gespräch, bei jedem Kunden. Jetzt kommen die besonderen Wünsche: Mehr Schultexte, keine Russen, keine politische Literatur, die Konkurrenz bekommt zuviel oder ich zuwenig, Brehm. Dazwischen die Privatleute, Lehrer usw. Warum bringen Sie keine Operntexte, wo bleibt der Tell, das Schachbuch usw. usw. Und das alles bei stehender Luft und ca. 25 Grad Wärme und Lampenlicht, von früh bis spät. Von 10 Uhr an bis zum Schluss um 6 Uhr in ununterbrochener Folge.5 4 Börsenblatt (Leipziger Ausgabe), 21.2.1959. S. 120–123, hier S. 121. 5 Inhalt des Verkaufsgesprächs zur Herbstmesse 1950, Reclam-Archiv Leipzig (RAL), 42, H. i. O.
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Tatsächlich litten alle unter den Arbeitsbedingungen im Hansahaus (Abb. 1); man spottete wegen der schlechten Entlüftung über die „literarische Sauna“6. Trotzdem war das Messehaus für die Verlage eine Errungenschaft, weil die Branche darin erstmals konzentriert versammelt war innerhalb der Universalmessen, die seit 1946 immer im Frühjahr und im Herbst wieder stattfanden.7 Durch die schleppende Lizenzierung der Verlage und die knappen materiellen und technischen Ressourcen konnten die Verlage in den Nachkriegsjahren nur ein überaus überschaubares Buchangebot ausstellen, das die Nachfrage bei Weitem nicht deckte. Deswegen praktizierte der Buchhandel zunächst das bereits im Krieg eingeführte Zuteilungsverfahren: Der Sortimenter bestellte also nicht, sondern wartete, bis der Verlag ihm Ware unverlangt zusandte. Bis in die 1950er Jahre wurden etwa bei Reclam Leipzig entsprechende „Zuteilungskarteien“ verwendet.
Abbildung 1: Blick in den Stand des Leipziger Reclam Verlags im Hansahaus zur Messe 1954. Auf der rechten Bildseite: Verlagsmitarbeiterinnen notieren die Bestellungen der Buchhändlerinnen. RAL, Fotoarchiv, 3636 (K. G. Treblegar).
6 Börsenblatt (Leipziger Ausgabe), 18.9.1954. S. 811. 7 Vgl. Zeckert, Patricia F.: Die Internationale Leipziger Buchmesse. In: APuZ (2009) H. 11, online unter http://www.bpb.de/apuz/32148/die-internationale-leipziger-buchmesse?p=all (30.5.2016).
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Anfang der 1950er Jahre befand sich die komplette Organisation des Buchvertriebs im Umbruch. Im Sommer 1952 begann der bereits 1946 gegründete Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel (LKG) sein Vertriebsmonopol zu etablieren, das heißt, alle staatlich lizenzierten Verlage mussten über ihn zentral ausliefern lassen. Der LKG stellte die Belieferung über private Kommissionäre schrittweise ein, von denen es zu dieser Zeit immerhin noch mehr als 20 in Leipzig gab.8 Diese Maßnahme versetzte der Buchstadt bekanntlich den Todesstoß: Abgesehen von den zahlreichen Hindernissen im deutsch-deutschen Buchverkehr büßte Leipzig durch die Ausschaltung des privaten Kommissionsbuchhandels seine immer noch beschworene Drehscheibenfunktion endgültig ein.9 Mit dem LKG machte man zwar das Buchverteilungssystem für die Anforderungen des Zentralismus effektiver, aber die individualisierte Kundenansprache litt. In der Regel kannte die verlagseigene Vertriebsabteilung nicht nur die eigenen Bücher am besten, sondern auch die einzelnen Sortimente, die sie nach den speziellen Anforderungen belieferte. Diese Kenntnis kam insbesondere den schwerverkäuflichen Titeln zugute. Dergleichen konnte der LKG nicht leisten. Hinzu kam seine logistische Überforderung, die lange Lieferzeiten und unvollständige oder fehlerhafte Lieferungen nach sich zog. Die Folgen der Zentralisierung rund um das Buch offenbarten sich am deutlichsten auf der Messe: Nachdem der Leipziger Reclam Verlag im Sommer 1952 in den LKG gezwungen worden war, sah er die wichtigste Aufgabe seiner Messepräsenz darin, gegenüber der Kundschaft ausgleichend und vermittelnd zu wirken sowie für Beanstandungen und Reklamationen ein offenes Ohr zu haben.10 Und tatsächlich bedauerten die meisten Sortimenter den Wechsel der Auslieferung, es hagelte Beschwerden. Der Verlag zog den Schluss, dass er über die Messe unbedingt den lebhaften Kontakt mit den Buchhandlungen suchen und erhalten müsse: „Diese wichtige Aufgabe kann nicht nur vom Schreibtisch her gelöst werden“.11 Genauso unterstanden die rund 300 Volksbuchhandlungen bis auf die Berliner Buchhandelsgesellschaft seit Anfang September 1952 der Hauptabteilung Volksbuchhandel im LKG. Damit änderte sich das Bestellverfahren: Bisher hatten die Ländergesellschaften, in denen sie seit 1947 organisiert waren, für die mittleren und kleinen Sortimente zentral eingekauft und zugeteilt. Nun durfte jede Volksbuchhandlung selbstständig bestellen. Für die Messe bedeutete das einen ver8 Vgl. Bez, Thomas u. Thomas Keiderling: Der Zwischenbuchhandel. Begriffe, Strukturen, Entwicklungslinien in Geschichte und Gegenwart, Stuttgart: Hauswedell 2010. S. 164. 9 Vgl. Lokatis, Siegfried: Vom Plan zur improvisierten Kontrolle. In: Börsenblatt 1995 (Sonderdruck „Neuanfang 1945“). S. 14–18, hier S. 16. 10 Vgl. Betrifft Herbstmesse 1952, 3.9.1952, RAL, 42. 11 Erfahrungen und Ergebnisse zur Herbstmesse 1952, 20.9.1952, RAL, 42.
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stärkten Zustrom: Kamen 1954 rund 300 Volksbuchhändler nach Leipzig, waren es im Herbst 1956 doppelt so viele, die eigenverantwortlich, wie es hieß, einkauften.12 Dieser Zuwachs hing ebenfalls mit der generellen Erweiterung des Netzes der Volksbuchhandlungen zusammen.13 Schließlich wechselte die Zuständigkeit im Sortiment zum Jahresbeginn 1954 erneut: Nun unterstanden bis auf die Berliner alle Volksbuchhandlungen der Zentralen Verwaltung – ab 1958 der Zentralen Leitung – des Volksbuchhandels mit Sitz in Leipzig. Die Organisation beruhte analog zu den 14 Bezirken der DDR auf Bezirksbuchhändlern, die nach und nach mehr Einfluss im Bereich der zentralen Planung und Abrechnung für alle Buchhandlungen ihres Bezirks nehmen konnten.14 Gleichwohl versuchte der LKG aus eigener Kraft, die Kluft zwischen Auslieferung und Sortiment mit verschiedenen Maßnahmen zu überbrücken. Im Juli 1952 führte er den sogenannten Vorankündigungsdienst (VD) ein, der bald fester Bestandteil des Börsenblatts war. Anhand dieser wöchentlichen Übersicht über die Neuerscheinungen und Nachauflagen der DDR-Verlage und über die vom LKG importierten Titel orderten die Buchhändler mit dem beiliegenden Bestellzettel. Dadurch war die Messe nicht länger die einzige Plattform für Neuerscheinungen. Zur 1953er Messe – von 1952 bis 1954 fand die Handelsveranstaltung nur einmal im Jahr statt – hatte der Mitteldeutsche Verlag beispielsweise von 21 Titeln bereits 18 über den VD angekündigt; der Verlag bot also nur wenige der präsentierten Titel erstmalig an.15 Diese Handhabung verwirrte einige Sortimenter: Ein Buchhändler aus Geringswalde wünschte sich, dass die Verlage die Bücher auf der Messe markierten, die sie bereits im VD angezeigt hatten, um Doppelbestellungen zu vermeiden.16 Eine weitere Maßnahme des LKG waren die ständigen Buchausstellungen, die er ab 1952 zunächst an seinem Sitz in der Leninstraße (heute Prager Straße) durchführte.17 Sie galten den DDR-Buchkadern als Symbol eines „revolutionären Prozesses“, an dessen Ende ein vereinheitlichter, zentraler, monopolisierter
12 Vgl. HA Buchhandel: Kurzanalyse der LHM 56, 14.9.1956, Bundesarchiv Berlin (BArch), DR 1/ 2083. 13 Laut Löffler waren es 1950 255 Volksbuchhandlungen und 1960 712. Vgl. Löffler, Dietrich: Zwischen Buchvertrieb und Buchmarkt. In: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 11 (2001/2002). S. 237–275, hier S. 253. 14 Vgl. auch Börner, Heinz u. Bernd Härtner: Im Leseland. Die Geschichte des Volksbuchhandels. Berlin: Das Neue Berlin 2012. S. 57–83. 15 Vgl. Börsenblatt (Leipziger Ausgabe), 19.9.1953. S. 777. 16 Vgl. Börsenblatt (Leipziger Ausgabe), 1.9.1956. S. 549. 17 Vgl. LKG an alle Volksbuchhandlungen und Buchverkaufsstellen (Eingang 2.8.1952), BArch, DR 1/821.
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Buchvertrieb stand.18 Nach der ersten Anlaufzeit zeigte sich jedoch, dass der LKG mit dieser Ausstellung nur die Buchhändler aus dem regionalen Einzugsgebiet erreichte. Deshalb führte er seit dem zweiten Halbjahr 1953 kleine Buchmessen in den Bezirken durch. Mit nur einer offiziellen Buchmesse im Jahr erreiche man die Buchhändler nicht genügend, so die Begründung.19 Die dreitägigen LKGBuchmessen, de facto wandernde Dauerausstellungen, richteten sich – genau wie die Leipziger Buchmesse – neben den Buchhändlern an die Bevölkerung, die allerdings dort keine Bücher kaufen durfte. Damit gastierte der LKG zum Beispiel in Erfurt, Aschersleben, Gera, Cottbus, Dresden und Berlin. Allerdings war diese Mini-Buchmesse mit einem so großen Aufwand verbunden, dass der LKG diese literaturpropagandistische Maßnahme schon 1954 wieder einstellte. An ihre Stelle traten ab 1958 die Weihnachtssubmissionen. Der LKG führte sie ein, damit der Buchhandel sein Umlaufmittelkontingent voll ausnutzen konnte: Er sollte das Geld, das wegen des Ausfalls „dieses oder jenes Titels“, den er auf der Messe bestellt hatte, der aber vor Weihnachten nicht ausgeliefert werden konnte, zum Einkauf lieferbarer Ware nutzen.20 Obwohl das Börsenblatt die Weihnachtssubmission als „wirksame Ergänzung der internationalen Buchmesse in Leipzig“21 darstellte, fand sie 1960 letztmalig statt, weil unklar blieb, ob der LKG die rechtzeitige Auslieferung bis vor Weihnachten tatsächlich bewerkstelligen könnte. Auch wenn „sich das Bestellgeschäft wesentlich auf die LKG verlagert hat“22 und die Sortimentsbuchhändler über den VD ganzjährig außerhalb der Messe orderten, blieb die Buchmesse der Ort, wo die Sortimenter die Neuerscheinungen prüfen konnten. Sie war die primäre kommunikative Schnittstelle zwischen Verlag und Sortiment und auch in den Augen der HV Verlagswesen „eine Gelegenheit für den Buchhändler, sich umfassend zu informieren, mit den Verlagen zu sprechen und sich speziell über die bis Jahresende noch zu erwartenden Neuerscheinungen zu orientieren.“23 Der Sortimenter brauchte eine konkrete Vorstellung von den angekündigten Titeln: Was steht im Buch, wie ist es geschrieben, ist es bebildert, schwarz/weiß oder farbig, wie hoch ist etwa der Preis, wann erscheint es ungefähr, wie hoch ist die Auflage? Obwohl also die Monopolstellung des LKG 18 Vgl. Fauth, Harry u. Hans Hünich: Zur Geschichte des Buchhandels der Deutschen Demokratischen Republik. Ein Abriss der Entwicklung des Buchhandels 1945–1970. In: Kalhöfer, Karl-Heinz u. Helmut Rötzsch (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte des Buchwesens, Bd. V (1972). S. 73–170, hier S. 107f. 19 Vgl. Börsenblatt (Leipziger Ausgabe), 20.3.1954. S. 241f. 20 Vgl. Börsenblatt (Leipziger Ausgabe), 19.11.1960. S. 738f. 21 Börsenblatt (Leipziger Ausgabe), 19.11.1960. S. 738f. 22 Börsenblatt (Leipziger Ausgabe), 15.9.1951. S. 467. 23 Hauptverwaltung Verlagswesen: Auswertung der Verlagsumsätze der Leipziger Herbstmesse 1956, 5.10.1956, BArch, DR 1/6233.
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die Vertriebsorganisation Anfang der 1950er grundlegend änderte und dies die Binnenhandelsfunktion der Messe de facto bedrohte, wirkte die Veranstaltung im Hansahaus ausgleichend und half, die strukturellen und logistischen Mängel des Buchverteilungssystems indirekt zu kompensieren. Dass die Buchmesse aus diesem Prozess sogar gestärkt herausging, belegt eine Einschätzung aus dem Hause Reclam: „Der Verkauf auf der Messe hat gezeigt, dass die LKG weder durch den Vorankündigungsdienst noch durch eigene Ausstellung Verkaufsresultate erzielen kann, die unsere persönlichen Bemühungen überflüssig machen.“24 – Wie wichtig ein Messebesuch für die Buchhändler war, zeigt insbesondere die Beunruhigung, die vor dem Frühjahr 1958 entstand, als die Industrie- und Handelskammer kommunizierte, dass die ersten fünf Messetage für den Export zu reservieren seien. Laut dieser Weisung hätten die DDR-Sortimenter das Hansahaus in dieser Zeit nicht besuchen dürfen. „Die besondere Lage“ des Buchhandels konnte den Regierungsstellen jedoch vermittelt werden, sodass die besagte Einschränkung für das Hansahaus entfiel.25 Auf Verlagsseite ergab sich aus der Menge der Bestellungen des Buchhandels der Messeumsatz. Doch war dieser als Barometer des Binnenmarktvolumens gänzlich unbrauchbar. Zwar wertete die Literaturbehörde ihn akribisch aus und stellte ihn dem der vergangenen Jahre gegenüber, doch musste sie bei der Interpretation zahlreiche Details wie Sondervertriebsformen beachten. Beispielsweise bestand zwischen dem VEB Verlag der Technik und 30 Volksbuchhandlungen ein Vertrag über Kommissionslieferungen, sodass diese Sortimente von vornhe rein bei diesem Verlage keine Messebestellungen aufgaben.26 Außerdem hing die Höhe des Messeumsatzes davon ab, wie viele Neuerscheinungen in den jeweiligen Quartalen auf den Markt kamen. So schwankte das Ergebnis beim VEB F. A. Brockhaus innerhalb des Jahres 1958 deutlich: Der Verlag erzielte zur Frühjahrsmesse rund 743.000 Mark, zur Herbstmesse jedoch nur 308.000 Mark.27 Gleichzeitig tauchte immer am Jahresende das Phänomen der gehäuften Neuerscheinungen auf, sodass die Buchhandlungen zu verstopfen drohten und sie sich gegenüber den Verlagen mit absoluten Lieferschlusstagen behelfen muss-
24 Erfahrungen und Ergebnisse zur Herbstmesse 1952, 20.9.1952, RAL, 42. 25 Börsenverein an Wallmann, 17.2.1958, Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Leipzig (StAL), 21766 Börsenverein II, 1095, Bl. 235. 26 Vgl. Abt. Buchhandel: Leipziger Frühjahrsmesse 1957, Ergänzung […], 22.3.1957, Vertraulich an Genossin Pflug (ZK Abt. Wissenschaft), Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch), DY 30/IV 2/9.04/695, Bl. 6–24. 27 Vgl. Messeberichte Frühjahrsmesse und Herbstmesse 1958, StA-L, 21110 VEB Brockhaus, 1681.
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ten.28 Die großen Produktionsvolumina zum Jahresende führten dazu, dass die Buchhandlungen außerplanmäßige Warenbestände anhäuften und bei der kommenden Messe weniger einkauften. So erstreckte sich der Ausstoß von Neuerscheinungen noch nicht kontinuierlich über das Jahr, sondern legte in dieser geballten Form den Buchvertrieb vielmehr lahm.29 Dies fügte sich noch nicht in die eingangs erwähnte Vorstellung von der kulturpolitischen Wirksamkeit des Buches in einem gesellschaftlichen Prozess und die Auffassung, dass der geplante Markt keine Konjunkturen kenne. Das Ideal sah vor, dass sich die Nachfrage gleichmäßig auf beide Messen erstrecke, und die frohe Botschaft sollte lauten: „Es gibt keine ‚SaureGurken‘-Zeit mehr“.30 In dem Versuch, die Novitäten auf das ganze Jahr zu verteilen, gaben die Messen für die Verlage trotzdem den Rhythmus vor. Allerdings galt der Messetermin nicht als Richtschnur für die Fertigstellung und Auslieferung der Auflage, sondern lediglich für deren Ankündigung. Für die Interpretation von Binnenhandelsergebnissen bedeutete das Folgendes: Das Gros des Umsatzes entfiel auf angekündigte, also noch nicht lieferbare Literatur. Dementsprechend entstand eine enorme Diskrepanz, wie sie sich zur Frühjahrsmesse 1960 bei den Messeabschlüssen der volkseigenen Verlage zeigte: Sie erzielten insgesamt 57 Mio. Mark. Davon entfielen lediglich 5,4 Mio. auf lieferbare Produktion – längst nicht alles Neuerscheinungen – und 51,7 Mio. auf nicht lieferbare Titel.31 Das Messeergebnis blieb also eine fiktive Größe. Dieses Missverhältnis war jedoch systemimmanent und gehörte zum Kalkulationssystem der geplanten Verlagswirtschaft. In der Tat offenbarte sich auf der Messe das Versagen der planwirtschaftlichen Verlagsproduktion und manifestierte sich schnell in der sogenannten Überzeichnung. Die belletristischen Verlage rechneten in der Theorie damit, dass das Sortiment die Hälfte einer neuen Auflage während der Messe vorbestellte. Die Vorbestellungen erreichten allerdings tatsächlich ein Mehrfaches der beabsichtigten und möglichen Auflage. Überzeichnungsmeister war der Aufbau-Verlag, wo im Frühjahr 1957 acht Titel betroffen waren. Dementsprechend schrumpfte sein Messeergebnis von rund 2,5 um etwa 1,2 Mio. Mark. In kleineren Größenordnungen betraf das auch andere Verlage wie den Greifenverlag und Kiepen-
28 Vgl. Hauptverwaltung Verlagswesen: Auswertung der Verlagsumsätze der Leipziger Herbstmesse 1956, 5.10.1956, BArch, DR 1/6233. 29 Vgl. z. B. Konrad Reich (Universitätsbuchhandlung Rostock) an Koven (Akademie-Verlag), 8.10.1957, BArch, DR 1/1073. 30 Börsenblatt (Leipziger Ausgabe), 14.4.1951. S. 187. 31 Vgl. VVB Verlage: Resümee der Leipziger Frühjahrsmesse 1960, 18.5.1960, BArch, DR 1/1055.
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heuer. Bei Tribüne gab es doppelte Überzeichnung einiger Titel, Hinstorff konnte 300.000 von 900.000 Mark der Bestellungen nicht realisieren.32 Wie sich das Interesse an einzelnen Titeln verselbstständigte, schildert der Schriftsteller Wolfgang Joho in einer Auswertung der Herbstmesse 1957. Im Sonn tag, dessen Chefredakteur er einige Jahre später werden sollte, wies er darauf hin, dass an dem Exemplar von Hemingways keineswegs neuem, aber für uns eben neuem Roman „In einem andern Land“ bereits bei Messe-Eröffnung das Schildchen „überzeichnet“ zu sehen war und [man] könnte daraus folgern, nicht etwa, dass es keinen größeren und interessanteren Schriftsteller gäbe als Hemingway, sondern dass bei uns bisher wenig Gelegenheit war, ihn kennenzulernen. Daraus resultiert die Neugier nach solcher Ware, verbunden mit einer von wenig Sachkenntnis getrübten Flüsterpropaganda, die, was man nicht kriegen kann, nun einmal für das Beste und Begehrenswerteste hält, ob es sich um Bücher oder um Apfelsinen handelt.33
Die ideenreiche Leiterin des privaten Altberliner Verlags Lucie Groszer schlug vor, den traditionellen Konditionshandel für Messebestellungen mit den Überzeichnungen zu koppeln – ein Prinzip, das jedoch nicht in Einklang zu bringen war mit der planmäßigen Produktion bzw. dem hierarchisierten Verteilerschlüssel für volkseigene und private Buchhandlungen und sich nie zum Standard entwickelte: Ich würde auch vorschlagen, dass der Messebesucher – wie es in alten Zeiten üblich war – gegenüber dem Sortimenter, der nicht zur Messe fährt, einen kleinen Bonbon erhält, z. B. einen Sonderrabatt oder eine etwas höhere Zuteilung der Titel, die überzogen sind. Wo liegt noch der Reiz zum Messebesuch, wenn ein Titel, der sowieso in einer 10.000-Stück-Auflage weit überzogen wurde, auf Grund des Vorankündigungsdienstes auch noch allen anderen Sortimentern gegeben werden muss, so dass dann noch stärkere Kürzungen erfolgen?34
Als gegenläufige Entwicklung zu den Überzeichnungen offenbarten sich Absatzschwierigkeiten von sozialistischer Gegenwartsliteratur und Titeln des DietzVerlags, des zentralen Parteiverlags der SED. Die Literaturbehörde schob den „Schwarzen Peter“ dem privaten Sortimentsbuchhandel zu, das sich skeptisch gegenüber der Produktion von partei- oder organisationseigenen Verlagen wie Kultur und Fortschritt, Volk und Welt oder dem Mitteldeutschen Verlag zeige.35
32 Vgl. Abt. Buchhandel: Leipziger Frühjahrsmesse 1957, Ergänzung […], 22.3.1957, Vertraulich an Genossin Pflug (ZK Abt. Wissenschaft), SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.04/695, Bl. 6–24. 33 Joho, Wolfgang: Das Dutzend von heute. In: Sonntag, 8.9.1957. 34 Groszer (Altberliner Verlag) an Junge (HA Literatur und Buchwesen), 29.9.1958, BArch, DR 1/1312. 35 Vgl. Abt. Buchhandel: [Auswertung der Messe 1954], 17.9.1954, BArch, DR 1/2079.
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Das „Ausweichen vor der schwerverkäuflichen Literatur“36, wie man es den privaten Buchhändlern anlastete, zeigen insbesondere die Zahlen von 1957: Sie kauften unterdurchschnittlich ein bei Verlagen wie Die Wirtschaft (2,5 Prozent), Dietz (3 Prozent) oder dem Mitteldeutschen Verlag (14 Prozent). Stattdessen bestellten sie bevorzugt bei privaten Verlagen: Der Harth Musikverlag brachte es beispielsweise auf 80 Prozent Umsatzanteil mit dem Privatbuchhandel, Insel auf rund 62 und Kiepenheuer auf 50 Prozent. Trotz politischer Agitationseinbindung und der Zentralisierungsmaßnahmen befand sich die Mehrheit der Buchhandlungen Anfang der 1950er Jahre noch in privaten Händen. Mit verschiedenen Wirtschaftsverordnungen machte die DDR ihnen die Existenz denkbar schwer und trieb sie zur Aufgabe, in die Vergesellschaftung oder in die Bundesrepublik.37 Seit 1957 wurden die privaten Sortimenter gedrängt, Kommissionsverträge mit dem Volksbuchhandel oder der Handelsorganisation HO/Konsum einzugehen, um sie in das zentrale und staatlich kontrollierte Literaturvertriebssystem einzubinden.38 Auf der Messe stellte sich das Verhältnis wie folgt dar: 1954 kamen zum Verlag Neues Leben beispielsweise rund 800 Buchhändler, davon knapp 500 private und gut 300 aus dem Volksbuchhandel.39 Im Herbst 1957 hatte das private Sortiment immerhin noch einen Anteil von 38 Prozent am Gesamtergebnis der Messe. Doch die Literaturbehörde war unzufrieden mit der Bestelltätigkeit des gesamten Sortimentsbuchhandels: 1954 merkte sie deutlich, dass er Belletristik- und Kinderbuchverlage „mit Aufträgen bestürmt[e]“, aber: „Literatur mit der Tendenz der politisch-moralischen Erziehung wurde vernachlässigt.“40 Es war schwierig, den Volksbuchhandel auf „qualifizierte Einkäufe“ einzuschwören. Im Prinzip bestanden also kaum Unterschiede in den Bestellwünschen der privaten und der Volksbuchhändler. Alle wollten „die gängige Literatur“. Erst als das Buchsystem Ende der 1950er unter der Absatzkrise litt, ließ die Literaturbehörde den „gesellschaftlich nützlichen“ Werken eine besondere Förderung angedeihen und legte aus der Produktion aller Verlage Schwerpunkttitel fest.41 In ihren Anzeigen im Messebörsenblatt kennzeichnete sie jeder Verlag 36 Abt. Buchhandel: Leipziger Frühjahrsmesse 1957, Ergänzung […], 22.3.1957, Vertraulich an Genossin Pflug (ZK Abt. Wissenschaft), SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.04/695, Bl. 6–24. 37 Vgl. Löffler, Buchvertrieb und Buchmarkt (wie Anm. 13), S. 249. 38 Vgl. Herrmann, Hans-Christian (2005): Der Börsenverein und seine Geschichte. In: ders. (Hrsg.): Findbücher Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig. 1825–1945 und 1945– 1990. Halle/Saale: Mitteldeutscher Verlag 2005. S. 1–39, hier, S. 27. 39 Vgl. Buchhandel: [Auswertung der Messe 1954], 17.9.1954, BArch, DR 1/2079. 40 Buchhandel: [Auswertung der Messe 1954], 17.9.1954, BArch, DR 1/2079. 41 Bericht der Parteileitung des Hansahauses (LFM 1961), SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/9.04/695, Bl. 129–137.
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durch eine besondere Hervorhebung, zum Beispiel mit einem „S“ oder einem Sternchen. Dementsprechend galten zu jeder Messe für den gesamten Volksbuchhandel sogenannte Schwerpunkt-Titellisten, und den Absatz dieser Bücher sollten Verlag und Sortiment besonders fördern. Schon mehrere Wochen vor der Messe flankierte die Abteilung Literatur und Buchwesen die Bezirksdirektoren des Volksbuchhandels mit Informationen zu diesen herausgehobenen Titeln und schwor sie auf den Einkauf ein.42 Seit Anfang der 1960er Jahre bestand komplementär dazu unter dem Standpersonal der Verlage ein Umsatzwettbewerb um das Messesoll im Binnenhandel, der Mitarbeiter für die Titel mit Verkaufsschwerpunkt prämierte. Eigentlich sollte jede Buchhandlung diese Bücher führen, tatsächlich aber blieben die Bestellungen aus den Schwerpunkt-Titellisten viel zu gering. Denn das Sortiment kam schnell hinter das Prinzip und bezeichnete sie stattdessen als Ladenhüter-Listen.43 Noch 1962 stand der Volksbuchhandel in der Kritik, weil er das Fachbuch vernachlässigen würde: „Im VEB Verlag für Bauwesen wurden beispielsweise so wichtige Titel wie ‚Mechanisierte Herstellung von Beton- und Stahlbetonfertigteilen‘ […] nur sehr zurückhaltend bestellt.“44 – Die Idee, aus Ladenhütern Bestseller zu machen, ging also nicht auf. Tatsächlich war die Absatzkrise im Buchhandel ein wesentliches Argument gewesen, das für die Zentralisierung des Buchhandelssystems gesprochen hatte. Seit die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel (HV) im Ministerium für Kultur 1963 ihre Arbeit aufgenommen hatte,45 fiel auch der Volksbuchhandel in ihre Zuständigkeit. Das zahlte sich für die zentrale Messeanleitung aus, denn so war es erstmals möglich, das Angebot der Verlage und die Bestellungen des Sortimentsbuchhandels stärker zu synchronisieren: Die Zentrale Leitung des Volksbuchhandels arbeitete der HV zunächst eine eigene Messekonzeption zu und besorgte die direkte Anleitung der Buchhandlungen. Die Abteilung Literaturverbreitung und -propaganda der HV legte die jeweiligen Schwerpunkttitel fest – jeweils ein bis fünf Titel pro Verlag – und übermittelte sie an die Zentrale Leitung des Volksbuchhandels, die wiederum die Direktoren der Bezirksbetriebe, Zweigstellen und Buchhandelskollektive auf die Disposition vorbereitete. Nachdem die Verlage ihre Neuerscheinungen und lieferbaren Titel bekanntgegeben hatten, setzte die Zentrale Leitung schließlich das Messesoll für den Einkauf 42 Vgl. Abt. Literatur und Buchwesen: Protokoll der DB am 14.10.1959 (26.10.1959), BArch, DR 1/1207. 43 Vgl. Abt. Literatur und Buchwesen, Leitung: Protokoll DB am 17.9.1962 (18.9.1962), BArch, DR 1/1209. 44 Börsenblatt (Leipziger Ausgabe), 2.10.1962. S. 591. 45 Vgl. Lokatis, Siegfried: Die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel. In: Barck, Simone, Martina Langermann u. ders.: „Jedes Buch ein Abenteuer“. Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre. Berlin: Akademie 1997. S. 183–187.
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der Buchhandlungen fest.46 Die Zentrale Leitung des Volksbuchhandels musste dafür Sorge tragen, dass die Mitarbeiter das Messehaus besuchten, sich ihre Einkaufstätigkeit möglichst gleichmäßig auf alle Messetage verteilte und sich auf den gesamten Messezeitraum erstreckte. Der Zeitpunkt des Besuchs hatte jedoch keine Auswirkung auf die Realisierung der Bestellungen, da sie zunächst alle gesammelt und anschließend gekürzt wurden. Auf der Messe fertigten die belletristischen Verlage – je nach Größe – zwischen 400 und 600 Buchhändler ab. Solche Daten zum Umfang der Besuchszahlen durch das Sortiment an den Verlagsständen konnte die Literaturbehörde durch die Zentralisierung erstmals einheitlich erheben. Überhaupt legte die HV auf eine systematische Information über die Bestellarbeit der Buchhändler wert, die zuvor nicht einheitlich erfasst worden war. Dabei hielt die Diskriminierung des privaten Sortimentsbuchhandels an: 1964 gingen einige Verlage dazu über, privaten Buchhandlungen bestimmte Titel nur auszuliefern, wenn sie die Bestellung auf der Messe aufgaben. Weil viele von ihnen nur kleine Betriebe waren oder alte Inhaber hatten und deswegen nicht in gleicher Breite wie die Volksbuchhändler nach Leipzig fahren konnten, setzte sich der Börsenverein bei der HV dafür ein, dass ein Messebesuch keine Voraussetzung war, um überhaupt Titel zu erhalten.47 Das Zurückdrängen des privaten Sortimentsbuchhandels kommt beispielhaft in den Besuchszahlen am Stand zum Ausdruck: Zur Frühjahrsmesse 1969 empfing der Aufbau-Verlag rund 500 Volksbuchhändler und 100 private, der Mitteldeutsche Verlag 380 Volksbuchhändler und 40 private (Abb. 2).48 Der Binnenhandelsumsatz verteilte sich zum Beispiel im Herbst 1965 nur noch im Verhältnis 1 zu 5; während der Volksbuchhandel für knapp 53 Mio. Mark einkaufte, bestellte der Privatbuchhandel für 10 Mio.49 Auch wenn der Volksbuchhandel für die Literaturbehörde durch die Zentralisierung nun keine „Blackbox“ mehr war, blieben Fehlleistungen des geplanten Buchsystems bestehen. Eine davon war ein Phänomen, das die Leipziger Buchmesse stets begleitete. Bereits 1952 hatte es ein externer Gutachter aus dem Qualitätsausschuss des Leipziger Messeamts, das für die logistische Abwicklung der Handelsveranstaltung sorgte, nach seinem Buchmessebesuch bemängelt:
46 Vgl. Protokoll über die Tagung des Messeausschusses zur Vorbereitung der Herbstmesse 1964, 17.7.1964 (21.7.1964), StA-L, 21766 Börsenverein II, 1117, Bl. 2–5. 47 Vgl. Peterson (BV) an HV Verlage und Buchhandel, 31.1.1964, StA-L, 21766 Börsenverein II, 1116, Bl. 17. 48 Vgl. Besuche der Sortimenter an den Verlagsständen im Frühjahr 1969, SAPMO-BArch, DY 17/3081. 49 Vgl. Sektor Verlage und Buchhandel: Auswertung der LBM Herbst 1965, 20.9.1965, SAPMOBArch, DY 30/IV A2/9.04/498.
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Abbildung 2: Sortimenter am Stand des Kinderbuchverlags im Messehaus am Markt im Frühjahr 1969. Die Kästen auf den Tischen machten die aktuellen Titel bei Verhandlungen schnell greifbar. Leipziger Messe GmbH/Heyphot. Ein Missstand bei der Ausstellungsarbeit der Verlage ist das starke Überwiegen von Blindbänden […]. Für solche Attrappen haben – wie es sich zeigte – die Werktätigen kein Verständnis, und auch der Sortimenter gewinnt keinen rechten Eindruck von der Produktion eines Verlages, wenn eine derartige Fassadenmethode überhand nimmt.50
Dass „die Zahl der Blindbände […] Legion ist“51, wussten alle Beteiligten. Bevor die HV ihre Arbeit aufnahm, schien dieses Problem weitgehend geduldet oder resigniert hingenommen worden zu sein. Die Literaturbehörde bezeichnete diese Praxis als ein „Unterhöhlen der Informationsfunktion“52 und versuchte gegenzusteuern, nicht nur um schmähliche Reaktionen aus der Westpresse zu vermeiden, die über die „Leistungsschau der Blindbände“53 schrieb, sondern um den Binnenhandelsabsatz anzukurbeln. Wenn die Buchhändler sich keine Vorstellung 50 Dr. Paul Beyer (Leipzig): Qualitätsbericht: Buchmesse 1952, StA-L, 21000 Leipziger Messeamt II, 577. 51 Joho, Wolfgang: Das Dutzend von heute. In: Sonntag, 8.9.1957. 52 HV Verlage u. Buchhandel: Bericht Frühjahrsmesse 1966, 28.3.1966, SAPMO-BArch, DY 30/ IV A2/9.04/499. 53 Michaelis, Rolf: Bücherherbst im Jahr der roten Nelken. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.9.1969. S. 24.
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vom tatsächlichen Erscheinungsbild und der Ausstattung eines Buches machen konnten, zog das den Absatz in Mitleidenschaft. Das bekam nicht nur VEB F. A. Brockhaus zu spüren: Weil der Blindband zu einem Bildband über Bulgarien mit wenig Sorgfalt zusammengestellt worden war, konnte der Verlag nicht einmal 12.000 Exemplare absetzen: „Die Bilder waren willkürlich ausgewählt und wahllos eingeklebt, vom Text konnte nur eine Schilderung gegeben werden.“54 Die Messe als visuelle und haptische Offenbarungsveranstaltung verlegerischer Planproduktion dürfte allen Herstellungsleitern also den kalten Schweiß auf die Stirn getrieben haben. Doch Not machte auch in diesem Fall erfinderisch. Mit welcherlei Exponaten Reclam aufwartete, verdeutlicht die folgende Schilderung: In den Blindband O. Henry werden Andrucke von Zeichnungen und das Inhaltsverzeichnis eingeklebt, das gleiche trifft für Dickens zu (Kollege Marquardt kritisiert, dass es nicht ermöglicht wurde, wenigstens einen der beiden neuen Bände anzudrucken. – Die Abteilung Herstellung will noch versuchen, wenigstens den ersten Bogen einzuhängen.) Für beide Neuerscheinungen soll der Schutzumschlag angedruckt werden. Der Titel [Jaroslaw] Hašek erhält den alten Schutzumschlag, schwarz-weiß-Klischee-Andruck mit eingelegter neuer Farbe. […] Von den Neuerscheinungen […], bei denen noch kein Klischee vorliegt, wird ein Foto angefertigt, auf den Broschureinband kaschiert, eventuelle Farben eingelegt und mit Cellophan überdeckt.55
Bei Brockhaus kopierten die Mitarbeiter die Entwürfe der Schutzumschläge eigenhändig mit Wasserfarben und Tusche, weil sie erst nach der Messe gedruckt wurden. So konnten wenigstens drei oder vier Exemplare als Blindbände ausgestellt werden, um einen Eindruck von der Neuerscheinung zu vermitteln, erinnert sich eine Mitarbeiterin. Der schöne Schein erforderte also Improvisationskunst und handwerkliches Geschick, ganz zu schweigen von den zusätzlichen Kosten: Allein für die Maquetten der Heftchen aus Reclams Universal-Bibliothek gab der Verlag pro Messe 700 DM aus.56 Doch nicht jeder Aussteller betrieb einen solchen Aufwand: Der Verlag der Technik machte sich zur Herbstmesse 1965 nicht die Mühe, überhaupt Blindbände herzustellen. Er nahm Bestellungen lediglich auf der Basis der Anzeigen im Börsenblatt auf.57 Und im Falle von Otto Gotsches Roman-Kassette aus dem Mitteldeutschen Verlag, die gefürchtete knapp 3.000seitige Sammlung der ausufernden Schreibstücke des persönlichen Referenten 54 Protokoll zur Internationalen Leipziger Buchmesse 1976, Binnenhandel, 5.4.1976, StA-L, 21110 VEB Brockhaus, 1251. 55 Kurzprotokoll zur Dienst- und Messebesprechung vom 13.2.1962, RAL, 143. 56 Vgl. Kurzprotokoll zur Dienstbesprechung vom 9.8.1962, RAL, 143. 57 Vgl. HV Verlage u. Buchhandel: Abschlussbericht der LHM 64, 13.9.1964, SAPMO-BArch, DY 30/IV A2/9.04/498.
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von Walter Ulbricht, an denen schon die junge Christa Wolf verzweifelt war, konnte die Darreichungsform als Schuber mit komplett unbedruckten Bänden von einigen sogar als glückliche Fügung aufgefasst werden.58 Für die Frühjahrsmesse 1964 – die zweite Veranstaltung im gerade eröffneten Messehaus am Markt, dem neuen Domizil der Buchbranche – hatte die Ideologische Kommission die Devise ausgegeben, dass Blindbände nur ausgestellt werden dürfen, wenn die Auslieferung des Buches in den folgenden sechs Wochen garantiert war.59 Trotzdem boten die Verlage ein Jahr später rekordverdächtige 800 Titel (Erst- und Nachauflagen) von insgesamt rund 8.000 lieferbaren Titeln als Attrappen an. Diese „Unsitte“60 zog sich durch alle Genres; dem Problem der Blindbände war nicht beizukommen. Deswegen zeigte sich die HV inzwischen schon damit zufrieden, wenn sie mit ordentlichen Annotationen ausgestattet waren. So hielt sie die Verlage dazu an, aus der Not eine Tugend zu machen: Als wichtiges Element der Standgestaltung sollten sie sich darauf konzentrieren, den Informationsgehalt der unfertigen Bücher zu steigern, das heißt wenigstens ein Inhaltsverzeichnis und Leseproben aufzunehmen.61 Diese Praxis der improvisierten Ausstellung von noch nicht fertig gestellten Büchern machte die Verlage aber offenbar nicht nur handwerklich erfinderisch. Es kam sogar vor, dass die HV-Zensoren bei ihrem Gang durch das Messehaus Blindtitel entdeckten, die noch gar keine Druckgenehmigung erhalten hatten.62 Doch die gute Laune ließen sich die Sortimenter und Verleger nicht verderben und fanden in den Abendstunden Abwechslung: Schon 1956 hatte der Volksbuchhandel ein „zwangloses Beisammensein mit Tanz“ angesetzt, und der LKG veranstaltete seit Ende der 1950er Jahre einen Messeabend. Seit der Herbstmesse 1967 organisierte der Börsenverein „auf vielfach geäußerten Wunsch“63 eine abendliche Großveranstaltung mit Buffet und Tanz, den sogenannten Geselligen Abend oder Buchhändlerball. Vielen ehemaligen Mitarbeitern des DDR-Buchhandels ist diese
58 Vgl. Lokatis, Siegfried: Der Aufstieg des Mitteldeutschen Verlages (MDV) auf dem „Bitterfelder Weg“. In: Barck, Simone, Martina Langermann u. ders.: „Jedes Buch ein Abenteuer“. ZensurSystem und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre. Berlin: Akademie 1997. S. 140f. Eine solche Kassette befindet sich im Besitz von Siegfried Lokatis. 59 Vgl. HV Verlage u. Buchhandel, Abt. Wissenschaftliche und Fachliteratur: Aktenvermerk, 6.12.1963, BArch, DR 1/1824. 60 HV Verlage u. Buchhandel, Abt. Literaturverbreitung u. Propaganda: Bericht über die Leipziger Frühjahrsmesse 1968, SAPMO-BArch, DY 30/IV A2/9.04/499. 61 Vgl. HV Verlage u. Buchhandel: Bericht Herbstmesse 1965, 14.9.1965, SAPMO-BArch, DY 30/ IV A2/9.04/498. 62 Vgl. HV Verlage u. Buchhandel: Bericht Frühjahrsmesse 1966, 28.3.1966, SAPMO-BArch, DY 30/IV A2/9.04/499. 63 Börsenblatt (Leipziger Ausgabe), 22.8.1967. S. 632.
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Veranstaltung mit über 200 Gästen, die oft in der Parkgaststätte Markkleeberg stattfand, noch heute in lebhafter Erinnerung. Nachdem eine solche rein dem Amüsement dienende Veranstaltung zu den ersten Nachkriegsmessen wegen der bourgeoisen Leichtlebigkeit noch undenkbar gewesen war, zeigte sich inzwischen, dass die Messe nicht ohne gesellschaftlichen Teil funktionierte. Diese Festveranstaltung war eine Art, wie die DDR-Buchmesse schließlich an die Tradition der Kantate treffen anknüpfte. Der ungezwungene internationale und deutsch-deutsche Austausch durfte dagegen nur auf den Cocktail-Empfängen stattfinden: mit agitativer Intention und mit einem handverlesenen Personenkreis.
Klaus G. Saur
Der Innerdeutsche Handel Meine Erfahrungen Durch meine Tätigkeit als Vorsitzender des Ausschusses für Innerdeutschen Handel sowie des Außenhandels-Ausschusses des Frankfurter Börsenvereins habe ich im Zeitraum von 1978 bis 1984 den buchhändlerischen Austausch zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR mitprägen dürfen. Die Rahmenbedingungen für den ökonomischen Austausch zwischen beiden deutschen Staaten waren in jenen Jahren äußerst miserabel, und sie waren von einem fast unüberwindlichen Gegensatz der politischen Befindlichkeiten sowie der ökonomischen Möglichkeiten gekennzeichnet. Bundesdeutsche Verleger und Buchhändler waren oftmals noch tief verbittert über die erlittene Enteignung in Leipzig, die solch traditionsreiche Verlagshäuser wie F. A. Brockhaus, Georg Thieme oder das Bibliographische Institut erfahren hatten. Die Epoche der sogenannten zweigleisigen oder Parallelverlage kennzeichnete eine Systemauseinandersetzung, wie es sie zuvor auf deutschem Boden noch nicht gegeben hatte. Während sich einerseits die westdeutschen Verleger im Recht sahen, ihren Firmennamen und ihre unternehmerische Familientradition als einzige weltweit ausüben zu können, pochten DDR-Funktionäre auf ihr Recht, über das Schicksal des Privatunternehmens auf ihrem Territorium zu bestimmen. So wurde in mehreren Enteignungswellen die Verlags- und Buchhandelstätigkeit der Privaten im Zeitraum 1945 bis 1961 deutlich reduziert und im Wesentlichen auf neu gegründete Zentralverlage, aber auch auf die bereits erwähnten Parallelverlage umgeleitet. Es wurden unter anderem neu gegründet: der Aufbau-Verlag für die Belletristik, der Kinderbuchverlag für das Kinderbuch und der Akademie-Verlag sowie der Deutsche Verlag der Wissenschaften für die Wissenschaften, dann die Fachverlage Fachbuchverlag, Verlag Technik und Verlag Die Wirtschaft. Die Gesamttätigkeit der Verlage und auch die Deutsche Buch-Export und -Import GmbH wurden intensiv durch staatliche Stellen und die Staatspartei SED kon trolliert. Ab 1949 wurden die Verlage von einer Abteilung des Kulturministeriums zensorisch überwacht. Neben vielen Gegensätzen gab es aber auch das erklärte beiderseitige Interesse an einem Kultur-, Literatur- und Wirtschaftsaustausch. Ein Anknüpfungspunkt war die Erinnerung und Bewunderung vieler westdeutscher Akteure des Buchhandels an die „alte Buchstadt Leipzig“, die in dieser Form natürlich nicht mehr existierte. Gerade die Leipziger Buchmessen, an denen ich seit 1958 teilnehme, brachten Menschen immer wieder zueinander. Es waren oftmals diese
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persönlichen Kontakte, die ausschlaggebend waren. Sie machten den Unterschied; sie ermöglichten Dinge, die offiziell undenkbar schienen. Schauen wir zunächst auf das Volumen des sogenannten Innerdeutschen Handels, so wird deutlich, dass er aus Sicht der DDR eine ungleich höhere Bedeutung besaß als aus Sicht der Bundesrepublik Deutschland. Wie aus Tabelle 1 her vorgeht, gibt es überprüfbare Zahlenmaterialien über die Verkäufe und die Bezüge erst ab 1958 und bis 1987. Die Lieferungen in beide Richtungen wurden staatlich reglementiert und in engen Grenzen gehalten. Das Bonner Bundeswirtschaftsministerium legte fest, bis zu welchen Beträgen Lieferungen aus der DDR durchgeführt werden konnten und wie viele Lieferungen in die DDR zu erfolgen hatten. Ähnliche Maßnahmen wurden auch seitens der DDR getroffen. Lieferungen in die DDR wickelte ausschließlich die Deutsche Buch-Export und -Import GmbH ab, kurz Buchexport. Man muss dabei unterscheiden zwischen dem sogenannten Kompensationsverfahren und dem Clearingverfahren. Clearingverfahren bedeutete, der Buchexport Leipzig bestellte bei westdeutschen Verlagen oder bei westdeutschen Grossisten Bücher oder Zeitschriften und bezahlte sie in entsprechender Valuta-Währung. In den meisten Jahren machten jedoch die Kompensationsverträge bzw. -lieferungen einen größeren Teil der Gesamtumsätze aus. Kompensationsverfahren bedeutete, dass zwischen dem Buchexport und dem Verlag bzw. dem Grossisten in der Bundesrepublik Rahmenverträge abgeschlossen wurden, dass für bestimmte Summen Bücher aus der Bundesrepublik in die DDR kommen konnten und dass die Bezahlung durch Lieferungen aus der DDR in die Bundesrepublik ausgeglichen wurde. Die Gesamtvolumina sind, wie aus der nachfolgenden Tabelle hervorgeht, vergleichsweise gering. So entsprachen beispielsweise die Lieferungen 1962 in die DDR einem Anteil von 9 Prozent der bundesdeutschen Lieferungen nach Österreich. 1972 reduzierte sich dieser Anteil noch einmal auf 6,5 Prozent, um dann 1982 einen Prozentsatz von 4,8 Prozent zu erreichen. Aus den Aufstellungen wird auch deutlich, dass wesentlich mehr Zeitschriften in die DDR geliefert wurden als Bücher und umgekehrt aus der DDR wesentlich mehr Bücher kamen als Zeitschriften. Zwischen 1949 und 1990 erschienen vergleichsweise erheblich weniger Fachzeitschriften in der DDR, und vor allem kamen sie zu Preisen von Jahresabonnements von unter 100 DM auf den Markt, während die Produktion der Bundesrepublik mehr als das Zwölffache der Zeitschriften betrug und die Abonnementpreise schon früh die 200-DM- und später die 1.000-DM-Grenze überschritten. Insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren spielte auch die Herstellung von Büchern im Auftrag westdeutscher Verlage in der DDR eine große Rolle. Führend war auf diesem Sektor der Springer-Verlag in Berlin (West) und Heidelberg, der einen beachtlichen Teil seiner Produktion in der DDR drucken ließ und die Bezahlung schlicht mit Gegenlieferungen aus dem eigenen Verlagsprogramm erreichen konnte.
Der Innerdeutsche Handel
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Tabelle 1: Bezüge und Lieferungen der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin (West) im innerdeutschen Handel mit Gegenständen des Buchhandels 1965 bis 1987 (in 1.000 VE1)*. Amtliche Statistik. In: Buch und Buchhandel in Zahlen 1970. S. 70–71. Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland 1970–1987. Bücher Jahr 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987
Zeitungen und Zeitschriften Lieferungen
Bezüge
Lieferungen
Bezüge
5.953 5.911 5.667 3.685 4.266 4.763 6.192 6.710 5.943 5.910 5.119 5.181 5.686 6.015 6.377 6.007 6.318 6.533 5.375 7.495 7.003 6.343 7.263 10.701 9.393 10.379 13.857 13.033 15.585 13.987
8.135 7.730 8.366 5.593 6.880 6.923 9.119 10.156 9.148 10.581 9.872 11.457 12.285 14.107 13.323 14.263 14.891 15.383 17.851 17.507 16.765 16.869 17.252 18.367 22.398 25.352 22.724 24.336 24.242 24.200
4.368 4.600 5.398 5.448 4.354 4.479 5.015 4.766 5.074 6.601 5.587 6.447 5.956 7.602 7.741 9.019 8.810 11.540 12.761 ** ** 12.653 13.437 12.995 14.058 15.301 14.735 14.058 14.159 14.355
3.737 3.337 3.516 2.153 2.694 ** 2.995 3.200 3.285 3.742 3.206 3.415 1.725 1.438 1.750 1.562 1.512 1.204 1.245 974 1.274 1.329 1.189 1.488 1.279 1.629 2.362 2.537 2.652 1.949
* Ausschließlich der im Bereich „Sonstige Druckerzeugnisse“ registrierten Gegenstände des Buchhandels. ** Bezüge liegen nur in der Summe der Druckerzeugnisse vor.
1 VE = Verrechnungseinheiten.
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Die zweite große Form der Lieferungen waren Sortimentslieferungen. Dabei bezogen westdeutsche Grossisten Literatur aus den Verlagen der DDR direkt beim Buchexport und lieferten diese an Buchhandlungen in der Bundesrepublik weiter. Einige große Sortimentsbuchhandlungen hatten auch direkte Verträge mit dem Buchexport und konnten die Titel, die sie aus DDR-Verlagen für ihre Kunden benötigten, direkt bestellen. Die dritte Form der Lieferungen stellten die sogenannten Koproduktionen dar. Einer der größten Exportlieferer war hier zum Beispiel der Insel-Verlag, der einen großen Teil seiner Produktion in Leipzig automatisch in Teilauflagen fortdruckte und sie mit dem Imprint Insel-Verlag – zunächst Wiesbaden, dann Frankfurt – an den bundesrepublikanischen Partner lieferte. Auch die Fachverlage wie der Verlag Technik oder der Verlag Die Wirtschaft lieferten häufig Teilauflagen ihrer Produktion an Fachverlage in der Bundesrepublik in Exemplarzahlen von 1.000 bis 3.000 Stück, die dafür ein Exklusivrecht in der Bundesrepublik, der Schweiz und in Österreich für den Vertrieb bekamen. Auch hier erfolgte in den meisten Fällen die Bezahlung durch Gegenlieferung der Produktion dieser Verlage in die DDR. In diesem Zusammenhang spielte die Lieferung sogenannter namensgleicher Verlage, also Parallelverlage, eine beachtliche Rolle. In zahlreichen Fällen, in denen die Inhaber von Verlagen nach 1945 in die Bundesrepublik oder zunächst in die westlichen Besatzungszonen gezogen waren, blieben die Verlagsnamen unter VEB-Bezeichnung oder auch unter BSB, also Betrieb mit staatlicher Beteiligung, in Ostdeutschland weiter tätig. Eine Reihe von Verlagen in der Bundesrepublik wie zum Beispiel Georg Thieme oder das Bibliographische Institut, F. A. Brockhaus, Philipp Reclam und andere erstritten Landgerichtsurteile, damit die Produktion des ostdeutschen Verlags mit dem gleichen Namen nicht in die Bundesrepublik geliefert werden durfte und dort nicht verbreitet werden konnte. Der Verlag VEB Bibliographisches Institut Leipzig führte die Tradition des Verlages Otto Harrassowitz Leipzig fort und brachte Publikationen zum Buchund Bibliothekswesen heraus. Der Export dieser Titel wäre sowohl mit dem Namen Otto Harrassowitz wie mit dem Verlagsnamen Bibliographisches Institut verboten gewesen. Der Ausweg war, dass das VEB Bibliographische Institut eine Lizenz an den im gleichen Verbund tätigen Verlag für Buch- und Bibliothekswesen Leipzig gab. Dieser Verlag verkaufte dann eine Teilauflage mit dem Eindruck „Copyright by VEB Verlag für Buch- und Bibliothekswesen“ an den K. G. Saur Verlag in München, der damit das Exklusivrecht für die Verbreitung dieser Titel erhielt. Es handelte sich hier beispielsweise um rund zwölf Titel, die nach 1967 auf diese Art und Weise in die Bundesrepublik geliefert werden konnten. Auch hier war die Situation dann so, dass ein Teil dieser Lieferung von Seiten des K. G.
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Saur Verlags bar bezahlt werden musste, ein größerer Teil aber verwendet wurde, um Lieferungen des K. G. Saur Verlags in die DDR vornehmen zu können.
Die Leipziger Buchmesse Die erste publikumsoffene Buchmesse2 auf deutschem Gebiet fand nach dem Zweiten Weltkrieg, und zwar 1946 in Leipzig statt. In diesem Jahr veranstaltete Leipzig generell eine Mustermesse, die nahezu alle Branchen umfasste, wobei die Technikausstellung auf dem Technischen Messegelände in der Nähe der Deutschen Bücherei am Deutschen Platz stattfand und die Handelsmesse in den Messehäusern in der Innenstadt durchgeführt wurde. Auf der Messe wurden Bücher zunächst bei anderen Branchen mit ausgestellt: Belletristik bei den Textilien, Kinderbücher bei den Schreibwaren, technische Bücher auf der Technischen Messe. Ab 1949 wurden die Buchaussteller im neuen Hansahaus zusammengefasst, das auf vier Stockwerken die Verlage versammelte, wobei in den Jahren darauf die Sonderbauten Hansahaus 1 und 2 hinzukamen. 1963 wurde dann das Messehaus am Markt eröffnet, wohin die gesamte Buchausstellung verlegt wurde. 1959 wurde zum ersten Mal der Gutenberg-Preis der Stadt Leipzig verliehen, der jeweils im Alten Rathaus zur Eröffnungsfeier der Buchmesse überreicht wurde. Die Preisträger sind in Tabelle 2 aufgeführt. Durch die Verleihung des Gutenberg-Preises bekam die Buchausstellung nun einen besonderen Charakter. Für keine andere Branche gab es eine eigene Eröffnungsveranstaltung, lediglich die gesamte Messe wurde immer durch den Parteivorsitzenden, Ministerpräsidenten oder Staatspräsidenten eröffnet. Die Buchmesseeröffnung fand immer als stilvolle Feier mit der Verleihung des Gutenberg-Preises im Alten Rathaus statt, samt Umrahmung durch den Thomanerchor und entsprechende Reden.
2 Zuvor waren die Buchmessen reine Tausch- oder Abrechnungsveranstaltungen der Buchhändler und fanden hinter verschlossenen Türen statt. Das Publikum war nicht zugelassen, ja wusste oftmals nichts von ihnen. Vgl. Keiderling, Thomas: Leipziger Buchmessen und Buchhändlermessen – Kontinuität im Wandel von fünf Jahrhunderten? In: Leipzig, Mitteldeutschland und Europa. Festgabe für Manfred Straube und Manfred Unger zum 70. Geburtstag. Hrsg. v. Hartmut Zwahr u. a. Beucha: Sax 2000. S. 123–134. Vgl. Zeckert, Patricia F.: Die Internationale Leipziger Buchmesse. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament (2009) Nr. 11. S. 39–46.
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Tabelle 2: Gutenberg-Preis der Stadt Leipzig 1959–1989. 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989
Horst Erich Wolter Karl Gossow; Offizin Andersen Nexö Leipzig Albert Kapr; Druckerei Fortschritt Erfurt Werner Klemke; Typoart Dresden u. Leipzig Solomon Benediktinowitsch Telingater, Fritz Helmuth Ehmcke Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig Lajos Lengyel, Jan Tschichold; Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Hans Baltzer, Bruno Rebner Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig Walter Schiller, Vasil Jontschev; Interdruck Leipzig Bruno Kaiser; Röderdruck Leipzig Deutsches Buch- und Schriftmuseum Leipzig; Graphische Kunstanstalt H. F. Jütte Leipzig Andrei Dmitrijewitsch Gontscharow Horst Kunze, Roman Tomaszewski Hellmuth Tschörtner Insel Verlag „Anton Kippenberg“ Leipzig, Verlag der Kunst Dresden Wadim Wladimirowitsch Lazurski; Börsenverein der Deutschen Buchhändler in Leipzig Joachim Kölbel Horst Schuster, György Haiman, Siegfried Hempel, Hans Marquardt HAP Grieshaber Gert Wunderlich Verlag Edition Leipzig Hans Fronius Tibor Szántó, Helmut Selle Siegfried Hoffmann Elizabeth Shaw Dmitri Spiridonowitsch Bisti Jiří Šalamoun Fritz Helmut Landshoff Lothar Reher Yü Bing-Nan, Klaus Ensikat
Die wichtigsten Verlage der Bundesrepublik wie der Springer-Verlag, De Gruyter, Georg Thieme, Carl Hanser oder R. Oldenbourg nahmen ab etwa 1950 regelmäßig an der Buchmesse mit eigenen Ständen teil. Außerdem stellten Grossistenfirmen wie KAWE Berlin, später Helios Berlin, dann Santo Vanasia Köln Sammelausstellungen von jeweils 100 bis 200 Verlagen aus der Bundesrepublik im Hansahaus, später im Messehaus am Markt, vor. In den entsprechenden Ausstellungsbedingungen war festgehalten, dass, wenn westdeutsche oder westliche Aussteller nach Leipzig kamen, sie ein Kontingent von 500 DM pro Quadratmeter gemietetem Stand bekamen. Das heißt, wenn ein Verlag 10 m2 Ausstellungsfläche bestellte, hatte
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er die Garantie, dass für 5.000 DM Bücher bzw. Verrechnungseinheiten bestellt werden mussten, die dann im Clearing-Verfahren bezahlt wurden. Das Messegut selbst wurde grundsätzlich von der Deutschen Buch-Export und -Import GmbH, die später dann in Buchexport, Volkseigener Betrieb der DDR umbenannt wurde, übernommen. Die Übernahme erfolgte mit einem Rückgaberecht, und man konnte immer davon ausgehen, dass 10 bis 15 Prozent der ausgestellten Bücher zurückgeschickt wurden. Eine gewisse Sonderrolle spielten dabei die Lieferungen an das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Dessen Mitarbeiter kamen jeweils in der Nacht vor Eröffnung der Buchmesse an alle Stände und konfiszierten alle Titel, die gegen den Weltkommunismus, gegen die Sowjetunion, gegen die DDR gerichtet oder die sonst in irgendeiner Form verdächtig waren. Diese beschlagnahmten Bücher wurden grundsätzlich übernommen, bezahlt und niemals remittiert. Ein Schweizer Verlag brachte 1955 ein Buch über die psychologischen Eingliederungsschwierigkeiten der Ungarnflüchtlinge heraus, ein Buch, das weltweit kaum einen Käufer fand. Nur, es wurden zu jeder Frühjahrsmesse und jeder Herbstmesse (die bis 1972 stattfanden) vom Verlag zehn Exemplare mit nach Leipzig gebracht, sodann regelmäßig beschlagnahmt und bezahlt, sodass sich die Auflage beim Verlag so langsam dem Ende näherte. Nachdem dieses Geschäft zehn Jahre erfolgreich gelaufen war, kam der Vertriebsleiter des Verlages am Messesonntag an den Stand und sah zu seinem Erschrecken die zehn Bücher noch stehen. Daraufhin ging er zu den MfS-Mitarbeitern, die in der dritten Etage des Messehauses am Markt residierten, und sagte: „Kollegen, was ist denn los, warum habt ihr die Bücher nicht beschlagnahmt?“ Dann wurde ihm erklärt, das Thema habe sich weitgehend erledigt und man habe schon so viele Exemplare. Daraufhin bat er, sie doch noch einmal zu beschlagnahmen, und sie erklärten sich hierzu bereit, unter der Bedingung, dass er sie im nächsten Jahr nicht mehr mitbringen würde. Die Buchmesse war im Grunde genommen das einzige Schaufenster, um westdeutsche Bücher in der DDR zu zeigen. Es kamen zahlreiche Besucher aus der ganzen Republik nach Leipzig, um häufig im Stehen Bücher vom ersten bis zum letzten Tag zu lesen. Kein Besucher hatte die Chance, ein derartiges Buch zu kaufen. Ins ostdeutsche Sortiment kamen die Bücher ohnehin nicht, in den Bibliotheken lagen sie häufig unter Verschluss. Zahlreiche Aussteller schauten deshalb ostentativ weg, wenn sie feststellten, dass der begierige Leser sich das Buch einsteckte und mitnahm. Dies war jedoch keineswegs ungefährlich, denn alle Stände wurden permanent beobachtet. Ich habe mehrfach Exemplare an derartige Interessenten verschenkt und einen Zettel oder eine Visitenkarte mitgegeben und auch Kollegen beobachtet, die das ähnlich handhabten. Die Grünen-Vorsitzende Katrin Göring-Eckardt erzählte mir einmal, als ich sie im Jahr 2004 über
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die Leipziger Buchmesse führte, sie habe in den 1980er Jahren Bücher gestohlen. Ich antwortete, das sei natürlich völlig eindeutig geistiger Mundraub gewesen. Für die Universitätsbibliotheken sowie für die Deutsche Staatsbibliothek in Berlin und die Sächsische Landesbibliothek in Dresden galt noch folgende Regel: Diese Bibliotheken konnten sich die Titel bei den westdeutschen Ausstellern notieren, die sie benötigen würden, und konnten sie dann devisenfrei beim Buchexport bzw. in einem komplizierten Lieferungsverfahren über den LKG bestellen. Devisenfrei bedeutete Folgendes: Eine Universitätsbibliothek hatte beispielsweise einen Erwerbungsetat von 2,5 Mio. Mark der DDR, aber von diesen 2,5 Mio. waren nur 150.000 Mark für Westimporte vorgesehen. Der übrige Etat musste mit Bestellungen aus der DDR oder aus den sogenannten Brudervölkern Sowjetunion etc. aus dem Comecon-Verbund3 getätigt werden. Schon vor Beginn der Buchmesse schwirrten also Einkäufer der Universitätsbibliotheken durch die Hallen und notierten sich eifrig jeden Titel, weil in den meisten Fällen ja nur ein Exemplar ausgestellt war. Eine Sonderrolle spielte immer die Deutsche Bücherei. 1912 vom Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig gemeinsam mit der Stadt Leipzig und dem Königreich Sachsen gegründet, wurde sie immer vonseiten des Börsenvereins und der Verleger massiv unterstützt. Dies blieb auch nach 1945 so, und ein großer Teil der bundesdeutschen Verlage lieferte seine Produktion auch in der Zeit zwischen 1945 und 1990 kostenlos als Pflichtexemplare nach Leipzig, obwohl es keine Pflicht mehr gab. Einige Verlage, wie namensgleiche Verlage wie Biblio graphisches Institut Mannheim oder Reclam Stuttgart oder Teubner Stuttgart, verweigerten die Lieferung aufgrund der Enteignungen, die ihren Häusern widerfahren waren. Diese Bücher besorgte sich dann die Deutsche Bücherei häufig über Schweizer Bezugsquellen, sodass sie dem Anspruch „Gesamtarchiv des deutschsprachigen Schrifttums“ weiterhin gerecht wurde und für die Leser in der DDR die einzige Chance bedeutete, ein derartiges Buch einmal überhaupt in die Hand zu bekommen. Es bestand darüber hinaus ein beachtlicher persönlicher Kontakt zwischen den leitenden Mitarbeitern der Deutschen Bücherei und den meisten bundesdeutschen Verlagen. Die Deutsche Bücherei lud zur Buchmesse in Leipzig immer alle Aussteller aus der Bundesrepublik, aus Österreich und der Schweiz zu Treffen und gemeinsamen Essen und Ausstellungsbesuchen ein. Sie war auch vielen Verlagen in der Bundesrepublik extrem behilflich bei der Erstellung historischer Verlagskataloge aufgrund des vorzüglich gemachten Deutschen Verlegerkataloges in der Deutschen Bücherei, oder sie stellte Titel, die vor 1945 oder 1933 erschienen
3 Eine Abkürzung für den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (kurz RGW), eine internationale Wirtschaftsorganisation der sozialistischen Staaten unter Führung der Sowjetunion.
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waren, den Verlagen zur Verfügung, um Reprint-Auflagen herzustellen und vieles mehr.
Die Grossisten in der Bundesrepublik Deutschland Koehler & Volckmar hatte bis 1949 seinen Hauptsitz in Leipzig und besaß eine Tochterfirma namens Koch, Neff & Oetinger in Stuttgart. Diese Dependance wurde nach der spektakulären Flucht der Inhaberfamilie aus Leipzig und der anschließenden Enteignung der dortigen Firma zum Hauptsitz für den früheren Konzern Koehler & Volckmar und zum größten Barsortimenter sowie zur größten Verlagsauslieferung in der Bundesrepublik ausgebaut.4 1957 gründete die Firma Koch, Neff, Oetinger in Köln ein neues Barsortiment unter dem Namen Koehler & Volckmar. Aufgrund der Enteignung in Leipzig war die Stuttgarter Firma weder bereit, Kontakte nach Leipzig zu unterhalten, noch, an den deutsch-deutschen Lieferungen in irgendeiner Weise beteiligt zu sein. Einzige Ausnahme: Die Verlage, die bei Koch, Neff, Oetinger in Stuttgart ausgeliefert wurden, konnten unter Rechnungsbogen des jeweiligen Verlags Lieferungen an den Buchexport vornehmen. Auch die Firma Libri in Hamburg unter dem Inhaber Kurt Lingenbrink lehnte jeden Kontakt mit der DDR oder – wie es dort immer hieß – mit der „Ostzone“ ab. In der Bundesrepublik entstanden außerdem eine Reihe von Zwischenbuchhandelsfirmen, die sich auf den Handel mit der DDR oder mit Osteuropa konzentrierten oder zumindest auch Bezüge aus der DDR in den Westen realisierten. Dabei handelte es sich um mehrere Unternehmen: 1. Kunst und Wissen Erich Bieber, Stuttgart. Diese Firma bekam nach 1949 das exklusive Vertriebsrecht für den Akademie-Verlag in Ostberlin sowie für den Akademie-Verlag in Budapest und beherrschte den Weltmarkt mit den Büchern dieses Verlags. Das heißt, auch die Lieferungen in die USA oder nach Japan gingen von Leipzig nach Stuttgart, von Stuttgart entsprechend weiter. Für die Lieferungen aus der DDR lieferte Kunst und Wissen dann entsprechende Produktionen bundesdeutscher Verlage in die DDR als sogenannte Verrechnungseinheiten. 2. Ebenfalls 1949 wurde der Brücken-Verlag in Düsseldorf gegründet, der mehrheitlich zur Meshdunarodnaja Kniga in Moskau gehörte, also voll in kommunistischem Besitz war. Diese Firma bezog Bücher aus der Sowjetunion und
4 Vgl. Voerster, Jürgen: Geschichte der Firmen Koehler & Volckmar; Koch, Neff & Volckmar; Koch, Neff & Oetinger-Verlagsauslieferung und der Gründungsfirma F. Volckmar von 1829–2009. 2 Bde. Stuttgart Koch, Neff & Volckmar 2009, hier Bd. 1. S. 121–125.
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aus der DDR, um sie in die Bundesrepublik zu liefern, und lieferte entsprechende Produktion ebenfalls in die DDR und in die Sowjetunion. In Berlin gründete Kurt Wilhelm, der zuvor schon Mitbegründer des AufbauVerlags gewesen war, mit Axel W. Blum die Firma KAWE. Sie war in den 1950er und 1960er Jahren sozusagen der Marktführer für Lieferungen aus der DDR an die Bundesrepublik und Sortimentslieferungen aus der Bundesrepublik in die DDR. Die Firma Santo Vanasia in Köln bezog ebenfalls große Buchlieferungen aus der DDR, aber primär in Teilauflagen, beispielsweise aus dem Reclam-Verlag mit entsprechender Imprint-Veränderung. Auch hier war wieder das Kompensationsgeschäft vorgegeben. Die Firma Helios wurde in Berlin in den 1960er Jahren gegründet und machte der Firma KAWE entsprechend Konkurrenz, weil sie auf demselben Gebiet tätig war. In Ruhpolding wurde eine Firma „Eskabe“ Schönwitz & Co. gegründet, die komplett auf den DDR/BRD-Handel spezialisiert war. Sie wurde 1966 von Alfred Salat übernommen, einem Geschäftsführer, der zu NS-Zeiten hochdekorierter Direktor des Verlages Knorr & Hirth und der Buchverlage des Zen tralverlages der NSDAP gewesen war und der sich nun auf Lieferungen nach China, in die DDR sowie Bezüge aus der DDR konzentrierte.
Das Zentralantiquariat der DDR in Leipzig Diese Firma hatte nun eine Monopol-Position für Antiquariatslieferungen aus der DDR, häufig auch aus enteigneten Privatbibliotheken und sonstigen Beständen weltweit. Es war einer der wenigen Betriebe, die intensive Direktbeziehungen nach Japan unterhielten und den japanischen Markt belieferten. Er hatte enge Beziehungen zur Firma KOKO von Alexander Schalck-Golodkowski, dem obskuren Vertreter der Antiquitätenlieferungen und vieles mehr.
Die Bedeutung der Frankfurter Buchmesse für die DDR-Verlage Bis Ende der 1950er Jahre konnten die Verlage aus Ostdeutschland nicht auf der Frankfurter Buchmesse ausstellen, sondern lediglich in einer Sonderausstellung außerhalb des Messegeländes ihre Bücher zeigen, dann in Sammelausstellun-
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gen, die die Deutsche Buch-Export und -Import GmbH organisierte. Erst ab 1958 war es möglich, dass Verlage aus der DDR auch Einzelstände in Frankfurt mieten konnten, allerdings mit erheblichen Einschränkungen. Bei den sogenannten namensgleichen Verlagen wie VEB Georg Thieme Leipzig und Georg ThiemeVerlag Stuttgart oder VEB Breitkopf & Härtel Leipzig und Breitkopf & Härtel Wiesbaden war es laut Messeordnung dem westdeutschen Partner möglich zu verbieten, dass der ostdeutsche gleichnamige Verlag in Frankfurt ausstellte. Von 1960 bis 1980 wurde die Zahl der Verlage, die derartig behindert waren, erheblich abgebaut. 1980 gab es nur noch die Verlage Edition Peters, F. A. Brockhaus und Philipp Reclam (alle drei Leipzig), die vom Einspruch der namensgleichen Verlage betroffen waren. 1984 wurde erreicht, dass Edition Peters und F. A. Brockhaus ausstellen konnten. Reclam in Leipzig war es bis zur Deutschen Einheit 1990 versagt geblieben, in Frankfurt ausstellen zu können. Für die Verlage aus der DDR stellte die Buchmesse in Frankfurt gewissermaßen die erste Möglichkeit dar, ihre Produktion im Westen zu zeigen. Im Prinzip konnten zwar alle Verlage – mit Ausnahme der durch Gerichtsurteile verhinderten Firmen wie Bibliographisches Institut, F. A. Brockhaus oder Reclam – ihre Bücher an den westdeutschen Buchhandel liefern, nur: Die Nachfrage war vergleichsweise gering. Die Frankfurter Buchmesse bildete für die anwesenden DDR-Verlage ebenfalls eine Plattform für Lizenzverhandlungen und für Exportaufträge. Das Volumen war allerdings sehr gering. Der einzige beachtliche Auslandsmarkt für DDR-Produktion war Japan, und zahlreiche japanische Buchhändler nutzten die Ausstellungen in Frankfurt, um mit den DDR-Verlagen entsprechende Kontakte auf- und auszubauen und den Vertrieb dieser Bücher in Japan zu intensivieren.
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Wie dem Justiziar des Frankfurter Börsenvereins einmal die Haare zu Berge standen Eine Kriminalgeschichte aus den Akten1 Seit Mitte der 1960er Jahre befeuerten ungenehmigt hergestellte Nachdrucke die intellektuellen Suchbewegungen der Neuen Linken in Westdeutschland, die traditionsbildend anknüpfen wollten an dissident-marxistische und psychoanalytische Diskurse der Zwischenkriegszeit. Die dafür notwendigen Texte aber galten zunächst als verschollen. Lange Zeit wurden sie weder verlegt noch vertrieben, bis subversive Zirkel sie aus einzelnen Bibliotheken, Antiquariaten, Archiven oder verstaubten Kellern wieder ausgruben und sie in Handarbeit auf nun auch für den Hausgebrauch erschwinglich gewordenen Offset-Druckmaschinen vervielfältigten. Als diese nach den 1968er Revolten die Studierzirkel der subkulturellen Labore verließen, sich im Handel mit ihnen neue linke Verlage, Vertriebe und Buchläden professionalisierten und neben der Druckqualität auch ihre Auflagenhöhen auf bis zu mehrere tausend Exemplare stiegen, begannen die zumeist nur unter dem Begriff „Raubdrucke“ verhandelten Werke, die Geschäftsbereiche des etablierten Buchhandels zu stören. Denn auf den Angebotstischen landeten auch „verbilligte Volksausgaben“, „sozialisierte Reprints“ oder einfach nur „Studienausgaben“ noch lieferbarer Titel wie beispielsweise die Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre in zwei Bänden für 30 statt 64 DM, die mit den Selbstverständigungsdebatten und theoretischen Positionsbestimmungen der Linken nur wenig zu tun hatten. Für die Gremien des Börsenvereins wurden sie zu einem Ärgernis, das das folgende Jahrzehnt hindurch die Gemüter bewegen sollte. Doch obwohl der Sortimenter-Ausschuss und die Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlicher Sortimenter (AWS) sich bereits im Oktober 1969 mit der „dringliche[n] Bitte“ an den Vorstand des Börsenvereins wendeten, „sofort die notwendigen Schritte in die Wege zu leiten, um die weitere Herstellung von geraubten Nachdrucken [sic] zu unterbinden“,2 sah sich dieser lange Zeit machtlos. Umstritten war 1 Der vorliegende Beitrag basiert auf Materialien zu meiner Dissertation: Von Marx zum Maulwurf. Linker Buchhandel in Westdeutschland in den 1970er Jahren. Göttingen: Wallstein 2016. 2 Martin Maasch, 1. Vorsitzender der AWS: An den Vorstand des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, 30.10.1969, Archiv des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels (AdB), W 2/7 4197.
