Bürgerinnen und Bürger: Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. 12 Beitr. Vorw. v. Jürgen Kocka 9783647357393, 3525357397, 9783525357392


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Bürgerinnen und Bürger: Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. 12 Beitr. Vorw. v. Jürgen Kocka
 9783647357393, 3525357397, 9783525357392

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Bürgerinnen und Bürger Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert

Zwölf Beiträge Mit einem Vorwort von Jürgen Kocka Herausgegeben von

Ute Frevert

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Bürgerinnen und Bürger:

Geschlechterverhältnisse im 19. J h . ; 12 Beirr. / mit e. Vorw. von Jürgen Kocka. Hrsg. von Ute Frevert. Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht, 1988 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 77) ISBN 3-525-35739-7 NE: Frevert, Ute [Hrsg.]; GT

© 1988, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen - Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesetzt aus Bembo auf Linotron 202 System 4 (Linotype). Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

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Inhalt

Vorwort (Jürgen Kocka)

7

UTE FREVERT

Einleitung

11

UTE FREVERT

Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert

17

ISABEL V. HULL

›Sexualität‹ und bürgerliche Gesellschaft

49

DIRK BLASIUS

Bürgerliche Rechtsgleichheit und die Ungleichheit der Geschlechter. Das Scheidungsrecht im historischen Vergleich

67

KARIN HAUSEN

» . . . eine Ulme für das schwanke Efeu«. Ehepaare im Bildungsbürgertum. Ideale und Wirklichkeiten im späten 18. und 19. Jahrhundert

85

YVONNE SCHÜTZE

Mutterliebe - Vaterliebe. Elternrollen in der bürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts

118

HUGH MCLEOD

Weibliche Frömmigkeit - männlicher Unglaube? Religion und Kirchen im bürgerlichen 19. Jahrhundert

134

MARION KAPLAN

Freizeit-Arbeit. Geschlechterräume im deutsch-jüdischen Bürgertum 1870-1914

157 5

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ERIC J . HOBSBAWM

Kultur und Geschlecht im europäischen Bürgertum 1870-1914 . . . .

175

HERRAD U. BUSSEMER

Bürgerliche Frauenbewegung und männliches Bildungsbürgertum 1860-1880

190

JÜRGEN KOCKA

Einige Ergebnisse

206

UTE GERHARD

Andere Ergebnisse

210

Die Autorinnen und Autoren

215

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Vorwort

Vom Oktober 1986 bis zum August 1987 bestand im Zentrum für Interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld eine Forschungsgruppe zum Thema »Bürgertum, Bürgerlichkeit und bürgerliche Gesellschaft. Das 19. Jahrhundert im europäischen Vergleich«. Etwa 40 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus verschiedenen Disziplinen und Ländern nahmen daran teil. Zu den Zielen gehörte es (a) das Bürgertum als gesellschaftliche Großgruppe (›Formation‹) des 19. Jahrhunderts näher zu untersuchen, (b) nach der Bedeutung, dem Realisierungsgrad und den Grenzen der Bürgerlichkeit verschiedener sozialer, kultureller, ökonomischer und politischer Bereiche (Literatur, Unternehmerverhalten, Liberalismus, Behandlung von Minderheiten etc.) zu fragen sowie (c) die deutsche Entwicklung im internationalen Vergleich zu erforschen, um herauszufinden, ob es in bezug auf das Bürgertum und die Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts so etwas wie einen deutschen ›Sonderweg‹ gab, inwiefern, warum und inwieweit nicht. Die Ergebnisse dieser Forschungsgruppe werden gesondert veröffentlicht (J. Kocka [Hg.], Das Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, München 1988). Im Rahmen dieses Projektes fanden mehrere Konferenzen statt, an denen auch Wissenschaftler teilnahmen, die nicht zur Forschungsgruppe gehörten. Nach einer Vorbereitungskonferenz, deren Ergebnisse bereits veröffentlicht wurden (J. Kocka [Hg.], Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987) und einer Auftaktveranstaltung Anfang Oktober 1986 wurden Konferenzen zu folgenden Themen abgehalten: Bürgerliche Gesellschaft, Bürgertum und Geschlechterverhältnis im 19. Jahrhundert (Leitung: Ute Frevert); Bürgertum und Liberalismus im 19. Jahrhundert: Deutschland im europäischen Vergleich (Leitung: Dieter Langewiesche); das Bürgertum in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert (Leitung: Waclaw Dlugoborski); Professionalisierung und Bürgertum (Leitung: Hannes Siegrist). Die Ergebnisse dieser Konferenzen sollen in vier Bänden der »Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft« veröffentlicht werden. Im folgenden finden sich die überarbeiteten Beiträge zur Konferenz über »Bürgerliche Gesellschaft, Bürgertum und Geschlechterverhältnis im 19. Jahrhundert« (22.-24.1. 1987), die von Ute Frevert, Bielefeld, vorbereitet und geleitet wurde. Die Thematik wäre vermutlich noch vor zehn Jahren nicht zum Gegenstand einer Konferenz gemacht worden. Daß dies möglich geworden ist, dafür können frauen- und geschlechtergeschichtliche Initiati-

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ven der letzten Jahre das Verdienst beanspruchen. Es ist unschwer zu erkennen, daß die Thematik von zentraler Bedeutung für die Fragen nach Bürgertum und Bürgerlichkeit ist, zumindest in dreifacher Weise: 1. erlaubt sie, die Frage nach den inneren Differenzierungen, Spannungen und Verflechtungen der sozialen Großgruppe »Bürgertum« genauer zu stellen. In der Regel untersucht man die Lage-, Interessen-, Erfahrungs- und Haltungsunterschiede von Wirtschafts- und Bildungsbürgertum, von Groß- und Kleinbürgertum, von verschiedenen bürgerlichen Berufs- und Herkunftsgruppen, wenn es darum geht, die inneren Differenzierungen des Bürgertums zu erfassen. Neben der konfessionellen Differenzierung wird die nach Geschlecht in der Regel vernachlässigt. 2. Man weiß aus der Arbeitergeschichte, daß Männer und Frauen verschiedenartige Beiträge zur Klassenbildung geleistet haben, entsprechend ihren unterschiedlichen Positionen im System der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Zweifellos fand im 19. Jahrhundert so etwas wie die Konstituierung des Bürgertums statt: die Herausbildung einer sozialen Großgruppe »Bürgertum« mit gemeinsamem Nenner und abgrenzender Besonderheit, mit gemeinsamen Interessen und Erfahrungen, Binnenverflechtung und Außenabgrenzung, Gemeinsamkeitsbewußtsein und kollektiven Handlungspotentialen, obwohl die Grenzen dieses Konstituierungsprozesses immer sehr deutlich blieben, denn das Bürgertum war innerlich äußerst heterogen, nach außen verfließend, empirisch und begrifflich schwer zu fassen. Dies war ein zentrales Thema der einjährigen Forschungsgruppe. Welches waren die spezifischen Beiträge von Bürgerinnen zu diesem Konstituierungsprozeß? Als Mütter, Erzieherinnen und Verwalter des tradierbaren »kulturellen Kapitals«? Als Ehe- und Hausfrauen, die den Männern außerhäusliche Tätigkeiten allererst ermöglichten? Als Organisatoren und Gestalter von nicht in Arbeit und Politik aufgehenden, für soziale Konstituierungsprozesse gleichwohl zentral wichtigen Tätigkeiten und Räumen (ζ. Β. »Frei­ zeit«, »Kultur«)? Durch Teilhabe an Kommunikationsnetzen, die zur sozia­ len Konstituierung von Großgruppen gehören? 3. »Der gesellschaftliche Fortschritt läßt sich exakt messen an der gesellschaftlichen Stellung des schönen Geschlechts (die Häßlichen eingeschlossen)«, schrieb Marx an Kugelmann am 12. 12. 1868. Dieser Gedanke läßt sich auf bürgerliche Gesellschaft und Bürgerlichkeit beziehen und in doppelter Weise konkretisieren: Knüpft man - einerseits - an den freiheitlichen und egalitären Elementen des Projekts »Bürgerliche Gesellschaft« an, dann läßt sich der erreichte Grad von Bürgerlichkeit gegebener Gesellschaften auch daran messen, welche - mehr oder weniger gleichen - Selbstverwirklichungschancen sie den Individuen ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer Rasse und ihres Geschlechtes einräumen. Das Maß der Durchsetzung der Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft läßt sich dann u. a. am Grad der Emanzipation und Gleichstellung der Frauen in einer Gesellschaft ablesen. Und andererseits läßt sich argumentieren, daß fundamentale soziale Ungleichhei-

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ten zu den Funktionsvoraussetzungen jeder bürgerlichen Gesellschaft gehören - stillschweigend, entgegen ihren Ansprüchen oder mühsam legitimiert. Viel spricht dafür, daß neben den sozialen Klassenunterschieden zwischen Produktionsmittelbesitzern und Lohnarbeitern die Geschlechterdifferenz zu diesem konstitutiven Ungleichheitssockel bürgerlicher Gesellschaften gehört. Es ist ja im Rückblick nicht zu übersehen, wie selbstverständlich Frauen die Staatsbürgereigenschaft bis ins 20. Jahrhundert hinein vorenthalten wurde. Wer das Privatrecht mit Dieter Grimm als zentrale Säule bürgerlicher Gesellschaften versteht, muß beeindruckt sein von der sich auch noch verschärfenden Ungleichheit zwischen Männern und Frauen in verschiedenen Privatrechtsbereichen. Ute Gerhard hat dies früh herausgearbeitet. Zwar wurde die soziale Diskriminierung der Frauen früher allmählich reduziert als ihre öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Unterberechtigung, aber dafür hielt sie sich länger, teilweise bis heute. War und ist diese geschlechtsspezifische Ungleichheit vielleicht konstitutiv für bürgerliche Gesellschaften? Dies war ein kontroverser Diskussionspunkt während der hier dokumentierten Konferenz und während der Arbeit der Forschungsgruppe insgesamt. Von der Antwort hängt viel für die Beurteilung des Projekts »Bürgerliche Gesellschaft« ab. Die folgenden Beiträge liefern Bausteine für diese Antwort, die umfassend nur gegeben werden könnte, wenn intensiv mit vorbürgerlichen Zeiten verglichen und die Untersuchung bis in die Gegenwart hinein fortgeführt würde. Unbestreitbar aber ist: Ob man nun dazu tendiert, die fortdauernde Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im 19. Jahrhundert als notwendigen Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft zu verstehen oder ob man eher meint, diese Ungleichheit als einen Widerspruch zu den Grundprinzipien bürgerlicher Gesellschaften zu sehen, der sich zwar lange hielt, aber dennoch als Konsequenz dieser Grundprinzipien allmählich zu weichen hat - die geschlechtergeschichtliche Perspektive und damit die hier zu dokumentierende Konferenz erhalten dadurch zentrale Bedeutung für die Frage nach dem Bürgertum und der Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts. Auch für den Vergleich Deuschlands mit anderen Ländern mag dadurch Neues zu gewinnen sein. Wie die Forschungsgruppe insgesamt wurde auch diese Konferenz vom Bielefelder Zentrum für Interdisziplinäre Forschung (ZiF) ermöglicht und beherbergt. Dafür gebührt ihm Dank. Jürgen Kocka

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U T E FREVERT

Einleitung

Das 19. Jahrhundert ist schon von seinen Zeitgenossen oft das »bürgerliche« genannt worden, und spätere Geschichtsschreiber haben diese Bezeichnung übernommen. Das Bürgertum, heißt es, habe diesem Jahrhundert seinen Stempel aufgedrückt und eine Machtstellung errungen, die es ihm erlaubte, (fast) die ganze Gesellschaft nach seinen Ideen und Interessen umzugestalten. Bürgerliche Prinzipien wie Rechtsgleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Öffentlichkeit, Marktfreiheit oder individuelle Autonomie hätten sich ebenso wie bürgerliche Verkehrs- und Lebensformen mehr und mehr durchgesetzt und selbst in anderen sozialen Schichten Aufnahme und Anerkennung gefunden. Die innovativen Leistungen des Bürgertums beschränkten sich aber nicht auf die Bereiche politischer Öffentlichkeit, wirtschaftlicher Betriebsführung und Kultur. Zum bürgerlichen Habitus gehörten auch ein besonderer Umgang mit emotionalen und sexuellen Energien, eine neuartige Prägung männlich-weiblicher Rollen und eine ›moderne‹ Definition geschlechtsspezifischer Wirkungssphären. Wie wichtig die Bürger des 19. Jahrhunderts die »Geschlechtsverhältnisse« nahmen und welchen Stellenwert sie ihnen im Rahmen bürgerlicher Gesellschaftskonstruktionen zuwiesen, läßt sich paradigmatisch an einem Lexikonartikel aus dem Jahre 1847 ablesen.1 Sein Autor, der liberale Professor, Publizist und Politiker Carl Welcker, verkündete als erstes, er werde sich jetzt mit einem Thema beschäftigen, das alles andere als marginal, nachrangig oder gar anekdotisch sei. »Das allgemeinste und wichtigste Verhältnis der menschlichen Gesellschaft«, hieß es da, »ist unstreitig das Verhältnis der beiden Geschlechter«. Es sei ein »Grundverhältnis«, von dessen »gerechter« und »weiser« Ordnung die gedeihliche Entwicklung der Gesellschaft insgesamt abhänge. Die Frage jedoch, wie dieses Verhältnis in der bürgerlichen Gesellschaft, die sich vom »Despotismus« traditioneller Männergesellschaften verabschiedet habe, konkret beschaffen sei, galt Welcker als die »schwierigste für eine juristische und politische Theorie«. Eine einfache Antwort, etwa im Sinne männlich-weiblicher Gleichheit oder Gleichberechtigung, konnte es nicht geben. Als gewissenhafter Theoretiker verhehlte der Autor zwar nicht, daß dies mit der Programmatik des bürgerlichen Gesellschaftsmodells am besten harmonieren würde. Wenn im Namen der Menschenrechte gegen eine ständische, auf Geburt und Herkommen beruhende Gesellschaftsstruk-

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tur gestritten wurde und die formale Gleichheit des Rechts zu den Grundprinzipien der neuen Ordnung gehörte, müßte legitimerweise auch die Rechtsungleichheit von Frauen und Männern beseitigt werden. Daß diese Schlußfolgerung im politischen Diskurs seiner Zeit durchaus, wenn auch nicht gerade häufig, gezogen wurde, war Welcker offensichtlich bekannt, ohne ihn doch überzeugen zu können. Vielmehr beharrte er - stellvertretend für das breite bürgerlich-männliche Publikum - darauf, daß »wir die volle Gleichheit der Rechte nicht zugestehen könnten«. U m diese Verweigerung zu rechtfertigen, berief sich Welcker auf die Natur, die die Geschlechter »polarisch entgegengesetzt« geschaffen habe. Aus dem Fortpflanzungszweck, genauer aus der Anatomie des Geschlechtsakts seien alle körperlichen und geistig-moralischen Verschiedenheiten von Frauen und Männern abzuleiten: »Die ganze physische Natur . . . bezeichnet den stärkeren, kühneren, freieren Mann als schaffenden Gründer, Lenker, Ernährer und Schützer der Familie und treibt ihn hinaus ins äußere Leben zum äußeren Wirken und Schaffen, in den Rechts- und Waffenkampf, zu schöpferischen neuen Erzeugungen, zur Erwerbung und Verteidigung. Sie bezeichnete die schwächere, abhängige, schüchternere Frau zum Schützling des Mannes, wies sie an auf das stillere Haus, auf das Tragen, Gebären, Ernähren und Warten, auf die leibliche und humane Entwicklung und Ausbildung der Kinder, auf die häusliche Bewirtung und Pflege des Mannes und der häuslichen Familie, auf Erhaltung des vom Manne Erworbenen, auf die Führung des Haushalts, auf die Bewahrung der heiligen Flammen des häuslichen Herdes.« Dieses Bild beanspruchte überzeitliche, universale Geltung und sah geflissentlich darüber hinweg, daß eine solche, angeblich natürliche Aufgabenteilung in dieser Form in der historischen Empirie nur selten anzutreffen war. Weder konnte es sich eine Bäuerin, Spinnerin oder Handwerkersfrau während einer Schwangerschaft leisten, im »stillen Haus« ihr Kind auszutragen und sich nach der Geburt ganz auf seine Pflege zu konzentrieren, noch stimmte die Gleichsetzung von Mann/Erwerber und Frau/Erhalterin mit der ökonomischen Wirklichkeit in breiten ländlichen und städtischen Bevölkerungsschichten überein. Welcker selber scheint seinen der Natur entlehnten Argumenten nicht immer getraut zu haben, wenn er es für nötig hielt, der natürlichen Schöpfungslogik mit der Idee des allgemeinen Nutzens zu Hilfe zu eilen. Im Zentrum seiner Überlegungen stand die Familie, in der, fernab vom konkurrenzbetonten Erwerbsleben, »edle Menschlichkeit« gepflegt werde. Zugleich baue aber auch das »bürgerliche Gemeinwesen« auf den in der Familie erlernten »geselligen Tugenden«, der »wohlwollenden Teilnahme«, der »geordnet in einander greifenden, wohlverteilten Arbeit«, auf »fester Treue« und »freudig und mutig aufopferndem Gemeingeist« auf. Als »Pflanzschule« der bürgerlichen Gesellschaft sei die Familie unersetzlich, und ihre Zerstörung käme dem Verfall des »freien, würdigen Staatswesens« gleich. Zerstört aber würde die Familie unweigerlich dann, wenn die natur-

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gewollte Arbeitsteilung der Geschlechter aufgehoben und Frauen in Familie und Staat die gleichen Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten zugestanden bekämen wie Männer. Eine solche, von »Ultrademokraten«, »weiblichen Amazoninnen« und »Blaustrümpfen« geforderte Gleichstellung sei identisch mit dem »Umsturz unserer bisherigen Gesellschaftsordnung« und daher auf das schärfste zurückzuweisen. Welcker war nun zwar davon überzeugt, daß die meisten Frauen eine solche Rechtsgleichheit nicht wünschten. Schließlich brächte es den »schwächeren« Frauen nur Nachteile, »mit den stärkeren Männern in naturwidrige und unweibliche Kämpfe sich einzulassen«. Trotzdem hielt er es für notwendig, Frauen auch mit gesetzlichen Verboten von bestimmten, Männern reservierten Handlungssphären fernzuhalten. Oberster Maßstab war immer und überall die »Erhaltung ehelicher und Familienverhältnisse«. So durfte das Privatrecht rechtliche Gleichheit der Geschlechter nur insoweit konzedieren, als die Stellung des Mannes als Familienoberhaupt mit weitgehender Verfügungs- und Entscheidungsautorität gewahrt blieb. Dagegen sei es der Familie nicht unbedingt abträglich, wenn Frauen am öffentlichen Leben Anteil nähmen, im Parlament zuhörten, Petitions- und Pressefreiheit genössen und »Frauenvereine für erlaubte wohltätige öffentliche Zwecke« gründeten. Nur am politischen Willensbildungsprozeß selber dürften sie nicht partizipieren, auch keine öffentlichen Ämter bekleiden oder gar Kriegsdienste leisten. Der Status des Staatsbürgers blieb Männern vorbehalten. Daß Welcker in seinem Artikel bürgerliche »Geschlechtsverhältnisse« definierte, beschrieb und rechtfertigte, ist nicht schwer nachzuvollziehen. Bürgerlich waren sie in einem doppelten Sinn: zum einen als historischer Typus, der einer auf individueller Freiheit und Vertragsdenken beruhenden bürgerlichen Gesellschaftsformation angehörte. Auch wenn die Natur und ihr planvolles Arrangement der Geschlechtsunterschiede überzeitliche Geltung beanspruchten, kamen sie doch erst in der bürgerlichen Gesellschaft zu ihrem Recht. Umgekehrt profitierte nach Meinung des Autors erst diese Gesellschaft von sozialen und moralischen, aus »weisen« und »gerechten« Beziehungen zwischen Frauen und Männern abgeleiteten Institutionen wie Ehe und Familie, die ihre Stabilität und Kontinuität langfristig gewährleisteten. Bürgerlich waren Welckers »Geschlechtsverhältnisse« aber auch, indem sie der Lebenswelt jener Schichten entsprachen, die das Bürgertum der damaligen Zeit repräsentierten. Wo sonst fand man eine Arbeitsteilung vor, die Männern den Erwerb, Frauen das Erhalten und Sparen vorschrieb, die Männer zu kreativer Produktion anspornte und Frauen die »häusliche Bewirtung und Pflege des Mannes« nahelegte, die Männer in den »Rechtskampf« schickte und Frauen auf die Kindererziehung verwies? Wo, wenn nicht im Bürgertum zeichneten sich Männer durch eine Vernunft aus, die sie zur »Durchdringung, schöpferischen Verbindung und neuen äußeren Gestaltung« befähigte? Wer, wenn nicht bürgerliche - oder auch adlige -

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Frauen verfugten über die »Feinheit des Gefühls« und den »feinen sicheren Takt des Urteilens und Benehmens«, der Frauen angeblich generell eignete? Hatte Welcker damit einerseits ein Bild bürgerlicher Geschlechterbeziehungen entworfen, das auf der scharfen Abgrenzung weiblich-männlicher Wirkungssphären und Kompetenzen beruhte, hob er auf der anderen Seite immer wieder die beidseitigen Verknüpfungen und Abhängigkeiten dieser segmentierten Sphären hervor. Wenn er die »Geschlechtsverhältnisse« explizit zu den »tiefsten und wichtigsten Grundlagen der ganzen gesellschaftlichen Ordnung« zählte und immer wieder betonte, daß sie »in der größten Wechselverbindung . . . mit den öffentlichen Sitten und Entwicklungen stehen«, wenn er den Grad der hier verwirklichten Freiheit und Moralität mit zivilisatorischem Fortschritt gleichsetzte und die »höhere Cultur« der bürgerlichen Gesellschaft an die Struktur von Ehe und Familie band, bewies er einen Sinn für Synthese und Kombinatorik, der vielen späteren Wissenschaftlern und Politikern merkwürdig verloren gegangen ist. Der vorliegende Band sucht diesen Sinn erneut, aber auf etwas andere Weise herzustellen. Er versammelt die wichtigsten Beiträge, die auf einer Anfang 1986 im Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung veranstalteten Konferenz über »Bürgerliche Gesellschaft, Bürgertum und Geschlechterverhältnis im 19. Jahrhundert« diskutiert wurden. Im Unterschied zu Carl Welcker, der trotz aller Querverweise hauptsächlich über Frauen geschrieben hatte,2 ging es auf dieser Konferenz ausdrücklich darum, den Blick auf beide Geschlechter und ihre Beziehungen zu richten. Daß viele Beiträge dennoch in erster Linie nach Frauen fragten, ihre Erfahrungen und Handlungsbedingungen in den Mittelpunkt stellten, hatte vor allem zwei Gründe: Zum einen zeigte sich daran der Einfluß der Frauengeschichte, die sich seit mehreren Jahren intensiv mit der Erforschung weiblicher Lebenswelten und Aktionsformen beschäftigt. Andererseits waren die Themen so gewählt, daß sie besonders Frauen, die in der bisherigen Geschichtsschreibung bürgerlicher Gesellschaften und Gruppierungen allenfalls am Rande vorkamen, sichtbar machten. Ökonomie und Politik blieben als in der Regel Männern vorbehaltene Handlungsfelder fast gänzlich ausgespart - zugunsten von Religion, Kultur/Freizeit, Familie und Sexualität, die auf den ersten Blick vorwiegend mit Frauen identifiziert werden konnten. Auf den zweiten Blick jedoch mußte diese Gleichsetzung oft modifiziert werden, denn die von Welcker ebenso wie von vielen anderen zeitgenössischen Autoren und nachfolgenden Geschichtsschreibern so eindringlich vorgetragene Beschwörung einer strikten weiblich-männlichen Sphärentrennung hält genauerer historischer Nachprüfung nicht stand. Weder waren Frauen im Bürgertum ausschließlich und allein für Kirchgang, Romanlektüre oder Konzertbesuche zuständig, noch konnten Männer auf die ökonomischen und sozialen Zulieferdienste ihrer Familien verzichten. Funktional und personell blieben männliche und weibliche Aktionsräume eng miteinander verknüpft. Grenzüberschreitungen, allerdings nur in einer Rich14 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

tung, lagen im Bereich des Möglichen und kamen, was die Gegenüberstellung ›öffentlicher‹ und ›privater‹ Sphären betraf, gegen Ende des hier behandelten Zeitraums immer häufiger vor. Ohnehin läßt sich das bürgerliche 19. Jahrhundert kaum als zeitliche Einheit denken. Seine ›Historisierung‹ fördert vielmehr deutliche Einschnitte und Veränderungen in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern zutage. Waren sie zu Beginn des bürgerlichen Gesellschaftsprojekts im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert noch stark von vorindustriellen Traditionen und Lebensbedingungen geprägt, unterstützte die Transformation von Ökonomie und Gesellschaft im Gefolge der Industrialisierung gerade im Bürgertum eine markantere Abgrenzung männlich-weiblicher Funktionsbereiche, die wiederum gegen Ende des Jahrhunderts auf zunehmende Kritik und Opposition stieß. Trotzdem ist die besonders in der angelsächsischen Forschung3 entwickelte These der »separate spheres«, der Trennung von Frauen- und Männerräumen in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, nicht überholt, selbst wenn die Grenzen manchmal nicht so scharf gezogen werden können wie ursprünglich angenommen. Diese in den sozial- und kulturhistorischen Beiträgen klar herausgearbeitete Tendenz wirft die Frage nach dem systemischen Stellenwert auf, den die Geschlechter-Differenz für die Konstitution und Entwicklung bürgerlicher Gesellschaften besaß. Was besagt es über das Selbstverständnis dieser Gesellschaftsformation, über ihr Reformpotential, aber auch über ihr Traditionsbewußtsein und ihre Rechtfertigungsstrategien, wenn sie grundsätzlich zwischen Männern und Frauen unterschieden wissen wollte? Welchen Bedürfnissen kam eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung entgegen, die Frauen prinzipiell die Familie und Männern den öffentlichen Markt, die Assoziation und Politik als Lebensbühne zuwies? In welchem Maße wirkten ständische, vorbürgerliche Traditionslinien bei dieser Zuweisung mit? Welches waren typisch ›moderne‹ Züge des Geschlechterverhältnisses, und in welcher Beziehung standen sie zu den verschiedenen Handlungs- und Wertsphären, die sich in bürgerlichen Gesellschaften ausdifferenzierten und gegeneinander autonomisierten? Diese Fragen, die vor allem in den rechts- und politikhistorischen Beiträgen dieses Bandes angesprochen werden, berühren ein zentrales Problem, das über Anfänge und Hochphasen bürgerlicher Gesellschaften weit hinaus weist und auch für aktuelle politische Perspektiven von Bedeutung ist: Kann die systematische Trennung von Frauen und Männern, von Familie und Öffentlichkeit als fundamentales Organisationsprinzip bürgerlicher Gesellschaft begriffen werden, anderen Prinzipien gleichgeordnet, wenn auch quer dazu liegend und sie häufig sogar aufhebend? Oder ist der dauerhafte und bis heute nicht ganz überwundene Ausschluß von Frauen aus dem bürgerlichen Emanzipationsprojekt eher Ausdruck einer nur begrenzten Innovationskapazität sozialer Systeme - wobei dann aber zu erklären wäre, warum Frauen in ihrer Gesamtheit als letzte, lange nach jüdischen und

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Unterschichten-Männern, den Status vollberechtigter Staatsbürger und Rechtssubjekte erwarben, Geschlechteremanzipation also offenbar viel schwieriger auch nur zu denken war als religiöse und soziale Emanzipation. Anders gefragt: Bildete die Halbierung des Emanzipationsanspruchs, mit dem die bürgerliche Gesellschaft und das Bürgertum als ihre wichtigste Trägerschicht auf den Plan der Geschichte traten, nicht vielleicht die Bedingung dafür, daß dieser Anspruch wenigstens partiell - für Männer - eingelöst werden konnte? Und ist unter diesen Auspizien eine volle Emanzipation von Frauen in einer bürgerlichen Gesellschaft überhaupt möglich? Solche auf der Bielefelder Konferenz immer wieder intensiv und kontrovers diskutierten Probleme hatten schon Carl Welcker beschäftigt. Als er 1847 etwas bang sinnierte, ob die »geistreichen Männer« und »revolutionären Frauen«, die für die unbedingte Gleichheit der Geschlechter einträten, nicht vielleicht die historische Avantgarde verkörperten und ihrer Zeit nur etwas voraus wären, malte er ein bürgerliches Horrorgemälde an die Wand: »Soll eine weiter fortschreitende Civilisation uns wirklich dahin fuhren, die Unterordnung der Frau unter den Mann, und somit auch alle Festigkeit des Ehebandes und das wahre Familienleben aufzugeben, dahin, daß wir, statt der Weiblichkeit, Keuschheit und Schamhaftigkeit der Frauen, ihre gleiche unmittelbare Teilnahme an unseren öffentlichen Wahl- und Parlamentsversammlungen und an den Staatsämtern, überhaupt an allen männlichen Bestrebungen und Kämpfen, auch den kriegerischen, als ihre höchsten Ehren und Güter ansehen sollen?«

Offensichtlich ist seinen Nachkommen diese Erfahrung nicht ganz erspart geblieben, ohne daß jedoch die im 19. Jahrhundert begründete, mit ungleichen Macht- und Einflußchancen verbundene Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern grundsätzlich aufgehoben worden wäre. Ob eine Gesellschaft, der diese Aufhebung gelänge, noch bürgerlich zu nennen wäre, ist allerdings nach dem Vorhergesagten und auf den folgenden Seiten Nachzulesenden mehr als zweifelhaft. Anmerkungen 1 C. Welcker, »Geschlechtsverhältnisse«, in: Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, hg. v. C. v. Rotteck u. C. Welcker, Bd. 5, Altona 1847, S. 654-679. Alle Zitate stammen, orthographisch modernisiert, aus diesem Artikel. 2 Welcker fügte dem Begriff »Geschlechtsverhältnisse« zu Beginn seines Artikels die erläuternden Bemerkungen hinzu: »Frauen, ihre rechtliche und politische Stellung in der Gesellschaft, Rechtswohltaten und Geschlechtsbeistände der Frauen, Frauenvereine und Vergehen in Beziehung auf die Geschlechtsverhältnisse« (S. 654f.). Zu dieser auch im heutigen politischen und wissenschaftlichen Diskurs üblichen Identifikation von »Geschlecht« und »Frauen« vgl. den Beitrag von I. Hull in diesem Band. 3 Als jüngstes beeindruckendes Forschungsbeispiel, das anhand einer detaillierten Analyse des englischen Bürgertums zwischen 1780 und 1850 zu zeitlich, räumlich und sozial vorbildlich differenzierten Aussagen über die Konstruktion männlich-weiblicherHandlungssphären gelangt, vgl. L. Davidoff u. C. Hall, Family Fortunes. Men and Women of the English middle class, 1780-1850, London 1987.

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U T E FREVERT

Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert

I. Politische Theorie: Antizipation und Kritik Die bürgerliche Gesellschaft ist eine Kopfgeburt. Bevor sie in die Welt kam, existierte sie als Idee in den Köpfen und Konzeptpapieren ihrer Väter. Philosophen, Theologen, Künstler entwickelten in Studierstuben und auf dem Katheder Vorstellungen darüber, wie dieses Kind gebildet sein müsse, nach welchen Prinzipien es handeln solle. Sie träumten von seiner vollendeten Gestalt, seiner Energie und seinem Erfolg. Mit weit weniger Begeisterung und Vorfreude malten sie sich die Geburt aus; Schwebte den einen eine schmerzhafte, abrupte Ablösung vor, hofften die anderen auf einen allmählichen Entbindungsprozeß ohne Blut und Tränen. Lange, allzulange dauerten diese olympischen Schwangerschaften, manche Väter starben darüber, andere begleiteten noch die ersten Schritte des gemeinsamen Kindes und konnten ihr »Projekt« mit der Wirklichkeit vergleichen. Aber auch weit über ihren Tod hinaus blieb das Bild lebendig. So sehr sich die tatsächlichen Verhältnisse bürgerlicher Gesellschaften von ihren ursprünglichen Begriffen entfernten, so wenig gelang es doch, diese ganz aus dem kollektiven Gedächtnis der Menschen zu tilgen. Immer wieder mußte es sich die real existierende Gesellschaft gefallen lassen, an den Vorstellungen und Wünschen ihrer Vordenker gemessen zu werden. Hatten deren Ideen einst dazu gedient, die Geltungsmacht des Ancien Régime zu bestreiten und die Heraufkunft einer neuen Ordnung zu rechtfertigen, wurden sie später dazu benutzt, Versäumnisse, Defizite oder Widersprüche einzuklagen und die Emanzipationsinteressen sozialer Außenseiter innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu legitimieren. Bis heute beziehen sich oppositionelle Bewegungen zustimmend auf den programmatischen Code bürgerlicher Gesellschaften und schärfen ihre Kritik an eben den Prinzipien, die diesen Gesellschaften in die Wiege gelegt worden waren. Nicht immer können sie sich dabei auf die konzeptionelle Hilfe der Väter verlassen. Die politische Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie von 17 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

den Meisterdenkern des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts entwickelt wurde, war und ist keine bequeme Verbündete sozialer Emanzipationsbewegungen. Schon die Arbeiterbewegung Lassalles und Bebeis machte die Erfahrung, daß sich mit Kant, Fichte oder Hegel nur schwer für eine Aufhebung der Klassenspaltung streiten ließ. Gewiß konnte man sich auf allgemeine Postulate menschlicher Freiheit und Gleichheit berufen und entsprechende Textstellen der Klassiker zitieren. Zugleich aber war nicht zu übersehen, wie stark letztere in den sozialen Verhältnissen ihrer Zeit befangen waren: Weder sahen sie die antagonistischen Konflikte kapitalistischer Industrialisierung voraus, noch vermochten sie sich in ihren politischen Thesen und Utopien von ihrem bürgerlich-städtischen Herkunfts- und Bezugsmilieu zu lösen. An dieser Klassengebundenheit setzte die Kritik der marxistischen Theorie an, die mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln das ökonomische Fundament bürgerlicher Gesellschaft angriff, die aufklärerisch-bürgerlichen Leitideen von Freiheit und Gleichheit jedoch beibehielt und radikalisierte. 1 Fast zeitgleich mit der Arbeiterbewegung begann sich seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine andere Protestbewegung zu regen, deren Unzufriedenheit nicht im Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, sondern in der gesellschaftlichen Ungleichheit von Männern und Frauen wurzelte. Auch die Frauenbewegung besann sich auf das Glücksversprechen der bürgerlichen Gesellschaft, auf ihre ›Glitzerworte‹, mit denen die politisch, rechtlich und ökonomisch minderprivilegierte Situation von Frauen nicht vereinbar war. Im Gegensatz zur Arbeiterbewegung aber verfügte die Frauenbewegung weder über eine stringente feministische Gegentheorie noch über ein kollektives Handlungspotential, das ihren Forderungen nach mehr Gleichheit und Freiheit politisches Gewicht verliehen hätte. Mächtiger noch als die äußeren Widerstände, denen Frauen in der staatlichen Bürokratie, in den bürgerlichen Parteien oder in der eigenen Familie begegneten, waren oft ihre inneren Barrieren gegen den Gedanken einer radikalen Gleichheit männlicher und weiblicher Lebensmodelle. Nicht im Kaiserreich, nicht in der Weimarer Republik und erst recht nicht in der Zeit des Nationalsozialismus konnte dieser Gedanke gedacht und zum Orientierungspunkt einer sozialen Opposition werden. Erst der feministischen Bewegung der 1970er Jahre gelang es, die ›Frauenfrage‹ von ideologischem Ballast zu befreien und als ›Systemfrage‹ neu zu stellen. Sie lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit darauf, daß die tatsächlichen Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern trotz aller Fortschritte in Recht und Ökonomie nach wie vor durch Hierarchie und Gewalt gekennzeichnet seien. Sie suchte aber auch nach den Ursachen dieser Form von Ungleichheit, die zwei Jahrhunderte bürgerlicher Gesellschaftsentwicklung relativ unbeschadet überlebt hatte. Eine solche Spurensicherung, die für eine politische Theorie des Feminismus 2 ebenso bedeutungsvoll ist wie für die Theorie und Geschichtsschrei-

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bung bürgerlicher Gesellschaft, führt notwendig zurück zu den Kopfgeburten bürgerlicher Meisterdenker und zum Freiheits- und Gleichheitsdiskurs der »Sattelzeit« (Koselleck) zwischen alter und neuer Ordnung. Die geistigen Väter der bürgerlichen Gesellschaft müssen sich fragen lassen, wie sie sich das zukünftige Verhältnis der Geschlechter vorgestellt haben, ob und wie sie es eingebaut haben in ihre Konzepte gesellschaftlicher Organisation und politischer Verfassung. Spielte die unübersehbare Tatsache, daß es weibliche und männliche Menschen gab, überhaupt eine Rolle in ihren Perspektiven auf die »vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung«?3 War das, was uns heute als uneingelöste Hypothek bürgerlich-aufklärerischer Gesellschaftsentwürfe gilt, bereits für deren Architekten ein Problem, das eine nähere Explikation lohnte? Sich der politischen Theorie bürgerlicher Gesellschaften unter frauen-und geschlechtergeschichtlichen Fragestellungen zuzuwenden, heißt zunächst einmal, sie als Dokument zeitgenössischen Räsonnements ernstzunehmen. In dieses Räsonnement gingen nicht nur abstrakte Ideen, reißbrettartige Modelle erwartbarer Entwicklungen ein, sondern auch menschliche Erfahrungen, soziale Praxis in einer konkreten Lebensumwelt. Die Texte der Philosophen enthalten daher immer zweierlei: einen Plan für die Zukunft und die Reflexion der eigenen, historisch gebundenen Situation. Sie sind Ausdruck dessen, was in einer Umbruchzeit gedacht und gelebt werden konnte, und für Historiker daher wertvolle Zeugnisse sozialer Mentalitäten und Bedürfnisse. Zugleich aber wirkten diese Texte auf ihre gesellschaftliche Umwelt zurück: Sie beeinflußten politisches Handeln, strukturierten politisches Denken, und dies nicht nur zu Lebzeiten ihrer Autoren. Immer wieder neu aufgelegt, bildeten sie einen Kanon bürgerlicher Selbstverständigung, mit dem sich Generationen von Bildungsbürgern kritisch oder affirmativ auseinandersetzten. Sie legten die Fundamente bürgerlicher Ideologien, die sich bis heute in Staatsverfassungen, Rechtssystemen, Bildungskonzepten, Wirtschaftsordnungen und Kulturproduktion westlicher Länder materialisieren. Auf diese Wirkungsgeschichte ausführlich einzugehen, würde den begrenzten Rahmen dieses Aufsatzes sprengen; sie kann hier nur angedeutet werden. Der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen liegt hingegen auf der exegetischen Analyse klassischer bürgerlicher Texte und deren Rückbindung an einen historisch spezifischen Kontext gesellschaftlicher Erfahrungen und Erwartungen.

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II. Bürgerliche Gesellschaft und Geschlechterdifferenz: Kant, Rousseau, Fichte Am Anfang aller bürgerlichen politischen Theorie stand die Idee der Freiheit: die Freiheit des Individuums, jedem Menschen als vernunftbegabtem Wesen unveräußerlich eigen. 4 Der Anspruch auf Freiheit gründete in der Menschheitsgattung selber, er war unabhängig von sozialer Herkunft und Besitz, von der Zugehörigkeit zu einer Rasse oder einem Geschlecht. Nur unter den Bedingungen persönlicher Freiheit konnte die Vernunft als ein alle Menschen gleichermaßen auszeichnendes Vermögen öffentlich wirksam werden und die gesellschaftlichen Verhältnisse nach ihren Prinzipien gestalten. Damit das, was der Königsberger Philosoph Immanuel Kant in seiner berühmten Definition des Aufklärungs-Begriffs als »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« bezeichnete, überhaupt möglich und durchsetzbar war, mußten Individuen in der Lage sein, sich ihres Verstandes in voller Freiheit, in Abwesenheit aller äußeren Bevormundung zu bedienen. Um diese Freiheit zu erwerben und zu erhalten und ihren Interessen ungehindert durch obrigkeitlichen Druck oder Intervention Dritter nachgehen zu können, schlossen Menschen Verträge untereinander ab, die ihre »wilde Freiheit« einschränkten, »damit sie mit der Freiheit anderer bestehen können«. 5 Ergebnis dieser Verträge war eine »bürgerliche Gesellschaft«, die sich im Recht konstituierte, welches die Freiheit aller einzelnen gegeneinander abgrenzen und sichern sollte. Vor dem Recht galten alle Mitglieder der Gesellschaft als gleich, selbst wenn sie es tatsächlich nicht waren. Auch in der bürgerlichen Gesellschaft konnte es soziale Ungleichheit geben;6 nur die Religion und das Gesetz erkannten auf vollkommene Gleichheit und negierten in ihren Geltungssphären die faktische Existenz unterschiedlicher Fähigkeiten und Einflußchancen. Im Gegensatz zur feudalständischen Gesellschaft des Ancien Régime allerdings, die bestimmte Menschengruppen aufgrund ihres geburts- oder funktionsbedingten Status mit Privilegien ausgestattet hatte und diese Ungleichheit rechtlich kodifizierte, eröffnete die bürgerliche Gesellschaft ihren Mitgliedern auch und besonders durch das Institut der Rechtsgleichheit die Möglichkeit, ihre soziale Position zu verändern. Die Idee der Gleichheit bedeutete, um Kants klassische Formulierung zu zitieren, daß jeder Mensch »zu jeder Stufe seines Standes« gelangen dürfe, »wozu ihn sein Talent, sein Fleiß und sein Glück hinbringen können; und es dürfen ihm seine Mituntertanen durch ein erbliches Prärogativ . . . nicht im Wege stehen.«7 Die bürgerliche Gesellschaft verstand sich demnach, zumindest in der Axiomatik ihrer intellektuellen Konstrukteure, als eine auf den Prinzipien persönlicher Freiheit und formaler Gleichheit beruhende Leistungsgesellschaft und setzte sich hiermit dezidiert von ihren historischen Vorläufern ab. Obwohl sie sich in der Sphäre der Ökonomie, des Marktes konstituierte,

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ging sie darin nicht auf. Mit der Vorstellung, allgemeiner Gesetze zur Sicherung individueller Freiheit zu bedürfen, war der Begriff einer politischen Sphäre verbunden, in der die Menschen über die Belange ihres Gemeinwesens kommunizierten, berieten und entschieden. Unabhängig von der konkreten staatlichen Verfaßtheit dieser politischen Sphäre, über die die Meinungen der Philosophen weit auseinandergingen,8 existierte jedes Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft daher grundsätzlich in einer doppelten Funktion: als Bürger im ökonomischen und sozialen Wortsinn und als Staatsbürger mit genau umrissenen politischen Rechten und Pflichten.9 Auch wenn die deutsche politische Theorie auf diese Rechte nicht so großen Wert legte wie die französische oder schottische,10 gehörten sie doch zur Definition der Begriffe »Bürger« und »Bürgerliche Gesellschaft« hinzu. So unterschied denn auch Kant im »bürgerlichen Zustand« drei verschiedene Formen sozialer Existenz, die von jeweils verschiedenen Prinzipien regiert wurden: den »Menschen«, dem als Gattungswesen das Recht der Freiheit zukam, den »Untertan«, der in voller rechtlicher Gleichheit unter der Herrschaft allgemeiner Gesetze als »bourgeois« produzierte und konsumierte, und den »Bürger« oder »Mitgesetzgeber« und »citoyen«, der dem allgemeinen Willen öffentlichen Ausdruck verlieh und die Regeln und Grenzen des bürgerlichen Zusammenlebens festsetzte.11 An eben dieser Funktion des »Bürgers« oder besser »Staatsbürgers«, wie ihn Kant in seiner 1797 erschienenen »Metaphysik der Sitten« bezeichnete, schieden sich die Geschlechter. »Alles Frauenzimmer«, befand der Philosoph kategorisch, sei höchstens Staatsgenosse, bloßer Teil, nicht aber Glied des gemeinen Wesens. Um aktiv, »aus eigener Willkür« den Staat zu organisieren und an der Gesetzgebung mitzuwirken, sei bürgerliche Selbständigkeit unerläßlich. Dazu rechnete Kant die Fähigkeit, »seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkür eines Anderen im Volke, sondern seinen eigenen Rechten und Kräften« zu verdanken und vor Gericht die eigene Person unmittelbar zu vertreten.12 An dieser Fähigkeit und mithin an der Qualität einer »bürgerlichen Persönlichkeit« mangelte es nicht nur Gesellen, Dienstboten und Hauslehrern, sondern prinzipiell und unterschiedslos auch dem weiblichen Geschlecht. In der Tradition des englischen Philosophen John Locke13 band Kant demnach den Status eines vollberechtigten (Staats)Bürgers an dessen Position als Hausvater, der über seine aus Frau, Kindern und Gesinde bestehende Familie Herrschafts- und Schutzrechte ausübte und sie nach außen, gegenüber anderen Hausvätern und der Gemeinschaft aller Hausväter vertrat. 14 Diese vorbürgerliche Rechtskonstruktion, die sowohl in bäuerlichen als auch in städtischen Handwerker- und Kaufmannshaushalten - hier standen, zusätzlich zum Gesinde, auch Gesellen, Commis und Lehrlinge unter hausväterlicher Gewalt - beheimatet war, blieb jedoch nicht der einzige soziale Bezugspunkt aufgeklärt-bürgerlicher Theorie. Wenn Kant dem Tischler oder Schmied, der seine Erzeugnisse als Waren öffentlich zum Kauf anbot,

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bürgerliche Selbständigkeit konzedierte, sie dem indischen Handwerker, der sich als Tagelöhner in fremden Häusern verdingte, jedoch absprach, wirft diese Unterscheidung ein bezeichnendes Licht auf die emanzipatorische Wirkung des freien Marktes, auf dem sich Eigentümer verschiedener Waren begegneten. Ob dieses Eigentum aus Maschinen, Arbeitskraft oder Wissen bestand, war dabei letztlich gleichgültig, der Weg zum allgemeinen männlichen Wahlrecht und zum Staatsbürgerstatus des »vierten Standes« im Marktmodell selber vorgezeichnet. Eine solche Chance, sich durch das Eigentum an einer Ware zur »bürgerlichen Persönlichkeit« und zum aktiven Staatsbürger hochzuarbeiten, war offenbar an die Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht gebunden. »Sein eigener Herr« zu sein, war nur Männern möglich - hier log die Sprache nicht. Zum Bürger, citoyen, Staatsbürger gehörte eben nicht nur das soziale Merkmal ökonomischer Selbständigkeit, sondern auch eine »natürliche« Qualität: »kein Kind, kein Weib«, sondern volljähriger Mann zu sein.15 Frauen standen damit als Geschlechtswesen grundsätzlich und unveränderlich außerhalb des politisch-rechtlichen Zusammenhangs bürgerlicher Gesellschaften. Leistungsorientierung, Mobilitätsprinzip, Fortschrittserwartung - all diese dem bürgerlichen Selbstverständnis entlehnten Begriffe und Konzepte besaßen für Frauen keine Bedeutung. Das hieß allerdings keineswegs, dem weiblichen Geschlecht samt und sonders seine Menschenwürde abzuerkennen. »Als Menschen«, betonte Kant, kamen auch all jenen, die nicht zur aktiven Staatsbürgerschaft befähigt waren, Freiheit und Gleichheit als unveräußerliche Gattungsmerkmale zu. Frauen galten ihm ebenso wie Männer als vernünftige, vernunftbegabte Wesen, und mit Blick auf Hauswesen und Ehe sprach er gar von einer »Gemeinschaft freier Wesen« und von der »natürlichen Gleichheit eines Menschenpaares«.16 Gerade die Ehe aber war der Ort, an dem die natürliche Freiheit und Gleichheit weiblicher und männlicher Menschen von einer sozial und funktional definierten Herrschaft des Mannes über die Frau überlagert wurde. Es mutet abenteuerlich an, wie der Systematiker Kant in nur drei Paragraphen von der Gleichheit des Ehepaares im wechselseitigen Genuß der Geschlechtsorgane zum männlichen Befehlsrecht gelangte, von dem implizit alle weiteren Privilegien des männlichen Geschlechts abgeleitet wurden. 17 Die Logik dieser Systematik lag außerhalb ihrer selbst, nämlich dort, wo es nicht um »natürliche« Eigenschaften und Rechte, sondern um soziale Pflichten und Zwecke ging. Die »Gleichheit der Verehelichten« mußte hinter die Befehlsgewalt des Mannes zurücktreten, weil nur so das »gemeinschaftliche Interesse des Hauswesens« gewahrt bleiben konnte. In seiner anthropologischen Charakteristik des »Geschlechts« aus dem Jahre 1798 drückte sich der Philosoph, wiederum in engster Anlehnung an Locke, weniger apokryph aus: »Wer soll dann den oberen Befehl im Hause haben? denn nur Einer kann es doch sein, der alle Geschäfte in einen mit diesen seinen Zwecken übereinstimmenden Zusammenhang bringt.« 18

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Daß die Wahl auf den Mann fiel, resultierte aus dessen »natürlicher Überlegenheit«, aus seiner größeren Körperkraft und seinem größeren Mut. 19 Archaische Prinzipien, das Recht des Stärkeren, die in der bürgerlichen Gesellschaft durch den Grundsatz gleichen Rechts aufgehoben waren, lebten demnach im ehelichen Verhältnis fort und begründeten die Unterwerfung aller Frauen unter die Herrschaft der ihnen physisch überlegenen Männer. Auch wenn Frauen sich allmählich kompensatorische Künste angeeignet und ihre Schwächen in »Hebezeuge« verwandelt hätten, um die »Männlichkeit zu lenken«, 20 änderte das nichts an dem prinzipiell ungleichen Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern, das sich vor allem in der rechtlichen und politischen Sphäre widerspiegeln mußte. Ausschließlich als Objekte vermochten Frauen Einfluß auszuüben: Nur wenn und indem sie Männern gefielen, konnten sie über diese herrschen. Schon sechsunddreißig Jahre früher hatte Jean-Jacques Rousseau in seinem 1762 publizierten Erziehungsroman »Emil« diese Objektrolle der Frauen beschrieben und gerechtfertigt, zugleich aber auch das Geschlechterverhältnis als anthropologisch begründeten Dauerkonflikt um Dominanz und Unterwerfung gekennzeichnet. Die größere sexuelle Energie und Ausdauer der Frauen würde ohne die zivilisatorischen Kräfte weiblichen Schamgefühls und männlicher Rechtshoheit zur Herrschaft, möglicherweise sogar zur Tyrannei des weiblichen Geschlechts fuhren.21 Die berechtigte Angst vor einer solchen Tyrannei und die »Vernunft« der Selbsterhaltung legitimierten daher, und hier sprach Rousseau ganz unverhohlen pro domo, die in der bürgerlichen Gesellschaft durch allgemeines Gesetz fest installierte Ungleichheit der Geschlechter. Auch Kant baute die damals weit verbreitete Vorstellung einer sexuellen Überlegenheit der Frauen22 in die Grundlagen seiner Gesellschafts-Architektur ein, wenn er die Gefahr der »Aufzehrung« erwähnte, die ein Mann durch die »öfteren Ansprüche des Weibes« an das männliche »Geschlechtsvermögen« zu gewärtigen habe. 23 Um solchen »cannibalischen« Genüssen zu wehren, bedürfe es der versittlichenden, auf lange Dauer und »wechselseitigen Besitz« gegründeten Institution der Ehe - und, so wäre hinzuzufügen, der in der und durch die Ehe konstituierten Herrschaft des Mannes über die Frau. Letztere erscheint unter dieser Perspektive als notwendige Bedingung bürgerlicher Gesellschaft, deren ökonomische Dynamik und politische Stabilität mit aufgezehrten Männern und unersättlichen Frauen nicht zu verwirklichen gewesen wäre. Eine genau entgegengesetzte Begründung für den Ausschluß von Frauen aus der rechtlich-politischen Sphäre bürgerlicher Gesellschaft gab der vielleicht einflußreichste Philosoph jener Zeit, Johann Gottlieb Fichte, in seiner 1796 veröffentlichten Schrift »Grundlage des Naturrechts«. Anders als Kant, der noch von beiderseitiger »Lust« und »Genuß« in der ehelichen »Geschlechtsgemeinschaft« gesprochen hatte, empfand Fichte das Verhalten der Frau im Geschlechtsakt als »leidend«, das des Mannes aber als »tätig«.