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die Forderung, das Urheberrecht so zu novellieren, dass vorsätzliche Urheberrechtsverletzungen auch zu Offizialdelikten würden, Hersteller von Raubdrucken somit auch ohne Strafanzeige von Amts wegen verfolgt werden könnten. Die Polizeibehörden und viele Staatsanwaltschaften besaßen nur ein gering ausgeprägtes Ermittlungsinteresse. Und falls Buchhändlerinnen und Buchhändler wegen Verletzung des Urheberrechts doch eine Anklage erhielten, erzielten sie vor Gericht oftmals verblüffende Freisprüche, nachdem sich herausgestellt hatte, dass viele Raubdrucke im Wareneingang nicht auf Anhieb von urheber- und verlagsrechtlich einwandfrei gedruckten Werken zu unterscheiden waren. Daraufhin schritten mehrere vom Raubdruck betroffene Verlage, unter ihnen Kiepenheuer & Witsch, Suhrkamp, Rowohlt und S. Fischer, Mitte der 1970er Jahre zur Selbsthilfe. Die Rechtsabteilung des Börsenvereins bot sich ihnen als Koordinationsstelle an, wobei der junge Anwalt Ingo Schmidt di Simoni die Verfolgung des Raubdruckwesens zu seiner persönlichen Angelegenheit machte. Mit KlausDieter Matschke engagierten sie im November 1975 einen Privatdetektiv, der gleich durch spektakuläre Entdeckungen auffiel. So machte er in Frankfurt am Main auf eine illegale Druckerei aufmerksam, in der sieben Kubikmeter Raubdruckbogen von über 30 Titeln sichergestellt werden konnten, darunter die ursprünglich bei S. Fischer verlegte 20-bändige Gesamtausgabe von Sigmund Freud, die im Verkauf 245 statt 800 DM kostete (Abb. 1).3 In Göttingen hob er mit fingierten Aufträgen und als Geschäftsmann getarnt bei der Alpha-Druckerei einen Rekordfund, den das Börsenblatt als den „größte[n] Coup gegen das Raubdruckunwesen seit dem Kriegsende“ feierte.4 Vor der Abgeordnetenversammlung des Börsenvereins erklärte Schmidt di Simoni im April 1976, dass die in Göttingen aufgefundenen Filme, Druckplatten und Bogen einem vorfinanzierten überschlägigen Warenumsatz von ca. 760.000 DM entsprächen, weswegen man bezüglich des Raubdruckwesens schon von der „Etablierung eines ‚Anti-Buchmarktes‘“ ausgehen könne, gegen den der Börsenverein sofort weitere Maßnahmen ergreifen müsse.5
3 Ingo Schmidt di Simoni: Bericht auf der 49. Sitzung der Abgeordnetenversammlung des Börsenvereins am 29.4.1976, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt Main (InfSt), Börsenverein des Deutschen Buchhandels W 2/7 1623. Vgl. auch die Darstellung in Lembeck, Martin: Der Raubdruck-Coup. In: Buchmarkt (1976) H. 4. S. 21–26. 4 Ahrens, Helmut: Millionengewinne und Millionenverluste. Größter Coup gegen das Raubdruckunwesen seit dem Kriegsende. In: Börsenblatt (Frankfurter Ausgabe), 23.3.1976. S. 424–426. Vgl. auch die Gegendarstellungen der Buchvertriebe Sozialistische Verlagsauslieferung (SOVA), Prolit und Maldoror. In: Börsenblatt (Frankfurter Ausgabe), 26.3.1976. S. 448. 5 Vgl. Ingo Schmidt di Simoni: Bericht auf der 49. Sitzung der Abgeordnetenversammlung des Börsenvereins am 29.4.1976, InfSt, W 2/7 1623, S. 21–23.
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Abbildung 1: Ein Band von Freuds Gesammelten Werken in der Raubdruck-Ausgabe. Das Cover gleicht stark dem der Originalausgabe, nur die Verlagsangabe „S. Fischer“ wurde durch den violetten Schriftzug von „Lingam Press“ ersetzt (ca. 1972). Sammlung Uwe Sonnenberg.
Die Verleger richteten einen Fonds ein, dessen Volumen von zunächst 40.000 DM aber dafür hinten und vorne nicht ausreichte. Also sprang der Börsenverein ein, Matschkes Arbeit zu finanzieren.6 Bis Mitte April 1976 flossen 95.000 DM, der
6 Vgl. Ingo Schmidt di Simoni: Bericht auf der 49. Sitzung der Abgeordnetenversammlung des Börsenvereins am 29.4.1976, InfSt, W 2/7 1623, S. 21–23.
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weitere Bedarf bis Ende Juli des Jahres wurde erst auf 100.000 DM veranschlagt,7 schließlich schlugen bis August 1976 für Matschke und seine Mitarbeiter schon Ausgaben in Höhe von ca. 250.000 DM zu Buche. „So geht das nicht weiter“, notierte sich der Justiziar Franz-Wilhelm Peter dazu für seinen Bericht auf der 200. Vorstandssitzung des Börsenvereins im September 1976. Zwar sei der De tektiv in seiner Arbeit erfolgreich, aber er pflege einen ausschweifenden Lebensstil. Seine Abweichungen – und damit meinte Peter vor allem seine Abrechnungen – ließen „die Haare zu Berge stehen“.8 Um schnell unterwegs sein zu können, hatte sich Matschke Mercedeswagen der Sonderklasse geliehen. In Westberlin nächtigte er im Edel-Hotel Kempinski und machte dort als Aufwendung unter anderem eine Flasche Whisky im Wert von 78 DM geltend. Um Matschkes Spesen zu decken, schlug der Vorstand für alle Mitglieder des Börsenvereins die Einziehung einer Sonderumlage in Höhe eines 13. Monatsbeitrages vor, liege doch eine wirksame Bekämpfung der Raubdrucke auch in ihrer aller Interesse. Die Jahreshauptversammlung des Börsenvereins nahm die Sonderumlage bei einigen Enthaltungen mit 167 gegen 30 Stimmen an.9 Gegenreden und -anträge kamen unter anderem von der Sozialistischen Verlagsauslieferung (SOVA) und Prolit sowie von den Verlagen Neue Kritik, Roter Stern, Anabas und Focus. Die Umlage wurde an ihnen vorbei eingezogen und vom Börsenverein wohl nicht in voller Höhe abgerufen. Schon zuvor hatten sich vom Raubdruck ihrer Werke betroffene Verlage geweigert, sich am Fonds zu beteiligen, da sie die Verhältnismäßigkeit von Schaden und dagegen aufgebrachten Mitteln in Frage stellten.10 Zum Ende des Jahres 1976 stieg die Publicity von Matschke so weit, dass sogar das Reisemagazin der Fluggesellschaft Pan Am für die Zerstreuung ihrer Passagiere auf transkontinentalen Flügen ein Interview mit ihm abdruckte.11 Allerdings häuften sich gegen ihn Anschuldigungen wegen unsauberer Ermittlungsmethoden. So war Franz-Wilhelm Peter nicht entgangen, dass der Detektiv zum Teil polizeibekannte „Galgenvögel“ beschäftigte.12 Außerdem fand man in einer Lagerhalle bei Prolit Einbruchsspuren und eine Abhöreinrichtung, die
7 Protokoll zur 199. Sitzung des Vorstands am 27. April 1976, InfSt, W 2/7 189, S. 11f. 8 Franz-Wilhelm Peter: Notizen für die 200. Vorstandssitzung, 14.9.1976, InfSt, W 2/7 1623. 9 Helmut Richter: Unser Versuch, den Börsenverein des deutschen Buchhandels auf seiner 22. Hauptversammlung am 19.6.76 an einige Normen demokratischen Verhaltens zu erinnern, Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg, Bestand 362-12, Ordner 1. 10 Vgl. den Schriftwechsel zwischen dem Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins Hans-Karl von Kupsch mit Hans M. Jürgensmeyer aus dem früheren Kurt Desch Verlag, AdB, W 2/7 4198. 11 O. A.: Frankfurter Privat-Detektiv jagt Raubdrucker. In: Clipper. Pan Am Magazin, Dezember (1976). S. 28. 12 Franz-Wilhelm Peter: Notizen für die 200. Vorstandssitzung, 14.9.1976, InfSt, W 2/7 1623.
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Matschke zugerechnet wurden.13 Die Vorwürfe von „einschlägigen Straftaten“ hatte auch der Geschäftsführer des Suhrkamp Verlags vernommen und schlug dem Geschäftsführer des Börsenvereins vor, „die Detektei hinsichtlich ihrer Aktionen wie auch der Kosten an die kurze Leine zu nehmen.“14 Zu diesem Zeitpunkt aber lag die Hoffnung des Vorstandes ohnehin bereits auf einem Eingreifen des Bundeskriminalamtes (BKA). Gemäß des zuvor verabredeten zweigleisigen Vorgehens, strategisch auf eine rechtspolitische Argumentation und taktisch auf verbesserte Ermittlungsarbeit zu setzen,15 hatte die Rechtsabteilung bereits Ende 1975 auf 24 Seiten eine akribisch ausgearbeitete Denkschrift an den Bundesinnenminister übersandt, damit dieser das BKA mit zentralen polizeilichen Ermittlungen beauftrage. Alles in allem, so errechnete die Rechtsabteilung, hätten Raubdruckerinnen und Raubdrucker bislang einen fantastischen Reingewinn von 7 bis 12 Mio. DM gemacht. Der gesamtbuchhändlerische Umsatzausfall, ausgehend von 180 auf dem Markt angenommenen Raubdrucktiteln, betrage 25 bis 30 Mio. DM, was für die Bundesrepublik Deutschland seit 1970 einen Gesamtsteuerverlust von mindestens 6,5 Mio. DM nach sich gezogen habe. Diese Zahlen beanstandet der Raubdruckforscher Albrecht Götz von Olenhusen zwar als „gänzlich spekulative, unrealistische Hochrechnungen“ und „dramatisierte Darstellung“.16 Sie gehörten aber zur Legitimationsstrategie des Börsenvereins. Hätte die besondere Schwere der Tat nicht nachgewiesen werden können, hätte das BKA nicht einschreiten können. Dem Schreiben des Branchenverbands hing eine elfseitige Liste aktuell ermittelter Raubdrucke an, die 103 Titel umfasste. Demnach war die Europäische Verlagsanstalt (EVA) mit 13 Titeln am stärksten betroffen; von Kiepenheuer & Witsch waren zehn und von Suhrkamp neun Titel verzeichnet. Entgegen der Einschätzung des Börsenvereins, der sich insbesondere auf die „wirtschaftlich interessanten“ Titel konzentrieren wollte, befanden sich auf der Liste eine Reihe sehr „politischer“ Werke, für deren Nachdruck wohl weniger kommerzielle Gründe im Vordergrund standen. Insgesamt, so argumentierte der Branchenverband in seiner Denkschrift dennoch, habe sich das Raubdruckwesen zu einer „Wirtschaftskriminalität eigener Art in
13 Zur Entkräftung der Vorwürfe ließ sich Ingo Schmidt di Simoni von Matschke schriftlich versichern, dass nur legale Mittel zum Einsatz kamen. 14 Heribert Marré (Suhrkamp) an Hans-Karl von Kupsch, 22.7.1976, AdB, W 2/7 4198. 15 Vgl. Ingo Schmidt di Simoni an Herrn Hopf (Bertelsmann), Frau Kirchem (Luchterhand), Kreuzhage (Verlage Chemie), Sakobielski (EVA), Rechtsanwalt F. Sieger (Stuttgart), Rechtsanwalt Robert Torz (Ffm.), 22.10.1975, InfSt, W 2/7 1623. 16 Götz von Olenhusen, Albrecht: „Eine kriminelle Vereinigung ohne festen Sitz“. Im Dreieck zwischen Frankfurt, Gießen und Berlin. In: 58er, 68er und 78er heute. Theorieevaluation, Literaturrezeption, Editionspraxis I. Biberach: Materialis 2006. S. 79–108, hier S. 79f.
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größtem Umfang“ entwickelt, die Staat und Gesellschaft „einfach nicht hinnehmen“ dürften, wollten sie nicht „völlig unglaubhaft werden“.17 In der Sache nahmen das BKA und die beiden Bundesminister für Inneres und für Justiz das Ansinnen positiv auf. Hans-Jochen Vogel (SPD) beispielsweise führte aus, dass es nicht nur darum gehen könne, den „Urhebern und Verlegern die ihnen von Rechts wegen zustehenden Früchte ihrer produktiven Arbeit zu erhalten“, sondern „letztlich auch um die Durchsetzung [der] Rechtsordnung“ selbst. Doch aufgrund geltender Zuständigkeitsregelungen und der besonderen Aufgabenstellung der Behörde würde eine direkte Einschaltung nicht in Betracht gezogen.18 Im Gespräch deutete ein BKA-Mitarbeiter gegenüber Ingo Schmidt di Simoni zuvor bereits an, dass dafür auch die „wegen der BaaderMeinhof-Geschichte“ enge Personaldecke verantwortlich gemacht werden könne.19 Es gebe jedoch die Möglichkeit, die Angelegenheit einem Landeskriminalamt oder einer Staatsanwaltschaft zuzuweisen, damit diese bundesweite Ermittlungen einleiteten.20 Und tatsächlich wurden die Behörden nach dem Göttinger Rekordfund aus sich heraus aktiv. Nun ersuchte am 14. April 1976 der Generalstaatsanwalt in Celle das BKA, die polizeilichen Ermittlungen zur Vorbereitung eines Musterverfahrens gegen 31 Personen aufzunehmen, denen wegen „Herstellung und Verbreitung von illegalen Nachdrucken (sogenannte Raubdrucke) gem. §§ 106, 109 Urheberrechtsgesetz“ der Prozess gemacht werden sollte.21 Die juristische Grundlage für ein Eingreifen des BKA bildete § 129 des Strafgesetzbuches über die „Bildung einer kriminellen Vereinigung“. Deswegen kreuzten sich im Sommer 1976 vor den Türen insbesondere linker Buchvertriebe und -läden die Wege von Klaus-Dieter Matschke und Mitarbeitern des BKA bei Observationen nun häufiger, ohne dass sie sich dabei in die Quere zu kommen schienen. Nachdem das BKA die Ermittlungen übernommen hatte, konnte der Börsenverein auch endlich sein finanzielles Engagement für den Privatdetektiv drosseln. Monatliche Pauschalen von weniger als 20.000 DM und die Einführung 17 Vgl. Börsenverein des deutschen Buchhandels (Rechtsabteilung): Zum Problem der Raubdrucke. Ein Bericht über die Entwicklung von 1967–1975, den Schaden für den Buchhandel und die Erfolglosigkeit bisheriger Ermittlungen [16.12.1975], S. 23, AdB, W 2/7 4198. 18 Hans-Jochen Vogel [Bundesminister der Justiz] an Rolf Keller, 21.4.1976, AdB, W 2/7 4198. 19 Ingo Schmidt di Simoni: Gesprächsnotiz am 25. Juni 1975 mit Herrn Dr. Kaeser, Referat Wirtschaftskriminalität beim BKA Wiesbaden, betr. Raubdrucke, InfSt, W 2/7 1623. 20 Rechtsabteilung [Schmidt di Simoni]: Aktennotiz über Telefonat mit Herrn Dr. Kaeser vom Bundeskriminalamt am 28. Januar 1976, AdB, W 2/7 4198. 21 BKA (Warkentien/Gadebusch): Bericht (EA 31-Tgb.-Nr. 16/76), 1.11.1976, abgedr. in: Götz von Olenhusen, Albrecht: Handbuch der Raubdrucke – Bibliographie, Bericht, Dokumente [elektronische Ressource]. Freiburg i. Br.: Raubdruck-Archiv Verlag 2002, Anhang, Dokument 12, unpag.
Eine Kriminalgeschichte aus den Akten
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von erfolgsabhängigen Prämien aber trafen nicht Matschkes Vorstellungen.22 Wie viel Honorar er am Ende noch erhielt, ist nicht überliefert. Sein Dienstverhältnis endete zum 31. Januar 1977.23 Immerhin wurde seine Tätigkeit für den Buchhandel offenbar als so erfolgreich eingeschätzt, dass er in der Folge für die deutsche Schallplattenindustrie auf Raubkopiererjagd ging. Seinen Bericht hatte das BKA nach sechs Monaten abgeschlossen, ohne dass neue Raubdrucke bekannt geworden waren. Auch den zunächst gehegten Verdacht eines Zusammenhangs zwischen „Raubdruckszene“ und „politischer Gewaltkriminalität“, der das Eingreifen wahrscheinlich zusätzlich legitimiert hatte, konnte das BKA weder bestätigen noch definitiv verneinen. Für die vom Börsenverein in seiner Denkschrift vorgetragene Rechnung einer „Wirtschaftskriminalität eigener Art in größtem Umfang“ fand es keine Anhaltspunkte.24 Das unterdessen gegen über 40 Beschuldigte geplante Sammelverfahren platzte noch vor seiner Eröffnung und verlief nach einigen Jahren im Sande. Am 17. November 1978 stand das Thema „Raubdrucke“ – wahlweise auch als „Raubdrucksituation“, „Raubdruckverfolgung“ oder „Raubdruckbekämpfung“ benannt – bei der 209. Vorstandssitzung erstmals seit dem 13. November 1969 nicht mehr auf der Tagesordnung. Aber damit war nur ein Kapitel abgeschlossen und das Raubdruckproblem für die Zukunft noch nicht gelöst. In fast konjunkturell anmutenden Schwankungen gab es immer wieder neue Verdachtsmomente, denen nachgegangen werden musste.25 Nachdem weitere Privatdetekteien kaum mit brauchbaren Ergebnissen überzeugen konnten, prüfte der Börsenverein in Zusammenarbeit mit einer Ausbildungsfirma für Werkschutz den Plan, sich einen hauseigenen Privatdetektiv heranzuziehen, und verwarf auch dies wieder.26 1980 war es erneut Klaus-Dieter Matschke, der sich mit stichhaltigen Informationen meldete über ein bislang unbekanntes Raubdrucklager wiederum mit Gesamtausgaben Sigmund Freuds zum Ladenverkaufspreis von über 500.000 DM.27 Spektakuläre Fälle gab es auch in der Folgezeit. So wandte sich der Börsenverein im August 1985 mit 22 Vgl. Protokoll zur 200. Vorstandssitzung am 7. September 1976, InfSt, W 2/7 190 sowie Protokoll zur 201. Vorstandssitzung am 2. November 1976, InfSt, W 2/7 191. 23 Franz-Wilhelm Peter: Aktennotiz, Betr. Bekämpfung von Raubdrucken. Beendigung des Dienstverhältnisses mit Herrn Matschke, 1.2.1977, AdB, W 2/7 4199. 24 BKA, Bericht (wie Anm. 21). 25 Vgl. z. B. Kristian Müller [Rechtsabteilung]: Aktennotiz, betr. Raubdrucke in Hamburg und Kiel, 11.4.1979, AdB, W 2/7 4199. 26 Vgl. Protokoll der 207. Vorstandssitzung am 17. Mai 1978, InfSt, W 2/7 197 sowie Protokoll der 208. Vorstandssitzung am 4. Oktober 1978, InfSt, W 2/7 198. 27 Franz-Wilhelm Peter: An Rolf Keller u. a., 12.9.1980, AdB, W 2/7 4199, vgl. auch Schriftlicher Bericht der Geschäftsstelle zur Vorstandssitzung des Börsenvereins am 10. März 1981, AdB, W 2/7 4199.
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einem mehrseitigen Hilfegesuch erneut an die westdeutschen Justizminister und Generalstaatsanwaltschaften wegen der Gefährdungen für den deutschen Buchhandel.28 Doch durch die Kneipen und Cafés „fliegende“ Raubdruckhändler ohne Gewerbeschein wurden zu einer nicht mehr kontrollierbaren Erscheinung großstädtischen Nachtlebens – spätestens bis zum Aufkommen nun auch für den Hausgebrauch erschwinglich gewordener Kopiergeräte.
28 Franz-Wilhelm Peter: An die Justizminister und -senatoren der Länder, an die Generalstaatsanwaltschaften bei den Oberlandesgerichten, 15.8.1985, AdB, W 2/7 4199. Auf der Grundlage von 160 Titeln wurde ein Gesamtschaden von 24 Mio. DM errechnet.
Hans Altenhein
Deutsche Dienstreise 1988 Weimar, Leipzig, Halle, Dresden, Berlin (Ost) Eigentlich sollte Leipzig das erste Reiseziel sein. Im Januar 1988 hatte ich dem Frankfurter Börsenblatt eine Artikelserie vorgeschlagen, die den westdeutschen Lesern einen Überblick über den aktuellen Stand des Verlagswesens in der DDR böte, und zwar auf der Basis von Recherchen und Interviews, die ich jeweils vor Ort führen würde. Voraussetzung sollte dabei sein, dass ich die nötigen Verabredungen direkt treffen, die Route frei bestimmen und im eigenen Wagen, ohne offiziellen Begleiter, aber zusammen mit meiner Frau durchs Land fahren könnte. Hanns Lothar Schütz, der unerschrockenste Chefredakteur, den das Börsenblatt je kannte, stimmte sofort zu.1 Aufgrund der Einreiseformalitäten wandte er sich sogleich an den Leipziger Börsenverein. Nach einiger Korrespondenz zwischen Ostberlin, Leipzig und mir kam die Zusage für ein sogenanntes Dienstvisum ohne Ortsbeschränkung und zur mehrmaligen Ein- und Ausreise. Die Terminverabredung mit den vorgesehenen Verlagen in Leipzig, Halle, Dresden und Berlin konnte beginnen. Jeder meiner Anmeldungen war die Bitte um Programmunterlagen, in einzelnen Fällen auch um Verlagswerke beigefügt. Das Visum für meine Frau verdankten wir einer gesonderten Einladung, die der unvergessene Roland Links, langjähriger Gesprächspartner auf Leipziger Buchmessen, unter dem Briefkopf seiner Firma „Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig und Weimar“ beisteuerte.2 Per handschriftlichem Brief vom 9. April schlug er zudem vor, die Reise in Weimar zu beginnen, um dort am 28. August an der traditionellen Feier zu „SEINEM“, nämlich Goethes Geburtstag teilzunehmen. Die Unterkunft konnte im Kiepenheuer-Haus genommen werden, „wenn Sie einverstanden sind, erhalten Sie das größte Zimmer.“ Also Weimar zuerst. Die Einreise über die Grenzübergangsstelle Wartha – mir durch zahlreiche Messebesuche geläufig – wurde am 26. August im Pass bescheinigt, das westdeutsche Kennzeichen des Fahrzeugs registriert. Ein Faltblatt des ADAC informierte über Fotografier-Verbote und das Verhalten beim Entgegenkommen gepanzerter Vollkettenfahrzeuge. Erfurt war mir eine Wandererinnerung aus Jugendzeiten, Weimar dagegen ein ominöser Ort. Wie auch immer: Im gastfreundlichen Kiepenheuer-Haus, in dem neben uns auch das Verleger-Ehepaar 1 Er hatte 1979 gegen Widerstände eine erste Serie solcher Verlagsberichte unternommen. 2 Vgl. die Beiträge von Roland Links und Hans Altenhein in: Lokatis, Siegfried u. Ingrid Sonntag (Hrsg.): 100 Jahre Kiepenheuer Verlage. Berlin: Ch. Links 2011.
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mit Freunden nächtigte, zeugte die Verlagsbibliothek von einem beträchtlichen kulturellen Selbstbewusstsein. Während dieser Feststellung fuhren draußen tatsächlich die schweren Militärfahrzeuge der Besatzungsmacht vorüber. Erstes Interview mit Roland Links. Der Geburtstag wurde am 28. August im Garten des Goethe-Hauses als Sommernachtsfest gefeiert. Essen und Trinken, Lesungen aus Goethes Briefwechsel mit Christiane („Im Andenken an den Beginn des Lebensbundes am 12. Juli 1788“) wechselten sich ab mit Musik von der Weimarer Musikhochschule, Kerzen in den Fenstern des Hauses. Unter den Gästen war auch der Ständige Vertreter der Bundesrepublik aus Berlin. Eindruck von Unwirklichkeit. * Für Leipzig war Quartier zu beschaffen, dabei half die Vereinigung der MedizinVerlage (Georg Thieme), die im Halbgeschoss über ihrem Auslieferungslager immer einige Gästebetten bereithielt, mit direktem Blick auf die nahe Thomaskirche. Der Torschlüssel lag bereit, die Lageristen waren informiert, die Arbeit konnte sogleich beginnen. Im Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig empfing ein neuer Verlagsleiter, Roland Opitz, ein Slawistik-Professor aus Moskauer Schule. Der vorherige Chef Hans Marquardt, mir aus meinen Verlagszeiten gut bekannt, hatte sich in den Ruhestand verabschiedet. Opitz lud mich sogleich zu einem verlagsgeschichtlichen Vortrag vor Mitarbeitern und Gästen ein: „Der Verleger: Eine historische Figur?“ lautete das Thema, zitiert wurde Franz Fühmanns Wort vom Verleger, der auch als staatlicher Leiter Verleger blieb. Der Vortrag wurde mit einem Blumenstrauß bedankt und in Landeswährung honoriert. Das Gespräch mit Opitz – es fand keine Tonaufzeichnung statt, später legte ich aber auch keinen Text zur Genehmigung vor – war nicht ohne Brisanz, denn der Stuttgarter Reclam-Verlag lag im Namensstreit mit dem Leipziger Haus. Der Bericht sollte dennoch im Frankfurter Börsenblatt veröffentlicht werden.3 Auch ein anderer Gesprächspartner, den ich an diesem Tag kennenlernte, kam aus der Wissenschaft. Dieter Nadolski, tätig bei der international agierenden Edition Leipzig. Er war habilitierter Pädagoge und Herausgeber eines nützlichen Buches über Didaktische Typographie.4 Zuletzt war er Leiter des Instituts für Verlagswesen und Buchhandel der Leipziger Universität, angesiedelt in den 3 Der Initiative von Siegfried Lokatis ist es zu danken, dass das Reclam-Archiv der DDR-Zeit heute im Archiv der Leipziger Buchwissenschaft, auch Bibliotop genannt, aufgestellt ist und seit Jahren mit zahlreichen Studienabschlussarbeiten, Dissertationen und wissenschaftlichen Sammelbänden intensiv ausgewertet wird. 4 Vgl. Nadolski, Dieter: Didaktische Typographie. Ein Sammelband. Leipzig: VEB Fachbuchverlag Leipzig 1984.
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Überresten von Thiemes Hof, Querstraße 28. Sein erfolgreicher Vorgänger im Verlag, Elmar Faber, wurde als Leiter des Aufbau-Verlags nach Berlin geholt. 1985 hatte Faber eine nobel ausgestattete Verlagsgeschichte nebst Bibliografie aller in- und ausländischen Verlagstitel des Unternehmens veranlasst, die auch einen Beitrag von Nadolski über die Zukunft des Buches im Zeitalter von Computer und Fernsehen enthält.5 Beim Besuch der Verlagsgruppe Kiepenheuer in der Mottelerstraße 8 zeigte Roland Links stolz sein renoviertes Verlagshaus vom Dachgeschoss bis zum Galeriekeller. Der Tucholsky-Experte machte hier das Beste aus einer Ansammlung großer Traditionsnamen: Kiepenheuer, Insel, List und Dieterich. Wäre er jünger, würde er sich vielleicht lieber in der Gesellschaft zeitgenössischer Autoren bewegen, mit Max Frisch war er wohlbekannt, von Claude Simon und William Carlos Williams hatte er Titel ins Traditionsprogramm genommen. Ein Besuch auch beim Börsenverein im Gerichtsweg. Wer Leipzig noch aus Kriegszeiten kannte, konnte über den schlechten Zustand des alten Buchhändlerviertels nicht erstaunt sein. Ein weiterer Besuch bei Helmut Rötzsch, dem Generaldirektor der Deutschen Bücherei. Ein Tagesausflug mit dem Auto brachte uns nach Halle an der Saale und zum anfangs reservierten Gespräch mit Eberhard Günther, dem Leiter des Mitteldeutschen Verlags. Es handelte sich um den Verlag, der einst mit Autoren wie Christa Wolf und Erich Loest immer wieder in Schwierigkeiten geriet und nun auf die Werkausgabe von Georg Maurer stolz war.6 In Dresden gab es nur eine einzige Verlagsverabredung. Daher nutzten wir die Gelegenheit zu einer ausgiebigen Stadtbesichtigung. Eine telefonische Zimmerreservierung von allein reisenden BRD-Bürgern wurde im dortigen Interhotel offensichtlich mit etwas Befremden, aber erfolgreich notiert. In Dresden war die Ruine der Frauenkirche noch eine Art Steinbaukasten, Karten für einen Ballett abend in der Semper-Oper waren gegen Valuta am selben Tag erhältlich. Der volkseigene Verlag der Kunst im stillen Villenquartier führte, fern der politischen Dauererregung, eine produktive Eigenexistenz. Verlagsleiter Klaus Selbig hatte Berlin verlassen müssen und wusste die Peripherielage ebenso zu schätzen wie sein Cheflektor, der antidoktrinäre Kunstwissenschaftler Erhard Frommhold. Im Verlag war gerade die gewichtige Dokumentation über das Bauernkriegspanorama von Werner Tübke erschienen, die medienwirksame Eröffnung in Frankenhausen stand bevor. 5 Vgl. Faber, Elmar (Hrsg.): Edition Leipzig. Ansichten zu einer Verlagsgeschichte. Leipzig: Edition Leipzig 1985. Dem Geschäftsmodell der Edition Leipzig, insbesondere hochwertige Faksimiles für den Export zu produzieren, sollte das wenig nützen. 6 Zur Verlagsgeschichte siehe Barck, Simone, Martina Langermann u. Siegfried Lokatis: „Jedes Buch ein Abenteuer“. Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Anfang der sechziger Jahre. Berlin: Akademie Verlag 1997.
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Von Dresden nach Berlin. Quartier praktischerweise im Hotel Unter den Linden in der Friedrichstrasse bezogen, vermittelt vom Schriftstellerverband der DDR, Parkplatz vor dem Haus. Hier war eine bunte Auswahl von Verlagsbesuchen vorgesehen: Bei der titelreichen Evangelischen Verlagsanstalt und ihrem Theologischen Direktor, der nicht nur theologische Literatur und das ostdeutsche Kirchengesangbuch verantwortete, sondern auch ein beträchtliches Belletristik-Programm von Elisabeth Langgässer bis Kurt Marti. Beim renommierten Kinderbuchverlag, einem nahezu monopolistischen Großunternehmen (aus unbekannten Gründen schien der Besuch hier ungelegen, der frühere Verlagsleiter Fred Rodrian war 1985 verstorben), beim Publikumsverlag Neues Leben, wo Brigitte Reimann, aber seit 1983 auch Karl May erschien, beim Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, dem Theaterverlag der DDR, der uns zwei Kritikerkarten für die Aufführung von Hermann Kants Die Aula im Maxim-GorkiTheater verschaffte, und der zugleich eine luxuriöse Bildbiografie über Romy Schneider vorlegte. Schließlich, im vertrauten Haus in der Französischen Straße, beim Aufbau-Verlag und seinem Chef Elmar Faber, dem Mann, der mit so unterschiedlichen westdeutschen Partnern wie Siegfried Unseld und Franz Greno auskam. Der Verlag hatte, gegen Bedenken der Zensurbehörde, mit dem Herausgeber Gerhard Wolf eine Reihe jüngster Literatur aus der DDR gewagt, deren Autoren alle der neuen Gegenkultur zuzurechnen waren, unter ihnen war der künftige Georg-Büchner-Preisträger Reinhard Jirgl. Zu früh und zu spät. Am Stadtrand trafen wir Wolfgang Tenzler, der dem Buchverlag Der Morgen vorstand, auch er war mir aus früheren Jahren wohlbekannt, Maxie Wander, die uns einst zusammenbrachte, war lange tot. Er würde seine schöngeistige Schrebergartenidylle in Köpenick gerne mit der Innenstadt vertauschen.7 In Lichtenberg mit den weitläufigen Plattenbausiedlungen besuchten wir die erkrankte Irmtraud Morgner: unbekanntes Berlin. Der Verlag Volk und Welt blieb einer zweiten Berlin-Reise im Spätherbst vorbehalten, Jürgen Gruner war auf Reisen. Die Fahrt endete am 8. September mit der Ausreise aus der DDR bei Marienborn und mit einem Auto voller Verlagsverzeichnisse, Almanache und Bücher. Was folgte, war der Versuch, dieses Material, dazu alle Aufzeichnungen, Fotos und Reiseerfahrungen, in eine Ordnung zu bringen und die ersten Manuskripte vorzubereiten. Mitte Oktober, bei der erneuten Reise nach Ostberlin, diesmal im Transitverkehr, fiel der Besuch im Verlag Volk und Welt (Glinkastraße/Ecke Mohrenstraße; ehemals Allianz-Versicherung) zusammen mit der Eröffnung der Wanderausstellung „Bücher aus der Bundesrepublik Deutschland“ in der Stadtbibliothek. Große Gesellschaft, Gespräche, nicht nur mit dem Verleger und BörsenvereinsVorsteher Jürgen Gruner (Verlag Volk und Welt), sondern auch mit dem Leiter der Stadtbibliothek Heinz Werner und mit politischen Akteuren der Buchszene, wie 7 Das Verlagsarchiv befindet sich heute in der Obhut der Leipziger Buchwissenschaft, in der Hainstraße 11.
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Hermann Kant und Klaus Höpcke. Offenbar gab es jetzt, nach den Äußerungen von Christoph Hein auf dem X. Schriftstellerkongress von 1987, eine parteiinterne Diskussion über die Zukunft des staatlichen Druckgenehmigungsverfahrens. Günter Gaus, inzwischen nicht mehr im innerdeutschen diplomatischen Dienst, stellte sein Buch Die Welt der Westdeutschen. Kritik und Selbstkritik im Palast der Republik vor, der DDR-Ausgabe bei Volk und Welt war ein dialektisches Nachwort von dritter Hand beigegeben. Vor allem aber, nach langen Auseinandersetzungen, konnte man im selben Verlag jetzt Die Blechtrommel von Günter Grass als „ausländische“ Lizenzausgabe betrachten. Der Verlagsleiter Jürgen Gruner hatte den offiziell immer noch ungeliebten Autor im Vorjahr persönlich begrüßen und auf Lesereise im Land begleiten können. Der Verlag befand sich zudem im Glanz seiner fremdsprachigen Lektoratskompetenz.8 Am 3. Januar 1989 eröffnete das Frankfurter Börsenblatt meine Artikelserie über Verlage in der DDR mit den achtseitigen „Bemerkungen zum Verlagswesen der DDR“, die ich einleitend voranstellte, „in weiten Teilen analytischen Charakters“, wie die redaktionelle Ankündigung behutsam vermerkt. Zugleich erschien als erste Folge der Serie der Bericht über den VEB Verlag der Kunst. Alle Berichte beschrieben in Kürze die jeweilige Verlagsgeschichte und gingen anschließend mit aktuellen Beispielen auf die Besonderheiten des Programms ein. Abbildungen, Zitate und Informationskästen belebten die zwölf mehrseitigen Verlagsporträts, die in rascher Folge bis hin zum Beitrag über den Henschelverlag im März erschienen. Ein Vorwort erklärte die exemplarische Auswahl und verweist auf Fehlendes: Die Wissenschaftsverlage waren, nachdem sich der Akademie Verlag einen Besuch verbeten hatte, nicht berücksichtigt, ebenso wenig die Firmen E. A. Seemann, Bibliographisches Institut, Hinstorff (immerhin in der Einleitung erwähnt) oder Union Verlag. Alle Texte waren ungeschönt. Die Rede war von Produktionsschwierigkeiten, von Zentrag und Zensur, von unerwünschten Büchern und ausgereisten Autoren, aber auch vom Übergang zu neuer Offenheit. Aus dem Leipziger Börsenblatt wurde der sowjetische Medienfachmann Michail F. Nena schew mit Reformideen zitiert. Vorzeichen eines Paradigmenwechsels: Reclam bereitete eine „völlig neu bearbeitete“ Ausgabe des Bandes Exil in der UdSSR vor, die 1989 erschien. Die Börsenblatt-Serie wurde denn auch im Westen wie im Osten mit Aufmerksamkeit gelesen, aus Dresden kam ein Dankesbrief. Anfang 1990 jedoch, als die Redaktion des Frankfurter Börsenblatts im Wirbel der Vereinigung einen Sonderdruck Verlage in der DDR herausbrachte, der die Serie vom Vorjahr mit weiteren Informationen ergänzte und vervollständigte, war aus meinem Lagebericht unversehens eine historische Momentaufnahme geworden. 8 Vgl. Barck, Simone u. Siegfried Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDRVerlages Volk und Welt. Berlin: Ch. Links 2003.
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Die Vorbemerkung der Redaktion zu diesem improvisierten Heft schloss mit dem ahnungsvollen Satz, man habe bei den Verlagen auf Inhaber-Angaben verzichtet, „da sich die Besitzverhältnisse wahrscheinlich kurzfristig verändern werden.“ * 1997 gaben Mark Lehmstedt und Siegfried Lokatis nach einer gleichnamigen Konferenz von 1996 den Band Das Loch in der Mauer: Der innerdeutsche Literaturaustausch heraus. Seitdem befasst sich Siegfried Lokatis, der Historiker aus dem westlichsten Teil Deutschlands, unablässig mit der Buch- und Verlagsgeschichte des östlichen Teils. Seine Archivsammlungen und seine im akademischen Forschungsbetrieb ungewohnte Öffentlichkeitsarbeit haben die alte Buchstadt Leipzig zum Bewusstsein ihrer selbst gebracht.
Werke und Editionen
Krzysztof Żarski
Die Bildungsideale des 18. Jahrhunderts im Werk Ernst Jüngers1 Die Rezeption des 18. Jahrhunderts im Werk Ernst Jüngers hat bislang innerhalb der Jüngerphilologie ein erstaunlich geringes Interesse geweckt, was schon ein flüchtiger Blick in die von Nicolai Riedel2 zusammengestellte Sekundärliteratur offenbart. Dabei kann nicht alleine die prominente Stellung der grundlegenden Studie von Karl Heinz Bohrer3 für diesen Umstand verantwortlich gemacht werden, der 1978 mit seiner Schrift über die Ästhetik des Schreckens die Wege der Interpretation des Jünger’schen Œuvres festlegte. Die Fokussierung auf die Rezeption des romantischen Gedankengutes im Werk vom Autor des Arbeiters geht bei seinen Interpreten Hand in Hand mit einer beinahe absoluten Fixierung auf die frühe Etappe des Jünger’schen Schaffens bis 1939, die eine nicht nachlassende Aufmerksamkeit selbst der jüngeren Kommentatoren nach sich zieht. Es steht dagegen außer Zweifel, dass man an den vier Jahren der außergewöhnlich langen Vita Ernst Jüngers, die er zwischen 1941 und 1944 in der französischen Hauptstadt zubrachte, nicht vorbeikommt, zumal das literarische Produkt dieser ergiebigen Zeit zu einem der interessantesten Diarien des 20. Jahrhunderts wurde. Die Strahlungen, publiziert erstmals in der „Tübinger Fassung“ von 1949, tragen unverkennbare Züge ihres Entstehungsortes, wobei viele Passagen unmittelbar einer Faszination der Metropole entsprungen sind, die nur mit der Intensität einer verbotenen Liebe verglichen werden können. Es ist die Großstadt, die das wichtigste Sujet der Jünger’schen Diarien bildet, indem sie sich dem flanierenden Intellektuellen preisgibt und zu einer behutsamen Lektüre des verlockenden Palimpsests verführt. Es erübrigt sich zu sagen, dass gerade die Hauptstadt der bürgerlichen Revolution dem aufmerksamen Beobachter prägende Spuren des 18. Jahrhunderts vor Augen führte, die Jünger an mehreren Stellen seines umfangreichen Tagebuches schriftlich fixierte. Das Jahrhundert des Lichtes wurde in mannigfaltigen Dimensionen und oft konträren Facetten festgehalten, wobei es stets als eine der wichtigsten Schichten der großstädtischen Erinnerung fungiert.
1 Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um die Bearbeitung eines Aufsatzes, der bereits erschienen ist in: Witt, Monika u. Wojciech Kunicki (Hrsg.): Bildung: Facetten der wissenschaftlichen Kommunikation. Wrocław: Nysa 2007. S. 353–364. 2 Riedel, Nicolai: Ernst Jünger-Bibliographie. Wissenschaftliche und essayistische Beiträge zu seinem Werk (1928–2002). Stuttgart: Metzler 2003. 3 Bohrer, Karl Heinz: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. Frankfurt a. M. u. a.: Ullstein 1983.
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Wenn ich bedenke, dass ich auf diesem Wege an der Kirche von Saint-Roche vorüber kam, auf deren Stufen Cesar Birotteau verwundet wurde, und an der Ecke der Rue des Prouvaires, an der die schöne Strumpfhändlerin Baret im Hinterstübchen ihres Ladens Casanova das Maß nahm, und dass das nur zwei winzige Daten in einem Meer phantastischer und realer Vorgänge sind – dann ergreift mich eine Art von freudiger Wehmut, von schmerzhafter Lust. Ich nehme gern am Leben der Menschen teil.4
Stellvertretend für das 18. Jahrhundert wird hier Casanova erwähnt, was eine intensive Auseinandersetzung mit der Zeit des Ancien Régime in den Strahlungen unterstreicht. Zu den konkreten Orten, die an das vorrevolutionäre Frankreich erinnern, gehört in der Welt der Jünger’schen Diarien auch die vor der Kirche Sacré-Cœur aufgestellte Figur des Chevalier de la Barre, deren Beschreibung eine besondere Bedeutung in den ganz frühen Notizen des Ersten Pariser Tagebuches zukommt. Eine weitere Skulptur zog die Aufmerksamkeit Jüngers auf sich, die er mit Sophie Ravoux zu besuchen pflegte, nämlich die Darstellung Voltaires in der Comédie-Française, der ihr Schöpfer Jean-Antoine Houdon unverkennbare Züge von Boshaftigkeit und kindlicher Unschuld verliehen hatte. Nicht verschwiegen werden darf die Rolle der am 14. Juli zerstörten Bastille, welche als ein imaginärer Orientierungspunkt neben Eiffelturm und Arc de Triomphe in den Strahlungen fungiert: Auf heimlichen Wegen zur Stadt zurück. Der Flügelgeist der Bastille mit seiner Fackel und den Gliedern der gesprengten Kette, die er in Händen hält, erweckt in mir bei jedem neuen Anblick stärker die Empfindung von höchst gefährlicher und weithin wirkender Macht. Der Eindruck großer Geschwindigkeit und großer Ruhe ist in ihm vereint. Man sieht den Genius des Fortschritts hoch erhoben, in dem schon der Triumph zukünftiger Brände lebt. So wie sich Pöbel und Händler Geist zu seiner Stiftung einten, ist furienhaftes Wesen mit Merkurs Scharfsinn in ihm gepaart. Das ist kein Sinnbild mehr; es ist ein echtes Götzenbild und von der furchtbar starken Witterung umgeben, die solche erzenen Säulen von altersher umstrahlt.5
Eine gesonderte Sphäre der Präsenz der uns interessierenden Epoche hängt mit der Frage der zahlreichen Gotteshäuser zusammen, welche der Diarist mit einer erstaunlichen Konsequenz aufsuchte und in ihrer jeweiligen kunsthistorischen Eigenart würdigte. Madeleine und Sacré-Cœur wurden von dem Flaneur Jünger gerade im Kontext seiner Auseinandersetzung mit dem Erbe des 18. Jahrhunderts wahrgenommen und sind Beispiele eines eindeutig gegenrevolutionären Affektes. Insbesondere Madeleine mit ihrer merkwürdigen Mischung von an griechische Tempel erinnerndem Klassizismus und Christenheit markiert die Gegend, 4 Jünger, Ernst: Strahlungen. Sämtliche Werke, Bd. 3. Stuttgart: Klett-Cotta 1979. S. 68. 5 Jünger, Ernst: Strahlungen. Sämtliche Werke, Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta 1979. S. 348.
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die den Tagebuchschreiber auf eine geheimnisvolle Weise immer wieder anzieht und wo er sich besonders wohlfühlt. Die klaren Hinweise zum Aufklärungsdiskurs bei Jünger kommen nicht erst in den Strahlungen zum Vorschein, sondern spielten bereits innerhalb der politischen Publizistik des Autors des Arbeiters eine gewichtige Rolle, jenem Textkorpus der 1920er Jahre also, welcher den Ruf des Schriftstellers als eines konservativ angehauchten Militaristen begründete. Die Schilderung einer wirklichen Revolution diente Jünger in diesen frühen Artikeln zur gnadenlosen Diffamierung des deutschen Zusammenbruches im Jahre 1918 (Steckrübenrevolte genannt), dem die Bilder blutiger und umfassender Umwälzungen in Frankreich und Russland gegenübergestellt wurden. Die erwähnte Materie wurde auch in den Werken Jüngers der 1930er Jahre nicht ausgespart. Unter diesen kommt den Afrikanischen Spielen eine besondere Bedeutung zu, da sie den ersten Versuch einer literarischen Antwort auf die Situation des Autors im „Dritten Reich“ bilden. Sicherlich geht man nicht zu weit, wenn man im Falle der Schilderung des Fremdenlegionabenteuers von einem gewagten Experiment spricht, das die Möglichkeiten einer Vita activa in der Realität eines totalitären Staates abtastet. Die Kategorie der Gefahr, welche noch vor der Machtübernahme als eine Rettung aus der Enge der bürgerlichen Welt angesehen wurde, wird als solche in Afrikanische Spiele verabschiedet, als die tödlich bedrohliche Situation zum Alltag des „Dritten Reiches“ wurde. Im Angesicht so fundamental veränderter Verhältnisse im Staat musste Jünger nach einem neuen Modell der Selbsterhaltung suchen, das weder einen in der potenziellen Radikalität naiven Widerstand noch eine konforme Haltung zuließ. Eine alternative Haltung wird an der Figur eines der Fremdenlegionäre, dem Kandidaten eines höheren Amtes, durchexerziert, der in Verbindung mit Seume und Lauckhardt auftritt. Diese Szene ist allerdings nur in der handschriftlichen Fassung der Spiele enthalten. Bezeichnenderweise findet der Kandidat genauso wie die beiden Aufklärer den Trost in der Lektüre der Stoiker. Diese Form der Selbstbildung stellt in den Spielen einen Gegenpol zu der Bildung dar, „wie man sie in völliger Sicherheit erwirbt und wie sie in schwierigen Lagen, anstatt vor dem Schmerz zu schützen, die Verwundbarkeit erhöht“6. Das Jünger’sche Tagebuchwerk der 1940er Jahre wurde von Helmuth Lethen7 zu Recht als ein Bildungsroman bezeichnet, denn wir entdecken auf den Blättern der Pariser Diarien sorgfältig chiffrierte Hinweise zur intensiven Arbeit Jüngers 6 Jünger, Ernst: Afrikanische Spiele. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1936. S. 88. 7 Lethen, Helmuth: Jüngers Desaster im Kaukasus. In: Wimbauer, Tobias (Hrsg.): Anarch im Widerspruch. Neue Beiträge zu Werk und Leben der Gebrüder Jünger. Das Luminar, Bd. 3. Schnellroda: Edition Antaios 2004. S. 117.
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an der Entwicklung einer autonomen Haltung, welche im Sog des Malstroms die Wahrung einer persönlichen Integrität garantieren könnte. Der Schock Jüngers durch die Konfrontation mit der Realität der Ostfront, zuweilen auch als das „Desaster im Kaukasus“ bezeichnet, beruhte auf einer Begegnung mit der Welt des Arbeiters, einem Raum, den er 1932 zu diagnostizieren glaubte. Der Verlust jeglicher Aura, die Animalisierung des Kampfes, der nur dem Gebot der Zweckmäßigkeit folgen sollte, sowie das Erlebnis des mehrfach variierten Massenmordes erschütterten den Diaristen. Darüber hinaus wurde die Lage des Autors seit der Veröffentlichung der Gärten und Straßen immer schwieriger, da er permanente Papierkürzungen erdulden musste, die auf Befehl aus Berlin nur durch den Ruf eines Pour-le-Mérite-Trägers abgeschwächt wurden. Die Haltung der inneren Opposition, welche Jünger in jenen „dunklen Jahren“ entwickelte, brauchte ganz konkrete Stützen, die er in erster Linie in einer systematischen Bibellektüre fand. Daneben war ihm die antike Welt mit einer Reihe von Historiografen eine genauso wesentliche Hilfe wie die Denker des 18. Jahrhunderts mit ihrer Lehre von der Distanzierung vom Tagesgeschehen und von geschickten Verhaltensregeln in höfischen Kreisen. Der allgemeinen Verflachung und der Tristesse der Kriegszeit setzte Jünger ein aufwendig ausgearbeitetes Bildungsprogramm entgegen, wobei hier nur auf einige charakteristische Merkmale eingegangen werden kann. Man muss ganz klar zum Ausdruck bringen, dass die Beschäftigung Jüngers mit den Autoren des 18. Jahrhunderts auch eine Hinwendung zur sogenannten Materialästhetik des von ihm in Paris geschaffenen Werkes bedeutete. Am 25. Juli 1942 klingt diese Leidenschaft noch fern nach, wenn der Diarist die 22-bändige Ausgabe der Werke Saint-Simons bewundert, deren Äußeres zelebrierend, um schließlich von einem „Denkmal der Historio graphie“ zu sprechen. Ausführlicher ließ er sich darüber drei Monate später aus, als er im Palais Royal ein Vermögen für die Ausgabe von Crébillon, 1812 bei Didot veröffentlicht, ausgab. Der Einband aus grünem Kalbsleder verleitete ihn zur Reflexion über die stilbildende Kraft des Empire, die auf den Leistungen ausgewiesener Handwerker fußte. Gerade in der Fähigkeit dieser Handwerker, den Geschmack des Ancien Régime zu bestimmen, erblickte Jünger eine ungeheure Macht, welche auf tatsächlicher Substanz aufbaute. Aufschlussreich ist die Entscheidung Jüngers, selbst die geringsten Zeichen der Einzigartigkeit des besagten Exemplars zu beachten, wie zum Beispiel die Eintragungen der Buchhändler, sowie der Wunsch, die konkreten Umstände des Erwerbs festzuhalten: „Auf dem Exlibris vermerke ich Zeit und Ort, an dem ich das Buch erstand, oder den Schenker, zuweilen noch besondere Umstände.“8
8 Jünger, Strahlungen (wie Anm. 5), 3.10.1942.
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Die vorrevolutionäre Welt diente dem Diaristen also dazu, die verheerenden Folgen des Industrialisierungsprozesses aufzuzeigen, die zwangsläufig in der „technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks“ (Walter Benjamin) gipfeln mussten. Die Figur eines Sammlers, welcher an den Seine-Ufern seinen Bildungsgang absolvierte, müsste dabei an den Don Quichotte erinnern, wäre sie nicht auf die Ziele der Kriegsparteien des zweiten Weltkonfliktes zu sprechen gekommen, die nur an der Steigerung der Zerstörung interessiert waren. Den Sinn einer Schonung der altfranzösischen Städte erblickte Jünger im Substanzerhalt des 18. Jahrhunderts, welches er als Blütezeit der europäischen Kultur wahrnahm. Eine markante Traditionslinie der erwähnten Epoche, die sich in den Strahlungen leicht identifizieren lässt, bezieht sich auf die Gründung der intellektuellen Kreise bzw. Künstlerzirkel, welche als eine Art Reaktion auf die Macht des Pöbels und den Sieg der „flachsten Fraktion“, also der NSDAP, gedeutet werden kann. Gleichzeitig standen alle informellen Gremien, denen sich Jünger mit unterschiedlicher Intensität anschloss, in der Tradition der Pariser Salons des 18. Jahrhunderts, welche „das Bezugsraster aller europäischen Salons“9 waren. Zweifelsohne bedeutete das Erscheinen Jüngers in den Kreisen der mondänen Elite der französischen Hauptstadt einen beinahe revolutionären Schritt in seiner Vita, zumal wenn man bedenkt, mit wie viel Verachtung sich der Dichter noch in seiner politischen Publizistik über die „Kaffeehausliteraten“ äußerte. Das Projekt einer Literatur, großstädtischem Flair entsprungen, dessen Emanation die Cafés und Salons bildeten, schien denkbar fern von dem derben Nationalismus des Kriegsveteranen. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass Jünger mit seiner Salonkritik in einer längeren Tradition stand, die in Deutschland zumindest seit der Jahrhundertwende äußerst negative Konnotationen des Begriffs herstellte: Es gibt kaum ein Ding in neuester Zeit, das so vieldeutig geworden, das so verbraucht und verpönt worden als der Salon; jetzt gibt es juridische, ästhetische, politische, radikale, konservative […], während ich in den glücklichen Tagen meiner Kindheit keinen anderen kannte als unsern Gartensalon […] – jetzt gibt es solche, aus deren Mund man jeden Augenblick das Wort „fade Salonfigur“, „Blasiertheit des Salonlebens“ , „Langeweile-ServilismusSteifheit des Salons“ usw. vernehmen kann.10
Der politische Radikalismus situierte Jünger zwangsläufig jenseits der intensiv erlebten Geselligkeit der „goldenen Zwanziger“ in Berlin, selbst wenn sein Freun9 Heyden-Rynsch, Verena von der: Europäische Salons. Höhepunkte einer versunkenen weiblichen Kultur. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1995. S. 57. 10 Stifter, Adalbert: Wiener Salonszenen. In: Teutsch, Otto Erich: Aus dem alten Wien. Zwölf Studien. Leipzig: Insel-Verlag 1909, zit. n. Grzywka, Katarzyna: Salon Warszawy i Berlina w XIX wieku. Warszawa: Inst. Germanistyki Uniw. Warszawskiego 2001. S. 11.
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deskreis wilden Gelagen und unendlichen Nachtdiskussionen nicht aus dem Weg ging. Seltene Einblicke in das damalige Leben des Autors gewähren unter anderem die Memoiren Gretha Jüngers, bezeugen eine hermetische Grenze, welche Jünger von den typischen „Salons“ der „republikanischen Kapitale“ des Deutschen Reiches trennte. In Paris dagegen schien der Tagebuchautor gerade darauf bedacht zu sein, keine Gelegenheit zum geistigen Austausch mit mannigfaltigen intellektuellen Partnern zu versäumen und jedem Sektierertum den Rücken zu kehren. Dabei muss man zwischen mehreren Typen der öffentlichen Foren sorgfältig unterscheiden, deren Anziehungskraft der Diarist erlag. Manche von ihnen stellten interessante Mutationen des aufklärerischen Vorbildes dar, so im Falle der Männerzirkel, an denen Jünger sich zunächst beteiligte. Ein wichtiges Beispiel dieser Kreise bildete die „Georgsrunde“, nach dem Salon im Pariser Hotel „George V.“ benannt, welche die ranghöchsten Persönlichkeiten vom Stab des Militärbefehlshabers in Frankreich vereinte. Die Bildung dieses informellen Gremiums erfolgte auf natürliche Weise, indem nur solche Offiziere die höchsten Stellen im „Majestic“ belegen durften, welche von dem humanistisch vorzüglich ausgebildeten General, Doktor der Geschichtswissenschaften Hans Speidel, akzeptiert wurden. Die aufklärerische Tradition dieses Salons kam betont zum Ausdruck, als ausgewählte Vertreter der Wissenschaft und Kunst in die Runde eingeladen wurden, wobei man die Entwicklungen der neuesten Forschungen zum Beispiel auf dem Gebiet der Physik mit gleichem Interesse wie die Historie des antiken Byzanz verfolgte. Für stets neue und anspruchsvolle Redner sorgten nicht nur der selbst inmitten des Krieges unauslöschliche Glanz der Metropole, sondern auch die Aktivitäten des Deutschen Institutes, das über die Person des Dr. Karl Epting im engen Kontakt mit dem Stab des Militärbefehlshabers stand. Die Rolle eines einflussreichen Mäzens spielte dabei General Carl-Heinrich von Stülpnagel, der gezielt nach der Formung elitärer Gruppierungen strebte, welche auf dem Weg der Selbstbildung weitgehend unantastbare Oasen der Tugend und intellektuellen Raffiniertheit inmitten des Elends gewährten. Unter der Ägide solcher Männer wie Stülpnagel und Speidel „bildeten wir hier im Innern der Militärmaschine eine Art von Farbzelle, von geistiger Ritterschaft, die im Bauche des Leviathans tagt und noch den Blick, das Herz zu wahren sucht für die Schwachen und Schutzlosen.“11 Das Anliegen der Beteiligten entsprang in erster Linie den moralischen Bedenken gegen die Kriegsführung im Osten, welche die Ethikvorstellungen der Militärs immer deutlicher verletzte. Gleichzeitig stand der Kreis unmittelbar in der Tradition der Tafelrunde von Friedrich II. und seinen Akademikern, einer „verpreußten Form des europäischen Kulturgeschehens“12. Der geschlos11 Jünger, Strahlungen (wie Anm. 5), S. 272. 12 Heyden-Rynsch, Europäische Salons (wie Anm. 9), S. 92, H. i. O.
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sen männliche Kreis und die hinzutretende akademische Note sowie der direkte Einsatz aller Mitglieder im bedeutenden Kriegsgeschehen als grundlegende Elemente des Zirkels wiederholten sich im Pariser Hotel mit erstaunlicher Präzision. Es war also keine Frau, die einen Kristallisationspunkt des Beisammenseins bildete; zwangsläufig erinnerte die Erotik an die Projektionen eines Hans Blühers, der sie bezeichnenderweise bei den Wandervögeln entwickelt hatte – die meisten Teilnehmer erlebten das für ihre Generation typische Engagement in der Jugendbewegung. Die Mitgestalter der Georgsrunde teilten ein Schicksal, weil sie aufgrund der Befehle ihrer Vorgesetzten die Bühnen aller möglichen Kriegsschauplätze betraten, was jedoch um Ernst Jünger kein Vakuum entstehen ließ. Interessant blieb nicht zuletzt die christliche Note, welche der militante Schutzpatron verlieh, was allerdings im krassen Gegensatz zu der von Voltaire geprägten Atmosphäre in Sanssouci stand. Der Salon im Atelier Claus Valentiners trug noch deutlicher Züge des aufklärerischen Erbes, indem er die Grenzen von Nationen, Geschlechtern und Berufsgruppen überschritt. Die Gäste der Mansarde am Quai Voltaire vertraten denkbar unterschiedliche politische Ansichten, was sie allerdings zu einem regen Meinungsaustausch führte, bedingt durch die legere Art des künstlerisch begabten Gastgebers: Auf der Herfahrt weilte ich für einen Abend in Mannheim bei Oberst Speidel, der leider als Chef eines Armeekorps nach Osten gekommen ist. Damit löst sich auch die Tafelrunde vom George V. auf, deren Ritter wie Grüninger und Graf Podewils sich in die Welt zerstreut haben. Dafür bildete ich in einem kleinen Studio am Quai Voltaire einen neuen Kreis, in dem ein recht geistiges Element lebendig ist, und der mir dort noch eine Abschiedsfeier gab. Es ist sehr amüsant, im Hofe blickt man auf das alte Atelier von Ingres und dahinter ragen die Dächer und Türme des lateinischen Viertels auf. Der Mieter dieses Nestes ist Claus Valentiner, ein Sohn des alten U-Boots-Wikingers.13
Entscheidend für die einzigartige Atmosphäre des Salons war die Persönlichkeit Claus Valentiners, der durch seinen Charme, seine Leichtigkeit und eine sprühende Intelligenz die Erinnerung an die Blütezeit der Salonkultur wachhielt. Wiederum besetzte ein Mann den Posten des Saloniers, Frauen waren aber nicht ausgeschlossen. Ihre Anwesenheit und die informelle Umgebung einer in ein malerisches Atelier verwandelten Mansarde bildete für Jünger eine bequeme Übergangsform zu den klassischen Salons von Paris. Der Schriftsteller selbst bereicherte die Eigenart des Salons um ausgesuchte ästhetische Genüsse, indem er eine alte Gewohnheit aufnahm und die Stadtlandschaft quasi aus der Vogel13 Ernst Jünger an Friedrich Georg Jünger, 10.5.1942, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Jünger.
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perspektive gemeinsam mit anderen Gästen bewunderte: „Wir unterhielten uns in dem kleinen Nest nicht übel und blickten dabei über die alten Dächer auf Saint-Germain-des-Prés.“14 Man muss betonen, dass die Gesellschaft am Quai Voltaire bereits eindeutige Züge eines literarischen Salons trug, der so bedeutende französische Dichter wie Jean Cocteau, Pierre Drieu La Rochelle oder Henry de Montherlant anzog, deren Beitritt Jünger vermittelte. Eingeführt in den Salon wurde Ernst Jünger von Gerhard Heller, seinem Arbeitskollegen in der Propagandastaffel. Der spätere Mitarbeiter in der deutschen Botschaft arrangierte die Begegnung des Autors mit Florence Gould, der Frau des amerikanischen Eisenbahnmultimillionärs Frank J. Gould, welche einen der letzten echten literarischen Salons in der Stadt der Lichter führte. Die französischen Salonieren des 18. Jahrhunderts hatten mit den lächerlichen Preziösen oder den gelehrten Frauen à la Molière nichts gemeinsam. Sie waren Partnerinnen in einer brillanten und leichten Konversation, die um gewichtige Themen kreiste, dazu unvergessliche Vermittlerinnen europäischer Geistesart.15
Diese Charakteristik und nicht so sehr Spekulationen darüber, ob Florence Gould zum Kreis der Jünger’schen Liebhaberinnen gehörte, liefert Einblicke in die Spezifik der informellen deutsch-französischen Begegnungen in den Salons. Die starke weibliche Erotik stellte eine produktive Atmosphäre her, welche eine „sanfte“ Anpassung so souveräner Geister wie zum Beispiel Jüngers an die mondäne Umwelt bewirkte. Wie wichtig die Begegnung mit den Salonieren für den deutschen Dichter war, bezeugt sein ständiges Spiel mit Decknamen und Identitäten seiner intellektuellen Partnerinnen in den Blättern der Pariser Tagebücher. Angeregt wurde die Einladung des Dichters zu den „Déjeuners littéraires“ auch von Marie-Louise Bousquet, „Florences Lehrmeisterin“ und „Leiterin der französischen Ausgabe von Harpers Bazaar“16. Bereits an der Wohnungseinrichtung von Bousquet, welche ihrerseits an der Place Bourbon eine alternative literarische Institution führte, lässt sich die Attraktivität der klassischen – im Sinne des 18. Jahrhunderts – Pariser Salons für die Jünger’sche Lebensweise studieren. Nicht weniger anziehend als die Konversation und die eingeladenen Gäste waren nämlich die Pariser Interieurs, die die Substanz von Jahrhunderten aufbewahrten: „Diese alten und mit ererbten Dingen gefüllten Wohnungen haben sich im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte dem Menschen und seinem Wesen 14 Jünger, Strahlungen (wie Anm. 5), S. 303. 15 Heyden-Rynsch, Europäische Salons (wie Anm. 9), S. 58f. 16 Heyden-Rynsch, Europäische Salons (wie Anm. 9), S. 221.
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angepasst wie Gewänder, die sich nach langem Tragen dem Körper in jeder Falte anschmiegen“17. Einiges von den ehrgeizigen Postulaten, welche Jünger seinem Tagebuchprojekt schon im Vorwort zu den Strahlungen voranstellte, gilt nicht weniger für die Charakteristik seines gesellschaftlichen Engagements in der Stadt der Lichter. Eine dezidierte Abkehr von einem durch Technik dominierten Staat verband sich im Schriftsteller mit dem Wunsch, der feindlichen Welt auf dem Weg einer intensiven Selbstbildung die Stirn zu bieten. Dieses Projekt bedeutete keine Flucht in die Isolation, sondern intensive Arbeit an der Konstruktion alternativer Welten, welche weit über die Sphäre des Politischen hinausführte. Die gesellschaftlichen Kontakte, und somit das Salonleben, bildeten einen wichtigen Aspekt dieses Vorhabens, wobei das Projekt in den besten Traditionen des 18. Jahrhunderts verankert war. Es war Wilhelm von Humboldt,18 der auf die Bedeutung der ständigen Wechselwirkung eines Menschen mit seiner Umwelt hinwies: „Die Mannigfaltigkeit der Situationen“ sollte die „höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ fördern. Es sei dahingestellt, inwieweit das Humboldt’sche Gedankengut Ernst Jünger direkt beeinflusste; bestreiten lässt sich jedoch nicht, dass „die Bildungstheorie hier – auch sehr unmittelbar – zur Salontheorie wird“.19 Darüber hinaus bedeutete das Salonleben Jüngers in Paris einen vehementen Protest gegen die „Gleichschaltung“ der modernen Welt, wiederum nicht nur im strikt politischen Sinne des Widerstands gegen die Nazipolitik, sondern auch in einer generellen Ablehnung der aggressiven Modernisierungsprozesse, welche Jünger seit der Totalen Mobilmachung (1930) präzise zu dia gnostizieren wusste. Auch in dieser Hinsicht entwickelten sich die Jünger’schen Reflexionen in Anlehnung an die besten Vorbilder des 18. Jahrhunderts, die im Spielerischen und Zweckfreien den geeignetsten Weg sahen, der auf Leistung und Gewinn orientierten modernen Welt zu entkommen: „Das neue Jahr begann ich, indem ich mich durch eine Schleife den gewohnten Verhältnissen entzog zu einer zweitägigen Siesta mit Gesprächen, Lektüre, starkem Kaffee, Früchten und Wein.“20 Die erlesene Kunst, die Zeit behaglich auszudehnen, welche der Diarist fast jeden Abend in einem der zahlreichen Salons perfektionierte, bot ein wirksames Mittel dem „stählernen Gehege“ Max Webers zu entkommen, das gerade im Zweiten Weltkrieg sein verheerendes Potenzial im ganzen Ausmaß zeigte.
17 Jünger Strahlungen (wie Anm. 4), S. 45. 18 Die Kontextualisierung der Ideen verdanke ich Katarzyna Grzywka. 19 Petra Wilhelmy, zit. n. Grzywka, Salon Warszawy i Berlina (wie Anm. 10), S. 121. 20 Jünger, Strahlungen (wie Anm. 4), S. 207.
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Nesthäkchens Verwandlungen Zum Verhältnis von Editionsphilologie und Verlagspolitik in der Kinder- und Jugendliteratur am Beispiel der jüdischen Schriftstellerin Else Ury Der nachfolgende Satz, der so oder ähnlich meist auf den Impressumsseiten moderner Textausgaben steht, ist wissenschaftlichen Lesern durchaus ein Begriff: „Der Text wurde behutsam modernisiert, Orthografie, Lautstand und Interpunktion sind dem heutigen Gebrauch angeglichen.“ Mit dieser Formulierung hat sich der Bearbeiter oder Herausgeber Tür und Tor geöffnet, den Text nach seinen Vorstellungen zu modellieren und ihn dem vermuteten Geschmack aktueller Leserkreise anzupassen. Noch entlarvender ist der karge Passus: „(Neu-)bearbeitet von …“, der überhaupt keine Vorstellung mehr von den Dimensionen eines Texteingriffs vermittelt. Wenn also in einem literaturwissenschaftlichen Lexikon zu einem schriftstellerischen Werk vermerkt ist „Nach dem Zweiten Weltkrieg in zwei Neubearbeitungen […] erfolgreich wiederaufgelegt“, lässt sich eines schon vorab mutmaßen: Es handelt sich um großzügige Umarbeitungen, bei denen entschieden in die Textgestalt eingegriffen wurde, als ob es keine Verpflichtung des späteren Editors gegenüber dem Autor gäbe.1 Mit diesen Andeutungen ist auf die bekannte Romanserie Nesthäkchen der jüdischen Schriftstellerin Else Ury (1877–1943) angespielt. Sie erschien in zehn Bänden zwischen etwa 1913 und 19252 in Meidinger’s Jugendschriften Verlag, zum 1 Leuschner, Ulrike: Ury, Else. In: Killy, Walther (Hrsg.): Deutsches Literaturlexikon. Bd. 11. München: Bertelsmann 1991. S. 497. Siehe auch Dahrendorf, Malte: Ury, Else. In: Daubert, Hannelore u. a. (Red.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. 3. Bd. Weinheim, Basel: Beltz 1984. S. 660f.; dort heißt es nicht ganz zutreffend: „U. ist vor allem als Autorin der Nesthäkchen-Serie bekannt geworden, die bis heute immer wieder, teilweise in Neubearbeitungen, aufgelegt wird.“ 2 Zur Datierung siehe zunächst Pech, Klaus-Ulrich: Ein Nesthaken als Klassiker. Else Urys „Nesthäkchen“-Reihe. In: Hurrelmann, Bettina (Hrsg.): Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Frankfurt am Main: S. Fischer 1995. S. 339–357, hier S. 341. Als erste bestimmt Asper die Erscheinungsdaten der ersten vier Bände in ihrem Eintrag: Asper, Barbara: Else Ury. In: Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Autoren, Illustratoren, Verlage, Begriffe. Hrsg. v. Franz, Kurt u. Franz-Josef Payrhuber. Meitingen: Corian-Verlag 20. Erg.-Lfg. (Februar 2004). S. 11; erneut (mit vielen anderen historischen Korrekturen!) in: Asper, Barbara u. a.: Wiedersehen mit Nesthäkchen. Else Ury aus heutiger Sicht. Berlin: Text.Verlag 2007. S. 50. – Herrn Walther Ulrich Erwes sei an dieser Stelle herzlich gedankt: für vielfältige Auskünfte und großzügige Ausleihen aus seiner großen Kinder- und Jugendbuch-Sammlung sowie für die zahlreichen Gespräche über dieses Thema.
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Teil in hohen Auflagen im dreistelligen Tausender-Bereich.3 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Serie 1950 im Düsseldorfer Hoch-Verlag und zwischen 1951 und 1953 als Lizenzausgabe im Ueberreuter-Verlag (Wien, Heidelberg) erneut he rausgegeben, einzelne Bände erschienen noch in den 1980er Jahren.4 Nun ist seit dem Hinweis auf die Bearbeitung der Reihe durch Pech5 das Thema der Textveränderung bei Else Ury und anderen „klassischen“ Schriftstellerinnen und Schriftstellern nicht mehr thematisiert worden. Dies änderte sich, als der Thienemann-Verleger Klaus Willberg in Otfried Preußlers Roman Die kleine Hexe (1957) eingreifen wollte. Die Bekanntgabe zog einen Shitstorm großen Ausmaßes gegen den Verlag nach sich,6 dem unter anderem ein umfangreicherer Artikel von Tilmann Spreckelsen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung folgte.7 Dieser stellt klar die historisch zweifelhaften Motive der Verleger heraus: „Bücher werden verändert, um sie dem vermuteten Horizont der Zielgruppe anzupassen. Und, muss man ergänzen, dem der erwachsenen Käufer, die ihren Kindern Worte wie ‚Negerlein‘ nicht zumuten wollen.“8 Hiermit ist eine grundsätzliche Fragestellung eröffnet, die die Editionsphilologie seit ihren Anfängen beschäftigt, und die inzwischen ein hohes und weithin gesichertes, wenn auch nicht immer widerspruchsfreies Niveau erreicht hat. Es gibt zu denken, dass in einem entsprechenden Handbuch folgende Sätze an den Anfang gestellt sind: „Die Herausgabe literarischer Texte gilt als eine der grundlegenden wissenschaftlichen Aufgaben. Durch sie werden die Texte, über die dann gehandelt wird, erst in ihrer – soweit ermittelten – richtigen Form vollständig vorgelegt.“9 Die logische Schlussfolgerung ist, dass nur ein historisch korrekter Text Einblicke in seine politischen oder mentalen Aspekte erlaubt, dass erst fremdartige Orthografie, Syntax oder Wortwahl diesen Text als ein Produkt seiner Zeit erscheinen lassen. Das gilt, so Spreckelsen, uneingeschränkt auch für Kinder- und Jugendliteratur: „Es [das Wissen um die ursprüngliche Textform,
3 Die Auflagenhöhen der Nesthäkchen-Reihe siehe teilweise bei Asper, Else Ury (wie Anm. 2), S. 17. Entsprechende Daten sind über den Karlsruher Virtuellen Katalog zu erhalten. 4 Vgl. Asper, Else Ury (wie Anm. 2), S. 22. Diese Bearbeitungen können hier nicht thematisiert werden. 5 Pech, Nesthaken (wie Anm. 2), S. 348–354. Siehe dazu auch den Eintrag „Nesthäkchen (Kinderbuchreihe)“ in Wikipedia, letzte Bearbeitung 19.1.2016 (12.2.2016), der allerdings nur auf den Aufsatz von Pech rekurriert und weitestgehend dessen Ergebnisse zusammenfasst. 6 Das „Negerlein“ verschwindet. In: Börsenblatt, 7.1.2013, Online-Ausgabe (23.2.2016). 7 Spreckelsen, Tilmann: Wir wollen vorlesen und nichts erklären müssen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.1.2013, Online-Ausgabe (23.2.2016). 8 Spreckelsen, Wir wollen vorlesen (wie Anm. 7). 9 Nutt-Kofoth, Rüdiger u. a. (Hrsg.): Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Berlin: Erich Schmidt 2000. Vorwort S. 7.
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D. H.] hilft jedenfalls beim Verständnis dafür, dass sich ein literarisches Werk im Diskurs seiner Zeit bewegt und dass man es kaum adäquat einschätzen kann, greift man in seinen Wortlaut ein.“ Die Anpassung von Kinderbuchtexten an veränderte Lesegewohnheiten „heißt jedoch nichts anderes, als Kinder- und Jugendliteratur von vornherein nicht ernst zu nehmen. Man darf sie demnach ohne Skrupel umschreiben, was man selbst bei mäßigen Werken, die sich an Erwachsene richten, nie im Leben täte.“10 Man stelle sich vor, was geschähe, wenn man Goethes Faust dem ahistorischen Verständnis heutiger breiter Leserschichten durch radikale Texteingriffe „näherbringen“ wollte. Kinder- und Jugendliteratur wurde lange, das sei im Rahmen dieses Beitrags nur kurz angedeutet, vor allem unter den Gesichtspunkten der Rollendarstellung (Vater, Mutter etc.), des Genderaspekts (wie wird die Position von Jungen und Mädchen definiert?), der Sozialisation oder des sozialen und politischen Umfelds beschrieben. Die Frage nach Textveränderungen, ihren Gründen, und vor allem Folgen ist offensichtlich für die Kinder- und Jugendbuchforschung kein Thema (was wiederum ihren Stellenwert in der Literaturwissenschaft insgesamt spiegelt). Es kann daher nicht verwundern, dass dieses Thema selbst in einem Fachperiodikum wie dem seit 1987 bestehenden Internationalen Jahrbuch für Editionswissenschaft bis heute nicht behandelt wurde. Die unterschiedlichen methodologischen und ideologischen Zugänge werden vollends greifbar in den nur elf Jahre auseinanderliegenden Bewertungen von Urys Werk, hier vor allem Nesthäkchen. 1984 heißt es noch in Dahrendorfs Handbuchbeitrag: Annemarie [= Nesthäkchen, D. H.] lebt […] in einem Schonraum, in den nur von fern die Geräusche der unruhigen Zeit eindringen. […] Das Weltbild U.s ist traditionell und eingeschränkt. Ihre Werke spielen alle im gehobenen mittelständischen Milieu des gebildeten Neubürgertums; die Zeitereignisse sind aus ihnen weitgehend verdrängt, der Frau werden nur ein paar zaghafte Schritte aus dem durch Herkommen und Herrschaftsinteressen festgelegten Rahmen heraus gestattet. Penetrant und peinlich wirken Deutschtümelei und Heimatschwärmerei.11
Pech hingegen gelingt 1995 durch eine wesentlich kritischere Betrachtung der Nesthäkchen-Texte eine differenzierte Beurteilung. Er führt unter anderem aus: Verglichen mit einem Großteil der damals zeitgenössischen Mädchenliteratur […] ist die literarische Rollenfixierung gar nicht so rückständig, sondern vielfach durchbrochen, gelegentlich gar ambivalent. Ury läßt ihre Annemarie Braun sehr eigenständig aufwachsen, mit
10 Spreckelsen, Wir wollen vorlesen (wie Anm. 7). 11 Dahrendorf, Ury (wie Anm. 1), S. 660f.
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oft antiautoritärem Gehabe, antinormativen Ideen und Handlungen. […] Den zeitgenössischen Leserinnen erschien Urys Nesthäkchen jedenfalls nicht als Musterbeispiel rückständiger geschlechtsspezifischer Rollenfixierung.12
Auch was die Schilderung des sozialen Umfelds und seine historische Einbettung betrifft, kommt Pech zu einer anderen Bewertung als Dahrendorf: „Wenigstens zu Beginn der Reihe sind die Nesthäkchen-Erlebnisse räumlich und zeitlich konkret angebunden sowohl durch das Einbeziehen politischer Ereignisse als auch durch genaue Schilderungen des sozialen Milieus, durch die Art der Dialoge, durch Verwendung von Umgangssprache und Dialekt.“ Den Grund dafür sieht Pech in den realen Vorgängen: „Anscheinend wurden die politischen, militärischen und gesellschaftlichen Ereignisse der zehner Jahre von Ury als so starker Einbruch in ein bisher sorgloses Bürgerleben erfahren, daß sie ihre Mädchenbuch-Reihe davon nicht freihalten konnte.“13 Dies ist ganz sicher so, wie eine neue Untersuchung nahelegt, die auf die Berichterstattung in der Presse etwa über die Reaktion der jüdischen Bevölkerung auf den Kriegsbeginn am 5. August 1914 eingeht. Unter anderem mit dem Rekurs auf eine Feier in einer Synagoge Berlins anlässlich des Kriegsbeginns 1914 wird dargestellt, dass es kaum verwunderlich sei, „wenn auch in den Ury-Büchern ‚Die Wacht am Rhein‘14 angestimmt wird, wenn Großväter bedauern, nicht mit in den Krieg ziehen zu dürfen, und ‚Backfische‘ opferbereit an der ‚großen Sache‘ mitwirken wollen. Dennoch: Ury verfolgt in ihren Büchern nicht vorrangig das Ziel, für den Krieg zu werben, sondern sie will die Leiden seiner Auswirkungen lindern helfen.“15 Auch was die Bildung der Mädchenfiguren und ihre spätere Position in der Berufswelt betrifft, so sind es deutlich mehr als nur „ein paar zaghafte Schritte aus dem durch Herkommen und Herrschaftsinteressen festgelegten Rahmen“, die sie gehen.16 Die Frage, die Pech an seine Wertung anschließt, und die zu seinen methodischen Überlegungen führt, ist jedoch ihrerseits, im Gegensatz zu seinen vorherigen Ausführungen, wiederum stark zeitverhaftet und führt m. E. in die Aporie:
12 Pech, Nesthaken (wie Anm. 2), S. 344, 346. Entsprechend auch Asper, Else Ury (wie Anm. 2), S. 5–7. 13 Pech, Nesthaken (wie Anm. 2), S. 346. 14 „Die Wacht am Rhein“ wurde 1840 von Max Schneckenburger als Reaktion auf die Forderungen der französischen Regierung, den Rhein als Frankreichs Ostgrenze zu etablieren, verfasst. Erst durch die Vertonung von Carl Wilhelm 1854 und Aufführung bei der Silberhochzeit des späteren Kaisers Wilhelm I. wurde das nationalistische Lied populär. 15 Asper u. a., Wiedersehen (wie Anm. 2), S. 47f. 16 Dahrendorf, Ury (wie Anm. 1), S. 661 und Asper u. a., Wiedersehen (wie Anm. 2), S. 64–69.
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„Was aber ist mit den heutigen jungen Leserinnen? Soll man sie noch mit diesem inzwischen überholten Frauenbild konfrontieren?“17 Ein Aspekt, der in dem verdienstvollen, weil solide Grundlagen schaffenden kleinen Band von Barbara Asper, Hannelore Kempin und Bettina MünchmeyerSchöneberg18 und dem Lexikon-Eintrag von Barbara Asper19 nicht oder nur knapp behandelt wird, der jedoch für die Beurteilung von Else Ury mindestens ebenso entscheidend ist wie der Gesichtspunkt der Mädchenerziehung, der Frauenbildung oder des Reisens, ist der der Politik. An ihm zeigt sich, dass die Bearbeitung ihrer Werke für das historische Verständnis verhängnisvoll, ja geradezu verleumderisch gegenüber der Autorin ist.20 Und dies könnte auch für zahlreiche andere Bearbeitungen von Kinder- und Jugendbüchern belegt werden. Im fünften Band der Nesthäkchen-Reihe Nesthäkchens Backfischzeit wird Annemarie zu Onkel Heinrich und Tante Käthchen auf ihr Gut Arnsdorf in Schlesien eingeladen; sie soll dort bei der Ernte helfen.21 Arnsdorf (Przecza) liegt bei Löwen (Lewin Brzeski) und gehört heute zur Woiwodschaft Oppeln (Opole). Annemarie kommt in einer Zeit der Rationierung wichtiger Lebensmittel zu den Verwandten, die der Familie in Berlin mit Essenspaketen aushelfen. Ihr Vetter löst allerdings mit einer einzigen Bemerkung die politische Wendung eines Gesprächs aus, als er bezüglich der Essenspakete sagt: „Damit wird es bald geschnappt haben, wenn wir erst polnisch sind“22. Und Annemarie erwidert: „Was – hier in Oberschlesien werdet ihr auch polnisch? Na, ich habe die Polen sehr gern. Die Mutter meiner besten Freundin war auch eine Polin. Veras Vater ist in der Karpathenschlacht gefallen und ihren Bruder hat sie seit Jahren nicht 17 Pech, Nesthaken (wie Anm. 2), S. 346. 18 Vgl. Asper u. a., Wiedersehen (wie Anm. 2), S. 47f. 19 Siehe Asper, Else Ury (wie Anm. 2). 20 So wenn Marianne Brentzel in ihrem biografistischen Werk Nesthäkchen kommt ins KZ: Eine Annäherung an Else Ury 1877–1943 (Zürich, Dortmund: Edition Ebersbach 1992), S. 154 bemerkt: „Else Ury war eine unpolitische, konservative Frau des deutschen Bürgertums, die mit menschlicher Anteilnahme das Massenelend der Arbeitslosigkeit sah und im Sog der Massenbegeisterung Hitler für eine mögliche Lösung aus der tiefen Staatskrise hielt. Sie hat 1933 die Augen vor der politischen Wirklichkeit verschlossen, wie sie es vor den Geschehnissen im öffentlichen Raum ihr ganzes Leben getan hat.“ Positiv wertend hingegen Rainer Drewes: Nesthäkchen und die „Polnische“. Reminiszenzen an ein verschollenes Jugendbuch von Else Ury. In: Praxis Schule 5–10. Zeitschrift für die Sekundarstufe I (1994) H. 6. S. 14f., allerdings mit der falschen Jahreszahl („1922“) von Nesthäkchen und der Weltkrieg. 21 Ury, Else: Nesthäkchens Backfischzeit. Eine Jungmädchengeschichte von E. U. Berlin: Meidinger’s Jugendschriften Verlag o. J. [um 1920] (Nesthäkchen. Eine Reihe Erzählungen. Bd. 5). S. 98. Die benutzte Ausgabe ist aus dem 186.–190. Tausend, d. h. nach 1926. Siehe dazu Asper u. a., Wiedersehen (wie Anm. 2), S. 143. 22 Dieses und die beiden folgenden Zitate aus Ury, Backfischzeit (wie Anm. 21), S. 117.
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gesehen, der ist bei polnischen Verwandten.“ Dies löst – was sie in ihrer Naivität nicht bemerkt – Unmut bei ihrem Onkel hervor, dessen „blonde Augenbrauen sich zornig zu einem Borstenwald zusammenzogen“, eine Anspielung auf den vierten Band Nesthäkchen und der Weltkrieg. Alles in allem zeigt die Szene, dass zwar die Auswirkungen der politischen Verhältnisse im Ersten Weltkrieg von Annemarie zur Kenntnis genommen (Rationierungen etc.), aber nicht in ihrer politischen Dimension erkannt werden. Der vierte Band Nesthäkchen und der Weltkrieg bereitet diesen Handlungsstrang vor. In die sechste Klasse Annemaries wird das Mädchen Vera Burkhard eingeschult.23 Sie kommt aus Czernowitz und spricht, „trotzdem der Vater Deutscher war, fast nur Polnisch“24. Vera wird aufgrund ihrer Sprache schikaniert: „‚Alles, was nicht Deutsch spricht, gehört zu unseren Feinden‘, stellte das dumme, kleine Mädel [Annemarie/Nesthäkchen, D. H.] fest.“25 Der adjektivische Erzählerkommentar vermittelt schlaglichtartig die Einstellung der Autorin. Zu allem Überfluss verstärkt der Verdacht von Annemaries Bruder Klaus, Vera könnte eine Spionin sein,26 diese negative Haltung. Erst als Annemaries Mutter, die sich in England befindet und nicht ausreisen darf, durch eine unvorsichtige Bemerkung als mutmaßliche Spionin inhaftiert wird,27 beginnt in Annemarie ein Sinneswandel, der schließlich durch die Bekanntgabe, dass Veras Vater gefallen sei, in Reue und Metanoia umschlägt: „Kannst du mir verzeihen, Vera, daß ich so schlecht zu dir gewesen bin? […] Ich werde dich von nun an sehr lieb haben. Du sollst meine Freundin sein.“28 Annemarie überwindet ihr stereotypes Denken und wird zu einem jungen Menschen, für den Humanität im Zentrum steht. Das ist die Ausgangsposition für die Ereignisse in Nesthäkchens Backfischzeit, das zum Teil auf dem Gut des Onkels in Arnsdorf spielt. Er beschäftigt polnische Erntearbeiter, mit denen er nicht besonders zufrieden ist.29 Auch die Tante ist ihnen nicht gewogen: „Laß dich nicht mit der Sorte ein, gehe ihnen möglichst
23 Vgl. Ury, Else: Nesthäkchen und der Weltkrieg. Eine Erzählung für Mädchen von 8‒12 Jahren. Berlin: Meidinger’s Jugendschriften Verlag o. J. [1916] (Nesthäkchen. Eine Reihe Erzählungen. Bd. 4), Erscheinungsjahr nach Asper, Else Ury, S. 11 und Asper u. a., Wiedersehen (beide wie Anm. 2), S. 50. Das Buch erschien in dieser Fassung in einer „Neuauflage mit einem Vorwort von Marianne Brentzel“ im Geest-Verlag, Vechta-Langförden 2014. Das Vorwort enthält zahlreiche schwere Fehler, als hätte es den Band von Asper u. a., Wiedersehen (wie Anm. 2), nie gegeben. 24 Ury, Weltkrieg (wie Anm. 23), S. 96. 25 Ury, Weltkrieg (wie Anm. 23), S. 98. 26 Vgl. Ury, Weltkrieg (wie Anm. 23), S. 106. 27 Vgl. Ury, Weltkrieg (wie Anm. 23), S. 148f. 28 Ury, Weltkrieg (wie Anm. 23), S. 160. 29 Ury, Backfischzeit (wie Anm. 21), S. 126f.
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aus dem Wege, Kind. Sie führen nichts Gutes im Schilde“30. Es ist nur natürlich, dass Nesthäkchens Haltung anders charakterisiert wird: „Aber Annemarie war gewöhnt, jeden freundlich zu grüßen.“ Das führt zu dem folgenschweren Geschenk des roten Miedertüchleins,31 das sie der Polin Maruschka macht. Diese warnt sie kurz darauf vor den anrückenden polnischen Truppen, was sich am nächsten Morgen durch die Mitteilung des Onkels bestätigt. Sie muss den Hof verlassen und fährt mit der Bahn von Arnsdorf nach Breslau und von dort nach Sagan in Niederschlesien.32 Hier müssen alle Passagiere aussteigen, weil durch den Eisenbahnerstreik kein Zug mehr fährt. Sie verdingt sich in Sagan als Kindermädchen bei einer Familie, deren Vater sich als ein ehemaliger Kommilitone ihres Vaters entpuppt. Ihrer sicheren Heimfahrt, die nicht erzählt wird, steht natürlich nichts mehr im Wege. Soweit der Plot der Ursprungsausgabe von Nesthäkchens Backfischzeit. Dieser Band wurde 1950 und 1987 erneut aufgelegt33 und erschien auch in einer Lizenzausgabe.34 In allen drei Ausgaben folgt auf die Äußerung Annemaries, dass sie von den Verwandten immer so „feine Futterpakete“35 bekämen, nicht die Äußerung über eine drohende politische Veränderung in Oberschlesien; diese Passage wird einfach gestrichen.36 Außerdem werden die „polnischen Feldarbeiter“37 zu „fremden Feldarbeitern“ gemacht,38 wodurch die lautlichen Varianten in den Dialogen, wie zum Beispiel „gutte Frräulein“39, mindestens missverständlich sind, wenn nicht falsch kontextualisiert werden. Vollkommen unverständlich wird die Lokalisierung des Geschehens durch die Textveränderungen: Statt Arnsdorf in Oberschlesien ist der Ort überhaupt nicht lokalisiert.40 Statt der ursprünglichen Warnung Maruschkas „Kommen Pollen, werrden nemmen Gutt hier, werrden nemmen Dorrf, werrden nemmen Eisenbahn. Kann gutte Frräulein nicht merr fahrren nach Haus zurr Maminka“41, sagt sie in den Bearbeitungen: „Wird kommen großer Streik. Frräulein wird nicht 30 Dieses und das folgende Zitat aus Ury, Backfischzeit (wie Anm. 21), S. 131. 31 Vgl. Ury, Backfischzeit (wie Anm. 21), S. 132. 32 Vgl. Ury, Backfischzeit (wie Anm. 21), S. 135, 137. 33 Ury, Else: Nesthäkchens Backfischzeit. Eine Jungmädchengeschichte. Neu bearb. v. Maria Schlatter. Düsseldorf: Hoch-Verlag o. J. [1952]. Eine Neuausgabe erfolgte 1987. 34 Ury, Else: Nesthäkchens Backfischzeit. Eine Mädchengeschichte [sic]. Wien, Heidelberg: Verlag Carl Ueberreuter o. J. [1952]. 35 Ury, Backfischzeit (wie Anm. 21), S. 117. 36 Vgl. Ury, Backfischzeit (wie Anm. 33), S. 58. 37 Ury, Backfischzeit (wie Anm. 21), S. 131. 38 Vgl. Ury, Backfischzeit (wie Anm. 33), S. 64. 39 Ury, Backfischzeit (wie Anm. 21), S. 133; Ury, Backfischzeit (wie Anm. 33), S. 65. 40 Vgl. Ury, Backfischzeit (wie Anm. 33), S. 48. 41 Ury, Backfischzeit (wie Anm. 21), S. 133.
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Detlef Haberland
können nach Hause. Lange nicht.“42 Es bleibt vollkommen unverständlich, dass es polnische Truppen sind, die im Rahmen der Aufstände um die Zugehörigkeit Oberschlesiens zum Deutschen Reich oder zu Polen anrücken.43 In der Bearbeitung fährt Annemarie mit ihrem Vetter statt nach Breslau und Sagan nach München; dort soll er sie „in den Berliner Zug“ setzen. Der Zug bleibt nunmehr in Nürnberg stehen, wo Annemarie bleiben muss.44 Es ist ersichtlich, dass die gesamte Handlung durch die Textveränderungen unverständlich und unlogisch wird. Den zeitgenössischen jungen Leserinnen und ihren Eltern und Erziehern war die Auseinandersetzung um die staatliche Zugehörigkeit Oberschlesiens, die vielfache gewalttätige Aktionen beider Seiten hervorrief, selbstverständlich noch präsent.45 Zu den allseits bekannten Tatsachen gehörte auch, dass es eine direkte Bahnverbindung von Breslau nach Berlin über Sagan in Niederschlesien gab. Es wäre ein Leichtes gewesen, diese Zusammenhänge durch ein entsprechendes Nachwort auch noch 1952 oder 1987 verständlich zu machen. Die Vermeidung der Nennung der deutsch-polnischen Auseinandersetzungen um 1920 in Oberschlesien galt in den 1950er Jahren als nicht mehr „politisch korrekt“ und wurde daher schamvoll eliminiert. Dies passt in die Tendenz, die Vertriebenen und mit ihnen die deutsche Kulturgeschichte im östlichen Europa nicht oder nur sehr ausschnitthaft zur Kenntnis nehmen zu wollen.46 Die Umarbeitung ist also eine zeitgeistkonforme verlegerische Entscheidung, die davon absieht, die Nesthäkchen-Bände als historische Texte zu betrachten. Einmal verändert, werden diese falschen Versatzstücke in neuen Ausgaben weiterhin verwendet.
42 Ury, Backfischzeit (wie Anm. 33), S. 65. 43 Siehe zu diesem historischen Komplex, der in seiner Entwicklung hier nicht im Einzelnen dargestellt werden kann: Masnyk, Marek: Provinz Oberschlesien (1918/19–1938/39). In: Bahlcke, Joachim u. a. (Hrsg.): Geschichte Oberschlesiens. Politik, Wirtschaft und Kultur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Aus dem Polnischen v. Rafael Sendek. 2. überarb. u. erw. Aufl. der poln. Originalausg. v. 2011. München: de Gruyter Oldenbourg 2015 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Bd. 61). S. 290–317, v. a. für den Kontext von Nesthäkchen S. 296–298. 44 Vgl. Ury, Backfischzeit (wie Anm. 33), S. 66f. 45 Masnyk, Provinz Oberschlesien (wie Anm. 43). 46 Siehe dazu Kossert, Andreas: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. 4., überarb. Aufl. München: Siedler 2009, zu Film und Literatur in den 1950er Jahren S. 269–282. Der teilweise Erfolg von Dichtungen mit den Themen Vertreibung, Heimat im Osten etc. wie z. B. So zärtlich war Suleyken von Siegfried Lenz (1955) oder Suchkind 312 von Hans-Ulrich Horster (1955) findet nach Kossert in einer Atmosphäre des Verdrängens und Harmonisierens statt. Es wäre lohnenswert, die mentale Atmosphäre der Nachkriegszeit anhand der Rezeption des östlichen Europas in Literatur und Film differenziert aufzufächern.
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Asper schreibt zu Recht, dass man sich auch bemühte, „im nun geteilten Deutschland jeden Hinweis auf den Osten zu vermeiden.“47 Ein Beleg dafür ist Else Urys nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder aufgelegter Roman Flüchtlingskinder. Eine Erzählung für Kinder von 7–11 Jahren.48 Peter und Hanni Kaschuba (!) wohnen auf einem Gut bei der Stadt Soldau (heute Działdowo in der Woiwodschaft Ermland-Masuren). Die Handlung eskaliert sofort, denn die Kriegserklärung des Deutschen Reiches an Russland am 1. August 1914 wird schnell erwähnt und von der Flucht anderer Deutscher vor den angreifenden und plündernden Russen erzählt.49 Die beiden Kinder werden von Vetter Jochen und „Base Stine“ mitgenommen, da die Mutter noch den nicht eintreffenden Vater erwartet. Die Fahrt geht nach Elbing (Elbląg50), dort werden die Kinder getrennt und an Familien in Danzig (Gdańsk) und Gut Tiemendorf 51, möglicherweise bei Crossen an der Oder (Krosno Odrzańskie), vermittelt. Der Roman schließt mit den Sätzen: „In einem Dorfe nahe der russischen Grenze steht ein nagelneues, weißes Häuschen mit lustigem roten Ziegeldach und grünen Fensterläden. Dort wohnen glückliche Menschen. Sie haben nur den einen Wunsch, daß der böse Krieg erst zu Ende und auch ihr Vater wieder bei ihnen sein möge. Die beiden Flüchtlingskinder haben ihre Heimat wiedergefunden.“52 Es geht nicht um den Krieg als solchen, sondern um seine unmittelbaren Folgen, um Flucht und Vertreibung. Wie Kinder mit diesen sie bedrückenden Umständen fertigwerden, ist der Gegenstand dieses Romans. Natürlich endet auch er, wie alle Romane Urys, mit einem Happy End. Zugleich ist er, trotz seiner zeit- und lokalgebundenen Handlung, die vor rund 100 Jahren spielt, auch heute durchaus aktuell. Es lohnt sich daher in jedem Fall, Else Urys Romane erneut zu lesen – in den Originalausgaben ohne verlegerische Eingriffe.
47 Asper, Else Ury (wie Anm. 2), S. 13. 48 Ury, Else: Flüchtlingskinder. Eine Erzählung für Kinder von 7–11 Jahren. Berlin: Meidinger’s Jugendschriften Verlag o. J. [ca. 1917]. Das von mir benutzte Exemplar stammt aus der Kinderund Jugendbuchsammlung Walther Ulrich Erwes. Das Erscheinungsjahr nach Asper, Else Ury (wie Anm. 2), S. 16. Die Flucht von Deutschen aus Ostpreußen, „Deutsch-Rußland“ und Polen nennt Else Ury auch in Nesthäkchen und der Weltkrieg (wie Anm. 23), S. 56, 96. 49 Vgl. Ury, Flüchtlingskinder (wie Anm. 48), S. 19, 22. 50 Vgl. Ury, Else: Flüchtlingskinder (wie Anm. 48), S. 37. 51 Vgl. Ury, Else: Flüchtlingskinder (wie Anm. 48), S. 73. 52 Ury, Else: Flüchtlingskinder (wie Anm. 48), S. 207.
Carmen Laux
Von Leipzig nach Stuttgart: Reclam und das Schachlehrbuch Ein Aushängeschild des Reclam Verlags in Leipzig war seit seinem ersten Erscheinen im Jahre 1881 das Kleine Lehrbuch des Schachspiels1 von Jean Dufresne, das sich schon bald als Standardwerk etablierte. Ab der siebten Auflage 1901 wurde es vom Schachgroßmeister Jacques Mieses bearbeitet. Der aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie stammende Mieses galt als einer der angesehensten und vielseitigsten Meister in der deutschen Schachwelt: als Spieler, Journalist, Schriftsteller und Organisator von Turnieren sowie Blind- und Simultanvorstellungen.2 Doch ab 1933 waren auch in der Schachszene die Folgen der neuen politischen Lage zu spüren: Jüdische Spieler wurden aus den Vereinen ausgeschlossen, zur Emigration gezwungen oder gar ermordet. Aufgrund der starken beruflichen Einschränkungen musste schließlich auch Mieses 1938 Leipzig in Richtung London verlassen. Vorher allerdings hatte er noch für einen Nachfolger gesorgt: Der Leipziger Schachmeister Max Blümich, „höherer Postbeamter“3, sollte künftig den Kleinen Dufresne bearbeiten. Mieses verabschiedete sich von Reclam mit den Worten: „Damit dürfte dann diese Angelegenheit, soweit meine Mitwirkung Ihnen gegenüber in Betracht kommt, wohl geregelt sein.“ Ob Mieses wusste oder ahnte, dass Blümich sein Lehrbuch im nationalsozialistischen Sinne überarbeiten würde, bleibt unklar. In jedem Fall wurden in der 15. und 16. Auflage 1941 und 1944 jüdische Spieler nicht oder nur in Verlustpartien erwähnt und Mieses als ehemaliger Co-Autor kurzerhand verschwiegen.4 Mieses kommentierte bitter: „Eines jedoch wird diese fünfzehnte Auflage des ‚Dufresne‘ vor allen ihren Vorgängern und, hoffentlich, auch ihren Nachfolgern voraushaben. Sie bildet in ihrer Art einen drastischen Beitrag zur Nazikulturgeschichte und, als solcher bewertet, dürfte sie sich in der Schachliteratur eine traurige Unsterblichkeit gesichert haben“5 – ein wenig rühmliches Kapitel in der Editionsgeschichte des Schachlehrbuches bei 1 Der Titel Kleines Lehrbuch des Schachspiels wurde ab der 11. Auflage von 1927 abgeändert in Lehrbuch des Schachspiels. Der oft benutzte Name Kleiner Dufresne geht jedoch auf den ursprünglichen Titel zurück. Weitere Bezeichnungen sind Dufresne, Dufresne/Mieses und Schachlehrbuch. 2 Vgl. Ehn, Michael u. Hugo Kastner: Schicksalsmomente der Schachgeschichte: Dramatische Entscheidungen und historische Wendepunkte. Hannover: Humboldt 2014. S. 154f. 3 Dieses und das folgende Zitat aus: Jacques Mieses an Reclam (Konrad Nußbächer), 24.4.1938, Reclam-Archiv Stuttgart. 4 Vgl. Bruns, Edmund: Das Schachspiel als Phänomen der Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Berlin u. a.: LIT 2003. S. 202. 5 Vgl. Ehn/Kastner, Schicksalsmomente (wie Anm. 2), S. 159.
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Reclam. Doch bis eine „bereinigte“ Nachkriegsauflage des Dufresne in Leipzig erscheinen konnte, sollten noch Jahre vergehen. Im Frühjahr 1946 gehörte die Firma Philipp Reclam jun. Leipzig zu den fünf ersten Privatverlagen, die von der Sowjetischen Militäradministration eine Lizenz erhielten. Doch der Wiederaufbau ging schleppend voran und die weitgehende Demontage der verlagseigenen Druckerei im Winter 1946/1947 warf das Unternehmen in seiner Entwicklung weit zurück. Die Verlagsleitung lag zu diesem Zeitpunkt in den Händen Ernst Reclams (1876–1953), der, unterstützt von seiner Prokuristin Hildegard Böttcher, den Neubeginn in Angriff nahm: Neben dem Wiederaufbau von Reclams Universal-Bibliothek sollte nun unter anderem eine Neuausgabe des früher viel verlangten Schachlehrbuches erscheinen. Bereits am 2. Januar 1947 setzte sich Reclam mit Jacques Mieses in Verbindung, um eine Expertenmeinung hierzu einzuholen.6 Die Bearbeitung sollte der Schachspieler und -autor Alfred Brinckmann vornehmen, mit dem Reclam nach Blümichs Tod 1943 Vereinbarungen über eine Neuauflage getroffen hatte. Doch Mieses warnte Reclam eindringlich vor Brinckmann: Dieser sei „mit den Nazis durch dick und dünn gegangen“, „persönlich höchst unzuverlässig“ und habe sich „in Geldangelegenheiten […] höchst bedenklicher Handlungen schuldig gemacht.“7 Ernst Reclam distanzierte sich daraufhin zunächst von Brinckmann. Er schrieb ihm, es sei unter den jetzigen, völlig veränderten Verhältnissen keinesfalls mehr möglich, an die Bearbeitung Blümichs anzuknüpfen, denn schließlich sei 1943 nicht daran zu denken gewesen, „dass der Nazismus gebrochen würde.“8 Vielmehr müsse man sich möglichst nah an die 14., noch von Mieses herausgegebene Auflage anlehnen. „[N]eue Wege“, wie sie Brinckmann vorschwebten, seien bei dem „altberühmten Schachbuch“ keinesfalls angebracht. Zudem benötige er „in politischer Beziehung noch ein eingehendes Zeugnis“ von ihm, „da ja die Nichtmitgliedschaft bei der Partei allein nicht die nationalsozialistische Gesinnung ausschließt.“ Am selben Tag brachte Reclam vier weitere Briefe auf den Weg: Er bat Jacques Mieses, die Neubearbeitung des Schachlehrbuches nun doch selbst zu übernehmen9 und bemühte sich außerdem bei drei von Mieses genannten Gewährsmännern um charakterliche und politische Leumundszeugnisse über Brinckmann.10
6 Der Brief ist nicht erhalten, doch Mieses nimmt in seiner Antwort vom 27.1. Bezug darauf. 7 Jacques Mieses an Ernst Reclam, 27.1.1947, Reclam-Archiv Leipzig (RAL), Akte 4, Bl. 234–236. 8 Dieses und die vier folgenden Zitate aus: Ernst Reclam an Alfred Brinckmann, 8.2.1947, RAL, Akte 1, Bl. 125. 9 Vgl. Ernst Reclam an Jacques Mieses, 8.2.1947, RAL, Akte 4, Bl. 232f. 10 Vgl. Ernst Reclam an Heinrich Wagner und Hermann Römmig, 8.2.1947, RAL, Akte 4, Bl. 242 bzw. Bl. 241 sowie an W. Schönmann, 8.2.1947, RAL, Akte 5, Bl. 216.
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Diese Gutachten trafen im Laufe des Februar und März 1947 in Leipzig ein und schienen Reclams schlimmste Befürchtungen zu bestätigen. Sie beschrieben unter anderem, wie Brinckmann „eine ganze Anzahl von Männern um größere und kleinere Beträge geprellt“11 habe. Obwohl er nie der NSDAP beigetreten war, sei Brinckmann „ein 100%iger Nazi“ gewesen, der enge Beziehungen zum Geschäftsführer des Großdeutschen Schachbundes gepflegt und dabei „alle die hässlichen Dinge gegen die nichtarischen Schachspieler“ unterstützt habe. Eine Morphiumsucht sei dabei die Ursache des meisten Übels gewesen. Brinckmann sei ein „politisches Schaukelpferd“12, „ein genialer Mensch, aber moralisch vollkommen defekt“13. Es blieb Ernst Reclam jedoch erspart, Brinckmann direkt mit diesen Vorwürfen zu konfrontieren, denn dieser trat noch im Februar 1947 freiwillig von seinem Vertrag aus dem Jahr 1943 zurück. Er sei „ein zu eigenwilliger Verfasser“14 für die von Reclam geplante Neuauflage und wolle sich und sein Manuskript nicht, wie von Reclam gefordert, neu orientieren. Allerdings gab er zu bedenken, „dass die Schachtheorie seit der letzten Auflage sich weitgehend geändert hat, vor allem unter den Russen“ und dass man nicht einfach an die 14. Auflage anknüpfen könne – vielmehr sei „mit der Neubearbeitung eine Riesenarbeit verbunden“. Reclams Antwort fiel kühl aus: Er könne Brinckmann zwar nicht zwingen, „eine Arbeit zu leisten, die Ihnen nicht mehr zusagt“15, verlangte allerdings das Vorschusshonorar zurück. Doch Brinckmann vertrat den Standpunkt, es sei nicht seine Schuld, „dass die Dinge jetzt einen anderen Lauf nehmen als 1943“16, schließlich habe er das erste Manuskriptdrittel gemäß der ursprünglichen Abmachung fertiggestellt. Überdies habe er von Mieses einen Brief erhalten, wonach es „eine so gut wie feststehende Tatsache zu sein“ scheine, dass dieser die Neubearbeitung übernehmen solle: „So wie die Dinge jetzt liegen, dürfte dies auch der richtige Weg sein, ja sogar der einzige.“ Auch Mieses war von dem Gedanken angetan, wieder alleiniger Herausgeber des Dufresne zu werden, doch diesem Vorhaben standen wiederum einige Hindernisse im Wege: Der mittlerweile 82-Jährige lebte 1947 immer noch in London und war laut eigener Aussage auf regelmäßigen und sofortigen Geldeingang für 11 Dieses und die drei folgenden Zitate aus: W. Schönmann an Ernst Reclam, 27.2.1947, RAL, Akte 5, Bl. 214f. 12 Heinrich Wagner an Ernst Reclam, 23.2.1947, RAL, Akte 4, Bl. 244–251. 13 Hermann Römmig an Reclam, 14.3.1947, RAL, Akte 4, Bl. 239. 14 Dieses und die beiden folgenden Zitate aus: Alfred Brinckmann an Ernst Reclam, 17.2.1947, RAL, Akte 1, Bl. 123. 15 Ernst Reclam an Alfred Brinckmann, 12.3.1947, RAL, Akte 1, Bl. 122. 16 Dieses und die beiden folgenden Zitate aus: Alfred Brinckmann an Ernst Reclam, 12.4.1947, RAL, Akte 1, Bl. 120.
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seine Arbeit angewiesen. Da dies von Leipzig aus nicht machbar war, sah Mieses seine einzige Möglichkeit darin, zur Bearbeitung der 17. Auflage für einige Zeit nach Deutschland zu kommen. Er plante diese Reise für den Herbst 1947.17 Ein solches Unterfangen war zu dieser Zeit mit zahlreichen Schwierigkeiten verbunden, doch am 26. August konnte Mieses seinem Verleger schließlich vom Erhalt des englischen Reisevisums berichten und kündigte seine Ankunft in Berlin für den 11. September an.18 Dort angekommen, musste er feststellen, dass die Einreisegenehmigung in die Sowjetische Besatzungszone nicht ohne Weiteres zu erlangen war, und die Hoffnung schwand, dass er Leipzig würde besuchen können. In dieser Situation schlug Mieses vor, den Schachmeister Kurt Richter in Berlin als unterstützenden Mitarbeiter zu gewinnen. Fortan sollte er dem Verlag als Ansprechpartner für letzte redaktionelle Fragen zur Verfügung stehen, während Mieses wieder nach London zurückkehrte.19 Richter übernahm bereitwillig diesen Auftrag und führte ihn gewissenhaft aus. Er wollte das Buch sogar einer „durchgreifende[n] Umarbeitung“20 unterziehen, sodass sich Mieses genötigt sah, seinen Mitarbeiter ein wenig zu bremsen. Richter beharrte dennoch auf dem Standpunkt, das Werk bedürfe einer grundlegenden Aktualisierung. Und auch der Verleger ließ sich von der Einschätzung des Berliner Bearbeiters teilweise beeindrucken. Mieses jedoch verwahrte sich entschieden gegen die „durchaus überflüssigen“21 Einmischungen Richters. Er sei eben, „wie dies bei neu hinzukommenden Kräften aus psychologischen Gründen häufig der Fall ist, etwas neuerungssüchtig“. Doch es bestehe in der jetzigen Form des Werks kein Grund, daran zu zweifeln, dass seine Aktualität über mehrere Auflagen hinweg gewährleistet sei. So beantragte Ernst Reclam im Januar 1948 schließlich beim Kulturellen Beirat die Genehmigung zum Satz des Schachlehrbuches. Knapp zwei Monate nach Antragstellung traf schließlich ein Schreiben des Kulturellen Beirats im Verlag ein. Es enthielt die Druckgenehmigung für 10.000 Exemplare des Dufresne, jedoch ohne Papierzuteilung.22 Dennoch konnte nun zumindest der Satz offiziell beginnen. Ob und wann Reclam Mieses von der 17 Vgl. Jacques Mieses an Ernst Reclam, 6.3.1947, RAL, Akte 4, Bl. 228–231. 18 Vgl. Jacques Mieses an Ernst Reclam, 26.8.1947, RAL, Akte 4, Bl. 201f. 19 Vgl. Jacques Mieses an Ernst Reclam, 23.9.1947, RAL, Akte 4, Bl. 200 sowie Ernst Reclam an Kurt Richter, 11.10.1947, RAL, Akte 5, Bl. 188. 20 Kurt Richter an Reclam, 13.11.1947, RAL, Akte 5, Bl. 17f. Vgl. im Folgenden die handschriftlichen Bemerkungen von Jacques Mieses auf einer Abschrift dieses Briefes, RAL, Akte 4, Bl. 185–187. 21 Dieses und das folgende Zitat aus: Jacques Mieses an Ernst Reclam, 30.12.1947, RAL, Akte 4, Bl. 168–170. 22 Vgl. Kultureller Beirat (KB)(Otto Kielmeyer) an Reclam, 5.3.1948, RAL, Akte 44, Bl. 36.
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Entscheidung des Kulturellen Beirats unterrichtete und wie sich die Arbeit am Schachlehrbuch entwickelte, geht aus dem weiteren Briefwechsel zunächst nicht hervor. Erst im September schrieb der Verleger, dass der Satz des Werks noch nicht beendet sei und man das Vorwort anlässlich eines von Mieses für Oktober 1948 geplanten Besuchs in Deutschland persönlich besprechen könne.23 Was danach geschah, kann aufgrund der lückenhaften Überlieferung nur bruchstückhaft nachvollzogen werden. Die ersten Umbruchkorrekturen fanden offenbar im Oktober 1948 statt,24 und im November sorgte ein verschwundenes Manuskript für Aufregung im Verlag: Es handelte sich um die Seiten 423 bis 623 des von Richter bearbeiteten Teils, die offenbar auf dem Postweg verloren gegangen waren.25 Es blieb Ernst Reclam nichts anderes übrig, als den Schachmeister um die wiederholte Bearbeitung dieser Seiten zu bitten.26 „Schweren Herzens“27 machte sich Richter erneut an die Arbeit, die ihn bis Ende Januar 1949 beschäftigte. Viele der zuvor mit Mieses besprochenen Änderungen gingen dabei laut Richters eigener Aussage verloren, insbesondere die Wiederaufnahme der von Blümich seinerzeit entfernten Partien zu den jüdischen Spielern. Im Oktober 1949 schließlich berichteten die Deutschen Schachblätter, dass Jacques Mieses einige Wochen in Berlin geweilt habe, um die sehnlich erwartete 17. Auflage des Schachlehrbuches vorzubereiten.28 Darüber und über die weiteren Vorgänge des Jahres 1949 fehlen in den Akten wieder sämtliche Hinweise. Allerdings erhielt der Verlag am 20. Juli 1949 über den Kulturellen Beirat ein Papier-Sonderkontingent und Ende August noch einmal zehn Tonnen Nebenbahnen- und Ausschussposten.29 Möglicherweise wurde auch der Dufresne damit gedruckt.30 Fest steht lediglich, dass die ersten Exemplare der Neuauflage bis zur Frühjahrsmesse am 5. März 1950 fertiggestellt worden waren, denn dort wurde das Schachlehrbuch zum Buchhändlermagneten (Abb. 1).31 Die Messebestellungen betrugen bereits etwa das Dreifache der gesamten Auflage, sodass die Zuteilungspolitik in diesem Fall besonders viel Fingerspitzengefühl erforderte. Mehr 23 Vgl. Ernst Reclam an Jacques Mieses, 17.9.1948, RAL, Akte 4, Bl. 141. 24 Vgl. Hildegard Böttcher an Kurt Richter, 27.10.1948, RAL, Akte 16, Bl. 179. 25 Vgl. Korrespondenz Reclam und Kurt Richter, 24.11. bis 3.12.1948, RAL, Akte 16, Bl. 173–178. 26 Vgl. Ernst Reclam an Kurt Richter, 10.12.1948, RAL, Akte 16, Bl. 172. 27 Kurt Richter an Reclam, 4.1.1949, RAL, Akte 16, Bl. 167. 28 Vgl. „Ich spielte mit fünf Weltmeistern!“ Gespräch mit dem ältesten aktiven Schachmeister der Welt. In: Deutsche Schachblätter (1949) H. 10. S. 145f. 29 Vgl. KB (Ludolf Koven) an Reclam, 20.7.1949, in RAL, Akte 46, Bl. 62. 30 Vgl. KB (Ludolf Koven) an Reclam, 23.8.1949, RAL, Akte 46, Bl. 47. Die hier angeforderte Meldung darüber, was mit dieser Zuweisung in welcher Auflage gedruckt wurde, fehlt in den Akten. 31 Vgl. Konrad Walter: „Erfahrungen zur Frühjahrsmesse 1950“, 24.3.1950, RAL, Akte 42, Bl. 200.
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als drei Jahre waren vergangen, seitdem Ernst Reclam und Jacques Mieses die ersten Pläne geschmiedet hatten. In weniger als drei Monaten war die gesamte Auflage verkauft. Von den 5.900 Exemplaren teilte der Verlag den Buchhandlungen nach der Messe 5.500 zu, die restlichen 400 Exemplare waren bis Anfang Juni 1950 ebenfalls gänzlich ausverkauft.32
Abbildung 1: Die 17. Auflage von Reclams Schachlehrbuch von 1950. RAL.
Damit begann das letzte Leipziger Kapitel der Editionsgeschichte des Schachlehrbuchs. Aufgrund der außerordentlich starken Nachfrage wurde offenbar noch im Erscheinungsmonat der 17. Auflage ein Antrag auf Druckgenehmigung für eine weitere Auflage gestellt. Anders als noch zwei Jahre zuvor äußerte der Kulturelle Beirat dieses Mal einige Änderungswünsche: Vor einer erneuten Drucklegung solle man das Werk dahingehend überarbeiten, dass „besonders auf den hohen kulturellen Stand des Schachspiels in der Sowjetunion“33 genauer eingegangen wird und die Meisterpartien der sowjetischen Spieler stärker berück32 Vgl. „Auslieferungsbericht“ für das Schachlehrbuch, 8.6.1950, RAL, Akte 174, Bl. 108. 33 KB (Ludolf Koven) an Reclam, 19.4.1950, RAL, Akte 60, Bl. 116.
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sichtigt werden. Sieben internationale Partien mit sowjetischer Beteiligung seien entschieden zu wenig. Der Begriff Russland sei ab 1917 durch „SU“ zu ersetzen und die Spieler der SU im Namensverzeichnis als solche auch zu kennzeichnen. Im Juni 1950 wandte sich Mieses daraufhin persönlich an den Kulturellen Beirat und betonte, dass er „dem sowjetischen Schachleben und Leistungen mit größter Anerkennung und Bewunderungen gegenüberstehe“34 und dies auch in seiner 17. Auflage ausreichend berücksichtigt zu haben glaube. Nachdem Ernst Reclam im Mai 1950 die DDR in Richtung Westen verlassen hatte, übernahm Hildegard Böttcher die Korrespondenz und versuchte, mit Mieses und Richter zu einer Einigung über die Einarbeitung der vom Kulturellen Beirat gewünschten Änderungen zu kommen. Um die Matern der 17. Auflage weiter verwenden zu können, schlug sie vor, die nötigen Ergänzungen in Form eines Anhangs zu realisieren, den Richter erstellen solle.35 Erschwert wurde das Vorhaben einer möglichst schnellen Umarbeitung dadurch, dass Jacques Mieses nicht mehr mit Leipzig kommunizierte, sondern nur noch mit Ernst Reclam in Stuttgart. Die Briefe aus Leipzig blieben oft unbeantwortet. Lediglich anlässlich eines erneuten Besuchs in Berlin im Juli 1950 erklärte sich Mieses bereit, einmal persönlich mit dem Verlag und Richter über das Schachlehrbuch zu verhandeln.36 Am Ende kam man überein, dass Richter die Wünsche des Kulturellen Beirats mittels eines von ihm persönlich unterzeichneten Nachtrags umsetzen und auch die notwendigen Umbenennungen im übrigen Text vornehmen sollte.37 Mieses’ Distanz gegenüber den Leipziger Bemühungen und der Einmischung des Kulturellen Beirats wurde offensichtlich, als er darauf bestand, dass im Vorwort der Hinweis angebracht werden müsse, dass alle neuen Ergänzungen einzig von Kurt Richter stammten. Der Schriftwechsel zum Schachlehrbuch endet im November 1950. Einen Monat später wurde Reclam Leipzig unter Treuhandschaft des Rats der Stadt Leipzig gestellt und damit der Eigentümerfamilie entzogen. Ob der Kulturelle Beirat die umgearbeitete Version des Buches abgesegnet hat, ob sie ihm überhaupt vorgelegt wurde, geht indes aus den Akten nicht hervor. Fest steht, dass die 18. Auflage des berühmten Schachlehrbuches von Dufresne und Mieses nicht in Leipzig herauskam, sondern noch im Jahr 1950 bei Reclam in Stuttgart. Anlässlich einer Leserbeschwerde über die Verwendung der Bezeichnung „Russland“ statt „Sowjetunion“ in der 17. Auflage schrieb der spätere Verlagsleiter Fritz Lessig 1951 an die Landeszeitung der SED, „dass der Herausgeber 34 Abschrift Jacques Mieses an den KB, 18.6.1950, RAL, Akte 16, Bl. 187. 35 Vgl. Hildegard Böttcher an Kurt Richter, 31.5.1950, RAL, Akte 18, Bl. 19. 36 Vgl. Jacques Mieses an Reclam, 30.6.1950, RAL, Akte 16, Bl. 184. 37 Vgl. hier und im Folgenden aus: Hildegard Böttcher an Jacques Mieses, 18.9.1950, RAL, Akte 16, Bl. 147.
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J. Mieses der Neuordnung in der Sowjetunion nicht gerade freundlich gegenübersteht und unserem Drängen auf eine Umarbeitung des Schachlehrbuches bisher nicht nachgekommen ist“38, weshalb dieses seit 1950 noch nicht wieder erschienen sei. Natürlich hätte Lessig den Verlust des Autors Mieses und des Du fresne an Reclam Stuttgart niemals zugegeben. Ob das Werk den Widrigkeiten der DDR-Zensur zum Opfer gefallen ist oder Jacques Mieses lediglich seinem Verleger folgte, mit dem er freundschaftlich verbunden war, lässt sich nicht zweifelsfrei feststellen. Die 17. Auflage des Schachlehrbuches sollte die endgültig letzte aus dem Leipziger Stammhaus sein. Jacques Mieses starb 1954 mit 89 Jahren in London, ein Jahr nach Ernst Reclam. Sein Lehrbuch des Schachspiels erschien fortan bei Reclam Stuttgart, wo es heute bereits in der 31. Auflage vorliegt. „Kein anderes Schachbuch in deutscher Sprache hat so sehr zur Popularisierung des königlichen Spiels beigetragen“39, und 135 Jahre nach seinem ersten Erscheinen wird der handliche und preiswerte Dufresne/Mieses von Schachfreunden noch immer hoch geschätzt.
38 Fritz Lessig an die Landes-Zeitung der SED für Mecklenburg, 31.8.1951, RAL, Akte 12, Bl. 76f. 39 Wieteck, Helmut: Mieses, Jacques. In: Neue Deutsche Biographie 17 (1994). S. 482f. http:// www.deutsche-biographie.de/pnd118582305.html (26.5.2016).
Martin Sabrow
Lebenserinnerung und Parteigedächtnis Zum paradoxen Charakter politischer Autobiografik in der DDR Die parteikommunistische Autobiografik in der DDR litt unter einem unauflöslichen Widerspruch: Sie verlangte von ihren Protagonisten immerfort, dass sie das Allgemeine im Besonderen sichtbar machten und dass sich im persönlichen Erleben zugleich die Avantgarderolle der Partei abzeichnete.1 Mehr noch: Während herkömmlicherweise Lebensberichte nach dem Vorbild von Goethes Wilhelm Meister die allmähliche Reifung durch lebensgeschichtliche Veränderung nachzuzeichnen pflegen, kannte das marxistisch-leninistische Konzept der kommunistischen Avantgardepartei und ihrer stets führenden Rolle weder politische Korrektur noch zeitliche Veränderung. Der Partei, die nie irrte und immer Recht hatte, war Historizität als Wandel in der Zeit wesensfremd. Aber ihr Mythos lebte von den Kadern, die sie verkörperten – nur wo ein Genosse war, war auch die Partei. In der Memoirenliteratur und den Zeugnispublikationen der DDR traf daher der ideologische Anspruch, den Kampf der Partei durch die Lebenserzählungen ihrer Akteure zu beglaubigen, mit der biografischen Gebundenheit ihrer Akteure an die Lebensumstände ihrer Zeit zusammen. Allen autobiografischen Bemühungen von ostdeutschen Parteifunktionären war daher eine Konfrontation zwischen eigener Erinnerung und Parteigedächtnis inhärent, die im Kern auf einem strukturellen Dilemma zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit beruhte, das sich in der geschlossenen Sinnwelt der kommunistischen Politikkultur nicht lösen ließ, nämlich dem Gegensatz zwischen einer auf zeitlicher Gewordenheit beruhenden Lebenserzählung und der auf zeitlose Richtigkeit ausgerichteten Selbstinszenierung der kommunistischen Partei. In einer politischen Kultur, in der die charismatisch überhöhte „Partei“ politische Unfehlbarkeit beanspruchen konnte und uneingeschränkte Definitionsmacht über die Grenzen des Sagbaren ausübte, hätte jedes Eingeständnis, dass die leitenden Kader früher ganz anders gedacht und gehandelt hatten, als es der gegenwärtigen Linie entsprach, den Avantgardeanspruch der Partei in Frage gestellt. Vor diesem Hintergrund musste die Parteiführung schon Anfang der 1960er Jahre vor der Aufgabe kapitulieren, auch nur Reden, Briefe und andere Lebenszeug1 Der Text führt Überlegungen fort, die ich bereits an anderer Stelle entwickelt habe. Vgl. Sabrow, Martin: Memoiren der Macht. Gedachte Geschichte in der Autobiographik kommunistischer Parteifunktionäre. In: Wildt, Michael (Hrsg.): Geschichte denken. Perspektiven auf die Geschichtsschreibung heute. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014. S. 186–207.
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nisse aus dem Nachlass führender Parteifunktionäre zu veröffentlichen, weil sie sich eben nicht in das Raster der zeitlosen Kohärenz einfügen ließen.2 So stellte die Enthistorisierung der Vergangenheit 1974 die Herausgeber der Werke Wilhelm Piecks vor unlösbare Schwierigkeiten: Die meisten Arbeiten Wilhelm Piecks aus den Jahren seit 1945 enthalten eine außerordentliche Häufung von zeitbezogenen Aussagen und Einschätzungen über […] die Politik und den Kampf der SED für die Einheit der deutschen Nation bzw. um die Wiedervereinigung, […] den „besonderen deutschen Weg“ zum Sozialismus, […] Leben und historische Rolle J. W. Stalins, […] Leben und Kampf Mao Tse-tungs, […] die Auseinandersetzung mit dem Titoismus.3
Dem Politbüro schien daraufhin nichts weiter übrig zu bleiben als festzulegen, „daß Editionsvorhaben mit dem Anspruch auf weitgehende Vollständigkeit künftig nicht mehr begonnen werden sollten.“4 Um solchen Widrigkeiten für die Zukunft einen Riegel vorzuschieben und getrieben von der Forderung des wegen seiner Wehner-Feindschaft in der Ära Honecker ins Abseits geratenen Karl Mewis nach einer Neuauflage seiner Memoiren, fasste das ZK-Sekretariat 1974 den Beschluss, höheren Parteifunktionären die Publikation von lebensgeschichtlichen Erinnerungen grundsätzlich zu untersagen.5 Diese radikale Maßnahme erwies sich allerdings als nicht praktikabel, wie das zuständige Politbüromitglied Kurt Hager – der selbst erst nach 1989 zum Autobiografen wurde – dem auf rasche Veröffentlichung drängenden Franz Dahlem erläuterte: Was die Veröffentlichung Deines Buches anbetrifft, so habe ich dem Sekretariat des ZK eine Beschluß-Vorlage unterbreitet, die vorsieht, daß die Veröffentlichung erfolgt unter Auslassung der internen Parteiangelegenheiten, über die wir uns bzw. das Institut für MarxismusLeninismus und Du – bereits verständigt haben. [–] Eine derartige Beschlußvorlage ist notwendig, weil 1974 beschlossen wurde, daß Memoiren von Mitgliedern und Kandidaten des Politbüros bzw. des Zentralkomitees der SED sowie ehemaligen Mitgliedern dieser Gremien
2 Vgl. Pfeil, Ulrich: Konstruktion und Dekonstruktion von Biographien in der DDR-Historiographie. In: Timmermann, Heiner (Hrsg.): Die DDR zwischen Mauerbau und Mauerfall. Münster u. a.: Lit 2003. S. 68–95, hier S. 71–75. Vgl. Sabrow, Martin: Das Wahrheitsproblem in der DDRGeschichtswissenschaft. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte (1996). S. 233–257. 3 IML an Kurt Hager, 16.8.1974, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch), ZPA IV B 2/2.024/59. 4 IML an Kurt Hager, 16.8.1974, SAPMO-BArch, ZPA IV B 2/2.024/59. 5 Vgl. Lokatis, Siegfried: Der rote Faden. Kommunistische Parteigeschichte und Zensur unter Walter Ulbricht. Köln u. a.: Böhlau 2001. S. 355. Vgl. Pfeil, Ulrich: Zwischen Parteilichkeit und Geschichte, „wie ich sie tatsächlich erlebt habe“. Textgenese am Beispiel der Memoiren von Franz Dahlem. In: Deutschland Archiv (2002) Nr. 1. S. 81–89. Vgl. Pfeil, Konstruktion (wie Anm. 2), S. 82f.
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nicht zu veröffentlichen sind. Allerdings wurde dies dann in einem weiteren Beschluß präzisiert und zwar, daß über die Veröffentlichung von geschlossenen Lebenserinnerungen jeweils ein besonderer Beschluß gefaßt werden muß, wobei das Institut für MarxismusLeninismus beim ZK verantwortlich ist für die Einhaltung der Richtlinien, daß kein tieferer Einblick in innere Parteiangelegenheiten gegeben werden darf.6
Ein ausgeklügeltes Verfahren etablierte sich in der DDR auch, um die persönlichen Erinnerungen von einstigen Vorkämpfern der kommunistischen Bewegung zu erheben und öffentlich nutzbar zu machen. Der Kreis von Parteiveteranen, die zur öffentlichen Darstellung ihrer politischen Vita gelangten, war ebenso eng gezogen wie der Erfahrungsschatz, den sie vor ihren Lesern ausbreiten konnten. Jede parteiverbundene Lebenserzählung drohte, die innere Geschlossenheit des historischen Herrschaftsdiskurses anzugreifen und bot zugleich die Chance, die Dogmen der Parteigeschichte mit dem persönlichen Lebensschicksal zu beglaubigen. Widersprüche zwischen Lebens- und Parteigeschichte zu vermeiden, stellte die oberste Maxime der parteikommunistischen Autobiografik dar, und sie ließ das Ideal einer kollektivierten Erinnerung entstehen, die historische Objektivität und gelebte Authentizität miteinander verband. Seine förmliche Institutionalisierung fand dieses Ideal in einem besonderen „Erinnerungsarchiv“ des Parteiapparats, dessen Vorläufer bis 1949 zurückreichten und das sich Anfang der 1960er Jahre im Zuge der Diskussionskampagne um den Grundriß der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung zu einem eigenen Sektor des Zentralen Parteiarchivs im Institut für Marxismus-Leninismus (IML) herausbildete.7 Es sammelte persönliche Zeugnisse kommunistischer Veteranen und stimulierte deren Entstehung mithilfe gezielter Befragungen – aber es sekretierte sie zugleich und publizierte in einer eigenen Schriftenreihe ausgewählte Erinnerungen erst nach mehrstufigen Filterungsprozeduren.8 Einen herausgehobenen Charakter trugen in dieser politischen Gedächtnis wirtschaft die Memoiren führender KPD- und SED-Funktionäre, die in ihrer Lebensgeschichte nicht nur für das Gesicht der Partei standen, sondern auch selbst als deren Dogmenwächter fungierten und so in besonderer Unerbittlichkeit dazu verurteilt waren, in ihren individuellen Erinnerungen das Allgemeine der Partei6 Kurt Hager an Franz Dahlem, 12.11.1975, SAPMO-BArch, DY 30/9995. 7 Vgl. Lokatis, Der rote Faden (wie Anm. 5), S. 194–199. Vgl. Hollmann, Michael: „Erinnerungen als Träger und Vermittler revolutionärer Tradition“. Anmerkungen zur Memoirenliteratur der DDR. In: Oldenhage, Klaus u. a. (Hrsg.): Archiv und Geschichte. Festschrift für Friedrich P. Kahlenberg. Düsseldorf: Droste 2000. S. 877–890. 8 Vgl. Vierneisel, Beatrice: Das Erinnerungsarchiv. Lebenszeugnisse als Quellengruppe im Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. In: Sabrow, Martin (Hrsg.): Verwaltete Vergangenheit. Geschichtskultur und Herrschaftslegitimation in der DDR. Leipzig: Akademische Verlags-Anstalt 1997. S. 117–144, hier S. 130f.
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wahrheit abzubilden. Wie gingen die Repräsentanten der Partei in ihren Erinnerungen mit dem paradoxen Ideal der biografischen Zeitlosigkeit um? Tatsächlich brachten kommunistische Autobiografien es im „Leseland DDR“ nicht gerade auf beeindruckende Zahlen. Entstehung und Erscheinen von Funktionärsmemoiren verdankten sich in der Regel besonderen glücklichen Fügungen und fast in jedem Fall der außerordentlichen Hartnäckigkeit und Leidensbereitschaft ihrer Autoren, die die von ihnen vorgelegten Texte in einer häufig über Jahre hinweg geführten Auseinandersetzung mit verschiedenen Parteiinstanzen durchzukämpfen hatten. Kaum jemand stand diesen Prozess so souverän durch wie der „linientreue Dissident“ Jürgen Kuczynski, der in seinen bis 1945 reichenden Lebenserinnerungen sogar eine angesichts der heiklen Literaturverhältnisse in der DDR denkbar kühne Reflexion auf die Gattung Autobiografie unterbrachte. Deren Spezifika leitete er zudem nicht etwa aus Einlassungen der DDR-Geschichtswissenschaft ab, sondern im Dialog mit Wilhelm von Humboldt und Johann Wolfgang von Goethe, und so schloss er seine Ich-Erzählung folgerichtig auch mit der Hoffnung auf „die Verzeihung unseres größten Autobiographen“ Goethe.9 Sehr viel unsicherer fühlte sich der Funktionär und Schriftsteller Fritz Selbmann in Anbetracht der „Zurschaustellung der eigenen Blöße in Leihbibliotheken und Buchhandelsschaufenstern“ und machte sich eingedenk der dem Menschen eingeschriebenen Eitelkeit nur skeptisch „an das Geschäft des halb ungewollten, halb unbewußten, im Ganzen aber unumgänglichen Opfers auf dem Altar der historischen Wahrheit“.10 Selbmann wusste, wovon er sprach: Die allermeisten in der DDR erschienenen Autobiografien beruhten auf erzählerischen Kompromissen mit dem Parteiapparat, die zwangsläufig den autobiografischen Wahrhaftigkeitspakt mit dem Leser brechen mussten. Diesen Unterwerfungszwang sprachen freilich nur die wenigsten Erinnerungsautoren so unbefangen an wie der in der DDR 1953 unter falschen Anschuldigungen aus seinen Parteiämtern verstoßene und später nur verschämt rehabilitierte Franz Dahlem. Als Alexander Abusch, einst Mitstreiter im französischen Exil, seine Rolle bei Kriegsausbruch 1939 in Dahlems Lebenserinnerungen falsch bewertet fand und sich darüber brieflich bei Dahlem beschwerte, konterte der mit der kühlen Antwort, darauf näher einzugehen wäre „nur möglich gewesen, wenn man die historische Wahrheit geschrieben hätte, wozu die Zeit heute noch nicht reif ist“.11 9 Kuczynski, Jürgen: Memoiren. Die Erziehung des J. K. zum Kommunisten und Wissenschaftler. 2. Aufl. Berlin (O.) u. a.: Aufbau-Verlag 1975. S. 426. 10 Selbmann, Fritz: Alternative – Bilanz – Credo. Versuch einer Selbstdarstellung. 4. Aufl. Halle/Saale: Mitteldeutscher Verlag 1975. S. 7. 11 Franz Dahlem an Alexander Abusch, 25.11.1970, zit. n. Pfeil, Zwischen Parteilichkeit und Geschichte (wie Anm. 5), S. 84.
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Abusch selbst wiederum musste für seine eigenen Memoiren die Streichung derjenigen Episoden und Kapitel akzeptieren, die sich mit der aktuellen Parteilinie so wenig vertrugen wie eine Schilderung der innerdeutschen Kulturbeziehungen oder die Erwähnung der mit den Namen von Noël Field und Rudolf Slánský verbundenen Säuberungskampagnen der späten Stalin-Ära, in deren Strudel der Autor mitgerissen wurde.12 Doch erging es beiden immerhin noch besser, als dem im Zuge der spätstalinistischen Säuberungskampagnen als Zionist und französischer Agent abgeurteilten und später ebenfalls stillschweigend rehabilitierten Altkommunisten Paul Merker, der für die unter Leitung Ulbrichts erarbeitete Parteigeschichte „mehr als eintausend Seiten Erinnerung geliefert“ haben wollte. Ihm blieb am Ende nur das Bedauern, „daß ich keine Gelegenheit hatte, durch meine Erinnerungen zu einer geschichtlich einwandfreien Darstellung […] beizutragen“.13 In anderen Fällen blieb es beim wortlosen Schweigen. Über die lebensgeschichtlichen Ausarbeitungen des ehemaligen KPO-Anhängers Jacob Walcher wurde wegen ihres nur „bedingten Wert[s]“ 1958 parteiintern verfügt, dass sie nicht publiziert, sondern vielmehr „in Verwahrung genommen und im Panzerschrank aufgehoben“ werden sollten – tatsächlich verschwanden sie ganz und tauchten erst sechs Jahre später im Nachlass eines IML-Mitarbeiters wieder auf.14 Nirgendwo kommt die Aporie der biografischen Zeitlosigkeit plastischer zum Ausdruck als in einer – dann ihrerseits der Zensur zum Opfer gefallenen – Passage der Lebenserinnerungen von Alexander Abusch, in denen der Autor über seine ihn bis ins Innerste erschütternde Freisprechung von dem Vorwurf berichtet, ein zionistischer Agent gewesen zu sein: Es geschah im Sommer 1951, daß der Vorsitzende der Zentralen Parteikontrollkommission der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands dem Mann, dessen Geschichte bisher erzählt wurde, entgegenkam mit einem Gesicht, aus dem persönliche Freude leuchtete und sagte: „Also, es ist nichts gewesen.“ […] Schließlich fragte der Angesprochene: „Was ist nicht gewesen? Was ist das Ergebnis des Parteiverfahrens gegen mich?“ Hermann Matern nahm ihn freundschaftlich in den Arm: „Setz Dich doch, bitte! Das Parteiverfahren gegen Dich hat niemals stattgefunden. Verstehst Du immer noch nicht, was ich damit meine?“15
12 Vgl. Abusch, Alexander: Der Deckname. Memoiren. Berlin (O.): Dietz 1981. Vgl. Abusch, Alexander: Mit offenem Visier. Memoiren. Berlin (O.): Dietz 1986. Zu den gestrichenen Textpassagen siehe Hartewig, Karin: Das „Gedächtnis“ der Partei. Biographische und andere Bestände im Zentralen Parteiarchiv der SED in der „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv“. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (1993). S. 312–323, hier S. 320–323. 13 Zit. n. Lokatis, Der rote Faden (wie Anm. 5), S. 306. 14 Zit. n. Lokatis, Der rote Faden (wie Anm. 5), S. 197. 15 Zit. n. Hartewig, Das „Gedächtnis“ (wie Anm. 12), S. 321.
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Aus der persönlich erlebten und politisch negierten Differenz zwischen den Handlungshorizonten der erlebten Vergangenheit und den Handlungsnormen der Gegenwart konnte sich die seltsame Frage entwickeln, die der kommunistische Widerstandskämpfer und spätere Parteifunktionär Karl Mewis seinen Lesern gleich mit den ersten Worten vorlegte: „Man muß darüber schreiben – das ist klar. Nur, was und wie? Wie weit soll man ins Einzelne, Persönliche gehen? […] Soll man mehr persönliche Erinnerungen auskramen, oder darf man sich nur an die allgemeineren politischen Tatsachen halten?“ Der in seinen Erinnerungen vor allem mit Herbert Wehner abrechnende Mewis, der darüber nach Ulbrichts Ablösung rasch ins politische Abseits geriet, formulierte in diesen Eingangsüberlegungen das Problem, das den Charakter der kommunistischen Autobiografik bestimmt: „Und kann man vom eigenen Erleben her alles erzählen, was geschah?“16 Wie bescheiden oder selbstbewusst parteiverbundene Autoren in der DDR mit dieser Herausforderung auch umgingen – keiner von ihnen stellte das grundlegende Axiom in Frage, dass es in der eigenen Lebenserzählung nicht auf die bürgerliche Subjektentfaltung ankomme, sondern auf die Übereinstimmung von „Ich“ und „Wir“. In diesem Sinne reflektierte Karl Mewis eingangs seiner 1971 herausgekommenen Erlebnisse im Kampf gegen die faschistische Diktatur darüber, dass auch „darin viel vom Typischen und Wesentlichen der ganzen Entwicklung enthalten sein“ könne.17 Nicht anders bemühte sich Alexander Abusch, sein persönliches Erleben zu einem „Zeitgemälde“ weiterzuentwickeln: Sosehr sich Memoiren von der rein wissenschaftlichen, objektiven Geschichtsschreibung unterscheiden, so würden sie nicht subjektiv sein, sondern subjektivistisch werden, wenn sie nicht soviel wie möglich Zeit einzubringen und Epochenbewußtsein über den Wirbel der Erscheinungen zu stellen versuchten.18
Kein in der DDR publizierter Lebensbericht gab jedoch zu erkennen, dass er das Produkt eines kollektiven Schreibprozesses darstellte, in dem der Rohstoff der persönlichen Erinnerung erst parteikonform geschliffen worden war. Regelmäßig dankten Autoren dem IML und seinem obersten Linienwächter Ernst Diehl artig „für gute Hinweise und Ratschläge“19 und unterstrichen, dass ihr Buch 16 Mewis, Karl: Im Auftrag der Partei. Erlebnisse im Kampf gegen die faschistische Diktatur. Berlin (O.): Dietz 1971. S. 6. Zur Kaltstellung des erbitterten Wehner-Feindes Mewis unter Honecker siehe die instruktive Darstellung von Scholz, Michael F.: Herbert Wehner in Schweden 1941–1946. München: Oldenbourg 1995. S. 155–188. 17 Mewis, Im Auftrag der Partei (wie Anm. 16), S. 8. 18 Abusch, Der Deckname (wie Anm. 12), S. 10. 19 Seydewitz, Max: Es hat sich gelohnt zu leben. Lebenserinnerungen eines alten Arbeiterfunktionärs. Bd. 2: Mein sozialistisches Vaterland. Berlin (O.): Dietz 1978. S. 477.
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nicht hätte entstehen können, „hätte es nicht Genossen gegeben, die mich dazu ermunterten, und solche, die mir halfen, im Laufe der Jahre Verblaßtes aufzufrischen oder schriftliche Quellen und Ausgangsmaterial zu erschließen“.20 Einen kleinen Verweis auf die auf seine Ich-Erzählung einwirkenden Anpassungsansprüche erlaubte sich Franz Dahlem, der in seinen Memoiren den „Parteihistorikern des Instituts [für Marxismus-Leninismus, M. S.], also meinen ersten kritischen Lesern“, seinen Dank für „eine Reihe wertvoller Hinweise“ abstattete, „denen ich zu einem beachtlichen Teil gefolgt bin“.21 Und listig brachte der Vielschreiber Jürgen Kuczynski in seiner Studie Probleme der Autobiographie22 schon eine Ankündigung seines nächsten Memoirenbandes Dialog mit meinem Urenkel23 unter, um so die Genehmigungsprozedur für das bereits seit zwei Jahren in der Begutachtung schmorende Werk zu beschleunigen.24 Üblicherweise aber blieben die Konflikte zwischen dem Erinnerungsautor und seinen Prüfungsinstanzen dem Leser verborgen. Im Falle Jürgen Kuczynskis etwa legte eine erst einige Jahre nach dem Ende der DDR und ihrer Publikationskontrolle erschienene Ausgabe die von der DDR-Zensur entfernten Stellen mit schwarzen Randmarkierungen offen. Aus ihr geht hervor, dass die ostdeutsche Begutachtungspraxis über die makellose Heldenrolle der sowjetischen Befreier wachte und dafür sorgte, dass alle Erfahrungen des antifaschistischen Kampfes dem Dogma der nie unterbrochenen Führung durch „die Partei“ keinen Abtrag taten. „Das Zensursystem war“, wie eine von dem so produktiven Autorenteam Simone Barck und Siegfried Lokatis zusammen mit Martina Langermann am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam erarbeitete Studie zur literarischen Öffentlichkeit in der DDR bilanzierte, „ein kompliziertes Geflecht vonein ander abgeschotteter und durch verschlungene Pfade verbundener bürokratischer Subsysteme, das auch den Kundigsten immer wieder Rätsel aufgab.“25 Auch die für die nonfiktionale Erinnerungsliteratur zuständige „Gewi“-Zensur glich
20 Hoffmann, Heinz: Mannheim, Madrid, Moskau. Erlebtes aus drei Jahrzehnten. 2. Aufl. Berlin (O.): Militärverlag der DDR 1982. S. 8. 21 Dahlem, Franz: Am Vorabend des zweiten Weltkrieges. 1938 bis August 1939. Erinnerungen. Bde. 1 u. 2. Berlin (O.): Dietz 1977. Bd. 1, S. 14. 22 Kuczynski, Jürgen: Probleme der Autobiographie. Berlin (O.) u. a.: Aufbau-Verlag 1983. 23 Kuczynski, Jürgen: Dialog mit meinem Urenkel – Neunzehn Briefe und ein Tagebuch. Berlin (O.) u. a.: Aufbau-Verlag 1983. 24 Vgl. Lokatis, Siegfried: Angeknabberte Tabus. Das Genre der Autobiographie und die Zensur in der DDR. In: Sabrow, Martin (Hrsg.): Autobiographische Aufarbeitung. Diktatur und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. Leipzig: Akademische Verlags-Anstalt 2012. S. 139–148, hier S. 147. 25 Barck, Simone, Martina Langermann u. Siegfried Lokatis: „Jedes Buch ein Abenteuer“. Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre. Berlin: Akademie-Verlag 1997. S. 432.
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nach den Worten von Siegfried Lokatis einem „zusammengestoppelten, durchlöcherten Flickenteppich“,26 der aus unterschiedlichsten Zuständigkeiten gewoben war und dessen Zensurfäden etwa durch geschickte Gutachterauswahl oder die Mobilisierung politischer Fürsprache aus dem Politbüro gelegentlich zu markant voneinander abweichenden Mustern verknüpft werden konnten, wie etwa die 1974 erschienenen Memoiren des kommunistischen Widerstandskämpfers und späteren Parteifunktionärs Erich Hanke belegen.27 Sein Werk erschien, wie auch die Erinnerungen des langjährigen DDR-Verteidigungsministers Heinz Hoffmann, im Militärverlag der DDR, der die Begutachtungspraxis in Eigenregie betrieb.28 Erst Jahre nach dem Erscheinen stellte sich heraus, dass der Autor schludrig mit seinen Quellen umgegangen war und seine Rolle als Widerstandskämpfer mithilfe glatter Lügen überhöht hatte. Dass das mit solchen Mängeln behaftete Buch durch die Maschen der Zensur geschlüpft war, lag allerdings in diesem Fall keineswegs daran, dass Autor oder Verlag das IML umgangen hätten. Vielmehr lag der Fehler im System der konkurrierenden Zuständigkeiten, wie das eingeschaltete Ministerium für Staatssicherheit in seinen Recherchen herausfand: „Bei den durchgeführten Überprüfungen wurde weiter festgestellt, daß der Autor während seiner Arbeit im IML zum Ausdruck brachte, daß sein Manuskript dem Genossen Erich Honecker vorgelegen haben soll.“29 Vornehmlich der immediate Zugang zur obersten Machtebene konnte fallweise einzelne Löcher ins Netz der bürokratisierten Diskurskontrolle reißen und befestigte damit zugleich die Haltbarkeit ihres Maschengeflechts: Isolierte Vorstöße von ZK-Mitgliedern und arbiträre Entscheidungen des Generalsekretärs erhielten dem Erinnerungsregime des SED-Staates den Anschein einer gewissen Elastizität und den Erinnerungsautoren die Hoffnung auf die mögliche Selbstbehauptung gegenüber der Zensur. Vielleicht kein Buchschicksal hebt die Entstehungsbedingungen kommunistischer Autobiografik so klar hervor wie das mehrbändige, 1977 und 1982 herausgekommene Memoirenwerk Franz Dahlems.30 In den jeweiligen Vorworten beschrieb der Autor als sein erzählerisches Ziel, „aus 26 Lokatis, Der rote Faden (wie Anm. 5), S. 134. 27 Vgl. Hanke, Erich: Erinnerungen eines Illegalen. Berlin (O.): Militärverlag der DDR 1974. Der stark nachgefragte Band brachte es bis 1989 auf vier Auflagen. 28 Hoffmann dankt im Vorwort u. a. Oberst Dietmar Rohlfs, den er als seinen persönlichen Mitarbeiter und das Impressum als Verlagslektor ausweist. 29 Einschätzung Buch „Erinnerung eines Illegalen“, 16.6.1975, Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, HA IX/11 SV 19/77, Bd. 27. 30 Zu Lebzeiten des Autors erschienen im selben Jahr, aber zeitlich versetzt: Dahlem, Am Vorabend (wie Anm. 21). Posthum folgte, aber vom Autor einschließlich des Vorwortes noch autorisiert: Dahlem, Franz: Jugendjahre. Vom katholischen Arbeiterjungen zum proletarischen Revolutionär. Berlin (O.): Dietz 1982.
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der eigenen Kenntnis […] wichtige Erfahrungen des schweren, erfolgreichen Kampfes unserer Partei den nachfolgenden Generationen zu überliefern“31, und ging ganz im Denkstil des historischen Herrschaftsdiskurses entschieden gegen die Gefahr an, dass „Memoiren notwendigerweise viel Subjektives enthalten müssen, woraus nicht nur einseitige Betrachtungen, sondern eventuell auch Fehldeutungen beim Leser erwachsen können“.32 Sein erklärter Wille, mit den Mitteln der Ich-Erzählung „einen bescheidenen Beitrag für die Durchsetzung unserer Politik zu leisten“33 und „ein kleines Stück jenes gewaltigen geschichtlichen Bogens zu veranschaulichen, den das Parteiprogramm der SED spannt“34, muss dem unbefangenen Leser die Vermutung abwegig erscheinen lassen, dass aus einer solchen parteibeflissenen Schreibkonstellation eine besondere Konfliktträchtigkeit hätte erwachsen können. Und doch war es so. Dahlems Erinnerungen wurden zum Gegenstand einer langjährigen und verbissenen Auseinandersetzung um das unerreichbare Ideal einer erzählerischen Verschmelzung von Partei und Persönlichkeit. Das hatte zunächst mit der dramatischen Parteikarriere des aus der katholischen Arbeiterbewegung über die SPD und die USPD zur KPD gestoßenen Lothringers zu tun: Rasch ins ZK aufgestiegen, wurde Dahlem 1930 Reichsleiter der Revolutionären Gewerkschaftsopposition und entwickelte sich im französischen Exil als Leiter des Auslandssekretariats der KPD und Leiter des ZK zum Gegenpol der Moskauer Parteiführung und Rivalen Ulbrichts, bis er 1939 in französische Internierung geriet und später der Gestapo überstellt wurde, um bis Kriegsende im KZ Mauthausen gefangen gehalten zu werden. Den 1946 ins Politbüro der neugegründeten SED berufenen, dann aber 1953 im Gefolge des Slánský-Prozesses als „Zionist“ aus allen Ämtern verstoßenen und später nur halbherzig rehabilitierten Franz Dahlem trieb schon seit den späteren 1950er Jahren der Wille, durch die Veröffentlichung seiner Lebensgeschichte seine politische Ehre wiederherzustellen.35 Zu diesem Zweck begann er schon bald nach seiner Entmachtung, ein umfängliches eigenes Dokumentenarchiv anzulegen, das er sukzessive durch eine Fülle ihm zugesandter persönlicher Erinnerungen ergänzte, die er seit 1967 per Rundschreiben von einstigen Mitstreitern und Weggefährten eingeholt hatte, ohne dazu, wie im IML missgünstig festgestellt wurde, von offizieller Seite autorisiert worden zu sein.36 31 Dahlem, Am Vorabend (wie Anm. 21), Bd. 2, S. 10. 32 Dahlem, Am Vorabend (wie Anm. 21), Bd. 1, S. 7. 33 Dahlem, Am Vorabend (wie Anm. 21), Bd. 1, S. 11. 34 Dahlem, Jugendjahre (wie Anm. 30), S. 9. 35 Vgl. Pfeil, Zwischen Parteilichkeit und Geschichte (wie Anm. 5), S. 84. 36 Vgl. Hartewig, Das „Gedächtnis“ (wie Anm. 12), S. 317.
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Damit verfolgte er allerdings nicht das Vorhaben einer persönlich gefärbten Gegenerzählung zur offiziellen Geschichtsdarstellung, sondern beanspruchte allein, einen eklatanten Irrtum zu korrigieren, den die von seinem Rivalen Ulbricht usurpierte Parteigeschichte mit ihrer „damnatio memoriae“ seiner Person begangen habe. Auf welchem Wege die Wiederherstellung der historischen Wahrheit erfolgen solle, blieb dabei zunächst offen. 1965 drängte Dahlem öffentlich auf einem ZK-Plenum sowie brieflich gegenüber Ulbricht erfolgreich darauf, dass seine historiografische Auslöschung in der DDR-Geschichtsliteratur rückgängig gemacht werde und erlebte auch die Genugtuung, als offiziell bestellter Gutachter zu den Sitzungen des Autorenkollektivs für die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung hinzugeladen zu werden.37 Dass ihm dies nicht genügte, belegt sein rechtzeitig vom Parteiapparat unterbundenes Bemühen, in einem Erinnerungsband zu Ehren Georgi Dimitrows auf Bulgarisch einen lebensgeschichtlichen Text unterzubringen, der „nicht mit der in der achtbändigen ‚Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung‘ gegebenen Linie“ konform gehe.38 Erst mit dem Machtwechsel an der SED-Spitze 1971 sah Dahlem seine Stunde gekommen. Von dem frisch zum neuen Ersten Sekretär des ZK gekürten Honecker verlangte er zu seinem bevorstehenden 80. Geburtstag volle parteioffizielle Rehabilitation und flankierend die Publikation eines Auswahlbands seiner Reden und Artikel. In diesem Zusammenhang fühlte er aber auch vor, wie Honecker sich zu der Idee des von der Partei zu Unrecht Verstoßenen verhielt, seine eigene Sicht der Entwicklung der Nachwelt zu überliefern: „Wie Dir bekannt, befasse ich mich seit längerem mit der Niederschrift meiner parteigeschichtlichen Lebenserinnerungen, die allerdings vorerst nicht in erster Linie für eine Veröffentlichung gedacht sind. Zur Zeit arbeite ich an dem Abschnitt meiner KZ-Zeit. Diesen Teil würde ich jedoch gern publizieren.“39 Mit der aus westlicher, nicht aber aus östlicher Sicht paradoxen Begriffsprägung „parteigeschichtliche Lebenserinnerungen“ hatte Dahlem eine autobiografische Utopie formuliert, die auch den Staatschef überzeugte. Der riet Dahlem in einer persönlichen Unterredung vom Dezember 1971, sich im Interesse einer breiteren Rezeption doch lieber auf die Abfassung seiner
37 „Was mich persönlich betrifft, muss ich darauf bestehen, dass die erfolgte Streichung aus der Geschichte der Partei- und Arbeiterbewegung […] auf merkbare Weise korrigiert wird.“ Franz Dahlem an Walter Ulbricht, 1.8.1965, zit. n. Pfeil, Konstruktion (wie Anm. 2), S. 76. Tatsächlich verfügte Ulbricht bereits zwei Tage später, „bei solchen geschichtlichen Großereignissen wie dem Ruhrkampf […] auch Genossen Franz Dahlem zu nennen“ und ihn auch „zu den Aktivisten der ersten Stunde zu zählen, der dem Einheitsausschuß der KPD/SED angehörte“. Walter Ulbricht an das IML, 3.8.1965, zit. n. Lokatis, Der rote Faden (wie Anm. 5), S. 307. 38 IML an Walter Ulbricht, 2.8.1968, zit. n. Lokatis, Der rote Faden (wie Anm. 5), S. 342. 39 Franz Dahlem an Erich Honecker, 28.7.1971, SAPMO-BArch, DY 30/9990.