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Aus dieser Prämisse folgerte er sodann schlüssig, daß Frauen als vernünftige, auf Selbsttätigkeit bedachte Wesen schlechterdings kein Interesse an einem Akt haben dürften, der ihnen Passivität und Leiden abverlange. War es Männern vergönnt, ihren Geschlechtstrieb in seiner »wahren Gestalt« als aktive Vernunft zu erfahren, mußte er Frauen als »Liebe« entgegentreten, als freier, tätiger, aufopfernder, entäußernder Wille, »den Mann zu befriedigen«, sich ihm hinzugeben und aus seiner Lust und Zuwendung die eigene »Befriedigung des Herzens« zu gewinnen. Nichts als Vernunft nötigte folglich eine Frau, ihren »rohen« Geschlechtstrieb in einen »edlen Naturtrieb«, nämlich Liebe zu verwandeln. Diese Metamorphose war jedoch kein Produkt bewußter Entscheidung oder Erziehung, denn ebenso wie die Vernunft jeden Menschen gattungsmäßig auszeichnete, war den Frauen die Liebe bereits »angeboren«. Die Triebumwandlung hatte sich schon in den Genen vollzogen, so daß Liebe als weibliche »Natur« sui generis erscheinen konnte. Indem sich eine Frau aus Liebe »zum Mittel der Befriedigung des Mannes« machte, hörte sie auf, »das Leben eines Individuums zu fuhren«, und begab sich der eigenen Persönlichkeit. Um ihrer Ehre willen, um ihre Würde zu bewahren, unterwarf sie sich vorbehaltlos und aus freien Stücken dem Willen und der äußeren Herrschaft ihres Gatten. Belohnt wurde diese »unbegrenzteste Unterwerfung« mit dem »Großmut« des Ehemannes, mit seiner Zärtlichkeit und Bereitschaft, Wünsche und Meinungen der Gattin zu respektieren und ihnen nachzugeben. So könnten Frauen einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf das Handeln und die Entscheidungen von Männern gewinnen, doch eine unmittelbare Wirkung im öffentlichen Leben bliebe ihnen verwehrt. Mit der Aufgabe ihrer Persönlichkeit leisteten sie zugleich Verzicht auf ihr Vermögen und ihre bürgerlichen Rechte und waren »für den Staat ganz vernichtet«. Der Gatte wurde zum Rechtsvormund: »Er lebt in allem ihr öffentliches Leben, und sie behält lediglich ein häusliches Leben übrig.« 2 4 In ihren Schlußfolgerungen stimmten Kant und Fichte demnach überein: Beide teilten die Überzeugung, daß die öffentliche, politische Sphäre ein exklusiver Raum für Männer sein müsse, und beide legten den Schlüssel für die als notwendig empfundene Ausgrenzung bzw. Eingrenzung von Frauen in die Ehe. Außerhalb der Ehe allerdings, und hier dachte Fichte weiter und konsequenter als Kant, waren Frauen ebenso frei wie Männer und diesen gleich. Als Ledige oder Witwen konnten sie über Eigentum verfugen, erwerbstätig sein, politische Rechte besitzen und ausüben. Nur ein Staatsamt dürften sie nicht bekleiden, denn zu diesem Zweck müßten sie auf immer und ewig »frei und von sich selbst abhängig«, also unverheiratet bleiben, was jedoch der weiblichen Bestimmung zu lieben entgegenstünde. 2 5 Diese Argumentation beinhaltete eine merkwürdige Ambivalenz, um nicht zu sagen Ungereimtheit. Knüpfte sie den Ausschluß von Frauen einerseits nicht an Geschlechtszugehörigkeit an sich, sondern allein an den Status

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der verheirateten Frau, 26 band sie zugleich tendenziell alle Frauen durch deren besondere Natur und Liebes»trieb« an die häusliche Sphäre. Die Ledigen- oder Witwenexistenz erschien damit lediglich als trauriger, unbefriedigender und nicht verallgemeinerungsfähiger Ersatz, nicht aber als frei wählbare Alternative zur liebenden, aufopfernden, abhängigen Ehefrau. III. Männlichkeit, Weiblichkeit, Menschlichkeit: Von Schlegel zu Hegel Die von Fichte mit deutlichen Anleihen bei Rousseau entfaltete Idee einer weiblichen Natur, die jeder Frau Liebe und Selbstunterwerfung zwingend abverlange, ließ die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern in einem neuen, glänzenden Licht erscheinen. Daß Frauen prinzipiell der häuslichen Sphäre angehörten und Männer im öffentlichen Leben wirkten, war danach nicht das Ergebnis eines Machtkampfes, bei dem es Sieger und Besiegte gab, sondern ein natürliches und somit vernünftiges Arrangement. Nicht zufällig legte Fichte großen Wert darauf, die Abwesenheit jeglichen Zwanges darin zu unterstreichen - eines Zwanges, der den idealen Verkehrsformen bürgerlicher Gesellschaft und ihren Freiheits- und Gleichheitsprämissen auch evident widersprochen hätte. Indem er die Unterwerfung bereits in der inneren, unveränderlichen Natur des weiblichen Geschlechts ansiedelte, sprach er die gesellschaftliche Organisation von Vorwürfen frei, die sie in Kants Argumentation notwendig auf sich ziehen mußte und auch auf sich zog. Diese bestechende Wendung ist von Fichtes publizierenden Zeitgenossen bereitwillig mitvollzogen worden. Unabhängig von ihren politischen Ansichten und Neigungen, unabhängig davon, ob sie den Fortschritt gesellschaftlicher Verhältnisse im System Metternich oder im Beamtenliberalismus preußischer Provenienz suchten, trafen sie sich in der Überzeugung, daß die Menschheit in zwei grundsätzlich verschiedene »Geschlechtscharaktere« gespalten sei und daß sich diese Spaltung in der bürgerlichen Gesellschaft in einer naturgegebenen und daher vernünftigen Trennung männlichweiblicher Rechte, Pflichten und Tätigkeitsbereiche reproduziere. 27 Die Geschlechtercharakterologie am weitesten trieb der Staatswissenschaftler und Publizist Adam Heinrich Müller, neben Johann Joseph Görres, Franz von Baader und dem »österreichischen« Friedrich Schlegel Repräsentant der spätromantischen Schule deutscher Philosophie. In seinen politik- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten nutzte er die Differenz von Männlichkeit und Weiblichkeit durchgängig als Strukturierungsmedium: Wie er die Menschheitsgeschichte in eine männlich-griechische und eine weiblich-germanische Phase einteilte, wies er in einem Vergleich französischer und deutscher Kulturentwicklung der deutschen die Attribute »weiblich treu, leidend und duldend« zu, der französischen die komplementären männlichen Eigenschaften. Wenn er die Spaltung der Gesellschaft in Adel und

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Bürgertum beschrieb, kennzeichnete er den Adel als weiblich und entdeckte im »Bürgerstand« eine männliche Bestimmung. Auch im Staat identifizierte er weibliche und männliche Elemente, was schon die häufig gebrauchte Metapher vom Staat als Familie nahelegte. Als Romantiker ließ er überdies keinen Zweifel daran aufkommen, daß seine Sympathien durchweg beim weiblichen Part lagen, dem er, in treuer Aufnahme gängiger Charakteristika, die Merkmale Zeitlosigkeit, Selbstbezüglichkeit, Poesie, Vollendung, Konstanz, Natur und Sitte zuordnete. 28 Begriffe dieser Art könnten auch aus einem Werk zeitgenössischer Kunsttheorie stammen, und daß solche Assoziationen nicht unbegründet sind, erschließt sich bei näherer Betrachtung frühromantischer Schriften. Frauen, hieß es bei Novalis 1796, »sind vollendeter, als wir. Freyer, als wir . . . Sie sind geborne Künstlerinnen.« 29 Für Friedrich Schlegel verkörperten Frauen »Poesie«, sie waren Inbegriffe einer harmonischen, ganzheitlichen Persönlichkeit. In ihrer Sehnsucht nach einer poetischen Existenz, in der das Leben zum »Kunstwerk« wurde, empfanden die Romantiker Frauen als leibhaftige Utopie, als ein lebendiges, sinnlich greifbares Versprechen. 30 Warum Frauen diese poetische Qualität eignete, war Schlegel und Novalis keiner weiteren Begründung wert. Zuweilen scheint es, als ob sie sie aus der »weiblichen Organisation« und deren Wesensmerkmalen Mütterlichkeit und Innerlichkeit ableiteten. 31 Ähnlich wie Fichte erkannte auch Schlegel dem weiblichen Geschlecht eine »angeborne Gabe« zur Liebe zu, allerdings nicht im Sinne asexueller Selbstunterwerfung, sondern als »heiliges Feuer der göttlichen Wollust«, als Sinnlichkeit und Leidenschaft, vereint mit Verstand und natürlicher Sittlichkeit. Diese Liebesfähigkeit und -mission ermöglichte es Frauen, sich über »alle Vorurteile der Kultur und bürgerlichen Konventionen weg(zu)setzen und mit einemmale mitten im Stande der Unschuld und im Schoß der Natur« zu sein. 32 Andererseits scheinen solche weiblichen Anlagen zur Bildung einer poetischen Existenz nicht ausgereicht zu haben, ja sie waren ihr nicht einmal unbedingt förderlich. Um sich dem Ideal menschlicher Vollkommenheit, Freiheit und Harmonie zu nähern, müßten Frauen sogar längere Wege zurücklegen als Männer. U m ihrer »Bestimmung« zur Poesie gerecht zu werden, müßten sie sich, so Schlegel 1799, von ihrer »Natur« und »Lage« emanzipieren und ihrer Weiblichkeit geradezu entgegenarbeiten. Damit war die explizite Aufforderung verbunden, die Schranken der Häuslichkeit zu überwinden und an der »Gelehrsamkeit«, an Kunst, Wissenschaft und Philosophie teilzuhaben. Männer dagegen, die zumindest in den »höhern Ständen« durch ihren Beruf enger mit »den Göttern und der Unsterblichkeit« verknüpft seien, sollten das Starre und Zergliedernde ihrer Beschäftigungen überwinden und von den Frauen Poesie und »Ungeteiltheit« lernen. Anstatt, wie es üblich sei, »den Charakter des Geschlechts« zu übertreiben, müsse er gemildert werden, denn nur so seien freie Individualität und harmonische Menschlichkeit als höchste Ziele der Vernunft erreichbar. 33

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Schlegels emphatisches Plädoyer für weibliche Bildung und gegen eine beschränkte häusliche Lebensart liest sich wie eine Gegenrede zu Fichte, der »gelehrte Weiber« als »Pedantinnen« abqualifizierte. Schlegel nahm damit eine Tradition wieder auf, die in der frühen Aufklärung und deren Ideal gelehrsamer Weiblichkeit wurzelte, zu seiner Zeit aber, im Anschluß an Rousseaus Philippika gegen den weiblichen »Blaustrumpf« und »Schöngeist«, massive Opposition und beißenden Spott hervorrief. 34 Anstatt gelehrsam zu sein, verkündeten die Apostel der Empfindsamkeit, und mit Männern um Geist und Kenntnisse zu konkurrieren, sollten sich Frauen auf ihr Gefühl verlassen; anstatt sich mit kaltem Bücherwissen zu beschäftigen, sollten sie, wie Johann Gottfried Herder 1770 an seine Braut Caroline Flachsland schrieb, ihre Seelen menschlich aufklären, ihre Empfindungen menschlich verfeinern. 35 Auch Schlegel hatte keineswegs im Sinn, Frauen in Männer zu verwandeln, und er teilte, zusammen mit Novalis, Clemens Brentano, Adam Müller oder Heinrich von Kleist, Herders Abneigung gegen ein rationalistisches männliches Gelehrtendasein, das für Frauen gewiß kein Gegenstand der Nachahmung sein sollte. Sein proklamiertes Ideal war aber nicht die von Rousseau und Fichte hochgeschätzte Polarität und Ergänzung von Männlichkeit und Weiblichkeit, sondern deren wechselseitige Annäherung und Vermischung. Weder sollten Frauen alleinige Priesterinnen der Liebe und des Gefühls sein, noch verwalteten Männer ein exklusives Reich der Wissenschaft und der künstlerischen Produktivität. Auch Adam Müller verwahrte sich 1811 gegen die Meinung des »großen Haufens«, der die strenge Segregation der weiblichen und männlichen Sphären für gut befand und einem Ideal weiblicher Bildung huldigte, das in einer »engherzige[n] Mütterlichkeit und Häuslichkeit« aufging, welcher »mancherlei Dilettantismus, Handund Mundfertigkeit angeflickt wird, während ihr jede Berührung des männlichen Schreibtisches oder Bücherschranks untersagt bleibt«. Im Gegensatz dazu votierte er für ein »Ineinanderfließen« von häuslicher und öffentlicher Sphäre, ohne daß dabei jedoch die Verschiedenheit der Geschlechter, der jeweilige »Instinkt ihrer Natur«, gänzlich verloren ginge. 3 6 In die gleiche Richtung zielte der von dem protestantischen Theologen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher 1798 verfaßte »Katechismus der Vernunft für edle Frauen«. »Laß Dich gelüsten nach der Männer Bildung, Kunst, Weisheit und Ehre«, hieß es im zehnten Gebot, und der zweite Satz des weiblichen Glaubensbekenntnisses beschwor die »Macht des Willens und der Bildung, mich dem Unendlichen wieder zu nähern, mich aus den Fesseln der Mißbildung zu erlösen und mich von den Schranken des Geschlechts unabhängig zu machen.« Das Unendliche war, Schlegel hätte es ganz ähnlich ausgedrückt, die Menschheit selber, »die da war, ehe sie die Hülle der Männlichkeit und Weiblichkeit annahm.« 3 7 Diese Hülle so weit wie möglich abzustreifen, die Spaltung der Vernunft in »Geschlechtscharaktere« zu überwinden, war Schleiermachers Vision, die er mit Schlegel teilte.

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Die körperlich und seelisch verankerte Geschlechterdifferenz leitete Schleiermacher, wie allseits üblich, aus dem Geschlechtsakt her, aus dem männlichen »Zeugen« und dem weiblichen »Empfangen«. Der männlichen Muskelkraft entspreche die weibliche Sensibilität, dem männlichen Denken das weibliche »höhere Gefühl«. Nur in einer von wahrer Liebe gestifteten Ehe und Familie könne diese Differenz aufgehoben werden, eine Verschmelzung der Geschlechtscharaktere stattfinden und die »Idee der Menschheit« zu sich selber kommen. 3 8 Wenn die Familie der Ort war, an dem die Sehnsucht nach dem ganzen Menschen fündig wurde, konstituierte sie auch die »ursprüngliche Sphäre der freien Geselligkeit«, in der allein sich die umfassende, integrative Bildung zum Menschen realisierte. 39 Diese Bildung hatte nichts gemein mit den Spezialkenntnissen, die zur Ausübung eines Berufs notwendig waren, und ließ statt dessen nur Themen von allgemeinem Interesse zu. Auf diese Weise glich sie die Einseitigkeit der »bürgerlichen Verhältnisse« aus und erfüllte ihren »Endzweck, den Menschen auf eine Zeitlang aus dem Gesichtspunkt seines Berufs herauszusetzen.« 40 »Virtuosinnen in dem Kunstgebiet der freien Geselligkeit« waren die Frauen: einerseits aufgrund ihres Geschlechtscharakters, der ihnen sittliche Kompetenz und höheres Gefühl verlieh, andererseits, paradoxerweise, infolge ihrer Ferne zum »bürgerlichen Leben« und der damit zusammenhängenden Gleichgültigkeit gegenüber politischen Dingen. Außerhalb ihrer häuslichen Existenz, von der sie in der Sphäre intellektueller Kommunikation notwendig abstrahieren müßten, seien sie, anders als Männer, nur noch »gebildete Menschen« und als solche die »Stifter der besseren Gesellschaft«. 41 Aus der »Not« der Frauen, an das häusliche Leben gefesselt zu sein, wurde somit ihre Tugend, von der gerade Männer auf ihrem Weg zur Vollkommenheit kräftig profitieren sollten. Daß man der weiblichen Not auch anders abhelfen und ihre Fesseln anderweitig lösen konnte als in der Sphäre freier Geselligkeit, kam Schleiermacher nicht in den Sinn. Auch für ihn stand die überkommene geschlechtsbezogene Arbeitsteilung zwischen Haus und Welt, Familie und Öffentlichkeit nicht zur Disposition, und er dachte keineswegs daran, Frauen hineinzuziehen ins bürgerliche Leben, das ihm letztlich doch anregender und lebendiger schien als das häusliche. Die Kulturaufgabe der Frauen bestand nicht darin, Männern in eine trotz aller Vorteile einseitige und beschränkte Existenz zu folgen, sondern sie ihnen zu erleichtern. Indem sie ihnen in Familie und Geselligkeit andere »Anschauungen der Menschheit« boten und an einer »sittlichen Ökonomie« arbeiteten, die in den bürgerlichen Verhältnissen keinen Platz beanspruchen konnte, schufen sie die Bedingungen, unter denen Männer sich zu Menschen weiterbildeten. 42 Diesem Ideal menschlicher Vervollkommnung durch Bildung hing neben Friedrich Schlegel und Schleiermacher vor allem Wilhelm von Humboldt nach, und er hatte als hoher Beamter im preußischen Erziehungsministerium auch die Chance, seinem Ideal in Gestalt des neuhumanistischen G y m -

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nasiums und der 1810 gegründeten Berliner Universität eine praktisch wirksame Form zu verleihen. Allgemeine Menschenbildung, in öffentlichen Schulen zu lehren, war Bildung um ihrer selbst willen: Sie richtete sich nicht nach dem »Bedürfnis des Lebens«, sprich nach den Anforderungen des zukünftigen Berufs, sondern legte Wert auf »Kenntnis, als Kenntnis« und auf »Bildung des Gemüts«. 4 3 Bevor jemand zum »Bürger« - i m Doppelsinn des Wortes: zum »bourgeois« und zum »citoyen« - werden konnte, mußte er sich erst zum Menschen gebildet haben. 44 Trotz dieser entschiedenen Absage an das utilitaristische Bildungskonzept der Aufklärung und der Entkoppelung von allgemeiner und Berufsbildung ging Humboldt jedoch nicht so weit, allgemeinbildende Schulen auch für Mädchen zu öffnen. Ohne diesen Punkt überhaupt anzusprechen, stellte er sich unter seinen Bildungssubjekten durchweg nur »den Schüler«, »den Studierenden«, »den jungen Mann« vor. 4 5 Von Schülerinnen und Studentinnen war nirgendwo die Rede, weibliche Menschen nahmen weder an der allgemeinen noch an der speziellen Bildung teil. Alle Reformenergien und theoretischen Einsichten des Bildungsphilosophen und -politikers Humboldt machten vor der Schranke des Geschlechts halt. Der Grund dieser Selbstbeschränkung lag sicherlich nicht im weiblichen Geschlechtscharakter, der ungeachtet seiner spezifischen, richtungsweisenden Eigenheiten doch das Vermögen besaß, auch männliche Merkmale und Interessen auszubilden. Männlichkeit und Weiblichkeit standen in permanenter Wechselwirkung, umschlangen sich zu einem »harmonischen Ganzen« und konnten selbst in einer einzelnen Person zum Gleichgewicht gelangen. 4 6 Abseits solcher Verschmelzungs-Phantasien aber ließ Humboldt sehr deutlich erkennen, daß es ihm in erster Linie um die Vervollkommnung nur des männlichen Geschlechts ging. Das weibliche war ohnehin dem »Ideal der Menschheit näher«, selbst wenn es dieses seltener erreichte. 47 Anstatt ihm dazu verhelfen und »äußre Mißverhältnisse« beseitigen zu wollen, erwartete Humboldt von Frauen, Männer in ihrem Bemühen um Ganzheitlichkeit zu unterstützen: »Den Mann, der durch seine Tätigkeit leicht aus sich selbst herausgerissen wird, wieder in sich zurückzuführen; was sein Verstand trennt, durch das Gefühl zu verbinden; seinen langsamern Fortschritten zuvorzueilen, und die höchste Vernunfteinheit, nach der er strebt, ihm in der Sinnlichkeit darzustellen, ist die schöne Bestimmung dieses Geschlechts.«48 Frauen erschienen Humboldt als Sinnbilder einer in sich vollendeten Einheit, einer harmonischen Utopie; sie verkörperten die Sehnsucht des männlichen Bürgers nach ursprünglicher Idylle, die Kant in dem von ihm so wenig geschätzten Bild des arkadischen Schäferlebens eingefangen hatte, welches Menschen »bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe« zum ewigen Stillstand ihrer Gefühle und Fähigkeiten verurteilte. 49 Wenn nun aber die Natur Männer zu einem Leben in Konflikt,

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Bewegung und Fortschritt verdammt hatte, konnten die Kosten dieser Entwicklung dadurch minimiert werden, daß man ihnen Frauen mit ausgleichendem Charakter zur Seite stellte. In den theoretischen Schriften Humboldts, mehr noch in den literarischen Produkten der Weimarer Klassik, ist diese Arbeitsteilung immer wieder beschworen und ausgeschmückt worden. Vor allem Friedrich Schiller setzte ihr in seinen Gedichten ein bleibendes Denkmal. Dem rastlosen, im feindlichen Leben wettenden und wagenden Mann korrespondierte die im Innern des Hauses wirkende Frau, die dank der »sittlichen Harmonie der Gefühle« die »schöne Mitte« verwaltete, »wo die Menschheit fröhlich weilt«. Erwartete Schiller vom Mann Kraft und Würde, legte er die Macht der Frauen in ihre Anmut, in ihre »schöne Seele«, »wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren.« 50 Diesen im Geschlechterverhältnis systematisierten Zusammenhang von Sein und Handeln, 51 von Innen und Außen, von Einheit und Differenz hat auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel 1820 seinen rechtsphilosophischen Thesen zu Ehe, Familie und bürgerlicher Gesellschaft zugrundegelegt. Männer galten ihm als das entzweite, um seine »Einigkeit mit sich« kämpfende Geschlecht, während Frauen diese Einigkeit von Natur aus besaßen. In der Familie gewährten sie Männern die »ruhige Anschauung« einer »unentzweiten Individualität« und schufen Bedingungen, unter denen diese den »Kampf mit sich selbst« führen und gewinnen konnten.52 Daß die so errungene männliche Identität sehr viel komplexer, differenzierter und niveauvoller war als die weibliche, stand für Hegel außer Frage. Ganz ähnlich wie Schiller sprach er Frauen den Sinn für das »Ideale«, Objektive und Allgemeine ab und bestimmte sie für ein Leben in der subjektiven Empfindung, in der Familie. »Stehen Frauen an der Spitze der Regierung, so ist der Staat in Gefahr.« Auch die rechtliche Repräsentation der Familie war kein weibliches Metier und oblag, ebenso wie der »Erwerb nach außen, die Sorge für die Bedürfnisse sowie die Disposition und Verwaltung des Familienvermögens«, dem Mann. Nur er qualifizierte sich als »Haupt« der Familie auch zum »Sohn der bürgerlichen Gesellschaft« und nahm an ihrem durch Arbeit, Recht, Verwaltung und Korporation gekennzeichneten Entwicklungsprozeß teil. 53 Frauen dagegen waren aus dieser Sphäre »substantiell« ausgeschlossen, mußten es sein, um die Bedingung ihrer Möglichkeit, nämlich die Familie als Ort der Liebe, der Empfindung, des Vertrauens zu erhalten.54 Von Kant bis Hegel - und weit darüber hinaus - zog sich somit die Vorstellung von zwei faktisch und idealisch getrennten Wirkungsbereichen der Geschlechter durch die theoretischen Entwürfe bürgerlicher Gesellschaft. Mit wechselnden Begründungen wurden die Bindung der Frau an Haushalt und Familie, die Ausrichtung des Mannes auf Öffentlichkeit, Recht und Staat als grundlegendes, unabänderliches Muster gesellschaftlicher Arbeitsteilung festgeschrieben. Alle Glorifikationen und Idyllisierungen der Weiblichkeit, von den Romantikern bis zu Humboldt oder Schiller, 30 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

änderten nichts an dem Grundsatz funktionaler Differenzierung der »Menschheit« in zwei Geschlechter, der als elementares Ordnungsprinzip bürgerlicher Gesellschaft übernommen wurde. Selbst die fortgeschrittensten Modelle eines auf Verschmelzung angelegten Geschlechterverhältnisses krankten an einer unverhohlenen Asymmetrie: Letztlich war es auch ihnen nur um die sinnliche Perfektion der Männer, nicht aber um die bürgerliche Verbesserung der Weiber zu tun. IV. Freuden und Leiden bürgerlicher Existenz: Männer-Bilder Wenn bürgerliche Männer im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert über das Geschlechterverhältnis räsonnierten, gingen sie in der Regel von einem traditionellen Muster weiblich-männlicher Rechte und Pflichten aus, wie es spätestens seit Luthers Zeiten im bürgerlich-städtischen Milieu ausgeprägt war. 55 Fast alle Theoretiker stammten entweder aus den Kreisen der »gemeinen Bürger« oder aus den »höhern Bürgerclassen«, wie der Popularphilosoph Christian Garve den bürgerlichen Mittelstand 1792 differenzierte.56 War es in Handwerkerfamilien jener Zeit üblich, daß die Ehefrau »sich in den Kram und in das Handwerk ihres Mannes zu schicken wisse, und entweder einiges mit arbeite, oder doch die Ware geschickt und mit Nutzen verkaufen lerne«, 57 hatten die Frauen des gebildeten und wohlhabenden Bürgertums mit den Geschäften und Beschäftigungen ihrer Ehegatten nicht mehr viel zu schaffen. Hier hatte sich bereits eine Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern eingespielt, die die jeweiligen Wirkungssphären stärker gegeneinander abschloß. Frauen kümmerten sich um die Organisation des meist vielköpfigen Haushalts, hatten die Schlüsselgewalt inne, wiesen die Dienstboten an und kontrollierten deren Arbeit. Sie gebaren viele Kinder und waren jahrelang mit deren Wartung beschäftigt, was angesichts der Häufigkeit und Gefährlichkeit damaliger Kinderkrankheiten enorme Kraft, Gesundheit und Lebensenergien kostete.58 Darüber hinaus pflegten sie die Geselligkeit und führten ein offenes Haus. Bürgerliche Männer dagegen widmeten sich in erster Linie ihren Berufsgeschäften, die sie jedoch in den »höhern Bürgerclassen« der Gelehrten und Kaufleute nur selten von Haus und Familie entfernten. Häusliches und berufliches Leben fand nebeneinander statt, was vielfältige Grenzüberschreitungen in der einen oder anderen Richtung erlaubte. Der Mann lebte sein Leben trotz aller äußeren Verpflichtungen und Kontakte im wesentlichen innerhalb der Familie: Er war Hausvater, Haupt der häuslichen Gemeinschaft im wirklichen Sinn und hatte diese Funktion nicht nur pro forma, vom Gesetz verordnet, inne. Zugleich geriet diese Außenwelt des Erwerbs, der öffentlichen Kommunikation und der politischen Verhältnisse in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zunehmend in Bewegung. Ideen zirkulierten schneller,

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immer mehr Zeitungen gestatteten ihre Verbreitung; das Bedürfnis nach geistigem Austausch und Diskussion schuf sich in Gestalt von Lesegesellschaften, Logen und gemeinnützigen Vereinen einen passenden Rahmen; die amerikanische und, stärker noch, die Französische Revolution stärkten den aufklärerischen Glauben an die Veränderbarkeit und den Fortschritt politischer und gesellschaftlicher Strukturen. Die relativ statischen Verhältnisse des Ancien Régime, die das Bürgertum bislang als eher undurchsichtig und von ihm nicht beeinflußbar wahrgenommen hatte, zeigten sich für Kritik empfänglich: Wenn sie auch nicht à la fraçaise »von unten« gestürzt werden konnten und sollten, hegte man doch begründete Hoffnungen auf eine allmähliche Reform von oben, an der bürgerliche und aufgeklärte adlige Beamte in politischen Schlüsselstellungen teilhatten. Diese allseits spürbare Dynamisierung der öffentlichen Sphäre bewirkte eine rasch wachsende Distanz zum Erlebnisbereich von Haus und Familie, die von den Beschleunigungstendenzen der Epoche weit weniger erfaßt wurden. Adam Müller bezeichnete es 1812 als Innovation des neuen Jahrhunderts, daß »das häusliche Leben und das öffentliche voneinandergerissen sind«. 59 In dem Maße, wie Männer durch ihren Beruf, durch eine expandierende bürgerliche Vereinskultur und intensivere politische Anteilnahme stärker mit dem an Bedeutung wachsenden öffentlichen Leben verflochten waren, entfernten sie sich aus dem häuslich-familialen Bereich, der sich umgekehrt zu einem exklusiven Raum für Frauen und Kinder umbildete. Eben dieser Ausdifferenzierungs- und Trennungsprozeß, der in der Umbruchphase unmittelbar vor und nach der Jahrhundertwende den bürgerlichen Lebenszusammenhang entscheidend umgestaltete, stand im Hintergrund der Reflexionen, die Philosophen und Schriftsteller über das Geschlechterverhältnis und seinen Ort in der bürgerlichen Gesellschaft zu Papier brachten. Die Art und Weise, wie sie sich mit ihrer bürgerlichen Existenz arrangierten, wirkte sich dabei merklich auf ihre Wahrnehmung und Interpretation männlich-weiblicher Funktionsrollen aus. Für Immanuel Kant, 1724 in Königsberg in einer Handwerkerfamilie geboren und auf Drängen seiner belesenen Mutter zu höherer Schul- und Universitätsbildung gelangt, bedeutete die akademische Karriere einen sozialen Aufstieg, der ihn trotz aller Mühsal und Verzögerung schließlich doch zu professoralen Würden und großer öffentlicher Anerkennung führte. Obgleich er sich zweimal mit ernsthaften Heiratsabsichten trug, blieb er zeitlebens Junggeselle. Von den Frauen seiner Umgebung als anregender Gesellschafter geschätzt, scheint er den engeren, häuslichen Umgang mit ihnen nicht vermißt zu haben. Im Gespräch mit Freunden lobte er vor allem solche Ehen, die aus finanziellen Erwägungen geschlossen wurden und vor Enttäuschungen und Fehlschlägen geschützter seien als romantische Liebesbündnisse. Sein Leben spielte sich in völlig geregelten Tagesrhythmen ab und kreiste um seine Arbeit als Lehrer und Gelehrter, die nur von der täglichen Tischgesellschaft mit Män-

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nern anderer bürgerlicher Berufe und dem berühmten einsamen Spaziergang unterbrochen wurde. 60 Auch der um achtunddreißig Jahre jüngere Fichte, ebenfalls ein sozialer Aufsteiger aus noch kleineren Verhältnissen, lebte fast ausschließlich seinem Beruf und seinem Ehrgeiz, nicht nur zu denken, sondern auch zu handeln, Wirkungen hervorzurufen, Macht auszuüben. Ihm schwebte keine selbstgenügsame Gelehrtenexistenz vor, sondern ein öffentliches Leben »auf einem größern Schauplatze«.61 Diese Position, die er als erster Rektor der neugegründeten Berliner Universität 1810 auch erreichte, mußte er sich schwer erkämpfen, manche Rückschläge und Zurücksetzungen hinnehmen und mit jahrelanger ökonomischer Unsicherheit und Einschränkung bezahlen. Aus diesen Erfahrungen, die bis in die früheste Kindheit zurückreichten, entwikkelte er eine Lebensauffassung, die Pflicht, harte Arbeit und nicht das persönliche Glück in den Mittelpunkt stellte. 1790 schrieb er an seine Braut Johanna Rahn: »Hienieden ist nicht das Land der Glückseligkeit; ich weiß es jetzt: es ist nur das Land der Mühe, und jede Freude, die uns wird, ist nur Stärkung auf eine folgende heißere Arbeit.« 62 Ein solches bürgerliches Pflicht- und Arbeitsethos, verbunden mit Aufstiegsbewußtsein und Erfolgsgewißheit, ließ keine Zweifel, keine Unzufriedenheiten zu. Für Fichte war es selbstverständlich, seine berufliche und politische Existenz als Mann voll auszufüllen. Von einer Vermischung häuslicher und öffentlicher Kreise hielt er überhaupt nichts. Seine vier Jahre ältere Frau liebte und verehrte er, weil sie ihrer Pflicht in »ruhiger Ergebung« nachkam, für seine »kleinen Bedürfnisse« sorgte, ihm manches »unangenehme Detail« abnahm, die Dienstboten kontrollierte, auf eine sparsame Haushaltsführung bedacht war und den einzigen Sohn umhegte. Außerdem achtete er sie als »Freundin«, als »Gefährtin« und »Gesellin«, »mit der ich nach durcharbeitetem Tage die herzlichen, traulichen Abendstunden hinbringen kann«. 63 Er sprach alle Probleme mit ihr durch und schätzte sie als Spiegel der eigenen Ideen und Projekte, als emotionale und intellektuelle »Weltbestätigerin«.64 Auch wenn er seiner Frau durchaus bewundernd eine »männliche Seele« attestierte und in ihr sowohl »männliche Erhabenheit des Geistes« als auch »weibliche Zärtlichkeit« fand,65 konnte es für sie nur ein Leben an seiner Seite geben, aufgehoben in den häuslichen und geselligen Pflichten des weiblichen Lebenszusammenhangs und mit der »großen Welt«, den Neuerungen in Wissenschaft und Politik, allein durch den Mann verbunden. Eine wesentlich gebrochenere Beziehung zu dieser Welt und ihren »bürgerlichen Verhältnissen« zeichnete die jungen Männer im Umkreis der romantischen Bewegung aus. Friedrich Schlegel, 1772 als Sohn eines Generalsuperintendenten und einer Professorentochter geboren, träumte als Student und freier Schriftsteller nicht von Aufstieg, sondern eher vom Ausstieg aus dem bürgerlichen Leben, das ihm allzu prosaisch dünkte. Sein Lebensziel war nicht der »bürgerliche Mensch«, der, »zur Maschine gezimmert und gedrechselt«, eine bloße »Zahl in der politischen Summe geworden ist«.

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Spott und Verachtung brachte er auch dem »häuslichen Menschen« entgegen, der auf seine Bewegungsfreiheit verzichtete und allmählich versteinerte. Statt dessen sehnte er sich, im produktiven Alter von siebenundzwanzig Jahren, nach der »innigsten, ganz rastlosen, beinah gefräßigen Teilnahme an allem Leben«, nach der »Heiligkeit verschwenderischer Fülle«. 66 Dafür schien ihm die Existenz eines Künstlers besonders geeignet, der ohne Bindungen, aber auch ohne Sicherheiten ein freies, unabhängiges Leben führen könne, ganz sich selber verpflichtet, aber nicht ohne Wirkung auf seine Umwelt. 6 7 Solche Wirkung, Publizität und Popularität wußte Schlegel als »Autor«, der »die Poesie und die Philosophie unter den Menschen zu verbreiten und fur's Leben und an dem Leben zu bilden« suchte, wohl zu schätzen. In seinen 1799 veröffentlichten Briefen an Dorothea Veit erklärte er selbstbewußt: »Ich lebe wenigstens als Autor in der Welt«, während sie sich um diese Welt nicht bekümmern müsse. Mit einem Anflug von Neid fügte er jedoch hinzu: »Selig, wer sich nicht in das Gewühl zu mischen braucht, und in der Stille auf die Gesänge seines Geistes horchen darf!« 68 Schleiermacher, mit dem der um vier Jahre jüngere Schlegel in seinen Berliner Jahren eng befreundet war, teilte diese Ambivalenz. Auch er stammte aus einer allerdings nicht so hochgestellten Theologenfamilie, und obwohl er als späterer Professor, Universitätsprediger, hoher Beamter im preußischen Unterrichtsministerium und Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften weit über seinen Herkunftskreis hinauswuchs, waren ihm der berufliche Ehrgeiz und die Monomanie eines Fichte sehr fremd. Wenngleich ihm sein Leben in Wissenschaft, Kirche und Staat großen Spaß bereitete, füllte es ihn nicht aus. Er sehnte sich nach »häuslichem Glück«, nach der Ehe als Ausdruck eines »ganzen unzerstückten Lebens«, nach Liebe und einem »Leben in der Liebe«, und ihm graute, nach einer langjährigen und letztlich unerfüllten Beziehung zu einer unglücklich verheirateten Frau, vor dem »liebeleeren, beruflosen, Gott und Menschen höhnenden Leben eines Hagestolzen«. 69 Er suchte die Gesellschaft gebildeter Frauen, war eng mit Henriette Herz und Dorothea Veit befreundet und schloß sich, wie er seiner Schwester 1799 schrieb, »immer genauer an Frauen an . . . , als an Männer; denn es ist so vieles in meinem Gemüt, was diese selten verstehn.« 70 Was er an Frauen bewunderte und worum er sie ernsthaft beneidete, war ihre Phantasie, die »ursprüngliche und ungetrübte Reinheit des Gefühls« und der Vorstellungskraft. Hierin seien die Frauen »stark, bloß weil man ihnen so viel Ruhe läßt«. Männer dagegen ließen »gewöhnlich den Himmel leer . . . Sie haben's nur immer mit der Vernunft, und zwar mit der auf die bürgerlichen Verhältnisse gerichteten, in welchen allein sie leben, weben und sind.« Die Geschäfte der Frauen, beschwerte sich Schleiermacher 1804, »begnügen sich mit einem Teil ihrer Gedanken, und die Sehnsucht des Herzens, das innere schöne Leben der Phantasie, beherrscht immer den größeren Teil. Wenn ich

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mich hingegen zu meiner Arbeit hinsetze, so muß ich ordentlich von meinen Lieben Abschied nehmen, wie der Hausvater, der seine Geschäfte auswärts hat.« Deshalb erschien ihm »die Natur der Frauen edler . . . und ihr Leben glücklicher, und wenn ich je mit einem unmöglichen Wunsche spiele, so ist es mit dem, eine Frau zu sein.« 7 1 Eine Frau, wäre hinzuzufügen, wie Henriette Herz, die kinderlos war und ihre »Wirtschaft« so gut organisiert hatte, »daß sie ihr nur ein paar Stunden täglich zu widmen braucht« und die meiste Zeit mit Selbstbildung und freier Geselligkeit verbringen konnte. 72 Ob Schleiermacher mit seiner eigenen Frau hätte tauschen mögen, die mit sechs Kindern, einem großen Haushalt und einem knappen Budget gesegnet war, bleibt fraglich. Und auch die Worte, mit denen er Henriette Herz 1798 darüber tröstete, daß sie als Frau in der »Außenwelt« nichts bewegen könne: »Eigentlich gibt es doch keinen größeren Gegenstand des Wirkens, als das Gemüt, ja überhaupt keinen andren, wirken Sie etwa da nicht?«, 73 klingen wie in den Wind gesprochen, wenn man sie seiner Begeisterung für den eigenen Beruf, »den ich enthusiastisch fast liebe«, seiner Freude an vielfältigen nützlichen und »nicht unwirksamen« Beschäftigungen gegenüberstellt. 74

Öffentlichen Einfluß, politische Macht und beruflichen Erfolg wußte auch Wilhelm von Humboldt, 1767 geborener Sproß eines neuadligen Beamtenund Offiziersgeschlechts, zu schätzen. In den unruhigen Jahren napoleonischer Expansion und preußischer Reorganisation akzeptierte er immer wieder höchste Staatsämter, um sich nach kurzer Zeit enttäuscht ins Privatleben oder auf ruhige, repräsentative Diplomatenpositionen zurückzuziehen. An einer unspektakulären Amtskarriere war er nicht interessiert, und da er von seinem Vermögen leben konnte, sah er keinen Grund, sein Ideal »ungebundener Geistesfreiheit« einer beamteten Existenz ohne Genuß zu opfern. Anstatt seine Laufbahn als Referendar am Berliner Kammergericht fortzusetzen, zog er es vor, zu Schriftstellern, zu reisen und seine Bildung in Gemeinschaft mit seiner Frau Caroline und gleichgesinnten intellektuellen Freunden zu vervollkommnen.75 In dieser aristokratischen Lebensweise löste sich die Geschlechterdifferenz tendenziell auf: Die männliche Existenzform glich sich der weiblichen an. Indem er sich von der männlichen »Sklavenarbeit« befreite, näherte sich Humboldt der Fülle und Selbstbezogenheit eines weiblichen Daseins, wie er es in der Person Caroline von Dacherödens idealisiert fand.

»Mir hat immer das Amazonenreich gefallen«, schrieb er ihr 1790, »wo die Weiber herrschten und die Männer die Sklavendienste verrichteten. Denn wahr ist es doch, daß wir Sklavenarbeit tun und uns damit brüsten. So zu machen, daß alles in der Welt seinen Gang fortgehen, daß man leben und tätig sein kann, Stoff zum Denken und Empfinden zu schaffen, dazu taugen wir recht gut. Aber das, was eigentlich dem Dasein Wert gibt, das Denken und Empfinden selbst kommt nur von Euch, und wir erhalten davon nur so viel, als aus Eurem vollen Becher überfließt oder Eure Liebe uns mitteilt.« 76

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Neunzehn Jahre später allerdings, ein halbes Jahr nach seiner Ernennung zum Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht im preußischen Innenministerium, hatte er seine Meinung geändert: »Ein Mann ist einer edlen Frau nicht würdig, wenn er nicht sein Dasein, wo es möglich ist, an etwas Großes oder Nützliches anknüpft, und wenn er gut tut, in der flüchtigen Jugend auch in der Gegenwart ihr zu leben, so muß er bei vollendeter Reife vor ihr, selbst vor den Menschen sie rechtfertigen, daß sie ihn liebte.«77 Daß ein aristokratisches, den materiellen Bedürfnissen und dem »Nützlichen« enthobenes Leben mit dem Stempel der Weiblichkeit versehen war, konstatierte auch Adam Müller mit unverhohlenem Neid, und 1792 schrieb der bürgerstolze Garve bewundernd über den großen Einfluß, den adlige Frauen, ganz im Unterschied zu den im »Bürgerstand« obwaltenden Geschlechterverhältnissen, in ihren Kreisen genössen. 78 Die Idealisierung des Weiblichen bei Schlegel, Novalis, Schleiermacher, Humboldt oder Schiller war deshalb mit der Sehnsucht nach dem Aristokratischen, nach der intakten »Persönlichkeit« Wilhelm Meisters identisch. 79 Frauen mit Kunst, Freiheit, Innerlichkeit, Authentizität gleichzusetzen und sie von den »bürgerlichen Verhältnissen« fernzuhalten, geriet so zu einem Akt des Widerstandes oder der Flucht vor dem Mechanischen, Maschinenmäßigen, Entindividualisierenden des alltäglichen bürgerlichen Erwerbslebens. Männliche Intellektuelle, die sich auf ein solches Leben halb fasziniert, halb angewidert einließen, schufen sich in der entrückten, zeitlosen Sphäre des Weiblichen ein Reich der eigenen, nicht erfüllbaren und deshalb zu projizierenden Ich-Ideale. Ganz nach Belieben konnten sie diesem »anderen Selbst« huldigen oder sich ihm in ihrer bürgerlichen Existenz weit überlegen dünken. Solchen Wunschbild-Projektionen hingen die dem bürgerlichen Leben positiv-bejahend begegnenden sozialen Aufsteiger auffallend weniger nach als jene Autoren adlig-bürgerlicher Herkunft, die es sich leisteten, einen antibürgerlichen Gestus zu pflegen. Wo Schleiermacher, Schlegel oder Humboldt die Freisetzung der Frauen von »äußeren Beschäftigungen« in Gesellschaft und Staat als Bedingung ihrer »Phantasie« und »Empfindung« feierten, an welcher Männer von ihrer eigenen Entfremdung genesen könnten, nahmen Kant, Fichte und auch Hegel Frauen weit nüchterner als von ihrer Natur benachteiligt und unterworfen wahr, die, der Fähigkeit zu Autonomie und Selbständigkeit entbehrend, ihren Platz in der Familie, nicht aber in Öffentlichkeit und Politik fanden. Diese eigentümliche Parallelführung von Unterwerfung und Erhöhung des Weiblichen war und blieb konstitutiv für das Verhältnis der Geschlechter in der nachständischen Gesellschaft: Beide Strategien, die misogyne ebenso wie die androgyne, mündeten in einer rigiden, unaufhebbaren Trennung von Familie und Öffentlichkeit, die als unverzichtbare Voraussetzung für die Stabilität und Kontinuität bürgerlicher Verkehrsformen angesehen wurde.

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V. Hyänen der Revolution und Virtuosinnen der Geselligkeit: Frauen-Träume Daß Philosophen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, am Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft so intensiv und dicht wie nie zuvor und kaum jemals danach über Frauen, Liebe und Weiblichkeit nachgedacht haben,80 ist wohl nicht allein durch die Notwendigkeit zu erklären, sich über ihre eigene, männliche Rolle in der bewegten Gegenwart und der projektierten Zukunft zu verständigen. In den theoretischen Entwurf eines bürgerlichen Geschlechterverhältnisses gingen darüber hinaus auch praktische Erfahrungen mit dem anderen, dem »zweiten Geschlecht« (Fichte) ein. Nicht immer war die Verbindung zwischen Praxis und Theorie so durchsichtig wie in Friedrich Schlegels Roman »Lucinde«, der stark autobiographische Züge trug und in dem die weiblichen Figuren gleichfalls deutlich identifizierbar waren. Auch Schleiermachers »Vertraute Briefe«, die den Roman und seine Liebesästhetik vor »unverständigen« Kritikern in Schutz nehmen wollten, trugen nicht nur seine Handschrift, sondern gaben zudem die Auffassungen seiner Freundinnen Henriette Herz und Eleonore Grunow wieder. 81 Sehr deutlich hat darüber hinaus Fichte den Zusammenhang zwischen seinem Modell weiblich-männlicher Beziehungen und tagespolitischen Ereignissen offenbart, wenn er seine Deduktionen als Reaktion auf weibliche Gleichheitsforderungen bezeichnete. Ohne Namen zu nennen, schleuderte er Donner und Blitz gegen jene »Weiber und ihre Schutzredner«, die die Rechtsungleichheit von Frauen und Männern aufgehoben wissen wollten. Angesichts dieser Herausforderung empfand er es als »ein dringendes Bedürfnis«, die Ursachen der Ungleichheit aufzudecken und sie zu rechtfertigen. 82 Seine Rekapitulation der Gegenargumente beweist, daß er die Schriften der Engländerin Mary Wollstonecraft und des Königsbergers Theodor Gottlieb Hippel über die »bürgerliche Verbesserung der Weiber« kannte.83 Wollstonecrafts Buch, 1792 in England erschienen und bereits ein Jahr später von dem Aufklärungspädagogen Christian Gotthilf Salzmann ins Deutsche übersetzt, und Hippels ebenfalls 1792 anonym publiziertes Werk knüpften explizit an die Freiheits- und Gleichheitsforderungen der Französischen Revolution an und verlangten, ähnlich wie Olympe de Gouges in ihrer Frauenrechtserklärung 1789,84 die Aufhebung aller rechtlichen, politischen und Bildungsbeschränkungen für Frauen. Eben diese Anleihen bei der Französischen Revolution aber brachten das wohlgemeinte Plädoyer in Deutschland in Mißkredit. So begeistert die bürgerlichen Intellektuellen den Ausbruch der Revolution auch begrüßt hatten, so abweisend reagierten sie auf die Teilnahme von Frauen an Straßenkämpfen und Volksversammlungen.85 Im November 1789 berichtete der in Paris weilende Friedrich von Beulwitz seiner Schwägerin Charlotte von Lengefeld, Schillers Braut, von Frauen, die einem erschlagenen Gardisten

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das Herz herausgerissen und dessen Blut aus Pokalen getrunken hätten. 86 Lotte kommentierte ungläubig: »Es wäre weit gekommen, wenn sie so sehr ihre Weiblichkeit vergessen hätten«, 87 und Schiller dichtete zehn Jahre später: »Da werden Weiber zu Hyänen Und treiben mit Entsetzen Scherz, Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen, Zerreißen sie des Feindes Herz.« Schuld an dieser Entweiblichung waren, so Schiller, die »Wahn«ideen allgemeiner Freiheit und Gleichheit und die Vorstellung, daß »sich die Völker selbst befrein«. 88 Unter solchen Auspizien gediehe weder die »Wohlfahrt« des Staates noch die der bürgerlichen Gesellschaft und der Familie, was in Frankreich allerorts zu beobachten sei. Erst nachdem die Französinnen, lehrte 1800 der Göttinger Professor Christoph Meiners, dem »unweiblichen Umherschwärmen in den Volksversammlungen, in den Gerichten, und bei Exekutionen werden entsagt haben«, konnten Familienglück und soziale Ordnung wieder Einzug halten. 89 Band Meiners das Familienglück an die traditionelle Rolle der Hausmutter, die »Kinder gebären, säugen, und erziehen, so wie das innere Hauswesen leiten« sollte, 90 begründete Schleiermacher den gewünschten Ausschluß der Frauen aus dem öffentlichen Leben mit der Bewahrung weiblicher Individualität: »Wenn es sich irgend verteidigen läßt«, schrieb er 1802, »daß sie in der eigentlichen Wissenschaft und in der bürgerlichen Welt keine eigne Stelle haben sollen, so ist es nur in dieser Beziehung, daß die bürgerliche Welt die Phantasie unterdrückt.« 91 Auch hier sollte ein Refugium gerettet werden, aber nicht um Männern häusliche Ruhe und Bequemlichkeit zu verschaffen, sondern um ihnen »Belebung und Erfrischung« zu gewähren. 9 2 Das in den Kreisen des altständischen Bürgertums gepflegte Frauenbild war bei den neuen, unruhigen Bürgern verpönt, und Schillers hausbackene Elogen auf die »Töchter der frommen Natur« und die »züchtige Hausfrau« riefen in der Schlegelschen »Geisterfamilie« (Novalis) nur herablassende Heiterkeit hervor. 93 Strümpfestrickende, hosenstopfende, suppenkochende, puppenputzende Frauen entsprachen so gar nicht den Vorstellungen, die sich die jungen Männer des romantischen Kreises von ihren Herzensdamen machten. Ihre Wahl fiel auf mutige, erfahrene, geistvolle Frauen, die ihnen an Jahren und Lebensklugheit oft voraus waren und denen fremde Besucher gern eine »ungefällige Männlichkeit« attestierten. 94 Diese Frauen nahmen an den intellektuellen und wissenschaftlichen Debatten ihrer Zeit regen Anteil, waren als charmante, hochgebildete Gastgeberinnen Mittelpunkte freier Geselligkeit und wagten sich mit eigenen Romanen und Übersetzungsarbeiten auf das literarische Parkett. Daß es ihnen dabei an Selbstbewußtsein und Sinn für bürgerlich-männliche Verkehrsformen nicht mangelte, beweist die Tatsache, daß sie für ihre

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Werke Geld verlangten. Caroline von Beulwitz teilte ihrer Schwester Lotte Schiller 1792 mit: »Wir sind voller Finanzspekulationen. Die Li. [Caroline von Humboldt] will auch übersetzen fur's Geld, und ich schreibe einen Band Märchen, und wenn sie nichts taugen, will ich auch übersetzen, um Geld zu haben.« 95 Dorothea Veit, von ihrem Mann geschieden und mit Friedrich Schlegel zusammenlebend, verdiente mit Übersetzungen und ihrem Roman »Florentin« so viel, daß sie Schlegel von seinen »merkantilistischen« Handwerks-Pflichten entlasten und ihm »Ruhe schaffen« konnte für seine eigentliche Kunst. 96 Aber sie freute sich nicht nur über den Verdienst, sondern auch über die öffentliche Aufmerksamkeit und Resonanz und verkörperte damit jene von Fichte gegeißelte »Ruhmsucht und Eitelkeit«, die schriftstellernden Frauen in der Regel eigen sei. 97 Trotz dieser Schritte auf unbekanntem, männlich präformiertem Terrain, trotz ihrer Expeditionen ins Reich des eigentlich Unschicklichen hielten auch diese extravaganten Frauen an bestimmten Normen geschlechtsbezogenen Verhaltens fest, ja kultivierten sogar eine neue, strikt weibliche Lebensform, die sich mit den theoretischen Entwürfen ihrer männlichen Freunde, Liebhaber oder Gatten weitgehend deckte. »Weiblichkeit«, meinte die dreiundzwanzigjährige Caroline von Dacheröden 1789, »dies Wort wird ewig eine Scheidewand zwischen uns und die Männer setzen.« 98 Obgleich sie ihre Haushaltspflichten eher nebenbei zu erledigen suchte, in der »höchsten ungebundensten Geistesfreiheit« ihren »höchsten Genuß« fand und auf die gegenseitige Achtung der »Individualitäten eines jeden Charakters« in der Ehe den größten Wert legte, nahm sie die Ungleichheit männlicher und weiblicher Existenz sehr deutlich und ganz ohne Aversion wahr: »Ein weibliches Dasein wird erst zu etwas, wenn es die Freude, das Glück eines geliebten Mannes ist, aber die Eure öffnet Euch reichere Quellen des Genusses und der Wirksamkeit, bietet Euch mannigfaltigere Verhältnisse dar.« Dennoch sei diese Existenz in der Liebe »die schönste, die uns die Natur geben konnte«, und noch als Dreiundvierzigjährige vertraute sie ihrem Mann an, »daß ich von jeher nichts anderes als eine Frau sein möchte«. 9 9 Auch Dorothea Mendelssohn-Veit, 1763 geboren und somit neun Jahre älter als Friedrich Schlegel, akzeptierte ihre Weiblichkeit ohne Zaudern, verband sie aber, anders als Caroline von Dacheröden-Humboldt oder Caroline Schlegel, mit deutlichen Gesten der Unterwerfung und Selbstverleugnung. Sie rechtfertigte die »vernünftige Herrschaft« von Männern über Frauen und billigte Frauen in einer »schönen Ehe« gerade so viel Verstand zu, »um den des Mannes zu verstehen; was darüber ist, ist von Übel«. 1 0 0 Hierin glich sie Henriette Schleiermacher, die, um zwei Jahrzehnte jünger als ihr Mann, freimütig bekannte: »Ich habe mich immer mehr für die Ehen interessiert, wo die Frau ganz durchaus unter dem Manne steht, so daß sie allein durch die gegenseitige Liebe und durch die Mutterwürde zu ihm hinaufgehoben wird, als für solche, wenn beide einander fast

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gleich sind an Geisteskraft und Bildung. Ist gar die Frau mehr, so, behaupte ich, kann es gar keine Ehe sein - das muß ganz unerträglich sein.«101 Ob die Verbindung zwischen Karl August Varnhagen von Ense und Rahel Levin, die ihrem Mann intellektuell weit überlegen war, wirklich »ganz unerträglich« genannt zu werden verdient, bleibt dahingestellt. Rahel Varnhagen aber, neben Henriette Herz die bedeutendste Figur Berliner Salongeselligkeit um die Jahrhundertwende, klagte 1819 sehr bitter über den »unnatürlichen Zustand«, der Frauen zugemutet werde: »Sie haben der beklatschten Regel nach gar keinen Raum für ihre eigene Füße, müssen sie nur immer dahin setzen, wo der Mann eben stand, und stehen will; und sehen mit ihren Augen die ganze bewegte Welt wie etwa Einer, der wie ein Baum mit Wurzlen in der Erde verzaubert wäre.« 102 Solche kritischen Selbstanalysen weiblicher Existenz waren zu jener Zeit keinesfalls an der Tagesordnung. Nur wenige Frauen nahmen sich die Freiheit, den Zauber zu brechen und als Schriftstellerinnen oder Stifterinnen gebildeter Salongeselligkeit am Weltgeschehen teilzuhaben. In diesem Zwischenreich des Nicht-mehr-Privaten und Noch-nicht-Öffentlichen erarbeiteten sie sich ein Höchstmaß individueller Autonomie, Bewegungsfreiheit und Unabhängigkeit im »Menschenverkehr« (Rahel Varnhagen), das in normalen weiblichen Daseinsformen und -zwecken unbekannt war. Zwar sollten »Weiber in den höhern Ständen«, wie es 1798 in einem vielgelesenen weiblichen Erziehungsroman hieß, »Welt-, Menschen- und Sachkenntnisse besitzen«, doch durften sie Bildung und Gelehrsamkeit nie zum Selbstzweck erheben und ihre eigentlichen Pflichten als »Wirtschafterin, Gattin, Mutter, Erzieherin und Freundin« nicht darüber vernachlässigen. 103 Weit davon entfernt, die zweigeteilte Geschlechterordnung gänzlich außer Kraft setzen zu wollen und sich ihrer »Bestimmung« radikal zu entledigen, kreierten die Frauen der klassischen und romantischen Salons statt dessen ein neues bürgerliches Weiblichkeits-Modell, das Bildung, Kunst und Kultur prämierte und den häuslichen Pflichtenkanon eher an den Rand drängte.

Dieses Vor-Bild hatten Männer wie Schlegel, Schleiermacher, Müller, Schiller oder Humboldt vor Augen, als sie ihre Reflexionen über das Geschlechterverhältnis zu Papier brachten. Zugleich standen aber auch die ersten Gleichberechtigungsansprüche von Frauen im Raum, angereichert mit den abschreckenden Beispielen weiblicher Emanzipation auf den Straßen der französischen Revolutionshauptstadt. Angesichts dieser Herausforderung entwickelte sich in den Jahren vor und nach der Jahrhundertwende ein intensiver Diskurs über Weiblichkeit und Männlichkeit, der den traditionellen Geschlechterdualismus in einem modernen Gewand präsentierte. Auf dem Hintergrund beschleunigter Wandlungsprozesse in der »Außenwelt« des Erwerbs, der öffentlichen Kommunikation und der Politik wurde auch

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die »Innenwelt« des Hauses und der Liebe neu beschrieben, in ihren Grenzen abgesteckt und mit veränderten Bedeutungen versehen. Je nach dem Grad ihrer eigenen Integration in das »System der Bedürfnisse« (Hegel) plazierten die männlichen Diskurs-Teilnehmer Frauen komplementär oder konträr zur bürgerlichen Gesellschaft, wiesen ihnen Küche und Kinderstube oder aber den Himmel der Phantasie zu. Die »Paläste« der bürgerlichen Wirklichkeit jedoch blieben ihnen in jedem Fall verschlossen. Auch wenn Männer diese Paläste zuweilen selber nur wie »Fremdlinge« bewohnten,104 wollten sie sie doch keinesfalls mit Frauen teilen. Statt dessen konstruierten sie für jene einen ganz auf ihre Bedürfnisse als »entzweite« Menschen zugeschnittenen Raum, den Frauen in einer beeindruckenden Rollenvielfalt als Musen, Gattinnen, Mütter und Hausfrauen auszufüllen hatten.105 Nach und nach gewöhnte man sich daran, diesen Raum mit dem Begriff »Familie« zu kennzeichnen und ihm die Bedeutung einer für die bürgerliche Gesellschaft zentralen Institution zu unterlegen. In eben dieser Institution lag und liegt die gesellschaftliche Ungleichheit der Geschlechter begründet, die, im bürgerlichen Familien- und Sozialrecht kodifiziert, auch nach den Rechtsfortschritten des frühen 20. Jahrhunderts fortbestand. Diesen Zusammenhang haben die bürgerlichen Gesellschaftsarchitekten nicht nur konzeptualisiert, sondern auch mehr oder weniger schlüssig gerechtfertigt. Ihre Theorien, allen voran Fichtes Vorstellung von der vernünftigen Selbstunterwerfung der Frauen in der Ehe, blieben nicht folgenlos, sondern beeinflußten das Denken und Handeln von Rechts- und Bildungspolitikern, Unternehmern, Gewerkschaftsfunktionären oder Kirchenmännern bis weit in dieses Jahrhundert hinein. Daß sich daneben auch das ursprüngliche Gleichheits- und Freiheitsversprechen der bürgerlichen Gesellschaft lebendig erhielt, unterstreicht die dynamische, selbstkritische Kapazität dieser Gesellschaft, die ihr immer wieder wichtige Strukturkorrekturen abverlangte. Ob das nach wie vor uneingelöste Projekt gesellschaftlicher Gleichheit von Frauen und Männern die Grenzen ihrer Innovationsfähigkeit letzten Endes nicht doch übersteigt, bleibt eine offene theoretische und politische Frage - die bürgerlichen Meisterdenker vor zweihundert Jahren haben sie mit einem unzweideutigen JA beantwortet.