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Memoiren als auf den Nachdruck alter Reden zu konzentrieren,40 und würdigte ihn darüber hinaus in einem warmen Glückwunschschreiben zum 80. Geburtstag, das der Geehrte als volle Genugtuung empfand.41 Mit dieser Unterstützung im Rücken, die er durch ein emphatisches Bekenntnis gegenüber Honecker zum Primat des Politischen auch im Persönlichen noch zu stärken suchte,42 ging Dahlem mit bemerkenswerter Energie daran, die überkommene Kampflinie zwischen subjektiven Lebenserinnerungen und objektiver Parteigeschichtsschreibung so zu verschieben, dass plötzlich dem persönlichen Zeugnis ein höherer Wahrheitsgehalt zukam als der anerkannten Meistererzählung der Partei: Zur Abfassung meiner Erinnerungen habe ich einen festen Standpunkt, die geschichtliche Entwicklung aus dem eigenen Erleben so niederzuschreiben wie sie sich tatsächlich vollzogen und in den Dokumenten der Partei ihren Niederschlag gefunden hat. Davon werde ich im Unterschied zu anderen auch dann nicht abgehen, wenn ich damit in der einen oder anderen Frage in Widerspruch zu bisherigen Veröffentlichungen zur Parteigeschichte geraten sollte.43
Hier deutete sich die Frontstellung bereits an, die sich rasch zu einer jahrelangen Auseinandersetzung um Dahlems Lebensbericht verfestigen sollte. Wieder und wieder beschwerte er sich mit immer drängenderem Bezug auf sein Alter gegenüber dem IML, Kurt Hager und Erich Honecker über den stockenden Fortgang der Verlagsarbeit. In derselben Zeit sammelte das IML hingegen Gutachterurteile ein, die sich mehr oder minder dezidiert gegen eine Publikation in der vorliegenden Form aussprachen. So befand Hermann Axen: Insgesamt kann man die Memoiren als wertvolles, wenn auch sehr subjektives und teilweise sehr lückenhaftes Material beurteilen. Es wäre sehr zu empfehlen, dieses Material für die Erforschung der Parteigeschichte dem Institut für Marxismus-Leninismus integral zur Verfügung zu stellen. [–] Für eine Veröffentlichung könnten bei kollektiver Beratung durch eine entsprechend zusammengesetzte Kommission Auszüge aus den Memoiren durchaus ausgewählt werden.44
40 Vgl. Franz Dahlem an Erich Honecker, 18.11.1973, SAPMO-BArch, DY 30/9990. 41 Dahlem, Franz: Nachgelassenes. Ausgelassenes. Über einen Prozeß und die Schwierigkeiten seiner richtigen Beurteilung. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (1990) H. 1. S. 17–25, hier S. 25. 42 Vgl. Franz Dahlem an Erich Honecker, 14.12.1971, SAPMO-BArch, DY 30/9990. 43 Franz Dahlem an Erich Honecker, 18.11.1973, SAPMO-BArch, DY 30/9990. 44 Hermann Axen, Bemerkungen zu den Memoiren des Genossen Franz Dahlem, 16.4.1974, SAPMO-BArch, DY 30/9996.
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Das IML schloss sich diesem Urteil an und untersetzte es mit einem umfassenden Streichkatalog, der in keinem einzigen Fall sachliche Irrtümer anführte, sondern sich ausschließlich auf politische Opportunitätsgründe bezog: Die Erinnerungen enthalten eine Reihe von Interna über Personen und Ereignisse aus der Geschichte der Partei, die bisher in der DDR weder in Erinnerungen noch in Darstellungen publiziert wurden. […] Die Erschießung des Verräters Kattner durch die KPD sollte gestrichen werden. Diese Tatsache ist bisher von unserer Seite auch nicht erwähnt worden. […] Jedoch bleibt die Publizierung von Fehlern Walter Ulbrichts in relativ ausführlicher Weise problematisch. […] Über Verhaftungen von Genossen in Moskau: Die Angaben darüber sollten gestrichen werden. In sowjetischen Darstellungen neueren Datums wird auf diese Problematik sehr zurückhaltend eingegangen, und es sollte nichts getan werden, um Diskussionen darüber zu beleben […]. […] Entsprechend den Erfordernissen des aktuellen politischen Kampfes und in Übereinstimmung mit der Praxis der sowjetischen Parteigeschichtsschreibung wird empfohlen, den Abschnitt „Über einen Prozeß und die Schwierigkeiten seiner richtigen Beurteilung“ (Erinnerungen über die Teilnahme des Autors am Prozeß gegen Bucharin, Jagoda u. a.) […] nicht zu veröffentlichen. Das bezieht sich auch auf die Passagen in denen der Autor [auf] sein Schicksal 1953 und auf seine Rehabilitierung sowie auf die Rolle Noel Fields eingeht.45
Grundsätzlich hatte sich auch Dahlem selbst mit einer solchen Behandlung seiner Lebensgeschichte unter dem Gesichtspunkt der politischen „Zweckmäßigkeit“ einverstanden erklärt und Honecker entsprechend wissen lassen: „Allerdings bin ich mir dabei durchaus bewußt, daß heute noch nicht über alles öffentlich geschrieben werden kann, d. h. ich bestimmte ‚Lücken‘ lassen muß. Ich möchte mich also vor allem mit Dir beraten, wo heute noch die Grenze zu ziehen wäre. Die damit zusammenhängenden Fragen möchte ich mündlich vortragen.“46 Dennoch zerstörte am Ende der Widerstand des institutionellen Parteigedächtnisses das utopische Ideal „parteigeschichtlicher Lebenserinnerungen“. Zwar gelang es Dahlem, die tatsachenwidrigen Überhöhungen der Moskauer KPD-Fraktion, die der Parteihistoriker Klaus Mammach gleichzeitig verbreitete,47 als sachlich unhaltbar zurückzuweisen und „unvereinbar mit den Prinzipien der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft“ hinzustellen.48 Nachdem eine eigens eingesetzte Kommission befunden hatte, die Rivalität zwischen Moskauer und Pariser Parteileitung aus politischer Verantwortung nicht in jeder Hinsicht ganz tatsachengerecht geschildert zu haben, konnte IML-Direktor Günter 45 IML, Gutachten zu Franz Dahlems Ms., Am Vorabend des zweiten Weltkriegs (1938 bis August 1039), 5.11.1974, SAPMO-BArch, DY 30/9996. 46 Franz Dahlem an Erich Honecker, 18.11.1973, SAPMO-BArch, DY 30/9990. 47 Vgl. Mammach, Klaus (Hrsg.): Die Berner Konferenz der KPD (30. Jan.–1. Febr. 1939). Berlin (O.): Dietz 1974. 48 Zit. n. Pfeil, Konstruktion (wie Anm. 2), S. 87.
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Heyden seinem Mitarbeiter nur mit einer Ehrenerklärung zur Seite stehen, die dessen fachlichen Ruf noch weiter ruinieren musste: Es ist deutlich geworden, daß Genosse Mammach in seinem Buch Einschätzungen gegeben hat, die nicht in jeder Hinsicht den objektiven Tatsachen entsprechen […]. Das aber berechtigt meiner Meinung nach nicht dazu, Genossen Mammach als Geschichtsfälscher zu charakterisieren. Seine Motive sind parteilich und sein Bemühen, die Kontinuität der Führung der KPD beweiskräftig zu begründen, muß unsere Unterstützung finden.49
Doch im Ganzen musste Dahlem zahlreichen Überarbeitungsforderungen nachgeben, um das Erscheinen seiner Memoiren wenigstens in einer „gestrafften“ Version möglich zu machen, und gelangte am Ende seines Lebens als kommunistischer Führungskader zu dem resignierten Urteil, dass er die Geschichte nicht so habe darstellen können, „wie ich sie erlebt habe und wie sie tatsächlich war“.50 Dahlem „übte Disziplin“ und empörte sich nur noch schwach gegenüber Hager, über die Schatten der Parteigeschichte wortlos hinweggehen zu müssen.51 Um im Gegenzug von Hager die mit Honecker abgesprochene Druckgenehmigung zu erhalten, strich er aus seinem Manuskript die autobiografischen Reflexionen über seine „schwerwiegenden, nicht mehr verstummenden inneren Zweifel“ an den stalinistischen Säuberungskampagnen in der kommunistischen Hemisphäre, die sein langjähriger Vertrauter und Mitarbeiter Horst Blumberg erst nach dem Zusammenbruch der Diktatur aus dem Nachlass öffentlich mitteilen konnte.52 Dahlem ging „mit viel Bitterkeit im Herzen“ aus dem Leben, wie ihm Blumberg nachrief,53 als die Zensur ihr Ende gefunden hatte, aber sein Konzept „parteigeschichtlicher Lebenserinnerungen“ hatte immer nur einen wirklichkeitsfremden Traum bedeutet. Nicht weniger aufschlussreich als die von der Zensur ausgehenden äußeren Formungskräfte sind die von ihren Autoren verfolgten inneren Baupläne kommunistischer Autobiografien. Wie jeder Autobiograf ordnete auch der der SED verpflichtete Ich-Erzähler seine Entwicklung zu einem sinnhaften Zusammenhang und suchte seinem Leben im Rückblick Sinn und ein Mindestmaß an Kontinuität zu verleihen, das noch die härtesten lebensgeschichtlichen Umbrucherfahrungen 49 Günter Heyden an Kurt Hager, 30.5.1974, SAPMO-BArch, DY 30/9994. 50 Franz Dahlem an Heinz Köller, 25.1.1968, zit. n. Pfeil, Konstruktion (wie Anm. 2), S. 88. 51 „Ich habe mich im Sommer 1975 damit einverstanden erklärt, alle indirekten Hinweise auf 1953 zu streichen, aber damals wurde nicht von mir gefordert, daß ich auch bestimmte Tatsachen, die nicht eindeutig damit im Zusammenhang stehen, verschweigen muss.“ Franz Dahlem an Kurt Hager, 12.11.1975, zit. n. Hartewig, Das „Gedächtnis“ (wie Anm. 12), S. 318. 52 Vgl. Dahlem, Nachgelassenes (wie Anm. 41), S. 21, 25. Über die weiteren vor Drucklegung erfolgten Streichungen im Manuskript vgl. Hartewig, Das „Gedächtnis“ (wie Anm. 12), S. 318f. 53 Vgl. Dahlem, Nachgelassenes (wie Anm. 41), S. 25.
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in die Ich-Synthese des Erzählers zu integrieren erlaubte.54 Wer die Handlungsfäden seines Lebens nicht zu einer kohärenten Lebensgeschichte zusammenzuführen oder die peinlich pochenden oder schamhaft abgedrängten Facetten seiner Vergangenheit nicht mit dem Kontinuitätsanspruch des erzählenden Ichs zu vereinbaren wusste, der sah sich als Parteifunktionär auch in der DDR zur öffentlichen Verschwiegenheit über sein Leben verurteilt. Für nicht wenige DDR-Repräsentanten blieben die immer wieder neu erfragten Lebensläufe in der Kaderakte die einzige biografische Textsorte, in der die dunklen Flecken der eigenen Vergangenheit schonungslos offenbar wurden – und etwa im Fall verschwiegener Mitgliedschaften in NS-Organisationen manchmal nicht einmal dort. Prominente Parteifunktionäre wie Albert Schreiner und Willi Stoph erlegten sich selbst ein lebenslanges autobiografisches Schreibverbot auf, weil sie der Schmach ihres zeitweiligen Abfalls von der Partei anders nicht glaubten begegnen zu können. Die erdrückende Mehrheit ostdeutscher Erinnerungsautoren sah erst nach 1989 die Stunde eines mit dem Willen zur Wahrhaftigkeit verfassten Lebensberichts gekommen, um dann im Sinne Karl Schirdewans ihre „detaillierten Kenntnisse über das Funktionieren des stalinistischen Systems Ulbrichtscher Prägung in den allgemeinen Aufklärungsprozeß einzubringen“ oder ihren eigenen Anteil am Scheitern des sozialistischen Experiments biografisch zu verarbeiten.55 Gegenüber dieser postkommunistischen Bewältigungsliteratur nach 1989 und auch der ex-kommunistischen Abkehrbiografik vor 198956 aber lassen sich die Memoiren von DDR-Parteifunktionären als besonderer Typus mit eigenen Bauformen des biografischen Erzählens fassen, nämlich als prokommunistische Ankunftsliteratur. Weit stärker als beiden anderen Erzählmustern der Abkehr und der Bewältigung stellt die Organisationsform der Ankunftsbiografie auf die Folgerichtigkeit der lebensgeschichtlichen Reifung ab, die sich als schroffe Lossagung von den bürgerlichen Herkunftsbanden erzählen ließ oder als schrittweise erfolgendes Hineinwachsen in den Kosmos der kommunistischen Bewegung. Von der radikalen Konversion des privilegierten Adelssprosses bis zur prononcierten 54 Autobiografisches Schreiben „stellt […] Kontinuität her, die zur Gegenwart hinführt und prinzipiell zukunftsoffen ist. […] Das maßgebliche Sinnbildungskriterium der ‚Lebenserinnerungen‘ ist eine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfassende Kontinuitätsvorstellung.“ Günther, Dagmar: „And now for something completely different“. Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft. In: Historische Zeitschrift (2001) H. 272. S. 25–61, hier S. 52. 55 Schirdewan, Karl: Ein Jahrhundert Leben. Erinnerungen und Visionen. Autobiographie. Berlin: Edition Ost 1998. S. 301. 56 Zur Typologie der biografischen Auseinandersetzung mit der Welt des Kommunismus: Sabrow, Martin: Den Umbruch erzählen. Zur autobiographischen Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit. In: Bösch, Frank u. Martin Sabrow (Hrsg.): ZeitRäume. Potsdamer Almanach. Göttingen: Wallstein 2012. S. 143–158.
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Kontinuität des Kindes aus einer klassenbewussten Arbeiterfamilie spannt sich der Bogen der ankunftsbiografischen Erzählstruktur. Immer aber wird das vorwärts gelebte und rückwärts verstandene Leben in der kommunistischen Biografik als Weg zur Erleuchtung geschildert, die das Ich im Lauf einer oft mühsamen Aufklärungs- oder Selbstaufklärungsphase die Welt plötzlich mit neuen Augen sehen lässt: Nun pilgerten wir alle vierzehn Tage zu einer Schule im Westen Berlins und hörten hier in der Aula Philipp Dengel über historischen und dialektischen Materialismus sprechen. Wir scheuten den weiten Weg nicht. Alles, was man uns in der Volksschule an geschichtlichen und naturwissenschaftlichen Fakten beigebracht hatte, sahen wir nun mit anderen Augen, wir sahen die wirklichen Zusammenhänge von Ereignissen und Erscheinungen. Wie umfassend war die neue Lehre!57
Gerne nutzen Ankunftsbiografien die Form des bürgerlichen Bildungs- und Entwicklungsromans, um sie sozialistisch zu wenden und das Aufgehen ihrer bürgerlichen Individualität im politischen Kollektiv der Partei zu schildern. Buchtitel wie Alfred Kurellas Unterwegs zu Lenin58 oder Max Seydewitz’ Es hat sich gelohnt zu leben59 fassen den lebensgeschichtlichen Bruch mit dem eigenen Herkommen als Heilung auf und betten ihn als Entwicklungsschritt in das größere Ganze der Menschheitsbefreiung ein, deren kontinuierlicher Gang noch mit den Weihen der historischen Gesetzlichkeit und ihrer Zukunftsorientierung ausgestattet wird. Das lerngeschichtliche Erleuchtungsnarrativ erlaubt es, Abweichungen, „Fehler“, „Schwankungen“, „Auseinandersetzungen“ als Teil der Reifung zu integrieren – die einzige Möglichkeit, um die Verschlungenheit individueller Lebenswege in die Geschlossenheit des Kommunismus als Sinnwelt zu integrieren. Auch die kommunistische Autobiografik steht damit in der Erzähltradition von Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahren, aber sie dreht den Bildungsgedanken um: Aus der angestrebten Individualisierung wird die ersehnte Vergemeinschaftung im politischen Kollektiv. Immer liegt ihr das individuelle Bekenntnis zur hegelianischen Selbstaufgabe zugrunde, die das persönliche Leben ganz in der sozialistischen Sache aufgehen lässt. In der Erinnerung der parteiverbundenen Berufsrevolutionäre folgt das eigene Leben ganz dem Takt der politischen Verhältnisse und erscheint die Ankunft des „sozialistischen Zukunftsstaates“ als
57 Becker, Franz: Vom Berliner Hinterhof zur Storkower Komendatura. Berlin (O.): Dietz 1985. S. 84f. 58 Kurella, Alfred: Unterwegs zu Lenin. Erinnerungen. Berlin (O.): Verlag Neues Leben 1967. 59 Seydewitz, Max: Es hat sich gelohnt zu leben. Lebenserinnerungen eines alten Arbeiterfunktionärs. Berlin (O.): Dietz 1976.
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biografische Erfüllung.60 Aus dieser Konstellation folgte, dass in der kommunistischen Autobiografik das private Leben nur dann erzählenswert erschien, wenn dies dem politischen Einsatz diente; mehr noch, dass eine Aufgabe des politischen Haltes in der kommunistischen Bewegung dem Verlust der biografischen Identität gleichgekommen wäre. In diesem Sinne konnte Kuczynski den konsequenterweise mit seinem Parteieintritt endenden ersten Teil seiner Memoiren, in denen er von sich selbst nur als „J. K.“ spricht, mit dem emphatischen Bekenntnis abschließen: „Vom ersten Tag an war ich glücklich in der Partei. […] Aus der Partei auszutreten hätte mir geschienen, wie aus dem Leben, wie aus der Menschheit auszutreten.“61 Mehr noch als den punktuellen Eingriffen der Zensur ist es den strukturellen Organisationsmustern der erzählten Erinnerung zuzuschreiben, dass die Lebenszeugnisse der ostdeutschen Berufsrevolutionäre sich so einförmig und gleichgerichtet lesen. Insofern war es weder Zufall noch Liebedienerei, sondern vor allem auf die Wirkungskraft der herrschenden autobiografischen Schreibgesetze zurückzuführen, wenn sich Franz Dahlem bei der Lektüre der Memoiren Erich Honeckers eine überraschende Erkenntnis aufdrängte: Beim Vorlesen Deiner Biografie „Aus meinem Leben“ stellte ich ständig mit Erstaunen fest, daß wir eine Reihe von Gemeinsamkeiten in unserer Vergangenheit haben. […] Durch das Kennenlernen Deines Lebensweges und Deiner Entwicklung wurden mir jetzt Zusammenhänge klar, auf die ich in meinen Memoiren eingehen werde und die die Zeit betreffen, in der ich als Berater der Komintern nach Frankreich fuhr und bei der Durchreise auch Deinen Vater kennenlernte.62
Wie weit die strukturellen Gemeinsamkeiten ihrer autobiografischen Schreibstrategien reichten, illustriert eine narrative Nebenfigur, auf die fast alle ostdeutschen Erinnerungsautoren zurückgriffen: Auf dem Weg der Erleuchtung begegnete ihnen regelmäßig ein wissender Begleiter, der das politische Erwachen des autobiografischen Ichs mit kluger Zurückhaltung und gelegentlichem Eingreifen begleitet; Erleuchtung vorbereitet in einem Entwicklungsnarrativ, das die Abweichung von der Wahrheit aus Blindheit, Unerfahrenheit erklärt: „Vater Brosig“, schilderte Artur Becker seine Erleuchtung, war mir schon oft durch seine klugen und sachlichen Vorschläge aufgefallen. Meist stimmten unsere Meinungen in schulischen und politischen Fragen überein. […] Er erzählte von seinen Erlebnissen im ersten Weltkrieg, von den von ihm geführten Streiks und von seiner 60 Vgl. Depkat, Volker: Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. München: Oldenbourg 2007. S. 235. 61 Kuczynski, Memoiren (wie Anm. 9), S. 158. 62 Franz Dahlem an Erich Honecker, 25.8.1981, SAPMO-BArch, DY 30/9994.
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Parteiarbeit. Dabei beobachtete er meine Reaktion. Das war für ihn wohl ein Stückchen Parteiarbeit. Er kannte meinen Lebenslauf nicht […]. Deshalb ging er vorsichtig vor: Er erzählte uns von den Aufgaben der Internationalen Arbeiterhilfe. So wurden Friedel und ich 1930 Mitglied der IAH [Internationalen Arbeiterhilfe, M. S.].63
Für andere Erinnerungsautoren führten weniger Menschen als Schriften das Wandlungserlebnis herbei. Alexander Abusch berief sich in seinen Memoiren auf die Lektüre von Morus, Marx und Engels: „Ich erlebte beim Lesen zunächst etwas Merkwürdiges: Alles, was in der Kindheit bei dem erzwungenen Lernen der Biblischen Geschichte märchenhaft meine Phantasie angeregt hatte […], kehrte nun verändert wieder und beschäftigte mich ungeheuer, riß mich hin und her bei dem, was ich nicht völlig verstand.“64 Die ankunftsbiografische Schreibstrategie kannte Umwege und Verzögerungen der „Erziehung zum Kommunisten“, wie Jürgen Kuczynski seine Memoiren programmatisch überschrieb, aber sie besaß keine integrierende Erzählmöglichkeit für Abfall und Ausschluss. Bevor Franz Dahlem seine Erinnerungen überhaupt schreiben konnte, bedurfte es zuvor eines sichtbaren Beweises nicht nur seiner Wiederaufnahme in die kommunistische Führungselite, sondern auch des förmlichen Widerrufs seines seinerzeitigen Ausschlusses. Nachdem Honecker ihm diesen Gefallen Anfang 1972 getan hatte, erbat er sich die schriftliche Fassung der Rehabilitierungsworte, um sich durch ihren brieflichen Versand an Weggefährten autobiografische Schreiblegitimation zu verschaffen.65 Alexander Abusch wiederum ließ das traumatische Erlebnis seiner anderthalbjährigen innerparteilichen Verfolgung und Isolierung an seiner Ich-Identität in solchem Maße zweifeln, dass der Ich-Erzähler sein erzähltes Ich förmlich abspaltete: „Sprechen wir wieder einmal in der dritten Person, denn was passierte, das scheint mir wie ein fernes Erlebnis, in das eigentlich nicht der Erzählende nach seinem ganzen bisherigen Leben, sondern nur ein anderer verwickelt werden konnte.“66 Wie die Beispiele illustrieren, vertrug sich das ahistorische Führungsdogma der SED selbst bei den wenigen Parteifunktionären, die mit dem Privileg der öffentlichen Selbstreflexion ausgestattet waren, nicht mit dem Anspruch auf lebensgeschichtliche Authentizität. Dennoch wäre es eine erkenntnisverstellende Vereinfachung, die kommunistische Autobiografik als bloßes Lügengewebe abzustempeln und als „Symptom […] der geistigen Unfreiheit“ zu begreifen, 63 Becker, Vom Berliner Hinterhof (wie Anm. 57), S. 83. 64 Abusch, Der Deckname (wie Anm. 12), S. 26. 65 „Es wäre mir lieb, wenn Du mir eine Copie Deiner Ansprache auf dem Essen des ZK geben würdest. Es sind darin einige Angaben enthalten, die ich später in meinen Erinnerungen verwenden möchte.“ Franz Dahlem an Erich Honecker, 19.1.1972, SAPMO-BArch, DY 30/9990. 66 Zit. n. Hartewig, Das „Gedächtnis“ (wie Anm. 12), S. 321.
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„die Selbsterkenntnis und Bekenntnis im Lebensrückblick ausschließt und damit die echte Autobiographie unmöglich macht“.67 Entstehung und Veröffentlichung der Lebensberichte auch von höchsten Parteifunktionären waren von einem zwar unerfüllbaren, aber von beiden Seiten in der Regel ernsthaft angestrebten und fast immer hart umkämpften Anspruch geprägt, persönliche Lauterkeit mit politischer Zweckmäßigkeit in Übereinstimmung zu bringen und zu einer alle Beteiligten überzeugenden Beglaubigungserzählung zu gestalten. Sie kreisten um den Wert des „subjektiven Faktors“ und die Gefahr, dass „durch überzogene Objektivierung der Mensch aus der Geschichte herausfällt“68, und verhandelten damit immer neu das Existenzrecht einer Textsorte, die in der ostdeutschen Erziehungsdiktatur gleichermaßen propagandistisch bejaht wie ideologisch verneint wurde. Im Ergebnis entstand so ein literarisches Genre, dessen Fiktionalität ganz der heutigen Theoriediskussion um den selbstreferenziellen Charakter der Autobiografie insgesamt entsprach, zugleich aber von Autoren und Zensoren als zwar konflikthaftes, aber doch gleichgerichtetes Streben nach der „objektiven“ Wahrheit über die Vergangenheit verstanden wurde.69 Wer der autobiografischen Überhöhung eigener historischer Verdienste überführt wurde, büßte auch im Geschichtsdiskurs des SED-Staates mit publizistischer oder – wie Karl Mewis – fallweise auch persönlicher Marginalisierung. Damit erweisen sich auch noch so überformte Lebensberichte von DDR-Erinnerungsautoren als aussagekräftige Texte. Sie geben Einblick in die literarischen Baugesetze eines paradoxen Modus der Geschichtserzählung in der DDR, und sie machen die legitimatorische Verfassung einer „partizipativen Diktatur“ (Mary Fulbrook) sichtbar, deren Herrschaft nicht zuletzt auf der oktroyierten Einsicht und der behaupteten Zustimmung ihrer handelnden Akteure und reflektierenden Autoren gründete.
67 Schmolze, Gerhard: Unseliges und seliges Erinnern. Das Problem der Autobiographie in der DDR. In: Deutsche Studien (1981) H. 19. S. 73–95, hier S. 92f. Vgl. Bomke, Heidrun: Vergangenheit im Spiegel autobiographischen Schreibens. Untersuchungen zu autobiographischen Texten von Naturwissenschaftlern und Technikern der DDR in den 70er und 80er Jahren. Weinheim: Deutscher Studien-Verlag 1993. S. 12. 68 „Die Übereinstimmung mit der Epoche war soweit getrieben, daß man die Individualität ausgetilgt hatte“, diagnostizierte die Literaturwissenschaft der DDR selbst in den 1980er Jahren. Mittenzwei, Werner: Zur Biographie Brechts. Diskussion. In: Sinn und Form (1985) H. 2. S. 257f. 69 Die Spannung, in der sich „das autobiographische Schreiben als kollektiver Prozeß“ von Autor und Parteigedächtnis entfaltete, veranschaulicht am Beispiel der Memoiren von Max Seydewitz die Studie von Depkat, Lebenswenden (wie Anm. 60), S. 80–90.
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Wurde Hilbigs Stimme. Stimme auf der Leipziger Buchmesse ausgestellt?1 Ein Bericht aus dem Reclam-Projekt Achtzehn Master-Studenten und zwei Seminarleiterinnen2 begaben sich im Wintersemester 2010/11 auf eine spannende Reise ins Reclam-Archiv der Jahre 1945 bis 1991, das sich seit 2008 als Depositum in der Abteilung Buchwissenschaft der Universität Leipzig, Hainstraße 11, befindet. Im Projektseminar „Buch und Gesellschaft: Der Leipziger Reclam Verlag“ sahen sie sich vor zahlreiche Fragen und Rätsel gestellt, die es archivgestützt zu lösen galt. Ein Ziel des Seminars war, zwei Podiumsveranstaltungen der Projektreihe „Bücher, Mythen und Verlage“ durchzuführen über exemplarische Editionsgeschichten aus der Reclam-Produktion im Literaturhaus Haus des Buches (und in Kooperation mit der Sächsischen Akademie der Künste), das zweite eine Fotoausstellung im Archiv der Buchwissenschaft zu realisieren. Eine Recherche zum Thema „Reclams Lesecafé“ im Zeitraum von 1960 bis 1962 stellte die dritte Aufgabe dar.
Akten, Fotos, Bücher Drei studentische Arbeitsgruppen sahen sich von Beginn an unterschiedlich großen Quellenvolumina gegenüber. Denn obwohl sich das Reclam-Archiv durch umfangreiche und wohlgeordnete Überlieferungen auszeichnet, gibt es natürlich auch Lücken, die nicht durch das Entfernen von Archivalien entstanden sein dürften, sondern weil Dokumente nicht abgelegt wurden. Es gilt eine Faustregel: Je spärlicher die schriftliche Überlieferung, desto hintergründiger die Editionsgeschichte oder das Ereignis in der Firmengeschichte. Das Thema der Fotoausstellung „Reclams Messestände von 1945 bis 1990“ hatte sich im Fotoarchiv – dem Steckenpferd von Archivar Erwin Hippe – schnell auffinden lassen. Die Studenten stießen hier auf eine umfängliche, nahezu lückenlose Überlieferung von Fotos aus 45 Jahren und auf Messeberichtsakten 1 Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um die Bearbeitung eines Aufsatzes, der bereits erschienen ist. In: Laux, Carmen u. Patricia F. Zeckert (Hrsg.): Flachware. Fußnoten der Leipziger Buchwissenschaft 2. Leipzig u. a.: Plöttner Verlag 2012. S. 39–50. 2 Gemeinsam mit Carmen Laux.
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der späten 1940er und frühen 1950er Jahre sowie der Jahrgänge 1966 bis 1990. Währenddessen konnte die Arbeitsgruppe zur Vorbereitung von Veranstaltungen über Wolfgang Hilbigs einzigen in der DDR erschienenen Auswahlband Stimme. Stimme (1983) und Gerhard Wolfs Essaysammlung wortlaut wortbruch wortlust (1988) weder auf eine Titelakte noch auf Überlieferungen aus Dienstberatungen, Vertriebs- und Vertragsakten im Verlagsarchiv zurückgreifen. Abgelegt waren lediglich die Einreichungsgutachten an die zuständige Zensurbehörde, die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel (HV). Glücklicherweise gab es für beide Titel umfangreiche Druckgenehmigungsakten, die online im Bundesarchiv einsehbar sind. Beim Thema „Lesecafé“ stellte sich wiederum heraus, dass die Errichtung im „HO-Café am Peterssteinweg“ in Leipzig keine Replik des Verlags auf das Gründungsjahr 1828 und den Beginn als Leihbibliothek „Verlag des Literarischen Museums“ war, sondern Teil einer massenkulturellen Initiative, die Alfred Kurella, Leiter der Kulturkommission des Politbüros des ZK der SED, angestoßen hatte.3 Die Recherchen mussten deshalb auch auf das Staats- und Stadtarchiv Leipzig sowie auf die Fachpresse der 1960er Jahre ausgedehnt werden. Unbestimmt blieb zunächst, in welcher Form diese Projektarbeit präsentiert werden könnte.
Beispiel Hilbig „Ich unterwerfe mich nicht der Zensur“, hatte Wolfgang Hilbig im Februar 1981 an Klaus Höpcke, den stellvertretenden Minister für Kultur und Leiter der HV, geschrieben.4 Er werde weder ihn noch eine andere Institution um Erlaubnis bitten, dass seine Texte in beiden Teilen Deutschlands erscheinen können. Bezugnehmend auf den Brief, der wiederum nur im Berliner Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU) abgelegt ist, richteten wir Fragen an die Gäste unserer Veranstaltung im Februar 2011 und baten Hilbigs Lektor Hubert Witt, den Germanisten Bernd Leistner, der eine der drei Rezensionen5 verfasst hatte, die in der DDR erscheinen konnten, den Schriftsteller Thomas Böhme und den Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung in der BStU, Matthias Braun, um Statements zu den Themen: Auf wessen Initiative war die Zusammenarbeit mit dem Reclam-Verlag zurückzuführen? Wie 3 Vgl. Engel, Grit: „Herr Ober, bitte einen Kaffee und einen Tucholsky!“ Lesecafés in der DDR 1959 bis 1964. In: Zeckert, Patricia F. (Hrsg.): Flachware. Fußnoten der Leipziger Buchwissenschaft 3. Leipzig: Plöttner Verlag 2013. S. 219–242. 4 BStU, MfS, BV Leipzig, AOPK 302/88, Bd. 3, Bl. 113–115. 5 Des Weiteren erschienen: Zeißler, Armin: Anwesenheit. In: Neue Deutsche Literatur (1984) H. 3. S. 151–153; Hähnel, Michael: Stimme. Stimme. In: Sonntag, 8.7.1984.
Hilbigs Stimme. Stimme auf der Leipziger Buchmesse?
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gestaltete sich die Zusammenarbeit? Handelte es sich um eine Rezension, die von einer Redaktion beauftragt worden war? Nach den Vorträgen der Gäste unserer Veranstaltung, nach Lektüre der umfangreichen Druckgenehmigungsakte und von Unterlagen aus der BStU ließen sich erste Rätsel lösen. Erstens: Im Herbst 1980 stimmten sich Höpcke und Kurt Hager, der Chefideologe der SED, darüber ab, dass ein Sammelband mit Gedichten und Erzählungen von Hilbig im Jahr 1982 im Leipziger Reclam Verlag herauszubringen sei.6 Höpcke beauftragte daraufhin Verlagsleiter Hans Marquardt, ein Gespräch mit dem „Nachwuchsautor“ Hilbig – immerhin Jahrgang 1941 – zu führen.7 Da im vorgesehenen Erscheinungsjahr auch der westdeutsche S. Fischer Verlag einen zweiten Band mit Erzählungen, Unterm Neomond, plante, mussten, zweitens, immer neue Gründe gefunden werden, das Erscheinen hinauszuzögern. Die meisten Rechte lagen mittlerweile beim westdeutschen Verlag. Hilbig war nach der unangemeldeten Weitergabe seiner Texte mit einer Geld- und einer Gefängnisstrafe doppelt verurteilt worden. Doch auch nach Entlassung, Haftentschädigung und unter den Bedingungen der Zusammenarbeit mit Reclam war er nicht gewillt, sich den devisenrechtlichen Restriktionen der DDR-Behörden zu beugen.8 Die Zensurbehörde reagierte, drittens, mit neuen Schikanen: Weil Hilbigs Arbeiten nicht in Reclams Universal-Bibliothek (RUB) erscheinen durften, kreierte der Verlag eine neue Reihe in Klappenbroschur, in der Hilbigs Stimme. Stimme bis zum Ende der DDR der einzige Titel blieb. In kleinstmöglicher Auflage von 5.000 Exemplaren herausgebracht, war das Buch nach Auslieferung sofort vergriffen, eine Nachauflage wurde aber nicht geplant. Bei Erscheinen „sollte der Verlag mit dafür verantwortlich sein, daß dieser Band von einem der Gutachter, die sich mit dem Autor beschäftigt haben, sachlich-kritisch rezensiert wird.“9 6 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, AOPK 302/88, Bd. 2, Bl. 186. 7 Hans Marquardt (1920–2004), seit Juni 1953 Cheflektor, zwischen 1955 und 1987 (mit Unterbrechungen) Verlagsleiter des Leipziger Reclam Verlags. Nach Vorlauf 1975 Verpflichtung zur „Inoffiziellen Mitarbeit“ für das Ministerium für Staatsicherheit der DDR (MfS) unter dem Decknamen „Hans“ zum Zweck „operativ nutzbarer Verbindungen“ mit Stephan Hermlin, Günter Kunert, Franz Fühmann und Rainer Kirsch in Deutschland Ost sowie HAP Grieshaber, Margarete Hannsmann, Christoph Schlotterer (Hanser Verlag), Karin Kiwus und Ingrid Krüger (Luchterhand Verlag) in Deutschland West. Darüber hinaus gibt es Überlieferungen von Berichten über Treffen mit Franz Fühmann, Wolfgang Hilbig und Günter Grass. In den 1980er Jahren auch als IMB „Hans“ geführt. Vgl. BStU, HA XX/7, 920391/91, Bl. 1–17. 8 Vgl. Corino, Karl: „‚Transit‘ in beide Richtungen“. In: Estermann, Monika u. Edgar Lersch (Hrsg.): Buch, Buchhandel und Rundfunk 1968 und die Folgen. Wiesbaden: Harrassowitz 2003. S. 16f. 9 Corino, Transit (wie Anm. 8). Hilbigs Gutachter waren Thomas Fritz (Reclam-Verlag), Armin Zeißler (Chefredakteur Sinn und Form), Karin Hirdina und Ursula Heukenkamp (beide HumboldtUniversität zu Berlin).
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Bernd Leistner hatte aber schon unabhängig vom Verlag im Herbst 1983 für die Zeitschrift Temperamente eine Besprechung geschrieben, die dann nicht akzeptiert wurde. Sie kam erst (und erweitert) in der Zeitschrift Sinn und Form gut zwei Jahre nach Erscheinen des Titels im Heft 1/1985 heraus.
Exemplarische Editionsstationen Aus Schnittstellen zwischen der Projektreihe „Bücher, Mythen und Verlage“ und der Ausstellung „Es messet wieder. Reclams Messestände 1945–1990“ ließen sich weitere Fragestellungen und Themen ableiten, zum Beispiel für die Stationstexte der Ausstellung: Wurde Hilbigs Buch auf der Leipziger Buchmesse ausgestellt? Denn obgleich Mitte November 1983 zur Auslieferung gelangt, war das raffiniert unauffällig gestaltete Buch weder unter den Taschenbüchern noch unter den Buchausgaben oder der lieferbaren Literatur am Messestand im Jahr 1984 nachzuweisen, auch nicht nach mehrmaliger Betrachtung der Fotos und entgegen den unterschiedlichen Erinnerungen von Verlagsmitarbeitern, die zwischen „Ja, natürlich“ und „Ich weiß es nicht mehr“ changierten. Dass die kulturpolitischen Wogen längst nicht geglättet waren, macht ein Bericht von Leutnant Lehmann über ein Gespräch mit Hans Marquardt deutlich. Lehmann schrieb am 31. Januar 1984, dass „beim Reclam-Verlag […] keine konkreten weiteren Editionsvorstellungen mit Hilbig“ bestünden und „insgesamt auch keine Absicht, ihn zu edieren“. Allerdings würde Hilbig „weiterhin Übersetzungsarbeiten, vor allem Lyrik, für den Verlag anfertigen.“ Der inoffizielle Mitarbeiter (IM) sei der Meinung, „daß es richtiger wär[e], H. mit einem anderen Verlag zu binden, da das Verlagsprofil von Reclam eine Zusammenarbeit auf Dauer nicht ermögliche“, daher wolle er „noch vor der Buchmesse ein Gespräch mit Hilbig führen (Anlass wird eine vom Reclamverlag zu organisierende Leseveranstaltung sein, die vor geladenem Publikum mit Hilbig aufgrund seines Bandes Stimme. Stimme wahrscheinlich im Göschenhaus [in Grimma, I. S.] durchgeführt werden soll)“ und „in Erfahrung bringen, ob H. diese Lesung wahrnehmen will“, und ihm davon abraten, weil „H. mit einer Teilnahme seine literarische ‚Anwesenheit‘ in der DDR nicht gefährden solle“.10 Aus dem Abend in Grimma wurde tatsächlich nichts. Zum einzigen Verlagsauftritt kam es am 14. September 1984 bei einer Gruppenlesung, zu der neben Hilbig die RUB-Autoren Adolf Endler, Peter Gosse, Kito Lorenc und Hubert Witt in das Museum der bildenden Künste zur Eröffnung 10 BStU, MfS, BV Leipzig, AOPK 302/88, Bd. 4, Bl. 275. Abwesenheit war der Titel von Hilbigs erstem Gedichtband, der 1979 im S. Fischer Verlag erschien.
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des 6. Leipziger Buchmarkts geladen waren. Tags darauf signierte und verkaufte Hilbig am Stand des Verlags Restexemplare der kleinen Auflage. Gewiss verstand sich Wolfgang Hilbig nicht als Übersetzer oder Nachdichter, denn er beantragte im November 1984 ein Jahresstipendium beim Deutschen Literaturfonds e. V. in Darmstadt, dessen Bedingung der Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland war. Nach der Bewilligung im März 1985 verließ er Anfang Oktober 1985 die DDR mit einem Reise-Visum.11 Zuvor, am 11. August 1985, war Hilbig noch einmal Besucher einer Reclam-Veranstaltung, wie ein Foto von Roger Melis belegt.12 Anlässlich von Marquardts 65. Geburtstag lasen die Schriftsteller Stephan Hermlin, Hermann Kant13 und Günther Rücker14 in Leipzigs Gohliser Schlösschen. Hatte sich der Verleger im Almanach Autoren Verleger Bücher. Für Hans Marquardt zum 12. August 1985 noch mit Hilbig geschmückt – „Wolfgang Hilbig – im Verlag erschien soeben BA [Buchausgabe] Stimme. Stimme Gedichte und Prosa – erhält den Brüder-Grimm-Preis der Stadt Hanau (BRD)“15 –, sah sich dieser eineinhalb Monate vor seiner Ausreise auf die Hinterbank verbannt.
Bilder einer Ausstellung Neben Fotos von Messeständen, die Zäsuren der Verlagsentwicklung in der Außendarstellung anlässlich der Buchmesse – Publikationsreihen, Signets, Moden der Standgestaltung – aus mehr als vier Jahrzehnten eindrucksvoll dokumentieren, gibt es eine Vielzahl Fotos mit Vertretern der Presse, des Verlags und der Parteiund Staatsführung der DDR, unter anderem Walter Ulbricht, Kurt Hager, den Kulturministern Klaus Gysi und Hans-Joachim Hoffmann und den Leitern der Hauptverwaltung Bruno Haid und Klaus Höpcke. Seit den frühen 1980er Jahren erschienen Mitglieder der Bundes- und Landesregierungen wie Martin Bangemann, Hans-Otto Bräutigam, Birgit Breuel und Otto Graf Lambsdorff.16
11 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, AOPK 302/88, Bd. 8, Bl. 281. 12 Vgl. Reclam-Archiv Leipzig (RAL), Fotoarchiv, Nr. 3440. 13 Der Autor Hermann Kant (Jg. 1926) war 1978–1990 Vorsitzender des Schriftstellerverbands der DDR und Inoffizieller Mitarbeiter (IM „Martin“) des MfS. 14 Der Autor Günther Rücker (1924–2008) war 1974–1982 Mitglied des Präsidiums der Akademie der Künste der DDR und Inoffizieller Mitarbeiter (IM „Günther“) des MfS. 15 Autoren Verleger Bücher. Ein Almanach. Für Hans Marquardt zum 12. August 1985. Leipzig: Reclam Leipzig 1985. S. 175. 16 Bräutigam: Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR, Lambsdorff: Bundesminister für Wirtschaft, Breuel: Ministerin für Wirtschaft und Transport in Niedersachsen, Bangemann: Bundesminister für Wirtschaft.
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Jene Fotos haben besondere Bedeutung als Dokumente des deutsch-deutschen Kulturaustauschs auf der Leipziger Buchmesse. Auf einem bizarren „Gruppenbild mit Dame“ aus dem Jahr 1984 sind mit Klaus Selbig, Arno Lange, in der Mitte Ursula Ragwitz, Verleger Marquardt und Minister Höpcke17 maßgebliche Vertreter von Partei, Staatsapparat und Verlag versammelt, die Hilbig mehr oder weniger zähneknirschend in der DDR „literarisch anwesend“18 machten. Im Jahr zuvor hätten dieselben Personen ein ähnliches Bild abgeben können: Damals waren sie aufgeschreckt von der Ankündigung des Schriftstellers Franz Fühmann, auf dem IX. Schriftstellerkongress im Mai 1983 über „die ungelöste Hilbig-Problematik“19 zu sprechen, sollten sich bis dahin „Hoffnungen auf eine DDR-Publikation von Wolfgang Hilbig nicht realisieren“.20 Zwei Wochen darauf erhielten sowohl Hilbig als auch Fühmann Post von Höpcke, der ihnen mit „Gewißheit“ sagte, dass in der nächsten Zeit ein Auswahlband in der DDR veröffentlicht wird.21 Auf seine Teilnahme am Schriftstellerkongress hat Fühmann dann ebenso verzichtet wie Gerhard Wolf, der auch schon dem VIII. Kongress 1978, dem ersten nach der Biermann-Ausbürgerung 1976, ferngeblieben war. Weshalb Schriftsteller nur selten auf den Messestandfotos abgebildet sind, könnte sich damit erklären lassen, dass diese nicht im Fokus der Fotografen standen, die von der Leipziger Messe beauftragt waren. Dafür engagierte Verlagsleiter Marquardt in den 1970er Jahren den Fotografen Helfried Strauß, der die meisten Lesungen zur Internationalen Buchmesse22 im Gohliser Schlösschen ablichtete. Viele seiner Porträts fanden Eingang in die gesamtdeutsche Literaturgeschichte und wurden am Ende unserer Ausstellung gezeigt.
Zerstreute Skepsis und geweckte Talente Für Buchhistoriker bestehen heute komfortable Voraussetzungen für Recherchen über die Beziehungen zwischen Autor und Verlag und zwischen staatlicher Zen17 Selbig: Abteilungsleiter Literatur in der HV und einer der Kandidaten für Marquardts Nachfolge, Lange: Mitarbeiter Abteilung Literatur des ZK der SED, Ragwitz: Leiterin Abteilung Literatur des ZK der SED. RAL, Fotoarchiv, Nr. 3244. 18 Höpcke an Hager, Entwurf, o. D., Bundesarchiv Berlin (BArch), DR1/2216, Bl. 29–31a. 19 Höpcke an Ragwitz, 17.3.1983, BArch, DR1/2216, Bl. 21a. 20 Höpcke an Hager, Briefentwurf, o. D., BArch, DR1/2216, Bl. 29a–31a. 21 Vgl. Höpcke an Hilbig, 31.3.1983, BArch, DR1/2216, Bl. 15a und Höpcke an Fühmann, 31.3.1983, BArch, DR1/2216, Bl. 16a. 22 Die erste Reclam-Lesung fand im Jahr 1974 anlässlich des Erscheinens der zweiten Auflage von Reiner Kunzes Brief mit blauem Siegel statt und nicht 1975 mit dem Gedenken an Thomas Mann. Vgl. Autoren Verleger Bücher (wie Anm. 15), S. 167 und RAL, Fotoarchiv, Nr. 910–918.
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surbehörde und den Partei- und Staatssicherheitsorganen. Die Zugänglichkeit des Reclam-Archivs und der buchwissenschaftlichen Bibliothek begünstigten die Projektarbeit ebenso wie die kurzen Wege und die bewährte Zusammenarbeit mit dem Sächsischen Staatsarchiv, der Leipziger BStU-Außenstelle und dem hiesigen Stadtarchiv sowie mit überregionalen Einrichtungen wie dem Archiv der Akademie der Künste und dem Bundesarchiv. Verlagsgeschichte ist nicht nur Teil der deutsch-deutschen Literatur- und Kunstgeschichte, sie bildet auch unmittelbar Sozialgeschichte ab. Frühere Mitarbeiter, allen voran Lothar Kretschmar, der langjährige Ökonomische Leiter des Reclam-Verlags, unterstützten uns mit Auskünften zur Firmengeschichte und bei der Identifizierung von Personen sowie mit Überlieferungen aus ihren Privatarchiven. Die Galeristin und Reclam-Leserin Elke Pietsch hat uns beraten und viel Geduld in die Passepartouts gesteckt. Der Fotograf Helfried Strauß bestärkte uns darin, zuerst die getroffene Bildauswahl zu verfeinern und dann die verschiedenen Formate und Bildqualitäten zu bewerten. Schritt für Schritt und nahezu unmerklich hatte sich die Skepsis gegenüber den Fragen und Rätseln zerstreut, die sich zu Beginn des Seminars türmten. Am Vorabend der Leipziger Buchmesse 2011 eröffneten wir neben der Foto-Ausstellung zu den Messeständen auch eine zweite zu „Reclams Lesecafé“. Die Studenten waren auf unerwartet viel Material gestoßen und sahen sich plötzlich in die Lage versetzt, die bislang umrätselte Präsentationsform zu „knacken“, indem sie das Brockhaus-Zimmer23 im Archiv in der Hainstraße in ein informelles Lesecafé verwandelten. Gerhard Wolf hatte krankheitsbedingt an „seiner“ Veranstaltung am 20. März 2011 nicht teilnehmen können. So führten der Schriftsteller Andreas Koziol, Klaus Michael, Literaturhistoriker und Sekretär der Sächsischen Akademie der Künste, und der frühere Reclam-Lektor und Verlagsleiter Stefan Richter ein lebhaftes Gespräch sowohl über die Wirkung von Wolfs Essays, die zuvor in offiziellen und nichtoffiziellen Publikationen in Frankreich, Ost- und Westdeutschland seit den frühen 1970er Jahren erschienen waren, wie auch über sein Engagement für die Normalisierung des kulturpolitischen Klimas in der DDR und die Einbindung von ausgegrenzten Schriftstellern und Malern in die deutsch-deutsche Öffentlichkeit. Der Veranstaltung vorangestellt war ein Kurzvortrag – ausdrücklich „kein Überblickswissen aus der Seminararbeit“, sondern Fragen, Thesen, Provokationen
23 So benannt, weil 2009 die gerade entlassene Brockhaus-Redaktion des geschlossenen Leipziger Verlags Bibliographisches Institut der Leipziger Buchwissenschaft Regale und eine Bibliothek von Enzyklopädien, Sprachwörterbüchern sowie eine archivalische Sammlung von Betriebsunterlagen schenkte, die zum größten Teil in diesem Zimmer Platz fanden.
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„nach drei fesselnden Monaten der Beschäftigung“ von Kristin Sprechert, damals Studentin und später Mitarbeiterin der Buchwissenschaft. Der „methodologisch bewussten, historisch präzise argumentierenden, gesellschaftlich kommunizierbaren und zugleich die Gesellschaft mitkonstitu-ierenden Forschung“ in der Geisteswissenschaft verpflichtet24 gab es nach unserem Seminar gelöste Rätsel und neue Fragen, ausbaufähige Archivrecherchen und ein in Teilen digitalisiertes Fotoarchiv, das Bewusstsein für interdisziplinäre, archivgestützte Forschung mit Anschlussmöglichkeiten für Qualifizierungsschriften und eine Ausstellung, die wandern würde und an der deshalb weiter zu arbeiten war.25 Und nicht zuletzt: das gestärkte Wissen der Studenten von den eigenen Talenten.
24 Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Entwicklung und Förderung der Geisteswissenschaften in Deutschland. http://www.fu-berlin.de/sites/dhc/dokumente/WR-Empfehlungen_GW.pdf, 27.1.2006, Teil 1. S. 1 (21.5.2016). 25 Die Ausstellung „Es ‚messet‘ wieder. Die Messestände des Leipziger Reclam Verlages 1945– 1990“ war von Mai bis August 2012 im Atrium der Neuen Leipziger Messe zu sehen.
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Luchterhands Loseblatt Lyrik: Der Volksaktien-Traum Sprechstundenbesuche bei Siegfried Lokatis kosten Zeit. Denn erstens ist die Masse der Wartenden, die um Audienz bittet, stets flurfüllend. Das ist nichts Ungewöhnliches an einer geisteswissenschaftlichen Fakultät. Zweitens verlaufen die Gespräche selbst oftmals, nun ja: speziell. Man kommt mit einem groben Entwurf herein, schließt die Tür, mäandert gemeinsam durch Raum und Zeit und kommt, viel später, ganz woanders wieder heraus, bei einem Thema also, das höchstens Spurenelemente der einstigen Idee enthält und von dem vorher niemand wusste, dass es überhaupt existiert. Daraus entsteht dann eine Haus-, Abschluss- oder Doktorarbeit. Letzteres, die Themensuche für eine Dissertation, stand für mich Ende 2010 an. Ich kam mit einem Vorschlag, schloss die Tür, setzte mich und war zum Mäandern bereit. Meine Idee provozierte eine kurze Antwort: „Och nö.“ Stattdessen? „Du solltest zum Luchterhand Verlag arbeiten!“ Kein Mäandern. Tür wieder auf, Thema mitgenommen. Die Eckdaten waren schnell gefunden: Der Hermann Luchterhand Verlag wurde 1924 von Hermann Karl Wilhelm Luchterhand als Steuerbüro gegründet, dessen wesentliche Einnahmequelle im Vertrieb von Lohnsteuertabellen und Formblättern zur Büroorganisation lag. Seit den 1930er Jahren leitete Eduard Reifferscheid den Betrieb. Seine Idee war es, ab 1954 neben juristischer Fachliteratur und Loseblattwerken auch „schöne Literatur“ und neue Soziologie zu veröffentlichen. Bald war Luchterhand Stammverlag von Günter Grass, Max von der Grün, Peter Härtling und Ernst Jandl, außerdem Lizenzverlag von vielen Autorinnen und Autoren aus der DDR, darunter Anna Seghers, Christa Wolf, Hermann Kant und Christoph Hein. Werkausgaben von Georg Lukács, Carl Sternheim und Arno Holz erschienen unter dem Luchterhand-Label. Neben spanisch-, französisch-, englisch- und italienischsprachigen Autoren hatten auch Schriftsteller aus der Sowjetunion wie Michail Bulgakow oder Alexander Solschenizyn ihre westdeutsche Verlagsheimat in Neuwied und Darmstadt. Dann, noch in der Themensondierung, fiel mir im Deutschen Literaturarchiv Marbach eine graue Mappe in die Hände, die es in sich hatte.1 In ihr lagen sieben 1 Wesentliche Bestände des Verlagsarchivs befinden sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar, ein kleinerer Teil im Bertelsmann Unternehmensarchiv in Gütersloh. Zur Verlagsgeschichte des Luchterhand Verlags vgl. Ulmer, Konstantin: VEB Luchterhand? Ein Verlag im deutsch-deutschen literarischen Leben. Berlin: Ch. Links 2016.
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lose Blätter. Das war nichts Ungewöhnliches, schließlich war Luchterhand bis in die 1980er Jahre einer der wichtigsten Verlage für juristische Loseblattliteratur in Deutschland. Doch in diesem Fall handelte es sich nicht um Gesetzestexte oder Lohnsteuertabellen: Auf dem auffälligen Format von 18 x 50 Zentimetern befanden sich typografisch individuell gestaltete, teils illustrierte Gedichte. Dem galt es nachzugehen. Bei der Mappe handelte es sich um die erste Lieferung von Luchterhands Loseblatt Lyrik, erschienen im Herbst 1966. Darin befand sich neben sieben Gedichten auch eine Ankündigung des Projekts, natürlich stilecht auf losem Blatt. In der neuen Lyrik-Reihe, so war dort zu lesen, wollten die Herausgeber Elisabeth Borchers, Klaus Roehler und Günter Grass fortan alle zwei Monate sieben lose Blätter mit überwiegend zeitgenössischer Lyrik publizieren, in einer Auflage von 3.000 bis 5.000 Exemplaren, „Gedichte zum Andiewandpinnen“, „Gedichte zum Tauschen Sammeln Verschenken“, Gedichte als „Einzelgänger“ auf dem Weg in die literarische Öffentlichkeit, damit das Gedicht, so der werbetrommelnde Grass, „sein Kapital erhöht und sich zur wahren Volksaktie auswächst.“2 Für den Verlag schien diese „wahre Volksaktie“ trotz der hohen Produktionskosten ein lohnendes Projekt zu sein: Die Loseblatt Lyrik war trotz entfernter Vorbilder wie den Rixdorfer Drucken unikal in ihrer Art und schon optisch eine auffallende Innovation im literarischen Feld. Sie präsentierte neue Formen im neuen Format, hob sich mit ihrem künstlerischen Anspruch von der heraufziehenden Flugblattschwemme ab und antizipierte gleichzeitig die Poster-Welle der 68er. Die Konzeption der „Volksaktie“ eröffnete Luchterhand zudem die Möglichkeit, literarische Talente aufzuspüren und mit blattweisen Kostproben vorzustellen, ohne gleich Gefahr zu laufen, die Bilanz mit schwer verkäuflichen Lyrikbänden zu belasten. Außerdem war die Herausgebertroika zielführend zusammengesetzt: Während Grass, streitbarer Starautor des Verlags, mit seiner Popularität die losen Blätter ins Rampenlicht tragen konnte, waren der nicht weniger streitbare Lektor Roehler in der jungen Literaturszene Westdeutschlands be- und anerkannt und die Lektorin Borchers, selbst Autorin einiger Lyrikbände, im literarischen Leben der DDR gut vernetzt. Die sieben Blätter der Eröffnungsmappe deuteten bereits paradigmatisch das Profil von Luchterhands Loseblatt Lyrik an. Der Unbekannteste unter den Eröffnungsautoren war Vagelis Tsakiridis, ein in Westberlin lebender Bildhauer und Literat, der sich selbst der Beat- und Pop-Generation zurechnete.3 Er repräsentierte mit seinem Gedicht Untersuchungen und Feststellungen über das Leben 2 Grass, Günter: Auf losem Blatt. In: ders.: Essays und Reden 1955–1979. Werke, Band 11. Göttingen: Steidl 2007. S. 176f. 3 Vgl. Tsakiridis, Vagelis: Super-Garde. Prosa der Beat- und Popgeneration. Düsseldorf: Droste 1969.
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des Dichters aus dem siebzehnten Jahrhundert die Offenheit der Lyrikreihe für literarische Nobodys und für die innovativen Entwicklungen der zeitgenössischen Kunst. Daneben war mit Günter Herburger ein Schriftsteller vertreten, der Anfang der 1960er Jahre im Umfeld der Kölner Schule bekannt geworden war, seit 1964 regelmäßig bei Tagungen der Gruppe 47 auftrat und sich, gerade nach Berlin gezogen, in der Studentenbewegung zusehends politisierte. In seinem Gedicht Die Familie präsentierte Herburger sprachlich schlichte Alltagslyrik, die er ein Jahr später in seinem Essay Dogmatisches über Gedichte poetologisch fundierte.4 Noch weiter vom traditionellen Lyrikbegriff entfernte sich der dritte Autor der Eröffnungsmappe, Hans Magnus Enzensberger, mit seiner Textcollage unter dem Titel Soziale Marktwirtschaft. Die Collage präsentierte aus der Werbung entlehnte Phrasen in unregelmäßigen Farbwechseln, verschiedenen Schriftgrößen und Ausrichtungen, die zerpflückt und bunt kombiniert wurden, inhaltlich und auch formal kaum zu greifen waren. Die poetische Bastelei führt auf diese Weise einen semantischen Umsturz vor, der sich in den roten Versalien der Schlusszeile ironisch konzentriert: „REVOLUTION: GARANTIERT UNSCHÄDLICH.“5 Mit dieser künstlerischen und politischen Provokation in „bester Dada-Manier“ nutzte Enzensberger die Möglichkeiten des neuen Formats so gekonnt, dass Karl Heinz Kramberg in der Süddeutschen Zeitung erklärte, er würde das Blatt sofort an die Stelle eines Öldruckkalenders pinnen, wenn er denn einen solchen besäße.6 Literarisch deutlich konventioneller war das vierte Gedicht der Eröffnungsmappe, März von Günter Grass, das fast ausschließlich aus reimlosen, streng alternierenden vier- und fünfhebigen Versen mit Auftakt besteht. Für viele Leser schien März – zum Beispiel mit dem etwas derberen Verspaar „als ich, es nieselte, die Bronze leckte / und schwellenscheu die Fotzen heilig sprach“ – trotzdem „schädlicher“ als Enzensbergers „Revolution“ zu sein. Ein Kreisamtmann ließ dem Verlag postalisch seine Gedichtinterpretation zukommen: Ich halte die erwähnten „Ergüsse“ für dumme, unverschämte und freche Schweinereien. Es tut mir leid, wenn Sie als angesehener Verlag sich für den Druck und die Verbreitung derartiger „Machwerke“ nicht zu schade wären! Außerdem muß ich Ihnen gestehen, daß ich seither jedes Mal, wenn ich in meiner Berufstätigkeit Ihre Verlagswerke zu benutzen gezwungen bin, das Gefühl habe, mir nachher sozusagen die Hände waschen zu müssen, weil sich für mich jetzt mit dem Namen Luchterhand soviel Schmutz verbindet.7
4 Vgl. Herburger, Günter: Dogmatisches über Gedichte. In: Kursbuch 3 (1967) H. 10. S. 150–161. 5 Enzensberger, Hans-Magnus: Soziale Marktwirtschaft. In: Luchterhands Loseblatt Lyrik 1 (1966) Mappe 1. 6 Kramberg, Karl Heinz: Fliegende Blätter. In: Süddeutsche Zeitung, 17.11.1966. 7 Groeben an den Hermann Luchterhand Verlag, 26.10.1966, Bertelsmann Unternehmensarchiv, 0311/11(1).
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Mit seiner Kritik an den Grass’schen „Schweinereien“ stand der Schmähbriefschreiber nicht alleine. Die Masse der wütenden Reaktionen, die den Verlag erreichte, legt die Vermutung nahe, dass die zitierten Zeilen charakteristisch für die gesellschaftlichen Konfliktlinien um 1968 sind, die, und auch das wird in dem Brief deutlich, gleichfalls durch den Luchterhand Verlag liefen. Während nämlich der juristische Fachverlag mit seinen Publikationen die wirtschaftliche Basis schuf, veröffentlichte das soziologische Lektorat zeitgleich linke Autoren verschiedener Provenienz wie Lucien Goldmann, Eric Hobsbawm, Leo Löwenthal, Georg Lukács oder Leo Kofler und stand damit genauso für provokante, progressive Texte wie das belletristische Lektorat, das mit der Loseblatt Lyrik nun eine Plattform für die gesellschaftskritische junge Dichtung zu schaffen schien. Einige Abonnenten des Fachverlags – unter ihnen der zitierte Kreisamtmann – nahmen die Lyrikreihe deshalb zum Anlass, ihre Loseblatt-Abonnements zu kündigen, obwohl die Sammlungen für Juristen unumgängliche Arbeitslektüre waren. Das Gros der professionellen Literaturkritiker maß die Reihe hingegen an den Regeln des literarischen Felds. Und selbst die Hamburger Welt, alles andere als ein Hausblatt des Luchterhand Verlags, lobte die ersten Blätter eifrig, pries das innovative Potenzial sowie die typografische Gestaltung dieser etwas anderen Art der visuellen Poesie und konstatierte abschließend: „Schon der erste Blick bestätigt: So schön war Lyrik lange nicht mehr.“8 Mit den Gedichten von Enzensberger, Grass, Herburger und Tsakiridis war die Eröffnungsmappe allerdings noch nicht komplett. Die Blätter fünf bis sieben eröffneten eine weitere programmatische Dimension der Reihe. Die Herausgeber hatten sich nämlich für eine „Berliner Mappe“ entschieden und neben den vier Westberliner Autoren die in Ostberlin wohnenden und wirkenden Günter Kunert und Bernd Jentzsch sowie den 1965 verstorbenen Johannes Bobrowski veröffentlicht. Für Elisabeth Borchers, später von Siegfried Unseld zu Suhrkamp abgeworbene DDR-Spezialistin bei Luchterhand, war diese deutsch-deutsche Perspektive ebenso selbstverständlich wie zwangsläufig: „Es ergab sich durch das Angebot. Ich, als Lyrikerin, staunte, wie in Ost und West Leute politische Gedichte schrieben.“9 Tatsächlich hatte die Herausgebertroika bereits in der Planungsphase des Projekts viele Dichterinnen und Dichter aus der DDR angeschrieben – und das nicht ohne Erfolg. Einschließlich der 16. Mappe, die im März 1969 ausschließlich Gedichten aus dem anderen deutschen Staat gewidmet war, wurden neben Bobrowski, Kunert und Jentzsch auch Erich Arendt, Kurt Bartsch, Wolf Biermann, 8 Lei [Autorenkürzel]: Gebrauchslyrik. In: Die Welt, 2.11.1966. 9 Borchers, Elisabeth: Es hatte keinen Sinn, sich gegen Suhrkamp zu wehren. In: Berbig, Roland (Hrsg.): Stille Post. Inoffizielle Schriftstellerkontakte zwischen West und Ost: Von Christa Wolf über Günter Grass bis Wolf Biermann. Berlin: Ch. Links 2005. S. 159.
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Volker Braun, Bert Brecht, Adolf Endler, Uwe Grüning, Peter Huchel, Rainer und Sarah Kirsch, Paul Günter Krohn und Richard Leising auf losem Blatt veröffentlicht, einige andere wie Uwe Greßmann, Peter Hacks oder Karl Mickel derweil abgelehnt, während bei wieder anderen wie Gerd Eggers, Dieter Mucke oder Andreas Reimann die Manuskriptanfragen offenbar unbeantwortet blieben. Schon diese Namensliste zeigt, dass ein kommunikationsintensives Projekt wie die Loseblatt Lyrik das Netzwerk des Verlags in der DDR vielfach erweiterte. Und das war ein willkommener Zusatzeffekt. Denn in den frühen 1960er Jahren war in der DDR eine neue, künstlerisch ambitionierte Generation in das literarische Leben eingetreten und hatte die oft zitierte Lyrikwelle losgetreten, die auch in der Bundesrepublik aufmerksam verfolgt wurde. Dass der Luchterhand Verlag diese Poetengeneration durch seine Loseblatt Lyrik in der Bundesrepublik vorstellen wollte, provozierte bald Konflikte mit der „offiziellen DDR“. Das zeigte sich vor allem bei einem Gedicht, das in der zweiten Lieferung der Loseblatt Lyrik erscheinen sollte: der Moritat auf Biermann seine Oma Meume in Hamburg. Der Verfasser der Moritat, der stets umstrittene Wolf Biermann, war bereits vor seiner Veröffentlichung in der Loseblatt Lyrik Thema bei Luchterhand gewesen. Im Februar 1965 hatte Elisabeth Borchers gegenüber dem Cheflektor und späteren Verlagsleiter des Ostberliner Aufbau-Verlags, Fritz-Georg Voigt, entschieden betont, „welch großen Wert wir auf Ihren Sänger legen“ und ihn an die Option auf ein geplantes Liederbuch erinnert, „die uns zu allererst erteilt wurde.“10 Dass schließlich kein Lizenzvertrag zustande kam, weil kein Biermann-Buch in der DDR erscheinen konnte, ersparte dem Luchterhand Verlag womöglich eine Menge Ärger. Nachdem nämlich Biermanns Drahtharfe im Herbst 1965 bei Wagenbach erstveröffentlicht worden war, fuhr die SED schwere literaturpolitische Geschütze auf: Zunächst erhielt der Dichter ein Auftritts- und Publikationsverbot. Auf dem 11. Plenum im Dezember 1965 wurde er dann von Erich Honecker für „sein spießbürgerliches, anarchistisches Verhalten, seine Überheblichkeit, seinen Skeptizismus und Zynismus“ angegriffen, der „Westberliner WagenbachVerlag“ gleichzeitig als Hort des Dichters gebrandmarkt11 und schließlich gegen den konfrontationsfreudigen Jungverleger Klaus Wagenbach ein Einreiseverbot verhängt, das Ende 1967 zu einem Durchreiseverbot ausgeweitet wurde.12 Im Fall
10 Elisabeth Borchers an Fritz-Georg Voigt, 11.2.1965, Staatsbibliothek Berlin, IIIA, Dep38, 1005, Bl. 123. 11 Erich Honecker: Bericht des Politbüros an das 11. Plenum des ZK der SED. In: Schubbe, Elimar (Hrsg.): Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED. Stuttgart: Seewald 1972. S. 1078. 12 Vgl. Wagenbach, Klaus: Wie alles anfing. In: Verlag Klaus Wagenbach (Hrsg.): Buchstäblich Wagenbach. 50 Jahre: Der unabhängige Verlag für wilde Leser. Berlin: Wagenbach 2014. S. 13f.
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Biermann war verlagspolitisch also höchste Vorsicht geboten. In dieser Situation kam die Loseblatt Lyrik gerade recht: Über die Publikation der Moritat konnten die Luchterhändler den Kontakt mit dem skandalumwitterten Autor halten, dessen Popularität im Westen für das neue Projekt nutzen und sich gleichzeitig berechtigte Hoffnungen machen, dass das Erscheinen eines einzelnen BiermannBlatts keinen literaturpolitischen Skandal vom deutsch-deutschen Zaun brechen würde. Stoff für eine vielsagende Anekdote, so zeigt das Verlagsarchiv, bot das lose Lyrikblatt aber allemal. Als die Verlagsmitarbeiter, unter ihnen erstmals Otto F. Walter, der gerade als neuer „Juniorchef“ aus dem schweizerischen Olten zu Luchterhand gewechselt war, den Stand des Verlags auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1967 vorbereiteten, schmückten sie die Stellwände unter anderem mit der Moritat auf Biermann seine Oma Meume in Hamburg. Sie beließen das Biermann-Blatt außerdem in den Lyrikmappen, die neben dem Buchangebot ausgelegt wurden – ein typischer Vorlauf für das übliche Scharmützel mit der Leipziger Messeleitung, die vor der Eröffnung stets die Stände prüfte und politisch unerwünschte Literatur einzog, so zum Beispiel am Luchterhand-Stand auf der besagten Messe zwei Gedichtbände der ausgebürgerten Dichterin Helga M. Novak, die Wahlreden von Grass für die SPD sowie dessen Plebejer-Stück oder Herbert Marcuses Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus. Das Biermann-Gedicht konnte derweil nicht kassiert werden – es war schon vor der Eröffnung des Standes aus den Mappen verschwunden, wie aus einen Brief Walters an den Zeit-Feuilletonisten Rudolf Leonhardt deutlich wird: Dieses Gedicht wurde anderthalb Tage vor Eröffnung der Messe mit allen anderen Blättern einzeln ausgehängt. Samstag früh war es weg, – nicht beschlagnahmt, da Ausstellungsverbote offiziell vor sich gehen. Elisabeth Borchers hat am Samstagmorgen ein neues Blatt angebracht und gleichzeitig LLL-Mappen auslegen lassen. Bevor die Prüfungskommission eintraf, war das Blatt am Sonntagmorgen wieder von der Wand verschwunden und auch in beachtlicher Behendigkeit aus den ausgelegten Mappen entwendet worden, also noch bevor unser Stand die offizielle Prüfung durch die Kommission absolviert hatte. Der Stand wurde dann am Sonntagmittag, wenige Stunden nach Eröffnung der Messe, durch die Kommission abgenommen. Wir hoffen, daraus schließen zu dürfen, dass Wolf Biermanns Gedicht auf diesem zwar seltsamen Weg der Beschlagnahme entging, andererseits dennoch unter die Leute kam. Uns scheint, diese kleinen Ereignisse sprechen – unter anderem auch – für die Lebenskraft von Lyrik heute, für den Poeten Wolf Biermann.13
Diese Begebenheit ist – zumindest in der Interpretation Walters – nur ein Beispiel für den literarischen Mundraub auf der Leipziger Messe. Luchterhand kehrte biswei13 Otto F. Walter an Rudolf Leonhardt, 23.3.1967, Deutsches Literaturarchiv Marbach, A: Luch terhand, Luchterhands-Loseblatt-Lyrik, II. (B).
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len mit gerade einmal 20 Prozent der mitgebrachten Bücher in den Westen zurück, zudem wurden viele einzelne Gedichte oder Klappentexte von den Messebesuchern abgeschrieben und auf Handzetteln in Umlauf gebracht. Der Fall Biermann charakterisierte dabei eine paradoxe Situation: Die heimlichen Leser in der DDR konnten sich über die Bundesrepublik diejenigen Texte der DDR-Dichter beschaffen, die im Leseland selbst nicht erscheinen durften.14 Das galt für die Drahtharfe ebenso wie für den bei S. Fischer erschienenen Gedichtband Chausseen, Chausseen von Peter Huchel, die Luchterhand-Ausgabe von Helga M. Novaks Ballade von der reisenden Anna oder einige Gedichte aus den Kunert-Bänden, die bei Hanser publiziert wurden. Gerade diese Namen prägten das Bild der DDR-Lyrik in der Bundesrepublik. Von den politisch willfährigen Vorbildwerken à la Kurt Barthel oder Helmut Preißler nahmen die BRD-Verlage – und mit ihnen die westdeutschen Leser – hingegen kaum Notiz. Dass die Veröffentlichungen in der Loseblatt Lyrik also nicht die politische Vorzeigelyrik, sondern die tendenziell autonome, politisch unliebsame Dichtung der jungen Generation in den Vordergrund stellten, stieß in der „offiziellen DDR“ auf wenig Gegenliebe. Neben dem verfemten Blechtrommler Grass galt auch Elisabeth Borchers als verdächtig, wie aus einer Information des Ministeriums für Staatssicherheit über die Luchterhand-Lektorin hervorgeht: In dem von der Borchers dem Luchterhand-Verlag vorgeschlagenen literarischen Arbeiten von DDR-Autoren kommt ihre politische Haltung und ihre Unterstützung der Bonner Politik klar zum Ausdruck. Alle von ihr kontaktierten Lyriker der DDR, wie Kunert, Kirsch, Huchel, Biermann, Mucke, Reimann und Maurer standen in der Vergangenheit wegen ihrer negativen bzw. feindlichen Haltung zur kulturpolitischen Entwicklung in der DDR mehrfach im Mittelpunkt der öffentlichen Kritik in der DDR. Sie veröffentlicht deren Arbeiten jedoch in der von ihr herausgegebenen „Luchterhand-Lose-Blatt-Lyrik“. Damit bekundet sie einmal ihre Sympathie für diese Autoren und unterstützt zum anderen den Alleinvertretungsanspruch in der Form, daß allein westdeutsche Verlage bestimmen bzw. dazu berufen sind zu entscheiden, was wirkliche Literatur in Deutschland ist.15
Den Diskurs über „wirkliche Literatur“ wollten die DDR-Kulturpolitiker nicht dem ideologischen Gegner überlassen – und wenn dafür dessen Ideen kopiert werden mussten. Der Eulenspiegel-Lektor Werner Püschel berichtete als Geheimer Informator „Adler“ der Staatssicherheit sogar, dass er im Auftrag des Ministeriums für Kultur eine DDR-Version der Loseblatt Lyrik initiieren sollte. Von der Idee war er auch durchaus angetan, schließlich war die Reihe für Püschel kein Projekt, das für den westdeutschen Alleinvertretungsanspruch stand, sondern vielmehr eine 14 Zum Phänomen der heimlichen Leser vgl. Lokatis, Siegfried u. Ingrid Sonntag (Hrsg): Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur. Berlin: Ch. Links 2008. 15 Information zu Elisabeth Borchers, 12.12.1969, Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU), MfS, HA XX, ZMA, 20244, Bl. 7.