Anmerkungen 1 Geradezu klassisch ist dieses Argument bei K. Marx, Kritik des Hegeischen Staatsrechts (1843), und in seiner Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie (1844) entwickelt (MEW, Bd. 1, Berlin 1972, S. 203-333, 378-391). 2 Vgl. C. Pateman u. E. Gross (Hg.), Feminist Challenges. Social and Political Theory, Sydney 1987; J . Evans u. a., Feminism and Political Theory, London 1986. 3 I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), in: ders., Gesammelte Schriften, 1. Abt., Bd. VIII, Berlin 1923, ND Berlin 1969, S. 17-31, hier S. 29. Alle Quellenzitate sind den heutigen orthographischen Regeln angepaßt.

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4 J . Schlumbohm, Freiheit. Die Anfange der bürgerlichen Emanzipationsbewegung in Deutschland im Spiegel ihres Leitworts, Düsseldorf 1975. 5 Kant, Idee, S. 22. 6 O. Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung. Das Gleichheitspostulat in der alteuropäischen Tradition und in Deutschland bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert, Berlin 1980, v. a. S. 132 ff.; R. Dahrendorf, Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, in: ders., Pfade aus Utopia, München 1968, S. 352-379. 7 I. Kant, Vom Verhältnis der Theorie zur Praxis im Staatsrecht (1793), in: ders., Gesammelte Schriften, 1. Abt., Bd. VIII, Berlin 1923, ND Berlin 1969, S. 289-306, hier S. 292. 8 W. Euchner, Demokratietheoretische Aspekte der politischen Ideengeschichte, in: G. Kress u. D. Senghaas (Hg.), Politikwissenschaft, Frankfurt 1975, S. 37-61. 9 Während der deutsche Bürger-Begriff diese Doppelung semantisch nicht wiedergibt, differenziert die französische Sprache, hierin genauer, zwischen »bourgeois« und »citoyen«. Auf diese Konstruktionen greifen auch deutsche Philosophen häufig zurück. Vgl. dazu M. Riedel, Bürger, Staatsbürger, Bürgertum, in: O. Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 672-725, v. a. S. 683ff. 10 H. Medick u. Z. Batscha, Einleitung, in: A. Ferguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt 1986, v.a. S. 30-34. S. auch U. Haltern, Bürgerliche Gesellschaft, Darmstadt 1985, S. 53 ff. 11 Kant, Verhältnis, v. a. S. 290-296. 12 Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), in: ders., Werke, Bd. VI, Berlin 1907, ND 1969, S. 314. 13 J . Locke, Die politische oder bürgerliche Gesellschaft, in: L. Gall u. R. Koch (Hg.), Der europäische Liberalismus im 19. Jahrhundert, Bd. 3, Frankfurt 1981, S. 3-14. Vgl. dazu H. Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1973, v.a. S. 64-133. Zur Geschlechtertheorie Lockes s. S. M. Okin, Women in Western Political Thought, Princeton 1979, S. 199ff., sowie L. M. Zerilli, Images of Women in Political Theory: Agents of Culture and Chaos, Ph. D. Berkeley 1986, S. 4ff. 14 S. auch den Artikel »familia«, in: Großes Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 9, verlegt v . J . H. Zedier, Halle 1735, Sp. 205 f., sowie grundlegend Ο. Brunner, Das »Ganze Haus« und die alteuropäische »Ökonomik«, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 19682, S. 103 ff. 15 Kant, Verhältnis, S. 295. Vgl. zu Kants Geschlechter»philosophie« auch S. Mendus, Kant: An Honest but Narrow-Minded Bourgeois?, in: E. Kennedy u. dies. (Hg.), Women in Western Political Philosophy: Kant to Nietzsche, Brighton 1987, S. 21-43. 16 Kant, Metaphysik, S. 276, 279. 17 Ebd., §§24-26, S. 277-279. 18 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), in: ders., Werke, Bd. VII, ND Berlin 1968, S. 309. Wie selbstverständlich den Zeitgenossen dieser Gedanke war, erweist sich bei einem Blick in die von J . G. Krünitz verfaßte Oecomonische Encyklopädie. Unter dem Stichwort »Haus-Vater« ist 1789 zu lesen, es gehe nicht an, »daß zwo vollkommen gleiche Gewalten in einer einzigen Regierung statt finden«. Kraft Naturgesetz und Tradition gebühre deshalb dem Mann die »innere Regierung der Familie« und die »Gewalt« über seine Frau (J. G. Krünitz, Oeconomische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirtschaft, Bd. 22, Brünn 1789, S. 414f.). 19 Kant, Metaphysik, S. 279; ders., Anthropologie, S. 303f. Ähnlich leitete auch der vielschreibende braunschweigische Hofrat Pockels die Herrschaft von Männern über Frauen als anthropologischer Konstante aus der größeren physischen Kraft des Mannes ab (C. F. Pockels, Der Mann. Ein anthropologisches Charaktergemälde seines Geschlechts, Bd. 4, Hannover 1808, S. 6 ff.). 20 Kant, Anthropologie, S. 303. 21 J . - J . Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, Paderborn 1981 5 , v. a. S. 387 f. S. dazu auch C. Garbe, Sophie oder die heimliche Macht der Frauen, in: I. Brehmer u. a. (Hg.), Frauen in der

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Geschichte IV, Düsseldorf 1983, S. 65-87. Zur Geschlechtertheorie Rousseaus vgl. neben Okin, Kap. III, u. Zerilli, Kap. II, v. a. C. Pateman, »The Disorder of Women«: Women, Love and the Sense ofJustice, in: Ethics, Bd. 91, 1980, S. 20-34, u. M. Canovan, Rousseau's T w o Concepts of Citizenship, in: Kennedy u. Mendus, S. 78-105. Vgl. auch den Beitrag v. I. Hull in diesem Band. 22 Über die »vorgefaßte Meinung von der größern Geilheit des weiblichen Geschlechts« berichtete ein anonym bleibender »berühmter« Arzt 1785, der zugleich die Erziehung von Mädchen zur Sinnlichkeit kritisierte. Der Autor setzte sich von dieser Meinung ab und befand, der »physische Trieb der Wollust« sei bei Männern und Frauen annähernd gleich (Über den zu häufigen Beischlaf, in sofern er Veranlassung zur Ehescheidung ist, in: J . T. Pyl (Hg.), Neues Magazin für die gerichtliche Arzneikunde und medizinische Polizei, Bd. 1, 1785, S. 230-261, v. a. S. 232-237). S. auch P. Schmid u. C. Weber, Von der »wohlgeordneten Liebe« und der »so eigenen Wollust des Geschlechtes«. Zur Diskussion weiblichen Begehrens zwischen 1730 und 1830, in: I. Dalhoff u. a. (Hg.), Frauenmacht in der Geschichte, Düsseldorf 1986, S. 150-165. 23 Kanu Metaphysik, S. 360. 24 J . G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, Hamburg 1979, S. 320f. Alle früheren Fichte-Zitate ebd., S. 300-307. Mit diesen »Deduktionen« hat sich Fichte seitens der neueren feministischen Theorie die Bezeichnung »Chefideologe des bürgerlichen Patriarchalismus« zugezogen: vgl. U . Gerhard, Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit, Familie und Rechte der Frauen im 19. Jahrhundert, Frankfurt 1978, S. 143; H. Schröder, Die Rechtlosigkeit der Frau im Rechtsstaat, dargestellt am Allgemeinen Preußischen Landrecht, am Bürgerlichen Gesetzbuch und an J . G. Fichtes Grundlage des Naturrechts, Frankfurt 1979. S. auch die Kritik seines »streng patriarchalischen Eheideal(s)« bei Marianne Weber, Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung, Tübingen 1907, S. 306 ff. 25 Fichte, Grundlage, §§ 36f., S. 374ff. 26 Mit dieser Differenzierungsbereitschaft unterschied sich Fichte von Kant, dessen Formulierungen nahelegen, daß er ausnahmslos »alles Frauenzimmer«, unabhängig von Familienstand oder Beruf, von der aktiven Staatsbürgerschaft und deren Voraussetzungen (Eigentum) ausschloß. Eine solche kategorische Verweigerung aufgrund des Geschlechts war schon von Zeitgenossen Kants explizit in Zweifel gezogen worden, so von J . A. Bergk, Briefe über Immanuel Kants Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Leipzig 1797, v. a. S. 186. Nur sehr wenige Autoren sprachen sich jedoch für die bedingungslose politische Gleichberechtigung der Geschlechter aus; die meisten schlossen sich Fichtes Argumentation an und behielten staatsbürgerliche Rechte, wenn überhaupt, dann nur unverheirateten Frauen vor (vgl. z. B. W.J. Behr, System der allgemeinen Staatslehre, Bamberg 1804, §§793ff., zit. nach Dann, Gleichheit, S. 238). 27 K. Hausen, Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« - Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: W. Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363-393; B. Duden, Das schöne Eigentum. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Kursbuch 48, 1977, S. 125-140. - Daß diese von der Natur vorgegebenen »Geschlechtscharaktere« keine Erfindung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts waren, sondern eine lange, bis in die Antike zurückreichende Tradition besaßen, hat B. Rang (Zur Geschichte des dualistischen Denkens über Mann und Frau. Kritische Anmerkungen zu den Thesen von Karin Hausen zur Herausbildung der Geschlechtscharaktere im 18. und 19. Jahrhundert, in: Dalhoff, Frauenmacht, S. 194-204) zu Recht angemerkt. Offenbar gab es jedoch zu dieser Zeit ein besonderes Bedürfnis, den Geschlechterdualismus festzuschreiben, zu legitimieren und mit zeitgemäßen Modifikationen zu versehen (s. Teil IV u. V dieses Aufsatzes). 28 A. H. Müller, Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur (1806), in: ders., Kritische/ästhetische und philosophische Schriften, Bd. 1, Neuwied 1967, v.a. S. 22ff., 43f., 99; ders., Die Elemente der Staatskunst, T. 1, Berlin 1809, ND Jena 1922, v.a. S. 107ff.; ders., Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland (1812), in: ders., Schriften, v. a. S. 420-424, 440 ff.

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29 Novalis Schriften, hg. v. R. Samuel, Bd. 4, Darmstadt 1975, S. 25. 30 Novalis an Caroline Schlegel, 20. 1. 1799: »Man muß eine poetische Welt um sich her bilden und in dier Poesie leben.« (ebd., S. 275); F. Schlegel, Lucinde (1799), Stuttgart 1973, S. 76. S. auch den Briefwechsel von Clemens Brentano und Sophie Mereau: »Lebe der Liebe und liebe das Leben«, hg. v. D. v. Gersdorff, Frankfurt 1981, v. a. S. 188f., 192 f. Eine wichtige Interpretation: H. Schlaffer, Frauen als Einlösung der romantischen Kunsttheorie, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, Jg. 21, 1977, S. 274-296. 31 F. Schlegel, Über die Philosophie. An Dorothea (1799), in: ders., Theorie der Weiblichkeit, hg. v. W. Menninghaus, Frankfurt 1983, S. 93f. 32 Schlegel Lucinde, S. 26ff., 25. 33 Schlegel, Philosophie, S. 91 f., sowie ders., Über die Diotima (1795), in: den., Theorie, S. 61: »Aber eben der herrschsüchtige Ungestüm des Mannes, und die selbstlose Hingegebenheit des Weibes, ist schon übertrieben und häßlich. Nur selbständige Weiblichkeit, nur sanfte Männlichkeit ist gut und schön.« Zur romantischen Emanzipationstheorie (als ästhetische Alternative zur rationalistischen) vgl. U . Vogel, Rationalism and romanticism: two strategies for women's liberation, in: Evans, Feminism, S. 17—46, sowie dies., Humboldt and the Romantics: Neither Hausfrau nor Citoyenne, in: Kennedy u. Mendus, S. 106-126. 34 S. Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt 19802, v.a. S. 80ff., 158ff. 35 Herders Briefwechsel mit Caroline Flachsland, hg. v. H. Schauer, Bd. 1, Weimar 1926, S. 47. 36 Müller, Literarische Neuigkeiten, in: ders., Schriften, S. 476f. 37 Schleiermacher-Auswahl. Mit einem Nachwort von K. Barth, Gütersloh 1983 3 , S. 274f. 38 F. D. E. Schleiermacher, Brouillon zur Ethik (1805/1806), in: ders., Philosophische Schriften, hg. v. J . Rachold, Berlin 1984, S. 170 ff.; ders., Monologen. Eine Neujahrsgabe (1800), in: ebd., S. 108. 39 Schleiermacher, Ethik, S. 174 f. Ähnlich Schlegel, Philosophie, S. 108. 40 Schleiermacher, Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799), in: ders., Schriften, S. 56. 41 Schleiermacher, Ethik, S. 175; Versuch, S. 56f. 42 Schleiermacher, Versuch, S. 41. 43 W. von Humboldt, Der Königsberger und der litauische Schulplan (1809), in: ders., Werke, hg. v. A. Flitner u. K. Giel, Bd. 4, Darmstadt 1982 3 , S. 190. 44 Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792), in: ebd., Bd. 1, S. 106. 45 In den Plänen zur Reform des Königsberger und litauischen Schulwesens von 1809 fanden zwar auch »das Kind« und »der junge Mensch« Erwähnung, doch wurden diese geschlechtsunspezifischen Begriffe sogleich in den richtigen männlichen Kontext gestellt (Humboldt, Schulplan, S. 168-195). 46 Humboldt, Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur (1795), in: ders., Werke, Bd. 1, S. 279, 287. 47 Humboldt, Ideen, S. 80. S. auch Vogel, Humboldt, v.a. S. 110-112. 48 Humboldt, Über die männliche und weibliche Form (1795), in: ders., Werke, Bd. 1, S. 335. 49 Kant, Idee, S. 21. 50 F. Schiller, Über Anmut und Würde (1793), in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 5, München 1967 4 , S. 469. S. v . a . die Gedichte »Die Würde der Frauen« (1796), in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 1, Weimar 1943, ND Leipzig 1968, S. 240-243; »Die Geschlechter« (1797), in: ebd., S. 284; »Macht der Weiber« (1797), in: ebd., S. 286; »Das weibliche Ideal«, in: ebd., S. 287; »Das Lied von der Glocke« (1799), in: ebd., Bd. 2, Weimar 1983, S. 227-239. 51 Humboldt, Ideen, S. 79: Frauen sind »stärker durch das, was sie zu sein, als was sie zu tun vermögen«.

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52 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1820), in: ders., Werke, Bd. 7, Frankfurt 1973, v. a. S. 318f. 53 Ebd., S. 320, 324, 386. Vgl. J . Hodge, Women and the Hegelian State, in: Kennedy u. Mendus, S. 127-158. 54 Familie und Gesellschaft standen bei Hegel in einem durchaus widerspruchsvollen, keineswegs herrschaftsfreien Verhältnis: Fand das »Gemeinwesen«, in dem der Mann sein »selbstbewußtes Wesen« erlebte, in der Familie »seine Kraft und Bewährung«, konstituierte es sich andererseits »nur durch die Störung der Familienglückseligkeit« und erzeugte »sich an dem, was es unterdrückt und was ihm zugleich wesentlich ist, an der Weiblichkeit überhaupt seinen innern Feind« (Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), Frankfurt 1970, S. 258, 268f.). 55 H. Wunder, Frauen in der Gesellschaft Mitteleuropas im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (15. bis 18. Jahrhundert), in: H. Valentinitsch (Hg.), Hexen und Zauberer, Graz 1987, S. 123-154; dies., Der gesellschaftliche Ort von Frauen der gehobenen Stände im 17. Jahrhundert, in: Journal für Geschichte, H. 2, 1985, S. 30-35. 56 C. Garve, Über die Maxime Rochefaucaulds: das bürgerliche Air verliehrt sich zuweilen bey der Armee, niemahls am Hofe (1792), in: ders., Popularphilosophische Schriften über literarische, ästhetische und gesellschaftliche Gegenstände, hg. v. K. Wölfel, Bd. 1, Stuttgart 1974, v.a. S. 567 ff. 57 Krünitz, Encyklopädie, Bd. 14, 1788, S. 791. Vgl. auch H. Möller, Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert, Berlin 1969; H. Rosenbaum, Formen der Familie, Frankfurt 1982, S. 121 ff. 58 Eindrucksvolle Zeugnisse dieser Belastung sind die Briefe Bettina von Arnims an ihren Mann aus den Jahren 1812 bis 1830: Achim und Bettina in ihren Briefen, hg. v. W. Vordtriede, 2 Bde., Frankfurt 19852. 59 Müller, Zwölf Reden, S. 423. 60 U. Schultz, Immanuel Kant, Reinbek 1985. 61 J . G. Fichte, Briefe an seine Braut und Gattin, Leipzig 1921, S. 33 f.: Brief an Johanna Rahn, Frühjahr 1790. 62 Ebd., S. 69. 63 Zitate ebd., S. 88 (1794), 128 (1806), 139 (1807). 64 N. Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt 19832, S. 25. 65 Fichte, Briefe, S. 78, 70. Vgl. auch den psychologischen Deutungsversuch bei G. Kafka, Erlebnis und Theorie in Fichtes Lehre vom Verhältnis der Geschlechter, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie, Bd. 16, 1920, S. 1-24, der die persönlichen Erfahrungen Fichtes in der Ehe für seine theoretischen Aussagen über das Geschlechterverhältnis verantwortlich macht. 66 Schiesel, Philosophie, S. 98 f. 67 Julius, der Held seines stark autobiographisch gefärbten Romans »Lucinde«, lebt diese Künstlerexistenz. 68 Schlegel, Philosophie, S. 116, 96. 69 Aus Schleiermacher's Leben. In Briefen, Bd. 2, Berlin 18602, ND Berlin 1974, S. 47: Schleiermacher an Georg Reimer, 21. 12. 1805; Bd. 1, S. 367: Brief an Henriette Herz, Juni 1803. 70 Ebd., Bd. 1, S. 207: Brief v. 23. 3. 1799. 71 Ebd., Bd. 1, S. 402f.: Schleiermacher an Charlotte v. Kathen, 4. 8. 1804; ebd., S. 313: S. an Eleonore Grunow, 12. 8. 1802; ebd., Bd. 2, S. 134: S. an Henriette v. Willich, 11. 9. 1808. 72 Ebd., Bd. 1, S. 252: S. an seine Schwester Charlotte v. 27. 12. 1800. 73 Ebd., Bd. 1, S. 191: S. an Henriette Herz, 6. 9. 1798: »O Sie fruchtbare, Sie vielwirkende, eine wahre Ceres sind Sie für die innere Natur und legen einen so großen Accent in die Tätigkeit der Außenwelt, die so durchaus nur Mittel ist, wo der Mensch in dem allgemeinen Mechanismus sich verliert, von der so wenig bis zum eigentlichen Zweck und Ziel alles Tuns hingedeiht und immer tausendmal so viel unterwegs verloren geht!« 74 Ebd., Bd. 1, S. 385: S. an Charlotte v. Kathen, 26. 11. 1803; Bd. 2, S. 139: S. an Henriette v. Willich, 1. 10. 1808.

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75 Das Motto dieser Lebensform hatte er 1792 unter dem Stichwort »Endzweck des Menschen« formuliert: »Der wahre Zweck des Menschen . . . ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste, und unerlassliche Bedingung.« Außerdem gehörte eine »Mannigfaltigkeit der Situationen« dazu, die vorzugsweise in der »Verbindung der beiden Geschlechter« zu finden sei (Humboldt, Ideen, S. 65f.). Vgl. dazu S. A. Kaehler, Wilhelm v. Humboldt und der Staat, München 1927, v. a. S. 59ff. 76 Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, hg. v. A. v. Sydow, Bd. 1, Berlin 1907, ND Osnabrück 1968, S. 180: Wilhelm an Caroline, 26. 6. 1790. 77 Ebd., Bd. 3, Berlin 1909, ND Osnabrück 1968, S. 232: Wilhelm an Caroline, 12. 9. 1809. 78 Müller, Vorlesungen, S. 99; ders., Staatskunst, S. 109; Garve, Über die Maxime, S. 652ff. 79 Daß es trotzdem keinen Bildungsroman mit einer weiblichen Hauptfigur gegeben hat, erklärt sich wohl vor allem aus der angenommenen Differenz zwischen weiblicher und männlicher Bildung: War Frauen diese Immanenz und Authentizität von Natur aus eigen, mußte sie von Männern erst in einem mühsamen, reflexiven Erfahrungsprozeß erworben werden. 80 Auch Luhmann, Liebe, sieht im Übergang von der stratifikatorischen zur funktionalen Gesellschaftsdifferenzierung und der damit einhergehenden stärkeren Differenzierung von personalen und sozialen Systemen den Grund für das wachsende Bedürfnis der »Person« nach »Nahwelt« und Liebe als Medium intimer Kommunikation. Daß die Person-Umwelt-Differenz weitaus stärker von Männern erfahren werden mußte als von Frauen und das Liebesverlangen der Geschlechter jeweils unterschiedlich prägte, ist für ihn leider, wie sozialhistorische und geschlechterbezogene Problemdimensionen überhaupt, ohne Belang. 81 Schleiermacher, Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde (1800), in: ders., Kleine Schriften und Predigten 1800-1820, hg. v. H. Gerdes, Berlin 1970, S. 83-156. 82 Fichte, Grundlage, S. 339 ff. 83 Auf Hippel, Junggeselle und Freund Kants, zielte wohl auch Fichtes Attacke gegen »einige verirrte Köpfe unter den Männern, welche größtenteils selbst kein einzelnes Weib gewürdigt haben, es zur Gefährtin ihres Lebens zu machen, und zum Ersatz dafür das ganze Geschlecht in Bausch und Bogen, in der Geschichte verewigt sehen möchten« (ebd., S. 342) Hippels radikale Emanzipationsideen wurden von seinen Zeitgenossen nicht ernst genommen und als »Frucht eines spielenden Witzes« oder »humoristische Schriften« abgetan (E. Brandes, Betrachtungen über das weibliche Geschlecht und dessen Ausbildung in dem geselligen Leben, Bd. 1, Hannover 1802, S. IX; Pockels, Mann, Bd. 4, S. 18). 84 U. Gerhard, Menschenrechte auch für Frauen. Der Entwurf der Olympe de Gouges, in: Kritische Justiz, Bd. 20, 1987, S. 127-149. Zu den Exponenten »rationalistischer« Emanzipationstheorien (Condorcet, Hippel, Wollstonecraft) s. Vogel, Rationalism, v. a. S. 21-34. 85 U. Geitner, »Die eigentlichen Enragées ihres Geschlechts«. Aufklärung, Französische Revolution und Weiblichkeit, in: H. Grubitzsch u.a. (Hg.), Grenzgängerinnen. Revolutionäre Frauen im 18. und 19. Jahrhundert. Weibliche Wirklichkeit und männliche Phantasien, Düsseldorf 1985, S. 181-217. 86 Dieser Vorfall wurde auch von J . H. Campe in seinen »Briefen aus Paris« aufgezeichnet (Geitner, Enragées, S. 192). 87 Briefwechsel zwischen Schiller und Lotte 1788-1805, hg. v. W. Fielitz, Bd. 2, Stuttgart o. J . , S. 95. 88 F. Schiller, Das Lied von der Glocke (1799), in: Schillers Werke, NA, Bd. 2, S. 237. 89 C. Meiners, Geschichte des weiblichen Geschlechts, T. 4, Hannover 1800. S. 170. 90 Ebd., S. 314. Meiners gehörte zu jenen Autoren, die die »Haushaltungskunst« der Frauen hochschätzten und »tätige Hausfrauen« vor allem in Beamtenfamilien für unentbehrlich hielten: »Wie würden Hausväter, die bei mäßigen Einkünften eine zahlreiche Familie besitzen, und einen gewissen standesgemäßen Aufwand machen müssen, nur bestehen, wenn sie nicht durch die sorgfältigste Haushaltungskunst ihrer Gattinnen vom Untergange errettet würden?« (ebd., S. 265). Vgl. auch C. F. Pockels, Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts. Ein Sittengemälde des Menschen, des Zeitalters und des geselligen Lebens, Bd. 3, Hannover 1799,

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S. 355: Er bezeichnete eine »vernünftige und sparsame Haushaltung« als ein »Grundgesetz« jeder Ehe und fügte hinzu: »Die größere Kälte oder Wärme der Herzen steht in einer genauen Verbindung mit euren Finanzen.« 91 Aus Schleiermacher's Leben, Bd. 1, S. 314: S. an Eleonore Grunow, 12. 8. 1802. Oder: »Wenn die Weiber eine politische Existenz bekämen, wäre nicht zu besorgen, daß die Liebe und mit ihr der intelligible Despotismus und die formlose Gewalt zu deren Darstellung die Weiber von Natur bestimmt sind verloren gehn würden?« (zit. bei K. Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik, Göttingen 1986, S. 279). 92 Wie Schleiermacher sich seine Ehe vorstellte, geht aus einem Brief an seine zukünftige Frau hervor: »Mein Leben in der Wissenschaft und in der Kirche und . . . auch noch im Staat, soll gar nicht von Deinem Leben ausgeschlossen und Dir fremd sein, sondern Du sollst und wirst den innigsten Anteil daran nehmen. Ohne das, gibt es keine rechte Ehe. Du brauchst deshalb die Studien und die Worte nicht alle zu verstehen . . . Du wirst mich beleben und erfrischen und ich werde Alles in Dir auslassen und in Dich übertragen. Darum wäre es mir außerordentlich lieb, wenn es sich so einrichten ließe, daß mein Arbeitszimmer mit dem Deinigen Tür an Tür wäre, damit wir uns immer recht in der Nähe haben können.« (Aus Schleiermacher's Leben, Bd. 2, S. 150f.: S. an Henriette v. Willich, 22. 10. 1808). Daß diese Idylle im hereinbrechenden Kindersegen der Schleiermacherschen Ehe nicht lebbar war, geht aus seinem Stoßseufzer zwei Jahre später hervor: »Wie ich ganz in meinen Arbeiten und in meinem Hause aufgehe. Es ist eine große Glückseligkeit, aber auch ein großes Elend. Denn diese beiden stehen in einem kleinen Kriege und tun einander Abbruch. Denn in der Arbeit unterbricht mich doch sehr oft das Gefühl von Jette und den Kindern, und mitten unter diesen schwärmt mir auch wieder die Arbeit im Kopf herum. Kurz es bleibt meine Devise: Der Mensch ist ein geplagtes Individuum.« (Ebd., S. 249: S. an Charlotte v. Kathen, 26.4.1810). 93 Vgl. die gelungene Parodie August Wilhelm Schlegels auf Schillers »Würde der Frauen«, abgedruckt in: Schlegel, Theorie der Weiblichkeit, S. 197f. »Über das Lied von der Glocke«, schrieb Caroline Schlegel 1799 ihrer Tochter, »sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen gefallen vor Lachen«. (»Lieber Freund, ich komme weit her schon an diesem frühen Morgen.« Caroline Schlegel-Schelling in ihren Briefen, hg. v. S. Damm, Neuwied 1981 2 , S. 190). 94 J . F. Abegg, Reisetagebuch von 1798, hg. v. W. u. J . Abegg, Frankfurt 1987, S. 75, über Caroline Schlegel. S. auch G. Dischner, Caroline und der Jenaer Kreis, Berlin 1979. 95 Briefwechsel Schiller-Lotte, Bd. 3, S. 52. Über die »Lebenszusammenhänge deutscher Schriftstellerinnen um 1800« und ihre »Schritte zur bürgerlichen Weiblichkeit« informiert E. Walter, Schrieb oft, von Mägde Arbeit müde, Düsseldorf 1985, die aus autobiographischen Zeugnissen ein »Lebensmosaik« dieser Frauen rekonstruiert. 96 F. Schlegel schrieb am 17. 12. 1798 an Novalis: »Übrigens kannst Du nun gewiß sein, daß der merkantilistische Geist mir hold sein will, da ich nun nicht mehr bloß für mich zu sorgen habe, da mein Leben nun nicht mehr ein Choas ist, sondern es Mittelpunkt und Form hat und neu auf festem Boden angeht. Damit muß ja aller Erwerb und Handel, ja das Eigentum selbst anfangen: mit der Familie.« (Friedrich Schlegel und Novalis. Biographie einer Romantikerfreundschaft in ihren Briefen, hg. v. M. Preitz, Darmstadt 1957, S. 147). Dorothea an Schleiermacher ein gutes Jahr später: »Was ich tun kann liegt in diesen Grenzen: ihm Ruhe schaffen, bis er es kann. Und dazu bin ich redlich entschlossen.« (Briefe von Dorothea Schlegel an Friedrich Schleiermacher, Berlin 1913, S. 38). 97 Fichte, Grundlage, S. 349. Fichtes Ansicht nach verlieh der öffentliche Ruhm Frauen eine »von ihren Gatten unabhängige Selbständigkeit, die das eheliche Verhältnis notwendig entkräftet, und zu lösen droht.« 98 Briefwechsel Schiller-Lotte, Bd. 2, S. 89. 99 Wilhelm und Caroline, Bd. 1, S. 125 (21. 4. 1790); S. 121 (14. 4. 1790); S. 195f. (7. 7. 1790); S. 105 (20. 3. 1790); Bd. 3, S. 226 (2. 9. 1809). 100 Zit. in: K. Behrens (Hg.), Frauenbriefe der Romantik, Frankfurt 19822, S. 331, 333.

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101 Aus Schleiermacher's Leben, Bd. 2, S. 206: Henriette an Schleiermacher, 14. 1. 1809. Vgl. dazu G. E. Jensen, Henriette Schleiermacher. A Women in a Traditional Role, in: J . C. Fout (Hg.), German Women in the Nineteenth Century, New York 1984, S. 88-103. 102 R. Varnhagen. Gesammelte Werke, Bd. II, hg. v. K. Feilchenfeldt u.a., München 1983, S. 565: Rahel an ihre Schwester Rose Asser, 22. 1. 1819. 103 W. C. v. Wobeser, Elisa oder das Weib wie es seyn sollte, Leipzig 1798 3 (1. Aufl. 1795), S. 14: G. W. C. Starke, Gemähide aus dem häuslichen Leben und Erzählungen, 2. Sammlung, Berlin 1800, S. 218. S. auch Meiners, Geschichte, T. 4, S. 289 ff., sowie J . L. Ewald, Die Kunst ein gutes Mädchen, eine gute Gattin, Mutter und Hausfrau zu werden, Bd. 1, Frankfurt 1804 3 , S. 30ff.; Brandes, Betrachtungen, Bd. 3, S. 1-88; Pockels, Versuch, S. 301 ff.; ders., Mann, Bd. 3, 1806, S. Xff., 265ff. 104 Wilhelm und Caroline, Bd. 1, S. 104: Wilhelm von Humboldt an Caroline, 20. 3. 1790. 105 Wie sehr sich der die Sphäre der Hausmütterlichkeit überwindende Diskurs der Meisterdenker in kurzer Zeit popularisierte, zeigt ein Blick in zeitgenössische Konversationslexika. 1818 hieß es im »Conversation-Lexicon oder encyclopaedisches Handwörterbuch für gebildete Stände«: »Es ist allerdings ehrwürdig, wenn die Frauen ihrer ersten Bestimmung eingedenk sind, wenn sie sich zu Gattinnen, Müttern und Hausfrauen bilden; aber man macht auch mit Recht die Forderungen, daß sie frei von bloßen ökonomischen Zwecken sich zu einer freiem Anschauung des Lebens, zum innern Leben selbst erheben sollen.« (abgedruckt in: Gerhard, Verhältnisse, S. 382).

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ISABEL V. HULL

›Sexualität‹ und bürgerliche Gesellschaft

Der Begriff ›Sexualität‹ ist in unserem Denken eng mit der Idee der bürgerlichen Gesellschaft verknüpft. Die Vorstellungen über den Charakter dieses Zusammenhanges gehen allerdings weit auseinander. Von der Behauptung, sexuelle Repression sei das Hauptmerkmal bürgerlicher Gesellschaft und zugleich das konstitutive Moment bürgerlicher Psyche gewesen, 1 und der Meinung Michel Foucaults, daß ganz im Gegenteil die sexuelle Besessenheit des Bürgertums in ein ständiges Reden über das Sexuelle und in eine expansive und kontrollierende Wißbegierde mündete,2 reicht die Argumentation bis zu Peter Gay, der beide Extreme ablehnt, aber trotzdem das Sexuelle für das Fundament »bürgerlichen Erlebens« hält. 3 Obwohl in der nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit und im alltäglichen Denken dieses auffallende, wenn auch selten näher bestimmte Verhältnis zwischen ›Sexualität‹ und moderner bürgerlicher Ordnung wahrgenommen wurde, hat die historische Forschung diesen Gegenstand bis vor wenigen Jahren kaum berührt. Ursache dieses Schweigens sind nicht nur die traditionelle Konzentration des Fachs auf große Politik und Strukturgeschichte oder fraglos bestehende Quellenschwierigkeiten, die das Sexualleben der Menschen ins Zwielicht, wenn nicht ins Dunkel rücken, sondern die Identifikation des Sexuellen mit dem Natürlich-Unveränderlichen und mit Frauen. Diese Identifikation ist ein charakteristisches Merkmal bürgerlichen Denkens,4 das die Historiographie als Sprößling dieses Denkens mitgeprägt hat. Selbst in der Sozialgeschichte, die sich durch selbstbewußte Kritik von den Schranken ihrer bürgerlichen Herkunft zu emanzipieren versuchte, lebt das Denkmuster, das Frauen mit Sex identifiziert, zäh weiter. Beliebte Themen der jüngsten Geschichtsschreibung sind Prostitution, genauer gesagt weibliche Prostituierte, selten ihre Freier, oder Geburtenkontrolle bzw. demographische Untersuchungen, die mit der Berechnung von Unehelichkeitsquoten und Fruchtbarkeitsraten zwar das Verhalten der Frauen, nicht aber das der Männer in den Blick bekommen. Das Thema ›Sexualität‹ ist also mit zwei weiteren verknüpft: bürgerliche Gesellschaft und Frauen. Damit stellt sich zum einen die Frage, welche Rolle das Sexualverhalten oder das Nachdenken darüber in der bürgerlichen Ordnung spielte, zum anderen das Problem, wie und warum das Denken über sexuelles Verhalten nach Geschlechtsmustern organisiert und eigentlich nur 49 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

ein Denken über ›die Frau‹ wurde. Diese Problemdefinition verrät sofort, daß in diesem Aufsatz wenig von tatsächlichem Sexualverhalten oder -verkehr die Rede sein wird, sondern von der Art und Weise, wie man hauptsächlich Männer - darüber redete und dachte. ›Sexualität‹ ist kein Ding-an-sich, keine sachliche Kategorie, die genitale oder verwandte Tätigkeiten umfaßt. ›Sexualität‹ ist ein neues, künstliches Konstrukt, ein flexibler, ordnungsgebender Sammelbegriff, der erst im frühen 19. Jahrhundert seinen Namen erhielt, 5 dessen Umrisse sich allerdings schon am Ende des achtzehnten abzeichneten. U m daher die Entstehung und Bedeutung der beiden Denkmuster näher zu untersuchen, müssen wir unseren Blick vom 19. zurück auf das 18. Jahrhundert richten, und zwar auf eine Epoche, in der sich eine ältere Form des Denkens über sexuelle Dinge aufzulösen und eine neue herauszubilden begann, ohne doch sofort eine feste Gestalt oder ein konsistentes, dogmatisches System zu finden. Dieses Werk blieb dem 19. Jahrhundert vorbehalten, wobei es die beschriebenen Paradoxa keineswegs auflöste, sondern im Gegenteil festschrieb. Im Vergleich zu den ›Sexualitäts‹-Diskussionen des 19. Jahrhunderts war das späte 18. eine ›offene‹ Zeit, in der unterschiedlichste Meinungen und Denksysteme friedlich koexistierten, in der eine Vielfalt von Entwicklungsmöglichkeiten gegeben schien und in der Widersprüche unbestritten fortlebten, ohne eine definitorische Klärung zu finden. Der Prozeß, in dem sich das neue Denken über sexuelle Dinge herausbildete, war so komplex, daß seine Erforschung ebenfalls eine Vielzahl von Erklärungsansätzen und analytischen Perspektiven erlaubt und erfordert. In einem größeren Projekt zu diesem Thema vergleiche ich deshalb die Entwicklungen in strukturell unterschiedlichen Staaten wie Baden, Bayern, Preußen und Hamburg, um auf diese Weise die ideengeschichtliche Entfaltung des Sexualitätsbegriffs in einem zweifachen Kontext zu verorten, ihn sowohl als Produkt moderner Staatsbildung als auch als Ergebnis der Entwicklung bürgerlicher Gesellschaft zu interpretieren. 6 Als kleines Bruchstück des größeren Projekts kann dieser Aufsatz nur einige Aspekte des Themas hervorheben. Sichtbar gemacht werden soll, daß sich hinter dem Diskurs über ›Sexualität‹ eine verschleierte Diskussion von Männern über Staat, Gesellschaft und Männer - nicht Menschen - verbarg. Damit wird zugleich das Verhältnis zwischen der ›Erfindung von Sexualität‹ und den Anfängen bürgerlicher Gesellschaft samt der Sonderstellung der Frau(en) deutlicher.

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I Alle sozialen Ordnungen legen ein gewisses Gewicht auf das Sexualverhalten ihrer Angehörigen. Das bürgerliche Zeitalter unterschied sich in dieser Hinsicht nicht von seinen Vorgängern. Der sexuelle Bereich wurde jedoch in früheren Jahrhunderten nicht so isoliert gesehen wie später. Handlungen und Beziehungen, die wir heute als sexuell betrachten, waren vor dem 18. Jahrhundert in ein Gesamtgefüge des menschlichen Lebens eingebettet, und es wäre niemandem eingefallen, sie aus diesen Zusammenhängen herauszulösen. Der frühneuzeitliche Staat nahm sexuelle Handlungen nur in bezug auf Ehe wahr, wobei sexuelle Handlungen im Geflecht sozialökonomischer Beziehungen verschwanden. Das gleiche geschah auch im Strafrecht: Notzucht beispielsweise wurde nicht wie heute als sexuelles Delikt angesehen, sondern galt lange Zeit als Eigentumsverletzung. Jahrhundertelang war es vor allem Sache von Religion und Kirche gewesen, den sexuellen Bereich zu kontrollieren. Für die katholische Kirche und bis etwa ins 18. Jahrhundert auch für die protestantischen Kirchen war sexuelles Verhalten lediglich Teil einer weiter begriffenen christlichen Sittlichkeit. Dies kann man im 17. und 18. Jahrhundert deutlich an den Reskripten der Fürstbischöfe und an den Ermahnungen der Pfarrer ablesen, in denen »Sittlichkeit« zuallererst durch Gottesdienstbesuche und die Heiligung der Sonn- und Feiertage definiert wurde. Erst dann folgte die Litanei der Sünden: Fluchen, Lästern, Trinken, Raufen, Spielen, Hurerei und Unzucht. Die Medizin verhielt sich nicht anders. Trotz der wahrscheinlich zutreffenden Behauptung Jean-Louis Flandrins, daß im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit die medizinische Literatur die einzige Quelle eines unmittelbaren sexuellen Diskurses gewesen sei, funktionalisierte auch die Medizin das Sexuelle und ordnete es einem höheren Zweck unter. In ihren Überlegungen zum Orgasmus sahen Ärzte Beischlaf als notwendige Bedingung für die Zeugung an und deuteten ihn ausschließlich in diesem Zusammenhang. 7 Im Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit scheinen Kirche und Staat allmählich ihre Regulierungsansprüche an das Sexualverhalten der Untertanen intensiviert zu haben. Nach dem Dreißigjährigen Krieg entwickelte der Staat eine zunehmend größere Aktivität in diesem Bereich, obwohl er die Zuständigkeit für sittliche Überwachung noch immer mit den Kirchen teilte. Staat und Kirche verfolgten indessen unterschiedliche Interessen. Die Kirche richtete ihr Augenmerk vordringlich auf den inneren Menschen und seinen/ihren Seelenzustand, während sich der Staat primär mit der äußeren Ordnung beschäftigte und vor allem an den fiskalischen Resultaten ›unsittlichen‹ Verhaltens Anstoß nahm. Das vorwiegend fiskalische Interesse hatte mindestens drei wichtige Folgen: Zum einen konzentrierte der Staat seine Aufmerksamkeit auf solche sexuelle Verhaltensweisen, die einen direkten fiskalischen Niederschlag fanden,

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nämlich auf die Zeugung von Kindern. Aus seiner Sicht gab es zwei mögliche sexuelle Verhaltensweisen, eheliche und uneheliche. Die Ehe war der Stand derjenigen, die vermögend genug waren, um sich und ihre Kinder zu ernähren. Am anderen Ende der sozialen Verhaltensskala nahm der Staat nur die außereheliche Schwangerschaft wahr - und die Gefahr, daß die Mütter und ihre unehelichen Kinder auf Gemeindekosten unterhalten werden mußten. Sexuelle Handlungen, die keine Kinder erzeugten, wurden in Anlehnung an christliche Moralvorstellungen untersagt, aber faktisch kaum verfolgt. Für den frühneuzeitlichen Staat hatte Geschlechtsverkehr demnach eine zugleich eingeengte und erweiterte Bedeutung: eingeengt, indem lediglich heterosexuelle Beziehungen in Betracht gezogen wurden und auf die Zeugung von Nachkommen begrenzt blieben; erweitert, indem sexuelles Verhalten immer auch in seinen sozialen Bezügen und Auswirkungen wahrgenommen wurde. Darüber hinaus förderte die Identifizierung von Geschlechtsverkehr und Generativität die Tendenz des Staates, den Blick eher auf Frauen als auf Männer zu richten, doch war diese Tendenz keineswegs durchgängig. Drittens neigten Beamte der Zentralregierungen sowie der lokalen Ämter im 17. Jahrhundert dazu, das staatliche fiskalische Interesse so zu interpretieren, daß das Anwachsen unvermögender und nicht steuerfähiger Bevölkerungsgruppen verhindert wurde. Kam es zu kriegsbedingter Unterbevölkerung, griffen die meisten Obrigkeiten, wenn überhaupt, zum Mittel gezielter Peuplierung durch verstärkte Immigration, oder sie begünstigten frühe Eheschließungen in jenen Kreisen, die sich bald selbständig zu machen pflegten und ökonomischen Nutzen brachten. Keineswegs aber dachten sie daran, die Heiratsmöglichkeiten ärmerer Schichten auszudehnen, geschweige denn, die gesetzlichen Verbote gegen unehelichen Verkehr zu lockern.8 Die obrigkeitliche Einstellung des 17. Jahrhunderts gegenüber dem Sexualverhalten der Untertanen trug überall die Merkmale der Subsistenzökonomie, die die Bevölkerung im Gleichgewicht mit einer prekären Nahrungslage zu halten suchte. Im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert begannen sich die Standpunkte innerhalb der Verwaltungshierarchie auseinanderzuentwickeln. Weil die Armenkosten immer noch Sache der Gemeinden waren, blieben kommunale Beamte in der Furcht vor Überbevölkerung befangen und hielten am Subsistenzdenken fest, während die Beamten der zentralen Ebene anfingen, sich von diesem engen Horizont zu befreien.9 Sie hatten den ganzen Staat im Blick und faßten das fiskalische Interesse des Staates nunmehr expansionistischer auf. Diese neue Sichtweise fand ihren theoretischen Ausdruck im Kameralismus, der darauf zielte, Staatsmacht durch Reichtumsvermehrung zu vergrößern. Quelle des Reichtums sei eine zahlreiche, wirtschaftlich tätige Bevölkerung, deren Nahrungsbedürfnisse durch fortschrittliche Landwirtschaft sowie durch einen von heimischer Manufaktur angespornten Handel und staatliche Wirtschaftsforderung gedeckt werden konnten.

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Kurzum, Staatsmacht wurde gleichgesetzt mit Bevölkerung,10 und die Maxime des Zentralstaates hieß aus dieser Perspektive ›Peuplierung‹, nicht Verhütung eines unkontrollierten Bevölkerungsanstiegs. Dieses kameralistische Prinzip blieb mindestens bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gültig und war daher noch ungefähr fünfzig Jahre lang in Kraft, nachdem der allmähliche Bevölkerungsanstieg seit dem Dreißigjährigen Krieg einen Punkt erreicht hatte, an dem Pauperismus und Armut zum sichtbaren sozialen Problem wurden.11 Manche höhere Beamte des frühen 19. Jahrhunderts, die an die, wenn auch verspätete, heilsame Wirkung liberaler Ökonomie glaubten, waren deshalb keine Gegner der Bevölkerungsvermehrung. Offenkundig wurde dieses neue Interesse des Zentralstaates im 18. Jahrhundert an der neuentstehenden medizinalpolizeilichen Literatur, die sich mit dem Problem der Volksgesundheit befaßte und ihre besondere Aufmerksamkeit auf Schwangerschaft und die Verminderung der Säuglingssterblichkeit richtete.12 Der gleiche Gesinnungswandel zeigte sich in der Diskussion höherer Regierungsbeamter über Strafen für ›Unzucht‹. Nachdem die Strafen für Sexualdelikte immer wieder verschärft worden waren, trat um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine Wende ein. Allmählich verbreitete sich die Ansicht, daß harte, öffentliche und letztlich alle Formen von Unzuchtstrafen, die in der Praxis fast ausschließlich uneheliche Schwangerschaften trafen, Abtreibungen und Kindesmord begünstigten. Solche Strafen sollten deshalb nach Meinung reformbestrebter Beamter gemildert und am Ende einfach abgeschafft werden. Ihnen war klar, »daß anstatt man denen menschlichen Fehlern habe steuern wollen, daß größere Übel, nemblichen der Kinder Mord hinwiederum in Schwung, wie vormahlen gebracht werden dörfte«.13 Oder wie die bayerische Oberlandesregierung 1780 bemerkte: Bei öffentlichen Strafen sei »die Schande größer: die Kindsmorde, Abtreibungen der Leibsfrüchten, und heimbliche Niderkunften würden verviellfähltiget: derley fleischlich sich vergangenen Personen der Weg zu ferneren Fortkommen und Lebensunterhalt mehrers erschweret, eben andurch aber der Betl und Müßiggang vermehret, und noch andere Laster und Uebelthaten veranlasset.«14 Die Bemühungen höherer Beamter im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, Unzuchtstrafen zu mildern oder gar abzuschaffen, hatten nicht immer gleich Erfolg, trugen aber in sämtlichen Strafrechtsreformen des frühen 19. Jahrhunderts, besonders im Feuerbachschen Strafgesetzbuch von 1813, reiche Früchte. Es gehört zu den Widersprüchen dieser Entwicklung, daß sich inzwischen in Teilen der Öffentlichkeit und vor allem in den Gemeindeverwaltungen die Ängste vor einem Anwachsen des Pauperismus so gesteigert hatten, daß die mildernden Reformen bereits zum Zeitpunkt ihres Entstehens unzeitgemäß waren. Deutlich sichtbar drückte sich in diesen Bemühungen das Interesse des aufgeklärten Zentralstaats an Bevölkerungsvermehrung und zunehmend auch an Bevölkerungsverbesserung aus: Gefragt war jetzt nicht mehr nur 53 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

Quantität, sondern Qualität, vor allem im Hinblick auf Fleiß und ›Industrie‹. Die wachsende Bevölkerung sollte nützlich und arbeitsam sein. Trotz der Anstrengungen, die rechtliche und soziale Lage illegitimer Kinder zu erleichtern, damit auch sie sich zu nützlichen Untertanen entwickeln konnten, 15 war es deswegen dem Staat im Prinzip lieber, ›Peuplierung‹ durch eheliche statt durch uneheliche Geburt zu erreichen. Fast alle Beamten glaubten, wie ein Burghausener Staatsdiener 1794 schrieb, daß »die gute Erziehung und moralische Bildung der Kinder nicht so zuverlässig außer der Ehe als in dem Ehestande würde erzwekt werden, wie eben der Ehestand bey allen gesitteten Völkern für das sicherste Mittel gemäß der Ehegesetzen zur Kinderzucht, zu Erhaltung eines gesunden Körpers, und zur regelmäßigen Wirtschaft gehalten wird.« 1 6 Das Bemühen, Bevölkerungsvermehrung mit Ehelichkeit in Einklang zu bringen, stieß aber wegen der alten Furcht vor dem steigenden Pauperismus auf große Schwierigkeiten. Die Auffassungen innerhalb des Zentralstaates gingen daher im 18. wie im 19. Jahrhundert weit auseinander. Viele Beamte wollten den Ehestand auf die Vermögenderen beschränken oder Ehehindernisse nur in Zeiten akuten Arbeitsmangels aufheben. Es gab aber auch andere Überlegungen. Aus moralisch-wirtschaftlichen Gründen und »weil der Ehestand das rechtliche Mittel zur Befriedigung des Geschlechtstriebes ist . . . solle eine weise Regierung« nach Ansicht des oben zitierten Beamten aus Burghausen »alle mögliche Erleuchterungsmitteln veranstalten, den Antritt des Ehestandes zu erleichtern«. 17 Dieser Gedanke, Ehe (und Scheidung zum Zweck einer glücklicheren Wiederheirat) breiteren Schichten der Bevölkerung zugänglich zu machen, verfestigte sich im frühen 19. Jahrhundert zur Überzeugung, alle Untertanen hätten ein Recht auf Ehe und Nachkommenschaft. Die Annäherung an diesen universalen Grundsatz erfolgte allerdings in Etappen. Das Recht auf Heirat wurde typischerweise zuerst bürgerlichen Schichten gewährt, was sich für den handwerklichen Mittelstand durch die Abschaffung des Zunftzwangs und der damit verbundenen Heiratsregelungen beschleunigte. Nur langsam wurde es auf die unteren Staatsdiener wie Gendarmen oder Zollbeamte ausgedehnt, bis es schließlich im frühen 19. Jahrhundert zum universalen bürgerlichen Prinzip geworden war. Trotz Pauperismus und Arbeitsmangel begrüßte die Regierung des bayerischen Rezat-Kreises 1833 die Erleichterung von Heiraten mit dem Argument: »Dieses Gesetz hat die Fesseln der Freien Bewegung wenigsten zum Theile gelöst, dem Menschen die Rechte seiner natürlichen Freyheit theilweise wieder gegeben, und auch hier das Prinzip der Gleichheit nach der Verfassung gelten gemacht. Durch eben dieses Gesetz ist jedem das Recht eingeräumt, seine Kräfte geltend zu machen, als Familien Vater, und Staatsbürger einzutreten, sein Fleiß, seine Thätigkeit hat nunmehr eine gesicherte Richtung und bestimmten Zwecke.« 18

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Diese positivere Einstellung des Zentralstaats zur Ehe, die bis zur Idee eines allgemeinen Rechts auf Ehe reichte, hat für unser Thema weitreichende Implikationen. Die Gleichsetzung von heterosexuellem Verkehr und Ehe, deren Zweck die Erzeugung und Erziehung von Nachkommen war, ließ seit dem späten 18. Jahrhundert das Recht auf Ehe mit dem Recht auf Selbstäußerung und Selbstentfaltung zusammenfallen. Die sexuelle Selbstäußerung war somit eine fast unentbehrliche Komponente der allgemeinen Selbstentfaltung freier Individuen und Staatsbürger, doch blieb sie auf eine einzige Spielart heterosexueller Aktivität beschränkt. Andere sexuelle Ausdrucksmöglichkeiten wie Onanie, gleichgeschlechtliche Tätigkeiten und auch das gesamte Spektrum nicht-prokreativer heterosexueller Äußerungen blieben aus dem Kreis des Berechtigten und Anerkannten ausgeschlossen. Der Zentralstaat hatte daher Heterosexualität in diesem eingegrenzten Sinn gleichsam befreit. In engem Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Bereich entwickelte sich die solcherart begrenzte heterosexuelle Aktivität zur ersten ›Privatsphäre‹ der bürgerlichen Gesellschaft. Festzuhalten ist, daß dieser private Raum weniger auf Drängen des Bürgertums geschaffen als vom Staat gewährt oder sogar oktroyiert wurde. Viele zeitgenössische Kritiker sahen in der Strafmilderung oder gar Straffreiheit für Unzucht, in der Begünstigung von Scheidungen und in der Erleichterung der Eheschließung eine Gefahr für Sitte und Anstand. Doch der Zentralstaat war sich durchaus bewußt, was er tat. Ein bayerischer Beamter erklärte 1794: »Man sollte weniger darauf denken, den Geschlechtstrieb zu unterdrücken als zum Wohl des Staats zu ordnen . . . Durch Strafen kann zwar dem Laster Einhalt gethan werden, die Sitten aber, worauf es hier vor allem ankömmt, werden dadurch nicht gebessert . . . diese [Verbesserung der Sitten] kann nur bewürckt werden durch gute Erziehung, durch guten moralischen Unterricht, vorzüglich aber durch gute Beyspiele.«19 Die partielle Befreiung des Sexuellen muß in einem größeren Kontext gesehen werden, nämlich als Teil der Anstrengungen, mit denen der aufgeklärte Staat traditionelle ständische Schranken zu sprengen suchte. U m seine Macht zu erweitern, mußte der Staat expandieren und entsprechende wirtschaftliche Kräfte freisetzen. Dies bedeutete zum Beispiel, Bevölkerungswachstum und Bevölkerungskonzentration in bestimmten, wirtschaftlich relevanten Regionen zu fördern. Solche Prozesse veränderten die gesellschaftliche Basis des Ancien Régime und setzten eine Dynamik frei, die am Ende den Staat selber transformierte. 20 Den Freisetzungsprozeß wiederum kann man nicht hinreichend mit einem sozial abgehobenen, politisch verselbständigten staatlichen Dirigismus erklären; er wurde von außenpolitischer Konkurrenz ebenso erzwungen wie vom Drängen expansiver Kräfte im Innern. Gleichwohl kann man von einer bewußten Entscheidung des Staates sprechen. Diese Entscheidung ließ in Deutschland eine paradoxe Situation entste-

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hen: Gerade weil der Staat seine eigene Macht erweitern wollte, mußte er eine Sphäre schaffen, die jenseits seiner Kontrolle gedeihen konnte: eine bürgerliche Gesellschaft, in der dynamische Wirtschaftskräfte freigesetzt wurden; eine Schule, nicht länger für ausschließlich passive Untertanen, sondern für aktive, gebildete und handelnde Bürger, deren Tätigkeiten die wirtschaftlichen, militärischen und politischen Machtquellen des Staates vervielfältigten und die die Errungenschaften des ständestaatlichen Absolutismus in den Schatten stellten. Das Risiko dieser paradoxen Situation lag darin, daß die freigesetzte Dynamik nicht nur Wachstum ermöglichte, sondern auch zu einem allgemeinen Chaos fuhren konnte. Der Initiator der bayrischen Staatsreform, Graf Montgelas, ein energischer Förderer dieses Freisetzungsprozesses, umschrieb 1796 die daraus resultierenden Schwierigkeiten staatlicher Steuerung: »Das große Problem, wo die Freiheit endet, und die Zügellosigkeit beginnt, ist noch in keinem Staat gut gelöst worden.« 21 In der Tat konnte dieses Problem auch nicht vom Staat allein gelöst werden. Reformorientierte Staatsbeamte waren sich in diesem Punkt durchaus einig, und bereits 1793 merkte der aufgeklärte Kritiker Freiherr von Knigge an: »Alle positive Direktionen der Moralisten und Aufklärung von Obrigkeitswegen sind ja ohnehin fruchtlos.«22 Das Konstruktionsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft bestand nun darin, daß diese Gesellschaft sich selber steuerte. Idealtypisch mußte jeder Bürger nicht nur den Gesetzen der Vernunft folgen, sondern sie auch positiv wollen. Auf diesem Grundsatz beruhte Herrschaft im bürgerlichen Zeitalter: Der Staat beherrschte seine Untertanen nicht mehr durch äußeren Zwang, exemplarische Strafen, Abschreckung oder Grausamkeit, sondern die bürgerliche Gesellschaft wirkte auf die Verinnerlichung dieser Prinzipien hin, so daß die Bürger selber die Verhaltensnormen wählten, die dem Staat letztlich zugutekamen. Der moderne Begriff von ›Sexualität‹ entfaltete sich in diesem symbiotischen, gespannten, paradoxen Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Im Laufe des 18. Jahrhunderts hatte der Zentralstaat auf seinen früheren Anspruch, das (hetero)sexuelle Leben der Untertanen zu regulieren, allmählich verzichtet. Als der Staat sich aus diesem Bereich zurückzog, hinterließ er ein Vakuum; Aufgabe der bürgerlichen Gesellschaft war es, diese Leere zu füllen. Das Schweigen des Staates verlangte das Reden der bürgerlichen Gesellschaft. Im folgenden möchte ich kurz die Umrisse dieses Redens skizzieren und damit einige wesentliche Axiome bürgerlichen Denkens analysieren, die den Begriff ›Sexualität‹ strukturierten.

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II So wie England lange Zeit für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung als Modell galt, an dem die deutsche Geschichte gemessen und für mangelhaft befunden wurde, so schauen Historiker jetzt nach Frankreich, wenn sie sich mit der Geschichte der Sexualität beschäftigen. Leider führt diese Blickrichtung in gewisser Weise in die Irre: Anders als in Frankreich, wo Priester (wenn man Flandrin folgt) oder Ärzte (wenn man Foucault folgt) den Diskurs über Sexualität gestaltet haben, waren es in Deutschland hauptsächlich Pädagogen, die in der Öffentlichkeit über Sexualität nachdachten und diesen männlichen Diskurs führten. Männer wie Campe, Basedow, Villaume, Oest, Salzmann und andere waren die ersten »nationalen Erzieher« Deutschlands.23 Sie überfluteten das Land mit Büchern und Artikeln, gründeten Schulen und bildeten Lehrer aus. Ihre zahlreichen Veröffentlichungen nahm das gebildete Publikum begierig auf. Von den Zeitgenossen »Philanthropen« genannt, erhielten diese Männer später gelegentlich auch die Bezeichnung »Sexual-Pädagogen«, weil sie der Überzeugung waren, daß das Sexuelle einen zentralen Einfluß auf den Charakter und die Persönlichkeitsbildung des Menschen besaß und aus diesem Grund die sorgfältige Aufmerksamkeit der Erzieher verdiente. In dieser Überzeugung folgten sie Jean-Jacques Rousseau, obwohl sie in mancher Hinsicht auch von ihm abwichen. Durch ihre Begeisterung für Rousseau, die soweit ging, daß sie seine Werke ins Deutsche übersetzten, haben Pädagogen die Rousseau-Rezeption in Deutschland nachhaltig beeinflußt. Diese Rezeption unterschied sich deutlich von der in Frankreich oder England. In Deutschland hat Rousseau weder Jakobiner hervorgebracht noch eine systematische politische Auseinandersetzung bewirkt. Die Deutschen waren eher fasziniert von seinen Ideen über Geschlechterbeziehungen und -rollen sowie von seinen intimen »Geständnissen«. Interessanterweise wird gerade dieses einseitige Interesse der Deutschen an Rousseau in der neueren, sozialkritischen oder marxistischen Rezeptionsforschung kritisiert und als Ausdruck politischer Rückständigkeit interpretiert.24 Übersehen wird dabei, daß bereits im Werk Rousseaus selber dem Sexuellen ein besonderer Stellenwert zukam - die Deutschen haben es also keineswegs erfunden oder hineinprojiziert. Darüber hinaus war dieses Interesse am Sexuellen alles andere als unpolitisch, setzte es doch ein gezieltes Nachdenken über zentrale Probleme der deutschen Entwicklung voraus. Die entscheidende Frage, die sich in Deutschland stellte, hieß: Wie gestaltet man eine Gesellschaft, die auf dynamischeren Prinzipien beruht, und wie bildet man die für diese Gesellschaft passenden Individuen aus? Rousseaus Ideen über das Sexuelle markierten eine Wende im westlichen Denken über das Verhältnis zwischen sozialen bzw. politischen Strukturen und Heterosexualität.25 Vor Rousseau waren diese Bereiche in der politi-

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schen Theorie immer getrennt behandelt worden. Wenn von Politik und (Staats) Bürgerrechten gesprochen worden war, hatte sich die Rede nur auf Männer und ihre Beziehungen untereinander bezogen. Die heterosexuelle Existenzweise der Männer/Bürger hatte in politischen Theorien keinen Platz. Im Zusammenhang mit Haushalt und Familie bildete Heterosexualität keinen politischen Gegenstand und stellte kein besonderes Problem dar. Daher schwieg sich die politische Theorie genauso über Heterosexualität wie über Frauen aus. Rousseau veränderte dieses Bild, indem er die ›Pflichten‹ der Frauen neu definierte. Er bestätigte sowohl die Männerbezogenheit als auch die Funktionalisierung der Frauen. Er veränderte ihre Position in seiner politischen Theorie jedoch insofern, als Frauen nun nicht mehr hauptsächlich dem Fortbestand der Gesellschaft dienten, indem sie Kinder in die Welt setzten, sondern indem sie Männern sexuelles Vergnügen bereiteten und ihnen das Leben angenehm gestalteten: »Von den Frauen hängen [die) Sitten und Leidenschaften [der Männer), ihre Neigungen und Vergnügungen, ja ihr Glück ab. Die ganze Erziehung der Frauen muß daher auf die Männer Bezug nehmen. Ihnen gefallen und nützlich sein, ihnen liebens- und achtenswert sein, sie in der Jugend erziehen und im Alter umsorgen, sie beraten, trösten und ihnen das Leben angenehm machen und versüßen: das sind zu allen Zeiten die Pflichten der Frau.« 26

Diese scheinbar kleine Verschiebung deutet auf einen grundlegenden Unterschied zwischen Rousseau und früheren Denkern hin, nämlich auf Rousseaus Theorie einer engen Wechselwirkung zwischen Politik und gesellschaftlicher Struktur einerseits und der Funktionalisierung von Heterosexualität für diese Bereiche andererseits. Obwohl er die Gleichsetzung von Familie und Gesellschaft sorgfältig vermied, identifizierte er den Ursprung der Gesellschaftsbildung mit einer Änderung des menschlichen Sexualverhaltens, nämlich mit dem Schritt zur Monogamie, deren konstitutives Element er in der wechselseitigen leidenschaftlichen Zuneigung, unabhängig von der Rücksicht auf Kinder, sah. 27 Gleichzeitig konstruierte er soziale und politische Institutionen so, daß sie eine Lösung der vermeintlichen Probleme männlicher Sexualität ermöglichten. Das wird klar, wenn man die Rolle der Sexualökonomie in Rousseaus Denken genauer untersucht. Bei Rousseau lassen sich drei verschiedene, in sich widersprüchliche Konstruktionen der Geschlechterbeziehung unterscheiden. 28 Eine Linie seiner Argumentation ging davon aus, daß Frauen und Männer über gleich starke sexuelle Triebe verfugten, die Frau dem Mann aber unterlegen sei, weil ihre Befriedigung auf seine Erregung angewiesen bliebe und er nur dann erregt würde, wenn sie ihm Keuschheit und Widerstand vortäuschte. Folglich war die Frau der Phantasie des Mannes unterworfen. Die Beziehung zwischen Mann und Frau beruhte also auf einer Fiktion, auf einem vom Mann phantasierten Weiblichkeitsbild. In einem zweiten Interpretationsmodell nahm

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Rousseau an, daß der sexuelle Trieb bei Frauen schwächer ausgeprägt sei als bei Männern, und daß Männer deshalb stärker auf Sexualität und damit auf Frauen angewiesen seien als umgekehrt. Ein drittes Konzept der Organisation sexuellen Austausches schrieb Männern und Frauen gleich starke Triebe zu, behauptete aber, daß Männer über geringere physische und sexuelle Kraft verfügten und deshalb immer Gefahr liefen, von Frauen sexuell geschwächt und ausgelaugt zu werden. Die Funktion aller drei bei Rousseau angelegten Konstruktionen der Geschlechterbeziehung war jeweils dieselbe: Es erschien als notwendig, weibliche Sexualität zu kontrollieren, was bedeutete, Frauen politisch und sozial zu unterwerfen. Im ersten Fall stellte sich diese logische Konsequenz von selber ein, in den beiden anderen mußte sie künstlich eingeführt werden, z. B. durch die Annahme einer wirtschaftlichen und politischen Vorherrschaft der Männer, die, wie Rousseau meinte, notwendig war, um schädliche Frauenherrschaft abzuwenden. Diese Überlegungen zu Rousseaus politischem Denken lassen sich in vier Punkten zusammenfassen: 1. Rousseau war der erste politische Denker, der Politik und Heterosexualität in engen Zusammenhang brachte. 2. Er tat dies zum größten Teil deshalb, weil er die heterosexuellen Beziehungen zwischen Männern und Frauen als problematisch empfand. Er versuchte, diese Probleme dadurch zu lösen, daß er sie im System seiner politischen Theorie und Gesellschaftskonstruktion aufgriff. 3. Weil Rousseaus Denkschema männerbezogen war, gingen seine Modelle von Männern und ihren vorgeblichen sexuellen Problemen aus. 4. Indem seine Überlegungen sich in einem auf Männer bezogenen System bewegten, wurden die denkbaren Lösungen in einer Weise konstruiert, die Frauen zum Objekt des Nachdenkens machte. Indem Männer ihre eigene (Hetero) Sexualität problematisierten und zum politischen Gegenstand erhoben, wurden auch Frauen automatisch zu einem Thema von politischem Interesse. Das geschah genau in dem Moment, in dem systematisch zu begründen versucht wurde, warum Frauen keinen Anteil an der Politik haben könnten. Rousseaus Denken gewährt demnach den klarsten Einblick in die wechselseitige Abhängigkeit von ›Politischem‹ und ›Nichtpolitischem‹ oder, in der Sprache späterer ideologischer Verschleierung, zwischen ›öffentlicher‹ und ›privater‹ Sphäre. Es war gerade die Herausbildung dieses Systems und seines diffizilen Gleichgewichts, worüber sich die deutschen Zeitgenossen Rousseaus die Köpfe zerbrachen. Ihnen kam Rousseau zu Hilfe, indem er ein Modell oder besser eine Metapher entwickelte, die einerseits flexibel und zweideutig, andererseits jedoch stark genug schien, um das sich auflösende Ancien Régime in etwas Neues umzugestalten. Diese Metapher war ›Sexualität‹, insbesondere Heterosexualität, im Grunde genommen allein männliche Heterosexualität, was jedoch kaum wahrgenommen oder gar ausgesprochen wurde. Durch die Verknüpfung unterschiedlicher Problembereiche schuf die Metapher ›Sexualität‹ einen Nexus, der die Probleme zwar nicht löste, sie aber wenigstens so umdefinierte, daß sie scheinbar unter die Kontrolle der

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Vernunft gerieten. Abstrakte, schwer zu konkretisierende Probleme konnten in einem sexuellen Gefüge konkret, greifbar, vielleicht sogar lösbar erscheinen. Durch die Verkoppelung sexueller Befriedigung mit Ehe und Kindern war Heterosexualität nachgerade dazu prädestiniert, das spannungsvolle Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu interpretieren. Man konnte Sexualität aber auch dazu benutzen, andere Problemfelder zu strukturieren. Selbst hochpolitische Fragen wie die, wie Wirtschaft und Gesellschaft nach dem Wachstumsprinzip organisiert werden könnten, ohne Chaos zu erzeugen, oder das Problem, wem man politische Beteiligung und Bürgerrechte zugestehen sollte, ließen sich über einen solchen Diskurs lösen. Am Beispiel der Diskussion über den sexuellen Trieb wird deutlich, in welcher Weise ›Sexualität‹ benutzt wurde, um Aussagen über Funktionsbedingungen des gesellschaftlichen und politischen Systems zu treffen. Das Sexuelle hatte immer schon als starke Metapher für Vergnügen überhaupt gegolten, und Vergnügen war im 17. Jahrhundert für das unter knappen Ressourcen leidende Deutschland ein Problem. Während die katholische Kirche das Sexuelle zu reinen Vergnügungszwecken verbot, schränkte der Staat aus den genannten fiskalischen Gründen solches körperliche Vergnügen auf die Ehe ein. Sexuelle Kontakte außerhalb der Ehe, die zu Schwangerschaften fuhren konnten, wurden als »leichtfertig« unter Strafe gestellt. Alles andere, da fiskalisch irrelevant, interessierte den Staat nicht. »Leichtfertigkeit« versuchte er durch Geldstrafen genauso zu besteuern wie die zahlreichen anderen gesellschaftlichen Vergnügungen, die unter die Aufwandgesetze fielen, wie Tanzen, Hochzeitsfeiern, Genußmittel. Die Gleichsetzung von Vergnügen und sexueller Befriedigung und die Betrachtung beider aus dem Blickwinkel einer Subsistenzökonomie drückte sich in den Mandaten in der immer wiederkehrenden Formel »Liederlichkeit, Luxus und Müßiggang« aus. 2 9 Aus der Perspektive einer bürgerlichen Wachstumsökonomie hingegen war Vergnügen eine wirtschaftliche Produktivkraft, die nicht nur zu dulden, sondern sogar zu fördern war, da Vergnügen das Konsumverlangen anregte und gleichzeitig die Leistungsmotivation der Menschen erhöhte. Die Gleichsetzung von Vergnügen, Luxus und Müßiggang mußte deshalb aufgebrochen werden. Der Hamburger Aufklärer Georg Heinrich Sieveking erklärte 1791: »Luxus ist Aufwand für ausgesuchte Befriedigung der Bedürfnisse, der Bequemlichkeit, des Vergnügens, des Glanzes. Also ein mächtiger Trieb, zu einer nützlichen Thätigkeit und nützlich für den Staat und den Menschen.« 30 Dementsprechend war Vergnügen kein passiver, vergeudender Müßiggang, sondern wurde zu einem Motiv produktiver Tätigkeit umgedeutet. Als Sieveking die Begriffe »Befriedigung der Bedürfnisse« und »mächtiger Trieb« benutzte, dachte er vermutlich nicht, zumindest nicht bewußt, an ihren möglichen sexuellen Sinn. Aber die Zweideutigkeit seiner Worte belegt die zunehmend geläufiger werdende Analogie zwi-

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schen sexuellem Verlangen oder Trieb und der nicht nur ökonomischen, sondern auch politischen Tätigkeit, die ihm entsprang. Ein Schriftsteller bemerkte 1791 pointiert, »der Trieb nach Freiheit als notwendige Folge der wahren Verstandeskultur« gliche dem »Begattungstrieb als Folge des Gebrauches körperlicher Kräfte«. 31 Das Modell des sexuellen Triebes diente dazu, die allseitige Entfaltung der Persönlichkeit und deren wirtschaftliche und politische Äußerungen gleichsam als naturhaft, als Ergebnis eines Naturgesetzes zu betrachten und als solches positiv zu besetzen. Der Furcht, daß die Verfolgung rein egoistischer Triebe die Gesellschaft auflösen würde, konnte man, wie der spätere preußische Staatsminister Friedrich von Schuckmann 1783 formulierte, mit dem Argument begegnen, daß der heterosexuelle Trieb doch »von weiterem Umfange« sei, »Sorgfalt für das Erzeugte in sich begriff [und daher] das stärkste Band menschlicher Gesellschaft, Tugend und Glückseligkeit« darstelle. 32 Das sexuelle Modell schien also imstande, den Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft zu überbrücken. Wie bereits angedeutet, war das (hetero)sexuelle Modell von Staat und Gesellschaft kein allgemein menschliches, sondern ein rein männliches M o dell. Entgegen älteren Traditionen medizinischen Denkens wurde Aktivität im heterosexuellen Verkehr immer ausschließlicher dem Mann zugeschrieben, während die Frau zunehmend als passiv, sogar als trieblos galt. 33 Obgleich diese Aufspaltung in ›aktiv‹ und ›passiv‹ nicht immer explizit geschah, steckte sie den Rahmen ab, innerhalb dessen die Diskussion über Triebkontrolle stattfand, eine Diskussion, die von der Furcht beherrscht war, daß die losgelassene sexuelle ebenso wie die freigesetzte wirtschaftliche und politische Energie alle Schranken auflösen und die Ordnung zerstören würden. Wie man gleichzeitig Energie freisetzte und Kontrolle ausübte, war daher unter den Zeitgenossen ein vielbehandeltes Thema. Die Dialektik von energetischer Freisetzung bei gleichzeitiger Kontrolle spiegelte sich, ins Physische übersetzt, auch in der Diskussion um Onanie wider. Ende des 18. Jahrhunderts beschäftigte sich eine kaum noch überschaubare Literatur damit, die physischen und altersbedingten Grenzen des sexuellen Triebes zu definieren. 34 Als onaniegefährdet erschienen dabei, dem männlichen Modell entsprechend, fast ausschließlich Männer und Knaben. Diese ärztlichen Entdeckungen wurden insbesondere von Lehrern begrüßt, die der Überzeugung waren, der durch Wissen aufgeklärte Mensch/Mann könne seinen Trieben aus eigener Kraft vernünftige Grenzen setzen. Auf diese Weise verwandelte sich ein physisches in ein moralisches Problem. Andere Autoren wollten Grenzen des Triebs in der Ökonomie des Vergnügens selber entdecken: »Nur alsdann bleibt immer neu der Genuß, bleibt unverwelkt unser Alter, wenn wir bescheiden aus den Händen der Enthaltsamkeit den Kelch des Vergnügens empfangen.« 35 Am ausgedehntesten und buntesten war jedoch die Diskussion über den weiblichen Sexualtrieb. Aus Platzgründen kann dieses umfangreiche Thema hier nur am

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Rande erwähnt und auf zwei wesentliche Punkte verwiesen werden: Zum einen drehte sich diese Diskussion, wie schon bei Rousseau, vordergründig um Frauen, richtete sich aber in Wirklichkeit auf Männer. Zweitens enthielt die Debatte, ähnlich wie Rousseaus Argumentation, eine Reihe von Widersprüchen, die von der Behauptung, das Wesen der Frau bestehe ausschließlich in der Sinnlichkeit, bis hin zur These reichten, daß Frauen vollkommen trieblos seien. Fichte hat das Problem sexueller Aktivität und Kontrolle ›radikal‹ gelöst und zugleich direkt auf die politische Ordnung bezogen, indem er Aktivität und Kontrolle gleichsetzte und beide als männliche Wesensmerkmale definierte. Der Aktivität räumte er ein überproportionales Gewicht ein: »Der Charakter der Vernunft ist absolute Selbsttätigkeit«. Weil der Mann der sexuell aktive Teil sei, könne er »die Befriedigung seines Geschlechtstriebs als Zweck sich vorsetze[n]«. Der Frau hingegen gelinge das nicht, »und da sie sich denn doch zufolge eines Triebs hingeben muß, kann dieser Trieb kein anderer sein, als der, den Mann zu befriedigen. Sie wird in dieser Handlung Mittel für den Zweck eines anderen . . . Das Weib gibt, indem sie sich zum Mittel der Befriedigung des Mannes macht, ihre Persönlichkeit . . . Sie hat aufgehört, das Leben eines Individuums zu fuhren.« 36 Deshalb konnten Frauen, schloß Fichte, in der Regel niemals selbständig handelnde Subjekte sein und entbehrten aufgrund ihrer sexuellen Natur alle Eigenschaften, die sie zu Staatsbürgern hätten befähigen können. 37 Auf diese Weise wurde die alte Ausschließung der Frauen aus der Politik erneuert und in einer dem Liberalismus angemessenen Weise begründet. Sicherlich waren Fichtes Äußerungen extrem, doch bieten sie ein klares Beispiel dafür, wie ›Sexualität‹ benutzt wurde, um die sich herausbildende Gesellschaftsordnung zu erklären und zu regeln. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, der Begriff ›Sexualität‹ habe allein der Kontrolle, Dämpfung oder Einkesselung des Trieblebens oder, diesem Modell folgend, potentiell subversiver Sozialkräfte gedient. Ich möchte auch nochmals betonen, daß das kulturelle Deutungsmuster, das wir heute ›Sexualität‹ nennen, sich im 18. Jahrhundert noch nicht zu einem gradlinigen System entwickelt hat. Gerade im Symbolcharakter des Begriffs und seiner vielseitigen theoretischen Verwendbarkeit lag seine Stärke. Wie viele andere zentrale Begriffe und Disziplinen, die auf Abspaltungen und Grenzziehungen des 18. Jahrhunderts zurückzuführen sind, entstand auch der Begriff ›Sexualität‹ aus der Auflösung ehemals einheitlicher Begriffssysteme. Aber anders als die übrigen Abspaltungen hatte ›Sexualität‹ als Idee dank ihrer systematischen Position immer die Möglichkeit, Grenzen zu überspringen und vermeintliche Gegensätze wie Individuum/Gesellschaft, Privatheit/Öffentlichkeit, Egoismus/Aufopferung, Körper/Geist oder möglicherweise sogar Mann/Frau zu verknüpfen. Zum Schluß möchte ich am Beispiel der Sexualpädagogen noch einmal die Plastizität des Begriffes ›Sexualität‹ aufzeigen und verdeutlichen, daß es

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dabei nicht nur um Kontrolle ging, sondern daß damit auch ein Nachdenken über Freiheit und Befreiung verbunden war. Die Sexualpädagogen vertraten in ihren Schriften keine einheitliche Ideologie, im Gegenteil, ihre Meinungen gingen verblüffend weit auseinander.38 Hinter dieser Vielfalt standen jedoch zwei Grundannahmen, die ihrerseits auf unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten hinwiesen: Zum einen gingen die Autoren als Erzieher nicht nur davon aus, daß sexuelles Verhalten den späteren Charakter beeinflussen würde, sondern sie fanden umgekehrt auch, daß Charakter, Wille und Persönlichkeit das sexuelle Verhalten bestimmten. Entgegen Fichtes Behauptungen sahen sie im sexuellen Verhalten mithin keine Naturkonstante, sondern etwas, das sich sozial konstituierte. Zweitens hatte die Gesellschaft eine Wahl zu treffen, in welcher Weise sie die Persönlichkeitsbildung der Untertanen förderte. Sie tat dies, indem sie Sexualerziehung und Triebmodellierung dazu benutzte, Charakterstrukturen zu prägen, ebenso wie sie umgekehrt später ausgebildete Charakterstrukturen nach sexuellen Eigenschaften bewertete. Zwei potentielle Gedankengänge waren schon keimartig in diesen Überlegungen der Pädagogen enthalten. Der erste konnte sich aus der Annahme entwickeln, daß Sexualverhalten durch gesellschaftliche Sozialisation gesteuert würde. Wenn die Gesellschaft dies nicht mehr leistete oder wenn sich die Menschen der Vergesellschaftung entzögen, fiele dem Individuum selber die Ausgestaltung seines sexuellen Selbst anheim, und es könnte so der Bevormundung durch die Gesellschaft entgehen. Pädagogen hatten genügend Erfahrung mit ihren Schülern, um zu wissen, daß diese Chance immer bestand. Die vermutete Wechselwirkung zwischen Gesellschaftsstrukturen und der sexuellen Formung des Charakters nährte darüber hinaus noch eine Zukunftsvision: Grundlegende Veränderungen des Sexualverhaltens einer Klasse oder der Frauen wären vielleicht in der Lage, die bestehenden Sozialstrukturen selber zu erschüttern. Diese letzte Möglichkeit bewegte sich immer noch in der Gleichung von Aktivität/sexueller Betätigung und bürgerlicher Beteiligung, löste aber die Fixierung auf eine männliche Konzeption von Bürgertum und eventuell auch die Fixierung auf Heterosexualität auf. Sexuelle Befreiung, nicht nur als Ausdruck, sondern auch als Ursache gesellschaftlicher Freiheit gedeutet, war seither in westlichen Gesellschaften eine stetig wiederkehrende Idee, die jedoch sehr verschiedene politische Folgen zeitigte. So unterschiedlich die Funktionen und Entwicklungsmöglichkeiten auch waren, die man aus dem Begriff ›Sexualität‹ ableiten konnte, hat der Begriff doch seine Macht durch das 19. Jahrhundert bis in unser Zeitalter hinein behalten und den Rahmen unseres Denkens über das Individuum und sein Verhältnis zur bürgerlichen Gesellschaft geprägt. Wie schon im 18. Jahrhundert konnte dieser Begriff offensichtlich seine Nützlichkeit für die ständig wechselnden Erscheinungsformen bürgerlicher Gesellschaft immer wieder aufs Neue unter Beweis stellen.

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Anmerkungen Für ihre Hilfe bei der Vorbereitung dieses Aufsatzes bin ich Laura Engelstein, Carola Lipp, Biddy Martin und Hanna Schissler sehr dankbar. Für finanzielle Unterstützung bin ich auch der Alexander von Humboldt-Stiftung, dem American Council of Learned Societies und der American Association of University Women zu Dank verpflichtet. 1 S. Marcus, Umkehrung der Moral. Sexualität und Pornographie im viktorianischen England, Frankfurt 1979; B. Barker-Benfield, The Spermatic Economy: a Nineteenth Century View of Sexuality, in: Feminist Studies, Bd. 1, 1972, S. 45-74. 2 M. Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt 1977. 3 P. Gay, Erziehung der Sinne. Sexualität im bürgerlichen Zeitalter, München 1986; ders., Die zarte Leidenschaft. Liebe im bürgerlichen Zeitalter, München 1987. 4 Die Neigung, Frauen in ein Sonderverhältnis mit dem Sexuellen zu setzen und das Sexuelle für einen naturgegebenen Trieb zu halten, existierte im europäischen Denken schon lange vor dem bürgerlichen Zeitalter, aber wie ich weiter unten zeigen werde, bekam dieses Denksystem mit der Entwicklung der bürgerlichen Ordnung andere Konturen und neue Bedeutungen. 5 Das Wort tauchte erstmals um 1800 im Zusammenhang mit einem von dem Biologen Linnaeus entworfenen Modell auf und bezeichnete ursprünglich geschlechtliche Unterschiede bei Pflanzen; es dehnte sich rasch auf Fortpflanzung und Geschlechtsunterschiede im allgemeinen aus. Vgl. Institut für deutsche Sprache, Deutsches Fremdwörterbuch, Bd. 4, Berlin 1978, S. 159f.; H. Kentler, Taschenlexikon Sexualität, Düsseldorf 1982, S. 254 f.; T. Heinsius, Volksthümliches Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. 2, Hannover 1819, S. 546 (unter »Sexual«). Die klassischen deutschen Wörterbücher, z. B. Grimm und Heyne, enthalten das Wort nicht. Ich danke Rüdiger Lautmann und Gert Hekma für ihre Hinweise. 6 Dieses Projekt hat den Titel: Sexualität, Staat und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, 1700-1848. 7 Τ. L aqueur, Orgasm, Generation, and the Politics of Reproductive Biology, in: Represen­ tations, Bd. 14, 1986, S. 1-41. 8 Ich diskutiere dieses Thema anhand der bayerischen und badischen Quellen im ersten Kapitel des Manuskriptes »Sexualität, Staat und bürgerliche Gesellschaft«. 9 Die meisten Kameralisten waren Oberbeamte oder Räte. Vgl. v.a. K. Zielenziger, Die alten deutschen Kameralisten. Ein Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomie und zum Problem Merkantilismus, Jena 1914, S. 86f., und die kurzen biographischen Skizzen in: E. Dittrich, Die deutschen und österreichischen Kameralisten, Darmstadt 1974. 10 F.-W. Henning, Das vorindustrielle Deutschland 800 bis 1800, Paderborn 19773, S. 238. 11 Zur Befürwortung von Peuplierung unter den Kameralisten und Staatstheoretikern s. Dittrich, Kameralisten, S. 43f., 52, 61, 67, 74, 92, 96f., 99, 107, 111f. Zur demographischen Lage und zum Pauperismus s. Henning, Deutschland, S. 283 f. 12 Die zwei berühmtesten Beispiele dieser Literatur sind J . P. Süßmilch, Die göttliche Ordnung in der Veränderung des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen, Berlin 1756, u. J . P. Frank, System einer vollständigen medizinischen Polizei, 4 Bde., Wien 1779-88. 13 (Oberamt Neustatt?) an die kurpfälzische Regierung (o. D. 1765), Generallandesarchiv Karlsruhe, Abteilung 77 (Akte Pfalz Generalia), Fasz. 5072. Dieses Argument überzeugte die Regierung, wie die Verordnung vom 11. 7. 1765 (ebd.) beweist. Ebenfalls 1765 erließ Friedrich II. aus den gleichen Gründen ein Verbot aller »Hurenstrafen«: Edikt vom 8. 2. 1765, zit. in W. Peitzsch, Kriminalpolitik in Bayern unter der Geltung des Codex Juris Criminalis Bavarici von 1751, München 1968, S. 94, Anm. 566. 14 Oberlandesregierung an den Elektor, München, 21. 3. 1780, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München, Fasz. GR 322/8. Solche Beispiele finden sich zahlreich in den Akten. 15 Vgl. ζ. Β. den Bericht der L andshuter Regierung an die Oberlandesregierung v. 29. 12.

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1794, HStA Bayern GR 322/8: »Für diese [unehelichen Kinder] ist Pflicht alle Vorurtheile durch widerholte Geseze hinwegzuräumen.« 16 Bericht der Burghausener Regierung an die Oberlandesregierung v. Okt. 1794, HStA Bayern, GR 322/8. 17 Ebd. 18 Auszug aus dem dreyjährigen Verwaltungsbericht der k. Regierung d. Rezat-Kreises für 1830-1833, Nr. 4030, HStA Bayern, Minn 15503. Das Argument bezieht sich nur auf Männer, ein Aspekt, von dem weiter unten die Rede sein wird. 19 Bericht der Straubinger Regierung an die Oberlandesregierung v. 26. 9. 1794, HStA Bayern, GR 322/8. 20 Die berühmteste Analyse dieses Prozesses stammt von R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1981 3 , S. auch M. Raeff, The Well-Ordered Police State. Social and Institutional Change through Law in the Germanies and Russia, 1600-1800, New Haven 1983. 21 Max Josef Graf von Montgelas' Mémoire an den Herzog von Bayern v. 30. 9. 1796, zit. in: E. Weis, Montgelas' innenpolitisches Reformprogramm: Das Ansbacher Memoire für den Herzog vom 30. 9. 1796, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Bd. 33, 1970, S. 238. 22 A. Frhr. v. Knigge, Schriftsteller und Schriftstellerei, Hannover 1793, S. 211, zit. in: Λnon., Über die sonderbare Würkung der Furcht vor der Propaganda aufs teutsche Theater, in: Genius der Zeit, Bd. 1, 1794, S. 192f. 23 Zum Verhältnis von Sexualität und Pädagogik bei den Philanthropen s. F. X. Thalhofer, Die sexuelle Pädagogik bei den Philanthropen, Kempten 1907, u. H. Hentze, Sexualität in der Pädagogik des späten 18.Jahrhunderts, Frankfurt 1979. 24 C. Süßenberger, Rousseau im Urteil der deutschen Publizistik bis zum Ende der Französischen Revolution. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte, Frankfurt 1974, bes. S. 106-110. B. Weißel mißt Rousseau mehr politische Wichtigkeit bei, hebt aber seine kleinbürgerlichen Grenzen hervor: Von wem die Gewalt in den Staaten herrührt. Beiträge zu den Auswirkungen der Staats- und Gesellschaftsauffassungen Rousseaus auf Deutschland im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, Berlin 1963, S. 67, 70-73, 299-310. 25 Ich folge hier hauptsächlich der Argumentation von S. M. Okin, Women in Western Political Thought, Princeton 1979, S. 99-194. 26 J . - J . Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, Paderborn 1985, S. 394. 27 Rousseaus Gedanken über Geschlecht, Geschlechtlichkeit und Frauen sind in seinen ganzen Werken verstreut, finden sich aber in »Emil«, »Julie oder Die neue Héloise« und im »Brief an d'Alembert« konzentriert. Die relevanten Stellen sind zitiert bei Okin, Women, Kap. 3, und J. Schwarz, The Sexual Politics of Jean-Jacques Rousseau, Chicago 1984. 28 Okin, Women, S. 116-118, u. Schwarz, Sexual Politics, Kap. 2, heben zwei entgegengesetzte Argumente hervor. Ich füge ein drittes hinzu. 29 Diese Formel und ihren Wandel analysiere ich im ersten Kapitel von: Sexualität, Staat und bürgerliche Gesellschaft. 30 Zit. in: D. Müller-Staats, Klagen über Dienstboten. Eine Untersuchung über Dienstboten und ihre Herrschaften, Frankfurt 1987, S. 102. 31 Zit. in: J . Schultze, Die Auseinandersetzung zwischen Adel und Bürgertum in den deutschen Zeitschriften der letzten drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts (1773-1806), Berlin 1925, ND Vaduz 1965, S. 112, Anm. 4. 32 F. v. Schu(c)kmann, Von dem Entstehungsgrund der Gesellschaft, in: Berliner Monatsschrift, Bd. 1, 1783, S. 443. 33 Zur älteren medizinischen Tradition vgl. Laqueur, Orgasm. 34 Über den Begriff ›Onanie‹ im späten 18. und frühen 19.Jahrhundert s. A. Wettley u. W. Leibbrand, Von der »Psychopathia sexualis« zur Sexualwissenschaft, Stuttgart 1959, S. 6-12. Unter den Philanthropen war J . F. Oest von diesem Thema besonders hingerissen. 35 L. Meister, Sittenlehre der Liebe und Ehe, nebst einer Beylage über die helvetische Galanterie, Winterthur 1785, S. 62.

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36 J . G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796), Hamburg 1979, S. 300, 304, 306, 307. S. auch ders., Das System der Sittenlehre (1798), Hamburg 1963, S. 325-340. Vgl. dazu den Beitrag v. U. Frevert in diesem Band. 37 Vgl. H. Schröder, Die Rechtlosigkeit der Frau im Rechtsstaat, dargestellt am Allgemeinen Preußischen Landrecht, am Bürgerlichen Gesetzbuch und an J.G. Fichtes Grundlage des Naturrechts, Frankfurt 1979. Daß Fichte seine Argumentation sexuell begründet, interpretiert Schröder als Sekundärphänomen der materiellen Verhältnisse (Eigentumlosigkeit) der Frau (S. 29-30). Ich finde, Fichte argumentiert umgekehrt. S. auch U. Gerhard, Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit, Familie und Rechte der Frauen im 19. Jahrhundert, Frankfurt 1981, S. 143-148. Über Bürgerrechte für Frauen und Männer s. Fichte, Naturrecht, S. 339-349. 38 Zu den prominentesten Sexualpädagogen s. Hentze, Sexualität, bes. S. 47-102.

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DIRK BLASIUS

Bürgerliche Rechtsgleichheit und die Ungleichheit der Geschlechter Das Scheidungsrecht im historischen Vergleich

I Das Programm bürgerlicher Rechtsgleichheit ist seit dem Zeitalter der Aufklärung die stärkste Wirkkraft im Entwicklungsgang der neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft gewesen. Die universalen Strukturen der Vernunft klagten eine Gesellschaft ein, die mit den Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten der alten Sozialordnung nichts mehr gemein haben sollte. Es war ein langer und mühsamer, von vielen Rückschlägen und nationalgeschichtlichen Verwerfungen begleiteter Weg, auf dem der durch das Recht freigegebene und durch politische und soziale Gleichheitsrechte verbürgte Typ der bürgerlichen Gesellschaft zum Realtyp der gesellschaftlichen Moderne wurde: eine von prinzipiell gleichgestellten Bürgern gesteuerte Gesellschaft, deren Rechtsstrukturen in der historischen Bilanz als wichtige Entlastungsmomente für die sich im Rahmen einer bürgerlichen Arbeits- und Produktionsgesellschaft bildenden Klassenstrukturen eingeschätzt werden müssen. Für die Klassengeschichte der bürgerlichen Gesellschaft hat das Recht einen unbestritten hohen Zeigewert. Hier soll nach seinem Zeichencharakter für die »Geschlechtergeschichte des Bürgertums« (Ute Frevert) gefragt werden. Die Annahme, daß gerade im Privatrecht, und hier besonders im Familien- und Erbrecht, die lange Geschichte asymmetrischer Geschlechterbeziehungen gespeichert ist, ist wohlbegründet. Die Perspektive ›Ungleichheit der Geschlechten macht die Grenzen des universalen Geltungsanspruchs bürgerlicher Rechtsgleichheit bewußt. Indem die Frage nach der Rechtsfähigkeit gestellt wird, die Frauen kontrapunktiv zur Grundrichtung des neuzeitlichen Geschichtsprozesses zumeist abgesprochen wurde, fällt von den rechtlichen Ausdrucksformen von Bürgerlichkeit her ein besonderes Licht auf deren ›Defizite‹, die lange Zeit unregistriert, aber auch unmoniert blieben. Es geht im folgenden um den geschlechtserheblichen Charakter bürgerlicher Rechtsinstitute - oder, anders formuliert, um die weit zurückreichende Kodifizierungsgeschichte der ›Geschlechterdifferenz‹.

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II Richtet man den Blick auf die deutsche Rechtsgeschichte im 19. Jahrhundert, so braucht über den harten Patriarchalismus der bürgerlichen Rechtstradition nicht lange gestritten zu werden. Ute Gerhard hat die »Verspätung der Frauenrechte« eindrucksvoll beschrieben und bitter über die »Widersprüche zwischen allgemeiner Rechtsentwicklung und den Rechten bzw. Nichtrechten der Frauen« informiert.1 Der Mann als »Haus- und Eheherr«, so eine Formulierung aus Georg Beselers ›System des gemeinen deutschen Privatrechts‹, verfaßt um die Mitte des 19. Jahrhunderts, war Herr im Recht; auf die Sicherung seiner »Gewalt« war die Vielzahl von Rechtstiteln berechnet, die weit über das Familienrecht hinausgriffen.2 »Die Frau als Rechtsperson« erscheint in der Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts als eine Art Unperson. Die in diesem Zusammenhang schon gezeichneten ›schwarzen‹ Linien zwischen den beiden Eckpfeilern deutscher Kodifikationsgeschichte, dem ›Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten‹ von 1794 und dem ›Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich‹ von 1900, ließen sich weiter ausmalen. Die Illusion von der Gleichberechtigung der Geschlechter hat zu keinem Zeitpunkt, und schon gar nicht im Jahrhundert des Bürgertums, zu den produktiven Rechtsillusionen der bürgerlichen Gesellschaft gezählt.3 Es war das Rechtsinstitut der ›Bürgerlichen Ehe‹, so die heftig umstrittene zentrale Abschnittsüberschrift aus dem Familienrecht des Bürgerlichen Gesetzesbuches,4 das die Rechtsdiskriminierung der Frau auf die Linie eines geschichtlich gewachsenen und gottgewollten Nuptialverhältnisses zurücknahm. Die Rechtsform ›Ehe‹ stellte für die Frau ein rechtliches Zwangsgehäuse dar, das ihr den Zugang zur vollen Mündigkeit und uneingeschränkten Rechtsautonomie auf fast allen Gebieten des politischen, gesellschaftlichen und gewerblichen Lebens versperrte. Hier hatte das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern seine Verankerung; die›bürgerlicheEhe‹ perpetuierte ein Ungleichgewicht in der ›Machtbalance‹ zwischen Mann und Frau, und erst das Eherecht erklärt, warum es hier solange so wenig Wandel gegeben hat. Norbert Elias mußte schon in die Römerzeit springen, um Spuren eines »Zivilisationsschubes« zu entdecken, der in abgelebter Vergangenheit ein Mehr an egalitären Formen in den Geschlechterbeziehungen versprach.5 Wenn die These zutreffen sollte, daß die ›bürgerliche Ehe‹ den Schlüssel zum geschichtlichen Vorgang der vielen Rechtsversagungen gegenüber Frauen liefert, zu der ihnen vorenthaltenen Rechtsparität in der sich rechtlich immer stärker ausformenden und fortentwickelnden bürgerlichen Gesellschaft, dann kommt dem Scheidungsrecht, also dem Recht der Auflösung einer Ehe, eine besondere geschlechtsspezifische Wertigkeit zu. Durch eine Scheidung konnte die Frau zwar keine neuen Rechte gewinnen, sie konnte 68 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

sich aber der Last von Ehesituationen entledigen, die oft mit den eherechtlichen Privilegien des Mannes zusammenhingen. Für die Ungleichheit der Geschlechter im Recht ist das Scheidungsrecht, besonders auch in historischer Perspektive, ein komplexer, aber lohnender Untersuchungsgegenstand. Von seiner Struktur her kann es patriarchalische Rechtsfiguren um ihre Wirkung bringen, es kann sie aber auch massiv abstützen. Der Historiker wird bei der Klärung dieser wichtigen Frage den normativen Ansatz der traditionellen Rechtsgeschichte ausweiten müssen. Der Gesetzestext bildet nicht das Ganze der geschichtlichen Wirklichkeit eines Gesetzes ab. So will auch die Anwendung des Scheidungsrechts durch die Rechtsinstanzen in sehr unterschiedlichen historischen Situationen als ein geschichtlicher Vorgang eigener Art begriffen werden. Nicht alles, was sich in der Vergangenheit im Geschlechterverhältnis abgespielt hat, läßt sich über das gesatzte Recht erfassen. Erst die ›Arbeits- bzw. Implementationsstrukturen‹ des Rechts informieren über seine Durchschlagskraft, über die verhaltensteuernde Wirkung der Rechtsnorm.6 Im 19. Jahrhundert begegnet die rechtlich festverbürgte Autorität des Ehemannes; es gab aber auch ein Scheidungsrecht, das, in Scheidungsprozessen praktiziert, zum Fallstrick männlicher Eheautorität werden konnte. Gehörte somit das Scheidungsrecht früher zum Rüstzeug der Frau in einem Ehealltag, der oft im Zeichen schwerer Fährnisse gestanden haben mag? Diese, die Mechanismen von Rechtsstrukturen im Geschlechterverhältnis auslotende Frage ist auch eine Frage an Schlußfolgerungen, die Ute Gerhard gezogen hat: daß der weitreichende Rechtsverzicht von Frauen heute historisch bedingt sei. Das distanzierte und problematische Verhältnis der Frauen zum Recht erkläre sich auch aus gesellschaftlichen, in der Frauengeschichte überlieferten Erfahrungen. »Das Rechtsbewußtsein der Frauen ist durch ihre Unrechtserfahrungen geprägt.« 7 Das Verhältnis von Rechtsbewußtsein und Rechtsverzicht wird im Hinblick auf die Rolle, die Frauen im Scheidungsgeschehen der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts gespielt haben, zu überprüfen sein. Diese Perspektive gehört mit in einen Forschungsansatz, der die frauengeschichtliche Wirkung des Scheidungsrechts insgesamt einzuschätzen sucht. Hier sind Ergebnisse nur auf dem Weg des Vergleichs, so schwierig dieser auch ist, zu erzielen. Erst die Verknüpfung der ›Rechtsgeschichte der Frau‹ in Deutschland mit frauengeschichtlich signifikanten Entwicklungsabschnitten des Rechts in Frankreich, Nordamerika und England läßt diese Geschichte nicht zur Sondergeschichte werden, schließt sie vielmehr an die zentralen Fragen einer Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums an. 8

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IIΙ Das Zeitalter der Französischen Revolution leitete nicht nur das neuzeitliche Verfassungszeitalter ein, in dem die Teilhabe der Gesellschaft an der politischen Willensbildung zum Ausgangs- und Zielpunkt der Neuorganisation der Staatsgesellschaft wurde, dieses Zeitalter brachte auch säkulare Rechtsfortschritte. Für Frankreich verkörperte der »Code civil des Français« von 1804, der 1807 den Namen »Code Napoleon« erhielt, ein Gesetzbuch, das »auf dem Boden der vollzogenen bürgerlichen Revolution« stand. 9 Der Code civil trug in vielem den Imperativen der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft Rechnung. Er enthielt ein Privatrecht, das dem einzelnen ein ungehindertes Ausleben seiner wirtschaftlichen Existenz garantierte. So ›modern‹ die Prinzipien der Rechtssubjektivität waren, die Eigentums-, Vertrags- und Vererbungsfreiheit gewährleisteten, führte das primär wirtschaftliche Verständnis von Freiheit und Gleichheit doch zu Reformdefiziten bzw. politisch gewollten Reformverzichten in Bereichen, die jenseits des ökonomischen Horizonts der bürgerlichen Gesellschaft lagen. Das zukunftsweisende französische Zivilrecht ruhte im Bereich des Personen- und Familienrechts weiterhin auf dem festen Traditionssockel überkommener Rechtsbestimmungen und -Überzeugungen. Diese Bruchstellen im imposanten Kodifikationsgebäude der bürgerlichen Revolution sind frauengeschichtlich von weittragender Wirkung gewesen. In der Geburtsstunde der bürgerlichen Gesellschaft begegnet eine Spaltung des bürgerlichen Rechts entlang der Geschlechterlinie, wird die Geschlechterdifferenz gleichsam durch eine Rechtsdifferenz bekräftigt. Das französische Recht war für die europäische Privatrechtsentwicklung im 19. Jahrhundert von großem Einfluß. Es brachte Bewegung in viele Rechtsmaterien, sorgte aber auch für das Beharrungsvermögen des Familienrechts. Für keine Nische im Personenrecht der Frau ist der Code civil zur Herausforderung geworden, im Gegenteil: Er blieb die legitimierende Bastion der Rechtsprivilegien des Mannes. Hier können nicht die einzelnen Rechtsbestimmungen genannt werden, die der gesellschaftlichen Stellung der Frau eine Randposition zuwiesen, ihre marginale Rolle im öffentlichen und wirtschaftlichen Leben bedingten. Den frauenfeindlichen Zuschnitt des personenrechtlichen Konzepts des Code hat man treffend mit der Bemerkung umschrieben, daß Freiheit und Gleichheit nur bis zum père de famille reichten und die ›monarchische‹ Ordnung der Familie nie in Frage stellten. 10 Der Code civil stand nun nicht am Anfang des revolutionären Prozesses in Frankreich, sondern bildete in gewisser Weise seinen Schlußpunkt. Er hat fraglos, gerade im Hinblick auf die entstehende bürgerliche Gesellschaft, viel vom Charakter eines revolutionären Rechts; zugleich aber hat dieses Gesetzbuch an der Schwelle der Moderne manche Erinnerung an die gesetzgeberischen Errungenschaften der Revolution gelöscht. Einen Einschnitt

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brachte er auch im Recht der Ehescheidung. Während der Revolutionszeit war in Frankreich auf dem Gesetzgebungsweg das Institut der Ehescheidung eingeführt worden. Der Bruch mit dem bisher herrschenden kanonischen Eherecht, das keine Scheidung dem Bande nach zuließ und nur die Trennung von Tisch und Bett ermöglichte, war total. Das Gesetz vom 20. September 1792 verwirklichte den reinen Typ eines verweltlichten Eherechts. 11 Den Impulsen und Forderungen der Aufklärung nach maximaler Freiheit der Ehe war voll Rechnung getragen worden. Die Abkehr vom Sakramentalcharakter der Ehe unterstreicht die Hauptbestimmung des neuen, revolutionären Scheidungsrechts: Die Trennung einer Ehe sollte bei Willensübereinstimmung der Ehegatten (consentement mutuel) und bei »Unvereinbarkeit der Gemüter und Charaktere« (divorce pour incompatibilité des humeurs) möglich sein, auch wenn der Trennungswunsch von nur einem Ehepartner ausging. Der frische Wind, den die Revolution über das Scheidungsrecht in die Geschlechterbeziehungen gebracht zu haben schien, flaute schnell ab. Schon der Code knüpfte an ein Gesetz aus dem Jahre 1803 an, das die gegen den Willen eines Ehepartners vorgebrachte Scheidung wegen unüberwindlicher Abneigung abgeschafft hatte. Zwar blieb die Scheidungsmöglichkeit bei Einwilligung beider Ehegatten erhalten, sie wurde aber verfahrensrechtlich so erschwert, daß die Konventionalscheidung in der Scheidungswirklichkeit fast keine Rolle spielte. Das Scheidungsrecht symbolisiert am auffälligsten die familienrechtliche Rückständigkeit Frankreichs im 19. Jahrhundert. Als Auftakt der bourbonischen Restauration wurde durch ein Gesetz vom 8. Mai 1816 die Ehescheidung überhaupt abgeschafft und die völlige Rückkehr zum kanonischen ancien droit vollzogen. Dieser problematische Rechtszustand dauerte bis zum Ende des Jahrhunderts. Erst 1884 (Ehescheidungsgesetz vom 27. Juli 1884) wurde die Ehescheidung in Anlehnung an die materiellen Scheidungsgründe des Code wieder zugelassen, das Institut der Einverständnisscheidung aber nicht wiederhergestellt. Es interessieren hier nicht die im Scheidungsrecht, gerade auch im französischen, versteckten und durch dieses Recht konservierten patriarchalischen Hinterlisten; so waren ζ. Β. im Code für Mann und Frau die Voraussetzungen einer Klage wegen Ehebruchs höchst unterschiedlich formuliert. Von Interesse ist vielmehr die lange Ausfallzeit von Scheidungen überhaupt, die, das deuten Befunde aus dem Frankreich der Revolutionszeit an, für die ehelich gefährdete Lebenswelt der Frau durchaus den Charakter von Ausfallbürgschaften haben konnten. Man hat für Rouen, mit rund 85000 Einwohnern die fünftgrößte französische Stadt an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, die Wirkung des Scheidungsrechts der Revolution, also des Rechts der vornapoleonischen Ära, beschrieben. 12 Die Auflösung des Familienlebens zeigt nun die Frau keineswegs in einer Opferrolle. Zwischen 1792 und 1803 wurden in Rouen nach den Bestimmungen des Gesetzes vom September 1792 1046 Ehen geschieden. 13 255 Ehen oder 24 Prozent wurden aufgrund gegenseitiger Übereinkunft gelöst. Auffällig ist die Dominanz des

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weiblichen Scheidungsbegehrens. Die Frau ist als »the driving force« in den damaligen Scheidungsverfahren anzusehen. Von den 791 ›einseitig‹ eingeleiteten Scheidungsprozessen, die, auch das muß berücksichtigt werden, vor Familiengerichten stattfanden, in denen das Laienelement (Verwandte und Freunde) sehr stark präsent war, waren Frauen in 565 Fällen die klagende, also eine Ehetrennung beantragende Partei, während nur 226 Männer um eine Scheidung nachsuchten. ›Unvereinbarkeit der Charaktere‹ wurde von Frauen in 210 Fällen als Scheidungsgrund genannt; Männer führten diesen Grund in 95 Fällen an. Die Prävalenz femininer Nutzung des Scheidungsrechts bestätigen auch die Zahlen für die Code-Jahre bis zur Abschaffung der Scheidungsmöglichkeit überhaupt im Jahre 1816. Nachdem der Code civil das revolutionäre Scheidungsrecht revidiert hatte, erfolgten zwischen 1803 und 1816 in Rouen nur noch 83 Scheidungen. 14 Das angeführte Beispiel ist sicherlich kein hinreichender Beleg für die hier vorgestellte These vom Scheidungsrecht als Äquivalent zur rechtlichen Malaise der Frau im 19. Jahrhundert; es gibt aber den Anstoß, auch in anderen Rechtslandschaften auf Spurensuche zu gehen. Die nordamerikanische Entwicklung des Eherechts vollzog sich im Schatten der kolonialen Vergangenheit dieses Kontinents. Die Abnabelung der Kolonien vom englischen Mutterland führte im späten 18. Jahrhundert zur gesetzlichen Trennung von Staat und Kirche, doch der ethische Rigorismus des puritanischen Glaubens ließ nur eine Verweltlichung der Formen des Ehestandes, nicht seiner religiös begründeten Inhalte zu. Das kirchliche Eherecht lebte im Gewand ›bürgerlicher‹ Rechtsverfahren weiter, und das färbte besonders auf das Scheidungsproblem ab. Die neue Gesellschaft, die in Amerika entstand, verstand sich nicht nur als eine Rechtsgesellschaft, sondern auch als eine ›moral society‹. 15 Sie hielt an der Familie als Keimzelle lebensweltlicher Erfüllung und Garantin eines geordneten öffentlichen Lebens fest. So konnten »the Puritans« der Scheidung wenig abgewinnen; sie konnten sie aus einem Land ohne Herkunft, aber mit einer ebenso unruhigen wie verheißungsvollen Zukunft aber auch nicht gänzlich verbannen. Nach der amerikanischen Revolution gewährte ein Staat nach dem anderen die Ehetrennung vor weltlichen Gerichten, obwohl ein großes Gefälle zwischen Nord- und Südstaaten bestehen blieb. Letztere hielten bis in die Bürgerkriegszeit hinein an der englischen Tradition fest, daß nicht ein einzelnes Gericht, sondern nur die Legislative die Trennung einer Ehe besiegeln könne. Scheidungen waren bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Nordamerika weder von großem rechtspolitischen Interesse noch von einer auffälligen sozialen Bedeutung. Einen Wandel brachten die 1860er Jahre. Die Einstellungen der Menschen scheinen sich geändert zu haben, ebenso wie die politischen Vorzeichen, zumindest für einen bestimmten Zeitraum, nach den im Bürgerkrieg gefallenen Entscheidungen wechselten. Die Unsicherheit der statistischen Überlieferung eingerechnet, hat man für das Jahr 1860 7380 Scheidungen ausgemacht, das waren 1,2 Scheidungen auf 1000 beste-

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hende Ehen. Während der Bürgerkriegszeit wuchs das Scheidungsvolumen auf 11 530 Scheidungen im Jahre 1866 an (1,8 Scheidungen auf 1000 bestehende Ehen) und hatte bis 1900 die absolute Höhe von 55751 Scheidungen pro Jahr erreicht; auf die zunehmende Zahl der bestehenden Ehen berechnet, wurde an der Schwelle zum 20. Jahrhundert in Nordamerika von 1000 Ehen jede vierte geschieden.16 Es kann hier nicht im einzelnen nach den Gründen für die sich vertiefenden Risse im ehelichen Geschlechterverhältnis gefragt werden. Waren es wirklich die emanzipativen Sehnsüchte der Frauen, die die Ehen wackeliger werden ließen? Dies ist die These einer Untersuchung, die 401 Scheidungsfälle vor kalifornischen Gerichten im Zeitraum 1850 bis 1890 ausgewertet hat.17 In Kalifornien bestand seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein moderat liberales Scheidungsrecht, das Männern wie Frauen eine Klage aufgrund der klassischen Scheidungstatbestände wie Ehebruch, bösliches Verlassen, Grausamkeit usw. gestattete. Es wird immer schwer sein, hinter die Veränderungsprozesse von Bewußtseinsstrukturen zu steigen. Das Beweismaterial für die aparte Aussage, daß die Scheidungen in Kalifornien mit dem gestiegenen ehelichen Erwartungshorizont von Frauen, ihren viktorianischen Träumen von einer heilen »companionate marriage« zusammenhingen, vermag nicht zu überzeugen. Im Dasein des Ehealltags, nicht im weiblichen Bewußtsein, wird die Logik eines Entschlusses aufzusuchen sein, der Frauen im 19. Jahrhundert häufiger den Scheidungsrichter anrufen ließ als Männer. Für Kalifornien ist festgehalten worden, daß über 70 Prozent aller Scheidungsklagen von Frauen eingereicht wurden und die meisten dieser Klagen Erfolg hatten.18 Die Scheidungsgeschichte bietet die Chance, in die Details des ehelichen Geschlechterverhältnisses hineinzuleuchten und seine Ungleichheiten bewußt zu machen. Diese Chance ist aber im englischen Fall nur bedingt gegeben. Zeichnet sich die französische Scheidungsrechtsentwicklung durch große Sprünge aus, die letztlich in einem Rechtsrückschritt endeten, und bietet sich in Nordamerika ein Verzögerungstyp eigener Art dar, so begegnet in England für lange Zeit ein aristokratisches Negieren des Scheidungsproblems überhaupt. Freilich verstanden es die herrschenden Eliten, für sich, aber eben nicht für andere Schichten Entlastung von ehelichen Problemen zu schaffen. »Full divorce« war bis zum Divorce Act von 1857, einem Gesetz »to amend the Law relating to Divorce and Matrimonial Causes in England«, ein Adelsprivileg.19 Seit Beginn des 17. Jahrhunderts lag auch in England die Ehetrennung in kirchlichen Händen; aber die Kirchengerichtsbarkeit erlaubte, wie überall in Europa, nur eine Separation, keine ›volle‹ Scheidung mit der Möglichkeit einer Wiederheirat. Es gehört eher zum sozialen Habitus als zu den Eigentümlichkeiten des britischen Parlamentarismus, daß er sich das Recht einer Parlamentsscheidung herausnahm und damit in kirchliche Rechtsräume einbrach. In einem komplizierten Verfahren, dessen Kosten man auf 500 Pfund und mehr geschätzt hat,