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literarisch-politische Kritik an der Bonner Regierung, ein Organ des progressiven Lagers und antifaschistisch ausgerichtet. Die Blätter, so stellte er anerkennend fest, „haben im wesentlichen rein humanistischen Inhalt.“16 Diese Einschätzung manifestierte sich, nachdem ab November 1967 einige Lieferungen erschienen, die bestimmten politischen Kontexten gewidmet waren: Die 8. Mappe stellte beispielsweise „neugriechische“ Gedichte gegen die MilitärJunta vor, in der 13. wurde tschechoslowakische Lyrik von Dubček-Anhängern unmittelbar nach der Niederschlagung des Prager Frühlings publiziert und in der 15. Gedichte aus Biafra, wo ein Krieg der unabhängigen Region gegen nigerianische Truppen zu einer Hungersnot geführt hatte. Eminent politisch war auch die 10. Mappe, in der Nicolas Born, F. C. Delius, Rolf Haufs, Gert Loschütz und Jochen Ziem die Ereignisse vom 21. Februar 1968 künstlerisch verarbeiteten. 80.000 Berliner waren dem Aufruf des Springer-Verlags, des Senats, des Abgeordnetenhauses und sogar des Deutschen Gewerkschaftsbundes gefolgt und hatten gegen die „kommunistische Gefahr“ und die Studentenbewegung demonstriert, wobei es immer wieder zu heftigen Zusammenstößen mit Gegendemonstranten gekommen war. Die sieben Lyrik-Blätter mit Zitatmontagen zu den Ereignissen enthielten also nicht bloß politische Dichtung, sondern tagespolitische Statements, was eine zwiegespaltene Reaktion hervorrief: Viele sahen Luchterhand vor den Studenten-, wenn nicht sogar Kommunistenkarren gespannt, was erneut zur Folge hatte, dass den Verlag Kündigungen von Abonnenten der juristischen Loseblattsammlungen erreichten. Gleichzeitig war diese 10. Ausgabe die einzige, die innerhalb kürzester Zeit ausverkauft war, weil die Politisierung des Profils offensichtlich dem literarischen und politischen Zeitgeist um 1968 entsprach. Wolf Biermann erinnert sich beispielsweise, dass die losen Blätter damals „in jeder linksalternaiven [sic] Wohnung“ hingen.17 Wenig später, im Sommer 1968, wurde schließlich mit 1848 die Höchstzahl an Loseblatt-Lyrik-Abonnements erreicht.18 Doch finanziell, so wurde nun deutlich, ließ sich die symbolträchtige Erfolgsgeschichte nicht fortschreiben, auch weil der Buchhandel mit dem ungewöhnlichen Format nichts anzufangen wusste. Die Blätter blieben ein Zuschussgeschäft, dienten, ähnlich wie die literarische Zeitschrift Texte und Zeichen ein Jahrzehnt früher, vor allem dem Ausbau eines Netzwerks, der
16 Operative Informationen von GI „Adler“, o. D. [wahrscheinlich 14.6.1967], BStU, BVfS Berlin, AIM 6080/91, Teil II/1, Bl. 68. Das vom Eulenspiegel Verlag angedachte Projekt ist nicht verwirklicht worden. 17 So erklärte Wolf Biermann im Gespräch mit dem Autor am 14.5.2011. 18 Vgl. Roehler, Klaus: Nachbemerkung. In: Borchers, Elisabeth, Günter Grass u. Klaus Roehler (Hrsg.): Luchterhands Loseblatt Lyrik. Eine Auswahl. Band 1: 1966–1968. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1983. S. 93f.
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literarisch-politischen Positionierung und der Schöpfung von symbolischem Kapital. Damit wurden auch Pläne ad acta gelegt, über die losen Blätter einen Schwerpunkt im Bereich der DDR-Lyrik zu begründen. Dass sich das Projekt nicht selbst tragen konnte – allein 1970, im letzten Jahr des Erscheinens, gab es eine Unterdeckung von knapp 50.000 DM –, wusste übrigens auch das Ministerium für Staatssicherheit, das Untersuchungen einleiten wollte, „inwieweit der Verlag selbst für die genannten Stützungen aufkommt oder in dieser Hinsicht Zuschüsse von staatlichen Organen in Westdeutschland erhält, die an der Herausgabe politischer Literatur durch den Luchterhandverlag (insbesondere Literatur zur Propagierung des ,dritten Weges‘) interessiert sind.“19 So sah sich der Mitverleger Otto F. Walter schließlich gezwungen, das Ende der Loseblattlyrik anzukündigen: „Der Reiz des originär Neuen ist natürlich vorbei. Im Bereich der Abonnenten ist eine krasse Müdigkeit sichtbar geworden“, schrieb er im Mai 1970 an den Herausgeber Günter Grass.20 Im November erschien schließlich die 26. und letzte Lieferung. In den vier Jahren des Erscheinens waren 182 Gedichte von 131 Autoren veröffentlicht worden, davon 135 Gedichte von 84 deutschsprachigen, inklusive der 22 Blätter mit Lyrik aus der DDR. Das zunehmende Desinteresse, das die literarische Öffentlichkeit gegenüber der Loseblatt Lyrik zeigte, hing sicherlich auch mit der Tatsache zusammen, dass die kurze Hochphase gesellschaftskritischer Lyrik mit den beginnenden 1970er Jahren bereits beendet war. Auf der Umschlaginnenseite der 26. grauen Mappe hieß es diesbezüglich: „Die Zeit der schönen bösen Aufrufe und Beteuerungen ist vorbei; die Einsicht in die beschränkte Brauchbarkeit von Transparent, Plakat, Wandzeitung oder Flugblatt als Mittel der politischen Auseinandersetzung trifft auch das Gedicht an der Wand.“21 Luchterhands Loseblatt Lyrik scheiterte aber auch am eigenen Anspruch literarisch-typografisch hohe Kunst zu präsentieren, wie aus einem Abgesang auf die Reihe von Heinz Piontek deutlich wird: In Gedichten, die einem so isoliert angeboten werden, sieht man unwillkürlich etwas Besonderes. […] Was wir an den vier Wänden Tag und Nacht haben sollen, darf sich nicht in Parolen, Witzen und Sprachgags erschöpfen, es muß bei jedem Anschauen neu zu denken geben. Oder atemverschlagend vollkommen sein. Von derartigen Gebilden jedoch entstehen wenigstens hierzulande in vier Jahren vielleicht vier. Alles andere schmückt nur ungemein die Tapete.22
19 Operative Information, 22.3.1968, BStU, MfS, HA XX, 10939, T. 1/2, Bl. 11. 20 Otto F. Walter an Günter Grass, 15.5.1970, Akademie der Künste, Günter-Grass-Archiv, 9895. 21 Borchers, Elisabeth, Günter Grass u. Klaus Roehler: [Nachwort]. In: Luchterhands Loseblatt Lyrik 4 (1970), Mappe 26. 22 Piontek, Heinz: An-die-Wand-Pinnen. Eine der großen Irrungen des Günter Grass. In: Der Literat 14 (1971) H. 13. S. 196.
Christoph Links
Ein Buch und seine Konsequenzen Das Schicksal der DDR-Verlage – Eine nicht enden wollende Geschichte Nachdem mich mein Freund und Kollege Klaus G. Saur auf Umwegen1 im Jahr 2005 dazu gebracht hatte, neben meiner Arbeit als Verleger auch noch ein Dissertationsprojekt anzugehen, stand die Frage der inhaltlichen Betreuung und abschließenden Begutachtung der Arbeit. Prof. Robert Funk vom Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin wollte im Interesse seiner Zunft mehr über das Schicksal der DDR-Verlage erfahren, standen die Bibliotheken im Rahmen ihrer großangelegten Digitalisierungsprojekte doch vor der schwierigen Aufgabe, „verwaiste Werke“ zu identifizieren, also die Rechtesituation von Büchern aus der ehemaligen DDR zu klären, bei denen sowohl die Autoren als auch die Verlage nicht mehr ohne Weiteres aufzufinden waren. Für die Spezifik der DDR-Verlage war aber noch ein Spezialist erforderlich, der die Recherchen des Doktoranden prüfen und ihm mit Hinweisen zur Seite stehen konnte. Dafür gab und gibt es in der deutschen Wissenschaftslandschaft nur einen: Siegfried Lokatis. Er hatte sich zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung und seit 2006 als Professor für Buchwissenschaft am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig auf die Buch- und Verlagsgeschichte der DDR-Zeit spezialisiert. Die traditionsreiche Buchstadt Leipzig bot mit ihren Verlagen, Buchhandlungen, Antiquariaten, Bibliotheken, Lehreinrichtungen, Museen und Archiven sowie den dazugehörigen Zeitzeugen ohnehin einen idealen Rahmen für ein solches Forschungsfeld. So entstand in Kooperation zwischen Berlin und Leipzig eine Qualifikationsarbeit, die im Jahr 2008 verteidigt wurde und 2009 unter dem Titel erschien Das Schicksal der DDR-Verlage – Die Privatisierung und ihre Konsequenzen. Damit glaubte ich eigentlich, das Thema „erledigt zu haben“, doch eines hatte ich nicht bedacht: die Konsequenzen für mich selbst. Seit Erscheinen des Buches erreichten mich zahlreiche Anfragen von Historikern, Journalisten, Bibliothekaren und 1 Saur hatte mich überredet, einige seiner Vorlesungen bei den Studenten der Bibliothekswissenschaft der Humboldt-Universität zu übernehmen, wo man mich anschließend zu Recherchen animierte, aus denen dann eine Dissertation erwuchs. Die genauen Hintergründe finden sich in meinem Beitrag: Klaus G. Saurs ansteckende Leidenschaft für die Verlagsgeschichte. In: Fund, Sven (Hrsg.): Klaus G. Saur – Die Berliner Jahre. Berlin u. a.: de Gruyter 2009. S. 111–113.
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ehemaligen Verlagsmitarbeitern, die Auskunft über höchst spezielle Vorgänge in weit zurückliegender Zeit von mir erwarteten. Hinzu kam, dass sich die Situation in vielen ehemaligen DDR-Verlagen ständig änderte, da die neuen Eigentümer ihre früheren Erwerbungen entweder weiterverkauften, stillschweigend schlossen oder in die Insolvenz schickten. Die dramatischen Ereignisse rund um den Aufbau-Verlag füllten zu jener Zeit gerade die Feuilleton-Seiten aller großen Zeitungen. Ich holte also die vielen Aktenordner mit den Recherchematerialien wieder aus dem Keller in mein Arbeitszimmer zurück, um neue Beiträge dazu heften und bei telefonischen Anfragen leichter zugreifen zu können. Nachdem die HardcoverErstauflage mit 2.000 Exemplaren binnen eines Jahres vergriffen war, erschien zur Frankfurter Buchmesse im Oktober 2010 eine zweite Auflage als Softcover. Von 78 behandelten Verlagen waren bei 22 Aktualisierungen erforderlich geworden. Ging es in einigen Fällen lediglich um Firmensitzverlagerungen von Ost nach West oder um die Abwicklung einzelner Programmsegmente, zwang mich ein Vorgang zu einer grundlegenden Umgruppierung im Buch, was natürlich auch die Erstellung eines neuen Registers zur Folge hatte: die letztinstanzliche Entscheidung zur wahren Eigentümerschaft des Aufbau-Verlags. Nach 14 Jahren Rechtsstreit stellte der Bundesgerichtshof klar, dass die Treuhandanstalt 1991 einen Verlag an die Investorengruppe um Bernd F. Lunkewitz verkauft hatte, der ihr gar nicht gehörte. Der Verlag war nämlich nicht im Besitz der SED – wo ich ihn bislang einsortiert hatte –, sondern nach wie vor Eigentum des Kulturbundes. Erfreulich an den Überarbeitungen zur zweiten Auflage war, dass ich nun auch auf detaillierte Zeitzeugenaussagen zurückgreifen konnte, die mir zuvor nicht zur Verfügung gestanden hatten. Bei mir meldeten sich nicht nur Kollegen aus einstigen Verlagen, die mir überraschende Details aus den abenteuerlichen Privatisierungsprozessen erzählten, sondern auch ein früherer Mitarbeiter der Treuhandanstalt, der zu einem Hintergrundgespräch bereit war. So erfuhr ich unter anderem, dass der Axel Springer Verlag 1991 den Sportverlag der DDR für eine symbolische D-Mark übernommen hatte und anschließend die dazugehörige Zeitschrift Fußballwoche für mehrere Mio. DM an einen anderen Verlag weiterverkaufte. Der Fluss der Informationen will bis heute nicht enden. Eine ehemalige Kollegin der Leipziger Verlagsgruppe Bibliographisches Institut/Verlag Enzy klopädie hat die zweite Auflage akribisch durchgearbeitet und mir zur Leipziger Buchmesse 2012 ein Arbeitsexemplar mit vielen gelben Klebezetteln überreicht. Daraus geht unter anderem hervor, dass der Verlag Enzyklopädie, den die DDR 1956 gegründet hatte, um die Werke der verstaatlichten traditionsreichen Lexikonverlage international verkaufen zu können, nur formal selbstständig, aber
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organisatorisch von Anfang an mit dem VEB Bibliographisches Institut verbunden war. Aus der Zeitung erfuhr ich, dass der Thüringer Greifenverlag in Rudolstadt auch im dritten Privatisierungsanlauf kein Glück hatte. 1990 war er zunächst an einen unseriösen fränkischen Geschäftsmann von der regionalen Treuhandbehörde veräußert worden, der dann aber die Kaufsumme schuldig blieb und nach dem Zusammenbruch seines dubiosen Schachtelunternehmens aus Verlagen, Buchhandlungen und Regionalzeitungen von der Polizei gesucht wurde und am Ende im Gefängnis landete. Der zweite Eigentümer, der 1992 mit großen Versprechungen einstieg, bekam mit gefälschten Dokumenten einen millionenschweren Aufbaukredit für den Verlag – und verschwand mit einem Teil der Summe in die Schweiz. 1993 folgte die zweite Insolvenz mit nachfolgendem Ramschverkauf der Restbestände. 2009 versuchten Mitarbeiter aus dem Umfeld der EulenspiegelVerlagsgruppe in Berlin schließlich einen Neustart und gründeten den Greifenverlag erneut. Matthias Oehme (Eulenspiegel-Verlag), Frank Schumann (Edition Ost) und der Publizist Holger Elias schufen eine Genossenschaft. Doch auch diese lebte nicht lange und musste im Mai 2011 Zahlungsunfähigkeit anmelden. Am 20. Juli 2011 beschloss das Amtsgericht Gera, den Geschäftsbetrieb des Greifenverlags zu Rudolstadt und Berlin eG endgültig einzustellen. Ähnlich erging es wenig später Teilen der Eulenspiegel-Gruppe selbst. Der Verlag Das Neue Berlin, in der DDR für Krimis und Science Fiction bekannt, der inzwischen auch Vertriebsaufgaben für den Eulenspiegel-Verlag wahrnahm, ging Anfang August 2014 in die Insolvenz. Doch im Oktober desselben Jahres ermöglichte die Insolvenzverwaltung eine Weiterführung durch die alten Eigentümer, da sich kein anderer Käufer fand. Aus der Gruppe heraus löste sich allerdings der Postkarten- und Kalenderbuchverlag Bild und Heimat, der 1951 im vogtländischen Reichenbach entstanden war und seit 2010 zur Berliner EulenspiegelGruppe gehörte, dann aber zur Berliner Buchverlagsgesellschaft mbH wechselte, wohin es auch den Rotbuch Verlag zog. Die Beschäftigung mit den DDR-Verlagen und ihrer bewegten Geschichte führte letztlich dazu, dass ich der Bitte von Klaus G. Saur, dem Vorsitzenden der Historischen Kommission des Börsenvereins in Frankfurt am Main, gefolgt bin, Mitglied dieser Kommission zu werden, zunächst als Korrespondierendes, dann als Ordentliches Mitglied. Nun bin ich, neben ihm und Siegfried Lokatis, mit der Herausgabe des sechsten Bandes der Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert zur Deutschen Demokratischen Republik betraut. Das Handbuch wird diese Zeitgeschichte mit Fokus auf das Geschehen in den Verlagen, Buchhandlungen und Bibliotheken umfassend darstellen. Ich ahne schon, welche Konsequenzen sich daraus für mich ergeben werden …
Gestaltung und Ästhetik
Thomas Glöß
Die Antiquafrage Frühdruckformen und ihre epigrafische Entsprechung1 Über die Entstehung der Antiqua sind schon viele paläografische Betrachtungen angestellt worden. Nur selten ist dabei der Fokus auf die Wechselwirkung zwischen den frühen Antiquadruckschriften und ihrer epigrafischen Entsprechung gerichtet worden.2 Der nähere Blick auf diesen Aspekt in der Genese der Antiquaschrift lohnt schon der Rolle wegen, welche sie in den vergangenen 500 Jahren in der europäischen und speziell der deutschen Schriftgeschichte gespielt hat. Auch mit der Immaterialisierung digitaler Schriftfonts hat die Antiqua nichts von ihrer Bedeutung als eine der meistgenutzten und zeitlos schönen Satzschriften eingebüßt. Die Entwicklung unserer lateinischen Schriften ist bis zur Frühen Neuzeit vom stetigen Wandel und den Beziehungen von Majuskeln und Minuskeln geprägt. Der Buchdruck forcierte diese Entwicklung und führte zur heute noch unveränderten Form des Alphabets. An allen in der Inkunabelzeit verwendeten Druckschriften lässt sich die unterschiedliche Entwicklung von Majuskeln und Minuskeln nachvollziehen. Exemplarisch dafür steht mit engen Berührungspunkten zur epigrafischen Schriftgeschichte und zur Antike – was den Namen auch prägte – die Antiqua. Als Grundform für die Majuskeln der lateinischen Schrift und bis heute als ihr ästhetischer Maßstab steht die römische Capitalis Quadrata (Abb. 1), auch römische Monumentalschrift oder Kapitalis Monumentalis genannt. Verwendet wurde sie großformatig für feierliche Weihe-, Ehren- und Grabinschriften. Es war das handwerkliche Geschick römischer Steinmetze, welches sie im ersten Jahrhundert zur höchsten Blüte trieb. Der Ordinator zeichnete die Formen auf den Stein, worauf der Quadratarius – diese Bezeichnung des antiken Steinmetzen 1 Der vorliegende Beitrag erschien bereits in der Zeitschrift: Aus dem Antiquariat. Zeitschrift für Antiquare und Büchersammler NF 5 (2007) Nr. 2. S. 110–117. 2 Vgl. Bauer, Konrad Friedrich: Antiqua und Antike. In: Gutenberg-Jahrbuch (1958). S. 16–19. Vgl. Bornschlegel, Franz-Albrecht: Druckschriften und epigrafische Schriften auf der Schwelle zum Frühdruck am Fallbeispiel Augsburg. In: Koch, Walter u. Steininger, Christine (Hrsg.): Inschrift und Material. Inschrift und Buchschrift. Fachtagung für mittelalterliche und neuzeitliche Epigraphik Ingolstadt 1997. München: Bayerische Akademie der Wissenschaften 1999. S. 213–224. Vgl. Glöß, Thomas: Druckschrift und Inschrift, Formzusammenhänge und wechselseitige Einflüsse von frühen Druckschriften und epigraphischen Schriften der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts in Deutschland. Berlin u. a.: Edition Lebensretter 2006.
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war namensgebend – sie keilförmig einschlug.3 In dieser Form des Keilschnitts in Verbindung mit dem Kontrast aus dünnen Haarstrichen und anschwellenden Bögen und Balken liegt ein Geheimnis der Capitalis Quadrata. Bei jedem unterschiedlichen Winkel des Lichteinfalls ergibt sich eine Facettierung, die mit dem Spiel aus hellen und schattigen Kanten der Inschrift eine Dreidimensionalität und Eleganz verleiht.
Abbildung 1: Capitalis Quadrata, Trajanssäule, Rom 113 n. Chr.
Im weiteren Verlauf über die Spätantike hinaus verlor sie allmählich ihre ausgewogenen Proportionen. Es mutet kurios an, dass sie ausgerechnet zu dem Zeitpunkt wieder in alter Schönheit erstarkte, als die Minuskeln per Dekret in ganz Mitteleuropa zur dominierenden Schriftform wurden. Allerdings war es das Gebiet der geschriebenen Buchschriften, auf welchem Karl der Große eine Schriftreform zur Vereinheitlichung anordnete, weswegen die seit dem späten 8. Jahrhundert gebräuchliche Minuskel karolingische Minuskel heißt.4 Nicht ohne Grund spricht man auch von der karolingischen Renaissance, denn es wurden nicht nur die Texte der antiken Autoren abgeschrieben, sondern auch die Inschriften kopiert. Ein Zeugnis einer solchen sorgfältig ausgeführten karolingischen Kapitalis legt zum Beispiel die Westwerktafel der ehemaligen Klosterkirche von Corvey ab. Auch die Grabplatte für Papst Hadrian I., 795 von Karls Schreibmeister Alkuin von 3 Vgl. Meyer, Ernst: Erweiterte Einführung in die lateinische Epigraphik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973. S. 17–19. 4 Vgl. Hirsch, Hans: Gotik und Renaissance in der Entwicklung unserer Schrift. Wien: HölderPichler-Tempsky 1932. S. 1.
Die Antiquafrage
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York ausgeführt und heute noch im Petersdom vorhanden, ahmt sogar konkret eine römische Inschrift nach, die „Lex de imperio Vespasiani“ genannte Gesetzestafel des Kaisers Vespasian aus dem Jahre 69, ebenfalls heute noch in Rom vorhanden. Die weitere paläografische und epigrafische Entwicklung bis zum Beginn der Renaissance zu schildern, ist hier nicht der Platz. Angeführt sei nur, dass es bei keiner Schrift, weder einer geschriebenen noch einer epigrafischen, bis zum Ausgang des Mittelalters zu einem Zusammenwachsen von Minuskeln und Majuskeln kam. Dieser Prozess war der relativ kurzen Zeitspanne des 15. Jahrhunderts vorbehalten, wobei der Buchdruck eine wichtige Rolle spielte. Auf epigrafischem Gebiet war bis 1400 die bis dahin dominierende gotische Majuskel beinahe vollständig von der Minuskel verdrängt worden. Die allerersten Druckschriften von Gutenberg und seinen Mitarbeitern waren in gotischen Minuskeln geschnitten und verfügten anfangs über keine passenden Majuskeln. Diese wurden aus dem Formvokabular des 12. und 13. Jahrhunderts entlehnt. Bis zur Entwicklung von Majuskeln, die den Minuskeln angepasst waren, dauerte es zum Teil bis etwa 1500. Bei der Antiqua liegt zwar eine ähnliche Ausgangslage vor, der Entwicklungsweg ist aber gänzlich anders. Aus der karolingischen Minuskel hatte sich vom 14. bis ins 15. Jahrhundert in Italien die humanistische Minuskel entwickelt. Mit der Wiedergeburt der Antike wurden in dieser Schrift die Werke der griechischen und römischen Klassiker abgeschrieben, soweit vorhanden vom Original oder größtenteils von Kopien aus der karolingischen Epoche. Eine weitere Wiederentdeckung vollzog sich in der Renaissance zuerst in Italien, bald darauf auch in Deutschland. Mit der Hinwendung zur Antike begannen bereits im 14. Jahrhundert Gelehrte aus dem Umkreis von Petrarca, Abschriften von Monumentalinschriften anzufertigen, die Sammlung von Cola di Rienzi ist heute noch erhalten. 1463 wurde diese Auseinandersetzung mit der Antike durch Felice Feliciano auf eine neue Stufe gehoben. Er fertigte in diesem Jahr die erste Konstruktionszeichnung von Buchstaben der Capitalis Quadrata an,5 diesem Beispiel folgten bis 1602 weitere 17 Gelehrte, Schreibmeister und Künstler wie Albrecht Dürer in seiner berühmten Ausgabe Underweysung der messung mit dem zirckel un richtscheyt von 1525.6 Darin bringt er zum Ausdruck, welchen praktischen Nutzen Bau- und Werkleute ziehen können: „So dann die bauleut auch 5 Vgl. Feliciano, Felice: Alphabetum Romanum. Hrsg. v. Giovanni Mardersteig. Verona: Ed. Officinae Bodoni 1960. 6 Vgl. Dürer, Albrecht: Underweysung der messung mit dem zirckel un richtscheyt in Linien, ebnen unnd gantzen corporen / durch Albrecht Dürer zusamen getzoge und zu nutz alle kunstlieb habenden mit zu gehörigen figuren in truck gebracht. Nachdruck der Ausgabe von 1525. Unterschneidheim: Uhl 1972.
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maler und ander etwan schrift an die hohen gemeuer pflegen zu machen / so thuet not das sie recht buchstaben leren machen / darumb will ich hie ein wenig dafon anzeygen / erstlich ein Lateinisch abc“. Es war bei Dürer also mehr als ein Nachvollziehen der Ästhetik und der ausgewogenen Proportionen der Kapitalis. In der Konstruktion jedes Buchstabens in teils mehreren Varianten und mit einem zehnteiligen quadratischen Raster unterlegt steckte das Ziel, praktikable Richtlinien für die Qualität monumentaler Inschriften zu erstellen. Dass dieses Werk auch nicht ohne Einfluss auf die druckschriftliche Antiqua seinerzeit und darüber hinaus auf Schreibmeister und Schriftschöpfer blieb, liegt auf der Hand. Zum einen war es das erste derartige Werk in Deutschland, zum anderen fand es durch mehrere Nachauflagen starke Verbreitung. Dürers Bekanntheit wird ein Übriges dazu getan haben. Der Beginn der Antiqua liegt jedoch bereits im 15. Jahrhundert. Vorbereitet im Klima der Renaissance waren es deutsche Drucker, welche als erste überhaupt mit Antiqua in Italien druckten. Vorläufer in Form der Gotico-Antiqua – wie der Name schon sagt eine frühe Mischform mit gotischen Elementen – druckte bereits 1459 in Mainz Peter Schöffer, der einstige Mitarbeiter Gutenbergs. Allererste Antiquadrucke entstanden 1464/1465 im Kloster Subiaco bei Rom durch Konrad Sweynheym und Arnold Pannartz. Vermutlich mussten auch sie wie Peter Schöffer und sein Geschäftspartner Johann Fust aus Mainz fliehen, als die Truppen des Erzbischofs Adolf von Nassau die Stadt im Oktober 1462 im Zuge der Mainzer Stiftsfehde erstürmten. Dieses Ereignis wird als einer der Gründe für das Auswandern deutscher Drucker zuerst nach Italien und bald darauf Frankreich, Spanien und in weitere Länder in den 1460er und 1470er Jahren angesehen und trug mit zu einer schnellen Verbreitung der Buchdruckerkunst bei.7 Die von Konrad Sweynheym und Arnold Pannartz verwendete erste Schrift weist eine Reihe von Unvollkommenheiten auf, sodass sie von der Forschung ihrer vielen gotischen Reminiszenzen lange Zeit nur als Gotico-Antiqua angesehen wurde. Erst mit der Type 2,8 die sie ab 1467 in Rom verwendeten, kristallisieren sich die Formen einer Antiqua klar heraus. Erstmals sind die Majuskeln nach dem Vorbild der römischen Kapitalis und die Minuskeln aus den humanistischen Schriften zu einem Alphabet vereinigt. Ebenfalls 1467 druckte Adolf Rusch in Straßburg als Erster im deutschen Raum mit Antiqua. Die Verwendung zu diesem frühen Zeitpunkt blieb noch eine Ausnahme, zu größerer Verbreitung kam sie erst nach 1490. Eine schnelle Verbreitung erlebte die Antiqua jedoch in Italien, 7 Vgl. Kapr, Albert: Johannes Gutenberg. Persönlichkeit und Leistung. Leipzig u. a.: Urania Verlag 1986. S. 265. 8 [VGT 543]. Vgl. Veröffentlichungen der Gesellschaft für Typenkunde des 15. Jahrhunderts. Leipzig: Harrassowitz 1907–1938.
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wo sie zuerst in Venedig zur Blüte kam. Dabei ist besonders Nicolas Jenson zu erwähnen, der den Urtyp der venezianischen Renaissanceantiqua schuf (Abb. 2), an deren Vorbild sich viele Schriftgestalter bis heute orientieren. Dazu wird im Zusammenhang mit epigrafischen Vorlagen noch die Rede sein.
Abbildung 2: Nicolas Jenson, Antiqua Type 2, Diomedes: De Arte Grammatica, Venedig 1480.
Bei der Suche von Gemeinsamkeiten der druckschriftlichen Antiqua und Inschriften fällt auf, dass solche von der Antike bis zur Frühen Neuzeit in Details zu finden waren, welche über die eigentlichen Schriftformen hinausgingen. Es waren die frühen Formen der Interpunktionen wie Worttrenner. In den römischen Inschriften von der späten Republik bis in die frühe Kaiserzeit tauchten verschiedene Arten von Worttrennungszeichen auf. Bis zur späten Kaiserzeit kristallisierten sich jedoch zwei Varianten heraus: die Efeublätter und das häufig auf Zeilenmitte gestellte Dreieck. Mit den Spitzen in verschiedene Richtungen gestellt und in der gekehlten Variante auch als Dreispitz bezeichnet, wurden sie auf italienischem Boden das gesamte Mittelalter hindurch auf Grabplatten verwendet. Dagegen verschwanden sie nach der karolingischen Renaissance allmählich aus den Inschriften in Deutschland und tauchten erst gegen 1500 wieder auf. Blätter als Worttrenner gab es in mehreren Formen. Neben den fünfzackigen Weinblättern waren es in der Mehrzahl Efeublätter. Die als Hedera bezeichneten Formen bestanden ursprünglich aus einem dreiteiligen spitzgezackten Blatt, wandelten sich dann aber zum Herzblatt. Auch die Tendenz, die Hedera an den Anfang und das Ende eines Textes zu setzen, entwickelte sich bereits in der frühen römischen Kaiserzeit. Zeugnisse davon auf Bau- und Grabinschriften aus dem 1. bis 4. Jahrhundert waren auf deutschem Gebiet zum Teil lange präsent und kamen seit der Renaissance durch Ausgrabungen wieder ans Tageslicht. In der gotischen Ornamentik erfreuten sich Formen der Hedera großer Beliebtheit, bei Inschriften wurde ihre Verwendung aber nach der karolingischen Renaissance
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zunehmend seltener. In Handschriften tauchte sie während des Mittelalters selten auf, dann auch meist in stark gewandelter Form mit langem Stil und Lanzettblatt. Eine Wiederverwendung der Hedera als Worttrenner ist bei Grabplatten seit dem frühen 15. Jahrhundert zu beobachten. Beispiele dafür bietet der Meißner Dom, in dessen Fürstenkapelle sich eine Reihe von Messinggrabplatten zumeist Nürnberger Provenienz befindet. Bei der Umschrift des Hochgrabes für Friedrich I. dem Streitbaren, von einer unbekannten Nürnberger Werkstatt ausgeführt, wurden mehrere Varianten der Hedera zur Worttrennung benutzt. Die Form des aus einer Raute aufsteigenden Blattes übernahm die Nürnberger Vischer-Werkstatt etwa 1480 in der Umschrift der Grabplatte für Christoph von Rotenhan.9 Des Weiteren sind im Kreuzgang des Meißner Doms Steingrabplatten vorhanden, die ebenfalls Hedera als Worttrenner zeigen.10 In der Anwendung von Interpunktionen im Buchdruck setzte Aldus Manutius 1494 in Venedig mit dem Druck von Pietro Bembos De Ætna einen Meilenstein. Mit Komma, Semikolon, Punkt, Doppelpunkt, runden Klammern, waagerechtem Divis und Fragezeichen kamen in einem Druck erstmalig die wichtigsten Satzzeichen in ihrer bis heute gültigen Form zur Anwendung. Eine Hedera tauchte bei ihm zwar im Druck nicht auf, dafür aber 1499 erstmalig als Prägung auf einem seiner Einbände. Die Hedera war ihrer Herzform mit geschwungenem Stilansatz schon kurz zuvor – 1497 xylografisch auf einem Titelblatt – sehr nahe gekommen und trägt heute in Anlehnung an Aldus Manutius den Namen Aldusblatt. Ihr Zweck bestand aber nicht mehr in der Worttrennung, sondern – wie auch teils schon bei den römischen Inschriften – in der Einfassung des Textes in vignettenartiger Form am Anfang und Ende. Erste xylografische Anwendungen machen zusammen mit der Kapitalis und der Andeutung eines inschriftlichen Rahmens die Übernahme aus der römischen Epigrafik deutlich.11 Als früheste Anwendung der Hedera im Buchdruck in Deutschland steht ein den römischen Inschriften untrennbar verbundenes Werk, Konrad Peutingers Sammlung römischer Grabinschriften in Augsburg, Romanae vetustatis fragmenta in Augusta Vindelicorum von 1505. Diese Sammlung von 23 Inschriften wurde nicht – wie in Abschriften sonst üblich – nur fortlaufend dokumentiert, sondern adäquat zum Zeilenfall des Originals „faksimiliert“. Peutinger hat für diesen Zweck den Augsburger Drucker Erhard Ratdolt beauftragt, eine Schrift zu schneiden. Diese von Ratdolt geschaffene Antiqua weist trotz der kleinen spätgotischen Reminiszenz wie dem Deckbalken des A durch Proportionen, Form und Größe (mit 8 mm als Kleine Kanon) deutlich die Capitalis Quadrata als Vorbild 9 Vgl. die Abbildung in: Glöß, Druckschrift (wie Anm. 2), S. 86. 10 Vgl. die Abbildung in: Glöß, Druckschrift (wie Anm. 2), S. 40. 11 Vgl. die Abbildung in: Glöß, Druckschrift (wie Anm. 2), S. 87.
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aus (Abb. 3): „Peutinger got Ratdolt to design a new typeface for his anthology of inscriptions, a roman majuscule so large that it almost simulated the lettering of the inscriptions themselves.“12
Abbildung 3: Erhard Ratdolt, Antiquamajuskeln für Konrad Peutinger Romanae vetustatis fragmenta in Augusta Vindelicorum, Augsburg 1505.
Die Schriftgröße, Satzanordnung zur Spitzkolumne und Verwendung von Worttrennern in Dreieckform auf Zeilenmitte gestellt sowie die Einfassung des Schlusswortes „FINIS“ mit Aldusblättern vermitteln die bewusste Anlehnung an römische Inschriften. Das enge Verhältnis Peutingers und Ratdolts zur Rezeption römischer Inschriften beruhte sicher auf den längeren Italienaufenthalten beider. Peutinger hatte bis 1486 in Padua und Rom studiert, und Ratdolts venezianische Druckertätigkeit ebenfalls bis 1486 hatte vielschichtige Auswirkungen. Dort schuf er noch kurz vor seiner Rückkehr nach Augsburg das erste Schriftmusterblatt, welches nachhaltig für die Verbreitung von Rotunda und Antiqua in Augsburg und darüber hinaus gesorgt hat (Abb. 4). Als einer der innovativsten Drucker seiner Zeit hat Ratdolt eine Reihe von Neuerungen in den Buchdruck eingeführt. In der deutschen Ausgabe des astronomischen Kalenders von Johannes Regiomontanus 1478 setzte er als erster Drucker Italiens Holzschnittinitialen ein und 12 Wood, Christopher S.: Early Archaeology and the Book Trade: The Case of Peutingers Romanae Vetustatis Fragmenta (1505). In: Journal of Medieval and Early Modern Studies (1998) Nr. 1. S. 84.
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schuf das erste Titelblatt mit typografischem Schmuck in Form von Randleisten. Auch die ersten farbigen Holzschnitte von mehreren Platten sowie der Druck in Gold gehen auf die Innovationen Ratdolts zurück. Sämtlicher in dieser Dekade entstandener typografischer Schmuck weist auf eine starke Beziehung zur italienischen Renaissance, die ja einen Teil ihrer Inspiration aus der lateinischen Epigrafik ableitete.
Abbildung 4: Erhard Ratdolt, Schriftmusterblatt, Venedig 1486, Ausschnitt.
Auch die zweite Sammlung römischer Inschriften wurde in Deutschland verlegt, und zwar 1520 – und damit noch ein Jahr vor der ersten italienischen Edition einer der vielen dortigen Inschriftensammlungen, der Epigrammata antiquae urbis von Jacopo Mazzocchi. Dieser zweite Druck unter dem Titel Collectanea antiquitatum in urbe, atque agro Moguntino repertarum nahm deutliche Bezüge zum Vorbild der Ausgabe Peutingers auf, wie im Vorwort ausdrücklich vermerkt. Der Theologe Dietrich Gresmund wollte seine Sammlung von römischen Inschriften des Stadtgebietes Mainz verlegen, starb jedoch 1512. Johann Huttich redigierte die Ausgabe und Peter Schöffers Sohn Johann druckte sie in Mainz. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte der als geschickter Stempelschneider bekannte Johann Schöffer die beiden Antiquaschnitte für diese Ausgabe lange vor 1520 und damit zur ursprünglich geplanten Herausgabe geschnitten. Beide sind Auszeichnungsschriften, die kleine Type mit einer Größe von 8,5 mm (Kleine Kanon). Der große Grad mit 12 mm (Große Kanon) wurde bereits 1517 vom Basler Drucker Johannes Froben und kurz darauf von mehreren rheinischen Druckereien genutzt. Da es sich nicht um Nachschnitte handelt, ist davon auszugehen, dass Schöffer die
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Matrizen durch Handel oder Tausch in Umlauf brachte. Zur eigenen Verwendung in der Schöffer’schen Druckerei kam die große Type 1518 erstmalig in der Ausgabe Titus Livius. Dabei setzte Schöffer Aldusblätter ein, die den von Ratdolt verwendeten ähnlich sind, genau wie die Worttrenner in Dreiecksform, die mit der Spitze nach rechts am Fuß der Zeile stehen. Bei den Collectanea antiquitatum sind sie nach links deutend auf Zeilenmitte gesetzt. Zur großen Antiqua Schöffers lässt sich schon anhand ihrer äußeren Merkmale feststellen, dass sie noch konsequenter als die Ratdolts in Form und Proportion der Capitalis Quadrata römischer Inschriften kopiert. Dass beide Stempelschneider ihre Vorlagen aus diesen Quellen bezogen, kann zweifelsfrei angenommen werden, da über die erwähnten formalen Kriterien hinaus noch andere Tatsachen dafür sprechen. In der zweiten und erweiterten Auflage Peutingers, Inscriptiones vetustae Romanae von 1520, und der Huttichs aus dem gleichen Jahr wurden zur überzeugenderen bildlichen Wiedergabe die Texte umrahmt. Diese Umrissholzschnitte stellen die abgedruckten Grabplatten und Sarkophage dar. In der von Schöffer gedruckten Ausgabe Huttichs steht als erste der 44 Inschriften ein Sarkophag,13 auf dessen Überschrift und seine Bedeutung bereits Konrad F. Bauer hingewiesen hat. „Io. Schoeffer bibliographvs in aedibus suis“ verweist auf den Standort des Schöffer’schen Hauses, den Humbrechtshof. „Das Beispiel lehrt, in welch enger Nachbarschaft ein deutscher Buchdrucker jener Zeit mit römischer Schrift zusammen wohnen konnte.“14 Eine direkte formale Vorlage epigrafischer Schriftformen für den Buchdruck ist in diesem Fall weit mehr als wahrscheinlich. Im Zusammenhang mit der Übernahme von Antiqua aus einem Medium in ein anderes steht Mainz für ein weiteres Beispiel in umgekehrter Folge, wieder im Zusammenhang mit der Druckerfamilie Schöffer. Ausgangspunkt ist das Jahr 1483, als der Mainzer Domdekan Bernhard von Breydenbach seine für die Druckgeschichte folgenreiche Pilgerreise ins Heilige Land antrat. In seiner Begleitung befand sich der aus Utrecht stammende Maler Erhard Reuwich, dessen Identität noch immer nicht eindeutig geklärt werden konnte. Er gehörte dennoch zweifelsfrei zu den besten Künstlern des Rheinlands seiner Zeit. Die Tatsache, dass Breydenbach auf diese Reise einen Maler mitnahm, spricht dafür, dass er das anschließend ausgeführte Editionsunternehmen im Voraus gründlich geplant hatte, wie er auch später im Vorwort anmerkte. Nach der Rückkehr 1484 begann er mit den Vorbereitungen für die Drucklegung des Reiseberichts. Diese zog sich bis zum Februar 1486 hin, als die lateinische Ausgabe unter dem Titel Peregrinatio in terram sanctam erschien. Im Juni desselben Jahres folgte die Ausgabe in deutscher Sprache und im Mai 1488 eine niederländische, für die Reuwich 13 Vgl. die Abbildung in: Glöß, Druckschrift (wie Anm. 2), S. 88. 14 Bauer, Antiqua (wie Anm. 2), S. 18.
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als Übersetzer angesehen wird. Während dieser Pilgerreise hatte Reuwich bei allen Aufenthalten Skizzen gemacht und diese zu 28 Holzschnitten verarbeitet.15 Sieben sind Stadtansichten als Panoramen, von denen fünf als Falttafeln eingebunden wurden. Venedig mit 162 cm Breite und von vier Platten gedruckt besticht als größte Ansicht mit einem enormen Detailreichtum und topografischer Genauigkeit.16 Es ist ganz offensichtlich, dass der Holzschnitt mit der Darstellung Venedigs in Hartmann Schedels Weltchronik von 1493 maßgeblich durch Reuwichs Panoramen beeinflusst wurde.17 Weiter erscheinen zwei kleine architektonische Details, drei Initialen, neun figurale szenische Darstellungen sowie sieben Alphabettafeln. Als Urheber dieser Alphabete in Arabisch, Hebräisch, Koptisch, Chaldäisch, Armenisch, Griechisch und Äthiopisch kommt aber Reuwich nicht in Betracht, er hat nach wissenschaftlich bearbeiteter Vorlage – in diesem Fall – nur den Holzschnitt ausgeführt. Die Texttype und die Auszeichnungstype sind in allen drei Ausgaben identisch. Beides sind Schriften Peter Schöffers, die Textschrift in Schwabacher ist Schöffers Type 8, VGT 1637 und die Auszeichnungsschrift eine große Missaltype, Schöffers Type 7, VGT 258. Dass im VGT Schöffers Type 7 und 8 als Reuwichs Type 1 und 2, VGT 1116 und 1117, nochmals auftauchen, ist der Tatsache geschuldet, dass im Kolophon aller drei Ausgaben Reuwich als Drucker angegeben ist. Auf der Hin- und Rückreise machte die Gruppe für einige Wochen in Venedig Station und quartierte sich bei dem Frankfurter Kaufmann und Verleger Peter Uglheimer ein. Als Mitinhaber der Offizin des 1480 gestorbenen Nicolas Jenson fungierte er als dessen Nachlassverwalter und erbte neben dem umfangreichen Werkstattinventar auch die Stempel der Antiqua Jensons. Es ist nur schwer vorstellbar, dass die zu jenem Zeitpunkt im venezianischen Buchdruck schon verbreitete Antiqua von Reuwich und Breydenbach nicht wahrgenommen wurde. Noch im Jahr ihrer Rückkehr 1484 stifteten der Ritter von Bicken und Breydenbach aus Anlass der glücklichen Heimkehr ein Denkmal, das sich noch heute im Ostflügel des Mainzer Domkreuzgangs befindet. Es handelt sich um eine Strah15 Vgl. Timm, Frederike: Der Palästina-Bericht des Bernhard von Breydenbach von 1486 und die Holzschnitte Erhard Reuwichs. Stuttgart: Hauswedell 2006. Frederike Timm hat in ihrem Buch das Werk Breydenbachs im Kontext der Entstehungsgeschichte auch auf die Holzschnitte Reuwichs hin gründlich untersucht und ist dabei zu Erkenntnissen gekommen, die zum Teil weit über den bisherigen Forschungsstand hinausgehen. 16 Vgl. die Abbildung in: Breydenbach, Bernhard von: Die Reise ins Heilige Land. Hrsg. v. Elisabeth Geck. Wiesbaden: Pressler 1961. Vgl. ferner rekonstruierte Faksimileabbildung in: 13. Internationale Ausstellung für Künstlerbücher und Handpressendrucke 2004. Leipzig: Edition Lebensretter 2004. 17 Vgl. Schedel, Hartmann: Weltchronik. Kolorierte Gesamtausgabe von 1493. Einleitung und Kommentar von Stephan Füssel. Augsburg: Weltbild 2004. S. 639–641.
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lenkranzmadonna auf der Mondsichel, „Madonna der Palästinafahrer“ genannt. Die darunter befindliche Inschrift wird als die erste in reiner Renaissance-Kapitalis ausgeführte in Deutschland angesehen (Abb. 5). Im Vergleich zur römischen Capitalis Quadrata und den etwas späteren Inschriften der Mainzer Erzbischöfe weist die Ausführung bei der Proportionierung, Regelmäßigkeit und Eleganz starke Defizite auf, was verschiedenen Faktoren wie Witterungseinflüssen auf dem relativ weichen Sandstein, mechanischen Beschädigungen und wenig sachgemäßen Restaurierungsarbeiten geschuldet ist. Die Vermutung, Reuwich und Breydenbach haben unter dem Eindruck der venezianischen Antiquatypen Jensons und weiterer des Verlegers Uglheimer für ihr Denkmal eine der Antiqua entsprechende Kapitalis gewählt, hat viel für sich. Begründen lässt sich diese These neben den o. g. Fakten mit weiteren, die Pilgerreise und deren Edition betreffenden Einzelheiten.18
Abbildung 5: Madonna der Palästinafahrer, Kreuzgang im Dom zu Mainz, 1484.
Als Titelblatt des Buches, welches in allen drei Ausgaben verwendet wurde, schuf Reuwich einen Holzschnitt von außergewöhnlicher Qualität.19 Im Zentrum steht eine Dame mit venezianischer Kleidung und Haartracht. Zusammen mit der gesamten figürlichen Umrahmung, allen vegetabilischen Elementen und der perspektivischen Sicht kommt der Einfluss figurativer Darstellungen der italienischen Renaissancegrafik stark zum Ausdruck. Diese Übernahmen zeigen, wie intensiv sich Reuwich besonders mit der venezianischen Druckgrafik auseinandergesetzt haben muss. Es ist unwahrscheinlich, dass ihm in diesem Zusammenhang die bis dahin am Mittelrhein noch kaum in Erscheinung getretene Antiqua 18 Vgl. Fuchs, Reimar Walter: Die Mainzer Frühdrucker mit Buchholzschnitten 1480–1500. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens (1960) Bd. 2. S. 1–129. Glöß, Thomas: Peregrinatio in terram sanctam – Bernhard von Breydenbachs Pilgerreise im Zusammenhang paläographischer und epigraphischer Entwicklungen. In: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte. Bd. 15, hrsg. v. Christine Haug u. Lothar Poethe. Wiesbaden: Hassarrowitz 2006. S. 11–31. 19 Vgl. die Abbildung in: Schedel, Weltchronik (wie Anm. 17), S. 11.
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nicht auffiel. Mit Schrift hat sich Reuwich bei der Herausgabe der Peregrinatio in terram sanctam zwangsläufig beschäftigen müssen. Zum einen war er – wo und in welcher Funktion sei dahingestellt – in den Prozess des Setzens und Druckens und damit auch der Schriftwahl involviert. Zum anderen bezeugen das die Holzschnitte der sieben Alphabettafeln und Beschriftungen der sieben Panoramen mit Stadt- und Landschaftsansichten. In den letzteren setzte er zwei Schriftarten ein. Die zahlreichen geografischen Zuordnungen, Gebäudebezeichnungen und sonstigen Anmerkungen sind – bis auf wenige Ausnahmen einer gotischen Minuskel – in einer Bastarda gehalten, die offensichtlich auf einer handschriftlichen Vorlage beruhte. Bei allen auf dem oben angeordneten Schriftband stehenden Städtenamen und den besonders betonten Bezeichnungen erscheint eine Auszeichnungsschrift in Form der frühhumanistischen Kapitalis. Diese weist zwei Erscheinungen auf, von denen eine ungewöhnlich ist. Im üblichen Rahmen halten sich die für eine frühhumanistische Kapitalis typischen Einsätze des unzialen D in Form einer gespiegelten 6, des epsilonförmigen E und gelegentlich des gebrochenen Mittelbalkens bei A sowie des byzantinischen M in Form eines H mit einem Mittelbalken im unteren Teil. Eine Besonderheit der Kapitalis besteht in ihren Serifen. Diese sind in ihrer betonten Ausformung stark gekehlt, was eines der wesentlichen Merkmale der venezianischen Renaissanceantiqua ausmacht. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Berührungspunkte zwischen der epigrafischen Capitalis Quadrata und der druckschriftlichen Antiqua vielfältiger Art sind. Dabei kommen unterschiedliche regionale Gegebenheiten ins Spiel. So war am Ober- und Mittelrhein sowie in Süddeutschland die Präsenz römischer Inschriften vor Ort stärker als in anderen Gegenden, die erst indirekt durch die italienische Renaissance beeinflusst wurden. Darüber hinaus haben Zentren der Handwerkskunst, die beinahe ausnahmslos auch Frühdruckstandorte waren, zu einer intensiven Auseinandersetzung mit Schrift geführt. Wenn auch die Fraktur seit ihrem ersten Einsatz 1513 bis in das letzte Jahrhundert in Deutschland dominierte, so hat die Antiqua seitdem jeden Stilwandel unbeschadet überstanden und ist heute aus dem Schriftschaffen nicht wegzudenken.
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Die Leserin und der Kavalier Zur Wandlung eines Bildmotivs zwischen Ancien Régime und Biedermeier Bilder von lesenden Männern und Frauen, die Lektüre in einem Innenraum, im Freien, in Gesellschaft oder allein – diese Themen sind schon vielfach untersucht worden. Das Buch wurde auf den Abbildungen in seiner materiellen Form dargestellt, geschlossen, leicht geöffnet oder die Seiten aufgeblättert. Es fungierte bei den religiösen Darstellungen wie ein allgemeines Attribut, dem oft noch ein spezielles hinzugefügt werden konnte, etwa der Löwe bei dem Evangelisten Markus. Die Form des Buches, die Ausstattung und das Format waren nur allgemeine Hinweise, die auf seine Verwendung schließen ließen. Das Buch war nicht näher bestimmt, es erhielt erst durch die Zuordnung zu einer Person in einer bestimmten Lesesituation seine Konnotation. In der bildlichen Darstellung konnte das Buch nur als Medium, als Träger von Inhalten, nicht aber der Inhalt selbst, gezeigt werden. Erst in einem Kontext erhielt es einen Aussagewert, der ihm von außen zuwuchs. In seiner Studie Der Verlust der Sinnlichkeit1 von 1987 hat Erich Schön eine besondere Lesedarstellung nach einem Bild des französischen Malers, Kupferstechers und Radierers Charles Dominique Joseph Eisen (1720–1778) publiziert. Schön wiederum hatte sie aus Eduard Fuchs’ Geschichte der erotischen Kunst von 1926 übernommen.2 Aufgrund des originellen Sujets und ihres Nachlebens verdient sie eine nähere Betrachtung.
Charles Dominique Joseph Eisen Eisen, Zeitgenosse seines weitaus berühmteren Malerkollegen François Boucher (1703–1770), machte sich in Paris besonders durch seine Buchillustrationen, seine zahlreichen Vignetten und Schlussstücke einen Namen. So illustrierte er zusammen mit anderen Künstlern 1762 die Contes et nouvelles en vers von Jean de La Fontaine und 1767 die Métamorphoses von Ovid. Auch Voltaire war mit den 1 Vgl. Schön, Erich: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlung des Lesers. Mentalitätswandel um 1800. Stuttgart: Klett-Cotta 1987. S. 12. 2 Vgl. Fuchs, Eduard: Geschichte der erotischen Kunst. Bd. 3: Das individuelle Problem. 2. Teil. München: Langen 1926. S. 312f.
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Bildern zu seiner Henriade sehr zufrieden und meinte, dass sie viel zur Wirkung des Textes beitragen könnten.3 Eisens Illustrationen, vor allem die zu La Fontaine, gelten als besondere Beispiele der „gravure galante“ der Zeit Ludwigs XV. (1710–1774).4 Weniger berühmt waren seine Gemälde, von denen etliche als Kopien in Kupferstichen oder Radierungen verbreitet wurden. Eisen war sogar zeitweilig als Zeichenlehrer der einflussreichen Jeanne-Antoinette Poisson, Marquise de Pompadour (1721–1764) beschäftigt, der Maitresse des Königs, der den vielsagenden Beinnamen „Le Bienaimé“ (der Vielgeliebte) hatte. Sie war gebildet, verfügte über eine große Bibliothek, war vielfach vernetzt, förderte zum Beispiel die Gründung der Porzellanmanufaktur in Sèvres und protegierte mehrere Schriftsteller, darunter Voltaire. Eisen jedoch verscherzte sich durch sein grobes und unkultiviertes Benehmen die Gunst und Protektion der Marquise, was vermutlich zur Folge hatte, dass er kein Mitglied der Académie Royale wurde.5 Trotz seiner Erfolge starb er in völliger Armut. Einige der Gemälde Eisens sind durch die Radierungen von Pierre-François Basan (1723–1797) bekannt. Basan war auch Verleger und Multiplikator, er veröffentlichte Nachstiche von berühmten Vorlagen, so von italienischen und holländischen Meistern, darunter auch Rembrandt. Das vorliegende Blatt nach Eisen ist ebenfalls eine Radierung Basans.6 Fuchs datiert es auf 1776. Die Vorlage jedoch, Eisens Gemälde, dürfte weit früher entstanden sein. Für das Verständnis des Bildes ist es wichtig zu wissen, dass es sich nicht um ein Einzelblatt handelte, sondern dazu ein Pendant gehörte. Beide Blätter waren inhaltlich wie kompositorisch aufeinander bezogen. Die beiden Radierungen Basans (Größe je 39,3 x 29,5 cm) haben, anders als bei den Gemälden der Zeit üblich, eigene Untertitel oder Legenden. So ist das von Fuchs publizierte Blatt „L’amour européen“ und das nicht gezeigte Gegenstück „L’amour asiatique“ benannt.7 Die Unterschriften stammten vermutlich von Basan, der sie zum besseren Verständnis oder als Schlüssel hinzufügte. So war unter „L’amour européen“ zu lesen:
3 Vgl. Alazard, Jean: [Artikel] Charles Eisen. In: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Begr. v. Ulrich Thieme u. Felix Becker. Teile 9 u. 10. Delaulne bis Erlwein. Unveränd. Nachdr. d. Original-Ausgabe. Leipzig 1913 und 1914. Leipzig: Seemann 1999. S. 428. 4 Vgl. Salomons, Vera: Charles Eisen. Eighteenth Century French Book Illustrator and Engraver. An Annotated Bibliography of the Best Known Books Illustrated by Charles-Dominique-Joseph Eisen. London: John & Edward Bumpus 1914. 5 Vgl. Alazard, Charles Eisen (wie Anm. 3), S. 428. 6 Wo sich das Original befindet, war nicht zu ermitteln. 7 Charles Eisen. Vgl. http://expositions.bnf.fr/lumieres/grand/102.htm (15.4.2016).
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Cette fière Beauté, de l’Amour qu’elle brave Sent en secret tout l’ardeur; Mais de ses sens Maitresse et jouant la froideur, Ainsy de son amant elle fait son Esclave.8
Unter „L’amour asiatique“ steht: Quand on a trop facilement Les doux plaisirs qu’Amour dispense, Ils piquent moins assurément: Nous aimons mieux les dérober en France.9
L’amour européen und L’amour asiatique Die erste Szene spielt in einem elegant ausgestatteten französischen Boudoir der Mitte des 18. Jahrhunderts (Abb. 1). Eine nicht mehr ganz junge Dame ruht halb aufgerichtet auf einem Kanapee. Sie hat den Kopf nach links (vom Betrachter aus) einem Buch zugewandt, das sie mit dem Daumen am Bund fasst und in Brusthöhe hält. Vor ihr auf dem Teppich, eng an sie geschmiegt, beugt ein Kavalier vor ihr das Knie, umfasst mit beiden Händen ihre rechte Hand und küsst sie zärtlich mit geschlossenen Augen. Der Kniefall war in der Zeit des Ancien Régimes in erster Linie eine höfische Geste. Die Gruppe ist an den linken Bildrand konzentriert und wird von einem breiten, von schräg rechts einfallenden Lichtstrahl erhellt. Auf dem zweiten Blatt ist eine an den rechten Rand gedrängte Szene mit einem orientalisch-exotischen Sujet zu sehen. Ein Sultan sitzt unter einem Baldachin und eine Odaliske liebkost ihn zärtlich, während sie ihm eine lange orientalische Pfeife reicht. Dem Paar gegenüber bereitet eine Dienerin den Tee zu. Das Licht fällt von oben auf die Gruppe. Sehr betont, über der Mitte des Bildes ist ein großes, stark qualmendes Räuchergefäß zu sehen. Hier werden dem Sultan zwar alle Wünsche erfüllt, aber der Verstand durch den vielen Weihrauch eingeschläfert.
8 Übersetzung M. E.: Diese stolze Schöne, die der Liebe trotzt, / spürt im Geheimen ihr ganzes Feuer. Aber als Herrin ihrer Sinne spielt sie Kälte vor / wodurch sie aus ihrem Liebhaber ihren Sklaven macht. – Schön gibt den zweiten Teil des Verses verkürzt wieder („aber noch läßt sie vom Buch nicht ab“), wodurch der Leser in die Irre geführt wird. 9 Übersetzung M. E.: Wenn man allzu leicht / die süßen Vergnügen genießen kann, die die Liebe gewährt, / dann sind sie sicherlich weniger prickelnd: / In Frankreich versuchen wir lieber sie heimlich zu ergattern.
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Abbildung 1: „L’amour européen“. Radierung von Pierre-François Basan nach einem Gemälde von Charles Dominique Joseph Eisen. Fuchs, Eduard: Geschichte der erotischen Kunst. Bd. 3, 2. Teil. München: Langen 1926. S. 312.
Von den beiden Blättern mit den zwei Formen der Liebe ist hier natürlich die spannungsreiche, „europäische“ Beziehung der lesenden Dame mit ihrem Kavalier von
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Interesse. Sie ist reich gekleidet und geputzt, ihr Kleid zeitgemäß mit Volants an den Ärmeln und Säumen geschmückt. Sie trägt einen Ring an der rechten Hand, ein Schönheitspflästerchen an der rechten Schläfe, Blütenschmuck im Haar, um den Hals und am tiefen Dekolletee. Das Kostüm des Kavaliers passt zu ihrer Kleidung. Er trägt einen Rock mit verzierten Knopfleisten, Kniebundhosen, seidene Strümpfe und einen Zierdegen, der bis an den rechten Bildrand reicht. Die entspannte Körperhaltung der Dame zeigt an, dass sie ganz in das Buch vertieft die Liebkosung des Verehrers nicht zu beachten scheint. Der intime Rahmen des Boudoirs lässt aber vermuten, dass sie den Kavalier gut kennt und mit ihm vertraut ist. Eisen betont mit seiner Linienführung gerade das Buch, auf das die ganze Szene angelegt ist, denn der Lichtstrahl sowie die Linie, die über die Körper des knienden Kavaliers und der Dame verläuft, führen im spitzen Winkel darauf zu und lenken den Blick des Betrachters direkt dorthin. Es ist die „Pointe“ des Bildes und eng mit „L’amour européen“ verbunden. Das Buch ist ein recht dünnes Bändchen, das die Dame schnell überfliegen kann. Gemessen an der Größe ihrer Hand hat es vermutlich ein 12° oder Klein 8° Format (Duodez und Oktav, 10 bis 18,5 cm). Der dünne Umschlag und die Blätter sind leicht gewellt, wie es bei handgeschöpftem Papier und bei broschierten Büchern oft zu finden ist. Die ruhende Lage der Dame lässt auf ein genüssliches Lesen schließen. Sie ist im Gespräch mit dem Autor, folgt seinen gedruckten Worten. Die gesamte Szene, der private Rahmen und das Ambiente geben dem Buch eine bestimmte Konnotation. Danach ist zu vermuten, dass die Dame einen neuen Roman oder ein Theaterstück von geringerem Umfang liest. Auch wäre an ein wissenschaftliches Werk zu denken, aber dazu ist das Format zu klein, denn für solche Titel verwendete man meist 8° (Oktav, 18,5 bis 22,5 cm) oder größere Formate. Unterhalb des Buches ist auf dem Bild ein Frisiertisch mit einem Spiegel und vor ihm liegend ein geöffneter Umschlag mit einem gefalteten Brief zu sehen. Auch dies sind Signale der schriftlichen Kommunikation, entweder mit einem anderen Mann, vielleicht dem Autor oder aber dem Kavalier. Der hingegen ist bemüht, durch seinen Handkuss die Aufmerksamkeit der Dame auf sich zu ziehen und das imaginäre Gespräch zu unterbrechen. Seine Absichten unterstreicht das Paar kosender Amoretten auf der Rückenlehne des Kanapees, denn sie befinden sich leicht oberhalb der Bildmitte vor einer Landschaftstapete und über dem Kopf des Kavaliers. Die Szene ist vom Widerspruch der Signale gekennzeichnet: Die lesende Dame, die den Handkuss bei der Lektüre zulässt und der Herr, der sich (bisher) vergeblich um sie bemüht. Das Buch und der Handkuss bilden auf Eisens Bild die Endpunkte einer abfallenden Linie. Ob es die Absicht der Dame ist, durch gespielte Kälte sich den Anbeter zum Sklaven zu machen, wie es in Basans Bildunterschrift hieß, sei dahingestellt.
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Die „Femme savante“ Eisen kombinierte hier zwei Themenkomplexe: Der eine umfasst Bildung und Wissen, der andere Sinnengenuss und Sexualität. Sie werden zum Beispiel in der Darstellung von Assel und Jäger getrennt aufgeführt.10 Neben dem Buch als „Attribut des Mannes“, als Zeichen von Bildung und Wissen bei Heiligen, Gelehrten oder Gebildeten, machten gerade die Attribute der lesenden Frauen einen Großteil ihrer Darstellung aus. Dazu gehörten die Bilder mit biblischen Stoffen wie die Verkündigungsszenen, in denen Maria traditionell in einem Buche liest, oder die der Heiligen Familie. Davon abgeleitet war das Lesen im familiären Rahmen, bei dem das Buch für Frömmigkeit, Sitte oder Bildung steht. Das positive Verständnis des Buches konnte aber auch ins Negative gewendet werden, wenn es etwa als Verführer fungierte, häufig wenn weibliche Figuren in „sinnlich anregenden Lesesituationen“ dargestellt wurden. Ein herausragendes Beispiel für diese Gruppe ist das Motiv des Liebespaars Francesca da Rimini und Paolo Malatesta aus Dantes Göttlicher Komödie, die über die Lektüre des Ritterromans Lancelot zueinander fanden und deshalb wegen Ehebruchs ermordet wurden.11 Sie rechtfertigten sich bei Dante mit den Worten: „Verführer war das Buch und der’s geschrieben.“12 Dies war einer der seltenen Fälle, in denen das Buch und sein Inhalt konkretisiert wurden. Es hatte hier ein Eigenleben und war nicht nur vom Kontext her zu erschließen. Neben diesen sehr weit gefassten Gruppen entwickelte sich im Frankreich des 18. Jahrhunderts ein besonderer Typus der lesenden, gebildeten Frau aus den höheren Ständen, die „Femme savante“. Der Begriff, dem Titel von Molières Komödie von 1672 entlehnt, bezeichnet eigentlich das Gegenteil dessen, was der Dichter meinte, der die Lebensferne und Verbohrtheit der halbgebildeten Frauen karikierte. Das Bild der selbstständigen, an Literatur und Wissenschaft interessierten Frau, die ihre Studien nicht zum Zweck einer sozialen Aufgabe wie der Kindererziehung betrieb, kam in der Malerei in Frankreich nach 1730 auf. In der Aufklärung porträtierten viele Maler nicht nur lesende Männer, sondern auch Frauen mit ihren Büchern, lesend, heiter oder nachdenklich in die Ferne blickend oder den Betrachter anschauend. Sie waren in emanzipatorischer Weise mit Büchern in verschiedenen Formaten oder mit Globen und Landkarten beschäftigt, denn sie lasen außer Romanen auch wissenschaftliche Werke. Einige der 10 Vgl. Assel, Jutta u. Georg Jäger: Zur Ikonographie des Lesens – Darstellungen von Leser(inne)n und des Lesens im Bild. In: Handbuch Lesen. Hrsg. v. Bodo Franzmann u. a. München: K. G. Saur 1999. S. 638–673. 11 Vgl. Dante: Inferno. V. 137. 12 Assel/Jäger, Ikonographie (wie Anm. 10), S. 665.
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Schriften Isaac Newtons kamen sogar in Ausgaben für Damen heraus, etwa 1738 die Élements de la Philosophie de Newton in der Fassung von Voltaire und Émilie du Châtelet.13 Zu diesem Bildtypus gehörten auch einige der Porträts der Madame de Pompadour von Boucher, etwa das von 1756, das sich heute in der Alten Pinakothek in München befindet. Das lebensgroße Ölgemälde (212 x 164 cm) zeigt die Pompadour in einer eleganten grünen Robe, besetzt mit Rosengirlanden und rosa Schleifen vor der Brust, bequem auf einem Sessel ruhend, ein aufgeschlagenes Buch in der Hand. Sie sitzt am rechten Bildrand, schaut vom Buch auf und blickt nach links, wie in Erwartung des Königs. Ihre Gestalt bildet eine diagonale Linie. Hinter ihr ist ein Bücherschrank zu sehen, vor ihren Füßen liegen Dokumente und auf dem Schränkchen neben ihr ein geöffneter Briefumschlag, eine Kerze mit Siegellack und Schreibzeug. All dies weist die Pompadour als Leserin und Briefschreiberin aus. Es sind, wie die auf dem Boden verstreuten Dokumente, auch Hinweise auf die politische Funktion, die sie bei den Staatsgeschäften Ludwigs XV. innehatte. Elise Goodman bezeichnet diese Bilder als „intellectual portraits“.14 Auf den Bildern der „Femmes savantes“ sind die meisten Frauen standesgemäß gekleidet, selten in einem einfachen Hausgewand zu sehen. Die Beschäftigung mit Literatur, Musik oder Wissenschaft gehörte zu ihrem Selbstverständnis. Diese Bilder grenzten sich von der bürgerlichen Kritik am Lesen ab, wie sie auch in Deutschland verbreitet war, nach der die „Lesesucht“ gerade Frauen vom rechten Weg abbringen konnte. Wie es Johann Adam Bergk 1799 beschrieb, waren die Folgen „grenzenloser Hang zum Luxus, Unterdrückung der Stimme des Gewissens oder Lebensüberdruß“.15 Eisens lesende Dame war in der Tradition der selbstbewussten Leserinnen zu sehen – aber nicht nur. Die besondere Betonung des Buches, das aus der Szene herausragte und fast an den Bildrand platziert war, stand in deutlichem Gegensatz zu den harmonisch arrangierten Bücherbildern der lesenden adeligen Frauen. Bei Eisen war der Konflikt zwischen der gelehrten, selbstständigen und der hingebungsvollen, sinnlichen Frau das eigentliche Thema, das in der erotisch-pikanten Szene bildlich umgesetzt wurde. Dieses Dilemma wurde, anders als bei „L’amour asiatique“, zum Charakteristikum einer bestimmten Gruppe europäischer Frauen. Durch Basans Bildunterschrift wurde das Verständnis ver13 Vgl. Martus, Steffen: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild. Berlin: Rowohlt 2015. S. 377. 14 Goodman, Elise: Picturing Enlightened Women. In: dies.: The Portrait of Madame de Pompadour. Celebrating the Femme Savante. Berkeley u. a.: Univ. of California Press 2000. S. 80. 15 Bergk, Johann Adam: Die Kunst Bücher zu lesen. Nebst Bemerkungen über Schriften und Schriftsteller. Jena: Hempelsche Buchh. 1799. S. 412.
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mittelt, dass die Lektüre und das Interesse am Buch nur zur Beherrschung des Mannes dienten, um ihn zum „Sklaven“ zu machen. Damit wäre das Lesen aber nur eine Attitüde, nicht ein wirkliches Bedürfnis der intellektuellen Emanzipation im Sinne der Aufklärung.
Satire Vergleicht man die lesende Dame Eisens mit dem erwähnten Porträt der Madame de Pompadour von Boucher von 1756, so fallen einige Übereinstimmungen auf, etwa das Kleid, die ruhende Stellung, die Haltung des Buches am Bund und das Tischchen mit dem geöffneten Briefumschlag. Dieses Bild wurde in einer der jährlich stattfindenden Ausstellungen, dem Salon von 1757, öffentlich gezeigt und war damit bekannt. Die Pompadour war darum bemüht, durch viele Darstellungen ihr Bild in der Öffentlichkeit der jeweiligen politischen und amourösen Situation entsprechend zu formen.16 So konnte Eisen sicher sein, dass auch die Betrachter seines Bildes die Ähnlichkeit erkannten. Die überdeutlichen Signale, etwa die kosenden Amoretten über dem Kanapee in der Bildmitte, lassen aber auch eine satirische Absicht erkennen. Das galante Bild richtete sich damit gegen die mächtige Marquise, die Eisen ja ihre Gunst entzogen hatte. Die bildlichen Motive, die er dazu benutzte, der kniende Galan ebenso wie das Schönheitspflästerchen, sollten sie herabsetzen. Bei dem Pendant, „L’amour asiatique“, liegt die Vermutung des Bezugs auf die Pompadour nahe, weil sie sich auf einem Bild von Carle van Loo um 1750 ebenfalls als „Sultana“ mit langer orientalischer Pfeife, als Alleinherrscherin, hatte darstellen lassen.17 Für die späteren Betrachter, die diese Zusammenhänge nicht mehr kannten, fügte Basan seinen Radierungen vermutlich die ins Allgemeine gewendeten Bildunterschriften bei. Eisens Bild war eine wenig versteckte Kritik an den „Femmes savantes“ insgesamt, die ja auch in Frankreich nicht unumstritten waren, denn sie verkörperten jenseits der traditionellen weiblichen Rollen den Typ der „intellektuell souveränen und unabhängigen Salondamen“.18 So war es nicht zufällig, dass das Buch, der wichtigste Gegenstand des Bildes und das Kennzeichen der intellektuellen Frau, auf einer abfallenden Linie eng mit dem Handkuss des Kavaliers verbunden war. Auf dieser Schräge verlor das Buch sozusagen seine Konnotation mit Inhalten und wirkte nur noch in seiner materiellen Gestalt. Es wurde zu einer 16 Vgl. Goodman, Pompadour (wie Anm. 14), S. 23. Vgl. ferner Weisbrod, Andrea: Madame de Pompadour und die Macht der Inszenierung. Berlin: AvivA 2014. 17 Vgl. Goodman, Pompadour (wie Anm. 14), S. 17. 18 Martus, Aufklärung (wie Anm. 13), S. 381.
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taktischen Waffe, und das (vorgegebene) Lesen bedeutete dann nur ein erotisches Spiel mit dem Mann. Die aufgeputzte Dame wurde damit letztlich auf ihre Erotik reduziert, ihre Intellektualität negiert, was einen – wenn auch satirischen – Rückgriff auf alte Verstehensmuster wie bei Molière bedeutete.
Nachleben mit großem zeitlichem Abstand Auf späteren Abbildungen ist die Konstellation von lesender Frau und Aufmerksamkeit forderndem Mann kaum zu finden. Fuchs weist eine Karikatur aus der Zeit um 1840 nach, bei der ein Mann einer lesenden Frau die Füße wäscht. Das Bild19 wirkt aber recht einfältig, ohne jede erotische Spannung. Dies verdeutlicht bereits, warum das Motiv Eisens mit seinem intellektuellen Thema nicht von der einfacheren Bildpublizistik aufgenommen wurde. Es findet sich jedoch in einer Figurengruppe der Nymphenburger Porzellanmanufaktur in München wieder,20 die nach dem ersten Eindruck noch aus dem 18. Jahrhundert zu stammen scheint (Abb. 2). Die komplexe Komposition von Basans feiner Radierung nach Eisen ließ sich nur mit einigen Veränderungen in das neue Material, eine dreidimensionale, glasierte Porzellangruppe (17,5 x 23, 5 cm) umsetzen. Hier ist die lesende Dame im Freien auf einer Gartenbank zu sehen, den Kopf leicht nach vorn gebeugt und mit der linken Hand ein aufgeschlagenes Buch auf ihrem Schoß abstützend. Sie sitzt aufrecht und ihre Füße schauen unter dem Saum des mit Volants reich verzierten und tief ausgeschnittenen Kleides hervor. Sie trägt aber keinen Schmuck. Auch hier scheint die Dame kaum den Kavalier zu bemerken, der nun mit seinen beiden Händen ihre rechte Hand nur locker umfasst und seinen Kopf in diese Richtung, wie zu einem Handkuss, wendet. Er trägt einen Rock mit nur angedeuteten Verzierungen an den Knopfleisten, Stulpen an den Ärmeln, Kniebundhosen, aber keinen Zierdegen. Die gewellten Haare der beiden Figuren sind im Nacken zusammengebunden. Es fehlt der intime Rahmen eines Boudoirs, wie er bei Eisen gegeben war. Die Körperhaltung der Dame lässt wieder darauf schließen, dass sie mit dem Kavalier vertraut ist, da sie keine Anstalten macht, ihn abzuwehren. Die beiden Figuren sind auf eine halbrunde Porzellanplatte montiert, auf der Pflanzen angedeutet sind. Auf der in der Plastik hinzu gekommenen Rückseite sieht man einen Teil des Überkleides der Dame über die Lehne der Bank gleiten, der Rock des Kavaliers wirft Falten, als habe er sich gerade erst der Dame zugewandt. Die Szene und die Kostüme der Figuren verweisen ins 18. Jahrhundert, in die „galante Zeit“. 19 Vgl. Fuchs, Geschichte (wie Anm. 2), S. 356. Nr. 317. 20 Die Gruppe habe ich vor mehreren Jahren bei einem Trödler in Mittelfranken gefunden.
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Abbildung 2: „Dame und Kavalier“. Porzellangruppe der Nymphenburger Manufaktur in München, um 1850, Gesamtansicht. Foto Katz.
Die Nymphenburger Porzellanmanufaktur Solche Zierstücke der Nymphenburger Porzellanmanufaktur waren als Dekoration für den Salon oder die Vitrine geeignet, wegen ihrer Größe jedoch kaum als Schmuck für die Tafel. Die Porzellanmanufaktur wurde 1747 in München eta bliert. In ihrer Blütezeit schuf ein Künstler und Modellmeister wie Franz Anton Bustelli (1723–1763) allein an die 150 verschiedene Figuren. Besonders berühmt sind seine bewegten, fast tänzerischen Figuren zur Commedia dell’arte. In seinen Arbeiten verbanden sich „die Möglichkeiten eines Materials und der Esprit einer Epoche zu künstlerisch vollendeter Synthese.“21 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts befand sich das Unternehmen jedoch im wirtschaftlichen wie künstlerischen Niedergang. Das Programm der figürlichen Darstellungen wurde unter der Leitung 21 Krafft, Barbara: 250 Jahre Porzellan-Manufaktur Nymphenburg. München: I. P. Verlagsgesellschaft 1997. S. 55.
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von Johann Peter Melchior, Franz und Ludwig Schwanthaler und Eugen Napoleon Neureuther weitgehend eingeschränkt, man bevorzugte stattdessen die Speiseservices. Der Chronist Friedrich H. Hofmann bezeichnete aus der Perspektive der 1920er Jahre die Zeit nach 1830 als „sterile und unerfreuliche Periode, die man hier mit der Bezeichnung ‚bürgerlicher Realismus‘ fast noch allzu sehr ehrt.“22 Es gab keine bekannten Modellmeister und keine bestimmende Künstlerpersönlichkeit mehr. Neureuther, der von 1847–1856 die Porzellanmanufaktur leitete, war zwar unter anderem durch seine arabesken Randzeichnungen zu Goethes Balladen23 bekannt geworden, aber ihm war das Porzellan als Material eigentlich fremd. Der schlechte Zustand der Manufaktur wurde auch öffentlich sichtbar, denn „als nämlich im Jahr 1851 die Industrieausstellung in London beschickt werden sollte, konnte man auf dem Gebiete der Plastik nichts anderes mehr bieten als acht Büsten berühmter Männer und die Biskuitfiguren der acht Kreise Bayerns von Schwanthaler, die mindestens schon 20 Jahre vorher entstanden waren“. Der Mangel wurde ausgeglichen „durch hochgepriesene Neueinführungen und Erfindungen in technischer Hinsicht. Damit suchte man auch sich selbst und die Umwelt über die zunehmende Sterilität hinweg zu täuschen.“24 Diese Situation zeigte sich auch an den wenigen Modellen, die in der ersten Jahrhunderthälfte hergestellt wurden. Dazu gehörten mehrere Büsten des bayerischen Königs Ludwigs I. in unterschiedlichen Formen und Größen oder Figurengruppen wie Amor und Psyche, Apoll und Diana oder die drei Grazien.25 Nach 1830 entstanden kleine Plastiken wie das Milchmädchen, die Marktfrau, der Kreis von Bayern, Königin Maria von Bayern in verschiedenen Versionen, die Prinzen Ludwig und Otto von Bayern sowie kleine Gruppen wie eine mit Schäfern, „Pan mit Ziege“ sowie eben eine mit dem Titel „Dame und Kavalier“.26
Transformation Mit „Dame und Kavalier“ ist die Figurengruppe bezeichnet, die nicht im 18. Jahrhundert entstand, sondern in langem Zeitabstand tatsächlich erst um 1850,27 22 Hofmann, Friedrich Hermann: Geschichte der Bayerischen Porzellan-Manufaktur Nymphenburg. Bd. 3: Produktion und Verschleiß. Leipzig: Hiersemann 1923. S. 554. 23 Vgl. Neureuther, Eugen: Randzeichnungen zu Goethes Balladen. Stuttgart: Cotta 1829–1839. 24 Hofmann, Geschichte (wie Anm. 22), S. 556. 25 Vgl. Hofmann, Geschichte (wie Anm. 22), S. 545. 26 Vgl. Hofmann, Geschichte (wie Anm. 22), S. 554. Abb. S. 523. 27 Vgl. Hofmann, Geschichte (wie Anm. 22), S. 521.
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das Motiv von Eisen aus „L’amour européen“ wieder aufnehmend. Bereits die Titeländerung war ein Signal. Bei der Umsetzung des Bildes hatte sich nicht nur das Material verändert, sondern damit auch die Darstellungsweise. Waren bei Eisen die beiden Protagonisten in bewegter Haltung dargestellt, so schränkte das starre Porzellan die Bewegungsfreiheit der Figuren stark ein. Die Lesende saß jetzt in sittsamer Haltung, nicht mehr halb liegend, auf einer Bank. Der breite Rock konnte nicht wie bei Eisen oder Boucher quer oder diagonal angeordnet werden, sondern senkrecht. Die Figur wirkte dadurch schwerer, fast plump und nahm weitaus mehr Raum ein als in der Vorlage. Der Galan wurde nahezu an den rechten Rand gedrängt. Mit der Reduzierung auf die beiden Figuren wurde auch der Bezugsrahmen verändert; so entfielen die Ausstattung des Boudoirs oder wichtige Signale wie die etwas aufdringlichen Amoretten. Es entfiel aber auch das mitgedachte Pendant „L’amour asiatique“ und damit das Thema der Unterwürfigkeit. Die Nymphenburger Porzellanplastik schälte aus dem sorgfältig gestalteten Ambiente Eisens nur das Paar heraus und verzichtete auf alle Hinweise auf die „Femme savante“. Diese Rezeption war nicht nur durch das Material oder den zeitlichen Abstand bestimmt, aus dem Eisens Blatt veraltet erscheinen musste, sondern auch durch den Zweck: Die galant-erotische Szene diente im 18. Jahrhundert der privaten Betrachtung und dem sinnlichen Vergnügen, die Porzellanfigur aus dem Spätbiedermeier aber war für die Aufstellung in der guten Stube und im familiären Kreis bestimmt. Das Zentrum bildete auch hier das Buch, wenn auch in anderer Akzentuierung. Es stand nicht mehr pointiert am Bildrand, sondern war in die Gruppe integriert. Die Dame hatte das Buch etwa in der Mitte aufgeschlagen und hielt es am hinteren Deckel mit einigen, noch nicht gelesenen Seiten, aber nicht am Bund wie bei Eisen oder Boucher. Das Buch war offensichtlich schwerer als in der Darstellung aus dem 18. Jahrhundert. Es handelte sich um einen gebundenen Band mit glatten Seiten und größerem Umfang. Im Vergleich mit der Hand der Dame könnte er ein Oktavformat (8°, 18,5 bis 22,5 cm) besessen haben. Die Konnotation des Buches ist aus der aufrechten, aber unbequemen Haltung der Dame zu erschließen. Sie war nicht so sehr in das Buch hineingezogen wie die Dame Eisens. Es enthielt vermutlich keinen spannenden, anziehenden oder anzüglichen Lesestoff. Ein Gedichtband schien es nicht zu sein, denn dafür war das Buch zu dick und das Format zu groß. Es kamen aber ein Roman oder ein Drama infrage, vielleicht auch eine wissenschaftliche Schrift. Obwohl die Szene auf eine Bank im Freien transponiert wurde, entsprach die Körperhaltung der Dame nicht den Darstellungen zum Lesen in der Natur, wie sie im 18. Jahrhundert aufgekommen waren. Sie zeigte kein befreites Lesen, keine Verinnerlichung
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oder gar sentimentale Attitüden.28 Die Dame saß vielmehr auf der Bank wie in der feinen Gesellschaft, sie nahm Rücksicht auf ihre Betrachter und ihr Umfeld. Das Verhältnis der Dame zu dem Kavalier war sichtbar distanzierter als bei Eisen. Er hob zwar ihren rechten Arm an, kniete aber in deutlichem Abstand vor ihr, sodass er ihr Kleid nicht berührte. Die Annäherung des Kavaliers war eher zögerlich-verhalten. Anders als bei Eisens Bild mit dem satirischen Unterton stand hier vermutlich eine Repräsentationsfunktion der Dame und damit die Schicklichkeit im Vordergrund. Es schien sich auch hier um eine Angehörige der höheren Stände zu handeln, denn die Dame, ebenfalls nicht mehr ganz jung, sogar mit zart angedeutetem Doppelkinn, war dem Kavalier gesellschaftlich überlegen.
Historismus Die Gruppe entstand, wie der Chronist Hofmann abschätzig urteilte, in einem „Durcheinander der verschiedenen Stil- und Geschmacksrichtungen“. Sie war „Ausdruck des sinnlosen Stiltreibens, das auf allen Gebieten des Kunstgewerbes um die Mitte des Jahrhunderts einsetzte“.29 Oder besser gesagt: des beginnenden Historismus, der auf der Suche nach einem adäquaten Stil im 19. Jahrhundert neben der Gotik, der Renaissance und dem Barock auch auf das Rokoko zurückgriff. Diese Abfolge vollzog sich in der hohen Kunst bis zum Jahrhundertende in einem „Gänsemarsch der Stile“.30 In der dekorativen Kunst und in der Porzellangestaltung verlief die Entwicklung anders, denn das Rokoko lag zum Beispiel für die Münchner Manufaktur schon deshalb nahe, da man seit dem 18. Jahrhundert diesen Stil nie ganz aufgegeben hatte. So wurden auch in der ersten Hälfte des neuen Jahrhunderts wieder Figuren im Rokokostil angefertigt. Es waren keine Kopien nach alten Mustern, sondern Nachschöpfungen, in denen man den Stil des 18. Jahrhunderts neu „erfunden [zu haben] glaubte.“31 Zum Historismus gehörte ja gerade die Suche nach neuen Anregungen durch alte Vorlagen und eben die Erfindung neuer Formen. Zum Zweck des Austausches und auf der Suche nach neuen Modellen besuchte 1837 der Münchner Fabrikkommissionär Schmitz die Wiener Porzellanmanufaktur. Sie bestand bereits seit 1718, befand sich aber zu dieser Zeit in einer 28 Vgl. Assel/Jäger, Ikonographie (wie Anm. 10), S. 657f. Vgl. Schön, Verlust (wie Anm. 1), S. 123f. 29 Hofmann, Geschichte (wie Anm. 22), S. 564. 30 Vgl. Landwehr, Eva-Maria: Kunst des Historismus. Köln u. a.: UTB 2012. S. 157f. 31 Hofmann, Geschichte (wie Anm. 22), S. 564.
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ähnlichen Abstiegssituation wie die Münchner. Schmitz berichtete über die „sogenannten französischen, modern-chinesischen Formen à la Rococo mit wirklichen Verunstaltungen aller Art, alles nach der vorübergehenden Mode des Tages“, die man dort verwendete. In Wien griff man auch auf ausländische Muster zurück: „die fortwährend beigeschafften Pariser Original-Muster dienen zu den Vorlagen der Nachahmungen.“ Nach dem Wiener Vorbild begann man dann 1848 auch in München wieder mit der „Einführung des sogenannten Rokokogeschmacks“. Zu diesem Programm gehörte, wie Hofmann beschrieb, eine „Liebesgruppe“, „Dame mit Kavalier“, „eine auf einer Estrade sitzende Dame, zu deren Füßen ein Kavalier kniet, um ihr die linke Hand zu küssen. Diese Gruppe, aus zwei selbständigen Teilen zusammengesetzt, wird heute noch [1923] in Nymphenburg im vollen Bewusstsein ihrer Ursprungszeit fabriziert.“32 Es ist anzunehmen, dass das Blatt Basans, die Vorlage für die Dame, von Wien aus nach München gekommen war. Es war also nicht nur die Umsetzung der Radierung in eine Porzellangruppe, in ein anderes Medium, das die Änderung der Komposition notwendig gemacht hatte, sondern auch die Herstellungsweise. Der unbekannte Münchner Modellmeister nutzte diese Gegebenheiten zu einer neuen Sinngebung der Gruppe. Die Fertigungsweise aus zwei Teilen, die erst nachträglich ineinander geschoben wurden, war als der eigentliche Grund für die Distanz der beiden Personen bei der „Liebesgruppe“ anzusehen. Da zwischen ihnen, zum Beispiel bei den Händen, ein geringer Abstand blieb, konnte sich der Kavalier in der Darstellung in Porzellan nicht eng und voller Verlangen der Dame nähern (Abb. 3). Sie erklärte auch die Feinheit der Hände, die nachträglich eingesetzt wurden, sich aber nicht berührten, sodass der Handkuss unmöglich wurde. Entfielen mit der Loslösung vom Interieur Eisens bereits die Hinweise auf die „Femme savante“, so wurde durch die Arbeitstechnik auch die starke erotische Spannung zwischen den beiden Personen merklich abgekühlt. Dennoch lebte die Komposition auch hier von der Polarität zwischen Buch und Handkuss, Intellekt und Sinnlichkeit. In der historistischen Münchner Gruppe im Stil des 18. Jahrhunderts ließ sich der Typus einer französischen „Femme savante“ auch schon inhaltlich nicht darstellen, da es im 18. Jahrhundert in Deutschland dazu keine Entsprechung gegeben hatte, die „Salonière“ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte ebenso wenig zu finden war wie in der Malerei. Die Folgen des Dreißigjährigen Kriegs hatten auch hier die Entwicklung verzögert. Eisens Komposition ließ sich auch nicht einfach auf eine Genreszene im Stil des 18. Jahrhunderts reduzieren, etwa auf eine Schäfergruppe. Dazu war das Buch mit seinem intellektuellen Anspruch und seinen unterschiedlichen Konnotationen viel zu sperrig. Hatte Eisen, wenn auch satirisch, auf das Bild 32 Hofmann, Geschichte (wie Anm. 22), S. 565.
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der Madame de Pompadour zurückgegriffen, so fanden die Nymphenburger eine andere Lösung, um ihrer Gruppe eine neue Semantik zu geben.
Abbildung 3: „Dame und Kavalier“. Porzellangruppe der Nymphenburger Manufaktur in München, um 1850, Ausschnitt. Foto Katz.
Veränderte Semantik Auf der Suche nach dem Typus einer bekannten weiblichen Figur aus dem 18. Jahrhundert kamen der Manufaktur die nationalen Zeitströmungen der 1840er Jahre entgegen. In der Zeit vor der Revolution von 1848 war bereits das Streben nach nationaler Einheit deutlich gewesen. Für die Dominanz Preußens wurde das Jubiläum der Thronbesteigung Friedrichs II. (1712–1786) im Jahre 1740 zunehmend zum Gegenstand des öffentlichen Interesses.33 Franz Kuglers Buch Geschichte Friedrichs des Großen,34 zu diesem Anlass erschienen, prägte mit seinen 400 Holzstichen nach Entwürfen Adolph Menzels das Bild des Königs 33 Vgl. Paret, Peter: Kunst als Geschichte. Kultur und Politik von Menzel bis Fontane. München: Beck 1990. 34 Kugler, Franz: Geschichte Friedrichs des Großen. Mit 400 Illustrationen gezeichnet von Adolph von Menzel. Leipzig: Wigand 1842.
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in der Öffentlichkeit – aber auch das seiner Gegenspielerin Maria Theresia (1717– 1780). Sie war im Jahr 1740 auf den Thron von Österreich, Böhmen und Ungarn gekommen. Als Gattin Kaiser Franz Stephans von Lothringen wurde sie zur eigentlichen Herrscherin und zur einigenden Figur. Bereits 1749 feierte der Leipziger Literaturreformator Johann Christoph Gottsched sie als „die größte Kaiserinn, / Des Himmels Meisterstück, die schönste Königin, / Der Tugend Ebenbild“.35 Durch ihre 16 Kinder, von denen nur zehn das Erwachsenenalter erreichten, war auch die mütterliche Komponente stark ausgeprägt. Im frühen 19. Jahrhundert und im Vormärz war sie nicht vergessen, wie etwa das Buch Eduard Dullers von 1844 zeigt. Vor der Gegenwart mit der Metternich’schen Demagogenverfolgung erschien das Wirken der „großen Kaiserin“ auf politischem wie kulturellem Gebiet umso heller.36 Im öffentlichen Raum wurden ihr im 19. Jahrhundert Denkmäler37 gesetzt, auch in den Bildmedien, so bei Menzel, war sie vorhanden. Nicht zuletzt stellte auch die Wiener Porzellanmanufaktur Porträtbüsten von ihr her.38 Im privaten Bereich aber war sie vielen Menschen durch die Münzen mit ihrem Bildnis nahe. Der nach ihr benannte Mariatheresiathaler wurde an einigen Orten sogar bis in die 1920er Jahre als Zahlungsmittel verwendet.39 So lag es nahe, dass man im Süden Deutschlands, in der Münchner Porzellanmanufaktur, um 1850 der Dame mit dem Kavalier ein Aussehen gab, das entfernt an die bekannten Züge der jungen Herrscherin mit dem beginnenden Doppelkinn erinnerte. Auch der voluminöse Rock fand sich auf vielen Bildern Maria Theresias wieder. Die intellektuelle Überlegenheit der Dame aus dem Ancien Régime aber, die sich ja gerade in der Funktion des Buches manifestierte, wurde jetzt, im Nachmärz, durch eine politisch-gesellschaftliche ersetzt. Damit wurde ihr der notwendige Anschein von Hoheit verliehen, um das Gefälle zu dem knienden Kavalier zu vergrößern. Der Akzent von Werbung und Verführung war damit allerdings ein Stück weit zugunsten von Verehrung oder Huldigung verschoben. In der figürlichen Darstellung waren hier das Buch und der Handkuss nicht durch eine abschüssige Linie so eng verbunden wie bei Eisen, sie standen vielmehr nur ungefähr auf gleicher Linie. Die Darstellung der Annäherung des Kavaliers war eher vorsichtig, als wolle er nicht das Gespräch der Leserin mit dem Autor unterbrechen, um das Interesse auf sich zu ziehen. In dieser Konstellation wurde das 35 Zit. n. Telesko, Werner: Maria Theresia. Ein europäischer Mythos. Wien u. a.: Böhlau 2012. S. 113f. 36 Vgl. Duller, Eduard: Maria Theresia und ihre Zeit. 2 Bde. Wiesbaden: Beyerle 1844. 37 Vgl. Telesko, Werner: Das 19. Jahrhundert. Eine Epoche und ihre Medien. Wien u. a.: UTB 2010. Bes. Kap. VII. 38 Vgl. Telesko, Mythos (wie Anm. 35), S. 271. 39 Vgl. Meyers Lexikon. Siebente Auflage. Band 7. Leipzig: Bibliographisches Institut 1927. Sp. 1704.
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Buch nicht zum Gegenstand der Abwehr oder zum erotischen Spiel verwendet. Es waren vielmehr die Gegebenheiten bei der Herstellung der Porzellangruppe, auf die der Münchner Modellmeister Rücksicht nahm, indem er die Konzeption entsprechend veränderte, den Rang der Dame gesellschaftlich erhöhte, um sie für den Kavalier schwerer erreichbar zu machen. Die sehr zarte Berührung der Hände etwa, eine Folge der Technik, wurde zu einem Teil der neuen Semantik der Gruppe. Das Buch hatte seine Funktion verändert, denn es war nicht mehr der alleinige Indikator für die Überlegenheit der Dame. Bei Eisen hielt die Leserin das Buch in Brusthöhe, was auf intensive Lektüre schließen ließ. Bei der Nymphenburger Gruppe dagegen zeigte die Haltung der Dame mit dem Buch auf dem Schoß ein distanziertes Lesen an. Es gehörte nur als allgemeines Attribut von „Sitte und Bildung“40 zu ihrer Gestalt, es war in seiner Bedeutung zurückgenommen, was wieder der alten Rollenvorstellung und nicht dem der „Femme savante“ entsprach. Dies, wie die Zitierung Maria Theresias, passte auch viel besser zu den restaurativen Bestrebungen, die nach 1848 eingesetzt hatten. Aber die Münchner Dame hielt ein Buch der Gegenwart in der Hand, mit glatten Seiten, gerade beschnitten und mit rundem Rücken, Anzeichen dafür, dass es mit neuen Techniken gedruckt und gebunden worden war. Im Gegensatz zu der Vorlage, in der eine inhaltliche Konnotation des Buches wichtig wurde, trat hier der materielle Aspekt in den Vordergrund. Im Sinne des Historismus wurden alte und neue Elemente kombiniert, nicht nur um eine Gruppe aufzubauen, bei der Fertigungsmethoden und Semantik übereinstimmten, sondern auch um eine Kontinuität von der positiv erinnerten Zeit Maria Theresias zu einer oft als bedrohlich empfundenen Gegenwart mit der einsetzenden Industrialisierung herzustellen. Die galante Szene aus dem 18. Jahrhundert war im späten Biedermeier und im Nachmärz angekommen; zwischen Buch und Handkuss war allerdings die Gefahr von Funkenflug oder Schwelbrand nur noch gering.
40 Vgl. Assel/Jäger, Ikonographie (wie Anm. 10), S. 648.
Julia Rinck
Und ewig lockt das Muster … Anmerkungen zu den Einbandpapieren der Insel-Bücherei
Prolog Im Sommer 2012 präsentierten die Schaufenster zahlreicher Geschäfte der Leipziger Innenstadt unzählige Bände der Insel-Bücherei: Ganz überraschend sah man die charakteristischen Einbände jedoch nicht in Buchläden, sondern in Cafés, Modeketten oder Bankfilialen. Die Aktion war – initiiert von Siegfried Lokatis – anlässlich des 100. Jubiläums der Insel-Bücherei von Studierenden der Leipziger Buchwissenschaft konzipiert und realisiert worden. Begleitend wurde eine Serie von Plakaten mit thematischen Zusammenstellungen von Insel-Bändchen gestaltet, so unter anderem zum Motto „Schwarze Bücher“, „Im Walde“, „corvi tecum sunt“ oder „Shalom“. In jenem Jahr wurde die „schönste Buchreihe der Welt“ – nicht nur in Leipzig – mit Ausstellungen, Vorträgen und Publikationen gefeiert. Und es zeigte sich, dass die Insel-Bücherei auch nach 100 Jahren nichts von ihrer Faszination eingebüßt hatte.
Kippenbergs gestalterisches Konzept Eine vorzügliche Ausstattung und der geringe Preis waren von Beginn an essenzielle Aspekte der Reihe. Ein Rundschreiben des Insel-Verlags und ein dem Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel vom 23. Mai 1912 beigefügter Umschlag kündigten das neue Unternehmen in diesem Sinne an: „Es soll den Namen Insel-Bücherei führen und freundlich ausgestattete gebundene Bändchen umfassen, die jedes 50 Pfennig kosten“1. Auf einem Lesezeichen, das als Verlagswerbung für die ersten Bände diente, findet sich der Vermerk „Jedes Bändchen mit Buntpapierüberzug“2. Das von Anton Kippenberg entwickelte Gestaltungskonzept hob die Bücher der Insel-Bücherei von anderen preiswerten Buchreihen wie Reclams Universal-Bibliothek deutlich ab: Die Insel-Bände wurden, abgesehen von den Broschur-Ausgaben der Kriegs- und Nachkriegszeit oder den leder- oder 1 Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, 23.5.1912. 2 Schmidt, Frieder: Vom Kleid der Bücher – Überzugspapiere der Insel-Bücherei. In: Insel-Bücherei. Mitteilungen für Freunde (2003) H. 23. S. 58.
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pergamentgebundenen Sonder- und Vorzugsausgaben, in der Regel als Pappbände gebunden, die mit einem dekorierten Papier bezogen waren. Der Reihencharakter erschloss sich durch das gleichbleibende Format und den Zusammenklang aus gestaltetem Einbandpapier und gerahmtem – zunächst aufgeklebten, später eingedruckten – Titelschild3, bald ergänzt durch ein passendes Rückenschild. Die fast ausschließlich gedruckten Bezugspapiere, in der Literatur als Schmuck- oder Musterpapiere, gelegentlich auch als „Tapetenmüsterchen“4 bezeichnet, wurden das äußere Markenzeichen der Reihe: „Bunt und heiter und trotz aller Schattierungen (von Schwarz bis zu den hellsten Pastelltönen), trotz der Vielseitigkeit der Muster (längs- und quergestreifte, karierte und schraffierte) und Ornamente (Blumen, Blätter, Herzen, Sterne) nie aufdringlich grell, immer schlicht und schön.“5
Die Rizzipapiere Für die ersten zwölf Bände griff Kippenberg als Mustervorlage auf Modeldruckpapiere zurück, die von Giuseppe Rizzi in Varese (Italien) ab 1904 gedruckt und europaweit vertrieben wurden. Rizzi hatte von der traditionsreichen Firma Remondini aus Bassano (nahe Venedig), die 1861 ihren Betrieb einstellen musste, Originaldruckstöcke erworben und ließ sowohl mit diesen drucken, aber auch neue Model nach historischen Vorlagen anfertigen.6 Da die im Handdruckverfahren hergestellten Modeldrucke als Bezugspapiere zu teuer gewesen wären, wurde für den Insel-Verlag mithilfe einer Reprokamera ein Verfahren entwickelt, die Muster der Modeldruckpapiere auf lithografischem Wege nachzudrucken. Neben den deutlich geringeren Druckkosten bestand hierbei ein weiterer Vorteil darin, die Farbigkeit der Gestaltungsvorlagen frei zu variieren. Ein Muster konnte also bei Bedarf in verschiedenen Farben nachgedruckt werden. Der Maßstab der Originalmuster wurde in den meisten Fällen beibehalten.7
3 Heute werden die Titelschilder durch den Eindruck des Titels auf eine im Dekor des Bezugspapiers ausgesparte und durch Prägung vertiefte Fläche suggeriert. 4 Grossmann, Karin: Was für eine Insel im Büchermeer. In: Sächsische Zeitung, 21./22.4.2012. S. M2. 5 Meiner, Annemarie: Die Insel-Bücherei und der Bücherfreund. In: Die Insel-Bücherei 1912– 1937. Leipzig: Insel-Verlag 1937. S. 36f. 6 Vgl. Schmoller, Tanya: To Brighten Things up. The Schmoller Collection of Decorated Papers. Manchester: Manchester Metropolitan University 2008. S. 42. 7 Vgl. Schmidt, Kleid der Bücher (wie Anm. 2), S. 58 sowie Halbey, Hans-Adolf: Lob der Buntpapiere. In: Insel-Almanach auf das Jahr 1963. Frankfurt a. M.: Insel-Verlag 1963. S. 132.
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Abbildung 1: Einband zu Rainer Maria Rilke: Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke (IB 1). Leipzig: Insel-Verlag 1912. Einbandvorlage: Modeldruckpapier aus der Rizzi-Kollektion, negativer Plattenschnitt, Flächenmuster, Gitter und Blüten, einfarbiger Druck. Lithografischer Nachdruck. Sammlung Julia Rinck.
Kippenbergs Wahl für den ersten Band der Reihe fiel auf Rainer Maria Rilkes Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke (Abb. 1). Für dessen Erstauf lage hatte er ein Modeldruckpapier aus der Rizzi-Kollektion ausgesucht, das in verschiedenen Farbvarianten, unter anderem in der Buntpapiersammlung des Deutschen Buch- und Schriftmuseums, aber auch im Klingspor-Museum Offenbach, nachgewiesen ist. Das Muster ist als negativer Plattenschnitt angelegt, die Blüten- und Gittermotive wurden aus der Druckplatte herausgeschnitten
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und erscheinen im einfarbigen Druck als ausgesparte Partien in der Farbfläche. In der lithografischen Umsetzung des Bezugspapiers wurde die Vorlage in zwei aufeinander abgestimmten Grüntönen gedruckt, durch den Zweifarbendruck wurden die für das Hochdruckverfahren des Modeldrucks typischen Quetschränder suggeriert. Dasselbe Muster wurde später in verschiedenen Farbvarianten für zahlreiche Titel der Reihe verwendet, so unter anderem für Novalis’ Hymnen an die Nacht. Die Christenheit oder Europa (Insel-Bücherei, künftig IB, 21), Gustav Theodor Fechners Das Büchlein vom Leben nach dem Tode (IB 187) oder Hans Christian Andersens Bilderbuch ohne Bilder (IB 192). Der Cornet wurde – auch hier hatte den Verleger Kippenberg sein untrügliches Gespür nicht im Stich gelassen – einer der erfolgreichsten Titel der Insel-Bücherei: Neben den Normalausgaben erschien er als Leder- und Pergamentband, als broschierte Feldpostausgabe oder als hochwertige Vorzugsausgabe mit originalem Einbandpapier von Gisela Reschke – bis 2012 in über 1,2 Mio. Exemplaren.
Erste thematische Künstlerentwürfe Während die Insel-Bände des ersten Jahrzehnts grundsätzlich mit floralen oder geometrischen Flächen- oder Reihenmustern ausgestattet waren, die keinerlei Bezug zum Inhalt der Bücher hatten, wurden ab den 1920er Jahren vor allem für die illustrierten Bände – oft durch die Illustratoren selbst – erste thematische Bezugspapiere gestaltet. „Diese Buchausstattung zielt auf die Ganzheit des Buches, auf die Einheit von Schrift, Bild und Material. Sie wurde vorbildlich für die Buchherstellung in der ersten Hälfte des Jahrhunderts.“8 Ein dem Insel-Verlag als Buchgestalter von Anfang an eng verbundener Künstler war Marcus Behmer (1879–1958). Zunächst stark von Aubrey Beardsley beeinflusst, illustrierte er Oscar Wildes Salome (1902/03) und Honoré de Balzacs Mädchen mit den Goldaugen (1904) in seinem fantastischen, eigenwillig-skurrilen Stil. Die Radierungen zu Philipp Otto Runges Märchen Von dem Fischer un syner Fru waren bereits 1913 entstanden. Das Buch wurde 1914 bei Otto von Holten in Berlin gedruckt, aber erst nach dem Ersten Weltkrieg gebunden und herausgegeben und war in kürzester Zeit vergriffen. Behmer hatte es Kippenberg schon 1914 zur Übernahme für die Insel-Bücherei ans Herz gelegt, schließlich erschien der Titel erstmals 1920 in der Reihe (IB 315). Das Bezugspapier dieser Ausgabe, von 8 Unseld, Siegfried: Anton Kippenberg: „Den Besten unserer Zeit genugthun“. Revidierte Fassung des gleichnamigen Beitrags im Insel-Almanach auf das Jahr 1996. Frankfurt a. M.: InselVerlag 1999. S. 22.
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Abbildung 2: Einband zu Philipp Otto Runge: Von dem Fischer un syner Fru (IB 315). Wiesbaden: Insel-Verlag 1954. Einbandvorlage: Kleisterpapier von Marcus Behmer, freie Flächengestaltung, einfarbig gestrichener Grund, darauf Blinddruck mit Stempel in Form des „Butts“. Nachdruck als Offsetdruck. Sammlung Julia Rinck.
Behmer als Holzschnitt entworfen, ist als Flächenmuster gestaltet, mit dem auf stilisierten Wellen schwimmenden „Butt“ – im Buch auch als Satzzeichen verwendet – als rapportiertes Motiv in Grün auf weißem Grund. Obwohl das Buch ein „besonderer Liebling“ Kippenbergs war, gefiel ihm jedoch das Bezugspapier selbst weniger, wie er in einem Brief vom 17. Mai 1950 an Marcus Behmer schrieb. So fand der Vorschlag des Künstlers, ein neues Einbandpapier zu gestalten, seine
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volle Zustimmung.9 Die neue Auflage erschien 1954 mit einem im Offsetverfahren gedruckten Bezugspapier nach einem von Behmer entworfenen Kleisterpapier mit grün gestrichenem Grund, in den der „Butt“ – über Vorder- und Rückseite des Einbands in losen Schwärmen über die Fläche verteilt – im Blinddruck eingestempelt wurde (Abb. 2). Durch ein Versehen beim Binden waren jedoch einige der Einbandpapiere „umgekehrt aufgedruckt worden, wodurch die Buttchen zu Rückenschwimmern geworden sind, die nun, auf dem Rücken, schräg nach links oben schwimmen, statt auf dem Bauch nach rechts unten“.10 Der Fehler wurde rasch entdeckt und nur wenige dieser Fehlbindungen kamen in den Handel; auch so können – ungewollt – von Sammlern begehrte seltene Exemplare entstehen. In den 1930er Jahren entstanden die ersten farbigen Insel-Bände. Einer der Künstler, die mehrere dieser hinsichtlich Zeichnung, Druckvorstufe und Druck besonders aufwändigen Bücher mitgestalteten, war Fritz Kredel (1900–1973). Als Schüler von Rudolf Koch (1876–1937) hatte er zunächst die Holzschnitte für dessen Blumenbuch angefertigt, in der Insel-Bücherei erschien daraus 1933 eine Auswahl unter dem Titel Das kleine Blumenbuch (IB 281) in der Reihe Von den Wundern der Natur. In dieser erschien 1935, ebenfalls von Kredel illus triert, Das kleine Buch der Vögel und Nester (IB 100). Als Einband „schuf er auf schieferfarbigem Fond einen Rapport mit einer senkrechten Borte von drei verschieden gefärbten und gemusterten Häherfedern, die hexentreppenartig fortlaufend sich kreuzend übereinander gelegt sind.“11 Kredel, der mit der aus einer Frankfurter Familie stammenden Jüdin Annie Epstein verheiratet war, verließ 1936 Deutschland und emigrierte wenig später in die USA. Er arbeitete jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg wieder für den Insel-Verlag und gestaltete unter anderem in Zusammenarbeit mit Gotthard de Beauclair (1907–1992) Illustrationen und Einband zur Geschichte von Aucassin und Nicolette (IB 14).12
Marmorierte Einbandpapiere Eine Ausnahme unter den gedruckten Bezugspapieren der Reihe bilden die gegen Ende der 1920er Jahre verwendeten Marmorierten Papiere. Im Gegensatz zu den 9 Vgl. Haucke, Marcus: Marcus Behmer und der Insel-Verlag. Teil 2. Insel-Bücherei Mitteilungen für Freunde (1997) H. 16. S. 28. 10 Haucke, Marcus Behmer (wie Anm. 9), S. 29. 11 Bühler, Edelgard: Fritz Kredel in der Insel-Bücherei. In: Insel-Bücherei Mitteilungen für Freunde (1991) H. 3. S. 11f. Einbandbeschreibung nach unveröffentlichten Angaben von Gerd Plantener. 12 Vgl. Bühler, Fritz Kredel (wie Anm. 11), S. 12–19.
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Abbildung 3: Einband zu Isolde Kurz: Die Vermählung der Toten (IB 395). Leipzig: Insel-Verlag 1927 oder 1928. Bezugspapier: Granitmarmor, Schleppmustermarmor, mehrfarbig (türkis-grau). Sammlung Julia Rinck.
als Lithografie oder im Offsetdruck maschinell hergestellten Papieren wurden diese zwar seriell gefertigt, jedoch Blatt für Blatt, jedes als Unikat. Es sind vier verschiedene Dekore dieser Technik in der Insel-Bücherei verwendet worden: Varianten von Stein- bzw. Granitmarmor, deren Dekor allein durch das Aufsprenkeln der (beim Granitmarmor mit ölhaltigen Zusätzen versetzten) Farben auf den Marmoriergrund entsteht, sowie die Modifikationen dieser Gestaltungsform zum
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Schleppmustermarmor13, ein Dekor, das durch ziehende Bewegung des Papierbogens beim Auflegen auf den Marmoriergrund erzeugt wird. Die Marmorierten Papiere fanden für etwa 20 Nummern Verwendung, unter anderem für zwei Titel von Theodor Storm, Pole Poppenspäler (IB 45) und Renate (IB 102), für Gedichte (IB 139) und Die Judenbuche (IB 285) von Annette von Droste-Hülshoff, Beethovens An die ferne Geliebte (IB 371), für Selma Lagerlöfs Eine Gutsgeschichte (IB 97) oder Isolde Kurz’ Die Vermählung der Toten (IB 395, Abb. 3). Es ist auffällig, dass Marmorierte Papiere im Original nur in diesen wenigen Varianten und lediglich in einem eng begrenzten Zeitraum für die Einbände der Pappbände der Normalausgaben genutzt wurden; es entstand der Eindruck, Kippenberg habe die Marmorierten Papiere „von der Insel-Bücherei ferngehalten“14. Über die Gründe dieser zurückhaltenden Verwendung der in der Buchgestaltung der Zeit weit verbreiteten Papiere wurde vielfach spekuliert: Sie sei einer gewissen Übersättigung der zuvor allzu häufig genutzten Technik geschuldet, die großflächigen marmorierten Dekore hätten das Format der Insel-Bändchen gesprengt oder die Originalpapiere seien zu empfindlich.15 Tatsächlich entsprachen die fließenden Formen der Marmorierungen nicht dem bis dahin vorherrschenden Mustercharakter der Insel-Bücherei-Einbände. Während Marmorierte Papiere bisweilen für Sonder- und Vorzugsausgaben in der Insel-Bücherei genutzt wurden, griff man die Technik als Gestaltungsvorlage für die Normalausgaben erst wieder gegen Ende des 20. Jahrhunderts auf. Heute jedoch sind Einbände mit (nachgedrucktem) marmoriertem Design ein fester und faszinierender Bestandteil der Reihe, obwohl es keine Muster im Sinne rapportierter Flächengestaltung sind.
Historische Buntpapiere als Vorlagen In den 1990er Jahren begann die Kooperation des Insel-Verlags mit dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum in Leipzig. Aus der Buntpapiersammlung des Museums, die als eine der weltweit bedeutendsten gilt, wurden auf Anfrage des Verlags für zahlreiche Titel Mustervorschläge herausgesucht, aus denen schließlich die Auswahl für die Bezugspapiere getroffen wurde. So wurde für Zbigniew Herberts Der Tulpen bitterer Duft (IB 1215, Abb. 4) ein Kleisterpapier von Lilly 13 Während die Farbtropfen beim Steinmarmor runde Formen haben, sind sie beim Schleppmustermarmor durch das Ziehen des Trägerpapiers länglich. Vgl. Krause, Susanne u. Julia Rinck: Buntpapier – ein Bestimmungsbuch / Decorated Paper – A Guide Book / Sierpapier – Een gids. Stuttgart: Hauswedell 2016. S. 154f. 14 Halbey, Lob der Buntpapiere (wie Anm. 7), S. 131. 15 Vgl. Halbey, Lob der Buntpapiere (wie Anm. 7), S. 132.
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Abbildung 4: Einband zu Zbigniew Herbert: Der Tulpen bitterer Duft (IB 1215). Frankfurt am Main/Leipzig: Insel-Verlag 2001. Einbandvorlage: Kleisterpapier mit Einmalungen von Lilly Behrens, mehrfarbig, 1910. Nachdruck als Offsetdruck. Sammlung Julia Rinck.
Behrens (1869–1959), eine der bekanntesten Buntpapiergestalterinnen um 1900, als Vorlage verwendet. Es zeigt auf einfarbig gestrichenem Grund großzügig, fast formatgroß eingemalte Tulpen. Ebenfalls ein Papier in Kleistertechnik des Wiener Malers und Grafikers Leopold Stolba (1863–1929) wurde für Karl Kraus’ Die Chinesische Mauer (IB 1199) ausgewählt. Doch nicht nur die handgefertig-
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ten Buntpapiere verschiedenster Künstler, auch maschinell hergestellte Papiere der florierenden Buntpapierindustrie des frühen 20. Jahrhunderts fanden knapp hundert Jahre später Eingang in die Insel-Bücherei, so unter anderem ein Lithografiertes Papier mit Vogelmotiven als Vorlage für die Verssammlung von Elisabeth Borchers Das ist die Nachtigall, sie singt (IB 1250). Eine wichtige Entwicklung – insbesondere für Sammler und Einbandforscher – war die aus der Zusammenarbeit zwischen dem Leipziger Museum und dem Insel-Verlag hervorgegangene kontinuierliche und detailreiche Dokumentation von Provenienz, Gestalter und Technik der Entwürfe oder Vorlagen für die Einbandpapiere im Impressum; Informationen, die bis dahin nur marginal überliefert worden waren. In den 1990er Jahren kam es auch zu grundlegenden drucktechnischen Neuerungen: Mitte der 1990er Jahre ging der Insel-Verlag in seiner Produktion der Einbandpapiere vom Druck mit Schmuckfarben zum Vierfarben-Offsetdruck über, als fünfter Druckdurchgang erfolgte ein vollflächiger Aufdruck eines UV-Schutzlacks.16 Während zuvor in der Regel nur mit zwei oder drei Schmuckfarben, bisweilen auch mit Sonderfarben, zum Beispiel Gold- oder Silberbronze, gedruckt worden war, ermöglichte der Wechsel zum Vierfarbdruck unter Nutzung des Offset-Rasters die Darstellung feinster Farbabstufungen. Die Palette der potenziellen Druckvorlagen erweiterte sich damit um ein Vielfaches.
Gisela Reschkes Entwürfe in Buntpapiertechniken Um das Jahr 2000 begann die Hamburger Buntpapiererin Gisela Reschke ihre Entwurfstätigkeit für die Einbände der Insel-Bücherei. Sie gestaltete Blätter in verschiedensten Buntpapiertechniken, experimentierte mit Stempel- und Modeldruck (IB 1319, 1342), fertigte zahlreiche Kleisterpapiere (IB 1360, 1365), Spachtelpapiere (IB 1212, 1216, 1327, 1408) und Marmorierte Papiere (IB 1261, 1299, 1361) sowie unikale Blätter in unterschiedlichsten Mischtechniken (IB 1234, 1309). Dabei war es – ganz im Sinne der frühesten Künstlerentwürfe der Reihe – stets ihr Anliegen, mit ihrem Entwurf Inhalt und Form in Einklang zu bringen, ein Gesamtkunstwerk durch die kreative Umwandlung von „content to cover“17 zu schaffen. So ließ sie sich für den Einband zu Zauberfest des Lichtes – Matisse 16 Der Verlag überließ dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum als Dokumentation zahlreiche Andrucke für Einbandpapiere, die einen wertvollen Quellenbestand für die Forschung darstellen. 17 Reschke, Gisela: buntpapier – pART des buches. Buntpapier als Überzugspapier in der INSEL-BÜCHEREI. Eine hundertjährige Tradition – auch heute noch en vogue! In: MDE Rundbrief (2012) H. 2. S. 16.
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Abbildung 5: Einband zu Paula Modersohn-Becker: „Kunst ist doch das Allerschönste“. Briefe einer jungen Künstlerin (IB 1299). Frankfurt am Main/Leipzig: Insel-Verlag 2007. Einbandvorlage: Marmoriertes Papier von Gisela Reschke, Motivmarmor, Herzen in gezogenem Grund, mehrfarbig. Nachdruck als Offsetdruck. Sammlung Julia Rinck.
in Marokko (IB 1226) durch einem Text von Pierre Loti inspirieren: Der Entwurf in Kleistertechnik lässt die flirrende Hitze und das vibrierende Licht der nordafrikanischen Wüste erahnen. Ebenso ausdrucksstark ist die Vorlage zu Victor Hugos Der Rhein (IB 1328), die in Mischtechnik mit auf blauem Kleistergrund aufgebrachtem schwarzem Materialdruck aus Seidenpapier in Kombination mit
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Stempel- oder Modeldruck gestaltet wurde. In verschiedenen Entwürfen griff die Gestalterin auf historische Buntpapiere als Impulsgeber zurück. Das Einbandpapier zu Paula Modersohn-Beckers Briefen „Kunst ist doch das Allerschönste“ (IB 1299) ist in Farbigkeit und Gestaltung angelehnt an Marmorierte Papiere von Otto Eckmann (1865–1902) oder des dänischen Gestalters Anker Kyster (1864– 1939), die um 1900 unabhängig voneinander den „Blumenmarmor“ entwickelt hatten. Doch auch die Parallele zum türkischen „Hatip Ebru“18, das als Vorform des Blumenmarmorierens gilt und nach dem türkischen Meister Hatip Mehmet Efendi benannt wurde, ist unverkennbar (Abb. 5). Gisela Reschke hat bis heute etwa 70 Entwürfe für Einbandpapiere der InselBücherei gestaltet. In der sanften Anpassung an den Zeitgeschmack sieht sie die Chance der Reihe, „als eine Besonderheit in der Bücherwelt zu überleben“, als ein Pfand, das „der Verlag hüten, schätzen und jungen Designern, Buntpapierern und Künstlern die Einbandgestaltung zu einem guten Text, Druck, Papier und Schriftbild ermöglichen“19 sollte.
Ausblick Die traditionellen Muster der Rizzipapiere finden sich nach wie vor im gestalterisch breiten Spektrum der Reihe und finden ihre Liebhaber. Für neue Titel werden jedoch auch neue Muster und Dekore gestaltet. So hat sich in den vergangenen zehn Jahren das Gestaltungskonzept der Insel-Buchreihe immer wieder neuen Ideen geöffnet: Zunehmend werden Fotografien als Vorlage für die Einbände genutzt, unter anderem als Fotocollage oder (mehr oder weniger gelungenes) Fotoraster (IB 1370), insbesondere für Naturaufnahmen (IB 1393, 1413) oder als Einband von Fotobänden. Die Vielfalt der Vorlagen reicht von der gezeichneten Karikatur über Aquarelle, textile Designs oder Tapeten bis hin zu den „Dukatenbildern“ eines Heinrich Hoffmann (IB 1314). Die Gratwanderung zwischen innovativer, moderner Gestaltung und dem Beibehalten des Reihencharakters der Insel-Bücherei ist – bislang – gelungen, auch wenn nicht mehr nur das Muster allein, als Rapportierung eines Motivs, sondern mannigfaltige Gestaltungsformen und Designs die Käufer locken. Zu guter Letzt: Die Insel-Bücherei lebt auch und gerade durch ihre Sammler. Sie tragen ihre Kollektionen Stück für Stück zusammen, gleichen „geheime“ 18 Vgl. Barutçugil, Hikmet: Träume auf Wasser / The Dream of Water. Hamburg: Buntpapierverlag 2012. S. 42. 19 Reschke, buntpapier (wie Anm. 17), S. 17.
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Listen ab, klassifizieren ihre gesammelten Exemplare und werden so oft selbst zu Experten der Insel-Bücherei. Aus privaten Sammlungen sind die ersten Biblio grafien und Kataloge hervorgegangen, ohne sie hätte es zahlreiche Erkenntnisse zu verschiedensten Aspekten der Reihe nicht gegeben. Und doch gibt es – gerade auch zur Einbandgestaltung – noch viele offene Fragen. Ist es nicht an der Zeit, das an verschiedenen Stellen publizierte oder noch verborgene Wissen zu bündeln und in Zusammenarbeit von privaten Sammlern mit öffentlichen Institutionen wie Bibliotheken und Universitäten einen bebilderten digitalen Gesamtkatalog der Insel-Bücherei aufzubauen? „100 Jahre überstanden“ war 2012 das Motto der Ausstellung der Leipziger Buchwissenschaft – da ein Ende der Reihe glücklicherweise nicht in Sicht ist, lohnte ein solches Projekt gewiss.
Überwachung und Zensur
Thomas Keiderling
Konsequenter noch als die NS-Buchzensur Die Abgründe des Lexikons „Brauner Meyer“ (1936–1942) Der Lexikonverleger Otto Mittelstaedt (1902–1981, Abb. 1) sah auf ein bewegtes Leben zurück, als er vermutlich in den frühen 1970er Jahren seine persönlichen Erinnerungen niederschrieb, zunächst für den hausinternen Gebrauch, konkret für eine in Vorbereitung befindliche Festschrift des Mannheimer Bibliographischen Instituts (B. I.), dem Verlag von Meyers Lexikon.1 Akribisch hielt er darin die Entwicklung des Verlags im 20. Jahrhundert fest. Für den Verleger war es vor allem eine ökomische Bilanzierung, ein Aufzählen und Begründen großer Bucherfolge und -misserfolge. Politische Überlegungen spielten darin kaum eine Rolle. Es war in jener Zeit aber auch nicht üblich, das eigene Verhalten in der NS-Zeit öffentlich zu thematisieren. Überall in der Bundesrepublik Deutschland, so auch in den Verlagen und Buchhandlungen, hüllten sich ehemals verantwortliche Unternehmer und Manager in tiefes Schweigen. Das Bibliographische Institut war als Lexikonverlag vergleichsweise spät, 1826, gegründet worden und konnte sich auf einem hart umkämpften Markt gegenüber älteren Konkurrenten wie Herder (1801) und Brockhaus (1805) behaupten. Seit den 1870er Jahren teilten sich das B. I. und Brockhaus sogar die LexikonMarktführerschaft, wobei stets der Verlag führend war, der sein großes Lexikon in aktualisierter Form anbot. 1915 wurde das B. I. in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, in der zumeist Angehörige aus dem Umfeld der Familie Meyer als leitende Angestellte agierten. Der letzte männliche Nachfahre namens Meyer, Herrmann A. Meyer (geb. 1871), verstarb 1932. Nach seinem Tod war von den Enkeln des Gründers Carl Joseph Meyer nur noch Alfred Bornmüller (1868–1949) in der Firma tätig, er schied jedoch 1933 aus dem Vorstand aus. Im Frühjahr 1930 kamen Otto Mittelstaedt und Helmuth Bücking (geb. 1899) als Vertreter der jüngeren Generation hinzu. Mittelstaedt, ein Schwiegersohn von Herrmann Meyer, trat 1930 als Redakteur in den hauseigenen Reisebücherverlag ein und wurde 1932 Prokurist in der Herstellungsabteilung. Bücking, gelernter Buchhändler und promovierter Volkswirt, besetzte die kaufmännische Leitung.2 Am 1. April 1933 1 Sie erschien zum 150-jährigen Jubiläum und trug, obwohl ein renommierter Verlagshistoriker gewonnen werden konnte, den Charakter einer unkritischen Festschrift. Vgl. Sarkowski, Heinz: Das Bibliographische Institut. Verlagsgeschichte und Bibliographie 1826–1976. Mannheim u. a.: Bibliographisches Institut 1976. 2 Vgl. Sarkowski, Das Bibliographische Institut (wie Anm. 1), S. 146.
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bestellte man sie als Vorstände; genau einen Monat später traten sie der NSDAP bei.3 – Handelte es sich um eine rein verlagsstrategische Maßnahme oder waren Mittelstaedt und Bücking nach wirtschaftlich schwierigen Jahren der Weimarer Republik begeistert von der neuen radikalen Ideologie? Diese Frage lässt sich mit Bestimmtheit nicht mehr beantworten, weil sich beide hierzu nicht äußerten. Jedoch wird ihre Parteizugehörigkeit in den Folgejahren von Nutzen gewesen sein, den einen oder anderen Großauftrag zu übernehmen.
Abbildung 1: Otto Mittelstaedt. Börsenblatt (Frankfurter Ausgabe) 148 (1981) Nr. 44. S. 1686.
Die Jahre 1933 bis 1939 brachten dem deutschen Buchmarkt einen Aufschwung der Binnenkonjunktur, an dem das B. I. teilhaben konnte. Es gelang, neue Publikationsvorhaben zu akquirieren und zusätzliche Mitarbeiter einzustellen. Der Umsatz verdoppelte sich. Beschäftigte das Buchunternehmen 1933 409 Mitarbeiter, war deren Zahl bis 1936 auf 890 gestiegen. 751 davon arbeiteten in den technischen Betrieben des Unternehmens und realisierten nicht nur die umfangreiche Produktion des eigenen Hauses, die Brehms Tierleben, den Duden, Ausgaben literarischer Klassiker oder geografische Werke enthielt, sondern auch viele Druckaufträge anderer Verlagshäuser. Die Entwicklung verlief bei F. A. Brockhaus ganz ähnlich. Trotz der stürmischen Entwicklung erzielte das Bibliographische Institut aus der Produktion
3 Vgl. NSDAP-Mitgliedskarten Mittelstaedt und Bücking, Bundesarchiv Berlin (ehemals BDC) (BArch), NSDAP-Gaukartei.
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von Nachschlagewerken nur schätzungsweise 40 Prozent seines Gesamtumsatzes.4 Diese relative Zurückhaltung war das Ergebnis von Planungsunsicherheiten, die im NS-Staat aus der Überwachung der Lexika resultierten. Die wesentlichen NS-Kontrollinstanzen des Buchhandels wurden in den Jahren 1933 und 1934 geschaffen. Die Reichsschrifttumskammer (RSK), eine untergeordnete Abteilung der Reichskulturkammer, nahm am 15. November 1933 ihre Tätigkeit in Berlin auf.5 Während sie die Berufsgruppe der Buchschaffenden – Autoren wie Verleger – personell überprüfte und in diesem Sinne vorzensierte, führte sie medial gesehen eine Nachzensur aus, also eine Zensur der Schriften nach der Drucklegung. Im Machtgerangel der NS-Instanzen hatte sich am 16. April 1934 in München eine Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums (PPK) etabliert, deren Verwaltungsapparat noch im November nach Berlin verlegt wurde. Sie sollte diejenigen Publikationen vor der Drucklegung überwachen, die sich mit politisch-weltanschaulichen, wirtschaftlichen, kulturellen, historischen Darstellungen der NSDAP und ihrer Gliederungen sowie den Biografien führender NS-Persönlichkeiten befassten.6 Da auch die einflussreichen universalen Nachschlagewerke diese Themen berührten, wurden die Lexikonverlage der PPK einfach unterstellt. In der NS-Diktatur erschienen zwei wichtige allgemeinbildende Enzyklopädien. Zunächst handelte es sich um das Nachschlagewerk Der Große Brockhaus in 15. Auflage (1928–1935). Von 20 Bänden mit ca. 200.000 Stichwörtern waren zum Zeitpunkt der „Machtergreifung“ 13 publiziert, und mit Arbeitsaufnahme der Parteiamtlichen Prüfungskommission im Jahr 1934 lagen 16 Bände vor. Somit ist es nicht verwunderlich, dass diese im „Dritten Reich“ stets lieferbare Ausgabe historische und selbst politische Begriffe größtenteils sachlich und überparteilich darlegen konnte. Durch den Einfluss der Zensur war dieser Anspruch für die Schlussbände allerdings nicht mehr aufrechtzuerhalten. Ein zweites Allgemeinlexikon, aufgrund seines Umfangs eher als mittlere Ausgabe anzusprechen, war Meyers Lexikon in achter Auflage, ursprünglich angelegt auf zehn Text- und zwei Supplementbände. Kriegs- und zensurbedingt wurde es allerdings nicht vollendet. Zwischen 1936 und 1942 erschienen die Textbände 1 bis 9 sowie der Atlasband (12, 1936); nicht hingegen Band 10 „Vox–Zz“ und der
4 Vgl. Mittelstaedt, Otto: Geschichte des B. I. 1926–1945, Manuskript. Mannheim o. J., Bl. 1936/1, 1937/1 sowie Bl. 1933/4–1936/2. 5 Vgl. Reichsgesetzblatt 1 zur Durchführung des Reichskammergesetzes. In: Presse in Fesseln. Eine Schilderung des NS-Pressetrusts. Eine Gemeinschaftsarbeit des Verlags auf Grund authentischen Materials. Berlin: Verlag Archiv und Kartei 1948. Dokumentenanhang Nr. III, S. 1. 6 Vgl. Barbian, Jan-Pieter: Literaturpolitik im NS-Staat. Von der „Gleichschaltung“ bis zum Ruin. Frankfurt am Main: S. Fischer 2010. S. 162–179.
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Registerband 11. Die Standardausgabe war in braunem Kunsthalbleder mit roten Rückenschildern erhältlich, was ihr sofort den doppeldeutigen Namen „Brauner Meyer“ einbrachte (Abb. 2). Zudem erschien eine beige-weiße Prachtausgabe in Halblederausführung mit dunkelbraunen Rückenschildern. Den Angaben auf den Titelblättern der Textbände zufolge sollte die Ausgabe 20.000 größtenteils farbige Abbildungen enthalten. Aufgrund des nicht erschienenen Schlussbandes dürfte deren Zahl bei 18.000 liegen. Um das nötige Papier herbeizuschaffen, waren elf Eisenbahnzüge zu je zwanzig Waggons nötig. Das Setzen des Textes brauchte 82.500 Arbeitsstunden, der Druck 21.500 Stunden.7 Die Auflage verkaufte sich bis 1942 in schätzungsweise 28.000 Serien. Für eine letztlich unvollständig gebliebene Ausgabe war das ein ansehnliches Ergebnis. Dennoch, so schätzte es der damalige Vorstand Otto Mittelstaedt ein, war das Lexikon aufgrund der hohen Herstellungskosten und der Konkurrenz durch Brockhaus ein Minusgeschäft. Die Kostendeckung hätte man erst bei ca. 40.000 verkauften Serien erreicht.8 Um die Bekanntheit der Marke „Meyer“ nicht verblassen zu lassen, entschied der Vorstand 1934, die Arbeiten an eben dieser neuen, dem Zeitgeist angepassten Ausgabe aufzunehmen. Schnell war der Kontakt zur PPK hergestellt. Diese formulierte zwei Optionen: Entweder würde man das Lexikon gemeinsam vor dem Druck erarbeiten, oder das B. I. könne dies auch allein tun mit dem Risiko, dass es nach der Drucklegung zu Auseinandersetzungen kommen könnte. Aus verlegerischer Sicht erschien eine Vorprüfung notwendig, um sich an ein solches Werk überhaupt zu wagen. Mittelstaedt schrieb in seinen unveröffentlichten Erinnerungen: Wir standen vor den Fragen: Wie soll es inhaltlich aussehen? Wer kann so etwas schreiben wie die Partei es verlangt? Kann man überhaupt ein Lexikon starten? Wichtiges weglassen war genauso Ursache für Beschlagnahme wie nicht „richtig gesehen“ bringen. Wer traute sich z. B. das Stichwort „Hitler“ zu schreiben. […] Bei einem 12bändigen Lexikon, wie wir es planten, war es unmöglich, das Risiko einzugehen, daß irgendein Band beschlagnahmt würde. Wir mußten uns also absichern. […] Für uns war also die Vorprüfung durch die PPK zugleich mit der Garantie, daß nun keine Beschlagnahme mehr stattfinden konnte, verbunden.9
7 Vgl. Menz, Gerhard: Hundert Jahre Meyers Lexikon. Festschrift anlässlich des hundertjährigen Jubiläums von Meyers Lexikon am 25. August 1939. Leipzig: Bibliographisches Institut 1939. S. 67. 8 Vgl. Mittelstaedt: Geschichte (wie Anm. 4), Bl. 1936/7. Die dort abgebildete Tabelle ist allerdings irreführend, weil sie neben den tatsächlichen Verkaufszahlen der Anfangsbände auch Prognosen für die nicht erschienenen Bände enthält. 9 Mittelstaedt, Otto: Materialien zur Geschichte des Lexikons, Manuskript, Mannheim o. J., Bl. 22. Mittelstaedt: Geschichte (wie Anm. 4), Bl. 1936/ 4–1936/5.
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Abbildung 2: Meyers Lexikon in der 8. Auflage 1936–1942. Bibliothek Thomas Keiderling.
Mit anderen Worten, für Verleger war die Vorzensur aus kaufmännischer Sicht sogar begrüßenswert. Der technische Ablauf der vorzensorischen Überprüfung war so geregelt, dass der zuständige Prüfer – Gerhard Krüger (geb. 1908) – wöchentlich einmal nach Leipzig kam und Manuskripte oder Druckfahnen einsah. Die Kosten für diese obligatorische Zensur hatte der Verlag mit einem monatlichen Betrag von 600 Reichsmark zu tragen. Erzielte man über die Anlage einzelner Artikel keine Einigung, wurden Verlagschefs oder -mitarbeiter in das Berliner Büro der PPK zitiert. Meyers Lexikon in der 8. Auflage begann ab 1936 zu erscheinen. Die Auslandspresse und deutschsprachige Auslandssender nahmen Vergleiche vor zwischen dem 1928 – mitten in der Weimarer Republik – erschienenen Band 1 des Großen Brockhaus und dem ersten Band von Meyers Lexikon in
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der 8. Auflage. Man urteilte, Meyer habe „eine nicht erzwungene, sondern völlig freiwillige Unterordnung“ unter das NS-Regime vorgenommen (Abb. 3).10
Abbildung 3: Redaktionssitzung von Meyers Lexikon, 8. Auflage, um 1939. Menz, Gerhard: Hundert Jahre Meyers Lexikon. Leipzig: Bibliographisches Institut 1939. S. 65.
Otto Mittelstaedt verwies in seinem Rückblick auf Schwierigkeiten mit der PPK und schrieb die Verantwortung für die systemkonformen Inhalte seiner Lexika gänzlich den Behörden zu: „Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich feststellen, daß lediglich der Erscheinungstermin unserer VIII. Aufl[age] den Meyer zum Vergleich mit dem Brockhaus anbot. Wären die Termine umgekehrt gewesen, so hätte FAB [F. A. Brockhaus, Th. K.] das braune Image gehabt.“11 Ferner vertrat er den Standpunkt, als Parteigenosse habe er eine bessere „Fühlung“ und vor allem eine „größere Einspruchsmöglichkeit“ gegenüber den Behörden besessen als die parteilosen Brockhaus’. Mittelstaedt bedauerte, dass es in jenen schicksalhaften Jahren unmöglich gewesen sei, sich irgendwie mit F. A. Brockhaus zu verständigen. Die PPK habe somit beide Konkurrenten gegeneinander ausspielen können. Gegen diese Version spricht allerdings die Tatsache, dass er selbst eifrig 10 Mittelstaedt, Geschichte (wie Anm. 4), Bl. 1936/3. Vgl. Mittelstaedt, Materialien (wie Anm. 9), Bl. 23f. 11 Mittelstaedt, Geschichte (wie Anm. 4), Bl. 1936/5. Vgl. Mittelstaedt, Materialien (wie Anm. 9), Bl. 23.
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„belastendes Material“ gegen seinen Hauptkonkurrenten gesammelt hatte, um es möglicherweise strategisch einsetzen zu können.12 Der Einfluss der Vorzensur lässt sich am Beispiel von Meyers Lexikon wie folgt einschätzen: Zunächst wurde er in den neu konzipierten Großartikeln „Deutsche Kultur“, „Deutsches Reich“, „Europa“, „Germanen“, „Judentum“, „NSDAP“, „Polnischer Raum“, „Rasse“ usw. spürbar, die überaus umfangreich waren und beispielsweise im Falle „Deutsches Reich“ 200 Seiten umfassten. Zahlreiche Bildtafeln zu Begriffen wie „Arbeitsdienst“, „Bauer“, „Deutsche Arbeitsfront“, „Drittes Reich“ etc. enthielten ungewöhnlich viele Abbildungen von Uniformen, Hakenkreuzen und Führern der NSDAP. Der Großartikel „Rasse“ etwa ging mit zahlreichen Abbildungen (Rasse-Tafeln, Abb. 2) über 53 Seiten und gab die NS-Ideologie umfassend wieder. Er war in zwei große Abschnitte gegliedert, einmal „Rassewissenschaft“ mit den Unterabschnitten „Forschung“, „Zoologisch-Botanische Rassenkunde“, „Rassenkunde des Menschen“, unter anderem mit Darstellungen zur „Rassenpsychologie“, zum „Rassenseelenleben“ und zur „Rassenbegabungskunde“, und andererseits „Rassepolitik“ mit Ausführungen zu deren Bedeutung, Grundlagen, Aufgaben, Geschichte, zu Weltanschauung und Forschungsstellen. Rassistische Vorurteile und Stigmatisierungen wurden zumeist als wissenschaftlich geprüftes Wissen ausgegeben. Zwei Textbeispiele: Stark und bedeutsam wirken sich Rassenunterschiede im Schrifttum aus: der herb zurückhaltende dynamische Stil der Nordrasse, die farbige, blumenreiche Sprache der Orientalen, die Sprache und Denkweise Indiens und Chinas oder der Indianer weisen alle auf die oft tiefen rassischen Verschiedenheiten hin.13
Hinsichtlich des Humors und Musikschaffens war zu lesen: Fälisch-nordischer Humor ist voll innerlich lächelnder Weisheit oder grimmig-kraftvoll, westisch ist Satire, sprühend-witzig mit auch verletzender Ironie, dinarisches Lachen derb und kameradschaftlich, Menschen der ostischen und der ostbaltischen Rasse sind humorarm, sie fühlen sich vielfach angegriffen. Den Juden eigen ist sinnlicher, meist zweideutiger Witz, ihnen fehlt Humor.
12 Sehr wahrscheinlich war Mittelstaedt Initiator einer politischen Kampagne gegen die Familie Brockhaus der Jahre 1937–1940. Er hatte Informationen über nichtarische Wurzeln der Bockhaus’ gesammelt, die in einer entsprechenden genealogischen Arbeit verheimlicht worden waren. Die genealogische Arbeit stammte von: Gebhardt, Peter von: Geschichte der Familie Brockhaus aus Unna in Westfalen. Leipzig: F. A. Brockhaus 1928. 13 Artikel „Rasse“. In: Meyers Lexikon, 8. Auflage, Bd. 9. Leipzig: Bibliographisches Institut 1942. Sp. 51. Hier und im Folgenden werden Abkürzungen, wie sie in Lexika üblich sind, ausgeschrieben und nicht angezeigt.
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Tief rassische bedingte Unterschiede zeigen sich in der Musik, besonders dem musischen Stil. Musikgeschichtlich steht fest, daß die nordische Rasse die Grundlagen der heutigen abendländischen Tonkunst schuf durch ihre Großtaten der Entdeckung und der Benutzung der durch die Natur gegebenen konsonanten Tonbeziehungen und durch die Entwicklung der Mehrstimmigkeit und der Harmonik sowie der Erfindung der Notenschrift im keltisch-germanischen Raum. […] Die musisch-eigenschöpferische Begabung der orientalischen und der westischen wie der ostindischen Rasse gilt als geringer, sie beeinflußt höchstens die musische Form, nicht aber das Stilgefüge. […] Die jüdische Musikalität ist etwa in Mendelssohn oder Mahler glänzend virtuos, bald banal, bald bombastisch, schwankt oft zwischen erhaben und lächerlich. [Giacomo] Meyerbeer und [Jacques] Offenbach haben artistisches Können, z. T. nicht geringe, auch künstlerische Fähigkeiten, aber verbunden mit Absinken aller menschlich-sittlichen Werte. Am musikalischen Schund etwa der Entartungsjahre 1918–33 waren gerade jüdische und judenblütige Komponisten in sehr hohem Anteil beteiligt.14
Beide Passagen belegen, in welcher Weise sich das Allgemeinlexikon der rassistischen Propaganda des Nationalsozialismus bediente und selbst vor persönlichen Beleidigungen nicht zurückschreckte, die in deutschen Konversationslexika seit den 1830er Jahren nur noch selten zu finden waren. Im letzten Satz wurde einerseits an die Tradition der sogenannten Schmutz- und Schundbewegung angeknüpft, andererseits die Weimarer Republik verunglimpft. Die Schmutz- und Schundbewegung war in kleinbürgerlichen Kreisen des ausgehenden 19. Jahrhunderts entstanden. Nach dem Wegfall einer rigorosen Staatszensur nach 1848/1849 wollte sie das Vordringen von „leichter“, unterhaltender Literatur (sogenannter Trivialliteratur) in einkommensschwächere Bevölkerungsschichten verhindern, die vor allem durch den Kolportagebuchhandel direkt in den Arbeiter- und Bauernmilieus verkauft wurde. Vermeintlich sittlich „verrohende“, „minderwertige“ und bedenkliche Schriften – in diesem Fall in Bezug auf leichte musikalische Kost – sollten verboten werden. Rassistische Ausführungen und persönliche Beleidigungen fanden sich nicht nur hier, sondern auch in zahlreichen weiteren Personenartikeln. Meyers Lexikon veränderte ohnehin die Personenauswahl markant. Viele unbedeutende Parteigenossen wurden aufgenommen,15 bedeutende Persönlichkeiten hingegen ließ man weg, oder sie wurden, wie das Beispiel Thomas Mann zeigt, mit „bösen Bemerkungen und geringem Umfang gebracht“.16 Im Artikel über den verfemten Schriftsteller war zu lesen: 14 Artikel „Rasse“. In: Meyers Lexikon (wie Anm. 13), Sp. 52. 15 Vgl. beispielgebend für die Neuaufnahme von NS-Personen beim Sammeleintrag Schmidt in Band 9 (1942): 10) Friedrich Schmidt (1902–1973) Stellv. Gauleiter von Württemberg und später Lodz, zeitweilig Mitarbeiter des Amtes Rosenberg, SS-Brigadeführer; sowie Ludwig Schmidt-Kehl (1891–1941) Rassehygieniker seit 1937 Vorstand des Rassenbiologischen Instituts Würzburg. 16 Mittelstaedt, Materialien (wie Anm. 9), Bl. 24.
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Bezeichnend für ihn ist das Wühlen in krankhaften Seelenbewegungen und ein preziöser Stil, der mit jedem neuen Werk weitschweifiger und gekünstelter wurde. […] In der Emigration schrieb er mehrere Pamphlete gegen das Dritte Reich und trat in Reden gegen dieses auf, wurde aus der deutschen Volksgemeinschaft ausgeschlossen; ebenso sein Sohn Klaus […]. Er hetzt mit seiner Schwester Erika in Kabaretts („Die Pfeffermühle“) gegen Deutschland.17
Ob jemand Jude oder jüdischer Abstammung war, musste ebenso erwähnt werden. Wertungen und Gewichtungen positiver wie negativer Art, wie sie in einem Lexikon nicht statthaft sind, wurden eingebaut.18 Als Beleg soll der biografische Eintrag zu Felix Mendelssohn Bartholdy dienen: Jude, Neffe von Mendelssohn 2), Komponist, Pianist und Dirigent, mit dem der unheilvolle Einfluß des Judentums auf die deutsche Musik begann; […] schon vor 1933 mit wenigen Ausnahmen vergessene Werke, lediglich bestechend durch ihre Form, zeichnen sich nirgends durch wirkliche Schöpferkraft aus; die Instrumentalwerke […], Kammermusik […], Klavierkonzerte […], die Chorlieder, Duette und einstimmigen Lieder folgen der romantischen Linie Webers und Schuberts, vielfach in sentimentaler Verzerrung, die Oratorien sind eine kraftlose Nachahmung Händels.19
Oder das Beispiel Karl Marx: Agitator, Jude […]. Sein maßloses Geltungsstreben steigerte sich bis zu lächerlichem Gottähnlichkeitsbewußtsein; den „deutschen Idealismus“ haßte er fanatisch; sogar seine engsten Mitarbeiter verschonte er nicht mit seiner Mißgunst und seinem Intrigantentum. Seine Theorie und sein Handeln wurden nicht bestimmt vom Mitleid mit den Armen, sondern lediglich durch das Gefühl der rassischen Minderwertigkeit und der gesellschaftlichen Deklassierung. Marx war ein typischer „Berufsrevolutionär“, d. h. er lebte fast ausschließlich von den Unterstützungen seiner „Freunde“, die er, wie aus seinem (in mehreren Ausgaben veröffentlichten) Briefwechsel hervorgeht, aufs schamloseste erpreßte und ausnutzte. Obwohl er sich in seinen Schriften fortwährend gegen die „offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung“ wendete, war er in Wirklichkeit selbst das Urbild eines gerissenen und gefühlsrohen Ausbeuters.20
Demgegenüber wurden nationalsozialistische Führer und Funktionäre – unter anderem Joseph Goebbels, Hermann Göring, Rudolf Heß, Adolf Hitler, Alfred Rosenberg, Joachim von Ribbentrop – zumeist in längeren, bebilderten Artikeln 17 Artikel „Mann, Thomas“. In: Meyers Lexikon (wie Anm. 13), Bd. 7, 1939, Sp. 967. 18 Vgl. Mittelstaedt, Materialien (wie Anm. 9), Bl. 24. 19 Artikel „Mendelssohn Bartholdy, Felix“. In: Meyers Lexikon (wie Anm. 13), Bd. 7, 1939, Sp. 1247f. 20 Artikel „Marx, Karl“. In: Meyers Lexikon (wie Anm. 13), Bd. 7, 1939, Sp. 1069.
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vorgestellt. Man lobte deren Verdienste für die NS-Bewegung eingehend. Die Redaktion dieser Artikel lag freilich auch direkt bei der Parteiamtlichen Prüfungskommission.21 Goebbels wurde für sein propagandistisches Wirken vor der nationalsozialistischen Machtübernahme besonders gewürdigt. Er habe „täglich das Wort“ ergriffen, „um in journalistisch meisterhaften Artikeln von außergewöhnlicher Kühnheit und Schärfe an den Regierenden Kritik zu üben.“22 Hitler sei der „Inbegriff der deutschen Wiederauferstehung und ein Symbol des erstarkten, neuaufgerichteten Reiches“23, Rosenberg wiederum habe einen „maßgeblichen Anteil an der geistigen und kulturellen Entwicklung des neuen Deutschlands. Die national-sozialistische Bewegung verdankt ihm eine streng wissenschaftliche und intuitive Gestaltung ihres Gedankengutes.“24 Der Bewegung abseits stehende oder gar in Ungnade gefallene Funktionäre wurden zumeist nicht erwähnt. Eine weitere Art von Veränderungen bestand darin, Ungleichgewichtigkeiten einzubauen. So wollte die PPK in kleineren Lexikonausgaben des Zweiten Weltkriegs etwa durchsetzen, dass Länderartikel von Kriegsgegnern entweder ganz entfielen oder stark im Umfang reduziert wurden. Aus lexikografischer Sicht war dies hoch problematisch. Der 9. Band von 1942 wurde in der Schweiz aufgrund des gleichnamigen Länderartikels beschlagnahmt, da er unsachliche und zum Teil gehässige Stellen enthielt. Darin hieß es unter anderem: Die Auswanderung aus der Schweiz ist gering (1936: 2070, 1937: 2813 Köpfe). Um so stärker ist der Zuzug von Ausländern, die ihren Wohnsitz ständig in der Schweiz nehmen. Von diesen sind viele höchst zweifelhafte Elemente. Denn unter Mißbrauch des Freiheits- und Toleranzbegriffs ist die Schweiz zusammen mit London und Paris zu einem Schlupfwinkel des politischen Verbrechertums, besonders von Juden geworden.
Aber auch zur jüngeren und gegenwärtigen Landesgeschichte der Schweiz wusste der „Braune Meyer“ einiges zu berichten: 1914 bis 1933. […] Während die Französisch- und die Italienischschweizer eindeutig auf der Seite Frankreichs und Italiens standen, war die Haltung der Deutschschweizer, von wenigen Ausnahmen abgesehen, gegenüber dem Reich gleichgültig und unfreundlich. […] Das Versailler Diktat und die Versklavung Deutschlands veranlaßten die „freiheitsliebenden“ Schweizer nicht zum Protest, sie machten Völkerbundpolitik, Internationalismus
21 Nicht bebildert und vergleichsweise kurz war z. B. der Eintrag zu Heinrich Himmler. 22 Artikel „Goebbels, Joseph“. In: Meyers Lexikon (wie Anm. 13), Bd. 5, 1938, Sp. 57. 23 Artikel „Hitler, Adolf“. In: Meyers Lexikon (wie Anm. 13), Bd. 5, 1938, Sp. 1276. Es handelte sich um die Wiedergabe eines Goebbels-Zitats aus dessen Rundfunkrede vom 19.4.1936. 24 Artikel „Rosenberg, Alfred“. In: Meyers Lexikon (wie Anm. 13), Bd. 9, 1942, Sp. 577.
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und Pazifismus eifrig mit. […] Bereits der Weltkrieg hatte eine starke Zunahme des Marxismus gebracht, der ganz nach reichsdeutschem Vorbild organisiert worden war. […] Seit 1933. Die national-sozialistische Revolution bedeutete auch für die Schweiz einen tiefen Einschnitt. Die alte Reichsfeindschaft, durch Emigranten und Juden aus Deutschland geschürt, schlug wieder hohe Wellen.25
Die Ausgaben wurden in der Auslieferung und in den Sortimentsbuchhandlungen der Schweiz konfisziert. Darüber hinaus gaben die Sortimenter den dortigen Behörden die Namen aller Käufer bekannt, sodass sie aufgesucht und zur Heraus gabe der Bände aufgefordert werden konnten. Selbst im Auswärtigen Amt war man aufmerksam geworden, denn das Lexikon störte die zwischenstaatlichen Beziehungen. Den Schweizer Eklat nahm der Verlag zum Anlass, die firmenintern aus ökonomischen Gründen zunehmend geforderte Einstellung des Werks umzusetzen. Gegenüber der RSK und PPK wurde dieser Schritt mit einem akuten Arbeitskräftemangel begründet. Otto Mittelstaedt schlug daraufhin den Behörden eine Neubearbeitung des Lexikons vor, die „im Ton bedeutend vorsichtiger gehalten sei und einen ‚objektiveren Charakter‘ trage“. Sogar die Erarbeitung eines Lexikons ohne die PPK erwog er nun wohl ernsthaft.26 1942 erhielt das Unternehmen aus dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda tatsächlich den Auftrag, die Herausgabe einer auch im Ausland verkäuflichen „neutralisierten“ Auflage voranzutreiben. Der erste Band lag 1944 im Manuskript vor, Material für weitere Bände wurde bis Kriegsende recherchiert. Die Veröffentlichung war jedoch nicht mehr zu realisieren.27 Die Geschäftsleitung hatte die Herausgabe des „Braunen Meyer“ zentral mit der Überlegung verbunden, im „Dritten Reich“ ein aktuelles nationalsozialistisches Lexikon vorzulegen, zumal ein solches im Zentralverlag der NSDAP Franz Eher Nachfolger nicht erschienen war. Man wollte einen Kassenschlager und ein „Prestigeobjekt“ für den Verlag haben. In der Werbearbeit des B. I. wurde denn auch folgerichtig die besondere nationalsozialistische Ausprägung der eigenen Lexika immer wieder herausgestellt. Als der Verlag 1939 Meyers Lexikon als „einzig parteiamtlich empfohlenes und nationalsozialistisch ausgerichtetes Großlexikon“28 anpries, ging das den NS-Behörden zu weit. Auf Beschwerde 25 Artikel „Schweiz“. In: Meyers Lexikon (wie Anm. 13), Bd. 9, 1942, Sp. 1391, 1405. 26 Vgl. Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP. Hrsg. v. Institut für Zeitgeschichte, Teil 1. Regesten, Teil 1 und 2, München 1983, zit. in Wetscherek, Hugo (Hrsg.): Bibliotheca Lexicorum. Kommentiertes Verzeichnis der Sammlung Otmar Seemann bearbeitet von Martin Peche. Wien: Inlibris 2000. S. 390. 27 Vgl. Mittelstaedt, Geschichte (wie Anm. 4), Bl. 1938/1–2. Vgl. Sarkowski, Das Bibliographische Institut (wie Anm. 1), S. 158. 28 Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Sonderausgabe Kantate 1939. S. 64f.