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hatten Hocharistokratie und Gentry die Möglichkeit, ein »private act of Parliament« zu erlangen, also ein ›Privatgesetz‹, das eine Ehe dem Bande nach trennte. Frauen sind bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts in dieser exklusiven Scheidungswelt als Kläger nicht auszumachen. Hauptscheidungsgrund war der Ehebruch, und hier hatte die Frau im Unterschied zum Mann nur dann eine Klagemöglichkeit, wenn dessen ehebrecherisches Verhalten mit anderen Eheverfehlungen (cruelty, desertion usw.) gekoppelt war. Das gesellschaftliche Scheidungsproblem blieb in England bis weit in das 19. Jahrhundert hinein unter der Herrschaft aristokratischer Rechtsregeln weitgehend unsichtbar. Zwischen 1801 und 1857 wurde 190 Ehen per Parlamentsentscheid getrennt; die kirchlichen Gerichtshöfe sprachen Trennungen von Tisch und Bett im Umfang von 50 pro Jahr aus. 20 Unter der Decke dieser mageren Scheidungsstatistik aber dürfte sich eine Ehewirklichkeit verborgen haben, die in England nicht weniger konfliktgeladen war als anderswo. British Marriages, das hat John Gillis gezeigt, verliefen keineswegs in den Rechtsbahnen, die in den Konventionen der englischen Adelswelt ihre Vorgabe hatten. 21 ›Marriage‹ und ›marriage process‹ sind in der englischen Geschichte zwei voneinander abgehobene Wirklichkeitsbereiche, von denen der letztere eine immense Fülle alternativer Möglichkeiten des Zusammenlebens von Mann und Frau spiegelt. Gillis hat besonders für das 18. Jahrhundert am Beispiel eheähnlicher Verbindungen unterhalb der Rechtsform Ehe (betrothal und clandestine marriage) beschrieben, welch geringe Verbindlichkeit für breite Bevölkerungsschichten staatliche und kirchliche Vorschriften besaßen, wie sehr die Menschen danach trachteten, »marriages in their own way« zu machen.22 In dieses Bild fügen sich die Befunde von »self-divorce« ein, deren Umfang die Kehrseite der in England lange Zeit versagten Scheidungsmöglichkeit ist. 23 Die Riten der Selbstscheidung belegen soziales Verantwortungsbewußtsein, durchaus nicht den Triumph eigensüchtigen Handelns. Self-divorce als »a normal part of the regulation of marriage« dürfte eine Tradition gewesen sein, die auch nach dem Divorce Act von 1857 nicht abgerissen ist. Das hing mit dem Zuschnitt dieses Scheidungsgesetzes zusammen. Es war im Kern ein Scheidungsverfahrensgesetz, das streitige Eheangelegenheiten der weltlichen Gerichtsbarkeit zuwies. Der ›Court for Divorce and Matrimonial Causes‹ trat an die Stelle der ›ecclesiastical courts‹ und ersetzte durch seine Spruchtätigkeit auch die aufwendigen Parlamentsentscheide. In den Formen änderte sich das englische Scheidungsrecht zwar, in den Inhalten, im Bereich der materiellen Regelungen gab es aber nur wenig Fortschritt. Noch immer war die Frau bei der Einleitung eines Ehescheidungsprozesses benachteiligt, konnte sie doch nur bei erschwertem Ehebruch gegen ihren Mann klagen. Die alte Differenz zwischen Männern als ›In-Laws‹ und Frauen als ›Outlaws‹ war nur unwesentlich kleiner geworden; denn auch die schmalen Unterhaltsansprüche, die der geschiedenen Frau zugebilligt wurden, waren eher auf ›gentlewomen‹ als auf ›washerwomen‹ 74 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

berechnet.24 Mit Recht hat man die eingegrenzte soziale Reichweite der englischen Kodifikation von 1857 betont. Dieses Gesetz eröffnete vor allem den Mittelklassen eine Scheidungsmöglichkeit; es gehört jenem Typ aristokratischer Reform an, der sich auch schon in der Wahlrechtserweiterung des Jahres 1832 zu erkennen gegeben hatte: Öffnung gegenüber bürgerlichen Eigentümerschichten, um desto schärfer die Grenze zu unterbürgerlichen Schichten zu markieren. Die Scheidung war auch im viktorianischen England eine Angelegenheit der feinen, nicht der kleinen Leute. Sie blieb, gemessen an den Einkommensverhältnissen der working classes, teuer, und weniger als 20 Prozent der Klagen kamen aus unteren Sozialschichten.25 Von ›Respectables‹ gemacht, war der Divorce Act auch für ›Respectables‹ gedacht; die große Zahl der ›un-Respectables‹ wurde ab den 1870er Jahren von Magistratsgerichten, ›police courts‹, bedient, die das Getrenntleben von Eheleuten administrativ regeln, aber keine rechtsverbindliche Scheidung aussprechen konnten.26 Das englische Scheidungsrecht wurde an der Wirklichkeit des Ehelebens vorbei reformiert. Dennoch erschraken die ›Reformer‹ über die Wirkung, die dieses Recht hatte, und sie waren über seine Auswirkung auf das Rechtsgebaren von Frauen besonders entsetzt (aghast). Man hatte nach der Verabschiedung des neuen Scheidungsrechts mit 18 bis 20 Fällen pro Jahr gerechnet, nun aber waren schon 1858 253 Klagen anhängig, davon wurden allein 97 von Frauen angestrengt.27 Der weibliche Klageanteil lag auch für die restlichen Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts über 40 Prozent, ein irritierend hoher Prozentsatz für den viktorianischen Patriarchalismus. Um einen scheidungsbedingten Niedergang der Familie brauchte man sich freilich keine Sorgen zu machen. Dazu waren die absoluten Scheidungszahlen zu unbedeutend: Sie stiegen von rund 200 im Jahre 1860 auf über 550 am Ende des Jahrhunderts.28 Im Licht der deutschen Scheidungsbewegung zeigen diese Zahlen eine Familienidylle an, die freilich keine war. In England bildete das Armenrecht den rechtlichen Konnexkörper zum Familienrecht, und in diesem »dual system« liegen die eigentlichen sozial- wie frauengeschichtlichen Probleme verborgen.29

IV In der heterogenen deutschen Rechtslandschaft des 19. Jahrhunderts ist es äußerst schwierig, der Verschränkung von Rechts- und Lebensverhältnissen unter geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten nachzugehen. Erst das Bürgerliche Gesetzbuch stiftete am Ende des Jahrhunderts eine Rechtseinheit, die auch die unterschiedlichen familienrechtlichen Traditionen in den einzelnen deutschen Staaten zusammenschmolz. Im Bereich der Ehescheidung war das Bürgerliche Gesetzbuch von antireformerischer Ausrichtung. Kirchliches begegnete hier als das zweite Gesicht einer säkularen Rechtsord-

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nung, und Rechtsnormen wurden als Instrumente der Verhaltenssteuerung zu nutzen gesucht. Ob und in welchem Umfang die Kalküle einer obrigkeitlichen Moralpolitik aufgegangen sind, ist ein spannendes Kapitel aus der Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts.30 Hier interessiert die Wirkungsgeschichte scheidungsoffenerer Regelungen, die im deutschen Rechtsraum des 19. Jahrhunderts anzutreffen sind und dann dem strengen Verschuldensgrundsatz des Bürgerlichen Gesetzbuchs zum Opfer fielen. Auf dem Hintergrund der Informationen, die für die westeuropäischen Staaten und Nordamerika zusammengetragen wurden, ist das Scheidungsvolumen in Deutschland von großer Auffälligkeit. Im letzten Jahr vor Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 1899, wurden im Deutschen Reich 9433 Scheidungsurteile gesprochen.31 Preußen, der auch für die deutsche Rechtsgeschichte ausschlaggebende Staat, hatte an dieser Zahl maßgeblichen Anteil. 1899 erfolgten hier 5948 Ehescheidungen. Der Anteil Preußens an der Gesamtziffer der Ehescheidungen in Deutschland schwankte in den ersten dreiJahrzehntendes Kaiserreichs zwischen 60 und 65 Prozent. Bezogen auf die Zahl der bestehenden Ehen ergibt sich im internationalen Vergleich eine enorm hohe Scheidungsquote: Für das Reich lautet die Häufigkeitsziffer, berechnet auf 10000 ›stehende Ehen‹, im Jahre 1899 9,8, für Preußen 10, 1. Es soll hier kein Loblied auf die ›Scheidung auf preußisch‹ gesungen werden; dennoch ist der Versuch angebracht, mithilfe dieser Zahlen Näheres über die Wirklichkeit des Geschlechterverhältnisses in Erfahrung zu bringen. Auch im tiefen 19. Jahrhundert wurde in Preußen kräftig geschieden. Einige Stichjahre seien genannt. 1810 trennten preußische Gerichte insgesamt 631 Ehen, allein beim Stadtgericht Berlin wurden 264 Scheidungsurteile gesprochen.32 In den sechs Jahren zwischen 1817 und 1822 wurden in Preußen 17 944 Ehen »durch richterliches Erkenntnis« getrennt, im Regierungsbezirk Potsdam, dem Berlin zugehörte, waren es 3533. 33 Das Jahr 1840 verdeutlicht präzise die Größenordnung der preußischen Scheidungsbewegung, die über Jahrzehnte, vom Vormärz bis in die 50er Jahre, etwa 3000 Ehetrennungen pro Jahr auswies.34 1840 erfolgten 3000 Scheidungen bei einer Einwohnerzahl von 14,9 Mio. und einem ›Ehebestand‹ von 2 470 100 Ehen.35 Hinter diesen Scheidungszahlen verbirgt sich ein Scheidungsrecht, das zwar viel Altständisches und der protestantischen Ehelehre Verpflichtetes enthielt, aber auf eine pragmatische Weise sowohl zukunftsoffen als auch sozial sensibel war. Es eröffnete besonders der Frau Handlungsspielräume in der Meisterung ihres Eheschicksals. Die Bestimmungen über die »Trennung der Ehe durch richterlichen Ausspruch« waren Teil des Allgemeinen Landrechts.36 Dieses Landrecht selbst hatte nun keineswegs einen frauenfreundlichen Zuschnitt, wie man an seiner Entstehung verfolgen kann. 37 Es war aber auch keine frauenfeindliche Kodifikation wie der Code civil, der in der preußischen Rheinprovinz, ebenso wie das Allgemeine Landrecht in den altpreußischen Provinzen, bis zum Bürgerlichen Gesetzbuch in Geltung blieb. 38 In die Gesetzgebungsarbeiten zum Allgemeinen Landrecht hatte sich auch 76 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

eine so bunte Figur wie der Königsberger Schriftsteller Theodor Gottlieb von Hippel (1741-1796) einzuschalten versucht, der seine für die damalige Zeit aufreizenden Ideen »Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber« in einer 1792 anonym veröffentlichten Schrift zusammenfaßte. Hippel war einer der zahlreichen Kommentatoren des gedruckten Entwurfs des Allgemeinen Landrechts. In einem Monitum aus dem Jahr 1788 bemerkte er: »Im eigenthümlichen, im wesentlichen des Geschlechts ist nichts vorhanden, was die Frauenzimmer von der bürgerlichen Gesellschaft ausschließt, und da jene Zeit nicht mehr ist, in welcher das Recht bey den Starken war, so solten die Gesezze dem andern Geschlecht zu Hülfe kommen, um dem Staat und der Menschheit hierdurch so reinen Gewinn zuzuwenden. Dem gegenwärtigen Zeitalter ist es eigen alles zu prüfen und nur das Gute zu behalten, das Recht der Natur nur für das wahre jus subsidiarium gelten zu lassen, die Bürger durch die Experimental Philosophie der Gesetze weniger gelehrt als vernünftig und klug zu machen, und es nicht auf Auctoritaet, sondern auf Überzeugung anzulegen, und in jeder dieser Rücksichten würde das andere Geschlecht eine andere Lage von Seiten der Gesetze erwarten können. « 39 Die Erwartungen, die Hippel hinsichtlich einer verbesserten Rechtsposition der Frau an das Allgemeine Landrecht geknüpft hatte, erfüllte das endgültige Gesetzbuch nur unvollkommen. Dennoch verlor es als ein ›Gesetzeswerk der Männer‹ die Frauen nicht gänzlich aus dem Blick. Mit seiner großzügigen Unterhaltsregelung und der Erweiterung der Scheidungsmöglichkeiten - ›unüberwindliche Abneigung‹ und ›gegenseitige Einwilligung‹ traten als neue Scheidungsgründe zur herkömmlichen Kasuistik hinzu - gab es ein Signal auch für eine liberale Scheidungspraxis. Auf dem Weg der Anwendung des preußischen Scheidungsrechts begegnet, so der Quelleneindruck, ein pragmatisches Eingehen der Rechtsinstanzen auf die oft schwierigen Lebens- und Ehelagen von Frauen. Von der Überlieferung her gibt es für das frühe 19. Jahrhundert durchaus Anhaltspunkte für den Umfang der von Frauen eingereichten Scheidungsklagen. Mitte der 1840er Jahre hielten die preußischen Justizkollegien aufgrund eigener Erfahrungen fest, daß »die Zahl der Sachen, worin die Frau klagender Theil ist, . . . sich zu der Zahl der Sachen, in welchen dies der Mann ist, wie 3 zu 1« verhalte. 4 0 Man machte sich auch Gedanken über die Motive des weiblichen Scheidungsbegehrens; sie schienen eng mit der niedrigen Sozialposition der meisten Frauen zusammenzuhängen. Von den in den Jahren 1842 bis 1844 beim sächsischen Oberlandesgericht Halberstadt anhängigen 268 Ehescheidungsklagen gehörten 13 Prozeßparteien dem »höheren Bürgerstand« und 255 dem »niederen Bürgerstand und Bauernstand« an. 4 1 Noch eindeutiger fielen für den Zeitraum 1841 bis 1843 die Zahlen am Oberlandesgericht Frankfurt/Oder aus. 4 2 1226 in Scheidung lebende Ehepaare zählten zum »niederen Bürger- und Bauernstand«, 116 zum »mittleren Bürgerstand« und 19 zum »Adel und höheren Bürgerstand«. Für das Scheidungsgeschehen in der Zeit des Vormärz waren Schicht und Geschlecht die maßgebenden Koordinaten. Auf den wichtigen Gesichtspunkt ›Geschlecht‹

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deuten besonders die Scheidungsgründe hin. Von den 1361 Scheidungsverfahren im Gerichtsbezirk des Oberlandesgerichts Frankfurt/Oder fußten 463 auf dem Klagegrund ›Trunkenheit und Tätlichkeiten‹, 273 auf ›böslicher Verlassung‹, 248 auf ›Ehebruch‹ und 79 auf ›Versagung des Unterhalts‹. Für die ›ehelich‹ bedrohte Lebenswelt der Frau - und dies galt besonders für Frauen aus unterbürgerlichen Schichten - scheinen Scheidungen eine Art Ventilfunktion besessen zu haben. Sie deuteten einen gangbaren Weg aus einer schier ausweglosen Ehesituation an, wenn sie auch keine Garantie für ein menschenwürdiges Leben nach der Scheidung bedeuteten. Doch das Rechtsinstitut ›Scheidung‹ war mit starken weiblichen Hoffnungen besetzt, selbst wenn die Lebensrealität der geschiedenen Frau sich von der Rechtsrealität der eine Scheidung suchenden Frau unterschied. Im Vormärz war die evangelische Geistlichkeit ein genauer Beobachter des ehelichen Lebens. Das hatte seinen Grund im gesetzlich vorgeschriebenen »geistlichen Sühneversuch«, der vor der Eröffnung eines Scheidungsprozesses angestellt werden mußte. 43 Auch den Predigern und Superintendenten fiel die »feste, unbewegliche Entschlossenheit« auf, mit der viele Frauen die Trennung ihrer Ehe betrieben. Sie berichteten den Justizbehörden von den Ängsten der Frauen, von der sie bedrohenden »Brutalität des Ehemannes« und hielten, wie ein brandenburgischer Geistlicher 1847, oft fest: »Die arbeitsame und nüchterne Ehefrau würde sich und ihre Kinder besser durchgebracht haben, wenn sie von ihrem dem Trunk, der Arbeitsscheu und allen Lastern ergebenen Ehemann geschieden worden wäre.« 44 Überlieferte Scheidungsfälle konturieren das hier gezeichnete Bild des Ehelebens, dessen Geschlechtergefälle für die Rechtsinstanzen zur Herausforderung wurde. »Bösliche Verlassung« der Frau ist in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine der Hauptursachen der zahlreichen Scheidungen gewesen. Gerade dieser Scheidungsgrund wirft ein Licht auf den sozialen Wurzelboden von Ehekrisen, aber auch auf ein Rechtsgefüge, das der verlassenen Ehefrau eine Hilfe und Stütze im Überlebenskampf sein konnte. Wie sehr die »bösliche Verlassung« die Scheidungsrichter beschäftigt haben muß, zeigen die detaillierten Erörterungen und Erwägungen der preußischen Justizbehörden. Die Berliner Justiz, sie war ja besonders durch das Scheidungsproblem gefordert, hat schon sehr früh auf eine rechtliche Würdigung der sozialen Ursachen und vor allem Folgen zerbrochener Ehen gedrängt. Das Berliner Stadtgericht spielte 1821 in einem Schriftwechsel mit dem Kammergericht und dem Justizministerium einen jener sehr häufigen »Fälle« durch, »wenn der Mann der Frau den Unterhalt versagt«.45 Hier legte das Allgemeine Landrecht fest, daß »der Richter die Verpflegung der Frau nach den Umständen des Mannes bestimmen, und letztern dazu durch Zwangsmittel anhalten« müsse (ALR II, 1. T., 8, §712). Die Wirkung dieser Zwangsmittel freilich war sehr begrenzt. Nach den Erfahrungen der Berliner Richter fruchteten weder »Mandate« noch »Zurechtweisungen oder 78 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

Ermahnungen«; nur die »Execution« eines gerichtlich festgelegten »Alimentations-Quantums« verspreche ein »günstiges Resultat«. Aus rechtssystematischen Gründen war das Kammergericht mit diesem Weg nicht einverstanden. Das Eintreiben von »Verpflegungsgeldern« könne nur die Folge eines Ehescheidungsprozesses sein, dürfe diesem aber nicht vorausgehen. In dieser Argumentation ist vom hohen moralischen Stellenwert der Ehe, über den sich die zeitgenössische Publizistik, aber auch die Rechtswissenschaft ereiferten, nicht mehr die Rede; der hohe soziale Stellenwert der Scheidung steht ganz im Vordergrund. Diese Position der preußischen Justiz reflektierte realistisch das Ausmaß beschädigten Ehelebens. Noch waren die Traditionen der preußischen Reformära lebendig. Als in den 1840er Jahren die kirchlich-konservative Eheauffassung politisch an Gewicht gewann, wurde es für die Justiz schwieriger, die Orientierung an den konkreten sozialen Umständen des Ehelebens durchzuhalten. Dennoch war das nicht geänderte materielle Eherecht in Preußen ein Garant dafür, daß die Liberalität der Scheidungsgerichtsbarkeit nicht gänzlich das Opfer einer konservativen Rechtspolitik wurde. Dies gilt es zu sehen und herauszuheben: Das großzügige Scheidungsrecht des Allgemeinen Landrechts hatte trotz aller Anfeindungen und energischen Revisionsbemühungen von konservativer Seite bis zum Bürgerlichen Gesetzbuch Gültigkeit und federte justizielle Verhaltensweisen auch in Zeiten ab, in denen die Reformströmung des frühen 19. Jahrhunderts längst versiegt war. So waren die Scheidungsregelungen des Allgemeinen Landrechts immer ein Gegengewicht zu den im 19. Jahrhundert vorherrschenden Tendenzen in der Scheidungsfrage. Sie schirmten eine Rechtspraxis ab, die vor allem für die Frau die Scheidung als Möglichkeit offenhielt, einen Schlußstrich unter ein menschlich demütigendes und sozial auswegloses Eheleben ziehen und auf diese Weise ihrem eigenen Leben eine Zukunftsperspektive erhalten zu können. In der angeführten innerbehördlichen Diskussion vertrat das Kammergericht den Standpunkt, daß erst die Ehescheidungsklage einer Frau den vollen Rechtstitel verschaffe, »Alimente von ihrem Ehemann zu erhalten, wenn dieser als schuldiger Teil befunden wird«. 46 Das Justizministerium war in dieser Sache derselben Ansicht. Fahre ein Ehemann trotz richterlicher Verfügung fort, »die festgestellten Alimente zu verweigern, so muß die Ehefrau, bei fernerem Anrufen der richterlichen Hilfe, angewiesen werden, zuvor die förmliche Ehescheidungsklage anzustellen«.47 Man ist vielleicht geneigt, das Ganze als ein reines Rechtsproblem anzusehen. Unterhaltszahlungen wurden erst dann verbindlich, wenn die Ehe durch richterlichen Spruch getrennt war. Gerade hierin liegt aber die soziale Bedeutsamkeit des Scheidungsurteils. Der Unterhalt der Frau konnte innerhalb der Rechtsform Ehe rechtlich nur unzureichend gewährleistet werden; erst eine rechtlich getrennte Ehe verschaffte der Frau Rechtsansprüche, die notfalls auch »wirkliche executivische Maßregeln« nach sich zogen. So brechen sich am Scheidungsproblem als einem Problem des sozialen Lebens

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die vielen hehren Reden der Zeitgenossen über die »Würde« des Instituts Ehe. Scheidungen waren im frühen 19. Jahrhundert für die Frau nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Sicherstellung ihres Lebensunterhalts wichtig. Zwar hatte die unschuldig geschiedene Frau einen Anspruch auf »Abfindung« oder »standesmäßige Verpflegung« bis zu ihrem Lebensende »aus den Mitteln des schuldigen Mannes«; war dieser aber mittellos, fand auch jede »Execution« ihre Grenzen. Die Drohgebärde des Gesetzgebers mit »Gefängnis oder Strafarbeit« fruchtete in diesem Fall nichts. Die, so die von den Quellen nahegelegte Lesart, gerade von Frauen aus unteren sozialen Schichten sehr häufig angestrengten Scheidungsklagen zielten im Kern auf die durch das Scheidungsurteil eröffnete Wiederverheiratungsmöglichkeit ab. Die an eine gescheiterte Ehe sich anschließende neue Ehe war die eigentliche soziale Rückversicherung für die Frau, nicht die aus ihrem Geschiedenenstatus ableitbaren oder auch einklagbaren Rechtsansprüche. ›Scheidung auf preußisch‹ bedeutete im 19. Jahrhundert vor allem eine preußisch korrekte Scheidung. Die Geschlechterdifferenz, die zwar durch die Rechtsnorm nicht aufgehoben wurde, scheint jedoch in einem erheblichen Maße durch eine Rechtspraxis eingeebnet worden zu sein, in der die Frau als gleichberechtigtes Rechtssubjekt wahrgenommen und behandelt wurde. Die preußische Korrektheit im Scheidungsverfahren stiftete für die Frau Rechtssicherheit, bewirkte Rechtsnutzung und stellte ein bedeutsames Gegengewicht zu den vielen Unrechtserfahrungen von Frauen dar. Dieser Gesamteindruck wird durch ein prominentes Beispiel unterstrichen. Im »Handbuch über den Königlich Preußischen Hof und Staat«, das alles verzeichnete, was in Preußen Rang und Namen hatte und weder Kapell- noch Stallmeister vergaß, findet sich ab Mitte der 1850er Jahre unter Friedrich Heinrich Albrecht, dem jüngsten Bruder Friedrich Wilhelms IV., die Notiz: Vermählt 1830 mit Mariane, Tochter des Königs der Niederlande, »von derselben geschieden durch das am 5. Juni 1853 Allerhöchst bestätigte gerichtliche Urtheil vom 28. März 1849«.48 Dieser Scheidungsprozeß im preußischen Königshaus hat eine lange Geschichte, die freilich über ihre privaten Umstände hinaus Grundzüge der preußischen Justizgeschichte zu erkennen gibt. 49 Schon 1842 war der Justizminister Mühler mit dem Scheidungsbegehren Albrechts befaßt. Dieser hatte eine Klage wegen »Verletzung der ehelichen Treue« einreichen wollen, die jedoch der justiziellen Nachprüfung nicht standhielt. Die Wahrnehmung »verdächtiger, speziell angegebener Handlungen«, Mariane sollte sich mit einem Förster eingelassen haben, erschien dem Minister »nicht konkludent«. Eher scheint das Zerwürfnis der Eheleute seinen Grund in den Avancen gehabt zu haben, die Albrecht einer jungen Kammerfrau machte. Das war der Befund von »Unterredungen«, die Mühler mit beiden Eheleuten führte. Auf Vermittlung Friedrich Wilhelms IV. kam eine »Separation« zustande, eine Art privater Trennungsvertrag. Doch 1847 kam die Scheidungsangelegenheit auf

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Wunsch Albrechts erneut in Gang. Kühl listete das Justizministerium dessen Rechtschancen auf: Er könne nur, da ein »eigentlicher gesetzmäßiger Grund« fehle, eine Scheidung wegen »unüberwindlicher Abneigung« erwirken; das aber bedeute, daß er, als Bruder der Königs, »für den alleinschuldigen Theil« erklärt werden müsse. Das genau war dann auch der Inhalt des Scheidungsurteils vom März 1849. 5 0 Eine Affäre mit Merkwürdigkeiten und Niederungen, die hier nicht nacherzählt zu werden brauchen; ein Fall aber auch, der etwas über den Charakter der preußischen Scheidungsjustiz verrät. Sie blieb unbeeinflußt von dem, was Friedrich Wilhelm IV. ihrem Urteilsspruch hinterherschleuderte: »Ich wiederhole wohlbedacht und ausdrücklich, daß ich die Scheidungsakte nie bestätigt und meinem Akt nie rückwirkende Kraft gegeben haben würde, wenn meine ehemalige Schwägerin nicht das ungeheure Ärgerniß des Ehebruches gegeben hätte. Denn es widerspricht in höchstem Grade meinen religiösen, festgegründeten Überzeugungen: die aergerlichen, unmoralischen und unchristlichen Leichtigkeiten zur Auflösung des Ehebandes (welche ein böser Fluch unseres Allgemeinen Landrechtes sind) innerhalb meines königlichen Hauses eindringen zu sehen. Die Scheidungsgründe des Kammergerichtes in Sachen meines Bruders Albrecht sind wissentlich falsch.«51 Sie waren ›wissentlich‹ richtig. Das preußische Scheidungsrecht hatte auch für Gerechtigkeit im Geschlechterverhältnis seine Grenzen; nur: ein ›böser Fluch‹ für das weibliche Geschlecht war es nicht.

V Wie lassen sich die hier, sicherlich nicht das ganze Problemfeld einer rechtsgeschichtlich informierten ›Geschlechtergeschichte‹ abdeckenden Befunde zu einer Aussage zusammenziehen, die weiterfuhrt, sowohl frauen- wie allgemein sozialgeschichtlich? Es muß m. E. darum gehen, stärker jene Gegenläufigkeiten aufzuspüren, die quer lagen zum rechtlichen Minderstatus von Frauen. Es gibt in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft Entwicklungslinien, die, so schwach und von Verschüttung bedroht sie auch waren, an den Vernunftanspruch dieser Gesellschaft erinnern und zu ihrem Erbe gehören. Die U n rechtserfahrungen von Frauen haben eine lange Tradition; es gibt aber auch Rechtserfahrungen von Frauen in der Geschichte, an die für die Rechtszukunft der Frau anzuknüpfen wäre. Bei diesem Versuch einer doppelten, wenn auch nicht gleichgewichtigen Traditionsbildung ist der internationale Vergleich hilfreich. Die Rechtsgeschichte insgesamt wird die hier an einem Segment des bürgerlichen Rechts aufgezeigte, gleichsam spiegelverkehrte Phasenverschiebung zwischen Deutschland und den westlichen Kulturna-

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tionen nicht bestätigen. Dennoch, auch auf anderen Feldern der modernen Rechtsstaatsentwicklung, etwa beim Verwaltungsrecht, wäre zu überprüfen, in welcher Weise Verfassungs- und Rechtsbewegung gegeneinander versetzt waren. Der vergleichende Blick auf das Scheidungsproblem nimmt der Sonderweg-These nur wenig von ihrem Erklärungswert; er erklärt aber, oder gibt zumindest Anstöße für die Suche nach Erklärungen, warum dieser Weg in Deutschland beschritten wurde. Anmerkungen 1 U. Gerhard, Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit, Familie und Rechte der Frauen im 19. Jahrhundert, Frankfurt 1978, S. 181 f. 2 Vgl. G. Beseler, System des gemeinen deutschen Privatrechts, 3 Bde., Leipzig/Berlin 1847-1855, zit. nach: U. Gerhard, Frauenfragen an die Rechtswissenschaft. Zur Rechtsgeschichte der Frau im 19. Jahrhundert, in: M. Fabricius - Brand u.a. (Hg.), Juristinnen, Berlin 1982, S. 231-244, hier S. 233ff. 3 Vgl. D. Willoweit, Historische Grundlagen des Privatrechts, in: Juristische Schulung, 1977, S. 292-297; D. Schwab, Gleichberechtigung (der Geschlechter), in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, 1971, Sp. 1696-1702; C. Damm, Die Stellung der Ehefrau und Mutter nach den Urteilen des Reichsgerichts von 1879 bis 1914, Diss. jur. Marburg 1983. 4 BGB, Viertes Buch, Erster Abschnitt; vgl. D. Blasius, Ehescheidung in Deutschland 1794-1945. Scheidung und Scheidungsrecht in historischer Perspektive, Göttingen 1987, S. 128ff. 5 N. Elias, Wandlungen der Machtbalance zwischen den Geschlechtern. Eine prozeßsoziologische Untersuchung am Beispiel des antiken Römerstaats, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 38, 1986, S. 425-449. 6 Vgl. allgemein zu Problemen der Implementationsforschung: H. Treiber, Regulative Politik in der Krise? Anmerkungen zu einem aktuellen Thema oder Reflexive Rationalität im Schatten des gesatzten Rechts, in: Kriminalsoziologische Bibliografie, H. 41, 1983, S. 28-54. 7 U. Gerhard, Warum Rechtsmeinungen und Unrechtserfahrungen von Frauen nicht zur Sprache kommen, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie, Jg. 5, 1984, S. 220-234, hier S. 228. 8 Vgl. J . Kocka, Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 21-63. 9 E. Holthöfer, Frankreich, Kodifikationsgeschichte, in: H. Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 3.1: Das 19. Jahrhundert, München 1982, S. 883 ff. 10 Ebd., S. 906ff.; S. 908ff. (Personenrecht der Frau); S. 956ff. (Eherecht). 11 Ebd., S. 957f.; Blasius, Ehescheidung, S. 33f. und 235. 12 R. Phillips, Family Breakdown in Late Eighteenth-Century France. Divorces in Rouen 1792-1803, Oxford 1980; ders., Women's Emancipation, The Family and Social Change in Eighteenth-Century France, in: Journal of Social History, 1978, S. 553-567. 13 Ebd., Family Breakdown, S. 44. 14 Die genannten Scheidungszahlen aus Rouen, in: ebd., S. 55ff. 15 Vgl. L. C. Halem, Divorce Reform. Changing Legal and Social Perspectives, New York 1980, v. a. Kap. 1: In the Beginning: Religion, Divorce, and the Law, 1621-1860, S. 9-26. 16 Ebd., S. 28, 49. 17 R. L. Griswold, Family and Divorce in California, 1850-1890. Victorian Illusions and Everyday Realities, New York 1982. Zur Quellenbasis dieser Untersuchung vgl. S. 190, zur These S. 4f. u. 170f. Vgl. ders., The Evolution of the Doctrine of Mental Cruelty in Victorian

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American Divorce, 1790-1900, in: Journal of Social History, 1986, S. 127-148, bes. S. 139: »The emergence of companionate family values, for its part, undermined marital stability by increasing matrimonial expectations . . . Mid-to-late nineteenth-century couples would not tolerate behavior earlier generations had endured, for when a spouse expected love and mutual respect and instead received insults and gratuitous slights, divorce became a logical option.« 18 Griswold, Family, S. 78 f. 19 W. R. Cornish, England, in: Coing (Hg.), Handbuch, Bd. 3. 2, S. 2217-2279, zur Entwicklung des englischen Familienrechts, S. 2264ff.; A. Horstman, Victorian Divorce, New York 1985, bes. Kap. 4: The Reformers: Lawyers and Politicians, S. 66-84. 20 Horstman, Victorian Divorce, S. 32 f. 21 Vgl. J . R. Gillis, For Better, For Worse. British Marriages, 1600 to the Present, New York 1985; A. Macfarlane, Marriage and Love in England. Modes of Reproduction 1300-1840, Oxford 1986. 22 Gillis, For Better, S. 110. 23 Ebd., S. 218f. 24 Vgl. Horstman, Victorian Divorce, S. 79; S. Wolfram, In-Laws and Outlaws: Kinship and Marriage in England 1800-1986, London 1987. 25 Horstman, Victorian Divorce, S. 103f. 26 Ebd., S. 152; vgl. Cornish, England, S. 2268f. 27 Horstman, Victorian Divorce, S. 85. 28 Ebd., S. 110. 29 Vgl. Cornish. England. S. 2265 f. 30 Dazu Blasius, Ehescheidung, S. 146ff. 31 Ebd., S. 152f. 32 Zentrales Staatsarchiv, Dienststelle Merseburg, Preußisches Justizministerium, 2.5.1., Nr. 6903, Bl. 24 ff. 33 Zentrales Staatsarchiv, Dienststelle Merseburg, Justizministerium zur Revision der Gesetzgebung, Rep. 84 II. 4. XV., Nr. 6, Bd. 5, Bl. 138ff. - Die Zahlen zu den einzelnen Jahren: 1817-3047; 1818-3159; 1819-3095; 1820-2994; 1821-2800; 1822-2849. 34 Vgl. Blasius, Ehescheidung, S. 35 ff. - Dort auch zu den Auswirkungen des Scheidungsprozeßrechts auf das Verhältnis von zugelassenen und abgewiesenen Klagen. 35 Zentrales Staatsarchiv, Dienststelle Merseburg, Preußisches Justizministerium, 2.5.1., Nr. 9249, Bl. 104 ff. 36 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794. Mit einer Einführung von H. Hattenhauer, Frankfurt 1970; ALR Zweyter Theil, Erster Titel (Von der Ehe), Achter Abschnitt (Von der Trennung der Ehe durch richterlichen Ausspruch), §§668-834. 37 Vgl. S. Weber-Will, Die rechtliche Stellung der Frau im Privatrecht des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, Frankfurt 1983. 38 Vgl. Blasius, Ehescheidung, S. 27 ff. 39 Zit. nach Weber-Will, Stellung, S. 54ff. 40 Zentrales Staatsarchiv, Dienststelle Merseburg, Preußisches Justizministerium, 2.5.1., Nr. 9263, Bl. 273 (in einem Bericht des Oberlandesgerichts Cöslin vom 17. Januar 1846); vgl. ebd., Bl. 26f., den Bericht des Oberlandesgerichts Paderborn vom 12. Oktober 1845: »Fast 4/5 aller Ehescheidungsklagen sind von den Frauen angestellt. Wenn sich dies Verhältnis in den anderen Provinzen nicht in dem Maaße finden möchte, würde der Grund davon wohl in dem unbeschränkten Dispositionsrecht des Mannes zu suchen sein, wie denn auch ein sehr häufiger Grund dieser von den Ehefrauen angestellten Ehescheidungsklagen in der Trunkfälligkeit des Mannes liegt. So sehr unsere provinzielle Gütergemeinschaft dazu geeignet ist, ein einiges Verhältnis unter den Ehegatten zu befördern und so sehr sie selbst nur eine Wirkung der Ansichten des Volkes über die ehelichen Verhältnisse ist, so schlimm ist doch die Lage der Frau, wenn der Mann die Rücksicht auf seine Pflichten verliert, was leider in der Trunksucht einen so häufigen Grund hat.« - Vgl. auch einen Bericht des Berliner Kammergerichts vom 4. April 1842, in: ebd., Justizministerium zur Revision der Gesetzgebung, Rep. 84 II. 4. XV., Nr. 6

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Bd. 5, Bl. 43 f.: »Bei Überreichung der Übersicht der beim Kammergerichte im Jahre 1841 in I. Instanz abgeurtheilten Ehescheidungssachen können wir die Bemerkung nicht unterlassen, daß diese Angelegenheit sich noch unter einem anderen, nicht unwichtigen Gesichtspunkt stellen läßt, wenn man erwägt, daß bei weitem mehr Frauen, als Männer auf Ehescheidung geklagt haben, und wenn man die Gründe, welche die Frauen, und welche die Männer zum Antrage auf Scheidung veranlaßt haben, berücksichtigt.« 41 Zentrales Staatsarchiv, Dienststelle Merseburg, Preußisches Justizministerium, 2.5.1., Nr. 9263, Bl. 218ff. (Bericht vom 6. Januar 1846). Vgl. den Bericht des Oberlandesgerichts Paderborn (Anm, 40), Bl. 27: »Mehr als5/6aller Eheleute, die . . . in Ehescheidungsprozessen gelebt haben, gehören dem besitzlosen Stande, als Knechte, Heuerlinge, Gesellen ec. an. Die wohlthätigen Wirkungen des Eigenthums namentlich an Grund und Boden, wenn auch nur eines kleinen Grundbesitzes, machen sich daher auch in dieser Beziehung geltend, und Zunahme des Pauperismus würde auch Zunahme dieser Prozesse mit sich führen.« 42 Ebd., vgl. den Bericht des Oberlandesgerichts Frankfurt/Oder vom 21. November 1845, B1. 51ff., hier Bl. 60. 43 Vgl. Blasius, Ehescheidung, S. 67ff. 44 Zentrales Staatsarchiv, Dienststelle Merseburg, Preußisches Justizministerium, 2.5.1., Nr. 9266 (Berichte der Konsistorien über das Verfahren in Ehesachen), Bl. 136f. (Bericht eines Superintendenten aus Friedeberg vom 16. Oktober 1847); vgl. ebd., Bl. 50, 75. 45 Schreiben des Stadtgerichts Berlin an das Kammergericht vom 24. Januar 1821, in: GStA Berlin-Dahlem, Rep. 84a, Nr. 11 808, Bl. 133-138. 46 Ebd., Bl. 139f. 47 Ebd., Bl. 141 f. 48 Hier zitiert nach der Ausgabe des »Handbuchs« für das Jahr 1857. 49 Die Scheidungsangelegenheit des Prinzen Albrecht ist überliefert in: GStA Berlin-Dahlem, BPH, Rep. 192 (Wittgenstein), 1II/6, Nr. 1-12. 50 Dieses Urteil in: Zentrales Staatsarchiv, Dienststelle Merseburg, Brandenburg-Preußisches Hausarchiv, HA Rep. 50, J , Nr. 1011, Bl. 3-8. 51 Ebd., Bl. 1 (Brief Friedrich Wilhelms IV. vom 5. Juni 1853).

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KARIN HAUSEN

». . . eine Ulme für das schwanke Efeu«. Ehepaare im deutschen Bildungsbürgertum Ideale und Wirklichkeiten im späten 18. und 19. Jahrhundert Ein Sinnbild, der Natur entlehnt, stand im frühen 19. Jahrhundert hoch im Kurs, um sich einer grundlegenden, aber schwierigen Sozialbeziehung zu vergewissern. Frau und Mann seien zur Ehe aufeinander verwiesen wie Efeuranke und starker Baum. Ein irritierendes Bild: Denn dem Baum gereicht die immergrüne Pflanze allenfalls zur Zierde. Das kriechende Efeu aber würde Gefahr laufen, am Boden zertreten zu werden, könnte es sich nicht emporranken; wo es jedoch den Stamm in seiner ganzen Höhe zu erklimmen vermag, droht es, die Krone des Baumes zu überwuchern. Das Zitat entstammt dem 1855 veröffentlichten Buch »Aus dem Frauenleben«. Im zugehörigen Satzgefüge klingt Distanzierung an: »Nun wollte ich zwar einen Mann, wie ihn sich ein Mädchen denkt, männlich und fest, eine Ulme für das schwanke Efeu . . ." Diese Worte sind Adele, der Tochter der verwitweten Frau Geheimen Oberfinanzrätin, in den Mund gelegt, die nach dem Willen der Schriftstellerin Ottilie Wildermuth als Pfarrfrau auf dem Lande kläglich scheitern mußte, weil sie viel zu verzärtelt und romantisch erzogen worden war, um »dem Haushalt eine thätige, rüstige Frau« werden zu können. Als positives Gegenbild setzte die Autorin im selben Text die überaus tüchtige, entsagungsvolle und für ihre Mitmenschen sich aufopfernde Luise in Szene, um so den »junge[n] Fräulein aus der Stadt, die das Pfarrleben nur aus Voß's Luise und aus ihren eigenen Illusionen kannten«, einen Einblick in das wirkliche Leben zu geben. l Die im 19. Jahrhundert sehr erfolgreiche schwäbische Schriftstellerin Ottilie Wildermuth eroberte ihr Lesepublikum mit Geschichten aus dem Alltag, indem sie souverän gehandhabte normative Versatzstücke des bildungsbürgerlichen Ehe- und Familienlebens kombinierte mit lehrreichen Sentenzen und Detailbeobachtungen aus der sperrigen Alltagswirklichkeit. Dieses Erfolgsrezept wandten außer ihr zahlreiche andere Frauen an, die im 19. Jahrhundert versuchten, mit schriftstellerischer Arbeit Geld zu verdienen. Doch anders als die ledigen, verwitweten oder geschiedenen Frauen, die Schriftstellerinnen wurden, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, anders auch als diejenigen Frauen, die sich den Luxus des Schreibens als

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Zeitvertreib leisten konnten, war Ottilie Wildermuth in erster Linie die umsichtig tätige Gattin, Hausfrau und Mutter, ganz wie sie als Verkörperung einer Bestimmung so stereotyp im Bildungsbürgertum beschworen wurde. Als eine am Gelderwerb interessierte Autorin allerdings verließ Ottilie Wildermuth gleichzeitig eben diese ihr zugewiesene Rolle. Denn es stand im gebildeten Bürgertum einer Ehefrau nicht wohl an, ihren Ehemann in aller Öffentlichkeit zu unterstützen bei seiner Pflicht, für ein ausreichendes Familieneinkommen beruflich zu arbeiten. Auch sah sich ein Ehemann in einem eher unvorteilhaften Licht, wenn seine Ehefrau unabhängig von ihm öffentliche Anerkennung auf sich zog. Ottilie Wildermuth aber vollbrachte das Kunststück, als vorbildliche Hausfrau und erfolgreiche Schriftstellerin in Ehe, Familie und Gesellschaft schon zu ihren Lebzeiten - sie starb 1877 - voll akzeptiert zu werden. Bei genauerem Hinsehen weist auch die sonstige Lebensgeschichte von Ottilie Wildermuth einige hervorstechende Besonderheiten auf Im Vergleich zu Pfarrerstöchtern zumal aus ländlichen Pfarrhäusern, die auch noch im 19. Jahrhundert zahlreich unter den Akademiker-Ehefrauen anzutreffen waren, konnte die 1817 geborene Ottilie in ihrem Elternhaus - der kulturbeflissene Vater war Oberamtsrichter in Marbach am Neckar - bessere und vielseitigere Bildungschancen nutzen. Zwar endete auch für sie der Schulbesuch mit der Konfirmation. Doch neben der Arbeit im elterlichen Haushalt und der Fortbildung in Tanz-, Näh- und Kochkursen fand sie weiterhin viel Zeit, Gelegenheit und Anregung, um innerhalb und außerhalb der Familie am Kulturgeschehen teilzunehmen. Als weiteres auffallendes Moment kommt hinzu, daß Ottilie erst mit 26 Jahren, also sehr spät, heiratete. Es war keine Liebesheirat nach langjähriger Verlobungszeit, doch eine von Ottilie gewünschte Ehe, die sie 1843 mit dem zehn Jahre älteren Johann David Wildermuth einging. Nicht der im Bürgertum durchaus übliche große Altersabstand der Eheleute war das Besondere an dieser Heirat, sondern das relativ hohe Alter der Braut und vor allem der Umstand, daß der Bräutigam eine für das 19. Jahrhundert seltene Karriere des sozialen Aufstiegs zurückgelegt hatte. Johann David stammte aus einer Kleinbauernfamilie und arbeitete sich über Lehrerseminar, Hauslehrerstellen, Universitätsstudium und Promotion schließlich hoch zum Gymnasialprofessor in Tübingen. Das Eheleben in Tübingen begann auch für Ottilie mit einer schnellen Folge von Schwangerschaften und Wochenbetten. Ihre Kinder brachte sie 1844, 1846, 1848, 1852 und 1856 zur Welt. Die 1846 und 1856 geborenen Söhne starben gleich nach der Geburt, die drei anderen Kinder überlebten die Eltern. Die 1844 geborene Tochter heiratete 1866 einen Pfarrer; die 1848 geborene Tochter blieb unverheiratet im Elternhaus; der 1852 geborene Sohn zog mit 14 Jahren auf das evangelisch-theologische Seminar in Urach und kehrte 1870 von dort ins Elternhaus zurück, um in Tübingen Medizin zu studieren. Zu den aufwendigen Haus- und Familienarbeiten Ottilies gehör86 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

ten das sparsame Wirtschaften in einem überaus geselligen und offenen Haushalt ebenso wie das Knüpfen und Pflegen enger Familien-, Verwandtschafts-, Freundschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen. Eine wichtige Hilfe scheint es für Ottilie gewesen zu sein, daß ihre mit 51 Jahren verwitwete Mutter zur Tochter übersiedelte und von 1847 bis zu ihrem Tode 1874 in der Familie lebte. Johann David Wildermuth bezog als Gymnasiallehrer ein knapp bemessenes regelmäßiges Einkommen. Er gab zusätzlich Privatstunden und betätigte sich als Autor von Schulmaterialien, um die Haushaltskasse aufzubessern. Von ihrem Ehemann dazu ermuntert, begann Ottilie bereits 1847, kleine Texte zu schreiben und an Zeitschriften zu verkaufen. 1852 erschien ihr erstes Buch. Der überraschende Erfolg spornte sie an, in der neben Haushalt und Familie verbleibenden Zeit ihre schriftstellerische Arbeit fortzusetzen und auszudehnen. Zwischenbemerkung Bunte Splitter aus Sinnbild, Trivialliteratur und dem Umriß einer Einzelbiographie erlauben es, das Thema »Ehepaare im Bildungsbürgertum« assoziativ zu umkreisen. Doch eine breit angelegte und methodisch reflektierte Analyse wäre erforderlich, um das für das Thema relevante, äußerst heterogene, reichhaltige Quellenmaterial systematisch zu erschließen und auszuwerten. Eine solche Analyse steht noch aus. Normen und ›Essentials‹ des bürgerlichen Ehe- und Familienlebens waren Gegenstand einer anhaltend spannungsreichen öffentlichen Verständigung. Die lohnende Aufgabe ist bislang noch nicht angepackt worden, für Jahre und Jahrzehnte anhand von Texten der verschiedensten Literaturgattungen und anhand von bildlichen Darstellungen herauszuarbeiten, welches die jeweils ins Zentrum gerückten Harmonie-Hoffnungen und DisharmonieBefürchtungen, welches die an die Adresse der einzelnen Frauen, Männer und die Gesellschaft insgesamt gerichteten Empfehlungen, Kritiken und Vorwürfe waren; welchem der Konfliktbereiche des ehelichen Lebens die diversen Regelungsvorschläge vornehmlich galten. Es ist zweifellos ein Fortschritt, wenn heute vorschnelle Charakterisierungen der BiedermeierZeit fragwürdig erscheinen. Doch eine überzeugende Neugruppierung und Zuordnung der auffallend demonstrativen Ehe- und Familienzentrierung dieser Epoche des Kulturschaffens steht nicht zuletzt deshalb noch aus, weil für die vorausgegangenen und nachfolgenden Epochen unsere Kenntnisse über das Thema Ehe und Familie allzu dürftig sind. Noch schlechter ist es um unser Wissen über die im Bildungsbürgertum tatsächlich gelebten Ehen bestellt, wenngleich dieses Defizit an Kenntnissen weitgehend überdeckt wird durch die verbreitete Neigung, ideologische Entwürfe als Wirklichkeit von Eheleben mißzuverstehen. Auch hier dürfte

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eher die Überfülle als der Mangel an Quellenmaterial das Forschungsunternehmen blockieren. Allerdings kommt hinzu - wie nicht zuletzt die derzeit anschwellende Flut deutscher Publikationen zur Geschichte des Bürgertums bestätigt -, daß auch der heutige Forschergeist weiterhin festhält an der mit Sicherheit falschen Prämisse, Ehe und Familie seien Nebenschauplätze in der Geschichte des Bürgertums und der bürgerlichen Gesellschaft.2 Selbst bei hohem Forschungseinsatz wird es allerdings kaum möglich sein, über Ehepaare im Bildungsbürgertum allgemein zutreffende Aussagen zu machen. Als erstrebenswertes Ziel galt schon immer, wenn überhaupt, dann in einer guten, ja glücklichen Ehe zu leben und eine schlechte, unglückliche Ehe tunlichst zu vermeiden. Doch die aus dieser Vorstellung abgeleiteten Maßstäbe und konkreten Erwartungen veränderten sich von Tag zu Tag und in der Perspektive eines langen Lebens und gingen nicht nur von kulturellem Milieu zu kulturellem Milieu, von Generation zu Generation, sondern auch zwischen Ehemann und Ehefrau weit auseinander. Zwar dürfte es gelingen, den sozialen Typus »bildungsbürgerliche Ehepaare« anhand von Merkmalen der Lebensverhältnisse und Lebensgestaltung genauer zu definieren und im Prozeß des historischen Wandels zu charakterisieren. Doch die notwendige Suche nach einem solchen Typus muß zwangsläufig eine zentrale Wirklichkeit des Lebens in der Ehe verfehlen: daß nämlich eine Frau und ein Mann in ihrer Ehe immer auch versuchen, ihre ureigensten Möglichkeiten, Bedürfnisse und Wünsche auszugestalten, und danach trachten, dabei die normativen, sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ihrer Ehe wo immer möglich als Gestaltungschancen zu nutzen und wo immer nötig als Hindernisse aus dem Weg zu räumen oder in ihrer Wirkung einzuschränken. Eben deshalb kann gerade die Singularität der Geschichten verschiedener Ehen und Eheleute historisch besonders aufschlußreiche Beobachtungen ermöglichen und uns dazu befähigen, das erarbeitete Konstrukt eines sozialen Typus »bildungsbürgerliche Ehepaare« auf die Vielfalt seiner historisch realisierten sozialen Konturen hin auszuleuchten. Meine folgenden Ausführungen können und sollen nicht ein vielschichtiges Forschungsgebiet mit bündigen Aussagen besetzen, sondern einzig und allein Forschungsmöglichkeiten andeuten. Die Mitteilungen basieren nicht bereits auf langwierigen, mit hinreichender Zeit und Konzentration ausgeführten Nachforschungen, sondern sind hervorgegangen aus einer Kombination von globalen Kenntnissen, Einfällen beim zielgerichteten Herumlesen und dem probeweisen Balancieren auf möglichen Forschungspfaden. Meine Argumentation über einige Perspektiven des Themas sollte zunächst ausschließlich als Auftakt für eine Diskussion im kleinen Kreis spezialisierter Forscherinnen und Forscher dienen. Nur zögernd habe ich den mündlichen Diskussionsbeitrag dem Automatismus der Verwertung überantwortet und ihm schließlich die vorliegende Form eines nachlesbaren Aufsatzes mit Werkstatt-Charakter aufgezwungen.3

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»Häusliche Glückseligkeit« als Programm 1774 erschien anonym eine kurze Abhandlung »Über die Ehe«. Die Publikumsnachfrage scheint rege gewesen zu sein. Immerhin erhielt die Schrift 1775 eine zweite, 1792 eine dritte und 1794 eine vierte jeweils umgearbeitete und erweiterte Auflage. Erst posthum wurde bekannt, daß es sich bei dem Autor um den 1788 geadelten Theodor Gottlieb Hippel handelte, der als erfolgreicher Beamter und als Junggeselle 1796 im Alter von 55 Jahren in Königsberg gestorben war. Hippel stammte aus den ärmlichen Verhältnissen eines ländlichen Pfarrhauses und hatte, als er sein Ehebuch veröffentlichte, als Jurist in Königsberg bereits Karriere gemacht. Was Hippel über die Ehe mitteilte, entfernte sich von den herkömmlichen Lehren über den guten Hausvater und die gute Hausmutter. Statt sich ausführlich bei den Rechten und Pflichten der Eheleute aufzuhalten, erteilte Hippel den noch unverheirateten Jünglingen und jungen Mädchen Ratschläge und räsonnierte darüber, daß der Zweck der Ehe sich wohl kaum im Zeugen und Aufziehen von Kindern erschöpfen könne, daß die Furcht vor Mesalliancen unsinnig und die Hierarchisierung der Ehefrauen gemäß Titel und Rang ihrer Ehemänner abwegig seien. Die Ehemänner ermahnte er, für den Witwenfall Vorsorge zu treffen, und provozierte vermutlich Einspruch mit seiner These, Wiederheirat nach dem Tod der Gattin komme Ehebruch gleich. Zwei ehrwürdige Grundpfeiler des Ehestandes, denen vor und nach Hippel auch zahlreiche andere Autoren des 18. Jahrhunderts nachdrückliche Worte widmeten, während ihrer im 19. Jahrhundert allenfalls noch beiläufig gedacht wurde, beschäftigten auch Hippel. Der erste Grundpfeiler war die eheliche Treue. Sie sei verbindlich für beide Eheleute, allerdings: »Wenn ein Mann ungetreu ist, so ist es unrecht, wenn es aber eine Frau tut, so ist es unnatürlich und gottlos«, denn die Ehefrau würde ihrem Manne, der sie doch aus der Sklaverei der Eltern befreit habe, fremde Kinder aufbürden und ihm so an seinem Stande und seinem Eigentum schaden. Bei dem zweiten Grundpfeiler war der 53jährige Hippel nicht mehr derselben Überzeugung, die der 33jährige noch mit Verve vertreten hatte. 1774 stand für ihn außer Frage, daß das Hausregiment allein dem Manne gebühre. »Es ist unnatürlich, daß die Weiber regieren und unanständig, wenn sie es zeigen.« Dem Weibe seien in diesem Punkt die Grenzen gewiesen durch Schwangerschaften, Stillgeschäfte und die »monatlichen Erinnerungen der weiblichen Schwachheiten«.4 Offenbar unter dem Eindruck der Französischen Revolution dachte Hippel 1792 öffentlich »Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber« nach und revidierte in seinem Ehetraktat das Kapitel über das Hausregiment. Jetzt plädierte er für gleiche Ausbildung und gleiche Rechte für Männer und Frauen und für die Aufhebung jeglicher Form von Vormundschaft über Frauen, also auch und in erster Linie von ehemännlicher Vormundschaft. 89 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

Einer solchen an der Hausvater-Gewalt ansetzenden radikalen Neuordnung der Familienverhältnisse verweigerten selbst republikanisch gesonnene Zeitgenossen ihre Zustimmung. Einer von ihnen war der glücklose Staatsdiener und erfolgreiche Schriftsteller Adolph Freiherr von Knigge (1752-1796). Auch er versuchte, auf eine Verbesserung der Ehe- und Familienverhältnisse des mittleren Standes hinzuwirken. Dieses Ziel erhellt aus seiner berühmtesten Schrift »Über den Umgang mit Menschen« (1788) ebenso wie aus seinen belehrenden Romanen und Briefen, die er zwischen 1781 und 1794 in schneller Folge auf den Markt brachte, um damit u. a. auch den Lebensunterhalt für sich, seine 1773 geehelichte, drei Jahre ältere Frau und seine 1775 geborene Tochter zu verdienen. Bei Knigge heißt die anempfohlene ideale Qualität des Ehe- und Familienlebens »häusliche Glückseligkeit«, »frohe Ehe«, »häuslicher Friede«, »Glück eines ruhigen häuslichen Lebens«, »die stillen häuslichen Freuden«. Er erwartet den Sinn für »häusliche Glückseligkeit« nur im mittleren, nicht aber im vornehmen Stande, wo die Eheleute aneinander vorbeilebten. 5 Auch im mittleren Stande sieht Knigge jedoch die Möglichkeit für »häusliche Glückseligkeit« an eine Reihe von Voraussetzungen geknüpft. Die wichtigste Vorbedingung sei, daß Braut und Bräutigam miteinander harmonieren und in der Ehe ein auf »Hochachtung, Pflicht, Bedürfnis und Dienstleistung gestütztes Band« 6 knüpfen könnten. Denn »herbe Aufopferung« drohe in einer Ehe, in der nicht die freie Wahl des Herzens die Ehe gestiftet habe und nicht wechselseitiges Geben und Nehmen die Eheleute verbinde. Den im Fieber der leidenschaftlichen Liebe geschlossenen Ehebund hält Knigge allerdings für ebenso gefährdet wie das über die Köpfe der Kinder hinweg durch deren Eltern getroffene Ehearrangement. Dagegen sieht er weder in Mesalliancen noch im niedrigen Heiratsalter eine prinzipielle Gefahr für das Eheglück. In der Ehe müsse in jedem Fall respektiert werden, daß der Mann »von der Natur und der bürgerlichen Verfassung bestimmt ist, das Haupt, der Regent der Familie zu sein.« 7 Er habe die Pflicht zu schützen und die Gattin die Pflicht, seinen Schutz zu suchen. Er müsse dafür sorgen, daß jeder in seinem Wirkungskreis seine Pflichten pünktlich erfülle. Er habe die höchste Vollmacht für die Vermögensverwaltung. Beide Eheleute müßten gemeinsam auf eine gute sparsame Hauswirtschaft hinwirken, denn diese sei die Grundlage des häuslichen Friedens, das Schuldenmachen dagegen dessen Ruin. Als Krisenbereich der »häuslichen Glückseligkeit« könnte sich, »wenn die erste blinde Liebe verraucht ist«, auch das tägliche Zusammenleben entwikkeln. Zur Vorbeugung empfiehlt der Freiherr u. a. folgende Vorkehrung: »Sehr gut ist es desfalls, wenn der Mann bestimmte Berufs-Arbeiten hat, die ihn wenigstens einige Stunden täglich an seinen Schreibtisch fesseln oder außer Haus rufen, wenn zuweilen kleine Abwesenheiten, Reisen in Geschäften und dergleichen, seiner Gegenwart neuen Reiz geben. Ihn erwartet dann sehnsuchtsvoll die treue Gattin, die indeß ihrem Hauswesen vorgestanden. Sie empfängt ihn liebreich und