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einiger parteinaher Verlage hin, die ihre ideologische Monopolstellung gefährdet sahen, erteilte die Reichsschrifttumskammer dem Bibliographischen Institut eine Verwarnung mit Strafandrohung, wenn es noch einmal auf diese Weise werben würde.29 Erst die enorm hinter den Erwartungen zurückbleibenden Verkaufszahlen bewirkten ein Umdenken im Verlagsmanagement, und der Eklat um den Artikel „Schweiz“ bot der B.-I.-Leitung einen willkommenen Vorwand, die Ausgabe gezielt abzubrechen. Mittelstaedt stellte später ernüchtert fest: Meyers Lexikon habe trotz des günstigen Ladenpreises von 15 Reichsmark nur mäßigen Absatz gefunden, während der fast doppelt so teure Brockhaus gut am Markt gestanden habe. Im Nachhinein betrachtet wäre es besser gewesen, auf die Ausgabe generell verzichtet zu haben.30 Deutlich wurde, dass die deutsche Bevölkerung eine sachliche und ausgewogene Darstellung der Propaganda vorzog. Meyers Lexikon dokumentiert einerseits die Beeinflussung der Allgemeinlexika im Nationalsozialismus. Andererseits wird deutlich, dass die verlagsinterne Lexikonredaktion und die beauftragten verlagsexternen Artikelschreiber – mehr als dies in der NS-Zeit notwendig gewesen wäre31 – in relevanten Artikelgruppen zur Geschichte, Zeitgeschichte und bei Personeneinträgen den überparteilichen, sachlichen Ton verließen, um Andersdenkende und Juden in einer gegen die Grundprinzipien der Lexikografie verstoßenden Weise zu diskreditieren. Einschlägige Artikel vermitteln rassistisches und antisemitisches Gedankengut als wissenschaftlich geprüftes Wissen. Somit nahm der Verlag, trotz der ohnehin vorhandenen Vorzensur durch die Parteiamtliche Prüfungskommission, eine aktive Rolle bei der politischen Überformung seines großen Lexikons ein. Die hier vorgenommene Sichtung beschränkte sich freilich auf einschlägige Begriffe der NS-Ideologie und auf ausgewählte Personeneinträge. Eine umfangreichere wissenschaftliche Untersuchung müsste sich weiteren politischen Artikeln widmen wie Demokratie, Ideologie, Partei, Revolution; sich dann aber auch vermeintlich unauffälligen Artikelgruppen zuwenden, die, wie etwa die Themenbereiche Biologie, Geografie, Technik, Medizin, Astronomie, nicht der Vorzensur ausgesetzt waren. Gab es auch dort Manipulationen? Ein punktueller Vergleich mit dem Großen Brockhaus, den Ines Prodöhl vorgenommen hat, zeigt zumindest eine „Nationalisierung“ verschiedenster Bereiche. So wurden kulinarische Spezialitäten anderer Länder wie Brie, Champagner oder Portwein, die im mehr29 Vgl. RfVP an Wilhelm Baur (RSK), 24.5.1939, BArch, RKK, Bibliographisches Institut, 29. 30 Vgl. Mittelstaedt, Geschichte (wie Anm. 4), Bl. 1936/3. Vgl. Mittelstaedt, Materialien (wie Anm. 9), Bl. 24. 31 Siehe hierzu die letzten Bände des Großen Brockhaus, die auch durch die PPK kontrolliert wurden, jedoch vergleichsweise zurückhaltend ausfallen.
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heitlich in der Weimarer Republik erschienenen Großen Brockhaus noch umfangreicher darstellt wurden, im Meyer entweder weggelassen oder mit nationalen Umdeutungen versehen.32 Das Bibliographische Institut konnte während des Zweiten Weltkriegs aufgrund seiner hervorragenden Kontakte zu NS-Stellen nach Bertelsmann in Gütersloh und dem Zentralverlag der NSDAP Franz Eher Nachfolger zum drittgrößten Buchlieferanten der Wehrmacht im sogenannten Frontbuchhandel aufsteigen. Bis zum Untergang des Nationalsozialismus 1945 produzierte das B. I. auf diese Weise eine große Menge „kriegswichtiger“ Literatur. Eine letzte pikante Fußnote sei erwähnt: In der SBZ/DDR entschieden verantwortliche Funktionäre wie Heinrich Becker33, nicht den Brockhaus, sondern den Meyer in Leipzig unter sozialistischen Vorzeichen fortzuführen; angeblich auch aufgrund der stärkeren proletarischen Wurzeln. Die Anleihen an die NS-Diktatur, die vielen noch in reger Erinnerung waren, wurden nicht erwähnt. Somit erhielt der „Braune Meyer“ eine Fortsetzung in der DDR durch mehrere „Rote Meyer“. Die diesbezüglichen Kontinuitäten und Diskontinuitäten sind durch die Forschung noch nicht umfassend aufgearbeitet worden.34
32 Prodöhl, Ines: Die Politik des Wissens. Allgemeine deutsche Enzyklopädien zwischen 1928 und 1956. Berlin: Akademie 2011. S. 102–109. 33 Heinrich Becker (1891–1971) war von 1945 bis 1946 zunächst kommissarischer Leiter der Stadtbibliothek und der Städtischen Bücherhallen Leipzig und arbeitete anschließend an der Liste der auszusondernden NS-Literatur mit. Von 1946 bis 1960 leitete er das VEB Bibliographische Institut Leipzig und war Vorsteher des Leipziger Börsenvereins (1948–1961), ab 1956 auch Leiter des Verlags Enzyklopädie. Vgl. Müller-Enbergs, Helmut, Jan Wielgohs u. Dieter Hoffmann (Hrsg.): Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon. Berlin: Ch. Links 2000. S. 53f. In der Abteilung Buchwissenschaft des Instituts für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig wurde unter der Betreuung von Siegfried Lokatis eine Bachelorarbeit zu Becker angefertigt: Spindler, Anne Liane: Die Rolle Heinrich Beckers beim Wiederaufbau der Buchstadt Leipzig nach 1945. Leipzig 2012. 34 Es fehlt eine umfassende, systematisch-vergleichende Inhaltsanalyse der Lexika der NS-Zeit und DDR. Eine durch Siegfried Lokatis angeregte und betreute Bachelorarbeit verfasste Martin Zeschke: Die Politisierung des Lexikons im 20. Jahrhundert. Eine Analyse des politischen Einflusses auf Allgemeinenzyklopädien in der DDR am Beispiel von Meyers Lexikon. Leipzig 2011.
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Deutschsprachige Literatur und die Zensur in der Volksrepublik Polen in den Jahren 1945 bis 1956 Eine Zensurbehörde, die die politischen Interessen der neuen Machthaber sichern sollte, wurde im Nachkriegspolen recht früh gegründet und nach den in der Sowjetunion bewährten Vorbildern organisiert. Als Geburtsstunde der institutionalisierten Zensur kann bereits der 7. September 1944 betrachtet werden. An diesem Tag verordnete das von polnischen Kommunisten beherrschte und von der Sowjetunion unterstützte Volksbefreiungskomitee (Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego), dass die Kontrolle der Presse, der Presse- und Informationsagenturen, des Rundfunks und der Filmproduktion vom Ministerium für Information und Propaganda (Ministerstwo Informacji i Propagandy) ausgeübt werden soll.1 Die eigentliche Zensurbehörde, das Hauptamt zur Kontrolle der Presse, Veröffentlichungen und Schaustellungen (Główny Urząd Kontroli Prasy, Publikacji i Widowisk) wurde durch den Erlass der kommunistischen Regierung vom 5. Juni 1946 errichtet. Im Artikel 5 strebte man den Aufbau eines Netzes von Regionalämtern an, die der zentralen Zensurbehörde untergeordnet werden sollten.2 Im Unterschied zur DDR, in der die Zensurbehörde innerhalb der ersten 15 Jahre mehrmals organisatorisch umgestaltet wurde, behielt die polnische Zensur ihre ursprüngliche organisatorische Form – abgesehen von einigen unwesentlichen Umgestaltungen – bis zu ihrer Auflösung im Jahr 1990. Anders auch als die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel, die seit ihrer Gründung zum Ministerium für Kultur gehörte, war das Hauptamt zur Kontrolle der Presse, Veröffentlichungen 1 Vgl. Nałęcz, Daria: Główny Urząd Kontroli Prasy 1945–1949 [Das Hauptamt zur Kontrolle der Presse 1945–1949]. Warszawa: ISP PAN 1994. S. 10f. In der polnischen Fachliteratur fehlt bis jetzt eine umfassende Darstellung der Geschichte, Organisation, Struktur und Methoden des Hauptamtes zur Kontrolle der Presse, Veröffentlichungen und Schaustellungen, was grundlegende Bedeutung für die Erforschung der einzelnen Aspekte der Zensur in der Volksrepublik Polen hat. Den besten übergreifenden Einblick in die Tätigkeit der institutionalisierten Zensur in Polen nach 1945 bieten die Arbeiten von Zbigniew Romek. Vgl. Romek, Zbigniew (Bearb.): Cenzura w PRL. Relacje historyków [Zensur in der VRP. Berichte von Historikern]. Warszawa: Wydawnictwo Neriton Instytut Historii PAN 2000; ders: Cenzura a nauka historyczna w Polsce 1944–1970 [Zensur und Geschichtswissenschaft 1944–1970]. Warszawa: Wydawnictwo Neriton Instytut Historii PAN 2010. Siehe auch: Pawlicki, Aleksander: Kompletna szarość. Cenzura w latach 1965–1972. Instytucja i ludzie [Völliges Grau. Zensur in den Jahren 1965–1972. Institution und Personen]. Warszawa: Trio 2001. 2 Vgl. Dziennik Ustaw 34 (1946), Pos. 210.
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und Schaustellungen eine Institution, die formell direkt dem polnischen Ministerpräsidenten unterstand. In den ersten Nachkriegsjahren war der Einfluss des sozialistischen Staatsmonopols auf die literarische Kommunikation im gleichen Maße gering wie das Interesse des Leserpublikums und der Literaturkritik an deutschsprachiger Literatur. Ein verstärktes Interesse an deutscher Kultur und Literatur weckten erst zwei kulturpolitische Ereignisse: der Intellektuellenkongress in Breslau von 1948 und die Resonanz auf das Goethe-Jahr 1949.3 Entscheidend für die Rezeption (nicht nur) der deutschsprachigen Literatur war die Tatsache, dass auf dem Kongress des Polnischen Schriftstellerverbandes, der im Januar 1949 in Stettin stattfand, der sozialistische Realismus als die von der Partei und vom Staat geforderte und geförderte künstlerische Methode proklamiert wurde. Die Beamten des Hauptamtes zur Kontrolle der Presse, der Veröffentlichungen und Schaustellungen kontrollierten die von den Verlagen eingereichten literarischen Texte in drei Schritten, wobei ihr politisch-ideologischer, sozial-erzieherischer und künstlerischer Wert auschlaggebend war. Die endgültige Entscheidung in jedem einzelnen Fall wurde von einem zuständigen Beamten – vermutlich dem Abteilungsleiter – getroffen. In der ersten Phase der Zensur wurde die Genehmigung zum Satz erteilt oder verwehrt, wobei die entscheidende Person festzustellen hatte, ob die vom Zensor vorgeschlagenen Textänderungen berücksichtigt werden sollten oder nicht. Im weiteren Verlauf der Kontrolle ging es darum, ob man den gemäß den Hinweisen der ersten Prüfung überarbeiteten bzw. unveränderten Text als druckreif erachten und die Genehmigung zum Druck erteilen konnte. Nach der Veröffentlichung unterzog man jeden literarischen Text einer Nachzensur, die vor allem für den internen Gebrauch der Zensur als instruktives Lehrmaterial von Bedeutung war und gleichzeitig zur Evaluation der Arbeit der Zensoren diente.4 Die Zensurgutachten wurden auf speziell dazu vorgesehenen zweiseitigen Formularen angefertigt. Es wurden zwei in einigen Punkten voneinander abweichende Vordrucke verwendet: ein Formular für die Prüfung des Textes vor dessen Erscheinen und ein anderes für die Nachzensur nach dem Druck. Unter den deutschsprachigen literarischen Werken, die nach 1945 in Polen erschienen, ist eine Gruppe von besonders „akuten“ Fällen ausmachen, die der Zensur besondere Schwierigkeiten bereiteten. Zu dieser kann man Texte rechnen, 3 Vgl. Orłowski, Hubert: Distributive Rezeption. Deutschsprachige Literatur In Polen 1945– 1985. In: Kneip, Heinz u. Hubert Orłowski (Hrsg.): Die Rezeption der polnischen Literatur im deutschsprachigen Raum und die der deutschsprachigen in Polen. Darmstadt: Deutsches PolenInstitut 1988. S. 272f. 4 Nałęcz, Główny Urząd (wie Anm. 1), S. 17.
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deren Prüfung einer über das übliche Maß hinausgehenden Anzahl an Zensurgutachten – vier bis fünf und bisweilen noch mehr – bedurfte und/oder nach deren Lektüre die Zensoren zu unterschiedlichen, nicht selten entschieden artikulierten Urteilen kamen. Dementsprechend trafen die Zensoren bei der Prüfung eines konkreten Titels widersprüchliche, einander ausschließende Entscheidungen. Praktisch hatte das zur Folge, dass ein literarischer Text während desselben Kontrollvorgangs von den Zensoren gleichzeitig als „erwünscht“, „erwünscht, jedoch eingriffsbedürftig“ eingestuft, nur unter der Bedingung eines Nachwortes bzw. Vorwortes oder gar nicht genehmigt wurde. Als problematisch für die Zensur müssen Texte eingestuft werden, die von weltweit anerkannten Exilschriftstellern stammten, die nach dem Krieg im Ausland blieben (zum Beispiel Thomas Mann, Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger), oder von denjenigen, die ihren Wohnsitz in der DDR hatten (zum Beispiel Bernhard Kellermann). Schon aus Prestigegründen wollte man diese Autoren in Polen herausbringen. Dabei ergab sich aber nicht selten das Problem, dass das Schaffen dieser Autoren nicht ganz der Kulturpolitik der Partei entsprach. Eine andere Gruppe problematischer Texte bildeten Werke von prominenten kommunistischen Autoren aus der DDR, die man in Polen aus Loyalitätsgründen herausbringen musste, die jedoch von der Zensur unter künstlerischen Gesichtspunkten nicht selten als schwach eingestuft wurden. Darüber hinaus erfüllten die Werke dieser zweiten Gruppe von Autoren – besonders in der ersten Hälfte der 1950er Jahre – ebenfalls nicht immer gänzlich die strengen Kriterien des sozialistischen Realismus. Auch die Vertreter der klassischen deutschsprachigen Literatur waren in dieser Zeit mitunter nicht in der Lage, die engen Maschen der polnischen Zensur vollkommen unbeschadet zu passieren. Zu den deutschsprachigen Klassikern, die im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg in Polen am häufigsten verlegt wurden, gehörte Gottfried Keller. Seine Erzählungen standen für ein hohes künstlerisches Niveau und versprachen Erfolg bei den „breiten Lesermassen“, die es zu dieser Zeit in erster Linie zu erreichen galt. Darüber hinaus erwarteten die Verlage keine sonderlich großen ideologischen Hürden im Zusammenhang mit ihrer Veröffentlichung. Beim Vorhaben jedoch, den Band Sieben Legenden bereits im Jahre 1949 auf den polnischen Buchmarkt zu bringen, sollte selbst der Parteiverlag Książka i Wiedza (KiW) auf einige Schwierigkeiten stoßen. Książka i Wiedza, übersetzt Buch und Wissen, war 1948 mit Sitz in Warschau gegründet worden und verlegte vor allem marxistische Literatur, aber auch zeitgenössische polnische Belletristik. Es ergingen insgesamt fünf Zensurgutachten – drei vor dem Erscheinen des Bandes und zwei danach. Das erste von ihnen stammt vom 16. September 1949 und enthielt im Abschluss die eindeutige Klausel „nicht genehmigen“. Der Zensor befand den literarischen Text als zu anspruchsvoll, um seine Wirkung auf die „wenig erfahrenen Massen-
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leser“ riskieren zu können. Der Autor gehe zwar ironisch auf die religiöse Pro blematik ein, doch seine Kritik an der katholischen Kirche sei zu kryptisch und für den unerfahrenen Leser überhaupt nicht zu entschlüsseln. Die Erzählungen seien – trotz aller Ironie und Kritik – grundsätzlich im „katholischen Geiste“ geschrieben worden.5 Das zweite Gutachten, nur drei Tage nach dem ersten verfasst, war sehr kurz und enthielt eine positive Einschätzung des Bandes. Der Zensor sprach sich ohne weitere Bedenken für dessen Erscheinen aus.6 Der Band wurde einem weiteren Zensor zur Begutachtung gegeben, der den ausgerechnet vom Parteiverlag KiW unterbreiteten Vorschlag, diese Erzählsammlung zu veröffentlichen, in seinem Gutachten vom 5. Oktober 1949 für ein „außerordentliches faux pas“ erklärte. Das Erscheinen des Bandes, zumal eine große Auflage geplant war, hielt der Zensor für nicht zweckmäßig.7 Nach diesem letzten Gutachten verging gut eine Woche, bis die Genehmigung zum Druck letztlich doch erteilt wurde.8 Als der Band erschienen war, beauftragte man sofort zwei Personen mit der Nachzensur. Beide lobten das hohe literarische Niveau der Erzählungen und betonten ihren „satirischen“9, ja gar „unterhaltsamen“10 Charakter. Der Autor des ersten Gutachtens machte des Weiteren die Bemerkung, dass der Verlag den Band mit einer Einleitung versehen sollte, die über das Schaffen des Autors informieren und den Sinn der Erzählungen erklären sollte.11 Der Inhalt des zweiten Gutachtens wirkt überraschend. Der Zensor stellte die Auswahl der Erzählungen in Frage, weil sie nicht nur „einen antiklerikalen Charakter haben“, sondern auch „die religiösen Empfindungen der gläubigen Katholiken beleidigen“. Aus diesem Grund empfahl er, bei eventuellen Neuauflagen zumindest die Erzählung „Die
5 Gottfried Keller „Sieben Legenden“ [„Siedem legend“], KiW 1949, Gutachten v. 16.9.1949, Archiwum Akt Nowych w Warszawie, Główny Urząd Kontroli Prasy Publikacji i Widowisk (AAN GUKPPiW) 146 (31/41), Bl. 394. Alle in diesem Beitrag zitierten polnischen Textpassagen wurden vom Verfasser ins Deutsche übertragen. 6 Gottfried Keller „Sieben Legenden“ [„Siedem legend“], KiW 1949, Gutachten v. 19.9.1949, AAN GUKPPiW 146 (31/41), Bl. 392f. 7 Gottfried Keller „Sieben Legenden“ [„Siedem legend“], KiW 1949, Gutachten v. 5.10.1949, AAN GUKPPiW 146 (31/41), Bl. 395. 8 Gottfried Keller „Sieben Legenden“ [„Siedem legend“], KiW 1949, Rückseite des Gutachtens v. 19.9.1949, AAN GUKPPiW 146 (31/41), Bl. 393. 9 Gottfried Keller „Sieben Legenden“ [„Siedem legend“], KiW 1949, Gutachten v. 26.4.1950, AAN GUKPPiW 146 (31/44), Bl. 634. 10 Gottfried Keller „Sieben Legenden“ [„Siedem legend“], KiW 1949, Gutachten v. 28.4.1950, AAN GUKPPiW 146 (31/44), Bl. 636. 11 Gottfried Keller „Sieben Legenden“ [„Siedem legend“], KiW 1949, Gutachten v. 26.4.1950, AAN GUKPPiW 146 (31/44), Bl. 634.
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Jungfrau als Ritter“ zu entfernen.12 Der vom Verlag KiW herausgegebene Band war die einzige polnische Ausgabe der Sieben Legenden nach 1945. Zu einer vom Zensor befürchteten Neuauflage ist es nicht gekommen. Zu jenen Autoren, deren literarisches Schaffen die polnische Zensur intensiv beschäftigte, gehörte auch Bernhard Kellermann. Er hatte 1913 seinen großen Erfolg mit Der Tunnel gefeiert, der in vielen Auflagen erschien und sogar verfilmt wurde. Obwohl sein Roman Der 9. November von den Nationalsozialisten verbrannt und verboten worden war, arbeitete er weitgehend unbehelligt weiter, wenngleich er sich auf leichte Unterhaltungsliteratur zurückzog. Nach dem Krieg gründete er gemeinsam mit Johannes R. Becher den Kulturbund der DDR. Bereits in den frühen 1950er Jahren erschienen drei seiner Romane auf Polnisch: Totentanz (Taniec umarłych, KiW 1950, Czytelnik 1954), Der 9. November (9 listopada, Czytelnik 1950) und Der Tunnel (Tunel, PIW 1955). Im Jahr 1957, in der ersten Phase der polnischen Tauwetterperiode, folgten ihnen die Romane Die Stadt Anatol (Czytelnik) und Ingeborg (PIW). Die Turbulenzen, für die Kellermanns Werke sorgten, noch bevor sie an die polnischen Leser gelangen konnten, lassen sich anhand des Zensurvorgangs zum Roman Totentanz veranschaulichen. Das Buch war 1948 im Aufbau-Verlag erschienen und erzählte die Geschichte zweier Brüder, die sich im Nationalsozialismus gegenteilig verhalten: Während der eine im Konzentrationslager inhaftiert wird, passt sich der andere dem Regime wegen seiner Söhne an. Als diese im Krieg fallen, erkennt er seine Schuld und erschießt sich.13 Das erste ermittelte Gutachten stammt vom 1. September 1949. Der Zensor lehnte die Genehmigung des Romans entschieden ab und begründete seine Entscheidung mit einigen Punkten: 1. In Deutschland existierte eine kommunistische Partei mit einer Million Mitglieder, der Autor zeigt keinen einzigen Kommunisten, der am Widerstand beteiligt gewesen wäre, er erwähnt sie [die Kommunisten, M. R.] nicht einmal. 2. Der Schuss, an dem das Leben von Dr. Fabian ein Ende findet, bietet vielleicht eine Lösung des im Roman entwickelten Problems, doch er weist den „guten Deutschen“, die sich bis dahin noch nicht das Leben genommen haben, keinen Weg. 3. Nach unserer Sichtweise schürt das Buch den Hass gegen den Faschismus nicht kräftig genug und weist den Leser nicht die Richtung, in die das neu entstehende Deutschland sich hin entwickeln soll. 4. Im Roman sind außer der Intelligenz keine anderen Gesellschaftsschichten vertreten; von Arbeitern und Bauern ist überhaupt nicht die Rede, so als ob sie gar nicht existiert hätten. 12 Gottfried Keller „Sieben Legenden“ [„Siedem legend“], KiW 1949, Gutachten v. 28.4.1950, AAN GUKPPiW 146 (31/44), Bl. 636. 13 Vgl. Wilhelm, Gertraude: Kellermann, Bernhard. In: Neue Deutsche Biographie 11 (1977). S. 470f., http://www.deutsche-biographie.de/pnd118561162.html (18.5.2016).
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5. In seiner Absicht ist der Roman – das steht fest – antifaschistisch, aber gleichzeitig gilt es eindeutig hervorzuheben, dass dieser Standpunkt auf einer prokatholischen, nationalistischen, proanglikanischen und humanistischen Haltung beruht. Für den sozialistischen und kommunistischen Standpunkt dagegen gibt es im Roman keinen Platz. Und da gerade diese Elemente im Aufbau des neuen Deutschlands dominieren, sehe ich keinen Grund dafür, diesen Roman dem polnischen Leser zugänglich zu machen.14
Ähnliche Argumente gegen den Roman führte auch der zweite Zensor in seinem erst nahezu zwei Monate später verfassten Gutachten an. Diesem merkt man im Unterschied zum ersten wesentlich mehr Erfahrung im Umgang mit Literatur und mehr Eigeninitiative bei Entscheidungen an, die über die vorgeschriebenen Kriterien des sozialistischen Realismus hinausgehen. Trotz aller Fehler, die der Roman enthalte, sprach sich der Zensor für das Erscheinen des Werks aus. Seinen Standpunkt begründete er, indem er sich dialektische Argumentationsprinzipien zu eigen machte: Viele seiner [des Romans, M. R.] Nachteile werden in der derzeitigen Situation zu Vorteilen. Darüber hinaus stellt der Roman durch seine zwar antipolitische, aber entschieden humanistische Einstellung einen wichtigen Beitrag zur antifaschistischen Literatur dar. Der größte Vorteil des Romans besteht in der – vom Autor selbst unbeabsichtigten – Rehabilitation der ehrlichen, respektwürdigen und friedliebenden Deutschen, die in der jetzigen politischen Situation und angesichts der zurzeit herrschenden Stimmung besonders wichtig ist. Von außerordentlicher Bedeutung sind das hohe künstlerische Niveau des Romans und der Name des Autors. Dem Roman sollte ein Vorwort vorangestellt werden, in dem die Bedenken gegen ihn erklärt werden könnten.15
Nach seinem Erscheinen wurde das Buch von zwei Zensoren gleichzeitig begutachtet (Abb. 1). Während der eine behauptete, dass im Roman „die Verdorbenheit Hitler-Deutschlands“ sehr gut dargestellt worden und er aus diesem Grunde besonders wertvoll sei,16 befand der andere die Kritik des Faschismus für bloß oberflächlich, da sie lediglich vom Standpunkt des Bürgertums erfolge. Des Weiteren war er der Ansicht, dass der Roman für den polnischen Leser „vollkommen
14 Bernhard Kellermann: „Totentanz“ [„Taniec umarłych“], KiW 1949, Gutachten v. 1.9.1949, AAN GUKPPiW 146 (31/41), Bl. 285f. 15 Bernhard Kellermann: „Totentanz“ [„Taniec umarłych“], KiW 1949, Gutachten v. 27.10.1949, AAN GUKPPiW 146 (31/41), Bl. 287–289. 16 Bernhard Kellermann „Totentanz“ [„Taniec umarłych“], KiW 1950, Gutachten v. 30.5.1950, AAN GUKPPiW 146 (31/45), Bl. 248f.
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verderblich“ sei, und äußerte seine Verwunderung darüber, dass er vom Parteiverlag Książka i Wiedza verlegt worden war.17 Totentanz stand vier Jahre später im Verlagsplan von Czytelnik, dem für die Verbreitung von polnischer und ausländischer anspruchsvoller Literatur verdienten Verlag, der auf Initiative und unter Kontrolle der polnischen Kommunisten entstanden war, als eine Verlagsgenossenschaft funktionierte, aber in politisch-ideologischer Hinsicht denselben Kontrollmechanismen unterlag wie alle anderen Verlage. Bis der Roman zum Druck freigegeben werden konnte, mussten mindestens vier Gutachten erstellt werden. Von diesen vier Gutachten konnten nur drei ermittelt werden. Zum vierten Gutachten wurde in der Akte nur eine Information gefunden – nämlich die, dass der Zensor seine Bemerkungen mündlich mitgeteilt habe. Die Unübersichtlichkeit der Materialien zu dieser Ausgabe lässt den Verdacht aufkommen, dass außer den im Verlaufe der Recherchen ermittelten und hier erwähnten Gutachten eventuell noch weitere angefertigt worden sind.18 In zwei Gutachten betonten die Zensoren, dass der Roman von einem bürgerlichen Standpunkt aus geschrieben sei und aus diesem Grunde einige Bedenken gegen ihn bestünden. Im Gutachten vom 16. November 1953 bezeichnete der Zensor den Roman zwar als „ideologisch unreif“, aus Rücksicht „auf die künstlerisch sehr anspruchsvoll dargestellten politischen Inhalte“ gab er sich jedoch davon überzeugt, dass er „vollständig veröffentlicht werden könnte“.19 In einem undatierten Gutachten stellte ein anderer Zensor unter anderem fest, dass „der ganze Realismus des Romans in einem erheblichen Widerspruch zu den Schlussfolgerungen des Autors“ stehe. Eine erneute Auflage erklärte er für „unnötig“.20 Man entschied sich in diesem Fall offensichtlich, der „ideologischen Unreife“ des Romans seine „künstlerisch sehr anspruchsvolle“ Darstellung der politischen Verhältnisse vorzuziehen, und erteilte das Imprimatur. Die zweite polnische Ausgabe des Romans erschien bei Czytelnik im Jahre 1954.
17 Bernhard Kellermann „Totentanz“ [„Taniec umarłych“], KiW 1950, Gutachten v. 31.5./5.6.1950, AAN GUKPPiW 146 (31/45), Bl. 250f. 18 Bernhard Kellermann: „Totentanz“ [„Taniec umarłych“], Czytelnik 1953, AAN GUKPPiW 375 (31/32), Gutachten o. D., Bl. 122. Das mündlich übermittelte Gutachten und das Gutachten vom 11.5.1953 bezogen sich auf das von Adolf Sowiński verfasste Vorwort zum Roman. Im Gutachten vom 11.5.1953 wurde das Vorwort sehr kritisch und als unzureichend beurteilt. S. Bernhard Kellermann: „Totentanz“ [„Taniec umarłych“], Czytelnik 1953, Gutachten v. 11.5.1953, Bl. 121f. 19 Bernhard Kellermann: „Totentanz“ [„Taniec umarłych“], Czytelnik 1953, Gutachten v. 16.11.1953, AAN GUKPPiW 375 (31/32), Bl. 125f. 20 Bernhard Kellermann: „Totentanz“ [„Taniec umarłych“], Czytelnik 1953, Gutachten o. D., AAN GUKPPiW 375 (31/32), Bl. 123f.
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Abbildung 1: Gutachten zu Bernhard Kellermanns Totentanz vom 31.5./5.6.1950 (Vorderseite), das im Rahmen der Nachzensur erstellt wurde. Archiwum Akt Nowych w Warszawie, GUKPPiW, 146 (31/45), Bl. 250.
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Mit kritischen Kommentaren, die jedoch keinen Einfluss auf die Erteilung der Druckgenehmigung hatten, bedachten die polnischen Gutachter zur gleichen Zeit Hans Fallada und keinen geringeren als Thomas Mann. Über Hans Fallada und seinen Roman Jeder stirbt für sich allein, der der Zensurbehörde bereits im Jahr 1949 vom Verlag KiW zur Kontrolle vorgelegt wurde, urteilte der Gutachter, dass der Autor die Arbeiterbewegung nicht kenne und ein falsches Bild über sie vermittle.21 An der weltberühmten Familiensaga Buddenbrooks, die ebenfalls vom Parteiverlag KiW 1951 als zweite Ausgabe im Nachkriegspolen verlegt wurde, störte den Zensor, dass die Massen des Proletariats vollkommen unbewusst handelten und überhaupt keine Vorstellung vom Ziel der Revolution hätten.22 Ein gutes Beispiel für ein Werk, dessen ideologische Mängel die Zensoren zwar aufmerksam registrierten, es aber dennoch zum Satz und zum Druck ohne irgendwelche Eingriffe freigaben, liefert der Roman Das siebte Kreuz von Anna Seghers. Das Gutachten vom 2. Juli 1951 kann als Paradebeispiel für das Vorgehen der Zensur in der ersten Hälfte der 1950er Jahre im Hinblick auf literarische Texte gelten, in denen ein breites Spektrum der deutschen Gesellschaft dargestellt wird. Der Zensor lobt einerseits die seiner Meinung nach unzweifelhaft hervortretenden positiven Seiten der Veröffentlichung, andererseits bemüht er sich darum, seinen Pflichten als Zensor nachzukommen, und verzichtet nicht darauf, auf die vermeintlichen Schwächen des Werks aufmerksam zu machen: Das Buch ist eine ausgesprochen positive Veröffentlichung, die mutig und klar die Herrschaft des Hitlerregimes und die Stimmungen in der deutschen Bevölkerung beleuchtet. Die Verfasserin hat kein Bild der Aktivitäten der Kommunistischen Partei geboten, weder im Hinblick auf die Aufklärung der Menschen noch im Hinblick auf die Mobilisierung der Menschen zum Widerstand gegen den Faschismus. Die Übersetzung ist sehr gut, das Buch ist eine sehr interessante Veröffentlichung, die den Leser mit der Zeit des Hitlerregimes in Deutschland bekanntmacht. Es ist gegen den Faschismus gerichtet.23
Ein anderer Fall, nämlich der des Romans Die Kumiaks von Hans Marchwitza führt vor Augen, dass die Schwierigkeiten der Zensur mit den von ihr überprüften Titeln auch von gänzlich anderer Natur sein konnten. Im Jahr 1950, als der Roman von Książka i Wiedza zum Druck vorbereitet wurde, handelte es sich bei Hans Marchwitza um einen prominenten Autor, der in der kaum ein Jahr zuvor entstandenen 21 Hans Fallada: „Jeder stirbt für sich allein“ [„Każdy umiera w samotności“], KiW 1949, Gutachten o. D., AAN GUKPPiW 146 (31/41), Bl. 204–208. 22 Thomas Mann: „Buddenbrooks“ [„Buddenbrookowie. Dzieje upadku rodziny“], KiW 1951, Gutachten v. 12.10.1951, AAN GUKPPiW 376 (31/52), Bl. 420f. 23 Anna Seghers: „Das siebte Kreuz“ [„Siódmy krzyż“], Czytelnik 1951, Gutachten v. 2.7.1951, AAN GUKPPiW 375 (31/27), o. S.
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DDR soeben die Akademie der Künste mitbegründet hatte. Marchwitza stammte aus Oberschlesien und hatte seit seiner Jugend im Ruhrgebiet unter Tage gearbeitet. Er kämpfte in der Arbeiterbewegung und schrieb zunächst die Reportage Sturm auf Essen (1930). Die Kumiaks (1934) waren autobiografisch angelegt und trugen zu seinem Ruf als Nationaldichter der DDR bei. Bis der Roman in Polen erscheinen durfte, wurde er von vier Zensoren gelesen und begutachtet. Jedes dieser Urteile war überaus kritisch; die Zensoren verurteilten den Roman sowohl in politischideologischer als auch in künstlerischer Hinsicht und konnten kaum positive Aspekte an ihm finden. Im ersten Gutachten verlangte der Zensor unbedingt ein Vorwort, in dem die Fehler des Autors besprochen werden sollten.24 Der zweite Zensor erachtete den Roman als „politisch unreif“ und sprach sich für seine Ablehnung aus.25 Für die Ablehnung plädierte auch der Verfasser des dritten Gutachtens vom 10. September 1950. Der Roman werde die Gefühle der polnischen Leser beleidigen und könne sich negativ auf die sich gerade erst langsam entwickelnden freundschaftlichen Beziehungen zu den Deutschen auswirken. Außerdem sei der sozial-erzieherische Sinn des Buches durch „üppige naturalistische Beschreibungen“ beeinträchtigt.26 Der vierte Zensor bezeichnete den Roman als ein „ungeschickt, falsch und merkwürdig geschriebenes Buch“ und fand ebenfalls keine andere Lösung, als ihm die Druckgenehmigung zu verweigern. Im Rahmen einer Entscheidungsfindung auf der Grundlage einer Abstimmung wäre das Ergebnis eindeutig: eine Stimme für die Veröffentlichung des Romans und drei Stimmen dagegen. Aus den überlieferten Akten wird nicht ersichtlich, ob es noch weitere Gutachten zu den Kumiaks gab und welche Argumente schließlich ausschlaggebend dafür waren, dass der Roman 1951 erscheinen durfte. Man kann sich außerdem nur schwer des Eindrucks erwehren, dass der Zensor, der das Buch nach dessen Erscheinen positiv begutachtete, einen anderen Text las als seine drei Kollegen zuvor.27 Die geschilderten Beispiele veranlassen zu Überlegungen, warum es bei der Beurteilung der zur Kontrolle eingereichten literarischen Texte oft zu weitgehenden Meinungsverschiedenheiten kam. Es scheint, dass sich solche Differenzen teilweise aus der unterschiedlichen Kompetenz der einzelnen Zensoren und ihren unterschiedlichen Erfahrung im Umgang mit Literatur ergaben. Das mag an 24 Hans Marchwitza: „Die Kumiaks“ [„Kumiacy“], KiW 1950, Gutachten v. 2.8.1950, AAN GUKPPiW 146 (31/46), Bl. 348–358. 25 Hans Marchwitza: „Die Kumiaks“ [„Kumiacy“], KiW 1950, Gutachten v. 10.8.1950, AAN GUKPPiW 146 (31/46), Bl. 350f. 26 Hans Marchwitza: „Die Kumiaks“ [„Kumiacy“], KiW 1950, Gutachten v. 10.9.1950, AAN GUKPPiW 146 (31/46), Bl. 352f. 27 Hans Marchwitza: „Die Kumiaks“ [„Kumiacy“], KiW 1951, Gutachten v. 31.8.1951, AAN GUKPPiW 376 (31/52), Bl. 82.
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ihrer Ausbildung und Vorbereitung auf die Ausübung der Zensur gelegen haben, teilweise aber auch an den vorgegebenen, nicht hinreichend eindeutigen und daher unterschiedlich auslegbaren Kriterien.28 Es ist darüber hinaus nicht ganz auszuschließen, dass dabei auch die persönlichen Ansichten der Zensoren, ihre Einstellung zu einem bestimmten Problem oder einem bestimmten Autor eine Rolle spielten. Weiterhin ist bislang noch nicht erforscht, wie autonom Abteilungsleiter in der Zensurbehörde agieren konnten. Es liegt nahe, dass sie einen umfangreichen Entscheidungsspielraum besaßen und die Inhalte der Gutachten nur Vorschlagscharakter hatten, wenn sie nicht ohnehin nur als diskursive Hülle dienten. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass die maßgeblichen Entscheidungen in vielen Fällen nur mündlich mit den Vertretern der Verlage ausgehandelt oder gar von einer „oberen Stelle“ einfach mitgeteilt wurden. Nicht unbedeutende Probleme bei der Erforschung der literarischen Zensur in der Volksrepublik Polen ergeben sich aus dem Zustand der Überlieferungen des Hauptamtes zur Kontrolle der Presse, Veröffentlichungen und Schaustellungen. Die in diesem Bestand befindlichen Zensurgutachten stellen im Vergleich zu den systematisch archivierten Druckgenehmigungsakten der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel der DDR ein nicht nur quantitativ bescheideneres, sondern auch wesentlich schwerer erschließbares Textkorpus dar. Die meisten Gutachten, besonders aus der in diesem Beitrag behandelten Zeitperiode, wurden nicht maschinell, sondern handschriftlich verfasst. Das erschwert den Zugang zu ihren Inhalten und in vielen Fällen zu den Informationen, die in der Zensurforschung relevant sind. Die Recherchen werden außerdem durch eine wenig geordnete Archivierung der Gutachten beeinträchtigt und führen nur nach einem zusätzlichen Arbeitsaufwand zu einigermaßen zufriedenstellenden Ergebnissen. Mitunter befinden sich einzelne Teile längerer, sich über mehrere Seiten erstreckender Gutachten in anderen Vorgängen, oder die Dokumentation verteilt sich auf mehrere Akten. Das Bild der Zensurverhältnisse in der Volksrepublik Polen, das man durch Recherchen in diesem Durcheinander von Schriftstücken erarbeiten kann, bietet eine Reihe von aufschlussreichen Feststellungen. Es wirft aber auch neue Fragen auf, die erst im Zuge weiterer, konsequenterweise mit zusätzlichen Quellen operierender Forschungen beantwortet werden können. 28 Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre setzte man auf die Anstellung von Arbeitern als Zensoren. Eine Zeit lang vertrat man die Meinung, dass Vertreter der Arbeiterklasse, die den Ideen des Sozialismus nahestehen, auch wenn sie nicht über eine ausreichende Ausbildung verfügen, das Amt des Zensors besser ausüben können als Intellektuelle, die den sozialistischen Ideen möglicherweise gleichgültig oder gar fremd gegenüberstehen. Vgl. dazu: Romek, Cenzura a nauka historyczna (wie Anm. 1), S. 62.
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Im Schatten des Ulysses Zur Editionsgeschichte von James Joyces Dubliner in der DDR Der Roman Ulysses von James Joyce gilt in der Literatur des 20. Jahrhunderts als „singuläre Erscheinung“1. Bis zu seinem Erscheinen im Jahr 1922 fand in weiten Teilen Europas so gut wie keine Auseinandersetzung mit seinem Autor und dessen früherem Werk statt.2 Das galt auch für den deutschsprachigen Raum.3 Ulysses stellte den eigenen Schöpfer und dessen früheres Werk in seinen Schatten. Und das hatte Folgen für die (jahrelange Nicht-)Veröffentlichung von Joyce in der DDR. Blicken wir zunächst zurück. Die zwischen 1904 und 1907 entstandenen, erst 1914 unter dem Titel Dubliners in London veröffentlichten Erzählungen – aus einer ursprünglich für diesen Band geplanten Kurzgeschichte erwuchs das Ulysses-Manuskript – wurden zunächst von zahlreichen Verlegern abgelehnt.4 Zu den Gründen zählten (Andeutungen von) Majestätsbeleidigung, Selbstmord, Blasphemie, Ehebruch, Sadismus, Masturbation, Pädophilie, Alkoholismus und Kriminalität im Zusammenhang mit der Nennung realer Personen, Lokale und anderer Einrichtungen in „dear dirty Dublin“5. Die Spiegelung der Tristesse, der Frustration und gleichzeitiger Paralyse der Figuren in ihrer Sprache bis hin zum Slang, in ihrer
1 Drews, Jörg: Ulysses. Juli 2011. In: Kindlers Literatur Lexikon. http://www.kll-online.de (30.4.2016). 2 Vgl. Van Mierlo, Wim: Timeline: European Reception of James Joyce. In: Lernout, Geert u. Wim Van Mierlo (Hrsg.): The Reception of James Joyce in Europe. Volume I: Germany, Northern and East Central Europe. London/New York: Thoemmes Continuum 2004. S. xx–xxi; Jäger, Maren: Die Joyce-Rezeption in der deutschsprachigen Erzählliteratur nach 1945. Tübingen: Niemeyer 2009. S. 2. 3 Vgl. Füger, Wilhelm (Hrsg.): Kritisches Erbe: Dokumente zur Rezeption von James Joyce im deutschen Sprachbereich zu Lebzeiten des Autors. Ein Lesebuch. Amsterdam/Atlanta: Rodopi 2000. Insbes. S. 63–87. 4 Als Höchstzahl wird 40 angegeben. Vgl. Drews, Jörg: Dubliners. Juli 2011. In: Kindlers Literatur Lexikon. http://www.kll-online.de (1.5.2016). Nadel spricht hingegen von 22 Verlegern. Vgl. Nadel, Ira B.: Joyce and His Publishers. Dublin: National Library of Ireland 2005. S. 18. Außerdem zur Publikationsgeschichte von Dubliners u. a.: Gabler, Hans Walter: A History of Curiosities, 1904–1914. In: James Joyce: Dubliners. Authoritative Text, Contexts, Criticism. Hrsg. v. Margot Norris. New York/London: Norton 2005. S. xv–xliii und Hutton, Clare: Chapters of Moral History: Failing to Publish Dubliners. In: The Papers of the Bibliographical Society of America, Vol. 97 (2003) H. 4. S. 495–519. 5 OʼBrien, Joseph V.: „Dear Dirty Dublin“: A City in Distress, 1899–1916. Berkeley: University of California Press 1982.
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Psychologisierung und erlebten Rede bei Armut an äußerer Handlung stieß ebenso auf Einwände. Die Verleger und Drucker zauderten in vorauseilendem Gehorsam, weil sie nicht mitverantwortlich gemacht werden wollten für einen zu erwartenden Skandal. Letztlich blieb dieser jedoch aus in einem Irland, das sich kulturell wieder(er)fand,6 den Weg der politischen Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich beschritt und in dem das Wort der katholischen Kirche ein Machtwort war. Georg Goyerts deutsche Fassung mit dem Titel Dublin erschien 1928 im RheinVerlag. Die Resonanz war hierzulande ebenso unaufgeregt bezogen auf die Parabeln, aber schon nicht mehr unbeeindruckt vom Roman Ulysses, der bereits im Jahr zuvor auf Deutsch veröffentlicht worden war. Die Rezensenten der Erzählungen sprachen unter anderem von realistischen Details und naturalistischer Echtheit in teils ungünstigen Positionen und Proportionen, von fotografisch genauen Ausschnitten aus dem Leben Dublins, von brutaler Entblößung der Protagonisten, von einem Spiegel irischer Psyche und einem Kompendium irischer Soziologie sowie von Joyce als Realisten, Impressionisten, Expressionisten und Pessimisten.7 Hier klang an, was im Ulysses seine Steigerung erfuhr. Die feuilletonistische, akademische sowie politische Rezeption des Romans war bereits zu Lebzeiten seines Autors quantitativ kaum zu überschauen und bewegt(e) sich auch post mortem zwischen größter Bewunderung und tiefer Abneigung. Beides beeinflusst(e) die Auseinandersetzung mit Joyce früherem Werk sowie das Urteil über den Autor. Hier interessiert dieser unumkehrbare Umstand nicht als literaturwissenschaftliches Problem oder als Befangenheit des gemeinen Lesers, sondern wie er die (kultur-)politische Lesart in der DDR bestimmte. Ohne einen Blick in die Rezeptionsgeschichte ihres großen sowjetischen Bruders ist das allerdings nicht zu verstehen, denn: „Soviet abuse of Joyce and of modernism as a whole left its mark on postwar East German cultural politics.“8 Der sozialistische Realismus, 1932 vom Zentralkomitee der KPdSU zur Doktrin erhoben, war zum Maßstab geworden, an dem künstlerisches Schaffen gemessen wurde. So stellte Karl Radek auf dem ersten Allunionskongress der Sowjetschriftsteller 1934 in Moskau die Frage: „James Joyce oder sozialistischer Realismus?“ Die Entgegensetzung war unversöhnlich. Radek kritisierte den klinischen 6 Vgl. u. a. Kiberd, Declan: Inventing Ireland: The Literature of the Modern Nation. London: Vintage Books 1996. 7 Vgl. Füger, Erbe (wie Anm. 3), S. 19–31 zur Rezeption von Dubliner, zu der von Ulysses S. 97–369. Allein das Verhältnis der Seitenumfänge von 13 zu 273 spricht für sich. 8 Wicht, Wolfgang: The Disintegration of Stalinist Cultural Dogmatism: James Joyce in East Germany, 1945 to the Present. In: Lernout, Geert u. Wim Van Mierlo (Hrsg.): The Reception of James Joyce in Europe. Volume I: Germany, Northern and East Central Europe. London/New York: Thoemmes Continuum 2004. S. 71. Außerdem u. a.: Hoefort, Sigfrid: James Joyce in East Germany. In: James Joyce Quarterly, Vol. 5 (1968) H. 2. S. 132–136.
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Naturalismus des Autors. Joyce habe mit morbidem Interesse einen Misthaufen mithilfe eines Filmapparates durch ein Mikroskop fotografiert und dabei das Kleinbürgertum in seiner Erbärmlichkeit gezeichnet statt in seinem Heldentum auf den Barrikaden gegen die englische Herrschaft oder statt der Arbeiter in ihrem Kampf um den Sieg des Sozialismus. Der Blick durchs Mikroskop versperre die Sicht auf das Große, auf Klassenkampf und die titanischen Auseinandersetzungen der modernen Welt, auf die stürmische See der Revolution sowie auf die Gefahren von Krieg, Faschismus und Ausbeutung.9 Dem widersprach Wieland Herzfelde, ehemaliger Malik- und Aurora-Verleger sowie Bruder John Heartfields, und argumentierte unter anderem, die tatsächliche Kurzsichtigkeit des Autors sei eine mögliche Erklärung für dessen Introspektion und die seiner Figuren.10 Selbst wenn man ihm nicht Blindheit für die Unmenschlichkeit und die Entfremdung des Menschen im Kapitalismus unterstelle, mangele es seinen Protagonisten doch an Lebensbejahung, Optimismus und schöpferischer Kraft für eine neue, sozialistische Ordnung.11 Es fehlten die positiven, vorbildhaften Helden, mit denen sich der Leser im Sinne sozialistischer Erziehung hätte identifizieren können. Joyce wurde zu einem der modernen geistigen Führer bürgerlicher Dekadenz gemacht, die vom Verfall zeuge.12 Den längst aufgenommenen sogenannten Kampf gegen den Formalismus und für eine fortschrittliche deutsche Kultur erhob das Zentralkomitee der SED 1951 offiziell zur Doktrin und machte neben ihm Abstrakta wie „Dekadenz“13, „Naturalismus“, „Modernismus“ oder „Kosmopolitismus“ nahezu synonym14 zu Etiketten der Stigmatisierung. Die Vorstellung des sozialistischen Realismus als Entgegensetzung zur Verselbstständigung der Form vom Inhalt war wesentlich durch Georg Lukács geprägt worden und wirkte über das Jahr 1956 hinaus fort, in dem er aufgrund seiner Rolle während des Ungarischen Volksaufstandes sowie als Kul-
9 Vgl. Füger, Erbe (wie Anm. 3), S. 321–324, 329–331. 10 Vgl. Füger, Erbe (wie Anm. 3), S. 325–329. 11 Vgl. Wagner, Siegfried u. Heinz Kimmel: Partei und Künstler. Bemerkungen zur gesellschaftlichen Verantwortung des Künstlers in unserer Zeit. In: Neues Deutschland, 25.4.1965. S. 4. 12 Vgl. Alexander Fadejew (1950), Alexander Abusch (1957). In: Schubbe, Elimar (Hrsg.): Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED. Stuttgart: Seewald Verlag 1972. S. 138, 492. 13 Vgl. Barck, Simone: Das Dekadenz-Verdikt. Zur Konjunktur eines kulturpolitischen „Kampfkonzepts“ Ende der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre. In: Kocka, Jürgen (Hrsg.): Historische DDRForschung. Aufsätze und Studien. Berlin: Akademie Verlag 1993. S. 327–344. 14 Vgl. Erbe, Günter: Die verfemte Moderne. Die Auseinandersetzung mit dem „Modernismus“ in Kulturpolitik, Literaturwissenschaft und Literatur in der DDR. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993. S. 35f.
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turminister in der Regierung Imre Nagys in Ungnade gefallen war.15 Ästhetisch hatte Lukács an Normen der Klassik und des bürgerlichen Realismus und damit an das 18. und 19. Jahrhundert angeknüpft. Die organisch geschlossene Widerspiegelung aller wesentlichen objektiven Determinanten des Lebens in richtigem, proportioniertem Zusammenhang vertrug sich nicht mit Formen der Montage, der Verfremdung, der Fabelunterbrechung, der Parabel usf. Unermüdlichkeit, Fleiß und Industriosität galten als positive Eigenschaften bürgerlicher Kultur und waren zu Vorbildern apostrophiert worden für den arbeitenden Menschen, der in der sozialistischen Gesellschaft, bei der Entwicklung von Wissenschaft und Technik gebraucht wurde.16 Das Beispiel Lukács zeigt die Unfähigkeit der – an dieser Stelle entpersonalisierten – offiziellen Kulturpolitik, zwischen Autor und Werk zu unterscheiden. Eine Stigmatisierung der Person führte zur Disqualifikation des Werks und umgekehrt oder erhöhte den diskursiven Aufwand, sie teilweise oder in Gänze zu (re-)integrieren. Konsistent und damit verlässlich oder vorhersehbar war das nie.17 Das erschwert die historische Bewertung ex post,18 aber bedeutete auch für Autoren, Lektoren, Gutachter und selbst „Zensoren“19, für Tauwetter und Kahlschläge gewappnet sein zu müssen. Politische Großwetterlagen sowie nicht nur zum Schein geführte Debatten wie der Formalismusstreit oder Lyrikdebatten der 1950er, -60er und -70er Jahre erweiterten Spielräume oder engten sie ein. Trotz mancher Forderungen, dem Triumvirat Joyce, Kafka, Proust ein „Dauer visum“20 für die DDR zu geben, wurden Kampfbegriffe und Verdikte immer und 15 Vgl. Petzinna, Berthold: „Todesglöckchen des bürgerlichen Subjekts“. Joyce, Becket, Eliot und Pound. In: Barck, Simone u. Siegfried Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDR-Verlages Volk & Welt. Berlin: Ch. Links 2003. S. 188. 16 Vgl. Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Berlin: Aufbau 2007. S. 120– 123. 17 Vgl. Wolle, Stefan: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989. 2., durchges. Aufl. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1999. S. 148; Gansel, Carsten: Parlament des Geistes. Literatur zwischen Hoffnung und Repression 1945–1961. Berlin: BasisDruck Verlag 1996. S. 38; Giovanopoulos, Anna-Christina: Die amerikanische Literatur in der DDR. Die Institutionalisierung von Sinn zwischen Affirmation und Subversion. Essen: Verlag Die Blaue Eule 2000. S. 41, 47. 18 Vgl. Mix, York-Gothart: Zehn Jahre deutsch-deutscher Literaturstreit. Zensur und Selbstzensur in der DDR. In: literatur für leser 23 (2000) H. 3. S. 188–201, hier S. 193. 19 Vgl. Steinmüller, Angela u. Karlheinz: Die befohlene Zukunft. DDR-Science Fiction zwischen Wunschtraum und (Selbst-)Zensur. In: Brockmeier, Peter u. Gerhard R. Kaiser (Hrsg.): Zensur und Selbstzensur in der Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996. S. 275–288, hier S. 287f. 20 Ernst Fischer hatte sich mehrfach Ende der 1950er und Anfang der 1960er in Aufsätzen für Kafka und andere verfemte Autoren wie Joyce und Proust eingesetzt. Die Aufforderung, Kafka
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immer wiederholt: Konstantin Fedin sprach 1963 auf der Tagung der Europäischen Schriftstellervereinigung von der Abart der Dekadenz etwa eines Joyce, zu der man nicht zurückkehren müsse.21 Auf der zweiten Bitterfelder Konferenz im April 1964 warnte der Minister für Kultur Hans Bentzien davor, das Gefühl von Lebensangst und Hoffnungslosigkeit, das Menschenbild der Deformierung, wie es zum Beispiel in den Werken der drei Autoren gezeichnet würde, als vorbildlich für die Kunst des Sozialismus auszugeben.22 Hans Koch konstatierte einen tiefen Klassenantagonismus zwischen der Welt dieser Autoren und der sozialistischen,23 und Meyers Neues Lexikon resümierte noch 1973 über Ulysses, dieser habe die Gattung Roman in eine Sackgasse geführt und sei Ausdruck der Dekadenz. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Und dennoch vollzog sich laut Wolfgang Wicht seit Anfang der 1970er Jahre allmählich ein Paradigmenwechsel vom politischen Dogmatismus zur kulturellen Heterogenität, auch bedingt durch das praktische Wirken der Verlage.24 Der Verlag Volk und Welt habe sich folglich ab Mitte der 1970er Jahre an das Projekt Joyce herangewagt und „natürlich“ mit Dubliner begonnen, dem am wenigsten kontroversen Werk des Autors. Damit sei der Anfang gemacht gewesen für die Veröffentlichung seines Œuvres in der DDR und mit Ulysses 1980 eine „Sensation“ gelungen.25 Was Wicht hier anspricht, ist ein (salami-)taktisches Manöver,26 das immer wieder praktiziert wurde: Unverfängliche Texte, teils also nicht einmal ganze Bücher, versteckt in Anthologien, wurden zu Trojanischen Pferden und Präzedenzfällen gemacht. So schuf man Fakten, die im Bemühen um eine Veröffentlichung bislang ausgegrenzter Autoren nicht von der Hand zu weisen waren. Allerdings gab es natürlich auch Faktoren, die man trotz aller Anstrengungen nicht beeinflussen konnte. Im Falle von James Joyce ergibt sich ein „Dauervisum“ zu geben, äußerte er im Mai 1963 auf der internationalen Kafka-Konferenz in Liblice. 21 Vgl. Awdejenkow, Aleksander: Im Mittelpunkt der Roman. In: Berliner Zeitung, 8.8.1963. S. 6. In Fedins Beitrag für das Neue Deutschland (9.8.1963, S. 4) mit dem Titel „Eine Krise des Romans“ steht Spielart statt Abart zu lesen. 22 Vgl. Bentzien, Hans: Ergebnisse und Aufgaben bei der Entwicklung der sozialistischen Nationalkultur. In: Neues Deutschland, 25.4.1964. S. 3. So auch ders.: Das geistige Antlitz des sozialistischen Menschen formen. In: Berliner Zeitung, 25.4.1964. S. 5 und ders.: Kunst und Leben bilden eine untrennbare Einheit. In: Die Neue Zeit, 26.4.1964. S. 4. 23 Vgl. Wicht, Disintegration (wie Anm. 8), S. 77. 24 Vgl. Wicht, Wolfgang: Woolf and Joyce – die gelungene Aktion. In: Korte, Barbara u. a. (Hrsg.): Britische Literatur in der DDR. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2008. S. 93–99, hier S. 93. 25 Vgl. Wicht, Woolf and Joyce (wie Anm. 24), S. 95. 26 Vgl. Lokatis, Siegfried: Das Volk und Welt-Lektorat V für englischsprachige Literatur. In: Korte, Barbara u. a. (Hrsg.): Britische Literatur in der DDR. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2008. S. 13–22, hier S. 16.
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abweichend von der von Wicht aufgezeigten Chronologie entlang der Erscheinungsjahre eine etwas andere Editionsgeschichte. Weder begann sie mit der Kurzgeschichtensammlung Dubliner noch erst Mitte der 1970er Jahre. Vielmehr lassen sich Spuren sogar bis in die 1950er Jahre zurückverfolgen. Aber der Reihe nach. Spätestens seit der Profilierung des Verlagswesens der DDR bis 1965 waren die Verlage Aufbau sowie Volk und Welt privilegiert, internationale Literatur zu publizieren. Ausnahmen bestätigten die Regel. Eine davon war der 1956 in der Dieterichʼschen Verlagsbuchhandlung zu Leipzig erschienene und von Levin Ludwig Schücking27 herausgegebene Band Englische Gedichte aus sieben Jahrhunderten. Darin fand sich das erstmals 1907 in der Lyriksammlung Chamber Music veröffentlichte Gedicht Strings von James Joyce, das zur poetischen Erbauung hier zitiert sei: Strings in the earth and air Make music sweet; Strings by the river where The willows meet. There’s music along the river For Love wanders there, Pale flowers on his mantle, Dark leaves on his hair. All softly playing, With head to the music bent, And fingers straying Upon an instrument.
Wenngleich Schücking mit seiner Auswahl keinen Längsschnitt der englischsprachigen Poesie bezweckte, so sprach er doch von Vertretern aufeinanderfolgender Stilrichtungen28 zu einer Zeit, da der Kampf gegen den Formalismus längst im Gange sowie das Urteil über Ulysses und damit über Joyce gefällt war. Stilprägend war der aber kaum für die Lyrik, sehr wohl aber für die Prosa gewesen. Da die Gedichte nicht selbst als Zeugnisse von Stilrichtungen herausgestellt wurden, sondern ihre Autoren in persona, ist diese erste Veröffentlichung von Joyce doch durchaus bemerkenswert – und umso bemerkenswerter, da es im Verlagsgut27 Für die Leipziger Kolleginnen und Kollegen und alle, die es interessiert: Es handelt sich um den Großonkel der Rektorin jener Alma Mater Lipsiensis, an der Siegfried Lokatis lehrt. 28 Vgl. Schücking, Levin L.: Vorwort. In: Englische Gedichte aus sieben Jahrhunderten. Leipzig: Dieterichʼsche Verlagsbuchhandlung 1956 (Sammlung Dieterich 109). S. 11f., das Gedicht auf S. 328.
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achten zur Erteilung der Druckgenehmigung hieß, dass es sich um ein äußerst wertvolles Manuskript handele, das unter anderem die Studierenden in der DDR bräuchten.29 Ausgerechnet ein potenziell kritisches Klientel machte man mithilfe einer Buchauflage von 10.000 Exemplaren auf Joyce aufmerksam. Im Verlagsgutachten zu den 1982 anlässlich des 100. Geburtstags des Autors veröffentlichten gesammelten Gedichten sollte von seinem sozialkritischen Impetus die Rede sein, von seiner radikalen Abwendung von katholisch-orthodoxen Maximen und seiner Hinwendung zur Diesseitigkeit, von seinem Bekenntnis zur Sinnlichkeit wider den von einer moralisch verklemmten Umwelt künstlich konstruierten Gegensatz von Sexualität und echter Partnerschaft der Geschlechter, von seiner Absage an Bigotterie und Beschränktheit des vom Klerus weitgehend geprägten geistigen Klimas in Irland und an die dort herrschende Intoleranz und Lebensfeindlichkeit sowie von der modernen Formgebung.30 Was hier mittlerweile der Rechtfertigung diente, hatten die Drucker und Verleger zu Joyces Lebzeiten noch gefürchtet. Eine andere Spur führt zum Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig. Die Ankündigung einer Anthologie irischer Erzählungen des 20. Jahrhunderts in der Berliner Zeitung vom 18. Juni 1965 erwähnte Joyce als einen der dafür vorgesehenen Autoren.31 Die Planungen für diesen Band reichten sogar zurück bis zum Januar 1962.32 Der Verlag wollte ähnliche Vorhaben von Volk und Welt vorerst abwarten, um Doppelungen zu vermeiden und seine eigene Sammlung 1964 oder 1965 zu veröffentlichen. Außerdem war er darauf bedacht, aus ökonomischen Gründen auf Neuübersetzungen weitgehend zu verzichten und für die fälligen Lizenzen nicht allzu viele Devisen in das Projekt zu stecken. Es war vorgesehen, eine für den jeweiligen Autor typische Erzählung auszuwählen. Was Joyce anging, hatte man sich entschieden, auf die ursprünglich geplante Erzählung Efeutag im Sitzungszimmer zugunsten von Ein schwerer Unglücksfall zu verzichten. Über die Gründe lassen sich nur Vermutungen anstellen. Zuweilen lag es am Fehlen, an der Güte oder am Preis von Übersetzungen. Banal, aber notwendig war auch die Entscheidung für statt gegen einen Text. Ob Ein schwerer Unglücksfall verglichen mit den anderen Dubliner-Erzählungen als besonders typisch galt, bleibt fraglich. Vielleicht entschieden doch inhaltliche Erwägungen: In Efeutag im Sitzungszimmer werde „die ganze Korruptheit und Ziellosigkeit bürgerlicher Politikas-
29 Vgl. Verlagsgutachten zu Englische Gedichte aus sieben Jahrhunderten o. D., Druckgenehmigungsantrag v. 4.11.1955, Bundesarchiv (BArch), DR 1/5117, Bl. 26. 30 Vgl. Verlagsgutachten zu Kammermusik, o. D., Druckgenehmigungsantrag v. 23.11.1981, BArch, DR 1/3483, Bl. 70f. 31 Vgl. Berliner Zeitung, 18.6.1965. S. 6. 32 Die Ausführungen zu diesem Buchprojekt beruhen auf Archivmaterial des Verlags Philipp Reclam jun. Leipzig, Reclam-Archiv Leipzig, Akte 316, Bl. 51–120.
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ter widergespiegelt“.33 Wie schnell konnte das Adjektiv „bürgerlich“ überlesen werden. Und in der ebenfalls angedachten Geschichte Eveline will eine 19-Jährige mit ihrem Geliebten nach Buenos Aires fliehen, bleibt aber – zu schwach, um die Bindungen an ihre Heimat zu lösen – zurück. Weder Flucht noch Zaudern sollten womöglich Beispiel geben für die Jugend im real existierenden Sozialismus. Doch die Mauer war längst gebaut und das Kahlschlagplenum hatte noch nicht stattgefunden: Die Lizenzanfrage beim Rhein-Verlag in Zürich, der die Rechte am Werk von James Joyce für den deutschsprachigen Raum sowie für die vorliegende Übersetzung von Georg Goyert hielt, datiert vom 2. März 1965 und wurde auf Nachfrage vermutlich im Juni des Jahres positiv beschieden. Der Herausgeber Otto Brandstädter, zusätzlich für den Aufbau-Verlag tätig und mit seiner Dissertation beschäftigt, musste hingegen immer wieder gemahnt werden, bis hin zu flehentlichen Bitten, den Band nicht im Stich zu lassen. Auch war der Verlag mit seinem eingereichten Nachwort nicht zufrieden, für das er sich unter anderem einen kritischen Überblick über die Hauptrichtungen der zeitgenössischen irischen Literatur und damit ebenso der Strömung katholischer Schriftsteller gewünscht hatte. Frei heraus schickte Brandstädter die als Feststellung formulierte Frage retour, welchen Wert es denn aber habe, die gälisch katholische Richtung mit negativen Bemerkungen abzuhandeln. So blieb das Nachwort, wie es war. Derlei Diskussionen banalisieren nicht das Verfahren der Druckgenehmigung, das jeder Titel bei der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur durchlaufen musste, sondern sie mahnen eine differenzierte und genaue Betrachtungsweise des Buchhistorikers oder Zensurforschers an. Die Druckgenehmigung wurde Anfang Februar 1966 erteilt und das Manuskript unmittelbar darauf zum Satz eingereicht. Das Buch erschien im selben Jahr als Band 331 von Reclams Universal-Bibliothek unter dem Titel Die Silbermünze. Irische Erzählungen von Seán OʼCasey, James Stephens, Liam OʼFlaherty, Seán Ó Faoláin, Frank OʼConnor, James Plunkett, Maurice Kennedy und eben James Joyce. Im für die Erlaubnis erforderlichen Verlagsgutachten hieß es: Die psychologische Erzählung des frühen Joyce zeige ihn noch nicht in seiner späteren Technik des Bewusstseinsstroms und des inneren Monologs, es sei eine vom Naturalismus herkommende kritische Schilderung typischer Menschen aus der Umwelt des Autors.34 Zum einen handelte es sich dabei um eine zutreffende Feststellung, zum anderen aber auch um zuvorkommende Entkräftung möglicher Einwände, die auf das alte Verdikt über den Autor abstellen mochten. Joyce wurde in dieser 33 Verlagsgutachten zu Dubliner, o. D., Druckgenehmigungsantrag v. 9.12.1976, BArch, DR 1/2364, Bl. 207. 34 Vgl. Verlagsgutachten zu Die Silbermünze, o. D., Druckgenehmigungsantrag v. 4.2.1966, BArch, DR 1/2199, Bl. 59f.
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Argumentation aus dem Schatten seines Ulysses herausgezogen und Kritikern der Wind aus den Segeln genommen. Formalismus ließ sich dem Frühwerk nicht (in ähnlicher Weise) vorwerfen. Indem man das Werk als eine Schilderung aus der Umwelt des Autors sah – fürwahr sind die biografischen Bezüge in seinem Werk mehr als deutlich –, und nicht etwa aus der seiner Figuren, machte man ihn wenigstens zu einem sozialkritischen Beobachter Dublins und eben nicht blind für das Geschehen und die Bedrohungen seiner Zeit. Die Beispiele der Veröffentlichungen von Joyce in der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung und bei Reclam zeigen, dass das Bemühen um das Werk des irischen Autors in der DDR deutlich früher einsetzte als von Wicht behauptet. Selbst das Bestreben, eines seiner Bücher in Gänze zu publizieren, reicht bis 1965 zurück. Dabei handelte es sich nicht um das weniger kontroverse Dubliner. Vielmehr bestand seit Dezember des Jahres ein Lizenzvertrag zwischen dem Rhein-Verlag und dem Verlag Volk und Welt über die für 1967 vorgesehene Veröffentlichung von Ulysses. Dass es über Jahre hinweg doch nicht dazu kam, war, so Lokatis, unmittelbare Folge des 11. Plenums des Zentralkomitees der SED, das im Dezember 1965 stattfand.35 Das sogenannte Kahlschlagplenum hinderte den Zensor aber nicht daran, im Februar 1966, also nach dem Plenum und noch bevor das Manuskript aufgrund von Satz oder gar Druck nicht mehr hätte zurückgezogen werden können, Reclam das Erscheinen der Kurzgeschichte Ein schwerer Unglücksfall in 20.000facher Vervielfältigung zu gestatten. Was bedeutete das? Galt das Verdikt nicht mehr für den Autor, sondern lediglich noch für seinen Roman? War die Erzählung in der Anthologie einfach gut genug versteckt, als dass man auf sie hätte verzichten müssen? War der Zensor weitsichtig genug, den wohl absehbaren Imageschaden wegen der auf Eis gelegten Veröffentlichung von Ulysses nicht noch zusätzlich zu vergrößern? Oder war er gutwillig? Wer war „er“ überhaupt, unabhängig von der Person, die die Genehmigung unterschrieb? … Jedenfalls sind Inkonsistenzen augenscheinlich. Aber warum sollte sich die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel darin von anderen Behörden unterschieden haben?! Fakt war, dass sich Volk und Welt zu einem Vorschuss von 4.000 Schweizer Franken36 und damit zu einer Zahlung knapper Devisen für die Ulysses-Übersetzung von Georg Goyert verpflichtet hatte, die damals schon als überholt galt.37 Man war offenbar vom eigenen Vorhaben überzeugt und sich seiner Sache sicher gewesen. Der 35 Vgl. Siegfried Lokatis: Ulysses als Devisenfrage. In: Barck, Simone u. Siegfried Lokatis (Hrsg.): Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDR-Verlages Volk & Welt. Berlin: Ch. Links 2003. S. 193. 36 Vgl. Lokatis, Ulysses als Devisenfrage (wie Anm. 35), S. 193. 37 Vgl. Zimmer, Dieter E.: James Joyce auf deutsch. Der Suhrkamp Verlag bereitet eine riesige Editions- und Übersetzungsaktion vor. In: Die Zeit, 17.3.1967, online unter http://www.zeit. de/1967/11/james-joyce-auf-deutsch/komplettansicht (8.5.2016).
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Kahlschlag war ebenso wenig vorherzusehen wie der Kauf der Verwertungsrechte am Werk von Joyce durch den Suhrkamp Verlag im Jahr 1966,38 für die er eine sechsstellige Summe hatte aufbringen müssen. Volk und Welt kam dieser Umstand gelegen, und der Verlag entschied, auf die von Suhrkamp für 1972 angekündigte Neuübersetzung zu warten.39 So ließ sich verschleiern, warum Ulysses bis auf Weiteres in der DDR nicht erscheinen konnte. Erst nachdem Erich Honecker, der sich auf dem Kahlschlagplenum noch als Wortführer gegen die Dekadenz im kulturellen Schaffen hervorgetan hatte, 1971 Erster Sekretär des ZK der SED geworden war, verbesserte sich das kulturpolitische Klima wieder. Allein die Übersetzung des Romans ließ weiter auf sich warten, bis Suhrkamp 1975 für die Lizenz eine Gebühr von 60.000 DM verlangte. Das Budget auf DDR-Seite war mit weniger als einem Zehntel dessen bereits ausgereizt.40 Aber für diesen Preis war „nur“ die bereits 1969 am Main in neuer Übersetzung veröffentlichte Kurzgeschichtensammlung Dubliner zu haben. 1977 erschien sie endlich in der Spektrum-Reihe von Volk und Welt und mit ihr der Name James Joyce zum ersten Mal auf dem Titelblatt eines Buches in der DDR. Schützenhilfe – wenngleich nicht notwendig, so doch hilfreich – kam vom großen Bruder im Osten: Nach jahrzehntelanger Abwesenheit in der Sowjetunion erschien dort 1976 der Abdruck von Ein Porträt des Künstlers als junger Mann in einer Literaturzeitschrift.41 Im Verlagsgutachten zu Dubliner war nun die Rede von der Auseinandersetzung nicht des Autors, sondern der Figuren mit ihrer sozialen Umwelt. Bei aller Akkuratesse im lokalen Detail habe Joyce sich mit seinen Erzählungen auf einer künstlerischen Abstraktionshöhe bewegt, die ihm immer wieder abgesprochen worden war. Stattdessen war ihm Naturalismus vorgeworfen worden. Das seinem Bruder in einem Brief von 1906 offenbarte Selbstbild als sozialistischer Künstler habe mit Marxismus-Leninismus zwar nichts zu tun, als „Bürgerschreck“ jedoch habe er seine Gegnerschaft zu den gesellschaftlichen Verhältnissen demons triert. Seine Kurzgeschichten gewönnen vor dem Hintergrund des Nordirlandkonflikts geradezu wieder an Aktualität. Joyce sei oft nach dem beurteilt worden, „was andere – und nicht nur bürgerliche – Interpreten aus seinem Werk machen wollten“.42 Das liest sich wie ein zaghaft selbstkritisches Eingeständnis der Kul-
38 Vgl. Der Spiegel, 21.11.1966. S. 191, online unter http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46415306.html (8.5.2016). 39 Vgl. Zimmer, James Joyce auf deutsch (wie Anm. 37). 40 Vgl. Lokatis, Ulysses als Devisenfrage (wie Anm. 35), S. 194. 41 Vgl. Tall, Emily: James Joyce Returns to the Soviet Union. In: James Joyce Quarterly, Vol. 17 (Summer 1980) H. 4. S. 341–347, hier S. 341. 42 Vgl. Verlagsgutachten zu Dubliner, o. D., Druckgenehmigungsantrag v. 9.12.1976, BArch, DR 1/2364, Bl. 203 sowie Krehayn, Joachim: Nachwort. In: Joyce, James: Dubliner. Berlin: Verlag Volk und Welt 1977 (Volk und Welt Spektrum 103). S. 212–218, hier S. 218.
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turpolitik, deren Zensoren schließlich auch diesen Satz im Nachwort des Buches gebilligt hatten. Der Anfang war gemacht und andere Bücher von Joyce erschienen in kurzer Folge im Verlag Volk und Welt.43 Dabei wurde das Frühwerk in seiner Eigenständigkeit sowie Bedeutung für das spätere anerkannt und aus dem Schatten des Ulysses ans Licht geholt.44 Mit dessen Erscheinen im Jahr 1980 war sein Autor endgültig rehabilitiert und das Dauervisum für die DDR erteilt. Im Verlagsgutachten zum Roman hieß es: In der DDR wurde Joyce immer wieder im Zusammenhang mit Franz Kafka (1883–1924) und Marcel Proust (1871–1922) genannt. Zunächst wurden alle drei schlechthin als dekadent abgestempelt. Damit war aber die historisch-ästhetische Wirkung der drei Autoren weder abzutun noch zu erklären oder gar aufzuheben. […] Selbstverständlich geht es nicht darum, den Menschen zu suggerieren, Joyce oder Proust seien Vorbilder des sozialistischen Realismus. Es muß vielmehr erreicht werden, die historische Bedeutung ihrer Werke einerseits und deren weltliterarische Ausstrahlungskraft andererseits zu erklären. Die genannten Autoren haben nämlich die Probleme der Gesellschaft in ihrer Zeit von bürgerlich-humanistischen Positionen aus künstlerisch gültig zu gestalten gesucht. Es ist eine Sache, daß ihre Klassenposition ihnen enge Grenzen auferlegte; und es ist eine andere, daß wir über ihren Fehlern und Mängeln nicht ihre ehrlich erreichten Positionen übersehen.45
Auf die „Fehler und Mängel“ ging das zehnseitige Gutachten durchaus kritisch ein, schließlich konnte die offizielle Kulturpolitik nicht jahrzehntelang „falsch“ gelegen haben. Und auch das Nachwort46 hegte Werk und Autor entsprechend ihrer gültigen Grenzen ein. Aber mittlerweile waren diese so weit gefasst, dass Ulysses im kleinen „Leseland“ DDR seinen Platz fand.
43 Ein Porträt des Künstlers als junger Mann (1979), Ulysses (1980), Stephen der Held (1982), Kammermusik. Gesammelte Gedichte (1982, Insel-Verlag Anton Kippenberg Leipzig), Ausgewählte Schriften (1984). 44 Vgl. Verlagsgutachten zu Ein Porträt des Künstlers als junger Mann, o. D., Druckgenehmigungsantrag v. 16.11.1978, BArch, DR 1/2369a, Bl. 602. 45 Vgl. Verlagsgutachten zu Ulysses, o. D., Druckgenehmigungsantrag v. 20.2.1980, BArch, DR 1/2371a, Bl. 719f. 46 Wie schon zuvor bei Ein Porträt des Künstlers als junger Mann hatte der Suhrkamp Verlag und/oder der Nachlassverwalter untersagt, die lizensierten Ausgaben mit Nachworten zu drucken. Volk und Welt behalf sich damit, den Büchern jeweils einen entsprechenden Sonderdruck beizulegen. Vgl. Wicht, Disintegration (wie Anm. 8), S. 87.
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Zola to Roth: Literature in the Dock in Australia The sensational obscenity censorship trials conducted in the late nineteenth cen tury and through the first half of the twentieth century in France, Britain and the United States have often been reconstructed as forms of public theatre. Adam Parkes’ 1996 book The Theater of Censorship described “the social space in which texts and authors became subject to public censure and legal action – so that the culture of censorship itself [was] implicitly put on trial.”1 Beginning with Oscar Wilde’s trial of 1895, Parkes outlines, as have many, the developing furors that followed the UK and US prosecution or public trials of D. H. Lawrence’s The Rainbow (1915), James Joyce’s Ulysses (1922), Radclyffe Hall’s The Well of Loneliness (1928), and the pivotal suppression of Lady Chatterley’s Lover, also in 1928, and its 1960 trial in London. Dominick LaCapra’s study of Flaubert’s 1856 trial for Madam Bovary established in 1982 some of the terms within which the literary trial has been retrospectively discussed, emphasising a trial’s capacity to explode any prosecuted book’s literary frame, occasioning slippage between the obscenity at issue and proximate social formations with their own attendant controversies.2 For Pierre Bourdieu, the trials of Baudelaire and Flaubert were central to the formation of an autonomous literary field in Second Empire and then Third Republic France, demonstrating the ways in which the defense of “art for art’s sake” effected the “invention” of the pure aesthetic, at least for literature, and in that way determined the character or the “norms” of the literary field. The book trial performs a central function in a dominant narrative of modern cultural change in the West, indexing the transformation of censorial legal regimes in what has been couched as a long and mighty tussle between art and law in articulating the social order.3 1 Parkes, Adam: Modernism and the Theatre of Censorship. New York: Oxford University Press 1996. xi. 2 LaCapra, Dominick: Madam Bovary on Trial. Ithaca and London: Cornell University Press 1982. 31. 3 Besides Parkes and La Capra, see Rembar, Charles: The End of Obscenity. London: Andre Deutsch 1969; Grazia, Edward de: Girls Lean Back Everywhere: The Law of Obscenity and its Assault on Genius. New York: Random House 1992; Doan, Laura: Fashioning Sapphism: The Origins of a Modern English Lesbian Culture. New York: Columbia University Press 2001; Marshik, Celia: British Modernism and Censorship. Cambridge: Cambridge University Press 2006; Ladenson, Elisabeth: Dirt for Art’s Sake: Books on Trial from Madam Bovary to Lolita. New York: Cornell University Press 2007.