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freundlich; die Abendstunden gehen unter frohen Gesprächen, bei Verabredungen, die das Wohl ihrer Familie zum Gegenstande haben, im häuslichen Zirkel vorüber und man wird einander nicht überdrüssig.«8 Jede ausschließliche eheliche Okkupation des Herzens sei als unerträgliche Sklaverei tunlichst zu vermeiden. 9 Freunde und Freundinnen müßten immer willkommen bleiben. Allerdings sei Vorsicht geboten, damit die eheliche Treue keinen Schaden nehme und insbesondere jegliche überaus verwerfliche Ausschweifung von seiten der Gattin vermieden würde. Nicht durch Eifersucht, sondern durch »gegenseitiges uneingeschränktes Zutrauen« und generelle Vermeidung von »Üppigkeit, Wollust, Weichlichkeit und Schwelgerei« lasse sich die eheliche Treue schützen. 10 Knigge hat mit seinen Romanfiguren in immer neuen Variationen durchgespielt, wie verschlungen die Wege und Umwege zum »häuslichen Frieden« sind. Dabei läßt er übrigens Frauen ebenso häufig als Fluch wie als Hort der »häuslichen Glückseligkeit« auftreten. Sein Interesse gilt zwar vornehmlich den Lebensentwürfen von Männern, doch - hier ganz und ausdrücklich ein Anhänger Rousseaus - vergißt er darüber nicht, auch die Heranbildung der Frauen zu überdenken. Seine Erziehungsempfehlungen zielen für Knaben ebenso wie für Mädchen in erster Linie auf Charakterbildung. Bei Mädchen käme es im Hinblick auf deren zukünftige Position und Aufgaben in der Ehe darauf an, einen »weiblichen Charakter« auszubilden, in welchem Tugend, Unterwürfigkeit und Sanftmut ebenso zur Natur geworden seien wie Pünktlichkeit, Ordnung, Reinlichkeit, Sparsamkeit und Geduld. 11 Für den Aufklärer Knigge war es selbstverständlich, daß die häusliche Glückseligkeit in der bürgerlichen Gesellschaft auf strikter, herrschaftlich organisierter Arbeitsteilung zwischen den einander in Liebe zugewandten Geschlechtern beruhe und daß dieses Ehearrangement tunlichst schon in der Bildung der kindlichen Charaktere planvoll herbeigeführt werden sollte. Nicht Hippel, sondern Knigge formulierte die für seine Zeitgenossen und die nachfolgenden Generationen offenbar unmittelbar einsichtigen Ehelehren samt den dazu passenden Charakter- und Erziehungsvorstellungen. Allerdings hatte er ganz offensichtlich unterschätzt, in welchem Maße der gebildete Bürger im 19. Jahrhundert um seiner selbst und seiner Kinder willen dazu übergehen würde, außer der Herzensbildung auch die Verstandesbildung seiner Braut hochzuschätzen. Noch deutlicher als Knigge dürfte Christoph Meiners, Professor in Göttingen und Polyhistor (1747-1810), seinen bürgerlichen Zeitgenossen aus der Seele gesprochen haben, wenn er 1800 mit Blick auf die Französische Revolution und Seitenhieben auf Mary Wollstonecraft und Theodor Gottlieb Hippel zur Forderung nach gleichen bürgerlichen Rechten für Frauen und Männer ausführte, »daß man entweder die Männer zu Weibern machen, oder die Weiber von ihrer gewöhnlichen und natürlichen Bestimmung ganz abbringen müßte, wenn sie gleiche Rechte mit den Männern ausüben, gleiche Ämter verwalten, gleiche Arbeiten ver-

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richten sollten. Was würde aus der menschlichen Gesellschaft, was aus dem Glücke von Familien werden, wenn die Weiber, welche Kinder gebären, säugen, und erziehen, so wie das innere Hauswesen leiten sollen, wenn diese, Häuser, Kinder und Gesinde verlassen, und mit den Männern entweder Volksversammlungen besuchen, oder in Gerichten und anderen Collegien sitzen, oder gar in den Krieg ziehen wollten?«12 Wo Meiners praktische Probleme ins Feld führte, bemühten andere Diskutanten Prinzipien, um sicherzustellen, daß die patriarchalischen Ehe-, Familien- und Geschlechterverhältnisse vom Umbau zur bürgerlichen Gesellschaft nicht allzu stark in Mitleidenschaft gezogen würden. Doch die Erörterung dieser Alternativen sozialer Gestaltung beherrschte keineswegs allein die öffentliche Ehe-Diskussion. Vielleicht noch stärker dürften zunächst die empfindsamen, dann die romantischen Texte die Diskussion beeinflußt haben. Die gebildeten Kreise reagierten mit leidenschaftlicher Begeisterung oder Abwehr auf diese literarischen Versuche, die Liebe zwischen den Geschlechtern als beherrschende Macht neu zu konzipieren und damit offenbar kollektive Sehnsüchte und Ängste im Bildungsbürgertum zu thematisieren. Das ebenfalls neue Programm der bürgerlichen Gatten- und in deren Gefolge auch Elternliebe erlaubte dieser aufwühlenden Liebes-Macht, nur verstümmelt ihre neue Form zu finden. Bald nach der Wende zum 19. Jahrhundert verlor die öffentliche Auseinandersetzung über die bürgerliche Privatsphäre merklich an Aufgeregtheit. Das Programm der »häuslichen Glückseligkeit« schiffte in den ruhigeren Gewässern der nun erlangten bürgerlichen Gewißheit über die Richtigkeit und besondere Vorbildlichkeit der deutschen Ehe- und Familienverhältnisse. Diese waren nun so eingerichtet, daß nur noch Frauen und nicht mehr Männer von immer neuen und immer spezialisierteren Ratgebern darüber unterrichtet wurden, wie die beste Ausgestaltung dieser Verhältnisse zu erreichen sei. 13

Eheleute und Kinder Das Programm hieß seit dem späten 18. Jahrhundert Liebes- oder zumindest Neigungsheirat. Was immer dabei unter Liebe verstanden worden sein mag, ganz offensichtlich ist, daß gebildete Eltern es nicht mehr für erstrebenswert hielten, ihre Tochter oder gar ihren Sohn in eine Ehe hineinzuzwingen. Einzig die Zustimmung der Eltern zur Heirat und zwar vor allem die der Braut-Eltern blieb weiterhin wesentlich. Die Töchter scheinen im Laufe des 19. Jahrhunderts immer besser gelernt zu haben, auch ihre eigenen Vorstellungen bei der Entscheidung zur Ehe mit ins Spiel zu bringen und sich nicht mit dem ersten besten Heiratskandidaten zufrieden zu geben. Dennoch blieb ihre Wahlfreiheit deutlich beschränkt im Blick auf die vielbeschworene Gefahr, wegen zu hoch geschraubter Ansprüche schließlich das schreckliche 92 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

Los der unversorgten »alten Jungfer« teilen zu müssen. Diese Zwangslage pervertierte für viele junge Frauen das Programm der Liebesheirat, und in den frühen 1840er Jahren erhoben radikale Kritikerinnen öffentlich den Vorwurf j u n g e bürgerliche Frauen zur Versorgungsehe zu zwingen, indem man ihnen die Alternative eines eigenen, standesgemäßen Erwerbs verwehre, heiße nichts anderes, als Frauen zur Prostitution zu zwingen. Auch literarisch wurde das Leiden an einer nicht aus Liebe geschlossenen Ehe vor allem aus der Sicht der Frau dargestellt. 14 Die Söhne blieben im Bildungsbürgertum sehr viel kürzere Zeit unter der direkten Kontrolle der Eltern als die Töchter. Noch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kam es für einen Sohn oft schon mit etwa 14 Jahren zur Trennung vom Elternhaus, wenn der Besuch des Gymnasiums in einer größeren Stadt die Unterbringung in einem Internat oder einer Kostfamilie erforderlich machte. Größere Bewegungsfreiheit erhielten die Söhne spätestens mit dem Besuch der Universität. Konkrete Heiratspläne schmiedeten sie im allgemeinen erst, wenn sie eine sichere berufliche Position erreicht hatten. Auf der nun akuten Suche nach einer Braut erinnerten sich dann einige eines jungen Mädchens aus dem Heimatort oder Verwandtenkreis, häufiger noch einer Schwester des Schul- oder Studienfreundes. Glaubt man den Autobiographien, so begannen viele überhaupt erst dann, wenn sie am Ziel ihrer beruflichen Wünsche angelangt waren, Ausschau zu halten nach einer passenden Braut, um die schnell Erwählte nach überaus kurzer Werbeund Verlobungszeit zur Begründung des eigenen Hausstandes heimzuführen. Lange Verlobungszeiten waren offenbar sehr selten und bedeuteten für die Braut ein extrem hohes Risiko. War sie beim Scheitern der Heiratspläne bereits »überaltert«, hatte sie alle Heiratschancen verspielt. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts konnten sich Frauen darauf einlassen, angesichts besserer Berufsmöglichkeiten dieses Risiko neu zu kalkulieren. In jedem Fall nutzte der Mann auf Freiersfährte die Gelegenheit, seine insgeheim erkorene Braut in ihrer häuslichen Umgebung zu beobachten. Dagegen hatten nur wenige Frauen ihren zukünftigen Ehemann vor der Ehe in seinem Elternhaus oder an seinem Arbeitsplatz gesehen. Eine Frau wird sich daher bei ihrer Entscheidung über einen Heiratsantrag in hohem Maße dem Urteil ihres Vaters oder Bruders anvertraut haben müssen. Die skizzierten Momente des Zustandekommens einer Liebesheirat rückt der folgende autobiographische Bericht eindrucksvoll zusammen. Der sechsunddreißigjährige Wilhelm Foerster, seit 1865 Direktor der Berliner Sternwarte, heiratete im April 1868 die zwanzigjährige Tochter von Geheimrat Paschen, des Leiters der mecklenburgischen Landesvermessung in Schwerin. Foerster hatte Paschen 1864 und 1867 bei internationalen Verhandlungen zur Vereinheitlichung von Meßeinheiten kennengelernt. 1867 war Paschen dazu in Begleitung seiner zwei Töchter erschienen. Foerster schrieb 1910 über seine Brautwerbung: 93 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

Ich traf »noch vor dem Ende des Jahres 1867 den Entschluß, mich um die jüngere dieser beiden Töchter zu bewerben, die ich zuerst schon bei einem Besuche im Hause ihres Vaters in Schwerin im Jahre 1865 in ihrem 17. Lebensjahr kennen gelernt hatte. Seitdem hatte mir wohl ihr Bild in meinen Zukunftsgedanken vorgeschwebt, aber die ersten beiden Jahre nach der definitiven Übernahme der Leitung der Sternwarte (1865-67) waren so erfüllt und beladen gewesen mit Arbeit und Verantwortung, daß mir die Ruhe für persönliche Entschließungen und die Muße für deren Weiterfuhrung gänzlich fehlte . . . Ein mehrtägiger Besuch in ihrem Elternhause im Oktober 1867 erhöhte meine innige Zuneigung und mein tiefes Vertrauen zu ihr und ihren Eltern bis zu so froher Zuversicht, daß ich, nach Berlin wegen drängender Arbeit zurückgekehrt, für das Weihnachtsfest um die Zustimmung der Eltern zu meinem erneuten Besuche und zur Bewerbung um die Hand ihrer Tochter bitten konnte.«15 Von welcher Beschaffenheit der ideale Bräutigam oder die ideale Braut sein sollten, darüber wurden die schriftlichen Mitteilungen im Laufe des 19. Jahrhunderts in dem Maße einsilbiger, wie sich die Wünsche ausdifferenzierten. Der Wunschkatalog, den Justus Moser 1774 aufschrieb, war bündig und schlicht: »Ich wünsche eine rechtschaffene christliche Frau, von gutem Herzen, gesunder Vernunft, einem bequemen häuslichen Umgange und lebhaftem, doch eingezogenem Wesen, eine fleißige und emsige Haushälterin, eine reinliche und verständige Köchin und eine aufmerksame Gärtnerin.«16 Alle diese Merkmale der tüchtigen Hausfrau dienten auch noch im 19. Jahrhundert zur Abgrenzung vom eheuntauglichen Luxusweib. Bis zur Wende zum 20. Jahrhundert aber rückten die Hochschätzung von Bildung, die zu mehr als nur zur oberflächlichen Konversation befähigte, und die Hochschätzung der Bereitschaft, auf die Bedürfnisse des Gatten und der Kinder verständnisvoll einzugehen, immer mehr in den Vordergrund. In den Augen einer Frau und ihrer Eltern mußte ein Mann, um als Bräutigam akzeptabel zu sein, in erster Linie für ein sicheres Einkommen sorgen können. Ein Jünger der brotlosen Kunst konnte sich nur geringe Heiratschancen ausrechnen. 17 Dagegen half eine anerkannte Laufbahn, den Makel der Schüchternheit und Unbeholfenheit ebenso auszugleichen wie den eines sehr hohen Lebensalters. Ein Witwer im vorgerückten Alter mit mehreren kleinen Kindern hatte im gesamten 19. Jahrhundert noch gute Chancen, eine zwanzigjährige Frau für seine zweite Ehe zu gewinnen. Mann und Frau wurden im übrigen gleichermaßen darüber belehrt, daß weder Vermögen, Schönheit, noch Liebe allein als wertbeständiges Heiratsgut zu betrachten seien und daß eine schwache Gesundheit und ein eingeschränktes Arbeitsvermögen eine schlechte Basis für die Gründung einer Familie abgeben würden. De facto blieb es zwar selbst für einen höheren Beamten, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum in der Lage war, ohne eigenes Vermögen und allein mit seinem Gehalt die von ihm erwartete standesgemäße Lebenshaltung einer mehrköpfigen Familie zu finanzieren, immer noch überaus interessant und karrierefördernd, eine Frau mit Vermögen zu heira-

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ten. 18 Doch die Erheiratung von Vermögen gehörte nicht mehr zum Programm der Liebesheirat. Am Ende des 19. Jahrhunderts nahmen christliche Bürger die jüdische Geschäftemacherei beim Heiraten giftig aufs Korn, und Juden selbst begannen, ihre jüdischen Mitbürger aufzufordern, weniger die materiellen Interessen als die Zuneigung beim Heiraten zum Zuge kommen zu lassen.19 Aber trotz aller Liebe, die das Heiraten regieren sollte, wurde auch im christlichen Bürgertum fast ausschließlich allein innerhalb des bildungsbürgerlichen Milieus geheiratet. Vom Milieu her dürften Braut und Bräutigam daher einander relativ vertraut gewesen sein, auch wenn sie sich nicht bereits seit Jahren kannten. Doch der häufig extreme Altersunterschied markierte zumindest zu Beginn einer Ehe eine beträchtliche Distanz zwischen den Eheleuten. Adelheid von Nell kam mit ihrer Auswertung der niedersächsischen Geschlechterbücher für die als »weitere Bildungsschicht« zusammengefaßte Gruppe zu folgenden Aussagen über das Heiratsalter:20 Das durchschnittliche Heiratsalter der Männer bei der Erstehe schwankte im Zeitraum von 1700 bis 1914 zwischen knapp 31 und gut 33 Jahren. Die niedrigsten Werte ergaben sich für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts, die höchsten für die Zeit von 1850 bis 1874. Demgegenüber lag das durchschnittliche Heiratsalter der Frauen in der Erstehe im 18. Jahrhundert bei gut 22 Jahren; es stieg jedoch im 19. Jahrhundert fast kontinuierlich an und erreichte schließlich in der Phase 1900-1914 fast 27 Jahre. Wahrscheinlich hängt dieses deutliche Hinauszögern der Ehe bei den Frauen direkt zusammen mit deren vermehrten Bildungs- und Berufsanstrengungen, der damit eröffneten Alternative zur Ehe und vielleicht auch mit der Bereitschaft zu einem größeren Verlobungsrisiko. Bei einer Umgruppierung dieser Zahlen für die Erstehen tritt die Entwicklung der Heiratsalter noch deutlicher zutage und verweist vor allem auf den überraschenden Zuwachs von Frauen, die mit über 30 Jahren erstmals heiraten. Prozentsatz der Eheschließenden (Erstehe) 1700-49 1750-99 1800-49 1850-99

unter 25 Jahre Männer Frauen 7 78 6 74 3 64 4 57

über 30 Jahre Männer Frauen 56 5 65 6 57 14 58 17

Um diese Durchschnittsberechnungen zu konkretisieren und einige Möglichkeiten der Dateninterpretation anzudeuten, sei mit dem Spielmaterial eines viel zu kleinen Samples, welches die Geburts-, Sterbe- und Heiratsdaten einer Gruppe von Bildungsbürgern (Beamte, Freie Berufe, Kaufleute, Unternehmer) erfaßt, ein wenig experimentiert.21 Für das zumeist späte 18. Jahrhundert enthält das Sample insgesamt nur

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neunzehn Heiraten. Der Bräutigam war in zehn dieser Fälle zehn bis zwanzig Jahre älter als seine Braut, in vier Fällen fünf bis sieben Jahre und in drei Fällen zwei bis vier Jahre. Zweimal gab es einen Altersvorsprung der Braut von sechs bzw. sieben Jahren. Die 93 Heiratsfälle aus der Zeit von 1800 bis 1914 zeigen in nur sechs Fällen einen Altersvorsprung der Braut. Der extreme Altersvorsprung des Mannes von zehn und mehr Jahren kommt zwar mit 34 Fällen immer noch häufig vor, ist aber seltener vertreten. Gleichaltrig oder nur bis zu fünf Jahre älter ist der Mann in 25 Fällen, sechs bis neun Jahre älter in 28 Fällen. Das soziale Gewicht dieses Altersabstandes lastete um so schwerer auf dem Verhältnis der Ehegatten, als im 18. und auch noch im frühen 19. Jahrhundert die überwiegende Mehrzahl der Frauen mit 17 bis 22 Jahren in die Ehe kam. Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verlagerte sich das typische Heiratsalter mehr auf das 22. bis 24. Lebensjahr der Frau.22 Das Bedürfnis, sich eine Braut als noch kindliche Unschuld, als Engel, als erziehbares und anpassungsfähiges Mädchen vorzustellen, den Bräutigam aber als den erfahrenen, Schutz und Autorität verheißenden erwachsenen Mann und Lehrer, hat also möglicherweise im 19. Jahrhundert abgenommen und Raum gegeben für eine Ehe als Zusammenschluß zweier bereits erwachsener, wenngleich immer noch altersmäßig hierarchisch geordneter Menschen. Aber dennoch, in einer wohlangesehenen Ehe hatte der Mann bedeutend älter zu sein als seine Frau. Diese Norm scheint im späten 18. Jahrhundert im Bildungsbürgertum so selbstverständlich geworden zu sein, daß im 19. Jahrhundert schon ein geringer Altersvorsprung der Frau eine Diskussion über den Regelverstoß auslöste.23 Die noch während des ganzen 19. Jahrhunderts zu beobachtende Neigung von Witwern fortgeschrittenen Alters, sich in der zweiten Ehe mit sehr viel jüngeren Frauen zusammenzutun, läßt auf Jungbrunnen-Erwartungen schließen. Doch in der Hauptsache dürfte mit dem höheren Alter des Mannes das leidige Problem der Hausvater-Autorität bearbeitet worden sein. Wir wissen wenig darüber, wie sich die tatsächliche Ausübung und Akzeptanz der noch im Bürgerlichen Gesetzbuch 1900 nachhaltig verfestigten hausväterlichen Autorität entwickelt hat, von der Riehl 1852 behauptete, »der frei geschlossene, die natürliche Superiorität des Mannes über das Weib ausgleichende Liebesbund« hätte im »modernen Bürgertum« deren Härten abgeschliffen.24 Gewalt in der Ehe gegen die Ehefrau, soviel stand im 19. Jahrhundert offenbar fest, hatte im bürgerlichen Milieu die Öffentlichkeit zu scheuen. Im übrigen wurde von der Mutter zur Tochter und auch über Ratgeber-Literatur den werdenden Ehefrauen immer wieder nahegelegt, nur ja den Schein der Unterwerfung vor allem vor Kindern und familienfremden Personen zu wahren und sich ansonsten durchaus listenreich der Autorität zu entziehen. Ein Beispiel solcher ehelichen Alltagskommunikation sei vorgeführt. Der dreißigjährige Pfarrer Heinrich Alexander Seidel hatte 1841 die achtzehnjäh96 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

rige Johanne Römer geheiratet. Nach zehn Ehejahren bewältigte Johanne einen ländlichen Pfarrhaushalt mit Ehemann, vier Kindern, drei Pensionären und einem Hauslehrer. 1852 wechselte der Ehemann auf ein Pfarramt in Schwerin. Von dort schlägt er seiner Frau brieflich vor, sie solle nach der Übersiedlung ein von der Frau Pastorin empfohlenes Dienstmädchen übernehmen. Sie verzichtet dankend auf das Angebot; er aber insistiert: »Habe mir keine ungehörlichen Bedenklichkeiten.« Daraufhin willigt sie ein. Das Dienstmädchen wurde im März eingestellt, aber schon im Herbst wieder entlassen.25 Das ungleiche Heiratsalter erfüllte noch eine weitere Funktion. Es stellte nicht zuletzt sicher, daß ein Mann auch im hohen Alter auf die Hilfe einer Ehefrau rechnen konnte und nicht als Witwer sterben mußte. Zwar erhöhten sich die Überlebenschancen der jungen Ehefrauen erst im Laufe des 19. Jahrhunderts in dem Maße, wie sie sich seltener der Gefahr des Kindbettes auszusetzen hatten. Doch im 18. und auch noch im frühen 19. Jahrhundert war es ganz offensichtlich auch im Bürgertum üblich gewesen, daß ein Mann bereits wenige Monate nach dem vorzeitigen Tod seiner Gattin eine zweite oder dritte Ehe einging. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts scheint es häufiger geworden zu sein, daß ein Witwer lange Trauerjahre durchlebte. Während dieser Zeit nahm er die liebevollen Hilfsdienste einer unverheirateten Schwester, Schwägerin, Tante oder Mutter in Anspruch, um seine Kinder und seinen Haushalt versorgen zu lassen, solange eine Gattin fehlte. Entschloß sich der Witwer schließlich erneut zur Heirat, dann bevorzugte er als Braut eine mehr als zehn Jahre jüngere Frau. Die Wirksamkeit dieser Altersversorgung für Männer der gebildeten Kreise zeigt sich nicht zuletzt daran, daß rund drei Viertel aller in meinem Sample gezählten Frauen lange Jahre der Witwenschaft durchlebten und in der Hälfte aller Fälle beim Tode ihres Mannes nicht älter als fünfzig Jahre waren. Das Heiratsalter der Frauen war im Bildungsbürgertum im Vergleich zu Bauern und Arbeitern extrem niedrig. Ganz offensichtlich wurde im Bürgertum das sonst als wirksamstes Regulativ der Familienplanung eingesetzte hohe Heiratsalter der Frauen niemals geschätzt. Im 19. Jahrhundert praktizierten bürgerliche Ehepaare ebenso wie die des Adels dennoch als erste eine effiziente Familienplanung. Sie verstanden es, die Säuglings- und Kindersterblichkeit zu senken und mit nur geringer zeitlicher Verzögerung die Zahl der Geburten zu reduzieren. Adelheid von Nell errechnete für die bürgerliche Bildungsschicht und hier speziell für diejenigen Ehen, in denen überhaupt Kinder geboren wurden, die Ehefrau bei der Heirat noch nicht 30 Jahre alt war und in dieser Ehe bis zu ihrem 45. Lebensjahr lebte, daß bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts dort im Durchschnitt 6,8 Kinder zur Welt kamen. Diese Zahl sank im Laufe des 19. Jahrhunderts und beschleunigt nach der Jahrhundertmitte, so daß um die Wende zum 20. Jahrhundert ein Durchschnitt von 2,8 Geburten pro Ehe erreicht war. Von allen geborenen Kindern starben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch knapp ein

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Viertel, ohne das Alter von 15 Jahren erreicht zu haben, bis 1824 dann nur noch ein Sechstel. Allerdings stieg danach die Säuglings- und Kindersterblichkeit auch in den Familien der bürgerlichen Bildungsschicht erneut wieder leicht an, bevor sie mit anhaltendem Erfolg seit den 1880er Jahren weiter abgesenkt werden konnte. 26 Ehefrauen, die mit etwa 22 Jahren geheiratet hatten und im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts selten mehr als drei Kinder gebaren, waren also bereits im Alter von 30-35 Jahren über die Zeit des Gebärens, Nährens und Bemutterns von Kleinkindern hinausgewachsen. Noch um 1800 beanspruchten dagegen die häufig sechs und mehr Geburten die »Hausfrau, Gattin und Mutter« sehr viel intensiver und länger. Umgekehrt ist allerdings das Sinken der Säuglings- und Kindersterblichkeit auch ein Indiz dafür, daß vom Stillen bis zur allgemeinen Pflege und Krankenpflege der Aufwand, mit dem das einzelne Kind versorgt wurde, erheblich angestiegen sein mußte und wegen der geringen Kinderzahl auch ansteigen konnte. Dies gilt insbesondere dort, wo das begrenzte Haushaltsbudget es nicht erlaubte, durch den Einsatz zahlreicher dienstbarer Geister die Mutter zu entlasten. Die in bürgerlichen Familien im 19. Jahrhundert offensichtlich erfolgreich praktizierte Familienplanung lenkt die Aufmerksamkeit zum einen auf die geborenen Kinder und deren standesgemäße Erziehung im bürgerlichen Hause und zum andern auf die Sexualität in der Ehe und zwischen den Eheleuten. Das Abdrängen der Sexualität in die Intimität und die Tabuisierung des Redens über Sexualität sollten, das hat Peter Gay jüngst mit einer Vielzahl von Beispielen deutlich gemacht, 27 nicht gleichgesetzt werden mit prinzipieller und tatsächlicher Sexualfeindschaft, wie sie dem prüden Viktorianismus unterstellt wurde. Doch die Beobachtung, daß dem über Sexualität verhängten Redetabu eine Besessenheit des indirekten Redens über Sexualität korrespondierte, löst noch keineswegs die Aufgabe, nun die zeitgenössische Diskussion über Prostitution, Doppelmoral, Geschlechtskrankheiten, Sittlichkeit, Inzest oder auch Frigidität, Frauenleiden usw. zu entschlüsseln als einen allgemeinen Diskurs über Sexualität und eheliche Sexualität im Bürgertum. Es wird überaus schwierig bleiben, die alten Themen der ehelichen Pflichten und der ehelichen Treue in den vielfältigen Brechungen dieser zum Ende des 19. Jahrhunderts hin intensivierten bürgerlichen Diskussionen abzuhorchen auf die Freuden und Leiden der ehelichen Sexualbeziehungen. Ein wichtiges Moment von mehr oder weniger dauerhaftem Einfluß auf die »ehelichen Umarmungen« blieb die im Laufe des 19. Jahrhunderts möglicherweise sogar noch gravierendere ungleiche Vorbereitung von Braut und Bräutigam auf die Brautnacht. Ungeachtet aller Erziehung zur höheren Sittlichkeit seit dem 18. Jahrhundert konnten junge Männer mit Weibergeschichten Erfahrungen sammeln und dennoch gute Heiratschancen behalten, während eine junge bürgerliche Frau wußte, daß ihr Heiratskapital der Tugendhaftigkeit durch vorehelichen Geschlechtsverkehr unwiederbring-

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lich verspielt wurde. Ihre Sehnsucht sollte sich in dem einen und einzigen Ehemann erfüllen oder auch nicht. Georg Gottfried Gervinus schrieb im hohen Alter über seine leidenschaftliche Liebe zu dem kindlichen Mädchen, mit dem der 31jährige Mann 1836 eine Ehe einging, nachdem es gerade seinen 16. Geburtstag gefeiert hatte: »Unsere Ehe ist durch den Mangel an Nachkommenschaft wesentlich eine Seelen- und Geistesehe geworden, über deren Recht und Geltung und Würde Milton so schön geredet hat.« Diese Gemeinschaft habe sich verewigt in dem Buch »Händel und Shakespeare«. 28 In den Ehen des 19. Jahrhunderts läßt sich erfolgreiche Geburtenkontrolle, die wohl häufig eheliche Enthaltsamkeit bedeutete, auch als ein Zeichen intensiver ehelicher Gemeinsamkeit zumindest in diesem einen Punkt lesen. Nicht allein der Wunsch, die Kinderzahl beschränkt zu halten, auch die Todesfurcht, von der sich kaum eine Frau bei Schwangerschaft wird befreit haben können, und die mit der Angst vor Verlust auf Seiten des Mannes akzeptierte Verantwortung für das Leben seiner Frau mögen das Verhalten mitbestimmt haben. Ernst Dryander, der es selbst zum Oberhofprediger in Berlin gebracht hatte, berichtete über sein Elternhaus, daß seine Mutter, die 1837/38 Pfarrfrau geworden war, 1839, 1843, 1847 und 1849 ins Kindbett kam. Die ersten Kinder überlebten. Im letzten Wochenbett starb die Mutter und kurz darauf auch das Neugeborene. Der Vater heiratete erst im Dezember 1853 ein zweites Mal und zwar die Stiefschwester der ersten Gattin, die schon vorher die Kinder und den Haushalt des Witwers versorgt hatte. Die zweite Ehe blieb kinderlos. 29 Wie anders klingt dagegen, was der 1724 geborene Theologe und Schulmann Anton Friedrich Büsching über die an Kinderzeugen gebundene Sinnenlust berichtete. Seine Autobiographie wurde 1789 zu einer Zeit veröffentlicht, als jugendliche Männer und Frauen den Entschluß faßten, nur bei wahrer und einzigartiger Liebe zu heiraten. Büschings Mutter, Jahrgang 1695, brachte in ihrer unglücklichen Ehe mit einem 1694 geborenen Advokaten neun Kinder zur Welt, von denen nur der 1724 geborene Sohn das Erwachsenenalter erreichte. Anton Friedrich studierte als bettelarmer Student in Halle. Bevor ihn 1749 eine Hauslehrer-Stelle nach Petersburg führte, so berichtet er rückblickend, »verspürte ich, daß in dem Alter, in welchem ich war, und bey dem Vorhaben, in die weite Welt zu gehen, es gut wäre, wenn ich zur völligen Sicherheit meines Herzens vor der heftigsten und gefährlichsten unter allen Leidenschaften, ausser den bisher gebrauchten und bewährt gefundenen Mitteln, noch dieses anwendete, und für mein Herz einen würdigen Gegenstand wohlgeordneter Liebe unter dem weiblichen Geschlecht suchte, mit dem meine geschäftslosen Gedanken sich unterhalten, und der allen Versuchungen vorbeugen könne.« Er verlobte sich brieflich. Im Herbst 1750 hatte er Gelegenheit, seine »Herzensfreundin« aufzusuchen und seine »Herzensbindung« zu verfestigen. 1754 erhielt Büsching eine Anstellung in Göttingen, beschloß aber, mit der

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Heirat »noch bis Frühjahr 1755 zu warten, um anderen jungen Leuten ein Beyspiel zu geben, wie man bey der größten Zärtlichkeit und Sehnsucht zu und nach einander, dennoch ausharrende Geduld, Zufriedenheit, Fassung, Enthaltsamkeit, und andere christliche Tugenden beweisen könne und m ü s se.« Nach der Hochzeit am 21. 3. 1755 brachte seine Ehefrau Christine bis 1770 sieben Kinder zur Welt, von denen nur zwei das Erwachsenenalter erreichten. Den Tod seiner Gattin im April 1777 erfuhr Büsching als das »Allerhärteste und Schmerzhafteste, was mir in meinem Leben auf Erden überhaupt . . . widerfahren«. Am 22. 12. 1777 heiratete Büsching in zweiter Ehe eine 29jährige Frau. Das Ergebnis ihrer gemeinsamen ehelichen Lust war zunächst die traurige Folge von Totgeburt, Fehlgeburt und einer nur wenige Stunden überlebenden Frühgeburt, bevor ein im April 1791 geborenes Kind für gut zwei Jahre lebte und im September 1781 ein Sohn zur Welt kam, »der gottlob!, noch lebt«. Auch der 1784 letztgeborene Sohn starb gleich nach der Geburt. 30 Die Ehen der Bürger sollten, so dachte man seit dem späten 18. Jahrhundert, in ihren Kindern einen festen Zusammenhalt finden. In der Tat bietet das 19. Jahrhundert vielfältige Zeugnisse dafür, mit wieviel Aufmerksamkeit Mütter und Väter ihre heranwachsenden Kinder in allen Entwicklungsphasen beobachtet haben. Eltern fühlten sich mit ihren Kindern emotional verbunden und sahen sich gleichzeitig in der Pflicht, an ihnen ein vernünftiges Erziehungsprogramm zu erfüllen. Das galt für die Mütter vermutlich noch stärker als für die Väter. Das vertraute Du zwischen Eltern und Kindern setzte sich nach 1800 allgemein durch. Körperliche Straf- und Disziplinierungsmaßnahmen kamen in Mißkredit. Doch auch der absichtslos-spielerische Umgang mit Kindern wurde den Erwachsenen schwerer gemacht. Das Miteinanderleben in der Familie entwickelte sich zum pädagogischen Vorhaben, dem auch die Eheleute ihre Bedürfnisse unterordneten. An die Stelle des Lernens durch Nachahmung und Mitarbeit trat stärker noch bei den Söhnen als bei den Töchtern das Lernen durch Belehrung und Spielmaterialien. Häufig finden sich Berichte, daß Väter, Mütter und andere Erwachsene in Mußestunden den Kindern kindgerechte Geschichten und Bücher vorgelesen haben. Doch die von Pädagogen empfohlene lückenlose Kontrolle über die Kinder wurde nicht realisiert. Allenfalls wohlhabende Eltern konnten mit Unterstützung von Erzieherinnen und Hauslehrern den dazu erforderlichen Aufwand betreiben. Die meisten Eltern hatten in Kauf zu nehmen, daß ihre Kinder für lange Stunden der Aufsicht entglitten, wenn sie vormittags und nachmittags ihre Schulwege allein zurücklegten und auf Straßen, in Höfen, Gärten und im offenen Gelände spielten. Der zugelassene Aktionsradius scheint jedoch generell für Mädchen erheblich enger bemessen worden zu sein als für Jungen. Gebildete Eltern mußten im übrigen sehr daran interessiert sein, den schädlichen Einflüssen des falschen Umgangs vorzubeugen. Denn ihre Kin-

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der hatten im 19. Jahrhundert nicht nur als Pfänder der Liebe das eheliche Zusammenleben zu dokumentieren, sondern auch die Pflicht, die bürgerliche Wohlanständigkeit der Familie und die Berufs- bzw. Geschäftsqualifikation des Vaters zu repräsentieren. Die Söhne erhielten als Erwartungsträger für die Zukunft und die Töchter als lebendige Belege für die Sittsamkeit ihrer Mutter einen abgezirkelten Platz innerhalb der Familie und für die kontrollierbaren Momente ihres Auftretens außerhalb der Familie zugewiesen. Was immer es mit dem tatsächlichen Verhalten auf sich gehabt haben mag, die schnell vermehrten Erziehungs- und Anstandsbücher machen ebenso wie Romane und Memoiren deutlich, welch komplizierten Formen die hochgepriesene emotionale Zuwendung zwischen bürgerlichen Eltern und ihren Kindern zu gehorchen hatte. Die striktere Normierung der bürgerlichen Kindererziehung muß im 19. Jahrhundert das eheliche Zusammenleben nachhaltig beeinflußt haben, wenn die Kinder sich unter der direkten Obhut der Mutter entwickelten, der Vater aber für ihre Erziehung die Zuständigkeit beanspruchte. Die größten Anstrengungen galten der standesgemäßen Ausbildung der Söhne. Deren Laufbahn hatte über Gymnasium und Abitur zum Studium zu führen und war mit erheblichem finanziellen Aufwand verbunden. Witwen, die allein oder zusammen mit ihren Töchtern notfalls unter extremen Belastungen und mit angestrengter Erwerbsarbeit dieses ihnen angeblich vom sterbenden Gatten aufgetragene Vermächtnis erfüllten, hat es offenbar keineswegs nur vereinzelt gegeben. 31 Von leichterer Hand ließ sich dagegen im gesamten 19. Jahrhundert die standesgemäße Ausbildung der Töchter abwickeln; denn bei Töchtern blieb für die Eltern der Spielraum für Ausbildungsentscheidungen und Investitionsbereitschaft erheblich größer. Zwang das Haushaltsbudget zu Alternativen, so stand fest, daß die Ausbildung der Töchter hinter der der Söhne zurückzustehen hatte. Auch scheint es völlig selbstverständlich gewesen zu sein, die Arbeitskraft einer Tochter im elterlichen Haushalt einzusetzen, um am Dienstpersonal zu sparen und die Sohnes-Ausbildung zu finanzieren. Doch ganz ohne Zweifel wuchsen im Laufe des 19. Jahrhunderts mit Reduzierung der Kinderzahl und bei etwas günstigeren Einkommensverhältnissen auch die Chancen der Töchter, eine bessere Ausbildung zu erhalten. Auch sei nicht vergessen, daß Mütter und Väter eigene, von der Norm abweichende Vorstellungen bei der Erziehung ihrer Töchter und Söhne verwirklichen konnten und daß die heranwachsenden Kinder sehr wohl auch mit ihren eigenen Ausbildungswünschen zum Zuge kamen. Eheleute waren im Bürgertum zweifellos bestrebt, das Familienleben um die Kinder zusammenzuschließen. Doch das Ziel des innigen Familienlebens mußte nicht deckungsgleich mit der Wirklichkeit sein. Schon die täglichen gemeinsamen Mahlzeiten als Zentrum des Familiengeschehens auszugestalten, dürfte im Laufe des 19. Jahrhunderts schwieriger geworden sein. Die Kinder kamen zwar weiterhin während ihrer Mittagspause von der Schule

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nach Hause, doch immer mehr Männer gingen vor allem in Großstädten dazu über, ihre Mittagsmahlzeit fern von der Familie einzunehmen. Auch vermehrten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die gesellschaftlichen Verpflichtungen und kulturellen Ambitionen, was dazu führte, daß Eheleute den Abend nun häufiger ohne Kinder außer Haus verbrachten und auch auf die gemeinsame Abendmahlzeit verzichteten. Gleichsam als Gegengewicht gegen diese Tendenzen im alltäglichen Familienleben erhielten hervorgehobene Familienereignisse einen größeren Stellenwert. Weihnachten wurde offenbar schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts als intimes Familienfest mit geschmücktem Weihnachtsbaum und Weihnachtsgeschenken in zahlreichen Familien gefeiert. Auch Geburtstagsfeiern für alle Familienmitglieder kamen in Mode. Familienspaziergänge, größere Familienausflüge, gemeinsame Aufenthalte in der Sommerfrische und schließlich nach der Mitte des 19. Jahrhunderts größere Ferienreisen der ganzen Familie wurden immer üblicher. Sie brachten die Familie zusammen bzw. demonstrierten den Familienzusammenhang für sich und andere. Je mehr der Vater und Ehemann in der familienfremden Berufswelt verschwand, um so stärker scheinen solche vereinzelten Demonstrationen und Ereignisse die späteren Erinnerungen der Kinder an ihr Elternhaus und die der Männer an ihr Eheund Familienleben geprägt zu haben.

Hauswirtschaft, Wohnung und häusliche Geselligkeit Als im frühen 18. Jahrhundert in den gebildeten Kreisen Deutschlands das Lesen in Mode kam, steckte die allgemeine Lesesucht nicht nur Männer dauerhaft an, die ab der Jahrhundertmitte dazu übergingen, sich außerhalb ihrer vier Wände in Lesegesellschaften, Lesekabinetten, Leihbibliotheken zusammenzufinden. Zu Hause begannen auch ihre Frauen, der Leseleidenschaft zu frönen. Diese neuartige Bildungsbeflissenheit von Frauen rief alsbald Kritiker auf den Plan, die davor warnten, daß häusliches Romanelesen die Frauen dazu verführe, ihre täglichen Pflichten zu vernachlässigen. Beim allgemeinen Aufbruch zur bürgerlichen Bildung stießen Frauen mit ihrem Bedürfnis nach Leserecht und Lesemöglichkeit in der materiellen Enge des bildungsbürgerlichen Milieus schnell an die gebieterischen Schranken der arbeitsintensiven Hauswirtschaft. Der folgende zur Nachahmung empfohlene Vorschlag in einer der Moralischen Wochenschriften war wohlgemeint; er hält das Problem in einem kuriosen Bild fest: Der Ehegemahl sah »seine Ehegattin auf dem Spinnstuhle sitzen, und neben ihr stund ein niedriges Pult, auf welchem ein Buch aufgeschlagen lag"; er ist begeistert, »mit welcher Geschicklichkeit sie zugleich spinnen und lesen konnte«. 32 In ihrer immer noch eindrucksvollen Dissertation hat Margarete Freuden102 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

thal 1934 versucht, 33 anhand von qualitativen Quellen den Gestaltwandel u. a. der bürgerlich-städtischen Haushaltungen nachzuzeichnen und dabei jeweils einen wohlhabenden und einen beengteren bürgerlichen Haushalt für die Zeit um 1800, um 1860 und bis zur Jahrhundertwende als Typus zu charakterisieren. Je nach Höhe und Ausschließlichkeit des Geldeinkommens und nach Beschaffenheit und Erreichbarkeit des Marktangebotes entwickelten sich die bürgerlichen Haushalte im 19. Jahrhundert weit auseinander. Im wohlhabenden Bürgertum wurden die Ehefrauen immer stärker von der Arbeit in Familie und Hauswirtschaft entlastet und freigesetzt zur Muße, in den unteren Einkommensgruppen blieben die Frauen dagegen stark belastete, unabkömmliche Hausarbeiterinnen. Anders als noch im 18. Jahrhundert aber gehörten Mitteilungen über die Mühsal der Hauswirtschaft immer weniger, die über die Erziehung der Kinder dafür umso stärker zur publizierten bürgerlichen Selbstdarstellung. Wie zahlreichen seiner Kollegen im 18. Jahrhundert lag es auch dem Göttinger Professor Christoph Meiners noch um 1800 am Herzen, das hohe Lied der »echten Haushaltungskunst« zu singen. Anders als die meisten bürgerlichen Berufsmenschen des späten 19. Jahrhunderts verfügte Meiners noch über hauswirtschaftliche Detailkenntnisse. Er hatte 1777 mit 30 Jahren die 25jährige Tochter eines Göttinger Kollegen geheiratet, und da er nicht zu den Stars unter den Professoren gehörte, mußte er sein niedriges Grundgehalt durch Hörergelder und Buchhonorare in dauernder Mühsal so gut es ging aufzubessern suchen. Dabei hatte er hinlänglich Gelegenheit, das prekäre Auskommen der bürgerlichen Häuslichkeit aus nächster Nähe zu studieren. In dieser Situation schrieb er in belehrender Absicht seinen Lobgesang auf die tüchtige Hausfrau: »Wie würden Hausväter, die bei mäßigen Einkünften eine zahlreiche Familie besitzen, und einen gewissen standesmäßigen Aufwand machen müssen, nur bestehen, wenn sie nicht durch die sorgfältige Haushaltungskunst ihrer Gattinnen vom Untergange errettet würden? An allen Orten also hängt selbst das Sein und die Wohlfahrt von Hunderten und Tausenden von Familien von der Klugheit und Sorgfalt von Hausfrauen ab.« Und weiter: »Bei den meisten Ehen wird vorausgesetzt, daß zu den Einkünften und dem Erwerb des Mannes, die sorgfältige Sparsamkeit der Frau hinzukomme, um mit Hilfe von Beiden anständig auszureichen.« Und deshalb eben blieben als Ausstattung zur Ehe »Schönheit und Tugend, Geist und Wissenschaft unzulänglich. Wenn eine Frau sich weder um Küche und Keller, noch um Speise- und Vorratskammer; weder um Wäsche, noch um Hausrat, Küchengeschirr usw. bekümmert; wenn sie nicht weiß, wann und zu welchen Preisen die für den Haushalt nötigen Dinge eingekauft; wie und zu welchen Zeiten Gemüse, Früchte und andere Lebensmittel eingemacht und aufbewahrt; wie Haushaltungs- und Rechnungsbücher geführt und durchgesehen werden, usw. so entstehen aus einer solchen Unerfahrenheit und Nachlässigkeit der Hausfrau so viele bald kleinere, bald größere Verdrießlichkeiten, daß die vollkommenste Schönheit der Frau, und die feurigste Liebe des Mannes auf die Länge nicht dagegen ausdauern können.«34

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Im späten 18. Jahrhundert war vom Hausvater alten Typs im Bildungsbürgertum ganz offensichtlich noch so viel übriggeblieben, daß auch der gebildete Ehemann Interesse aufbrachte und aufbringen mußte für die Kunst, den eigenen Haushalt bei kleiner Kasse wirtschaftlich und sparsam zu fuhren und unter Nutzung aller Ressourcen schuldenfrei zu halten. Am besten allerdings war er beraten, wenn er um seiner Berufsgeschäfte willen die Hauswirtschaft möglichst vollständig an seine zuverlässige und tüchtige Hausfrau delegieren konnte und sich niemals mit einer unzuverlässigen Haushälterin einlassen mußte. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hat sich der Ehemann dann offensichtlich sehr schnell von der eigentlichen Hauswirtschaft emanzipieren und die Familie und das Haus zur arbeitsfreien Idylle für sich umgestalten können, während die Ehefrau ihre Rolle im »Theater mit der Hausarbeit«35 als Spezialistin perfekt zu spielen lernte. Die gebildeten Männer verloren im 19. Jahrhundert das Interesse an der Entwicklung der Preise und Angebote auf dem schnell erweiterten Markt der Güter und Dienstleistungen für den privaten Haushalt. Die Frauen dagegen wurden zur gewissenhaften Buchführung über ihre Ausgaben angehalten. Die zahlreichen für Frauen angebotenen Almanache und Taschenkalender des frühen 19. Jahrhunderts verbanden das Schöne mit dem Nützlichen und enthielten neben schöngeistigen Texten und Kupferstichen auch Formulare für das Soll und Haben im Haushaltsbudget. In Kindheitserinnerungen taucht das Bild der sparsam wirtschaftenden Mutter auf, dergegenüber sich der zumindest punktuell verschwenderische Vater profilierte durch leichtsinnige Sonderausgaben oder als Initiator einer kostspieligen Geselligkeit. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es dagegen einzig die Anschaffung teurer Bücher, durch die sich speziell ein Mann hervortat. Ehefrauen scheinen das wochen- oder monatsweise vom Ehemann zugeteilte Wirtschaftsgeld selbständig bewirtschaftet zu haben. Ihr Einblick in die vom Manne verwalteten Einkommens- und Vermögensverhältnisse insgesamt blieb dagegen wohl eher begrenzt. Nicht leicht dürfte es beispielsweise für die junge Frau des Ingenieurs und Schriftstellers Heinrich Seidel gewesen sein, die von ihrem Ehemann in Einkommens- und Vermögensangelegenheiten beanspruchte Autonomie des Handelns auszuhalten. Bei der Heirat 1875 war er 33 und sie 19 Jahre alt gewesen. FünfJahre später gab er seinen Beruf als Ingenieur auf, der ihm nur während der Vormittagsstunden intensive Arbeit abverlangt und ein sicheres Einkommen garantiert hatte, um dann für die folgenden acht Jahre an seinem - am Ende tatsächlich gelungenen - Durchbruch als Schriftsteller zu arbeiten. Währenddessen lebte seine fünfköpfige Familie von der Hand in den Mund. 1895, als der wirtschaftliche Engpaß längst überwunden ist, gibt er seiner Frau schriftlich eine Art Rechenschaftsbericht und gesteht darin: »Ich beging die Torheit, Dich in meine Pläne nicht einzuweihen, in der Meinung, die Sorge und Ungewißheit für mich allein zu tragen.« Jetzt allerdings sei die Zeit gekommen, auch ihr das Bankkonto zugänglich zu machen.36

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Nicht nur die Hauswirtschaft, auch der Raum, in dem gearbeitet und gelebt wurde, veränderten sich noch vor der Mitte des 19. Jahrhunderts beträchtlich. Bürgerliche Wohnungen gewannen in dem Maße an sichtbarer Schönheit, Ordnung, Sauberkeit und Intimität, wie Vorratshaltung, Eigenproduktion und die früher fast ausnahmslos im Haushalt selbst, wenngleich unter Hinzuziehung kurzfristig gemieteter spezialisierter Arbeitskräfte vorgenommenen Dienst- und Versorgungsleistungen zurückgingen und auch der berufliche Arbeitsplatz des Mannes aus der Wohnung ausgelagert wurde. Seit den 1830er Jahren ist zu beobachten, daß immer größerer Wert gelegt wurde auf moderne und gesunde Wohnungen. Dabei verallgemeinerten sich hohe und rasch steigende Aufwandsnormen für das Wohnen. Für Ehepaare, denen es an reichlichen Einnahmen mangelte, wurde es zunehmend schwerer, in ihrer häuslichen Lebensgestaltung wenigstens den Schein der Zugehörigkeit zum gebildeten Bürgertum zu wahren.37 Dazugehören aber war besonders wichtig für Freiberufler und höhere Beamte, die noch am Beginn ihrer Karriere standen und wußten, daß sich ihre Berufschancen und ihr gesellschaftliches Ansehen in einem direkten Wechselverhältnis entwickeln würden. Die unverhältnismäßig hohen Investitionen, die dementsprechend zur Gründung eines Hausstandes erforderlich wurden, hätten zur Konsequenz - so klagten zeitgenössische Kritiker dieser Entwicklung im Kaiserreich -, daß Akademiker immer älter wurden, bevor sie sich dazu entschließen könnten, in den Stand der Ehe zu treten. Am längsten konservierten ländliche Pfarrhäuser den älteren Lebensstil.38 Auch noch im 19. Jahrhundert wurde der große Pfarrgarten zu Obst- und Gemüseanbau genutzt, während Tierhaltung offenbar schon verschwunden war und der Pfarrer sein Einkommen kaum mehr in Naturalien, sondern immer ausschließlicher in Geld erhielt. Die bürgerliche Idylle des ländlichen Pfarrhauses lockte nichtsdestotrotz auch noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den nostalgischen Besuch der städtischen Bürger an. Hermann Mitgau hat nach einem Güterverzeichnis von 1746 den Typ des älteren Pfarrhauses, in diesem Fall ein ehemaliges Bauernhaus mit zwei niedrigen Stockwerken, beschrieben.39 Im unteren Stockwerk war Raum für Küche und Stube, im oberen für Schlafgemache; unter dem Dach befanden sich Schlaf- und Vorratskammern. Scheune und Ställe grenzten den kleinen umbauten Hof ab. Zum Anwesen gehörten außerdem Küchengarten, Obstgarten und das schon im 18. Jahrhundert meistens in Pacht gegebene Pfarrland. Die Pfarrfrau, die noch im 18. Jahrhundert einer mehr oder weniger dürftigen, aber in jedem Fall vielseitigen Hauswirtschaft vorzustehen hatte, verwandelte sich im 19. Jahrhundert Zug um Zug in eine bürgerliche Hausfrau. Auch sie hatte nun genau zu kalkulieren, welche der am Markt angebotenen Waren und Dienstleistungen sie für die täglichen Bedürfnisse der Familie tatsächlich in Anspruch nehmen konnte, wo das vom Gehalt des Mannes knapp ausgestattete Haushaltsbudget strikte Sparsamkeit und den eigenen Kräften hohen Arbeitseinsatz auferlegte und ob nicht zusätzlich im 105 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

Pfarrhaus die Unterrichtung und Versorgung von Schülern notwendig war, um überhaupt die bürgerliche Lebenshaltung finanzieren zu können. Das Gegenstück des städtisch-großbürgerlichen Wohnens und Wirtschaftens hat Percy Ernst Schramm am Beispiel des im 17. Jahrhundert erbauten und von 1703 bis zur Zerstörung durch Feuer 1842 im Besitz einer Familie gebliebenen Hauses eines Hamburger Großkaufmannes vorgeführt.40 Das Haus umfaßte in zwei Stockwerken 18 Säle, Stuben, Kammern; im Dachgeschoß Lagerräume, im Keller Küche und Speisekammern; auf dem Hof standen Waschküche, Torfkammer und eine Laube. Dieses Haus beherbergte, regiert vom patriarchalischen Hausvater, die Familie, zahlreiche sonstige Verwandte, Handlungsdiener und Lehrlinge und neben der gesamten Hauswirtschaft auch das Handelsgeschäft. Am Ende des 18. Jahrhunderts pflegten die Hamburger Großkaufleute zur Sommer-Erholung ihren Landsitz mit englischem Park und Kätnerhof plus kleiner Landwirtschaft vor den Toren der Stadt aufzusuchen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden statt dessen in diesen Kreisen die Vorstadtvilla als Dauerwohnsitz der Familie, das Geschäftshaus in der Stadt und die großen Erholungsreisen üblich. Diesen Extremen zwischengelagert waren die städtischen Bürgerwohnungen. Die räumliche Enge der teuren Mietwohnung dürfte schon vor 1850 häufig dazu gezwungen haben, außerhalb der Haushalte ausgeführte Dienstleistungen, ζ. Β. das Wäschewaschen, zu mieten. Solange in solchen Wohnungen bei Anwälten, Ärzten, Professoren und sonstigen Beamten auch noch ein Teil der Berufsarbeit ausgeführt wurde, scheinen der Lärm und die Unruhe der häuslichen Geschehnisse ein typischer Kristallisationspunkt für Familienkonflikte gewesen zu sein. Im Laufe des 19. Jahrhunderts führte der für verbindlich erachtete Standard bürgerlichen Wohnens in unteren Einkommensgruppen des Bildungsbürgertums zu weiteren Nöten. Bürgerlich-standesgemäß zu wohnen, hieß nun nicht mehr nur, eine für die täglichen Familienbedürfnisse gesperrte »gute Stube« vorzuweisen, sondern auch noch ein Herrenzimmer und für die Töchter und Söhne von jungem Alter an getrennte Schlafzimmer einzurichten. Auch ein vom Wohnzimmer getrenntes Speisezimmer schien nun dringlicher als ein Damenzimmer oder getrennte Schlafzimmer für die Eheleute. Für das Alleinmädchen stand häufig überhaupt kein abgeschlossener Raum mehr zur Verfügung. Trotz der programmatisch schon im 18. Jahrhundert vollzogenen Trennung von den Dienstboten spielte sich auch noch im 19. Jahrhundert die Intimität der bürgerlichen Familien aller Einkommensniveaus mehr oder weniger direkt unter der wachen Anteilnahme der in den Familienhaushalten wohnenden, schnell wechselnden Dienstmädchen ab. Sie waren als Arbeitskräfte und für die komplizierten Repräsentationserfordernisse unverzichtbar; von großer Bedeutung aber war immer auch ihre aktive oder passive Intervention in das intim-familiale Spiel der Auseinandersetzungen und Koalitionen zwischen Familienmitgliedern.41 106 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