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In Australia, however, unlike in Europe or the US, these famous examples of provocative modernism underwent no corresponding trials or legal contests and, apart from the sometimes merely incidental reporting of their British trials in the metropolitan newspapers, in fact were banned without fanfare. Imperial legal instruments, colonial book trade agreements and, after 1901, expansive federal Customs censorship meant that these iconoclastic titles were banned in Australia without contest, debate or even clear process. For an English-speaking, former settler colony, Australian definitions of offence have been derived from nineteenth-century British statutes and case law, and the administrative regime to which these books were subject could apply British bans without question. The Well of Loneliness, for instance, was first banned sight unseen, black market copies from the U.K. proving too difficult even for the Commonwealth Investigations Bureau to procure, as I establish in The Censor’s Library, a history of Australian book censorship on which this chapter draws.4 Unreported, or even secretly, these prohibitions were implemented in the years immediately prior to the 1933 establishment of the Australian Book Censorship Board, a federal agency that then gave some status to literary merit adjudicated by legal and literary experts, while the banned list was kept secret from the public until 1958. In Europe and America, book censorship was theatre; in Australia, where most books arrived by ship, censorship was both more obscure and more obscuring – it was like a “fog on the wharf”, as the literary critic Nettie Palmer resonantly decried it.5 In the main, literary offense was actively kept out of Australian courts. Far from the history of literary censorship developing as a legal narrative of publicly-contested, progressive transformation, the great majority of what was severe publication censorship for an English-speaking country occurred without prosecutions or actions in the courts. It was not that lawyerly tussles in front of a judge and jury over the rude or otherwise meaning of a book forced shifts in common law or legislation or public perception or censorship practice; legal cases came in the wake, often, of public protest, rather than exciting it. Book censorship in Australia was determined not by the judiciary but by the extended, secret and very difficult to contest execution of Customs control over by far the major portion of the book trade. This was due in large part to the proliferation of legislation, acts and regulations, proclamations, supernumerary clauses and multiplying legal instruments enacting restrictions on publications and their distribution. Historian Deana Heath
4 Moore, Nicole: The Censor’s Library: Uncovering the Lost History of Australia’s Banned Books. Brisbane: University of Queensland Press 2012. 134–42. 5 Palmer, Nettie: Fog on the Wharf. Stead’s Review, 1 July 1930. 11–12.
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describes an Australian “armada” of censorship laws; a “superabundance”.6 These were produced by the differing state jurisdictions derived from the formerly separate colonial legislatures, with overlapping codings of offence enacted within each state (Police Acts, Vagrancy Acts, Obscene Publications Acts, Protection of Children Acts, and so on), and unclear definitions of offence sourced in imperial statutes (including UK Vagrancy Acts from the 1830s, plus the 1857 Obscene Publications Act), as well as the common law, again different in each state, but relying for rulings on obscenity, as by far the most common charge. After the federation of the states in 1901, to all of this state law were added national acts and the jurisdictions of the federal courts. The 1901 Customs Act was the most powerful of these instruments and, indeed, of all the censorship laws. Passed at the moment of nation-making, it set out to unite the separate Australian state colonies within encircling and commonly-policed national borders. With sweeping seizure powers, no appeal mechanisms, and a deliberate failure to define its nominated offences of “obscenity, blasphemy and sedition”, the Customs Act implemented centralised censorship control over the great majority of Australian reading from the inauguration of the modern nation. Publications censorship history in Australia needs to be understood within the history of colonialism, of imperial control over book markets and the global spread of English, as well as within the historical manufacture of white modernity in Australia, regulating “Anglo-Saxon” morality. Chris Hilliard suggests that Australia departed from British precedents in establishing a “centralized censorship authority”7, referring to the Book Censorship Board established in 1933 (from 1937 the Literature Censorship Board). The UK’s Home Secretary expressed a powerful aversion to a literary board in the 1958 parliamentary debate on the need to revise the Obscene Publications Act (“It would not only be complex, but utterly unacceptable in a free country”8) and this placed the UK strikingly out of step with a majority of its former settler colonies, which had established bodies from the early 1930s. With South Africa, Australia followed the Republic of Ire6 Heath, Deana: Literary Censorship, Imperialism and the White Australia Policy. In: Lyons, Martyn and John Arnold, eds.: A History of the Book in Australia, 1891–1945. Brisbane: University of Queensland Press 2001. 70, 74. 7 Hilliard, Chris: “Is it a Book That You Would Wish Your Wife or Your Servants to Read?” Obscenity Law and the Politics of Reading in Modern England. American Historical Review June (2013). 658. 8 The Secretary of State for the Home Department and Lord Privy Seal (Mr R. A. Butler), 1958, 12, 16; qtd in Kirchhofer, Anton: The Making of the 1959 Obscene Publications Act: Trials and Debates on Literary Obscenity in Britain Before the Case of Lady Chatterley. In: Grüttemeier, Ralf, ed.: Literary Trials: Exceptio Artis and Theories of Literature in Court. New York: Bloomsbury 2016. 61–62.
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land’s example in the form and advisory powers of its board, as did New Zealand in 1937.9 The literature board was not the signal feature of how the Australian regime operated, however.10 Most publications censorship was implemented through Customs control without advice from the board and this was a very effective form of centralised censorship mainly because, as a settler colony, Australia had an import culture for most of the nineteenth and twentieth centuries, and its book trade was dominated by British distributors, for significant periods providing up to ninety per cent of what Australians read.11 Trade agreements that gave preference to British firms structured the Australian book marketplace until late in the twentieth century. The United Kingdom enforced Customs bans on books, too, of course (British controls on the Paris-published editions of Ulysses were enacted primarily through Customs, for instance), but like the US and most of Europe the majority of its reading was published domestically, and so subject first to what could be high profile public and police prosecution in the courts. Lisa Sigel describes the operation of two different registers of censorship in Britain – the “everyday” and the “spectacular” – demonstrating that the overwhelming attention of censorship history has been to the latter, in the form of widely reported court cases “conceptualized as a sort of border between licit and illicit writings, as a marginal terrain upon which the avant garde and the old guard fought over the morals of the nation.”12 It was the forms of “everyday” censorship, however, administered through what Sigel describes as an “ad hoc patchwork of laws and practices” such as Customs controls, local policing and postal confiscations (as well as the UK’s own, little commented upon, secret banned list13), that allowed the state to control the distribution of the widest range of media.14 Police prosecutions were also used against locally-published books in Australia, through state-based legislation, but the domestic industry struggled to 9 MacEoin, Garry: Ireland: “Vacuum of National Purpose.” America, 14 November 1959. 184–87; Wilson, J. L. J.: The Censorship of Writing. Current Affairs Bulletin, 26.11 (1959). 163–175; McDonald, Peter: The Literature Police: Apartheid Censorship and its Cultural Consequences. Oxford: Oxford University Press 2009; Perry, Stuart: The Indecent Publications Tribunal: A Social Experiment. Christchurch: Whitcombe and Tombs 1965. 10 Hilliard also suggests that it was a “pre-publication” regime, but this was not the case technically, as more than one of the censors protested in print (again following British practice that Hilliard records), though it certainly attempted to prohibit books pre-distribution. 11 Lyons, Martin: Britain’s Largest Export Market. In: Lyons, Martin and John Arnold, eds.: A History of the Book in Australia, 1891–1945. Brisbane: University of Queensland Press 2001. 20. 12 Sigel, Lisa: Censorship in Interwar Britain: Obscenity, Spectacle and the Workings of the Liberal State. Journal of Social History, 45.1 (2011). 62. 13 See Alan Travis’ account of black listed pulp in particular: Bound and Gagged: A Secret History of Obscenity in Britain. London: Profile Books 2000. 14 Sigel, Censorship (note 12), 62–63.
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compete with British imports, including colonial editions of Australian writers, until the late 1960s or later. The great majority of Australian reading was imported and subject to direct Customs control. Australia thus reproduced British legislative, regulatory, industrial and bureaucratic censorship structures but these had markedly different and more severe effects in a small, settler, English-speaking nation with an import culture bound by imperial trade agreements. In 1929, England’s Lord Chief Justice Lord Hewart published a famously impassioned protest at the increasing delegation of sovereign, elected power onto regulation and bureaucracy, which he called The New Despotism, and critiqued the concomitant expansion of the domain of administrative law. He discerned “now, and for some years past, a persistent influence which […] undoubtedly has the effect of placing a large and increasing field of departmental authority and activity beyond the reach of the ordinary law”.15 In Australia, through Customs’ expansive control, the role of bureaucratic administration significantly outweighed the role of prosecution in effecting censorship, and delegated agencies and officials exercised control in areas obscure to the judiciary and often invisible to Ministers and elected representatives. Isolated Customs clerks at far-flung ports on the Australian coast, from Thursday Island in the far north east to Albany in the south west, were empowered to make decisions about the suspicious content of imported books, and complex and hierarchical processes within the Department of Trade and Customs and other departments such as the Postmaster’s and Attorney General’s offices meant responsibility for censorship was delegated in multiple directions and at different levels of responsibility. Oversight from parliament in that regard was minimal and legal challenge rendered very difficult. At stake in this delegation was the contest between the courts and the government, or the law and the state, in exercising the role of custos morum, or custodian of public morals. Held by the Court of King’s Bench in England on the abolition of the Star Chamber in 1640, this role in turn was an extension of the Church’s offices over its subjects. For twentieth-century Australia, the contest between law and state was a feature of the new forms of governmentality characteristic of postcolonial modernity, combining inherited bodies of common law and legislation with a newly-mandated centralism that was investing in expansive forms of post-industrial bureaucracy to build a modernist nation state. In that context, publicised court cases brought against authors, editors, publishers and booksellers made some difference but certainly not all the difference. A survey of the most prominent cases can map for us the manifestation of conflict over social definitions of offence in the courts and allow us to track, concomitantly, public juridical and state responses to explicit challenge. Bringing 15 Lord Hewart of Bury: The New Despotism. New York: Cosmopolitan Book 1929. 11.
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these cases together into a narrative demonstrates that it was not pressure from such challenges that led to liberalisation. Changes to the administrative law were all that was required, and relatively minor changes too. When these were finally enacted in the late 1960s, court cases could proceed with some hope of success, but not before. Ultimately, it was changes in federal government policy that conclusively transformed Australia’s severe book censorship regime: the law hardly changed at all.
I The principles and conditions whereby Customs offices could avoid the publicity of trials were established relatively early in the history of Australian European settlement, concomitant with the introduction of Customs controls themselves. The initial establishment of legislated censorship can be traced in close parallel with legal developments in industrial-age Europe, in police and publication acts enacted in the Australian colonial parliaments through the second half of the nineteenth century. Transnational responses to the controversial writers of Third Republic France demonstrate how colonial censorship operated, moderated as these Australian responses were by British stereotyping of French culture.16 A number of damaging, late-nineteenth-century trials in the colonies of New South Wales and Victoria informed the approach of federal Customs after federation, in ways that sharpened a sense of Australian distinction from the increasingly-integrated book trades of Europe and the US. Emile Zola’s Nana, first published in France in 1880, occasioned scandal in Australia well before the furore surrounding the British trial of its publisher Henry Vizetelly in 1888. In 1884, along with George R. Drysdale’s Elements of Social Science and an Australian edition of the US birth-control title The Fruits of Philosophy, the police seizure of nearly a thousand books from a Pitt Street bookshop in Sydney garnered copies of it – likely to have been the Vizetelly translation of that same year. The trial and conviction of the bookseller under New South Wales obscenity law saw extensive debate about the morality of Zola’s “realism” in Australian newspapers, despite the fact that Nana was not one of the titles on which the prosecution finally proceeded, while
16 Elisabeth Ladenson describes “the enduring place held in the Anglophone imagination by French writers as the nec plus ultra of obscene literature”. Ladenson, Dirt for Art’s Sake (note 3), 79.
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the influential Bulletin, unlike other newspapers, defended Zola and Nana, in particular, as “a work of absolute genius”.17 Similar controversy surrounded both the 1887 seizure by Victorian Customs of a large consignment of books, including Zola translations, and the minister’s release of them soon after, the contradictory actions meeting with criticism from both sides of the debate.18 After the Vizetelly trial, an 1889 attempt to import Zola’s books, this time by Edward William Cole, freethinking bookseller and proprietor of Melbourne’s much-loved Cole’s Book Arcade, met with different treatment. The Victorian colony’s press by then was calling for regulation of the book trade, citing the British conviction of Vizetelly as a reason to refuse entry to Zola’s books.19 In what appears to have been an attempt to stifle controversy, the new Victorian Customs Minister, James Patterson, came to an agreement with Cole in which the bookseller’s consignment of Zola titles could be burnt if Cole was not cited as their importer nor subject to public moral opprobrium. Heath declares that this established a reinforcing relationship of acquiescence between colonial Customs departments and the book trade in Australia, sourced in a reluctance to bring cases to court because of ensuing publicity and press debate, and the uncertain outcomes for both parties.20 This arrangement endured until the new federal Customs regime in the new century. What is of note is freethinker Cole’s chariness about negative public opinion, witnessing the dominance of a public will to ban and censor, rather than the opposite. The power of the “theater of censorship” in press coverage of the seizures, manifesting rather more moral condemnation of the books than appetite for reading them, might be thought to have been on Customs’ side. Then, in July 1901, three months before the new federal Customs Act had been proclaimed, the barely-established Department of Trade and Customs seized a consignment of suspect books and decided to prosecute the Melbourne branch of booksellers George Robertson and Co., for importing Honoré de Balzac’s Droll 17 “Indecent Literature.” Bulletin, 11 October 1884. 4; Cf. Jarvis, Doug: Morality and Literary Realism: A Debate of the 1880s. Southerly, 43.4 (1983). 407–408; Heath, Deana: Purifying Empire: Obscenity and the Politics of Moral Regulation in Britain, India and Australia. Cambridge: Cambridge University Press 2010. 104–106. 18 Jarvis, Morality and Literary Realism (note 17), 410. 19 Heath, Deana: Creating the Moral Colonial Subject: Censorship in India and Australia, 1880– 1939. PhD Dissertation. University of California, Berkeley 2003. 445. Concurrent tours on the east coast of two dramatic adaptations of Zola’s novels L’Assommoir and Germinal (as Drink and Master and Man) heightened the stakes. See Jarvis, Morality and Literary Realism (note 17), 418. 20 Another crucial precedent is the 1888 New South Wales trial in which Justice Windeyer found Annie Besant’s birth control pamphlet The Law of Population not to be obscene. Heath, Moral Colonial Subject (note 19), 445. Cf. Jarvis, Morality and Literary Realism (note 17).
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Stories and Paul de Kock’s Monsieur Dupont. The subsequent trial generated substantial press criticism of the department and the government, falling into farce in the cross examination of expert witnesses and exposing inconsistencies in Customs’ approach across state boundaries. With two other literary “experts”, Professor Edward Morris from Melbourne University was brought in to testify to the books’ “tendency to deprave and corrupt”. Morris emphasised his own defilement, in a strategy that backfired when combined with a defensive stress on his academic expertise. The defense counsel asked, “do you mean to say that the reading of these books would under all circumstances have a demoralizing tendency?” - I fear I defiled my mind by reading them. I felt as if I needed a bath after it. (Laughter) […] - Was your moral nature in any way affected by it? - I don’t think it lowered my moral tone, because I was on my guard. - Time can only tell whether you have fallen from your high estate? (Laughter) - Yes.21
Another witness, James Smith, identified as “a litterateur in the state for upwards of 40 years”, described Droll Stories as an “elaborate panegyric of licentiousness and lust”.22 The defense responded by reminding the court that the books had been imported “year after year without question”, that Monsieur Dupont had been on sale for a number of years and Droll Stories for the last nineteen years. Moreover, Customs “was making fish of one and flesh of others, because a consignment of these books by the same vessel had been allowed in Sydney without being questioned”.23 In summation, the judge declared his regret “that such a prosecution had been brought into court” and, though finding the books indecent within the (undefined) meaning of the Customs Act, imposed the minimal penalty of twenty-five pounds and declined to award costs. At issue was the effective administration of nation-wide Customs controls, while the performative repetition of obscenity offences occasioned by such public trials was highlighted,24 as was the public disputation of literary opinion, with expert reading challenged or even trumped by pre-emptive popular reading.
21 “Impure Literature: Important Prosecution.” Argus, 21 September 1901. 14. 22 Impure Literature (note 21). 23 Impure Literature (note 21). 24 Cf. Crawley, Karen: “The Chastity of our Records”: Reading and Judging Obscenity in Nineteenth-Century Courts. In: Moore, Nicole, ed.: Censorship and the Limits of the Literary: A Global View. New York: Bloomsbury 2015. 65–77.
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The new federal regime was subsequently careful to avoid court trials, ushering in a policy of confiscation and prohibition merely, rather than fines or prosecutions, which meant few significant cases of banning made it into the newspapers. Customs chose not to prosecute another importer until many decades later. Books were banned under the federal Customs Act when declared seditious, obscene or blasphemous “in the opinion of the minister”, and this left little room for legal dispute. No publisher would sensibly have taken Customs to court – the threat of having to pay costs was sufficient deterrent – and it took until December 1969 for Customs to be brought to court over the importation of a literary title.25 It was not that the “culture of censorship” was not contested in the first half of the twentieth century, however. Protests about political censorship and sedition charges during the First World War and early 1920s, such as those of socialist writer Henry Boote or jailed members of the International Workers of the World, later debate about film immorality and the suppression of political films, and controversies around the censorship of plays belie a suggestion that the Australian public did not care about the operations of censorship regimes through the early decades of the century.26 There is evidence of advocacy for censorship, in fact, in the history of film censorship in particular.27 By the 1930s protests targeting Customs’ publications censorship had intensified, however, resulting in the concession represented by the appointment of the Book Censorship Board as an expert advisory body, while high-profile clashes between authors or literary groups and government were a feature of that decade. It was not until the immediate postwar years, however, that literary works as such faced scandalous charges in the Australian courts.
II Attention-grabbing censorship trials dotted the postwar period, from the end of the Second World War to 1950, forming a sequence of state-based prosecutions targeting Australian literature. These brought the question of literary offense into public debate in an unprecedented way. September 1944 saw the Adelaide prosecution of Angry Penguins magazine, which had published “Ern Malley”, Austra25 Moore: Censor’s Library (note 4), 271–74. 26 Bertrand, Ina: Film Censorship in Australia. Brisbane: University of Queensland Press 1978; Shirley, Graham and Brian Adams: Australian Cinema: The First Eighty Years. 1983. Revised ed. Sydney: Currency Press 1989; Matthews, Jill Julius: Dance Hall and Picture Palace: Sydney’s Romance with Modernity. Sydney: Currency Press 2005. 27 Shirley/Adams, Australian Cinema (note 26), 75–76, 141.
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lia’s most infamous poetry hoax, and the editors Max Harris and John Reed convicted of obscenity under Section 108 of South Australia’s Police Offences Act. In April 1946, the offence of Lawson Glassop’s novel We Were the Rats was brought to court in Sydney, his publisher Angus & Robertson convicted of obscenity under New South Wales law for the “unvarnished” language of a book about one of Australia’s most deadly engagements in World War II. Three Adelaide booksellers were successfully prosecuted for selling Robert Close’s novel Love Me Sailor in the same month, while the author and his publisher were convicted in Melbourne under notionally obsolete Victorian laws only after three sensational trials, from March to June 1948. Close was sent to prison for ten days, in the only jailing of a fiction writer for literary offense in Australia’s history. To add to the “theatre”, Sumner Locke Eliot’s play Rusty Bugles was banned under the New South Wales Theatres and Public Halls Act in October 1948, the day after its premiere. The decade ended with an headline-making court case in Victoria, with Communist Frank Hardy charged with criminal libel for his historical novel Power without Glory at the height of McCarthyism in Australia, culminating in the jury’s refusal to convict Hardy. Four book trials in six years meant literary offense was a standard tagline for Australian newspapers through this period, and public concern was clearly widespread. The outcome of these contests was not liberalisation, however, but an intensification of strictures, both from Customs and from statebased forms of regulation and policing. A postwar boom in the domestic publishing industry, in volume, local content and public profile, after war-time constraints on trade and cultural expression, had occasioned the production of Australian material that directly challenged legal definitions of obscenity, sedition and literature. When in 1944 action from major newspapers in the High Court, Australia’s uppermost court of law, caused the Department of Information’s wartime censorship powers finally to be revoked, state censorship laws came into action, since Customs could not ban domestically-published material from the country. It is possible to suggest that a modern Australian “culture of censorship” was not effectively brought to trial until these cases, despite the controversies that had erupted in sporadic bursts through earlier decades. Before this, no Australian literary publisher or writer had been subjected to a public trial in which defense and prosecution argued the case and a judgment was reported in the press, with the purported offence of a literary book centrally at issue. The “show trials” of the 1940s were a definitive feature of its culture wars, as I suggest in The Censor’s Library, and repay close examination as a sequence. They mark the transference of the contest between state regulation and law enacted in the turn of the century Customs trials to a different set of juridical forums, where the contest was between the state as prosecutor, stepping up as Australia’s custos
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morum in Customs’ absence, and a group of local, relatively unarmed literary texts. In this contest, the question of whether the literary field can be perceived as emergent, in productive contra-distinction to the state, as Bourdieu’s analysis of France’s censorship history might suggest, is a complex one, embracing some multi-dimensional problems about the character of a postcolonial literary field, never defined solely or even primarily by its own literary productions. And if it is autonomy that a literary field seeks, or should seek, even if such autonomy is illusory, as Bourdieu concedes, it is not clear that all of these cases sought to defend art on its own terms. Though the Angry Penguins case can be cast this way, it certainly was not successful in that bid. Witnessing attempts to present the “unvarnished” speech and lives of returning soldiers and working-class white men as the revelatory truth of modern Australian life, the other major scandals of the period sought meaning neither in modernist nor observational detail (Madam Bovary’s “pure demonstration”, as Frances Ferguson terms it28), but in gruff, gritty, jocular story-telling laced usually with leering male desire and wide popular appeal. Each of these cases is highly distinctive, even in the differing genres of the offending texts, including contemporary and historical novels, realist drama and modernist poetry – or hoaxed modernist poetry, to be precise. And each was prosecuted under different legislation passed at different moments by the separate Australian states, starting from the late nineteenth century. These included the notoriously unforgiving South Australian Police Offences Act, notably stricter on obscenity than the old British test sourced from the R. vs Hicklin case of 1868, which famously defined as obscene material that would “deprave and corrupt those whose minds are open to such immoral influences, and into whose hands a publication […] may fall”. The New South Wales Obscene Publications Act was used to convict Angus & Robertson for We Were the Rats, but was amended immediately afterwards to include a ground-breaking provision for literary merit. In contrast, antiquated common law provisions for “obscene libel”, meaning criminally-harmful obscenity, were enlivened to prosecute Robert Close in Victoria, in place of that state’s Obscene Publications Act, because police had missed its twelve-month limit on prosecutions. The New South Wales Theatres and Public Halls Act enabled the Chief Minister to “prohibit or regulate any entertainment where circumstances were such as to warrant such action being taken”,29 and thus to ban Rusty Bugles. And the Victorian statute of criminal libel was used against Hardy, arguably in place of sedition charges because, though available within the federal Crimes Act, these were unlikely to succeed in court. The variety 28 Ferguson, Frances: Pornography, the Theory: What Utilitarianism did to Action. Chicago: Chicago University Press 2004. 103. 29 Play “Rusty Bugles” is Banned. Sydney Morning Herald, 23 October 1948. 1.
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of statutes at play in these cases demonstrates the complex legal terrain created by multiple levels of government and overlapping jurisdictions, resulting in what protests around the Close case identified as the double jeopardy faced by authors and publishers when prosecutors are able to pick and choose more or less serious offences with which to charge them. These very different cases are strikingly similar, however, in the manner of their being brought to court and in the prosecution’s identification of their offences. The first of these is an obvious effect of the historical moment and the temporal contiguity of the trials, which sometimes proceeded simultaneously, as well as the then relatively small size of the Australian legal fraternity and the country’s literary culture. The trials had several common actors, including police, lawyers and judges, as well as literary and book trade figures who knew one another well and emulated, defended or attacked one another. In Adelaide it was Detective J. A. Vogelesang who first instigated charges against editor Max Harris and his magazine Angry Penguins in 1944, and it was he who charged the Adelaide booksellers of Close’s Love Me Sailor in 1946. In Melbourne, Justice Fred Martin sat first on Close’s trial in 1948 and then on Hardy’s trial in 1950. In 1946, before Love Me Sailor was released, Robert Close read the work of Henry Miller on obscenity in the pages of Harris’s Angry Penguins Broadsheet and began a correspondence with Miller. In the same year, Harris, who had been hoaxed by two conservative poets in Sydney into publishing the poetry of fictional figure “Ern Malley” and subsequently prosecuted for obscenity, protested that the outrage expressed in Sydney around the Glassop case should have been directed to Adelaide in 1944.30 Through the Close trials, and certainly after Close was jailed in the middle of 1948, the literary worlds in Sydney and Melbourne ramped up organised protest against such forms of police censorship to an extraordinary degree. This included staging a theatrical version of Love Me Sailor in a marquee rather than an established theatre, in order to avoid incurring the charges under the Theatres and Public Halls Act that succeeded against Rusty Bugles in October of that year.31 The defence of Australian literature as a singular, nationalist literary field is in evidence in these attempts to assert some form of cultural autonomy against the blunt weapons of what were three easily offended and dangerously moralising legal systems. And the forms of defence offered in these trials reflect the kinds of (post)colonial nationalism that have informed Australian literary production since the 1840s.
30 Moore: Censor’s Library (note 4), 167; Moore, Nicole: Obscene and Over Here: National Sex and the Love Me Sailor Obscenity Trial. Australian Literary Studies, 20.4 (2002). 316–329. 31 Moore, Obscene and Over Here (note 30).
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Because these postwar literary trials were pursued within the legal jurisdictions of three separate states, under different statutes, the judges’ decisions in the trials had limited ramifications for national or federal law, beyond building the body of common law that was still applying the Hicklin test. And of course, excepting the Hardy case, which exonerated his book, each trial’s guilty verdict served to bolster or ratify the severity of existing regimes in legal terms, rather than legitimise critique of such. Customs practice did draw on the decisions in limited ways, though only to strengthen its hand. Justice Studdert’s comment in the We Were the Rats case, for instance, that “not everything a man says or does can be the subject of publication to the general public”32, was employed by the Chair of Customs’ Literature Censorship Board in 1958, Kenneth Binns, to prohibit Borstal Boy, the memoir of active IRA member Brendhan Beehan, for its “dirty, offensive language”. Customs’ tight control over the major portion of the book trade continued without interruption through the postwar years and the 1950s. Lauded expatriate Christina Stead’s New York novel Letty Fox was banned by the board in 1947, for example, with no prosecution or trial, enacting the only prohibition on her work in the world.33 Discussing the shift in the “politics of reading” enacted by the 1960 trial of the Penguin Lady Chatterley’s Lover in the UK, Chris Hilliard observes that “social change did not simply overwhelm obscenity law; it was mediated by the particularity of legislative reform”.34 In Australia, that particularity was reflected in the resilience of the federal censorship regime, which, while forced by over-zealous bans into some new transparency in the late 1950s and early 1960s, delayed its response to the UK’s new model of reading by what proved to be five years. Despite the British and American precedents, and the best efforts of the Literature Censorship Board, which recommended the release of the new Penguin edition on two occasions (the first before the outcome of the UK trial), Lady Chatterley’s Lover was banned in Australia until 1965, decisions for its release overruled and denied by Prime Minister Robert Menzies and his Ministerial Cabinet. Control over book importation through the Literature Censorship Board and through Customs itself remained delegated power only, which executive power could resume or take back at moments of political pressure or crisis: this was such a moment.
32 Boyd v. Angus & Robertson Ltd. Quarter Sessions Appeal. NSW Weekly Notes v. 63 (1946). 1–2. 33 Moore, Nicole: The Absolutely Incredible Obscenity of Letty Fox. Journal of the Association for the Study of Australian Literature (JASAL) 2 (2003). 69–79. 34 Hilliard, Is it a Book (note 7), 669.
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III Australian Customs continued to ban books in significant numbers through the 1960s, but it was a third set of high-profile trials in the second half of that decade, one of which challenged Customs directly, that saw the first moves to finally undo its centralised control. These trials also, strikingly, witness the undoing of the literary as a distinctive legal category. With Crowe v. Graham in 1968, and in the wake of industry-led challenges from the late 1950s focusing on popular magazines and comics, cheesecake and pulp, the determining binary of art versus law was increasingly complicated by a more libertarian wish to defend all forms of obscenity in their own right. In 1964, the first Australian Oz magazine trial handed down a severe sentence of six months hard labour under the New South Wales Obscene and Indecent Publications Act, the editors convicted of obscenity seven years before their famous trial in London, where they subsequently moved the magazine. The appeal case ran on testimony from a phalanx of literary experts, who testified to the serious and satiric intent of the magazine’s rude cartoons and toilet humour. Accepting their arguments, Justice Levine also cited changing community standards in upholding the appeal. With other youth-oriented magazines and underground newspapers, Oz launched some key challenges to the censorious mainstream of mid 1960s Australia, and did so for the UK in the early 1970s. At the end of the 1960s came the first court case to be brought against Customs for wrongful seizure of a book, as I outline in The Censor’s Library. Political scientist and gay liberationist Dennis Altman had had two books seized from a parcel he sent to himself from the US, and with the help of the New South Wales Council for Civil Liberties, in late 1969 he brought an action to recover his property in a district court. The Customs Act had been at last amended to restrict a plaintiff’s liability just the year before: Altman’s high-profile case required Customs to defend its judgments in public and in court for the first time in decades. The two banned American books were Gore Vidal’s Myra Breckenridge and Sanford Friedman’s Totempole, both prohibited for their homosexual content, among other obscenities, including detailed trans-gender rape in Myra Breckenridge. In court, Customs read out apparently self-evident “dirt for dirt’s sake” from the two books – Altman’s defense sought to expose Customs’ judgments as both subjective and outof-date.35 Sitting on this case after the Oz case, Justice Levine again acknowledged that community standards had changed, so released Totempole, but went back to
35 Altman, Dennis: How I Fought the Censors and (partly) Won. Meanjin Quarterly, 29.2 (1970). 236–239.
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R. v. Close, citing influential comments from Justice Fullagar in order to debunk any literary defence of Myra Breckenridge: If, in relation to this book, I was to pose the question suggested by Fullagar J. in R. v. Close (6), namely, “Do you think there are passages in it which are just plain dirt and nothing else, introduced for the sake of dirtiness and from the sure knowledge that notoriety earned by dirtiness will command for the book a ready sale?”, my answer would have to be “Yes”.36
Elisabeth Ladenson argues that by the mid-1960s, in the US at least, “variations on the phrase ‘art for art’s sake’ that Justice John Woolsey had inaugurated with his characterisation of Ulysses as not representing ‘dirt for dirt’s sake’ had […] become all but obligatory in arguments on both sides of the debate”.37 Discussing the trials that finally released Fanny Hill to Americans in 1966, she records one prosecution witness “irately” describing the book’s contents as “sex for sex’s sake”, witnessing the abandonment by censors of obscurantist hygiene metaphors, in the face of a new preparedness on the part of cultural producers to defend “pleasure for pleasure’s sake”.38 Levine’s ruling on Vidal’s book (a huge seller in the US and UK) faced off this preparedness in defence of Australian readers, but the momentum for change was certainly present in his court room. Levine’s decision in the Oz appeal case, his release of Totempole and his indictment of Myra Breckenridge in the Altman action nevertheless show a considered differentiation between kinds, degrees and orientations of obscenity – the meticulously planned and described rape in Vidal’s book, which turns a straight character gay, is hard to read as hedonistic pleasure according to contemporary understandings. As a legal category, it can be argued, obscenity was being broken down into differentiated forms of offence – in contested distinction not only from the literary or from indecency or immorality, but from the newly resurgent category of pornography, and also, as it would be more markedly through the 1970s, from sexual violence. The last in this third set of trials was a sub-set of trials in itself – the spectacular group of cases brought in late 1970 against Penguin Australia’s domestic edition of Portnoy’s Complaint by the American writer Philip Roth. With a huge print run (for Australia) of 125,000 copies distributed nationally, Penguin’s co-ordinated challenge to a newly-brokered national censorship regime saw trials or charges brought by police in five of the eight states and territories with markedly varied verdicts. In Western Australia, a literary merit provision protected the novel outright. In Victoria, the magistrate imposed a minimal fine. South Austra36 Altman v. Forbes. NSW Metropolitan District Court (Levine D.C.J.), 4 December 1969, 3 March 1970, 16 April 1970. NSW Weekly Notes 91 (1969–1970). 86. 37 Ladenson, Dirt for Art’s Sake (note 3), 224. 38 Ladenson, Dirt for Art’s Sake (note 3), 224.
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lia refused to bring a prosecution. In New South Wales, under new procedures obscenity trials were heard by juries rather than a single magistrate. The jury was unable to reach a verdict and the New South Wales case had to be re-heard, but the second jury also failed to agree, so the prosecution had to be dropped. The charges pending in Tasmania were then abandoned and Queensland gave up too. Federal Customs finally released Portnoy’s Complaint for importation in mid-1971. After “Portnoy”, both the censors and anti-censorship activists left the literary behind. Western Australia removed the provisions for the defence of literary merit from its Obscene Publications Act immediately afterwards, recognising perhaps that the dividing line between obscenity and the literary was no longer defensible, or even at stake. And from then on, high-profile state court actions were brought against those defending “freedom of communication” for its own sake – a concept not confined to “dirt for dirt’s sake” but certainly encompassing such. In contemporary Australia, it is the Crowe v. Graham trial in the High Court that is still cited, both in accounts of censorship history and in legal argument, and not the literary trials. That case examined obscenity in two underground magazines and its ruling upheld community standards as a measure of offence, overturning the touchstone role given to the Hicklin test in Australian courts since its 1868 pronouncement. The High Court has never adjudicated on the offence of a literary text and this is in large part because Customs control was incontestable for so long.39 The Customs regime was finally undone, moreover, not by a gladiatorial show down in a court room (the outcome of Altman’s case was “a draw”, he declared, and the Customs department had no role in the Portnoy trials), but by the election in 1972 of the first federal Labor government in 23 years, and even then not completely. Within a year, Gough Whitlam’s government had emptied the literary banned list of content, publication censorship was relegated to the lowest priority for Customs inspections, and regulation shifted to points of sale rather than distribution. Celebrations of a new openness in expression, however, belied the fact that the powers of the Customs Act remained intact and the separate states still retained power over the circulation of material (which Queensland and Victoria enforced actively). Within three years, public calls for increased controls would see Customs control begin to be extended again. If book censorship was severe in Australia simply because it could be, as I argue in The Censor’s Library, this reflected the conditions presented by modern 39 The High Court’s other major ruling on obscenity through this period overturned in 1956 the conviction of the Transport Publishing Company under Queensland’s new and draconian Objectionable Literature Act for publishing the magazines Real Love Romance Story and Darling Romance, which were available in every other part of the country – again, another trial about popular rather than literary publications.
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settler postcolonial governmentality, at once enabling the “quarantine culture” of Customs censorship and encouraging the new white nation to go further than the Empire in protecting “Anglo-Saxon values” in the south Pacific.40 And if we conceive of the history of Australian literary censorship as a binary contest between art and the law, seeking an outcome that establishes or confirms the autonomy of the literary field, and as a narrative of postcolonial independence or maturity, we misconstrue the character of Australian postcolonial (post)modernity, and indeed the always already transnational character of former settler colonies broadly. Censorship history in Australia can be seen as a struggle not between art and law, in which the forces for artistic autonomy fight for self-determination, but between the law and the state, with both seeking to occupy the position of a secular custos morum for a postcolonial nation. Caught in that struggle, unless it were to be confined to Australian production only, the literary field has existed in inescapable, indeed, necessary dependence.
40 Moore: Censor’s Library (note 4). Cf. Heath, Purifying Empire (note 17).
Anstelle eines Nachworts
Elmar Schenkel
Die Bücher und die Träume Ich gebe zu, ich träume viel von Büchern. Sie sind Bestandteil meiner Tag- und Nachtträume. Tagsüber lenken sie mich zu Handlungen, die man auch Buchhandlungen nennt. Seltener zu Bibliotheken, denn mit meinem Traum von Büchern ist unweigerlich ein, wenn auch flüchtiger Besitz verbunden. Bücher in Bibliotheken sind wie E-Books. Man darf sie nur ansehen oder aus einer Wolke herunterrufen, um sie später wieder hinaufzuschicken. Oft wird man dabei von anderen beobachtet. In Bibliotheken muss man die Ruhe bewahren, man darf nicht herumspringen, essen oder trinken. Das ist nicht die Welt des Buches, die ich in den Träumen vorfinde. Dort wird es von der Sonne vergilbt, Rauch bläst aus seinen Seiten, Regen fällt auf die Bindung, es wird vom Wind wie eine Möwe getragen, die Buchstaben verwehen wie Asche und formieren sich neu. Denn in die nächtlichen Träume tritt das Buch gern als materielles Ding ein. Es ist ein Besucher aus einer anderen Welt, aber aus Fleisch und Blut. Seine Materie ist geistig aufgeladen. Selbst der Träumer weiß, dass er es mit einem Gegenstand zu tun hat, der ein Innenleben besitzt – wie er oder sie selbst. Wenn de Saussure von der Doppelnatur der Zeichen spricht, so meint er eigentlich, dass die Zeichen ein Außen- wie ein Innenleben haben. Sie bestehen aus einem Bezeichnenden und einem Bezeichneten. Darin aber sind Zeichen mit Menschen und Büchern verwandt. Als John Milton davor warnte, Bücher zu verbrennen, verwies er auf deren Ähnlichkeit zu Menschen. „For Books are not absolutely dead things, but doe contain a potencie of life in them to be as active as that soule was whose progeny they are.“1 So schreibt er in seinem Traktat Areopagitica (1644), der gegen die Zensur gerichtet ist. Bücher haben sogar einen geradezu alchemistischen Wert, sie sind Extrakt des Geistes: „Nay they do preserve as in a violl the purest efficacie and extraction of that living intellect that bred them.“ Aus ihren Buchstaben können bewaffnete Männer springen wie aus jenen legendären Drachenzähnen, gegen die Kadmos antrat, nachdem er den Drachen erlegt hatte. Kadmos ist aber auch Vater der Schrift, er soll die phönizischen Buchstaben nach Griechenland gebracht haben. Milton fährt fort: Wer aber Bücher vernichte, vernichte die Vernunft selbst und treffe ins Herz oder Auge des göttlichen Ebenbildes: „As good almost kill a Man as kill a good Book; who kills a Man kills a reasonable creature, Gods Image; but hee who destroyes a good Booke, kills reason it selfe, kills the Image of God, as it were in the eye.“ Bücher sind 1 Dieses und die folgenden Zitate aus Milton, John: Areopagitica. https://www.dartmouth. edu/~milton/reading_room/areopagitica/text.shtml (1.4.2016).
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damit Inbegriff des menschlichen Traumes von Unsterblichkeit: „A good Booke is the pretious life-blood of a master spirit, imbalm’d and treasur’d up on purpose to a life beyond life.“ Wer Bücher verbrennt, verbrennt die Unsterblichkeit selbst, die „Quintessenz“, das fünfte Element – eine weitere alchemistische Anspielung. Sollte der lang gesuchte Stein der Weisen also nichts anderes sein als – das Buch? Nicht ein Buch, sondern das Buch, die Idee des Buches, wie sie vielleicht Platon im Himmel seiner Ideen sah. Die Alchemisten träumten vom Elixier des ewigen Lebens, dem Jungbrunnen, dem Stein. Die Liebhaber der Bücher können solche Träume gut verstehen. Denn wer ein Buch liest, vertieft sich in andere Lebensläufe und andere Gedankenwelten. Leserinnen vervielfachen ihre eigene Biografie, Denkende folgen dem Geäst anderer Gehirne und deren Assoziationen, immer auf der Suche nach den Früchten der Erkenntnis, die irgendwo an einem weit heraushängenden Ast zu schimmern scheinen. Doch wissen wir längst, dass das Klettern selbst die Erkenntnis darstellt. Als die Alchemisten der frühen Neuzeit in ihrer (fragwürdigen) Blüte standen, wurde der Buchdruck erfunden. Man verbreitete damit zwar auch die Ideen der Alchemisten, doch bemerkte man nicht, dass diese neue Form der Verbreitung selbst ein Elixier wurde. Der Stein der Weisen war in Wirklichkeit ein Ding, das man aufblättern und lesen konnte. Orakelbücher, mantische Gebrauchsanweisungen, Traumbücher, futurologische und prophetische Werke, Stimmen aus dem Jenseits sind Formen, in denen sich das Nicht-Reale, Noch-Nicht-Gewordene oder Schon-Längst-Vergangene zu Wort melden und Einfluss auf die Wirklichkeit zu nehmen suchen. Es sind andere Ordnungen, die auf unsere Ordnung zugreifen wollen. Dazu benutzen sie gern die Bücher und machen sie zu Asphalttrassen, auf denen die Trucks der Ewigkeit einfahren sollen. Kaum berühren sie jedoch die irdische Materie, nämlich das Buchpapier, zerfallen ihre Traumbotschaften. Wirklichkeit könnte man als das definieren, was alles verändert. Die Wirklichkeit ist das Verändernde selbst. Bei Johannes Kepler war die Wirklichkeit der Regen, der durch sein Dach fiel, als er träumte. Im Jahre 1609 hatte er einen merkwürdigen Traum von einer Mondreise. Und der begann mit einem Zwist im Prag. 1608 kam es zwischen Kaiser Rudolf II. und seinem Bruder Erzherzog Matthias zu einem Streit. Da man ihr Verhalten in der böhmischen Geschichte lokalisierte, begann sich Kepler für diese zu interessieren und er wandte sich „der Lektüre böhmischer Literatur zu.“2 Dabei ging er zu den mythischen Ursprüngen der Stadt Prag zurück und stieß auf die Zauberin Libussa. Dann schaute er noch einmal durch sein Fenster auf Mond und Sterne und legte sich schlafen. Nun kommt die Erinnerung an einen Traum: „Und ich sah mich im Schlaf ein Buch durchlesen, das ich in Frankfurt auf 2 Kepler, Johannes. Der Traum, oder: Mond-Astronomie. Berlin: Matthes & Seitz 2011. S. 7.
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der Messe erworben hatte, dessen Text folgender war.“3 Es beginnt also mit einer doppelten Lektüre: zunächst böhmische Literatur, dann ein Buch aus Frankfurt. Dieses Buch aus Frankfurt wäre ohne den Streit, Libussa und den Blick auf die Sterne nicht zustande gekommen. Ich will hier nicht auf die Mondreise eingehen, die das Hauptthema des Buches oder Traumes ist, aber so viel sei gesagt: Der Streit setzt sich fort in einem Streit zwischen Sohn und Mutter; die Zauberin ist die Mutter des Helden im Traum, und der Blick in die Gestirne ist natürlich die Voraussetzung für jeden Flug zum Mond. Die Mondreise stellt jedoch auch eine Versöhnung zwischen Mutter und Sohn dar, denn die Kräuterhexe schenkt dem Sohn nach Ende des Streits eine Begegnung mit einem Monddämon, der solche Reisen erklärt und ermöglicht. Hätte so auch der Dreißigjährige Krieg vermieden werden können, in den der Streit zwischen den Brüdern zehn Jahre später schließlich mündete? Statt Krieg eine Mondreise? Oder nach dem Krieg das Aufblühen der Naturwissenschaften? Wie auch immer, Keplers Traum sollte Folgen haben, nicht zuletzt in den vielen Mondreisegeschichten des 17. bis 19. Jahrhunderts. Der Traum, das heißt das Buch von der Frankfurter Messe, endet so: Kepler erzählt von den klimatischen Bedingungen und den Lebewesen auf dem Mond. Vor allem Schlangen sind dort, denn es ist heiß, und sie rekeln sich vor Höhlen, in die sie sich zur Zeit der größten Hitze verziehen. Einige sterben geradezu in der Hitze, werden nachts aber wieder lebendig, „wie bei uns die Fliegen“, nur andersherum. Es gibt auf dem Boden kleine kegelförmige Gegenstände, aus denen abends Lebewesen hervortreten. Die Hitze wird durch ständige Regenfälle unterbrochen. Und an dieser Stelle beginnt es bei Kepler in seiner nächtlichen Realität zu regnen: Als ich in meinem Traum bis hierhin gekommen war, riss mich ein Sturm mit prasselndem Regen aus dem Schlaf, und zugleich verlor sich das Ende des in Frankfurt beschafften Buches. Und so verließ ich den erzählenden Dämon und die Zuhörer, den Sohn Duracotus mit seiner Mutter Fiolxhilde, deren Häupter verhüllt waren, kehrte zu mir selbst zurück und fand tatsächlich meinen Kopf auf dem Kissen und meinen Körper in Decken gehüllt.4
Kopfkissen, Decke, Mutter und Sohn, Dämon, der isländische Krater, wo man diesem gelauscht hat, all das ist Kepler selbst. Das Buch aus Frankfurt aber machte ihm diese bemerkenswerte Zusammenkunft nicht nur möglich, es hielt sie, für die Dauer eines Traumes, auch fest. Sicherlich half es Kepler, sich an den Traum zu erinnern. Wir wissen, wie schnell Träume morgens zerfallen – hier eine Beschwingung, dort ein schwarzes Fragezeichen, ein Anflug von Gesicht
3 Kepler, Der Traum (wie Anm. 2), S. 7. 4 Kepler, Der Traum (wie Anm. 2), S. 26.
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oder Handlung, und schon hat es sich verflüchtigt wie der vergängliche wohlriechende Hauch von etwas am Wegrand. Wenige Jahre später, nämlich am 10. November 1619, legte sich ein französischer Soldat, der im Dreißigjährigen Krieg unterwegs war, in einem Lager bei Neuburg/ Ulm an der Donau schlafen und hatte nach dem Bericht seines Biografen Adrien Baillet drei merkwürdige Träume.5 Sie sollten den Beginn einer neuen Philosophie signalisieren, wie der Träumer später selbst feststellte. René Descartes träumte zunächst von Wind und Feuerfunken, im dritten Traum aber findet er ein unbekanntes Buch auf seinem Tisch. Es ist ein Lexikon. Wie durch Zauberei verschwindet es und wird durch ein anderes ersetzt. Diesmal handelt es sich um eine Anthologie von Gedichten. Neugierig öffnet er es und liest den Vers „Quod vitae sectabor iter?“ (Welchen Lebensweg soll ich verfolgen?). Ein Mann erscheint, zeigt ihm ein Gedicht, von dem Descartes glaubt, es sei in der Anthologie. Er kann es aber nicht finden. Stattdessen erscheint nun wieder das Lexikon, allerdings hat es sich schon verändert. Er will dem Mann das Gedicht mit dem obigen Vers zeigen, doch ist nun die Anthologie anders geworden. Er kennt sie nicht wieder. Bücher und Mann verschwinden daraufhin, vielleicht wurde ihnen die Konfusion des Träumers zu groß. Descartes jedenfalls sah sich an einer Wegscheide nach diesem Traum (oder schon zuvor, denn deshalb träumte er ihn ja vielleicht). Er glaubte an eine Verbindung der Philosophie (des Lexikons) mit der Dichtung (der Anthologie). Bei Dichtern, so soll er gesagt haben, findet man oft vernünftigere und besser ausgedrückte Gedanken als bei den Philosophen. Ob er sich daran gehalten hat, ist eine andere Frage. Im Schlaf schon begann er übrigens mit der Auslegung seines eigenen Traumes, was zeigt, dass die kritische Funktion ein wesentlicher Bestandteil des Träumens war. Das heißt, wenn der Philosoph dichtend träumt, ist das Lexikon immer schon mit von der Partie. Es gibt noch manche Träume von Philosophen und Gelehrten, von Autoren und Autorinnen, in denen Bücher eine Rolle spielen, Ignaz Ježower hat sie 1928 in seinem Buch der Träume, das er Alfred Döblin widmete, verzeichnet. Ich möchte nur einen Traum von Nietzsche hervorheben, über den dieser 1873 in einem Brief an Malwida von Meysenburg schrieb. Er träumte, er ließe sich das große musiktheoretische Werk von Johann Joseph Fux, den Gradus ad Parnassum, neu einbinden. Daraufhin macht der Philosoph sich selbst zum Buch: Diese buchbinderische Symbolik ist doch verständlich, wenn auch recht abgeschmackt. Aber es ist eine Wahrheit! Von Zeit zu Zeit muss man sich, durch den Umgang mit guten und kräftigeren Menschen gewissermaßen neu einbinden lassen, sonst verliert man einzelne Blätter und fällt mutlos immer mehr auseinander.6
5 Vgl. Ježower, Ignaz: Das Buch der Träume. Frankfurt a. M. u. a.: Ullstein 1985. S. 90–94. 6 Vgl. Ježower, Das Buch der Träume (wie Anm. 5), S. 305.
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Aus Büchern Menschen machen heißt, ihnen Intentionen andichten. So etwas ist im Traum möglich oder aber in einer Serie sinnvoller Zufälle, die einem System zu folgen scheinen. Synchronizität, wie C. G. Jung sie nannte, ist der in die Wirklichkeit tretende Traum, in dem das Entlegenste sinnvoll verbunden scheint. Deshalb klingt wie eine Traumsequenz, wie der große Fabulierer Cyrano de Bergerac sein Mondreisebuch L’autre monde ou les états et empires de la lune (1657/1662) beginnt: Nach einer angeregten Diskussion über den Mond und die kopernikanische Revolution kehrt er nach Hause zurück und findet auf seinem Tisch ein Buch, das sich von selbst dort hingelegt zu haben scheint. Es ist ein Werk des italienischen Mathematikers und Naturforschers Hieronymus Cardanus (1501–1576). Die aufgeschlagene Textstelle (die Gelehrten haben sie leider nicht identifizieren können) zeigt Cardanus, der Besuch von zwei Greisen erhält, die sich als Bewohner des Mondes vorstellen. „Wie“, sagte ich bei mir selber, nachdem ich gerade heute über etwas gesprochen habe, fliegt ein Buch, das vielleicht das einzige auf der Welt ist, in dem dieser Stoff behandelt wird, aus meinem Bücherbrett auf meinen Tisch, wird vernünftiger Überlegung fähig, so dass es sich eben an der Stelle öffnet, wo eine so seltsame Begebenheit erzählt wird […]. Zweifellos […] sind es die beiden Greise, die jenem Großen erschienen, selber gewesen, die mein Buch von seinem Platz genommen haben, um sich die Mühe zu sparen, mir die Rede zu halten, die sie Cardanus hielten.7
Die Erscheinung dieses Buches mit den Greisen hat zur Folge, dass Cyrano sich nun selbst auf den Weg zum Mond machen will, was ihm bekanntlich gelingt. Synchronizität im traumhaften Kleid führt zu neuen Wirklichkeiten. Das Buch ist an der Schnittstelle zwischen Alt und Neu, Vergangenheit und Zukunft. Nebenbei sei bemerkt, dass es auch hilft, zu lange Reden zu ersparen, und das scheint mir kein geringer Vorteil dieses Mediums zu sein. Die Träume Descartes’ und Cyranos haben auch gemeinsam, dass sie halb imaginär sind. Descartes’ Bücher erweisen sich als höchst volatil, fast gasförmig. Cyrano zitiert eine Stelle in Cardanus, die niemand kennt. Damit werden wir auf das Schattenreich der Bücher verwiesen, die es nicht gibt – sei es, weil sie vernichtet oder vergessen wurden, sei es, weil sie noch nicht geschrieben wurden oder niemals geschrieben werden. Hier öffnet sich die dunkle Materie des Nichts, das wir als projizierende und füllende Wesen mit unseren Vorstellungen ausstatten. Der Mensch ist ein Lückenfüller. Da mag man noch so lange das „missing link“ suchen: Wir sind es selbst. Nichts ist unerträglicher als das Nichts.
7 Bergerac, Cyrano de: Mondstaaten und Sonnenreiche. München: Heyne 1986. S. 20f.
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Als Büchersammler hatte Walter Benjamin das Gefühl, er halte seinen abgegriffenen Schmökern die Treue; oder war es vielleicht die Treue zu älteren, unauffindbaren? Den wundervollen nämlich, die mir nur einmal im Traum wiederzusehen gegeben war? Wie hatten sie geheißen? Ich wusste nichts, als dass es diese längst verschwundenen waren, die ich nie wieder hatte finden können. Nun aber lagen sie in einem Schrank, von dem ich im Erwachen einsehen musste, dass er mir nie vorher begegnet war.8
Diese Bücher, die man einmal gelesen zu haben glaubt und von denen allenfalls ein Zipfelchen Erinnerung fortlebt – aber sobald man es ergreift, zerfällt es –, diese kaum noch erinnerbaren Bücher fallen allmählich einer imaginären Bibliothek anheim. Solche Bibliotheken und (fast) ungeschriebenen Bücher sind von Anfang an die Schatten gewesen, die die realen Büchersammlungen begleiteten. Man vermutet, dass schon der Menschenvater Adam zwölf Bücher schrieb, eines davon über den eigenen Stammbaum. Sein Sohn Abel verfasste eine Studie zur Pflanzenkunde, Noah ging mathematischen Fragen nach. So zumindest behauptet es J. F. Reimann in seinen antediluvianischen Untersuchungen von 1703. Nach dem Brand der Bibliothek von Alexandrien konnte man zwar einzelne Titel oder Autoren rekonstruieren, aber der größte Teil ist Sache der Imagination geworden. Rabelais, Freund und Spötter der Gelehrsamkeit, ließ seinen Helden Pantagruel die Bibliothek von St. Victor erkunden. Darin befinden sich Standardwerke wie das dreibändige Wie man Schinken schlingt oder Über die ehrsame Kunst des Furzens in Gesellschaft und Volkstänze für Häretiker. Der schlaflose Dickens erfand zur Dekoration seiner Wände Buchtitel, so Hansards Ratgeber zur Erlangung eines erquickenden Schlafes in 19 Bänden. Thomas Carlyle ließ seinen Philosophen Professor Teufelsdröckh von der Universität Weissnichtwo einen Traktat über Die Kleider, ihr Werden und Wirken verfassen (in Sartor Resartus, 1833). Stanisław Lem schrieb Rezensionen zu zahlreichen nie erschienenen Büchern. Jorge Luis Borges erfand sich einen Autor, dessen Werk er dann rezensieren konnte, um daraus seine eigenen literarischen Texte zu machen. Erfindungen sind immer gut, um Blockaden welcher Art auch immer zu umgehen. Auch der Romantiker Samuel Taylor Coleridge litt oft unter Schreibhemmungen. Eines Abends nahm er eine Dosis Opium ein, um seine Schmerzen zu vertreiben. Er fiel in einen traumreichen Schlaf. Als er aufwachte, glaubte er, ein riesiges fantastisches Gedicht geträumt zu haben. Er setzte sich hin und schrieb die ersten Verse nieder. Sie handeln von einem mongolischen Khan, Kublai Khan, der sich in äußerster Wildnis einen gewaltigen Palast erbaut. Dann folgen Verse über ein abessinisches Mädchen, das ein Musikstück spielt, und schließlich über 8 Vgl. Benjamin, Walter. Träume. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. S. 37.
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einen Mann mit langen Haaren und strahlenden Augen, der in einem magischen Zirkel steht, da er die Milch des Paradieses getrunken habe. Damit bricht das Gedicht ab. Coleridge erklärte, er sei von einem Besucher aus dem Nachbardorf Porlock besucht worden. Seither gilt diese „person from Porlock“ als perfekte, dazu alliterierende Entschuldigung für den Fall, dass man etwas nicht vollendet hat. In einer Notiz zu dem Gedicht „Kublai Khan“ stellt Coleridge fest, dass er am Abend zuvor in ein historisches Reisebuch vertieft war, Purchas His Pilgrimage (1613). Dieses Buch des Pfarrers Samuel Purchas aus Essex, eine Kompilation von unter anderem Orientreisen, pflanzte sich in den Traum fort und keimte dort als Gedicht auf. Jorge Luis Borges stellt in einem Essay über Coleridges Traum fest, dass dieser möglicherweise Teil einer Traumserie war. Coleridge konnte demnach nichts über einen solchen Palast wissen, er muss seiner Fantasie oder dem Opiumtraum entsprungen sein. Der Palast blieb Fragment so wie das Gedicht. Zwanzig Jahre nach Coleridges Traum, also 1816, erschien in Bruchstücken die Übersetzung einer arabischen Geschichtensammlung. Darin hören wir von dem mongolischen Kaiser, der im Traum einen Palast erschaute und ihn nach diesem Modell erbauen ließ. 1691 fand man nur noch die Trümmer dieses Palastes vor. Borges kommt zu einem bemerkenswerten Schluss: Diese Tatsachen lassen die Vermutung zu, dass die Folge der Träume und der Arbeiten ihr Ziel noch nicht erreicht hat. Dem ersten Träumer wurde in der Nacht die Schau des Palastes geschenkt, und er erbaute ihn; dem zweiten, der von dem Traum des Früheren nicht wusste, das Gedicht über den Palast. Wenn es bei dem Schema bleibt, wird vielleicht irgendein Leser Kubla Khans in einer Nacht, von der wir durch Jahrhunderte getrennt sind, einen Marmor oder eine Musik träumen. Dieser Mensch wird von dem Traum der beiden anderen nicht wissen. Vielleicht wird die Traumreihe nie zu Ende sein, vielleicht ist der Schlüssel zu ihr im letzten Traum.9
Man kann diese Sequenz erweitern. Jedes Buch, das wir einmal gelesen haben, ist in der Erinnerung immer nur Bruchstück, es gesellt sich dem Imaginären und den Träumen zu. Wenn das Leben ein Traum ist, wie es Calderón oder Shakespeare glaubten, was ist dann das Buch? Ich denke, es kann eine Form des Erwachens sein, das uns auf den Traum aufmerksam macht. Es ist dann ein Ort, von dem aus man den Traum beobachten kann, eine Art luzides Träumen. Vielleicht ist das Leben auch ein hypnagogischer Zustand, zwischen Wachen und Einschlafen. Darin können sich Bücher mit Menschen verwischen. Etwa bei Marcel Proust, der sich beim Einschlafen beobachtet und feststellt, dass er sich in das zuvor Gelesene verwandelt: eine Kirche, ein Quartett oder die Rivalität zwischen Franz I. und Karl V. Im nächsten Schritt wird all dies zu einem fernen Spuk, als erinnere er 9 Vgl. Borges, Jorge Luis. Essays 1952–1979. München: Hanser 1981. S. 23.
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sich auf der Seelenwanderung an frühere Daseinsformen. Das Thema des Buches entlässt ihn, er findet eine neue Freiheit. So jedenfalls erfährt er seinen Weg durch diesen Zwischenzustand, der vielleicht dem zwischen Leben und Tod ähnelt.10 Aus all dem ist zu schließen, dass die Beschäftigung mit Büchern etwas sehr Existenzielles für den Menschen sein kann. Das Machen von Büchern und ihre Lektüre sind Metaphern unseres Bewusstseins und seiner Taten in dieser Welt. Nach Francis Bacon gibt es zwei entscheidende Bücher auf der Erde: Das eine ist die Heilige Schrift, das andere ist das Buch der Natur. Sind sie verschieden oder sind beide nur Offenbarungen des Einen Selben? Vermutlich hat der arabisch oder hebräisch diktierende Gott, der auch des Sanskrits mächtig sein muss, der Wirklichkeit namens Natur einen Traumbericht hinzugefügt, den einige die Bibel, andere den Koran oder wiederum andere die Veden nennen. Diese Bücher einer schöpferischen Imagination stellen die somnambule Begleitung zu der Musik des Universums dar. An ihnen kann die Natur die Träume erahnen, aus denen sie hervorgegangen ist und in die sie wieder eingehen wird. Bis heute aber gilt die Frage, wer der Verleger dieses Buches ist und wer es gebunden hat, wer den Vertrieb leitet und die Öffentlichkeitsarbeit macht. Buchwissenschaft kann durchaus der Theologie auf die Sprünge helfen.
10 Vgl. Proust, Marcel. A la recherche du temps perdu. Vol. I. Paris: Pléiade 1954. S. 3.
Autorinnen und Autoren Hans Altenhein, Prof. Dr. phil., geb. 1927 in Siegen, studierte Germanistik und Anglistik in Köln und absolvierte anschließend eine Buchhandelslehre. Bis 1987 Verlagsbuchhändler und Verlagsleiter (Fischer Bücherei, Luchterhand Verlag), danach Publizist und Lehrbeauftragter für Buchwissenschaft in Darmstadt, Frankfurt und Mainz. Honorarprofessor der TU Darmstadt; ehemaliges Ordentliches Mitglied der Historischen Kommission des Börsenvereins. Patricia F. Blume, M. A. (geb. Zeckert), geb. 1980 in Halle/Saale, studierte Anglistik und Kommunikations- und Medienwissenschaft in Leipzig und Brest (Frankreich), arbeitete als Lektorin und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Buchwissenschaft der Universität Leipzig. Sie betreute die Flachware, den Almanach der Buchwissenschaft, publizierte selbst u. a. zu ungelesenen Büchern sowie zur Leipziger Buchmesse in der DDR (Dissertationsprojekt) und forscht zum Buchhandel im östlichen Europa. Vera Dumont, M. A., geb. 1981 in Sindelfingen, studierte in Leipzig und Lyon Kommunikationsund Medienwissenschaft mit Schwerpunkt Buchwissenschaft sowie Komparatistik und Frankreichstudien. Nach dem Studium war sie mehrere Jahre im Kuratorium Haus des Buches e. V./ Literaturhaus Leipzig tätig. Zurzeit arbeitet sie an ihrer Dissertation zur Literaturvermittlung in westdeutschen Buchgemeinschaften der Nachkriegszeit und forscht zum Buchhandel in der französischen Besatzungszone. Monika Estermann, Dr. phil., geb. 1942 in Meschede/Westf., Studium in Bonn. 1982–2007 Betreuung der Historischen Kommission des Börsenvereins und deren Publikationen Archiv für Geschichte des Buchwesens, Buchhandelsgeschichte sowie der Geschichte des deutschen Buchhandels; zusammen mit Edgar Lersch Buch, Buchhandel und Rundfunk (5 Bde. 1997–2003). Zahlreiche eigene Publikationen zur Briefkultur des 17. Jahrhunderts, zur Gutenbergrezeption, zur Buch- und Verlagsgeschichte. In Vorbereitung: Deutsche Buchkultur im 19. Jahrhundert, Bd. 2,1. Maximilian-Gesellschaft 2016. Franziska Galek, M. A., geb. 1983 in Mühlhausen (Thür.), studierte Theaterwissenschaft, Kommunikations- und Medienwissenschaft sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Leipzig, 2010–2013 Lehrtätigkeit im Fachbereich Buchwissenschaft des Instituts für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig, Promotionsprojekt zum Henschelverlag in der DDR, seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Archiv der Akademie der Künste Berlin, Literaturarchiv. Thomas Gepp, M. A., geb. 1953 in Essen, studierte Romanistik, Geschichte und Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Paris IV. Lehrer für Französisch und Geschichte in Recklinghausen. Veröffentlichungen zur Lokalgeschichte des Ruhrgebiets. Thomas Glöß, Dr. phil., geb. 1956 in Berlin, ist gelernter Buchdrucker und promovierter Kunsthistoriker. Diplom- und Meisterschülerstudium Grafikdesign an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig bei Prof. Gert Wunderlich und am California College of Arts & Crafts, San Francisco, USA, diverse Lehraufträge für Kommunikations- und Grafikdesign, Typografie und Druckgeschichte u. a. an der TU Chemnitz und im Bereich Buchwissenschaft der Universität Leipzig, arbeitet seit 1999 als freiberuflicher Grafikdesigner in Leipzig.
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Autorinnen und Autoren
Detlef Haberland, Prof. Dr. phil. habil., geb. 1953 in Teltow/Potsdam, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Oldenburg, lehrt Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Reiseliteratur und ‐kultur (Olearius, Kaempfer, Seetzen), Buch- und Druckgeschichte vornehmlich im östlichen Europa, Literatur der Romantik, Wissenschafts- und Gelehrtengeschichte der Frühen Neuzeit. Eyk Henze, M. A, geb. 1981 in Bernburg, studierte Kommunikations-, Medien- sowie Kulturwissenschaften in Leipzig und Dublin. Er forscht zu Editions- und Diskursgeschichte(n) im 20. Jahrhundert. Lehraufträge in Kultursoziologie und Buchwissenschaft sowie diverse Tätigkeiten in Medienwirtschaft, Kultur- und derzeit Wissenschaftsmanagement. Er ist Verleger der ed[ition]. cetera. Martin Hochrein, M. A., geb. 1986 in Bad Kissingen, lebt in Leipzig und ist Produktmanager in einem Fachbuchverlag und Lehrbeauftragter im Fachbereich Buchwissenschaft an der Universität Leipzig. Nach einer Ausbildung zum Mediengestalter studierte er Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Leipzig. In seiner Abschlussarbeit und der Lehre widmet er sich der Personen- und Ideengeschichte der Anderen Bibliothek. Thomas Keiderling, PD Dr. phil., geb. 1967 in Berlin, studierte Geschichte, Journalistik und Kulturwissenschaften in Leipzig und Newcastle upon Tyne (Großbritannien) und im Fernstudium Bi bliotheks- und Informationswissenschaft in Berlin. Tätigkeit beim Lexikonverlag BI/Brockhaus, 2003–2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig, seit 2012 Aufarbeitung des Verlagsarchivs Vandenhoeck & Ru precht an der Staatsbibliothek zu Berlin; wissenschaftliche und publizistische Arbeiten, derzeit in Vorbereitung: Lexikon der Medien- und Buchwissenschaft: analog – digital in drei Bänden (Stuttgart). Seit 2004 Korrespondierendes Mitglied der Historischen Kommission des Börsenvereins. Thekla Kluttig, Dr. phil., geb. 1968 in Wesel, studierte Geschichte und Politische Wissenschaften in Bonn und Hamburg und absolvierte 1995–1997 das Referendariat für den höheren Archivdienst in Dresden und Marburg. Seit 1997 war sie in verschiedenen Funktionen in der Sächsischen Archivverwaltung tätig, von 2002–2006 als Abteilungsleiterin im Hauptstaatsarchiv Dresden, seit 2008 als Referatsleiterin im Staatsarchiv Leipzig. Dort ist sie u. a. für das Archivgut von Verlagen zuständig. Carmen Laux, M. A., geb. 1986 in Eilenburg, studierte von 2004 bis 2010 Anglistik und Kommunikations- und Medienwissenschaft mit Schwerpunkt Buchwissenschaft an der Universität Leipzig, Magisterarbeit zur Geschichte des Verlags Philipp Reclam jun. in Leipzig von 1945 bis 1953, Weiterführung der Studien zu Reclams Verlagsgeschichte im Rahmen eines Promotionsvorhabens. Christoph Links, Dr. phil., geb. 1954 in Caputh/Potsdam, studierte Philosophie und Lateinamerikanistik in Berlin und Leipzig, arbeitete als Redakteur der Berliner Zeitung, war von 1986 bis 1989 Assistent der Geschäftsleitung im Aufbau-Verlag und gründete im Dezember 1989 den Ch. Links Verlag. Zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen sowie Herausgaben zur Literatur- und Zeitgeschichte; Ordentliches Mitglied der Historischen Kommission des Börsenvereins.
Autorinnen und Autoren
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Melanie Mienert, M. A. (geb. Schlag), geb. 1983 in Naumburg, absolvierte ein Magisterstudium der Kommunikations- und Medienwissenschaft, Anglistik und Amerikanistik an der Universität Leipzig bis Ende 2007. Seit 2008 ist sie Lehrbeauftragte und Mitarbeiterin am Leipziger Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft im Fachbereich Buchwissenschaft, seit September 2014 Mitarbeiterin im Verlag: J.G. Seume im Bereich PR und Marketing. Dissertationsprojekt zum Thema „Der Verlag Walter de Gruyter 1923 bis 1967“. Nicole Moore, Prof. Dr. phil., geb. 1969 in Robinvale, ist Professorin für englische Literatur an der University of New South Wales in Canberra (Australien). Sie ist Herausgeberin der beiden Sammelbände Censorship and the Limits of the Literary: A Global View (Bloomsbury 2015) und Australian Literature in the German Democratic Republic: Reading through the Iron Curtain (Anthem 2016, mit Christina Spittel). Gemeinsam mit Nicholas Birns und Sarah Shieff bereitet sie einen Band zur australischen und neuseeländischen Literatur für die Reihe MLA Options for Teaching vor, und sie schreibt an einer Biografie der australischen Autorin Dorothy Hewett. Berthold Petzinna, Dr. phil., geb. 1954 in Essen, studierte Geschichte, Philosophie und Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. 1996 Promotion zum Jungkonservatismus in der Weimarer Republik. Vertretungsprofessor an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Veröffentlichungen zur Lokalgeschichte des Ruhrgebiets und zur deutschen Mentalitäts- und Mediengeschichte. Marek Rajch, Dr. phil., geb. 1971 in Niechanowo, ist seit 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanische Philologie an der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen, Abteilung für Deutsch-Polnische Literaturbeziehungen. Untersuchungen und Veröffentlichungen zur literarischen Zensur in Deutschland und in Polen im 19. und 20. Jahrhundert, zu deutsch-polnischen politischen, kulturellen und literarischen Beziehungen und zur Geschichte des deutschen Theaters in Polen. Julia Rinck, M. A., geb. 1970 in Dohna, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Musikwissenschaften an der Universität Leipzig; sie ist Spezialistin für Papiergeschichte, historische Buntpapiertechniken und moderne Papierveredelung und Initiatorin der Website www.buntpapier.org; Lehraufträge im Bereich Buchwissenschaft der Universität Leipzig und an der HTWK Leipzig; seit 2015 ist sie Ausstellungskuratorin am Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig. Martin Sabrow, Prof. Dr. phil. habil., geb. 1954 in Kiel, Studium der Geschichte, Germanistik und Politologie in Kiel und Marburg/Lahn. 1993 Promotion an der Universität Freiburg mit einer Dissertation zum Rathenaumord, 2000 Habilitation an der FU Berlin mit einer Arbeit über die DDR-Geschichtswissenschaft. 2004 Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Potsdam und Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam. 2009 Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen zur politischen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, zur DDRund Diktaturforschung sowie zur Geschichte der Geschichtskultur und -wissenschaft.
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Autorinnen und Autoren
Klaus G. Saur, Prof. Dr. h. c. mult., geb. 1941 in Pullach bei München, Übernahme des kleinen väterlichen Verlags 1963. 1978 entwickelte er daraus den K. G. Saur Verlag mit Tochterunternehmen in New York, London und Paris. 1987 verkaufte er ihn, blieb aber bis 2003 Geschäftsführer. 2005 geschäftsführender Gesellschafter und Vorsitzender der Geschäftsführung, 2006–2008 alleiniger Geschäftsführer bei Walter de Gruyter. Unter Saurs Leitung konnte de Gruyter die Verlage K. G. Saur und Max Niemeyer durch Zukauf erwerben, wodurch das Unternehmen zu einem der größten geisteswissenschaftlichen Verlage avancierte. Seit 2008 im Ruhestand. Zahlreiche Ehrenämter und Auszeichnungen; Vorsitzender der Historischen Kommission des Börsenvereins. Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a. Traumberuf Verleger (Hamburg 2011) und Verlage im „Dritten Reich“ (Hrsg., Frankfurt am Main 2013). Elmar Schenkel, Prof. Dr. phil. habil., geb. 1953 in Hovestadt bei Soest/Westf., ist Professor für Englische Literatur an der Universität Leipzig und liebt Bücher. Zu sammeln begann er mit etwa zwölf Jahren. Inzwischen versucht er, viele Bücher wieder loszuwerden, aber es gelingt nur schlecht und recht. Manchmal schreibt er eins, aber das macht die Dinge auch nicht besser. Über Bücher und Lesen hat er sich in einigen Essaybänden Gedanken gemacht: Der aufgefangene Fall (Eggingen 1993), Die Stille und der Wolf (Mannheim 2014) und Die Wörter in der Troposphäre (Norderstedt 2015). Kerstin Schmidt, M. A., geb. 1978 in Jena, Studium der Germanistik, Journalistik und Psychologie an der Universität Leipzig. Neben dem Studium in Buchverlagen und im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig tätig. Im Anschluss absolvierte sie ein Verlagsvolontariat. Derzeit schreibt sie an ihrer Dissertation über den VEB Hinstorff Verlag Rostock (1959–1990). Die Arbeit wird unterstützt von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Hannes Siegrist, Prof. Dr. phil. habil., geb. 1947 in Zofingen (Schweiz), emeritierter Professor für Vergleichende Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des modernen Europa, Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig und Ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Uwe Sonnenberg, Dr. phil., geb. 1976 in Ludwigsfelde, studierte Politikwissenschaften und Ge schichte. Während seines Studiums gehörte er selbst einige Jahre einem Buchladenkollektiv an. Forschungsschwerpunkte in der deutsch-deutschen und europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, zur Gesellschaftsgeschichte der Linken sowie zur Buch- und Verlagsgeschichte; zurzeit am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Wichtigste Veröffentlichung Von Marx zum Maulwurf . Linker Buchhandel in Westdeutschland in den 1970er Jahren (Göttingen 2016). Ingrid Sonntag, Dipl.-Germ., geb. 1953 in Gera, Germanistikstudium in Leipzig, Lektorin im Mitteldeutschen Verlag und in der Kiepenheuer-Gruppe; 1992–2003 Geschäftsführerin der Freien Akademie der Künste zu Leipzig, freiberufliche Lektorin, Tätigkeit für die Leipziger Buchwissenschaft, Leitung des Projekts „Reclam als Erinnerungsspeicher und Labor“. Herausgaben mit Siegfried Lokatis: Heimliche Leser in der DDR (Ch. Links 2008), 100 Jahre Kiepenheuer-Verlage (Ch. Links 2011). In Vorbereitung: An den Grenzen des Möglichen. Reclam Leipzig 1945–1991 (Ch. Links 2016).
Autorinnen und Autoren
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Dorothea Trebesius, Dr. phil., geb. 1980 in Apolda, studierte Kulturwissenschaften und Musikwissenschaft sowie Kommunikations- und Medienwissenschaft in Leipzig und Lyon. 2010 promovierte sie an der Universität Leipzig mit einer Arbeit zum Thema „Komponieren als Beruf. Frankreich und die DDR im Vergleich“. Nach ihrer Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig arbeitet Dorothea Trebesius seit 2013 als Referentin bei der Studienstiftung des deutschen Volkes in Bonn. Konstantin Ulmer, Dr. phil., geb. 1983 in Bielefeld, studierte Germanistik, Politik-, Kommunikations- und Medienwissenschaft in Leipzig und La Paz (Bolivien). 2015 Promotion über den Luchterhand Verlag im deutsch-deutschen literarischen Leben. Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Verlags- und Zensurgeschichte, DDR-Literatur, Arbeiterliteratur und zeitgenössische Prosa. Derzeit im kulturellen Projektmanagement, als Literaturkritiker und Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg beschäftigt. Krzysztof Żarski, Dr. phil., geb. 1976 in Wrocław, ist seit 2006 Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Wrocław/Breslau. Veröffentlichungen und Untersuchungen zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik, Verlagsgeschichte sowie zur modernen deutschen Diaristik. Von 2013–2016 leitete er das Forschungsprojekt der Polnischen Forschungsgemeinschaft (PFG/ NCN) „Breslauer Germanistik in den Jahren 1810–1918. Seminar, Mitarbeiter, Studenten“.