In den bürgerlichen Wohnungen des späten 19. Jahrhunderts waren die wenigen noch verbliebenen Wirtschaftsräume, vor allem die nach wie vor notwendige, aber kleiner gewordene Küche, an den Rand der Wohnung oder in den Keller verbannt worden, um möglichst unsichtbar zu bleiben. Ins Auge fallen sollte dagegen die größere Anzahl der für das Wohnen verfügbaren Räume und deren detaillierte Zweckbestimmung. Der demonstrative Wohnkomfort tat mit seinen zahlreichen schweren Möbeln, Teppichen, Vorhängen, Gemälden und sonstigen kostbaren Schmuckstücken ein übriges, um für jeden Raum eine spezifische Nutzung dauerhaft festzulegen. Die im Vergleich zu dieser lastenden Wohnpracht äußerst karge, funktionale und weniger kostbare Ausstattung der Wohnungen während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde in Erinnerungen an die Wohnungen der Großeltern oder Eltern häufig hervorgehoben. Beliebt war dabei der Hinweis auf den Kontrast zwischen der Öllampe, die als einzige Lichtquelle Abend für Abend die ganze Familie um den runden Tisch zusammenzwang, und dem verschwenderisch hellen Licht der Gasbeleuchtung, welche der abendlichen Familienrunde ihre intime Traulichkeit und ihren zwingenden Grund nahm.42 Während sich die Wohnungen der Bürger mit Möbeln und Textilien füllten, reduzierte sich nach 1850 die Zahl der Menschen, die in den Zimmern anzutreffen waren. Immer mehr Männer verbrachten lange Stunden des Tages außerhalb ihrer Wohnung, wenn sie ihrer Berufsarbeit, ihrer Vereinsgeselligkeit und ihren immer breiter gefächerten politischen Aktivitäten nachgingen. Auch kam es nun seltener vor, daß die jüngeren Kinder innerhalb der Wohnung durch Gouvernanten und Hauslehrer unterrichtet wurden. Einzig die bürgerlichen Frauen verbrachten weiterhin die meisten Stunden des Tages in ihrer Wohnung. Ihnen zur Seite waren die heranwachsenden Töchter und das Dienstpersonal, das sich häufig genug auf das Alleinmädchen zu beschränken hatte. Selbst länger in der Familie lebende Verwandte und durchreisende Logiergäste erweiterten im Kaiserreich offenbar sehr viel seltener als noch in den Jahrzehnten davor die familiale Wohngemeinschaft. Parallel zu dieser Entwicklung veränderten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die Formen der Familiengeselligkeit. Im 18. Jahrhundert war zur bürgerlichen Abgrenzung von der vornehmen Welt keineswegs nur das neuartige Vereinswesen entwickelt worden. Auch die betont unaufwendige Geselligkeit zwischen Verwandten und Freunden gehörte zur programmatischen Praxis der bürgerlich-gebildeten Familien in Stadt und Land. Die berühmt gewordene Salon-Kultur hatte bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein in kleineren Städten und selbst Dörfern ihr weniger niveauvolles, aber gleichwohl für die beteiligten Bildungsbürger ebenso zentrales Pendant. Gebildete Bürger, die etwas auf sich hielten, begnügten sich nicht immer mit dem nur geselligen Zeitvertreib in der Familie, wie er für die Ober-

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schicht der Mittelstadt Borna in der Nähe von Leipzig für etwa 1770 geschildert wurde. 43 Die Familie des Kammer-Commissarius bildete mit drei bis vier Familien von etwa gleichem Vermögen einen Zirkel, und jede Familie lud die anderen zweimal pro Jahr zu einem Gastmahl ein, »bei dem es hoch herging« mit einem Konsum von rund sechzig bis achtzig Flaschen Wein. Doch darüber hinaus verabredete man häufig kurzfristige Abendbesuche nach Tisch, um von 19-22 Uhr ohne Aufwand zusammen Karten zu spielen. Die Kinder kamen mit und spielten untereinander. Auch die häufigen Besuche zur Teestunde oder in den Gärten, die Picknicks, Ausflüge und Schlittenpartien gehörten zu dieser Form der Geselligkeit, die die gebildeten Familien eines Ortes untereinander pflegten. Den kulturellen Ambitionen des Bürgertums kamen andere Geselligkeitsformen mehr entgegen. 1724 empfahl der »Patriot«, eine Hamburger Moralische Wochenschrift, das folgende als Familiengesellschaft funktionierende Lesekränzchen zur Nachahmung: Vier Familien einschließlich der Kinder trafen sich jeweils bei einer Familie und brachten außer der Handarbeit für die Frau auch »eine zugerichtete Schüssel, eine Bouteille Wein, und ein Buch« mit. Der Gastgeber stellte »Tee, Kaffee, Tisch-Gerät und Gläser, aber kein Essen. Hierdurch wird alle Beschwerlichkeit der Hausfrau abgenommen.« Im Zentrum der geselligen Zusammenkunft standen das Vorlesen und die Diskussion über das Vorgelesene. Außerdem war eine halbe Stunde auch »von der Haushaltung und deren Verbesserung zu reden«.44 Über ähnliche gesellige Familienaktivitäten gibt es für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl von Berichten. Akademiker, die es mit ihren Familien nach der Ausbildung auf ein Dorf oder in eine Kleinstadt verschlug, suchten ihresgleichen, um gebildeten Umgang zu pflegen und sich immer erneut der Bildung zu vergewissern, indem ζ. Β. die Eheleute mehrerer Familien Goethe oder Schiller mit verteilten Rollen lasen und besprachen oder sich auch nur nach der Arbeit gegen vier Uhr zum Tee zusammensetz­ ten. Wie im 18., so waren auch im frühen 19. Jahrhundert die Stationen der reiselustigen Bürger und ihrer Gattinnen fast immer die Wohnungen der verwandten und befreundeten Familien. Die Familien waren darauf eingestellt, Besuch zu empfangen, ihn nach Maßgabe der verfügbaren Mittel zu versorgen und sich entschädigt zu sehen durch die Abwechslung und den Austausch von Neuigkeiten, den die Besucher in die Familie hineintrugen. Noch scheint die relative Dürftigkeit eines Haushaltes kein Makel gewesen zu sein, den es zu verbergen galt und der es später schwieriger machte, Gäste aufzunehmen bzw. sich als Besuch selbst einzuladen. Selbst in den Residenzen, Universitäts- und Großstädten, in denen die Zahl der zum Bildungsbürgertum gehörenden Familien groß war, waren diese auf die Familien bezogenen Geselligkeitsformen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch weit verbreitet.45 Im Kaiserreich verloren die vielfältigen unaufwendigen geselligen Aktivitäten zwischen den Familien offensichtlich ihre Bedeutung oder richtiger, sie 108 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

veränderten ihre Form entscheidend. Auf der einen Seite nahm die Zahl der Kulturveranstaltungen in eigens dafür hergerichteten Bauten zu und damit die Gelegenheiten, sich das Bildungsgut von professionellen Spezialisten präsentieren zu lassen. Auch wurden die Wege aus der Peripherie zu den Zentren der Kunst und Kultur kürzer. Auf der anderen Seite scheinen sich die Familien stärker auf sich selbst zurückgezogen zu haben. Dafür war sicherlich ein Grund, daß es insgesamt schwieriger wurde, unter den knapperen Zeiten des Zusammenseins das als Wert betrachtete Familienleben überhaupt in Gang zu halten. Ein noch wichtigerer Grund aber dürfte gewesen sein, daß nun auch die Familiengeselligkeit im Bildungsbürgertum am generell hohen Maßstab der Aufwandsnormen gemessen wurde und entsprechend der neuen Abschließungstendenz nach unten immer komplizierteren Formen des Geselligkeitsrituals zu gehorchen hatte. Die Berichte über Geselligkeit im Rahmen der Familie während des Kaiserreichs wurden in einem völlig anderen Tenor geschrieben. Die demonstrative Teilhabe des Ehepaars am öffentlichen Kulturleben auf der einen Seite und das Jahresereignis der extrem zeremoniellen und bedeutungsvollen Abendgesellschaft, zu der eine bürgerliche Familie zu bitten hatte, auf der anderen Seite beherrschten die zeitgenössischen Berichte ebenso sehr wie die aus der Erinnerung geschriebenen. Vom Geschick der Ehefrau hing es ab, ob der Gemahl bei solchen Gelegenheiten eine gute Figur machte, was wiederum für seine berufliche Stellung wichtig war. Das Herausputzen der guten Stube, wochenlange Vorbereitungen und Einsparungen, das Mieten einer Kochmamsell und evtl. eines Lohnkellners, des Geschirrs, der Tischwäsche usw., die Angst der Hausfrau, hinter der Kulisse könnte trotz aller fieberhaften Vorbereitungen etwas schiefgehen, während sie die gelassene Gastgeberin zu spielen hatte, diese eheliche und familiale Streßsituation wurde später entweder mit viel Ironie oder immer noch als Alptraum erinnert. Nicht die Bildung, sondern der Beruf des Mannes, der Söhne, der Schwiegersöhne hatten das Regiment über diese neue Form der Geselligkeit und Selbstvergewisserung des Bildungsbürgertums. Ehe und Beruf Die Ehe war im Bildungsbürgertum in mehrfacher Hinsicht auf die Berufsarbeit des Mannes ausgerichtet. Kaum ein Akademiker verfügte in Deutschland über genügend Besitz oder Vermögen, um allein darauf seine Familie zu gründen. Die meisten Männer konnten an eine Heirat erst denken, wenn es ihnen gelungen war, sich mit sicherem Einkommen in einem Amt oder einem freien Beruf zu etablieren. Eine junge Frau, die ohne eigene Berufsausbildung auf Versorgung in der Ehe angewiesen war, war in dieser Situation gut beraten, wenn sie einem Mann ihr Ja-Wort nicht 109 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

bereits im Hinblick auf seine vielversprechende Berufsaussicht und damit für eine unabsehbar lange Verlobungszeit gab. Nach der Eheschließung steckte der Beruf des Mannes die Rahmenbedingungen ab, innerhalb deren das eheliche Zusammenleben einzurichten war. Zu denken ist dabei nicht nur an das anfangs zumeist schmale Haushaltsbudget und die Schwierigkeit, damit das standesgemäße Auskommen zu finanzieren. Die Braut mußte sich auch darauf einstellen, daß ihr Bräutigam in den Anfangsjahren der Ehe, wenn sie in schneller Folge Kinder gebären würde, mit den Anforderungen seiner gerade begonnenen Berufskarriere besonders stark beschäftigt war. Wahrscheinlich würde auch bald nach der ersten Eingewöhnung am Berufsort des Mannes ein Ortswechsel fällig werden, wenn sich herausstellte, daß für die Ausübung eines freien Berufes andernorts günstigere Aussichten bestanden, oder das Vorrücken in der Beamtenkarriere mit Versetzung verbunden war. Den Hausstand an einem Ort abzubauen, um ihn im nächsten wieder einzurichten, war nicht nur kostspielig, sondern auch arbeitsaufwendig und belastete offenbar besonders stark die Ehefrau. Der Beruf des Bildungsbürgers zwang seine Familie fast immer zur Mobilität. Das wiederum erschwerte den sorgfältig gepflegten Kontakt zu den Eltern und Geschwistern, wenngleich die schnelle Verbesserung der Transportmöglichkeiten die zunehmende Entfernung der Einsatzorte wieder ausgeglichen zu haben scheint. Wo dem neu zugereisten Ehepaar am Ort die Verwandtschaft fehlte und die Nachbarschaft noch unbekannt war, sahen sich die Eheleute stärker auf sich selbst sowie auf die Berufskollegen und deren Familien verwiesen. Vermehrte Intimität in der Ehe und berufliche Kontrolle in der Geselligkeit dürften die Folge gewesen sein. Der Mann, der mit der Ehe seinen eigenen Hausstand begründet hatte, wollte erwarten können, daß seine Ehefrau mit ihren eigenen Interessen seine Berufskarriere nicht behinderte, sondern nach Kräften unterstützte. Die erwünschte und häufig offenbar auch geleistete Unterstützung seitens der Ehefrau hatte viele Formen. Am häufigsten wurde gerühmt, die Frau habe alle Störung der Berufsarbeit von ihrem Ehemanne abgewendet. Bisweilen aber wurde auch ihre verdienstvolle direkte Hilfe bei der Berufsarbeit erwähnt. Ein sechzigjähriger Arzt setzte 1877 in seiner Lebenserinnerung der Gemahlin von Carl von Rotteck, die er während seines Studiums als Mutter seines Freundes um 1830 kennengelernt hatte, folgendes Denkmal einer »vollendeten Hauswirtin«: »Aller Fleiß der Biene, alle Sorglichkeit der Ameise, alle Anhänglichkeit des Rotkehlchens an seine Kleinen war in dieser Frau vereinigt . . . An ihrem Mann hing sie mit religiöser Begeisterung, sie und ihre Kinder umgaben ihn mit einem fast anbetenden Kultus.«46 Dagegen gedachte Karl Biedermann, der wegen politischer Auseinandersetzungen 1853 von seinem Lehramt suspendiert worden war, hohe Prozeßkosten zu zahlen hatte und bis 1855 ohne Ein110 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

künfte blieb, mit besonderer Wärme der moralischen Unterstützung, die ihm während dieser Zeit des Elends seine Frau gewährt habe. 4 7 Damit ist das Verhältnis von Ehe und Beruf noch in einer anderen Weise in den Blick gekommen. Welchen Stellenwert konnten und sollten die Ehe und Familie im Leben des am Beruf orientierten Mannes erhalten? Diese Frage drängt sich auf, nachdem deutlich geworden ist, in welchem Maße die Frau ihr Eheleben an den Berufserfordernissen ihres Mannes auszurichten hatte. Hippel notierte in seiner Autobiographie, er hätte seine Verwandten immer zur Ehe aufgefordert, obgleich er selbst nicht verheiratet gewesen sei. »Dieß und daß ich kein Geistlicher geblieben, hat mir oft traurige Stunden gemacht.« Dennoch blieb er sein Leben lang Junggeselle. Das Ideal eines Ehestandes glaubte er zwar »so unverfälscht, so paradiesisch rein . . . im Pfarrhaus« verwirklicht, wie er es bis zu seinem 15. Lebensjahr in der vom Schwiegervater auf den Vater übertragenen ostpreußischen Landpfarre hatte erleben können. Auch gedachte er seiner Mutter, der Predigerfrau Regine, die starb, als er 19Jahre alt war, mit dem überschwenglichen Ausruf: »Welch ein Weib, welch eine Mutter, welch eine Gesellschafterin.« 48 Er selbst aber zog vor, ledig zu bleiben, obgleich dieses dem reichen, angesehenen Beamten als unverständlicher Egoismus angekreidet wurde. Sogar in seiner Tageseinteilung wäre Zeit für eine Familie gewesen. Hippel stand zwischen 5 und 7 Uhr auf, erledigte bis Mittag seine vielfältigen Dienstgeschäfte, speiste dann in Gesellschaft und verbrachte den Nachmittag allein oder mit wenigen Freunden zu Hause oder auf seinem Landsitz vor den Toren der Stadt. Der Abend diente ihm zum Schreiben, Lesen oder Zuhören, sofern seine Nichten und Neffen ihm vorlasen. 4 9 Warum also hat Hippel nicht geheiratet? Diese Frage stellten auch Zeitgenossen und versuchten, sie nach seinem Tode zu beantworten. Hippel habe nach Ämtern, Ehren und Erfolg gestrebt und sei darüber ein Hagestolz geblieben, indem er wohl sah, daß eine Frau und Familie ihm auf dem Wege zu beiden Zielen »mannichfaltig hinderlich sein könnten«. 5 0 Ein junger Mann ging bei seiner Gedenkrede vor der Königsberger Brüdergemeinde 1796 noch weiter: »Ich glaube sogar, daß die Liebe zu raschen Dienstfortschritten die eigentliche Liebe in seinem Herzen unterdrückt und zur Subalternität gezwungen hatte. Wenigstens hat er mündlich und schriftlich geäußert, ein Verheirateter lebe nur halb für sich. Ob er recht gehabt hat? Sollten vielleicht Griechen und Römer es in der Staatskunst darum höher gebracht haben, weil sie im Genuß der feinen und herrlichen Glückseligkeit auf einer niedrigeren Stufe standen wie wir jetzt stehen? Muß der, der sein Haus recht verwalten und genießen will, sich nicht gewissermaßen isolieren? Sind nicht Staats- und Hausleben durch eine schwache Brücke verbunden, die dem unter den Füßen zu brechen droht, der Lasten aus dem einen ins andere Gebiet überzutragen wagt?« 51

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In der Rede bleiben diese Fragen unbeantwortet; dennoch dürften es keine rhetorischen Fragen gewesen sein. Denn auch andere würdige Männer beunruhigte die »schwache Brücke« zwischen »Staats- und Hausleben«. Hippel selbst hatte schon 1774 in seinem Traktat über die Ehe eine Frau klagen lassen: »Mein Mann ist mürrisch, und widmet seinen Geschäften mehr Zeit als mir«, und sie dann mit den Worten zurechtgewiesen: »Undankbare, die Zeit, die er seinen Geschäften aussetzt, ist auch ihnen gewidmet, denn nur um sie standesgemäß zu unterhalten, ist er beschäftigt.«52 Als die gebildeten Stände im 18. Jahrhundert ihre Distanz zur vornehmen Welt selbstbewußt bestimmten, war ein zentraler Punkt ihrer Kritik, daß in Adelskreisen die Ehegatten ohne Intimität fremd nebeneinander lebten. Doch sehr früh erkannten die gebildeten Bürger, daß auch ihr Gegenmodell des intimen bürgerlichen Ehelebens keineswegs gefeit war vor der Entfremdung und Vereinsamung der Ehegatten. Denn es stellte den Ehemann vor die kaum lösbare Aufgabe, seinen Ehe- und Familienpflichten ebenso intensiv nachzukommen wie seinen Amtspflichten. Im 19. Jahrhundert scheint mit der wachsenden Akzeptanz des einseitigen männlichen Berufsmenschen dieses Dilemma des bürgerlichen Lebensentwurfes allmählich aus dem Bewußtsein verdrängt worden zu sein. Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde darüber noch öffentlich nachgedacht. Um sich im bürgerlichen Lebensentwurf zu bestärken, wurde nicht nur von Hippel das Ideal der innigen bürgerlichen Familie im Pfarrhaus gesucht, das bis in das 19. Jahrhundert hinein vielleicht sogar für die Mehrheit der Akademiker bzw. für deren Ehefrauen auch tatsächlich das Elternhaus gewesen war. Die Attraktivität dieses Modells beruhte ganz offensichtlich auf der engen Verzahnung von Amt und Familie, bei welcher sich das Leben im Pfarrhaus zentrierte und das vorbildliche Familienleben direkter Bestandteil der Berufsleistung war. Als Johann Heinrich Voß 1795 das Pfarrhausidyll mit seiner »Luise. Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen« auch für den Gebrauch der folgenden Jahrzehnte noch einmal kräftig aufpolierte - Ottilie Wildermuth setzte bei ihrem Publikum noch 1855 das Werk als bekannt voraus - konnte er sich an einer schon über dreißig Jahre alten Tradition der »Landpfarrerliteratur« orientieren.53 Geflissentlich täuschten solche Pfarrhaus-Idyllen darüber hinweg, welche Probleme die bis in das 20. Jahrhundert zwingende und zwanghafte Deckungsgleichheit von vorbildlichem Amts- und Familienleben für die Familienmitglieder mit sich bringen konnte. Auch stand nicht zur Diskussion, wie die Geschlossenheit der bürgerlichen Pfarrfamilie auf Familien zu übertragen sei, in denen der Mann einen familien- und haushaltsfernen Beruf ausübte. Eine andere Art, sich mit dem schwierigen Verhältnis von Amtsdienst und Familienfreuden zu beschäftigen, ist in den Romanen des Freiherrn von Knigge nachzulesen. Er zeigt uns einen mit Regierungsgeschäften beladenen Ehemann, der abends »ermüdet und herabgespannt durch die Menge der vollbrachten Geschäfte« heimkommt und sich »nach Ruhe und Erholung«

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sehnt.54 Einen anderen Fürstendiener läßt er »im häuslichen Leben Ersatz für alle diese Unruhe« suchen und - ο Ende aller häuslichen Glückseligkeit - bei seiner vergnügungssüchtigen Gattin nicht finden. Vergeblich erwartet er von ihr »Ermunterung zu großen Entwürfen, Trost bei widrigen Vorfällen, gutmütigen Rat, liebreiches Zureden, nicht müde zu werden und getrost auf den bessern Ausgang zu hoffen«.55 Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts findet sich diese Männer-Sehnsucht nach einem von der Ehefrau ausgestalteten Refugium zu floskelhaften Formulierungen geronnen in unzähligen normativen Schriften, Erzählungen, Autobiographien. Eine dritte Variante, das Dilemma zu bearbeiten, scheint schon um die Wende zum 19. Jahrhundert aufgegeben worden zu sein. Knigge führt einen (adligen) Jüngling nach einer Zeit der Ausbildung mit noch nicht 25 Jahren in den sicheren Hafen einer auf Liebe gegründeten Ehe. Der Gatte zieht sich daraufhin aus der großen Welt auf die Güter seines Pflegevaters zurück und widmet sich bald intensiv der Erziehung seiner drei Kinder. So ist es nach Knigge gerade recht; denn Männer, die meinen, »sie könnten als Staatsmänner oder Richter, Hunderte beglücken, und lassen während dieser Zeit sechs Kinder verderben, die nachher Tausende elend machen«, handeln unverantwortlich. 56 Berufsverpflichtungen läßt Knigge nicht als Entschuldigung gelten. »Sie haben Berufsgeschäfte, können nicht jede Stunde des Tages ihren Kindern widmen; und doch muß, wer Kinder erziehen will, darauf Verzicht tun, irgend etwas Anderes nebenher zu treiben.«57 Knigges radikale Forderungen konnten ausgedacht werden in einer Zeit, als die Karrierezwänge das Leben der gebildeten Männer erst in Ansätzen prägten und die später zu beobachtende, immer intensivere mentale und zeitliche Okkupation durch Berufsarbeit noch kaum entwickelt war. An der höheren Erziehungsmacht des Vaters wurde zwar auch im 19. Jahrhundert nicht prinzipiell gerüttelt, doch in Theorie und Praxis ging die Erziehung nicht nur der Töchter, sondern auch der Söhne immer umfassender auf die Mutter über. Dem Vater brachte darüber hinaus der Ausbau des höheren Schulwesens, mit dem der Hauslehrer allmählich verschwand und ein effizienterer Vater-Ersatz für die Sohnes-Erziehung institutionalisiert wurde, eine weitere Entlastung von seinen Familienpflichten. Seit der Jahrhundertmitte erscheint die den Männern schwierige Balance zwischen Beruf und Familie deutlich zugunsten der Berufspflichten verschoben. Immer ausschließlicher zeichnete allein die berufliche Existenz einen Mann aus, dessen Familienexistenz kaum mehr erwähnenswert scheint. Hierauf deuten nicht nur die autobiographischen Selbstdarstellungen hin. Der 1875 erschienene erste Band der Allgemeinen Deutschen Biographie stellte Deutschlands Männer des 18. und 19. Jahrhunderts, die einer Würdigung für wert erachtet wurden, fast durchgehend als Männer jenseits des Ehestandes vor. Deren Ehe schien so selbstverständlich, daß sie selbst dann mit Stillschweigen übergangen werden konnte, wenn im Text später, um die Erblinie der Berühmtheit fortzusetzen, von dem Sohn oder den Söhnen 113 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

die Rede war. Das Leben als Junggeselle, das kinderlose Sterben, der frühe Verlust der Ehefrau wurden dagegen häufig eigens vermerkt. Bei den wenigen Frauen, die um ihrer beruflichen Existenz willen Einzug in die Allgemeine Deutsche Biographie hielten, interessierten sich die Biographen allerdings immer auch für deren Familienexistenz. An der Rangordnung von Beruf und Eheleben ist gearbeitet worden, solange die konkurrierenden Elemente des bürgerlichen Lebensentwurfes Probleme bereiteten. Das Programm der auf Liebe basierenden Ehe beförderte die Hinwendung zu Gattin und Kindern. Doch die Anforderungen des beruflichen Reüssierens und immer nachdrücklicher auch des patriotischen Engagements standen einer solchen Hinwendung als Hindernis entgegen. Gustav Freytag registrierte in seinem kurzen biographischen Artikel über Ernst Moritz Arndt (1769-1860) die Entscheidung für eindeutige Prioritäten. Der Tod seiner Gattin, die nach einem Ehejahr bei der Geburt des ersten Kindes starb, und der bald darauf erfolgte Tod seines Sohnes hätten Arndt in tiefe Trauer gestürzt, die auch seine schriftstellerische Arbeit bestimmte. »Aus dieser contemplativen Vertiefung in das Familienleben riß ihn die Sorge um das Schicksal Europas zu politischer Arbeit.« In flammenden Appellen gegen Napoleon habe er verkündet, »die höchste Religion sei, das Vaterland lieber zu haben als Herren, Weiber und Kinder, die höchste Bestimmung des Mannes sei, für Gerechtigkeit und Wahrheit zu siegen oder zu sterben. « 58 Den liebenden Gatten und Vater verweist nicht mehr nur der durch Arbeit und Leistung aufstrebende Bürger, sondern nun auch der militärische Mann in seine Schranken. Notfalls wird akzeptiert, daß ein angesehener Mann seine Bestimmung zur Ehe ganz und gar verpaßte. So heißt es über einen Schulmann: »Die Schule blieb seine Braut und mit der Liebe eines Bräutigams hing er an ihr, lebte nur für sie. « 59 Aber sicherer in der öffentlichen Wertschätzung durfte sich ein Professor wissen, der 1848 in seinem Lebensrückblick dankbar der »vereinten Wirkung des Doppelgestirns, Wissenschaft und Liebe« gedachte: »Mit der Genugthuung, in meinem Berufe nach Kräften gewirkt zu haben, war ich um so empfänglicher für den Genuß des häuslichen Glücks.« Das dafür erforderliche Zeitbudget nahm sich bescheiden aus: »Wenn sieben Achtel der Tageszeit den Arbeiten gewidmet waren, so blieb immer noch ein Achtel für die Freuden der Familie und Geselligkeit.«60 Als sich in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts das Berufssystem für Akademiker immer mehr verdichtete, scheinen immer mehr Ehemänner und Väter dazu bereit bzw. dazu gezwungen gewesen zu sein, ihre Zeit und Kraft so gut wie ausschließlich dem Dienst an der Allgemeinheit und damit ihrer beruflichen und persönlichen Karriere zu widmen. Die Brücke zur Familie scheint im Verlauf des 19. Jahrhunderts für viele Männer noch schmaler und brüchiger geworden zu sein. Mit einem theatralischen Schlußakt möchte ich das bürgerliche Eheleben im Zeichen der Berufsbesessenheit seiner Männer noch einmal grell ausleuchten.

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An einer bösartigen Intrige scheiterte 1895 der bis dahin überaus erfolgreiche Chirurg Hermann Seidel. In einer letzten Dienstbesprechung gab er zu seiner Verteidigung noch zu Protokoll, »daß er bis an die Grenze seiner Kräfte seinen Pflichten nachzukommen stets bemüht gewesen sei«. Dann beging er zu Hause Selbstmord, nachdem er seinen Freunden die Bitte niedergeschrieben hatte: »Rettet meine Ehre um meiner Kinder und meines Weibes willen vor der Öffentlichkeit.« Seine Ehe hatte dreizehn Jahre gedauert; die 34 Jahre alte Witwe Emmy Seidel versorgte von nun ab in eingeschränkten wirtschaftlichen Verhältnissen allein ihren achtjährigen Sohn, ihre siebenjährige und ihre einjährige Tochter. Solange sie dauerte, galt wohl auch diese Ehe am Ende des 19. Jahrhunderts im Bildungsbürgertum als normaler Fall von Eheglück.61 Anmerkungen 1 O. Wildermuth, Aus dem Frauenleben, Stuttgart 1855, Zitate S. 213 u. 160; zur Biographie vgl. A. Willms u. A. Wildermuth, Ottilie Wildermuths Leben. Nach ihren eigenen Aufzeichnungen zusammengestellt und ergänzt, Stuttgart o. J . (1888); V. Vollmer, Ottilie Wildermuth, Dichterin und Schriftstellerin, in: Schwäbische Lebensbilder, Bd. 5, Stuttgart 1950, S. 354-378; R. Wildermuth (Hg.), Ach, die Poesie im Leben . . . Ottilie Wildermuths Briefwechsel mit ihrem Sohn Hermann 1865-1877, Pfullingen 1979. 2 Es wäre einfach, die Prämisse und ihre Folgen an neueren Einzelforschungen und Oberblicksdarstellungen zu demonstrieren, schwieriger aber, die Gründe für das hartnäckige Absehen von Ehe und Familie als zentralen Bereichen der bürgerlichen Gesellschaft anzugeben. 3 Diese Skizze knüpft an meinen früheren Aufsatz an: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«, Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: W. Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, S. 363-393. U m die Vorläufigkeit meiner Skizze zu unterstreichen, verzichte ich auf einen gewaltigen Anmerkungsapparat. Von der neueren Literatur zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, zum Bildungsbürgertum, zur Familien- und Frauengeschichte, habe ich besonders viel profitiert von U. Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt 1986, und H. Rosenbaum, Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt 1982. - Als Quellenmaterial dienten mir vor allem rund 50 Autobiographien; die wohl noch ergiebigeren Briefsammlungen und die Unterhaltungsliteratur mußte ich leider unberücksichtigt lassen. 4 Th. G. Hippel, Über die Ehe, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von W. M. Faust, Stuttgart 1972, Zitate S. 39 u. S. 48. 5 A. Freiherr v. Knigge, Sämtliche Werke, hg. v. P. Raabe (fotomech. Nachdruck der Erstausgabe), Nendeln/Liechtenstein 1978. 6 Knigge, Werke, Bd. 2, S. 315 (= Roman meines Lebens, 4. T.). 7 A. Freiherr v. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, Nachdruck Darmstadt 1976, Zitat S. 132; vgl. insgesamt 1. T., 4. Kap.: Über den Umgang unter Eheleuten. 8 Ebd., S. 121 f.; vorstehendes Zitat S. 125. 9 Ebd., S. 130f. 10 Ebd., S. 135. 11 Vgl. Knigge, Werke, Bd. 16 (= Briefe über Erziehung), S. 155-61; Bd. 17 (= Journal aus Urfstädt), S. 43-68, 549-55. 12 Ch. Meiners, Geschichte des weiblichen Geschlechts, 4. T., Hannover 1800, S. 314f.

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13 P. Borscheid, Geld und Liebe. Zu den Auswirkungen des Romantischen auf die Partnerwahl im 19. Jahrhundert, in; ders. u. H.J. Teuteberg (Hg.), Ehe, Liebe, Tod, Münster 1983, S. 112-134, zur Liebes-Programmatik bes. S. 112-121; vgl. für die spätere Zeit F. Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848, Bd. 1, Stuttgart 1971, S. 20-63. 14 Diese Ansicht vertraten auch gemäßigtere gebildete Frauen; interessant hierzu: FrauenSpiegel. Vierteljahrschrift für Frauen. Unter Mitwirkung der geachtetsten Schriftstellerinnen hg. v. Louise Marezoll, Bd. 1, 1840, S. 213-231: Ernestine, Welches sind die natürlichen Vertreter der Rechte der Frauen? 15 W. Foerster, Lebenserinnerungen und Lebenshoffnungen 1832-1910, Berlin 1911, S. 92 f. 16 Zit. nach H. Mitgau, Gemeinsames Leben, Bd. 2, Hannover 1948, S. 155. 17 Dazu interessant Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 3, Stuttgart 1980, S. 144-146. 18 Näheres bei H. Henning, Das westdeutsche Bürgertum in der Epoche der Hochindustrialisierung 1860-1914, Wiesbaden 1973, bes. S. 301. 19 M. A. Kaplan, For Love or Money. The Marriage Strategies of Jews in Imperial Germany, in: Women and History, Nr. 10, 1985, S. 121-163. 20 A. v. Nell, Die Entwicklung der generativen Strukturen bürgerlicher und bäuerlicher Familien von 1750 bis zur Gegenwart, Diss. Bochum 1973, S. 69, S. 72-77. 21 Die biographischen Daten wurden zusammengestellt aus: Ch. Ferber, Die Seidels. Geschichte einer bürgerlichen Familie, Stuttgart 1979; H. Mitgau, Gemeinsames Leben, Bd. 1, Göttingen 1955, Bd. 2, Hannover 1948, Bd. 3, Göttingen 1973; P. E. Schramm, Neun Generationen. Zweihundert Jahre deutsche Kulturgeschichte im Lichte der Schicksale einer Hamburger Bürgerfamilie (1648-1948), 2Bde., Göttingen 1963 u. 1964; außerdem: Biographien von Bildungsbürgern, sofern Heiratsjahr und Lebensdaten der Frau angegeben waren, aus: O.Klose u. E. Rudolph (Hg.), Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon, Bd. 1, Neumünster 1970. Meine Daten beziehen sich fast ausnahmslos auf Norddeutschland. Eine süddeutsche Gegenprobe wäre erforderlich. 22 Anders als bei v. Nell sind hier nicht nur Erstehen berücksichtigt. 23 Der Altersvorsprung von nur zwei Jahren (er = 26, sie = 28 Jahre) war Thema einer Erzählung in: Frauen-Spiegel, 1840, Bd. 2, S. 1-68; als die Liebe schließlich die Ausnahme von der Regel zuließ, verkündete die Braut im Happy End: «Du sollst mein Herr sein . . . Fest wie das treue Epheu will ich mich an Dich schmiegen.« 24 R. (W. H. Riehl), Die Frauen. Eine social-politische Studie, in: Deutsche Vierteljahrsschrift, Bd. 3, 1852, S. 236-96, Zitat S. 259. 25 Ferber, Seidels, S. 43 f. 26 v. Nell, Generative Strukturen, S. 48, 63. 27 P. Gay, Erziehung der Sinne. Sexualität im bürgerlichen Zeitalter, München 1986. 28 G. G. Gervinus, Leben von ihm selbst (1860), Leipzig 1893, S. 300-332, Zitat S. 326. 29 E. v. Dryander, Erinnerungen aus meinem Leben, Bielefeld 1922, S. 3-26 passim. 30 Α. F. Büsching, Eigene Lebensbeschreibung, Halle 1789, Zitate S. 131, 241, 596; die Beschreibung endet mit einer Auflistung der in 1. und 2. Ehe gezeugten Kinder. 31 Ein Beispiel für 1873 bei Mitgau, Gemeinsames Leben, Bd. 2, S. 398f 32 Zit. nach W. Martens, Formen bürgerlichen Lebens im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, in: O. Dann (Hg.), Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation, München 1981, S. 55-70, hier S. 62. 33 M. Freudenthal, Gestaltwandel der städtischen, bürgerlichen und proletarischen Hauswirtschaft zwischen 1760 und 1910, hg. v. K. Rutschky, Berlin 1986. 34 Meiners, Geschichte, S. 265, 267 f. 35 S. Meyer, Das Theater mit der Hausarbeit, Frankfurt 1982. 36 Ferber, Seidels, S. 143. 37 Siehe jüngst dazu H. Bausinger, Bürgerlichkeit und Kultur, in: J . Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 121-142, bes. S. 129.

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38 Informativ und anregend hierzu M . Greiffenhagen (Hg.), Das Evangelische Pfarrhaus. Eine Kultur- und Sozialgeschichte, Stuttgart 1984. 39 Mitgau, Gemeinsames Leben, Bd. 2, S. 592. 40 Schramm, Neun Generationen, Bd. 1. S. 104, zum Landsitz S. 340-344. 41 Herausgearbeitet wurde dieser Aspekt von D. Wierling, Mädchen für alles. Arbeitsalltag und Lebenseeschichte städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende, Berlin 1987. 42 So z. B. F. Eberty, Jugenderinnerungen eines alten Berliners, Berlin 1878, S. 9 - 2 1 . 43 G. F. Dinter, Leben von ihm selbst beschrieben, Neustadt 1829, S. 17. 44 Zit. nach Martens, Formen, S. 44. 45 Interessant hierzu Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 1, S. 20-24; dort wird K. L. Immermann als früher Kommentator der Neuerungen, die der Konzentrierung auf die Familie entgegenwirken, referiert. 46 E. Kaiser, Aus alten Tagen. Lebenserinnerungen eines Markgräflers 1815-1875, Lörrach 1910, S. 143. 47 K. Biedermann, Mein Leben und ein Stück Zeitgeschichte, Bd. 2, Breslau 1886, S. 7 6 f . 48 Th. G. von Hippel, Biographie. Zum Theil von ihm selbst verfaßt. Aus Schlichtegrolls Nekrolog besonders abgedruckt, Gotha 1801, Zitate S. 72, 60. 49 Ebd., S. 290. 50 Ebd., S. 316. 51 Ebd., S. 374f. 52 Hippel, Ehe, S. 43. 53 Vgl. F. Martini, Pfarrer und Pfarrhaus. Eine nicht nur literarische Reihe und Geschichte, in: Greiffenhagen, Pfarrhaus, S. 127-148. 54 Knigge, Werke, Bd. 1, S. 208f. (= Das Zauberschloß). 55 Ebd., Bd. 5, S. 217, 601 (= Geschichte des armen Herrn von Mildenberg). 56 Ebd., Zitat Bd. 17, S. 45 (= Journal aus Urfstädt); zum Bildungsgang des Jünglings Bde. 1 u. 2 (= Roman meines Lebens) und Bd. 3, S. 715 (= Peter Clausen). 57 Ebd., Bd. 16, S. 155 (= Briefe über Erziehung). 58 G. Freytag, Ernst Moritz Arndt, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 1 (1875), Berlin 1967, S. 541-47, Zitate S. 542f.; der Text von Freytag fällt völlig aus dem Rahmen der sonstigen Artikel dieses Bandes. 59 ADB, Bd. 1, S. 35; auch Gervinus, Leben, S. 202, wählte dasselbe Bild: F. Ch. Schlosser »hatte bis zum fünfzigsten Jahre im Junggesellenstande seiner Wissenschaft allein gelebt und von einer anderen Braut nichts wissen wollen.« 60 K. F. Burdach, Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Nach dem Tode des Verfassers herausgegeben, Leipzig 1848, S. 416. 61 Ferber, Seidels, S. 86-116, Zitate S. 116.

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YVONNE SCHÜTZE

Mutterliebe - Vaterliebe Elternrollen in der bürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts

Seit ihrer Entstehung im 18. Jahrhundert hatte die bürgerliche Familie nicht nur die Funktion, ›Keimzelle des Staates‹ und Produzent einer neuen Generation zu sein, die sich den Erfordernissen kapitalistischer Wirtschaft und moderner Bürokratie anpaßt, sondern sie sollte auch eine Gegenkonstruktion zu den Versachlichungsprozessen der Moderne sein. Dazu heißt es in einer Ausarbeitung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung: »Einerseits tendiert die steigende Vergesellschaftung - ›Rationalisierung‹, ›Integration‹ aller menschlichen Beziehungen in der späten, voll entfalteten Tauschgesellschaft - dazu, das gesellschaftlich gesehen irrational-naturwüchsige Element der familialen Ordnung soweit wie möglich zurückzudrängen. Andererseits steigert sich das Mißverhältnis zwischen den totalen gesellschaftlichen Mächten und dem Individuum derart, daß es oft gleichsam zu seinem Schutz in eben jene kleinsten Verbände vom Typus der Familie zurückkriechen möchte, deren Bestand unvereinbar scheint mit der großen Entwicklung. Die Tendenz, welche die Familie bedroht, scheint sie zugleich, wenigstens temporär, zu fördern.«1 Die Bedrohung und gleichzeitige Bestandssicherung der Familie erkannten die Autoren darin, daß die Familie inmitten einer Gesellschaft, »welche auf Rationalität, die ausschließliche Herrschaft des Prinzips der Berechenbarkeit aller Beziehungen hinaus will«, an einem »irrationalen Moment«, nämlich dem »Prinzip des ›Blutes‹, der natürlichen Verwandtschaft« festhält. »Im strengsten Sinne gibt es die›bürgerlicheFamilie‹ überhaupt nicht: in ihr widerspricht das vorgeblich rationale Prinzip des Individualismus sich selbst, und zwar notwendig, weil es inmitten des totalen Rationalitätsprinzips irrationale Momente konserviert.«2 Ich möchte mich dieser These insoweit anschließen, als ich die bürgerliche Familie, die Mutter- und die Vaterliebe unter dem Aspekt ihrer Anpassungsund Widerspenstigkeitsfunktion zu analysieren versuche. Allerdings möchte ich mich dem Gegensatzpaar ›rational-irrational‹ nicht anschließen, denn ich gehe nicht davon aus, daß die Familie als irrational beschreibbar ist, nur weil sie an der natürlichen Verwandtschaft festhält. Die Zuständigkeit der Eltern für ihre leiblichen Kinder sichert zu allen Zeiten, wie auch immer

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diese Zuständigkeit im einzelnen kulturell definiert ist, das bestmögliche Überleben der nächsten Generation und kann insofern nicht als irrational bezeichnet werden. Die von der »Frankfurter Schule« beschriebene Anpassung der Familie an und gleichzeitige Resistenz gegen Rationalisierungsprozesse im Sinne kapitalistischen Wirtschaftens und bürokratischer Verwaltung erkenne ich vielmehr in der Binnenstruktur der Familie, die beide Funktionen gleichsam arbeitsteilig handhabt. Dem Mann kommt die rationale Weltsicht, die Anpassungsfunktion an die Außenwelt, nach Parsons die instrumentelle Funktion zu. Der Frau kommt die expressive Funktion zu, an ihr ist es, Zuwendung, Zärtlichkeit und Wärme zu spenden und die Familie vor den Übergriffen der Versachlichungsprozesse zu bewahren. Wie stellen sich nun die Rollen von Mutter und Vater in diesem Modell der bürgerlichen Familie dar? Zunächst einmal möchte ich das Eltern-KindVerhältnis des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts vom Mutter-Kindund Vater-Kind-Verhältnis des späteren 19. Jahrhunderts unterscheiden, denn sowohl sich verändernde Erziehungskonzepte als auch eine gewandelte Ausdeutung der Geschlechtscharaktere prägten die Elternrolle in jeweils spezifischer Weise. Die Quellen, auf die ich mich stütze - normative Anforderungen, die in ärztlichen und pädagogischen Ratgebern an Mütter und Väter gestellt wurden, autobiographische und literarische Zeugnisse - haben die Funktion, meine Beschreibung der Ausdifferenzierung von Mutter- und Vaterrolle im bürgerlichen Familienmodell zu illustrieren, nicht zu belegen. Das Eltern-Kind-Verhältnis im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert Das neue Erziehungsideal, wie es z. Β. von Rousseau formuliert wurde und Eingang in die Köpfe bürgerlicher Eltern und Erzieher fand, lehnte die traditionelle Unterordnung des Kindes unter den Willen des Vaters ab und empfahl für die ersten zwölfJahre eine negative Erziehung, gemäß der das Kind »den Keim seines Charakters in voller Freiheit« entfalten sollte.3 Der Adressat dieser Empfehlung war in erster Linie der Vater, nicht die Mutter, die lediglich als erste Wärterin und Amme figurierte. »Wie die Mutter die wahre Amme ist, so ist der Vater der wahre Lehrer«.4 Der Mutter war aufgrund ihres Geschlechtscharakters eine so verantwortungsvolle Aufgabe wie die Förderung der kindlichen Fähigkeiten gar nicht zuzutrauen. »Sechs oder sieben Jahre lebt das Kind auf solche Weise unter den Händen der Frauen als Opfer ihrer Launen und der seinigen.«5 Eine parallele Entwicklung wird auch für die USA beschrieben. Bis etwa 1820 wurde dem Vater die Erzieherrolle zugesprochen, und erst nach diesem Zeitpunkt gewann die Mutter als Erzieherin der Kinder an Bedeutung.6 Noch das »Conversationslexikon für das deutsche Volk« aus dem Jahre 119 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

1838 führte unter dem Stichwort Liebe in erster Linie die Geschlechtsliebe auf, in zweiter Linie war von der Eltern- und Kindesliebe und der Geschwisterliebe die Rede. Die Mutterliebe fand keine Erwähnung. »Einen ebenso natürlichen Grund, wie die Geschlechtsliebe, hat die Ältern- und Kindliebe, sowie die Geschwisterliebe; doch sind diese Arten von Liebe minder vollkommen als die Geschlechtsliebe. Sie beruht nämlich nicht, wie diese, auf einer Ergänzung des Geistes zu seiner ihm gemäßen Völligkeit, sondern auf einer durch den Familienzusammenhalt bedingten Gleichmäßigkeit des geistigen Daseins, und besteht nicht wie die Geschlechtsliebe in In-Einsbildung unterschiedener Geister, sondern in dem Anschauen eines ähnlich ausgebildeten Geistes.«7 Unter dem Stichwort Mutter finden wir keine Eintragung, während dem Vater zwei ganze Seiten gewidmet waren, die sich allerdings nur auf seine gesetzlichen Rechte und Pflichten bezogen. Sogar die Verantwortung für die erste Kindespflege, deren Normen seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts von Ärzten definiert wurden, trug man oft nicht der Mutter allein, sondern den Eltern an, wie aus den Titeln der Ratgeberliteratur des späten 18. Jahrhunderts hervorgeht: »Pflichtmäßige Sorgfalt der Aeltern in Absicht auf die Leibesbildung ihrer Kinder«, 8 »Etwas für Aeltern, die ihre Kinder gern unverwahrlost erhalten möchten«, 9 oder »Unterricht für Eltern zur diätetischen Pflege der Säuglinge«. 1 0 Einen weiteren Hinweis darauf, daß der allgewaltige »pater familias« in ein anderes emotionales Verhältnis zu seinen Kindern trat, finden wir in der neuen Literaturgattung des bürgerlichen Trauerspiels, das die Rolle des Vaters ausgesprochen sentimentalisierte. 11 Und Angelika Lorenz kommt in ihrer Analyse des deutschen Familienbildes in der Malerei des 19. Jahrhunderts angesichts eines Bildes, das die Familie Campe darstellt, zu dem Schluß: »Bei aller patriarchalischen Prägung, die das Bild durch die Postierung des Vaters erfährt, zeigt es auch die Austauschbarkeit der Rollen, denn es ist der Vater, der hier das Kind präsentiert.« 12 Ich würde hier nicht von einer Austauschbarkeit der Rollen sprechen, sondern eher davon, daß eine familiale Einheit dargestellt wurde, in deren emotionales Binnenklima der Vater miteingeschlossen war. Wer für eine neue Haltung gegenüber dem Kinde eintrat, mußte zuerst eine Veränderung im Vater-Kind-Verhältnis bewirken. Dies ist nicht mehr als logisch, denn das innere Machtgefüge in der frühbürgerlichen Familie war noch eindeutig durch die Position des Vaters bestimmt, und an seiner Erziehungsgewalt galt es anzusetzen, wenn man eine Veränderung von Erziehungszielen und -Stilen anstrebte. So forderte der Pädagoge Wolke 1805 Ehemänner auf, ihre Frauen »zu guten Müttern, zu verständigen Erzieherinnen und Lehrerinnen zu bilden«. 13 Es wurde als Pflicht der Mutter angesehen zu stillen, aber gemäß dem Preußischen Landrecht von 1794 bestimmte der Vater, wie lange dieses zu geschehen hatte. Und Madame d'Epinay, eine Freundin und spätere Gegne-

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rin Rousseaus, durfte zu ihrem großen Kummer nicht selber stillen, weil der Gatte dies verboten hatte. 14 Wir haben es um die Wende zum 19. Jahrhundert nach den autobiographischen Schilderungen offenbar mit zwei verschiedenen Familientypen im Bürgertum zu tun. In Familien des ersten Typus hatte man die neuen Erziehungswerte noch nicht zur Kenntnis genommen, und der Hausvater konnte sich noch auf eine uneingeschränkte Autorität berufen. In Familien des zweiten Typus, von dem im folgenden die Rede sein wird, stand das Oberhaupt der Familie zwar auch noch eindeutig an der Spitze einer hierarchischen Familienstruktur, gleichwohl aber hatte sich im Umgang mit den Kindern das Rousseausche Erziehungsideal mindestens auf der normativen Ebene bereits durchgesetzt. 15 Die Schilderung, die Fanny Lewald (geb. 1811) von ihrem Vater gab, scheint mir für die Position des Vaters in Familien dieses zweiten Typus charakteristisch. »Wir wußten, wie gern die Eltern uns Freude machten, wir wußten es aber auch, daß gegen meines Vaters Befehl kein Widerspruch gestattet war, ja ich möchte sagen, wir hatten die Vorstellung nicht, daß wir nicht unbedingt und ohne alle Frage gehorchen müßten. Gehorchte doch Alles im Hause dem Vater auf das Wort: unsere Mutter, seine Mitarbeiter im Geschäft, seine Untergebenen, und die Dienstboten. Die Mutter nannte den Vater, wenn sie von ihm zu der Dienerschaft sprach, immer nur ›der Herr!‹ - und ›der Herr will es!‹ ›der Vater hat es gesagt!‹ das waren Aussprüche, welche für das ganze Haus die Unumstößlichkeit eines Gottesurteils hatten.« 16 Gleichwohl - der ›Herr‹ verhielt sich zu seinen Kindern, wie es das Erziehungskonzept der Aufklärung vorsah. Jeden Abend ging er in die Kinderstube, um Fanny vor der Nacht noch einmal zu sehen. Wie zärtlich und gefühlsbetont der Vater war und wie ernst er gleichzeitig seine Kinder nahm, geht aus folgender Passage hervor: »Auch wir hatten eine große Beharrlichkeit in unseren winterlichen Spielen, bei denen mein Vater ein für allemal die Hauptrolle übernahm. Er hatte, wie er mit mir die Märchenluft theilen konnte, überhaupt trotz seines Ernstes die Gabe, ein Kind mit seinen Kindern zu sein. Müde, arbeitsbeladen, oft auch sorgenvoll, vermochte er es, so lange unsere Spiele währten, so völlig in uns aufzugehen, daß wir nie zu der Empfindung kommen konnten, er lasse sich zu uns herab, er spiele nur mit uns.« 17 Als die Tochter mit den ersten Schulaufgaben zu kämpfen hatte, war er es, der zu Hause nachhalf. In späteren Jahren, als die Tochter die Schule bereits verlassen hatte und untätig zu Hause herumzusitzen drohte, entwarf der Vater eigenhändig einen Stundenplan mit den für Mädchen damals üblichen Fächern. Sicherlich waren weder diese intensive Beschäftigung mit dem Kind noch das harmonische Verhältnis die Regel, gleichwohl scheint etwas daran strukturell begründet gewesen zu sein. Zwar hatte bereits Rousseau kritisch bemerkt, daß der Vater seine Erziehungsaufgabe hinter der Berufspflicht rangieren ließ. »Aber die Geschäfte, der Beruf, die Pflichten! . . . Ach ja, die Pflichten. Ohne Zweifel ist die

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Vaterpflicht die geringste!?« 1 8 Gleichwohl scheinen die Berufspflichten noch nicht den Raum im Leben eines Vaters aus dem Besitz- oder Bildungsbürgertum eingenommen zu haben, wie dies im späteren Verlauf des 19. Jahrhunderts der Fall sein wird. Normalerweise war der Vater noch nicht den ganzen Tag von zu Hause abwesend, und nicht nur bei Fanny Lewald, sondern auch in anderen Autobiographien dieser Zeit wurden ausgedehnte Mittagspausen und andere Gelegenheiten erwähnt, die die ganze Familie zusammenführten. Die Ausdifferenzierung von Berufs- und Familiensphäre war insofern noch nicht so weit vollzogen, als der Vater vielfach noch einen großen Teil seiner Zeit innerhalb der Familie verbrachte. Häufig war auch das Kontor, das Geschäft usw. im gleichen Gebäudekomplex wie die Familienwohnung untergebracht. Gleichzeitig war der Aufgabenbereich der Mutter noch durch vielfältige häusliche Produktionen gekennzeichnet, die eine ständige Beschäftigung mit dem Kind gar nicht zuließen. Hierzu noch einmal Fanny Lewald: »Unser Hausstand umschloß in jenem Augenblicke siebzehn Menschen: die Eltern, acht Kinder, von denen die jüngsten einander fast Jahr auf Jahr gefolgt, und also noch alle völlig hilfsbedürftig waren, drei Commis, einen Lehrling, eine Köchin, die alte Kinderfrau, welche zur Wartung der kleinen Schwestern wieder zu uns zurückgekehrt war, und endlich eine Amme. Das war ein Personal, welches eine Menge von Bedürfnissen hatte, und das um so schwerer zu versorgen war, als man damals in den bürgerlichen Haushaltungen, die sich wie wir einzuschränken und genau über ihre Aufgaben zu wachen hatten, noch eine Art von Wirthschaft führte, die in großen Städten nicht anwendbar ist, und auch in Königsberg vielleicht jetzt nicht mehr üblich sein mag. Sie war insofern sehr vernünftig, als sie den Grundsatz festhielt, daß es vortheilhaft sei, im Großen und Ganzen zu kaufen, wo die Billigkeit des Raumes Ausspeicherung gestattet, aber man hegte daneben das unzweckmäßige Verlangen, alles, was irgend möglich war, im Hause selbst zu fabrizieren. Man richtete sich ein, als lebte man auf dem Lande, und nahm alle Mühen über sich, welche die Entfernung von der Stadt der Landwirthin auferlegt, während man die Dienstboten und Lebensmittel mit städtischen Preisen bezahlen mußte . . . Allwöchentlich wurde das Roggenbrot zu Hause angeteigt, mußte zu Hause säuern und besonders bei dem Bäcker gebacken werden. Gab es einen Geburtstag oder ein Fest, so wurde der Kuchen im Hause gebacken. Die Milch kaufte man, wie sie von der Kuh kam, um selbst die Sahne abzuschöpfen, das Bier ließ man in Fässern kommen und füllte es selbst auf Flaschen. Wurst wurde, wenn man es haben konnte, wenigstens einmal im Jahre im Hause gemacht. Schinken und alle Pökel- und Rauchfleischwaren galten für besser, wenn sie nicht vom Schlächter besorgt waren. Um sich vorteilhafter einzurichten, kaufte man je nach der Jahreszeit halbe Hammel, halbe Kälber und halbe Schweine. Daß bei solchen Ansichten alles Federvieh im Hause gemästet, im Hause gerupft wurde, daß man die Federn sammelte und sie schleißen ließ, und daß also natürlich auch alles was irgend möglich war, im Hause gestrickt, genäht und geschneidert wurde, braucht nicht erst erwähnt zu werden. Die Grille der Selbstfabrikation ging so weit, daß man die Töchter nicht nur im Schneidern und Putzmachen unterrichten ließ, was insofern sehr vernünftig war, als es uns geschickt und unabhängig machte, sondern man ließ eine Zeit hindurch auch Schuhmacher in die Familie kommen, um

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das Schuhmachen zu lernen, um die Damen- und Kinderschuhe im Hause verfertigen zu können.«19 Mit der Industrialisierung und der Ausweitung bürokratischer Verwaltungsapparate wurde die Grenze zwischen Erwerbs- und Familienleben schärfer markiert. Der Vater war nicht mehr Hausvater, sondern primär Berufsmensch, und aufgrund der gesteigerten Produktion von Konsumgütern wurde die Mutter mehr und mehr für ihre ›weiblichen‹ Aufgaben als Gattin und Mutter freigesetzt. Der Übergang von der familialen Hausgemeinschaft des frühen 19. Jahrhunderts zur Repräsentationsfamilie des späteren 19. Jahrhunderts ist beispielhaft in einer Bildanalyse von Angelika Lorenz eingefangen. Die Bilder datieren von 1828 und zeigen die Familie Oldach, eine wohlhabende Handwerkerfamilie. »Die Mutter ist ganz im Sinne des noch im 18. Jahrhundert verhafteten Hausfrauenund Hausmutter-Ethos angegeben. Als Vorstand der Hauswirtschaft beaufsichtigt sie in einem Bild die Anlieferung von Gemüse und anderen Waren. Dabei in der Hausdiele stehend, mit dem großen Schlüsselbund ausgerüstet und eine Hand in die Hüfte gestützt, strahlt ihre Figur Selbstbewußtsein und Autorität aus . . . Die Töchter sind bei all diesen letztendlich subsistenziellen Haushalts- und Familienangelegenheiten nicht anwesend. Betty, die Älteste, kümmert sich zwar um den Haushalt, indem sie die beiden Jüngsten vor ihrem Schulgang mit Butterbroten versorgt, der Szene haftet jedoch wenig Arbeitscharakter an. Ihre Schwester Marie ist beim Klavierunterricht gezeigt, den sie durch einen elegant gekleideten älteren Herrn erhält. Solchermaßen gekennzeichnet, befinden sich beide Mädchen auf dem Weg zur ›Dame des Hauses‹. Tendenziell untätig, Arbeit delegierend, zeichnen sie ein Frauenbild, wie es in dem aufstrebenden bürgerlichen Kreise der zweiten Jahrhunderthälfte als wünschenswert galt. Es ist fast undenkbar, sie sich am Platz der Mutter vorzustellen, in der Ehe mit einem Handwerker.«20

Mutter-Kind- und Vater-Kind-Verhältnis im späteren 19. Jahrhundert Es ist vielfach betont worden, daß Frauen mit dem Verlust ihrer Produktionsfunktionen auch einen Verlust an Einfluß und Macht in der Familie erlitten. 21 Gleichzeitig aber gewannen Frauen auch einen neuen Verantwortungsbereich, denn de facto waren es nun die Mütter, die vor allem für die Pflege und Erziehung der kleinen Kinder und der Töchter zuständig waren. Die Vaterpflichten traten gegenüber denen der Mutter in den Hintergrund. Dies wurde auch daran ersichtlich, daß die ärztlichen Ratgeber verstärkt einen Wechsel ihrer Adressaten vornahmen. Nicht mehr die Eltern wurden primär angesprochen, sondern die Mütter, wie folgende Titel demonstrieren: »Lesebuch für angehende und zukünftige Mütter«, 2 2 »Guter Rath an Mütter über die wichtigsten Punkte der physischen Erziehung der Kinder in den ersten Jahren«, 2 3 »Über die Erziehung und Behandlung der Kinder in

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den ersten Lebensjahren - ein Handbuch für Mütter, denen die Gesundheit ihrer Kinder am Herzen liegt«, 24 »Anleitung für Mütter zur Ernährung und Behandlung der Kinder in den ersten Lebensjahren«,25 »Über die Ernährung der Kinder in den ersten Jahren zur Belehrung der Mütter«, 26 »Über die vorzüglichsten Fehler im Verhalten der Schwangeren, Wöchnerinnen und Säugenden, sowie der Behandlung der Kinder im ersten Lebensjahr«.27 Während Zückert sich 1799 wenigstens formal noch an die Hausväter und Hausmütter wandte, tauchte der Vater bei von Ammon im Jahre 1872 überhaupt nicht mehr auf.28 Die Übernahme der hoch bewerteten Verantwortung für das Kind mußte aber erst erlernt werden. Hier setzten sowohl die Ärzte als auch die Pädagogen als Erzieher der Frauen an, wobei die bisherige Einflußdomäne des Vaters seitens außerfamilialer wissenschaftlicher Instanzen eine gewisse Konkurrenz erhielt. Pestalozzi z. B. zählte 1818 einige typische Merkmale des weiblichen Geschlechtscharakters auf, die die Frau als eher ungeeignet für die Erziehung des Kindes auswiesen, um dann fortzufahren, daß sie sich trotz dieser Mängel an diese Aufgabe herantrauen solle. »Sprich nicht von Mängeln deiner Kenntnisse, - Liebe soll sie ersetzen; - von Begrenztheit in deinen Mitteln, - Vorsehung wird sie erweitern; - von Schwäche deiner Willenskraft, - der Geist der Kraft selbst wird sie stärken.«29 An anderer Stelle sprach Pestalozzi von der »denkenden Liebe« der Mutter, ein Begriff, der andeutet, daß es Pestalozzi nicht allein um die als »natürlich« gedachte Mutterliebe ging, sondern um Qualitäten, die über den weiblichen Geschlechtscharakter hinausweisen. Der Grund dafür, daß in den USA bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts dem Vater die Erzieherrolle zufiel, wird darin gesehen, daß die meisten Frauen nicht lesen und schreiben konnten und daher als ungeeignet für die Erziehung der Kinder galten.30 Diese These halte ich allerdings für auf Deutschland nicht anwendbar, denn die Idee, die Mutter sei die geeignetste und wichtigste Person für die Erziehung der Kinder, fand zunächst im Bürgertum Verbreitung. Und die bürgerlichen Frauen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts waren zwar ungebildet, aber nicht illiterat. Die von Ärzten geforderte Umstellung von traditionalem auf methodisch-rationales Handeln im Umgang mit dem kindlichen Körper erforderte aber im Prinzip Eigenschaften und Kompetenzen, wie sie angeblich nur dem Mann eigneten. In den Verhaltensanleitungen für Mütter amalgamierten sich denn auch zwei unterschiedliche Tendenzen: Einerseits wurde an ein Pflichtbewußtsein appelliert, das der Erfüllung männlicher Berufspflicht korrespondierte, andererseits wurde die Mutter-Kind-Beziehung als genuiner Bestandteil weiblichen Wesens sentimentalisiert. »Wehe dem Mutterherzen, welchem die Vollziehung dieser Pflicht [hier das Stillen, Y. S. ] nicht süß, nicht leicht wird, wehe der Mutter, die sich nicht in jedem Verlangen des Säuglings nach ihrem Busen, in dem sichtbaren Wachstum des Kindes, in dem Lächeln nach dem Genusse, in dem Suchen seiner Händchen für die Beschwerden, 124 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

zehnfach belohnt fühlt. Was ist schöner als das Bild einer glücklichen Mutter. Liebe und Sitte und wahre Kindesliebe sind das Element des Weibes! Und jede Pflichterfüllung trägt ihren Lohn, wie jede Pflichtversäumnis ihre Strafe in sich selbst.« 31 Nicht minder zwingend als die Mutterpflichten waren die der Gattin, die die Karriereambitionen des Gatten in Ausübung von Repräsentationspflichten zu fordern hatte. Und auch die eheliche Beziehung wurde als Pflicht aufgefaßt. Diese widersprüchliche Konstellation, in der Frauen pflichtmäßig Gefühle zu produzieren hatten, spiegelt sich in der Schilderung, die Lily Braun (geb. 1865) von ihrer Mutter gab. »Vergebens hatte man versucht, mich an die Brust meiner Mutter zu legen. War es ihre innere Abneigung, die sie nur im Gefühl, eine Pflicht erfüllen zu müssen, überwinden wollte, war es mein früh erwachter Eigensinn, - kurz, Mutter und Kind schienen nichts voneinander wissen zu wollen.« 32 Und noch einmal Lily Braun: »Alles, was Mama ζ. Β. tat, wenn sie ein recht unzufriedenes Gesicht dazu machte, erklärte sie für Pflichterfüllung: die schmutzige Wäsche selber zählen, obwohl drei Dienstboten daneben standen, die Zutaten zum Kochen herausgeben, obwohl wir eine vortreffliche französische Köchin hatten, nachmittags mit mir Spazierengehen, obwohl wir uns beide schrecklich dabei langweilten, - j a selbst die Dämmerstunden bei Papa, wo er zu Frau und Kind gern zärtlich war, schienen mir nach ihrem Ausdruck zu schließen, in dieses Gebiet zu gehören.« 33 Ähnlich Heinz Ullstein (geb. 1893), der über seine Mutter schrieb: »Sie hatte an nichts Freude und tat nichts aus Freude. Was sie machte, tat sie aus Pflichtgefühl oder von Ehrgeiz getrieben oder aus beiden Gründen.«34 Die an die Mutter delegierte Verantwortlichkeit für das Kind hatte ein doppeltes Gesicht: Einerseits wurde die Frau aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen und auf ihre Funktionen als Geschlechtswesen reduziert, andererseits aber bedeutete diese Verantwortlichkeit innerhalb der Familie auch einen Schritt zur Emanzipation von der Bevormundung durch den Mann und zur Demokratisierung der Ehe. Dies hatte schon im 18. Jahrhundert die bereits erwähnte Madame d'Epinay behauptet, die in der Rolle der Mutter als Pädagogin das Mittel zur Befreiung der Frau erkannte. 3 5 Der entscheidende, wenn auch ambivalente Zugewinn, der den Frauen durch die neue Verantwortlichkeit für das Kind zufiel, war aber die emotionale Bindung des Kindes an die Mutter, eine Bindung, deren quasi naturwüchsige Ausschließlichkeit bis in unsere Tage kaum bezweifelt wird. Dies hatte zur Folge, daß der Vater an die Peripherie der auf Emotionalität gegründeten Binnenstruktur der Familie rückte. Er war zwar aller Mühewaltung im täglichen U m g a n g mit dem Kind enthoben, aber gleichzeitig war seine Rolle als oberster Normenvollstrecker auch nicht gerade eine glückliche. Hinzu kam, daß sich im Vergleich zum frühen 19. Jahrhundert die Erziehungsgrundsätze verschärften. Immer häufiger war von früher

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Unterordnung und Gehorsamspflicht auch des kleinen Kindes die Rede. So war z. Β. der Arzt Bayerthal 1897 davon überzeugt, daß zum Zwecke der Disziplinierung der Vater zum Einsatz kommen sollte. »Vom Tage der Geburt an verlangt die unentbehrliche Konsequenz der Erziehungsgrundsätze manch schwere Überwindung des elterlichen Herzens, und hier muß der Vater direkt oder indirekt eintreten, ihm fällt diese Selbstüberwindung leichter wie der Mutter, welche im allgemeinen von der Natur zu weich ist.« 36 Die Ausgrenzung des Vaters aus der Mutter-Kind-Dyade hat in der Ödipuskomplextheorie ihren Niederschlag gefunden, und vielleicht ist der Gedanke nicht abwegig, daß es sich bei dieser Theorie um einen Abwehrmechanismus handelt, der unter dem Begriff »Verkehrung ins Gegenteil« figuriert: Nicht der Sohn rivalisiert mit dem Vater um die Zuwendung der Mutter, sondern umgekehrt. In der Ödipus-Theorie ist die Kastrationsangst des Sohnes eine phantasierte; weil er die Mutter begehrt, fürchtet er die Rache des Vaters. Im umgekehrten Falle hätte die Kastrationsangst insofern einen realen Kern, als der Sohn, gleichsam im völligen Besitz der mütterlichen Zuwendung, allen Grund hat, den Vater zu fürchten. Freud, der von seiner Mutter »mein goldiger Sigi« genannt wurde, wird als Erwachsener einmal folgenden Satz schreiben: »Wenn man der unbestrittene Liebling der Mutter gewesen ist, so behält man fürs Leben jenes Eroberergefühl, jene Zuversicht des Erfolges, welche nicht selten wirklich den Erfolg nach sich zieht.« 3 7 Ich will diese Spekulation nicht weitertreiben, sondern nur festhalten, daß die Ausgrenzung des Vaters aus der Mutter-Kind-Dyade sich als noch langlebigeres Element der Konstruktion polarer Geschlechtscharaktere erhalten hat als die Ausgrenzung der Frau aus öffentlichen Bereichen und Karrieremustern. Noch Mitte des 20. Jahrhunderts befand der Psychoanalytiker Winnicott über die Funktion des Vaters: »Das erste, was ich sagen möchte, ist, daß der Vater zu Hause gebraucht wird, um der Mutter zu helfen, sich körperlich und psychisch gut zu fühlen . . . Zweitens ist der Vater dazu da, um der Mutter moralische Unterstützung zu geben, gleichsam als Rückgrat ihrer Autorität . . . Ab und zu haßt das Kind jemanden, und wenn der Vater nicht da ist, um ihm zu sagen, wo es lang geht, wird es seine Mutter hassen, und dies wird das Kind verwirren, weil es nämlich die Mutter ist, die es am meisten liebt.« 38 Die zunehmende Randständigkeit des Vaters im 19. Jahrhundert spiegelte sich auch in der Wahrnehmung der Kinder. Irene Hardach-Pinke, die Autobiographien des 18. und 19. Jahrhunderts auswertete, kommt zu dem Schluß, daß im 18. Jahrhundert »seitenlang über die Väter aus dem höheren Bürgertum berichtet wird, während den Müttern nur einige wenige Sätze gewidmet sind.« Dagegen heißt es vom 19. Jahrhundert: »Mütter werden . . . nicht nur so ausführlich geschildert wie die Väter, sondern treten in den Schilderungen der Eltern gegenüber den Vätern in den Vordergrund.« 39 Wie Väter das Verhältnis zu ihren Kindern interpretierten, darüber erfährt man in den Autobiographien der Männer fast nichts. Sie schildern ihre

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eigene Kindheit, dann wird oft eher beiläufig die Eheschließung vermerkt, und was die Kinder betrifft, wird allenfalls noch ihre Geburt erwähnt. Ansonsten wird die Darstellung des eigenen Lebensweges dem beruflichen Aufstieg, den politischen Zeitläufen und anderen außerfamilialen Ereignissen gewidmet. Diese Zurückhaltung bei der Schilderung des Familienlebens muß nicht notwendigerweise bedeuten, daß die Kinder keine große Rolle spielten, aber eine ausführliche Schilderung von Kinderstubengeschichten wäre nicht mit der männlichen Identität vereinbar gewesen. Die Imperative des männlichen Geschlechtscharakters, nicht weniger rigoros als die des weiblichen, erforderten von Vätern die Unterdrückung von Gefühlen, Passivitätswünschen und Schwäche. War es für Frauen verpönt, Intellektualität zu demonstrieren, mußten Männer ihrer Gefühle »mannhaft Herr werden«. Als der 13jährige Gustav zu Putlitz 1834 das Elternhaus verließ, um ins Internat zu gehen, spielte sich folgende Szene zwischen ihm und dem Vater ab: »Mein Vater war mir immer ein liebevoller, nie ein zärtlicher Vater gewesen; er vermied den äußeren Ausdruck des Gemütes, die Zeichen der Empfindung. Wie einen jüngeren Freund hatte er mich behandelt; aber ich entsann mich nicht, daß er mir je einen Kuß gegeben, noch daß ich bei irgendeinem Ereignis eine Träne der Rührung oder Trauer in seinem Auge bemerkt hätte. Als wir nun dastanden auf dem dunklen Vorflur, von dem ich in einen neuen Lebensabschnitt eintreten sollte, den ich mit bangem Herzen begann, beugte sich mein Vater zu mir nieder, küßte mich, und ich fühlte eine Träne auf meine Wange fallen. Dann faßte er sich schnell, und gleich darauf fiel die schwere Tür der Pforte dröhnend hinter ihm zu.« 40 Daß im Vergleich zum 18. Jahrhundert das männliche Rollenmodell mehr Zurückhaltung, Ernsthaftigkeit und Nüchternheit vorschrieb, scheint auch manchem damaligen Zeitgenossen aufgefallen zu sein. So schrieb Gustav Dinter (geb. 1760) im Jahre 1829 über seinen Vater, einen »Rechtsgelehrten«: »Mein Vater war einer der fröhlichsten Männer, die ich in meinem Leben gekannt habe . . . Seine Heiterkeit ging oft in das über, was man in unseren ernsteren, steiferen, aber darum nicht besseren Zeiten Ausgelassenheit, vielleicht gar Ungezogenheit nennen würde.« 4 1 Väter des 19. Jahrhunderts wurden denn auch häufig als kühl, distanziert und streng geschildert. Diese Strenge und emotionale Distanziertheit traf besonders die Söhne, denn ihnen präsentierte sich der Vater als Verhaltensmodell. In der Beziehung zu ihren Töchtern gaben sich die Väter oft weicher. Auffällig ist, daß gerade die Frauen, denen es im späteren Leben gelang, ihre intellektuellen Ambitionen auch zu realisieren, sich häufig mit ihren Vätern identifizierten und Rückhalt bei ihnen fanden, selbst wenn diese das Treiben der Töchter mißbilligten. Aber für die Kinder beiderlei Geschlechts galt gleichermaßen: Väter durften nicht gestört werden. Sie lebten in einer den Kindern weitgehend verschlossenen Welt und traten nur als oberste Instanz auf den Plan. So schrieb Klaus Mann (geb. 1906) über den Vater:

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»Im übrigen blieb er meist in seinem Arbeitszimmer, das wir kaum betreten durften. Wir wurden angehalten leise zu sein, und vergaßen wir es, mahnte uns das trockene Räuspern, das wir hinter der verschlossenen Tür hörten. In sämtlichen Alltagsfragen war Mielein zuständig; so war Mielein gewissermaßen mächtiger als er. Andererseits empfanden wir ihm gegenüber eine viel tiefere Schüchternheit. Gegen Mieleins Entschlüsse oder Befehle gab es immerhin die innere Möglichkeit einer Auflehnung, einer Rebellion. Er war aber die letzte Instanz. Irgendwo ist kein Einspruch mehr möglich.« 42 Die beinahe einzige legitime männliche Gefühlsäußerung war der Zorn, von dem Väter mit einer Spontaneität Gebrauch gemacht zu haben scheinen, wie sie im Prinzip dem männlichen Geschlechtscharakter nicht anstand. Väter wurden ob ihrer heftigen Zornesausbrüche, wirklicher oder auch nur antizipierter, gefürchtet. Beispielhaft hierfür ist eine Episode, die Marie von Ebner-Eschenbach (geb. 1830) in ihren Kindheitserinnerungen schilderte, Ebner-Eschenbachs Vater war adliger Gutsbesitzer, doch entsprach nach eigener Ausage das Familienleben durchaus dem bürgerlichen Modell. »Man hatte sie [die Furcht, Y. S. ] uns in der Kinderstube eingeflößt durch eine Drohung, die sich nie erfüllte, stets aber wirksam blieb: ›Wartet nur, ich sag's dem Papa, und dann werdet ihr sehen!‹ Was wir sehen würden, blieb in ein Dunkel gehüllt, das unsere Phantasie mit Schrecknissen bevölkerte. Kein Wunder. Den Zorn unseres Vaters zu erfahren, wäre entsetzlich gewesen. Nicht nur kleinen, auch erwachsenen Leuten leuchtete das ein. So liebenswürdig Papa in guten Stunden sein konnte, so furchtbar in seinem unbegreiflich leicht gereizten Zorn. Da wurden seine blauen Augen starr und hatten den harten Glanz des Stahls, seine kraftvolle Stimme erhob sich dräuend - und vor diesen Augen, dieser Stimme hätten wir in den Boden versinken mögen, wenn wir uns auch nicht der geringsten Schuld bewußt waren. Zum Schaden unseres Verhältnisses zu ihm, ließ sich Papa in gereizter Stimmung manchmal zu dem unglückseligen Ausspruch hinreißen: ›Nicht geliebt will ich sein, sondern gefürchtet!‹ Wie sehr er sich damit täuschte, lernten wir später einsehen; als Kinder nahmen wir die Sache als ausgemacht an und taten ihm den Willen, weit über seine eigene Erwartung . . . Ich erinnere mich eines Tages, an dem meine Schwester das Mißgeschick erfuhr, beim Spielen mit dem Balle, eine Fensterscheibe einzuschlagen. Nun war uns die peinlichste Sorgfalt für alles zerbrechliche, das uns umgab, zum Gesetz gemacht worden, und die arme Kleine, die sich so schwer daran vergangen hatte, geriet in sinnlose Verzweiflung. ›Der Papa! der Papa!‹ rief sie in Todesangst, kniete auf den Boden nieder, rang die Händchen, faltete sie und schluchzte herzzerreißend. Wir umstanden sie betroffen und ratlos . . . Ganz umsonst. Sie war schon blau im Gesichte, stoßweise rang sich der Atem aus ihrer Brust, in Bächen rannnen die Tränen über ihre Wangen. Großmama, sehr besorgt, . . . verließ . . . das Zimmer. Bald darauf betrat sie es wieder, und wer kam hinter ihr hergeschritten? Der unbewußte Urheber all dieses Leides und Schreckens - der Papa. Lautlose Stille empfing ihn. Fritzi verstummte. Keines von uns regte sich. Der Blick des Vater glitt über die Gruppe seiner bestürzten, angsterfüllten Kinder und blieb auf der kleinen Knienden haften. Sie war wie versteinert. Ihre prachtvollen

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braunen Augen starrten weitgeöffnet zum Vater empor; nur die Lippen des schmerzverzogenen Mundes zuckten. Und jetzt ließ sich eine überaus sanfte Stimme schmeichelnd, ja bittend vernehmen: ›Fritzi, meine Fritzi, weine nicht! Meine Fritzi soll nicht weinen, meine Fritzi ist ja brav. Ich hab ja meine Fritzi lieb!‹ Und auf einmal sahen wir unsere Älteste hoch über uns erhoben in den Armen Papas und hörten sie wieder schluchzen, aber bei weitem nicht mehr so heftig wie früher. Der Papa lachte: »Dummheit! Dummheit! Die Fritzi hat ein Fenster zerschlagen; das macht nichts. Der Papa ist ja gar nicht bös - der Papa . . . Schau her, Fritzi, schau, was der Papa tut!‹ Er ließ sich ihren Ball reichen und schleuderte ihn durch das nächste Doppelfenster, dessen beide Scheiben er, wie aus der Pistole geschossen, durchflog. Eine Sekunde schweigender Überraschung und dann lag, an die Schulter des Papas geschmiegt, Fritzis selig lächelndes Gesichtchen.«43 Aufschlußreich an dieser Szene scheint mir, daß die versöhnliche Geste des Vaters durch eine Gewalttätigkeit seinerseits demonstriert wurde: Er warf selber eine Fensterscheibe ein. Eine ähnliche Darstellung des ansonsten von ihr sehr geliebten Vaters gab Lily Braun: »Laute, harte Worte zu hören, verwundete mich aufs tiefste, und die Liebesbeweise, mit denen mein Vater mich nach jedem Ausbruch seiner Heftigkeit in doppeltem Maße überschüttete, vermochten den Eindruck nicht auszulöschen.«44 Und obwohl der Vater Gustav Freytags (geb. 1816) sich nicht scheute, innerhalb der Familie seine sonstige »Zurückhaltung, welche jede Vertraulichkeit ausschloß«, aufzugeben, heißt es von ihm: »Die volle Wärme seines Gemüths kam nur gegen Weib und Kind zu tage, gegen die Söhne war er von immer gleichbleibender Milde und Freundlichkeit, die Strafen vollzog die Mutter, sie war Mahnerin und Vertraute, der Vater aber, der doch nie schalt, gefürchtet und verehrt.« 45 Ähnlich Minna Cauer (geb. 1841) über ihren Vater: »Seine Ewige Ruhe, sein stets gleichmäßiges Wesen erlaubte nie ein rechtes Näherkommen. Er hatte eine Welt für sich. Wohl trat er zu weilen in sehr heiteren Stunden aus sich heraus, und dann sprudelte alles von Laune und Geist, aber im ganzen war das so selten, daß ich mich jeder dieser Stunden erinnere. Später erst, als ich seinen schweren Lebensweg kennen lernte und selbst schon etwas durchgemacht hatte, begriff ich, wie dieser stete Ernst und dabei diese liebe Milde, der Grundzug seines Wesens geworden ist.« 46 Gleichgültig, ob die Mutter nun, wie im Falle Gustav Freytags, die disziplinierende Instanz darstellte, was übrigens keine Seltenheit war, oder ob sie wie die Mutter Fontanes die Strafaktionen an einen nichtsahnenden Vater delegierte, jedenfalls war sie es, die die kleinen Freuden und Kümmernisse der Kinder kannte und teilte. In ihrer Novelle »Ob Spät, ob Früh« stellte Marie von Ebner-Eschenbach in literarisch vielleicht noch nicht einmal allzu überspitzter Form die typische Familienstruktur im höheren Bürgertum des

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späten 19. Jahrhunderts dar. Zunächst ging es um die Situation nach der Eheschließung: »Und dann nach ihrer Verheiratung sah sie ein, und es bereitete ihr nicht einmal eine Enttäuschung, daß sie in seinem Dasein nur eine Nebenrolle spielen könnte. Seine Interessen lagen außerhalb der Familieninteressen. Im Amte blieb sein Herz, sein Geist, das Genie, von dem er gestreift war, zurück. Nach Hause kam ein feierlicher, schweigsamer Herr, der sich verwunderte, wenn seine Frau ihm Rechenschaft geben wollte von irgend einer Anordnung, die sie getroffen hatte . . . Sein Knabe wuchs prächtig unter der Obhut der Mutter, der vielbeschäftigte Vater bemerkte nicht, daß sein Junge ihn nie ansprach, immer erst ermahnt werden mußte, ihm guten Morgen oder gute Nacht zu sagen, von seinem Ein- und Ausgehen nicht mehr Notiz nahm, als wenn ein Schatten hin und her geglitten wäre. Für den Knaben bestand sein Elternhaus in einer zärtlichen, allgütigen, immer anwesenden Mutter und einem großen, breitschultrigen Herrn, dem er Respekt zu zeigen hatte. Wenn die Leute mit ihm von seiner Mutter sprachen, sagten sie immer ›die Mama‹. Beim Vater wechselte von Zeit zu Zeit die Titulatur. Er wurde, soweit Harald zurückdachte, ›der Herr Ministerialrat‹, später ›der Herr Sektionschef und seit einigen Jahren ›der Herr Baron‹ genannt.«47 Als der Sohn 16 Jahre alt war, sollte er von einem Kuraufenthalt, den er natürlich mit der Mutter verbrachte, dem Vater den längst fälligen Brief schreiben: »›Ach Mama! Ach Mama!‹ Er stieß einen tiefen Seufzer aus, streckte die Arme empor und rang die Hände: ›Es ist so schwer!‹ ›Schwer- was denn?‹ ›Den Brief zu schreiben, den Brief an den Vater.‹ ›Das ist nicht dein Ernst.‹ ›Ich kann mir nicht helfen - ja! Mein Gott, was mich interessiert, interessiert ihn nicht . . . Sag nicht nein! Sag nicht nein! Wenn du's noch so sehr leugnest, ich fühl es doch.‹ ›Es wäre sehr traurig, Harald. ‹ ›Mich hat es nie traurig gemacht . . . Aber warte, setz dich - ich weiß jetzt einen Schluß.‹ Und er schrieb sorgfältig mit schönen großen Buchstaben: ›Eben kommt Mama, um mich zu einem Spaziergang abzuholen. Wir müssen uns beeilen, denn es hat kaum zu regnen aufgehört und dürfte bald wieder anfangen. Lebe wohl, lieber Vater! Ich hoffe, daß diese Zeilen Dich in bestem Wohlsein finden, küsse Deine Hand und bin Dein dankbarer Sohn Harald.‹«48 Meine Darstellung bürgerlicher Väter des 19. Jahrhunderts ist freilich nur eine Typisierung, wie ich sie aus Autobiographien herauspräpariert habe, und es gibt sicherlich viele Beispiele, die sich diesem Typus nicht fügen. In der unveröffentlichten Autobiographie der Emma Margarete Haas, Frau eines Friedensrichters, tritt uns ein solcher Ehemann und Vater entgegen. 1873 bekam Emma Margarete Haas ihr erstes Kind. Als die zur Geburt herbeigeeilte Mutter wieder abreiste, ging es den jungen Eltern »sehr nahe, nun die Verantwortung für die Aufzucht und Ernährung des Kindes . . . zu übernehmen. Richard [der Ehemann, Y. S.] brach in lautes Weinen aus, so schwer nahm er es . . . Damals gab es noch keine so festgelegte Kinderpflege wie später; die Mahlzeiten wurden nicht so genau eingehalten, nachts wurde das Kind angelegt, wenn es unruhig war und schrie, und nicht ein- sondern mehrere Male. Ich nahm es

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ins Bett und so lag es beliebig an der Quelle. Schrie es gar zu toll, so trug es Richard wer weiß wie lange im Zimmer herum und sang ihm; kein Wunder, daß das Kind schlecht gewöhnt wurde und eine Plage für die Eltern war.« 49 Abschließend möchte ich die Ausdifferenzierung der Mutter- und der Vaterrolle noch einmal im Hinblick auf ihre Funktion innerhalb der bürgerlichen Familie betrachten. Dem Anspruch nach sollten sich die polarisierten Geschlechtscharaktere zur Harmonie ergänzen und ein Bollwerk gegen die Eingriffe außerfamilialer Strukturen bilden. In der Realität aber erwies sich dieses Modell als eines, das die Einheit der Familie gefährdete, und dies sowohl auf der innerfamilialen als auch auf der außerfamilialen Ebene. Die innerfamiliale Einheit drohte zu zerfallen, da die emotionale Dimension sich auf die Mutter-Kind-Beziehung beschränkte, aus der der Vater tendenziell ausgeschlossen war. Als bürgerliche Institution war die Familie insofern gefährdet, als im Prinzip nur der Mann ein tätiges Mitglied der Gesellschaft war, während die von bürgerlichen Tätigkeiten ausgeschlossene Frau als Bürgerin zum Müßiggang verurteilt war. In diesem Sinne hatte sich bereits Theodor Gottlieb von Hippel im späten 18. Jahrhundert geäußert: »Da der Zweck und die Bestimmung der Menschen in der Ausbildung des ganzen menschlichen Geschlechts besteht, welche nur durch die Entwicklung aller Kräfte und Fähigkeiten der sinnlichen und geistigen Natur erreicht werden kann; so sind die Weiber so lange müßig, als man sie zu den Trieben der Thiere, zu Tisch und Bett, zur Selbsterhaltung und Fortpflanzung erniedrigt. Dieser Müßiggang von besonderer Art, welcher in der Unterlassung jener Arbeit besteht, wozu die Kräfte des Individuums nicht zureichen, sondern wozu vereinigte Kräfte erforderlich sind, die man nicht anders kennen, anwenden und verstärken kann, als wenn man in bürgerliche Verhältnisse gesetzt wird; dieser Müßiggang hat das männliche Geschlecht vorzüglich zur Ueberlegenheit über die Weiber gebracht und darin erhalten, indem die bürgerliche Thätigkeit einzig und allein, Menschen einen Wert beilegt.« 50 Die von der Frauenbewegung seit Mitte des 19. Jahrhunderts ausgehende Forderung, an bürgerlichen Tätigkeiten beteiligt zu werden, hatte daher keineswegs die Intention, die Familie zu zerstören. Vielmehr sollte die Einspeisung weiblicher und vor allem mütterlicher Qualifikationen in die Gesellschaft helfen, die bürgerlichen Verhältnisse und auch die Familie zu verbessern. Während es seit der Jahrhundertwende den Frauen in öffentlichen Bereichen zumindest tendenziell gelang, die eng gezogenen Grenzen ihres ›weiblichen Wesens‹ zu überschreiten, blieben sie im Verhältnis zum Kinde weiterhin die Alleinverantwortlichen für dessen physisches und psychisches Gedeihen. Die gesellschaftliche Emanzipation eilte der innerfamilialen voraus. Erst in der Gegenwart zeichnen sich Tendenzen ab, das Gefühlsmonopol der Frau abzubauen und damit die Möglichkeit zu eröffnen, den Vater wieder in die Mutter-Kind-Beziehung zu integrieren. Die Weigerung der Frauen des späten 20. Jahrhunderts, weiterhin auf das zäheste

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Element ihres Geschlechtscharakters, die Mütterlichkeit, festgelegt zu werden, ist nicht - wie immer wieder geargwöhnt wird - ein Angriff auf die Familie, sondern vermutlich das einzige Mittel, die emotionale Einheit der Familie zu stabilisieren.

Anmerkungen 1 Institut fir Sozialforschung (Hg.), Soziologische Exkurse, Frankfurt 1956, Art. »Familie«, S. 116-123, hier S. 117. 2 Ebd., S. 120, 122. 3 J . - J . Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, Paderborn 1963, S. 81. S. dazu auch R. Wild, Die Vernunft der Väter, Stuttgart 1987. 4 Rousseau, S. 26. 5 Ebd. 6 C. F. Kaestle u. M . A. Vinovskis, From Apron Springs to ABCs. Parents, Children and Schooling in Nineteenth-Century Massachusetts, in: J . Demos u. S. S. Boocock (Hg.), Turning Points, Chicago 1978, S. 39-80. 7 Bilder-Conversations-Lexicon für das deutsche Volk. Ein Handbuch zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse und zur Unterhaltung, Leipzig 1838, Bd. 2, S. 744. 8 J . Herzog, Pflichtmäßige Sorgfalt der Aeltern in Absicht auf die Leibesbildung ihrer Kinder, Dresden 1782. 9 J . Horstig, Etwas für Aeltern, die ihre Kinder gern unverwahrlost erhalten möchten, Leipzig 1796. 10 J . F. Zückert, Unterricht für Eltern zur diätetischen Pflege der Säuglinge, Berlin 1771/ 1799. 11 P. Szondi, Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert. Der Kaufmann, der Hausvater und der Hofmeister, Frankfurt 1973. 12 A. Lorenz, Das deutsche Familienbild in der Malerei des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 1985, S. 98. 13 Zit. in: B. Marré, Bücher für Mütter als pädagogische Literaturgattung und ihre Aussagen über Erziehung, 1762-1851, Weinheim 1986, S. 31. 14 E. Badinter, Emilie, Emilie. Weiblicher Lebensentwurf im 18. Jahrhundert, München 1984, S. 151ff. 15 H.-H. Muchow, Jugend und Zeitgeist. Morphologie der Kulturpubertät, Reinbek 1962, S. 69 ff. 16 F. Lewald, Meine Lebensgeschichte, Bd. 1, Berlin 1871, S. 126. 17 Ebd., S. 121 f. 18 Rousseau, Emil, S. 26. 19 Lewald, Lebensgeschichte, Bd. 1, S. 235-238. 20 Lorenz, Familienbild, S. 178f. 21 C. Honegger u. B. Heintz (Hg.), Listen der Ohnmacht, Frankfurt 1981, S. 15 ff. 22 J . Essich, Unterricht für Mütter und Kinderwärterinnen, Kinder in gesunden und kranken Tagen gehörig zu behandeln, Augsburg 1788. 23 C. Hufeland, Guter Rath an Muetter über die wichtigsten Punkte der physischen Erziehung der Kinder in den ersten Jahren, Leipzig 1865/1799. 24 C. A. Siruwe, Über die Erziehung und Behandlung der Kinder in den ersten Lebensjahren; ein Handbuch für Mütter, denen die Gesundheit ihrer Kinder am Herzen liegt, Hannover 1798. 25 E. W. Wallich, Anleitung für Mütter zur Ernährung und Behandlung der Kinder in den ersten Lebensjahren, Wien 1810.

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26 J . H. Sternberg, Über die Ernährung der Kinder in den ersten Jahren, zur Belehrung der Mütter, Hamburg 1802. 27 J . N. Thomann, Über die vorzüglichsten Fehler im Verhalten der Schwangeren, Wöchnerinnen und Säugenden, sowie der Behandlung der Kinder im ersten Lebensjahre, Berlin 1818. 28 F. A. v. Ammon, Die ersten Mutterpflichten und die erste Kinderpflege. Zur Belehrung junger Frauen und Mütter. Dresden 1827. 29 H. Pestalozzi, Mutter und Kind, Zürich 1924, S. 21 ff. 30 S. M. Juster u. M. A. Vinovskis, Changing Perspectives on the American Family in the Past, erscheint in: K. Kreppnern. R. Lerner (Hg.), Family Systems and Life Span Development, Hillsdale 1988. 31 Ammon, Mutterpflichten, S. 41. 32 L. Braun, Memoiren einer Sozialistin, Bd. 1, München 1924, S. 18. 33 Ebd., S. 39. 34 Zit. in: J . Hardach-Pinke, Kinderalltag, Frankfurt 1981, S. 122. 35 Badinter, Emilie, S. 155ff. 36 Zit. in: Η. Η. Raspe, Kinderärzte als Erzieher. Ein spezieller Beitrag zur allgemeinen Gschichte der deutschen Pädiatrie (1800-1908), Diss. Freiburg 1973, S. 136. 37 S. Freud, Eine Kindheitserinnerung aus »Dichtung und Wahrheit«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 12, Frankfurt 19724, S. 26. 38 Winnicott BBC broadcast 1949, in: D. W. Winnicott, The Child, the Family, and the Outside World, Harmondsworth 1969, S. 114f. (Übersetzung v. Y. S.). 39 Hardach-Pinke, Kinderalltag, S. 116. 40 Zit. in: I. Weber-Kellermann, Die Kindheit, Frankfurt 1979, S. 108. 41 Zit. in: I. Hardach-Pinke u. G. Hardach, Deutsche Kindheiten, Kronberg 1978, S. 146. 42 K. Mann, Kind dieser Zeit, München 1965, S. 38. 43 M. Ebner-Eschenbach, Meine Kinderjahre, München 1961, S. 22ff. 44 Braun, Memoiren, Bd. 1, S. 36. 45 G. Freytag, Gesammelte Werke, Bd. I, Leipzig 1896, S. 38. 46 M. Cauer, Leben und Werk. Dargestellt an Hand ihrer Tagebücher und nachgelassenen Schriften, Gotha 1925, S. 1. 47 M. Ebner-Eschenbach, Ob Spät, ob Früh, in: dies., Erzählungen. Autobiographische Schriften, München o. J . , S. 379f. 48 Ebd., S. 407. 49 E. M. Haas, Lebenserinnerungen. Unveröffentlichte Autobiographie, 1922, Kempowski-Archiv, Nartum. 50 T. G. v. Hippel, Nachlaß über weibliche Bildung, Berlin 1801, S. 60 f.

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HUGH MCLEOD

Weibliche Frömmigkeit - männlicher Unglaube? Religion und Kirchen im bürgerlichen 19. Jahrhundert

»Hier scheidet sich zunächst die Bevölkerung in zwei große Heerlager: die Frauen sind im ganzen fromm und kirchlich, die Männerwelt aber, mit tausend Fragen des Lebens beschäftigt, ist entweder völlig gleichgültig gegen religiöse Fragen oder läßt sich soviel Religion gefallen als durch die Sitte geboten scheint. «1 Solche Kommentare waren im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in Europa und Amerika gang und gäbe. Zeitgenössische Beobachter des Protestantismus und Katholizismus waren sich darin einig, daß Frauen sich stärker als Männer am Gemeindeleben der beiden Kirchen beteiligten, und begründeten dies gern mit dem Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Wesensart. Vor dem Hintergrund einer genau abgegrenzten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die alle gesellschaftlichen Lebensbereiche durchdrang, wurde die Religion bereits seit dem späten 18. Jahrhundert hauptsächlich - obwohl nicht ausschließlich - der weiblichen Sphäre zugerechnet. Der politische und ökonomische Wandel, den der Übergang vom Ancien Régime zur bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts mit sich brachte, führte, jedenfalls zu Anfang, zu einer Vertiefung der Kluft zwischen ›frommen‹ Frauen und ›areligiösen‹ Männern. Zugleich bildeten sich jedoch im Zuge religiöser Veränderungen im 19. Jahrhundert auch stärkere Abweichungen zwischen Katholizismus und Protestantismus heraus. Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil in den 60er Jahren unseres Jahrhunderts hielt die römisch-katholische Kirche an einer strikten Trennung von Männer- und Frauenrollen sowohl in der Kirche als auch in der Gesellschaft fest, und tatsächlich gab es bis dahin erhebliche Unterschiede in der praktischen Religionsausübung weiblicher und männlicher Katholiken, wenn man von einer geringfügigen Annäherung im 20. Jahrhundert einmal absieht.2 Im Protestantismus hingegen entwickelten sich zunächst im Umkreis radikaler Sekten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts neue Denkanstöße zur Geschlechterfrage, und auch in den größeren protestantischen Kirchen kam es bald zu bedeutsamen Veränderungen. Die Grenzen zwischen der männlichen und weiblichen Sphäre 134 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

wurden fließender, ohne sich jedoch ganz zu verwischen, und die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Frömmigkeitsmustern verringerten sich spürbar. In diesem Beitrag werden nur zwei religiöse Strömungen berücksichtigt Katholizismus und Protestantismus. Die Beispiele beziehen sich im wesentlichen auf England, Frankreich und die Vereinigten Staaten, ergänzt durch einige Hinweise auf Deutschland.

I Es gibt zahlreiche Belege dafür, daß das Christentum im 19. Jahrhundert im Leben von Frauen eine größere Rolle spielte als in dem von Männern. Sehr auffällig war zum Beispiel, daß viel mehr Frauen als Männer den Gottesdienst besuchten. Erhebungen aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zeigen, daß 61 % der Kirchenbesucher in London, 69% im New Yorker Stadtteil Manhattan sowie 84% der österlichen Kommunikanten in Marseille Frauen waren. Die Statistiken über die Teilnahme am Abendmahl in den deutschen protestantischen Landeskirchen aus den 1890er Jahren erlauben Vergleiche zwischen verschiedenen Regionen: Das Mittel für alle Landeskirchen lag bei 55 Frauen pro 100 Kommunikanten; in den Städten war der Anteil jedoch viel höher, mit über 60% in Berlin und Hamburg und einem Maximalwert von 72% in Frankfurt am Main. 3 Im englischen und amerikanischen Protestantismus kann die Mitgliedschaft in einer Kirchengemeinde, die häufig vom Nachweis eines Konversionserlebnisses abhängig gemacht wurde, als wichtiger Indikator praktischer Religiosität gelten. Wo solche Mitgliederstatistiken geführt wurden, wiesen sie eine deutliche weibliche Mehrheit aus. So geht aus einer Untersuchung über zahlreiche Kongregationskirchen in Neuengland zwischen 1770 und 1830 hervor, daß Frauen alljährlich mindestens 60% und manchmal sogar 70% der neuaufgenommenen Mitglieder stellten. Auch unter Katholiken, die an Pilgerfahrten teilnahmen oder einem Verein der Kirchengemeinde beitraten, waren Frauen meistens in der Überzahl.4 Das 19. Jahrhundert erlebte darüber hinaus einen Aufschwung weiblicher Ordensgemeinschaften, und zum Ende des Jahrhunderts gab es bei weitem mehr Nonnen als Priester. In Frankreich kamen 1,5 Nonnen auf einen Priester, in den Vereinigten Staaten mehr als drei. 5 Umgekehrt waren Männer eher bereit, die Kirche zu verlassen oder sich einer kirchenfeindlichen Organisation anzuschließen.6 Das Stereotyp der frommen Frau und des areligiösen Mannes stützte sich noch auf viele andere Beobachtungen. So klagten französische Antiklerikale gern über den angeblichen Einfluß der Priester auf Frauen, und dies diente dem weitverbreiteten republikanischen Widerstand gegen das weibliche Stimmrecht als wichtiges Argument. 7 Im ländlichen Frankreich waren die wenigen bestehenden Frauenvereine hauptsächlich solche religiöser Art, die

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sich im Umfeld des katholischen Klerus in vorwiegend dienender Funktion betätigten. Demgegenüber gab es eine Vielzahl von Vereinigungen für Männer, die zumeist nur wenig oder gar keine Verbindung zur Kirche hatten. Noch bedeutsamer war das ausschließlich männliche Territorium des Wirtshauses, wo häufig radikale und antiklerikale Ideen den Ton angaben.8 Ähnliche Gegensätze finden sich in der französischen Bourgeoisie des späten 19. Jahrhunderts: In Lille war eine der wichtigsten Organisationen für Frauen der städtischen Oberschicht die Oberste Konfraternität christlicher Mütter, wogegen sich die Ehemänner dieser Frauen eher in ihren Clubs trafen und ihre Zugehörigkeit zum Katholizismus lieber auf dem Wege der Politik als durch fromme Werke bekundeten.9 Schließlich war auch die Rolle der Mütter in der religiösen Sozialisation der jüngeren Generation auf allen Ebenen der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts von elementarer Bedeutung. Sie lehrten ihre Kinder beten, lasen die Bibel mit ihnen, begleiteten sie auf dem Klavier oder Harmonium, wenn Kirchenlieder gesungen wurden, und schmückten die Zimmerwände mit religiösen Sprüchen oder Heiligenbildern.10 Obgleich den vier hier behandelten Ländern eine größere Beteiligung von Frauen am kirchlichen Leben gemeinsam war und dies gleichermaßen für Katholizismus und Protestantismus, für Aristokratie, Bürgertum, Arbeiter und Bauern galt, war die Differenz zwischen Frauen und Männern doch von Fall zu Fall anders ausgeprägt. Sie war zum Beispiel im deutschen Protestantismus im städtischen Milieu größer als auf dem Land. Es gibt auch Anzeichen dafür, daß sie zumindest zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Katholizismus größer war als im Protestantismus, ebenso wie erhebliche Varianzen in den protestantischen Teilkirchen zu beobachten waren. Zwei Erhebungen über den Kirchenbesuch in Städten mit sehr gemischter Bevölkerung ermöglichen einen Vergleich des männlichen und weiblichen Besucheranteils in verschiedenen Kirchen. Die erste Zählung wurde in den Jahren 1902 und 1903 an mehreren Sonntagen in der Grafschaft London mit einer Einwohnerzahl von etwas mehr als vier Millionen durchgeführt (Tab. 1). Frauen stellten im Jahre 1901 53,9% aller 15jährigen und älteren in London lebenden Personen und waren folglich in den Gottesdiensten der »Primitive Methodists« und Quäker leicht unterrepräsentiert, in denen der Heilsarmee geringfügig überrepräsentiert. Gerade diese drei Sekten verhielten sich wahrscheinlich am wenigsten restriktiv, wenn es um Frauen offenstehende Aufgabenbereiche innerhalb der Kirche ging. Andererseits waren Frauen gerade in den Kirchen, in denen ihre Unterordnung besonders ausgeprägt war, also in der anglikanischen und römisch-katholischen Kirche, im Gottesdienst am stärksten überrepräsentiert. Ein ähnliches Muster ergibt sich auch aus der Zählung im New Yorker Bezirk Manhattan mit einer Bevölkerung von etwa 2 Millionen, 1902 von der »Church News Association« durchgeführt (Tab. 2). 136 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

Tab. 1: Der prozentuale Anteil von Frauen an den Kirchenbesuchern verschiedener Konfessionen, 15 Jahre und älter, London 1902—311 Anglikanische Staatskirche Römisch-katholische Kirche Unitarier Baptisten Presbyterianer Brüder-Kirche Vereinigte Methodistische Freikirche Bibelchristen Kongregationalisten »Wesleyan Methodist«-Kirche Heilsarmee Katholisch-Apostolische Kirche Quäker »Primitive Methodist«-Kirche

65,7 64,2 60,0 59,8 59,2 58,5 57,3 57,1 57,0 57,0 56,8 54,1 52,0 51,6

Tab. 2: Der prozentuale Anteil von Frauen an den erwachsenen Kirchenbesuchern verschiedener Konfessionen in Manhattan, New York City 190212 Römisch-katholische Kirche »Christian Science« Episkopalisten Lutheraner Reformierte »Disciples of Christ« Baptisten Presbyterianer Methodistische Episkopalisten Kongregationalisten

72,8 67,8 66,4 59,3 59,0 58,7 58,0 57,9 55,0 44,4

Obwohl eine oder zwei kleinere Sekten aus dem allgemeinen Trend herausfielen, war das Gesamtergebnis für London und New York gleich. Die Differenz zwischen weiblichen und männlichen Kirchenbesuchern war in jenen Konfessionen am größten, in denen die zentrale Bedeutung der Sakramente eine scharfe Trennung zwischen Klerus, der als einziger zur Erteilung der Sakramente befugt war, und Laien erforderlich machte. Hier wurde durch die Konzentration der Macht in den Händen des Klerus, von dem die Frauen ausgeschlossen waren, die Grundlage für eine scharfe Abgrenzung männlicher und weiblicher Rollen innerhalb der Kirche und in der Gesellschaft insgesamt gelegt. Dieses Muster war besonders stark in der römischkatholischen Kirche, in der Orthodoxie und, etwas weniger stark, im Anglikanismus ausgeprägt. Andererseits fanden sich dort, wo die Sakramente eine weniger zentrale oder überhaupt keine Rolle mehr spielten und wo sich die von Klerus und Laien sowie Männern und Frauen ausgeübten Funktio-

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nen überschnitten, kaum Unterschiede in der Teilnahme der Geschlechter am kirchlichen Leben. Lutherische und reformierte Kirchen nahmen sowohl in bezug auf die Stellung, die den Sakramenten, dem Klerus und den Frauen in der kirchlichen Organisation zukam, als auch im Hinblick auf die relative Beteiligung von Männern und Frauen am Gottesdienst eine mittlere Position ein. Mehrere Faktoren können zur Erklärung dieser Befunde herangezogen werden, wobei zwei für das hier vorgetragene Argument besonders relevant sind. Erstens kam es in Kirchen, die vom Klerus beherrscht wurden, im Gegenzug zu mehr oder weniger starken antiklerikalen Strömungen. Davon waren im 19. Jahrhundert Männer viel massiver als Frauen betroffen. In römisch-katholischen Ländern äußerte sich dieser Antiklerikalismus als spezifisch männliche Eifersucht auf den unverheirateten Priester, der als sexueller Rivale angesehen wurde. 1 3 Es scheint auch, daß Männer, die im Gegensatz zu Frauen eher daran gewöhnt waren, eine aktive öffentliche Rolle in der Gesellschaft zu spielen, eine stärkere Abneigung gegen die Ansprüche des Klerus auf ein Machtmonopol innerhalb der Kirche hegten. So ging beispielsweise der zunehmende Einfluß der Geistlichen bei den neuenglischen Kongregationalisten um die Mitte des 17. Jahrhunderts mit einer wachsenden zahlenmäßigen Überlegenheit von Frauen in der Gemeinde einher, während sich bei den Quäkern, die keinen Klerus kannten, die Geschlechter relativ gleichmäßig am kirchlichen Leben beteiligten. 14 Ähnliche Zusammenhänge können auch im 19. Jahrhundert nachgewiesen werden. Aber es gibt noch einen weiteren gewichtigen Grund für den unterschiedlichen Erfolg der einzelnen christlichen Kirchen und Sekten bei Frauen und Männern. Daß Frauen von bestimmten Funktionen innerhalb der Kirche ausgeschlossen wurden, verstärkte die Vorstellungen von einer strikten Trennung zwischen ›männlich‹ und ›weiblich‹ und zementierte eine soziale Praxis, die alle Lebensbereiche entweder der einen oder der anderen Sphäre zurechnete. Umgekehrt trugen diejenigen Kirchen, die ein beträchtliches Maß an Überschneidung in den Funktionen von Frauen und Männern zuließen, zu einer Schwächung solcher Ansichten und Praktiken bei. In der Spätphase des Ancien Régime wurde die geistliche Welt Westeuropas und Nordamerikas von Kirchen beherrscht, die männliche und weibliche Rollen innerhalb der Kirche wie auch in der Gesellschaft insgesamt klar voneinander trennten. Dies galt gleichermaßen für die römisch-katholische Kirche und den Anglikanismus wie auch für die Lutheraner und den Kalvinismus. Überall lag die Führung bei einem ausschließlich männlichen Klerus; dort, wo wichtige Ämter von Laien bekleidet wurden, wie in den europäischen reformierten Kirchen oder im Kongregationalismus Neuenglands, blieben sie Männern vorbehalten. Was die Begründung weiblicher Unterordnung anging, gab es unter den Kirchen gewisse Unterschiede: Protestanten beriefen sich auf die Autorität der Bibel, während sich Katholiken auch auf Kirchentradition und Naturrecht stützten. Das Ergebnis war in

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etwa das gleiche. Sowohl im katholischen Frankreich als auch im protestantischen Nordamerika wurde die Religion im späten 18. Jahrhundert eher der weiblichen als der männlichen Sphäre zugerechnet. Im Kongregationalismus Neuenglands, der unter diesem Aspekt besonders gründlich untersucht wurde, läßt sich die zahlenmäßige Dominanz der Frauen in den Gemeinden bis in die 1660er Jahre zurückverfolgen, und mindestens seit 1690 wurden immer häufiger Behauptungen laut, Frauen seien von Natur aus frommer als Männer. Auch in Frankreich hielt man Frauen für religiöser als Männer, und die relativ kleine Gruppe, die ihren österlichen Pflichten in der vorrevolutionären Zeit nicht nachkam, bestand hauptsächlich aus Männern.15 Im folgenden Abschnitt soll erläutert werden, wie durch den Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts die Rahmenbedingungen geschaffen wurden, unter denen die bereits bestehenden Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Frömmigkeit noch stärker betont und gelegentlich auf die Spitze getrieben wurden. Zugleich aber setzte diese Entwicklung auch Prozesse in Gang, die letztlich eine wesentliche Abschwächung des Gegensatzes bewirkten. II In der von der Französischen Revolution 1789 eingeleiteten Epoche wurde die Religion zu einem höchst kontroversen und umstrittenen Thema, was in Teilen der Bevölkerung zu einer Intensivierung religiöser Gefolgschaft, in anderen Teilen zur offenen Ablehnung der Kirche oder des Glaubens überhaupt führte. Es wird zuweilen die Ansicht vertreten, daß der wachsende religiöse Unglaube im 19. Jahrhundert eine Marginalisierung der Religion und ihren weitgehenden Ausschluß aus der politischen Sphäre zur Folge hatte. Diese Ansicht ist falsch. Liberale und später sozialistische Angriffe auf die staatlich verankerten Kirchen trugen dazu bei, daß die Religion nicht weniger, sondern eher mehr ins politische Blickfeld rückte. Dies galt besonders für die frühen Jahre der Massenpolitik, als der Appell an den gemeinsamen Katholizismus, Protestantismus oder auch Antiklerikalismus wesentlicher Bestandteil eines jeden Aufrufs bürgerlicher oder adliger Politiker an Arbeiterschaft und bäuerliche Wähler war. 16 Durch die Politisierung von Religion und Unglauben gelangten diese Fragen ins Bewußtsein der Menschen und zwangen sie, Position zu beziehen. Wegen der überragenden Bedeutung der Staatskirchen für die gesellschaftlichen Kontrollsysteme unter dem Ancien Régime spielten religiöse und antireligiöse Bewegungen auch bei der Entwicklung einer unabhängigen Identität und eines eigenen Wertesystems seitens der aufsteigenden Klassen eine entscheidende Rolle.17 Religiöse Erweckungsbewegungen oder die Gründung neuer Sekten übten beispielsweise auf die Herausbildung des schottischen Bürgertums und die kollektive Konstitution der Kleinbau139 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

ern des schottischen Hochlands im 19. Jahrhundert einen erheblichen Einfluß aus. 18 Gegen Ende des Jahrhunderts war der Austritt aus der Kirche ein Schritt von großer symbolischer Bedeutung für viele klassenbewußte Arbeiter, die damit emotionale Beziehungen, die sie mit den Mitgliedern anderer Schichten als Glaubensgenossen verbanden, abbrachen und ihre Ablehnung all jener Aspekte der bestehenden Ordnung demonstrierten, die die Kirchen gerechtfertigt hatten.19 Immer aber gab es wichtige Unterschiede zwischen weiblichem und männlichem Verhalten. Auf anonymere Weise trugen wirtschaftliche und demographische Veränderungen im 19. Jahrhundert dazu bei, die religiöse Rolle der Frauen zu betonen und die Lösung der Männer von der Kirche zu beschleunigen. Mit dem Beginn der Industrialisierung verlagerte sich der Mittelpunkt des religiösen Lebens häufig von der Kirche auf Haus und Familie, von der sich gleichzeitig erwachsene Männer zunehmend entfernten. Daß sich die Religion in dieser Weise ›familiarisierte‹, war nicht nur bei jüdischen Immigranten in Manchester zu beobachten,20 sondern auch in vielen katholischen und protestantischen Einwanderergemeinden der ersten Generation. In Liverpool ebenso wie in New York, im Ruhrgebiet oder im Pas-de-Calais gab es zu wenig Kirchen, um die rasch wachsende Bevölkerung aufzunehmen, und die bestehenden Gemeinden verhielten sich oft wenig zuvorkommend. Priester waren ebenfalls rar und sprachen zudem nicht selten eine andere Sprache. In vielen dieser Neueinwanderer-Gemeinden war der Kirchenbesuch gering und die Priester oder Pastoren ohne Einfluß.21 Dies bedeutete jedoch keinen Bruch mit religiösen Traditionen: Durch die Bemühungen der Einwandererfrauen blieben sie erhalten und wurden in der Familie weitergegeben. Manchmal entstanden Spannungen zwischen einer traditionsbewußten Ehefrau und ihrem eher weltlich orientierten Ehemann. Das aufs Haus konzentrierte Leben band die Mehrheit der verheirateten Frauen an eine Nachbarschaft, in der Verwandte und andere Einwanderer aus demselben Land oder sogar aus demselben Dorf lebten. Männer dagegen bewegten sich häufig zwischen zwei Welten: Sie wurden vom Arbeitgeber gezwungen, am Sabbat oder an anderen religiösen Feiertagen zu arbeiten, was die Religionsausübung erschwerte, und kamen durch Kollegen mit neuen Ideen in Berührung. 22 In anderen Fällen wiederum gab es keine nennenswerten Unterschiede in der grundsätzlichen Glaubenstreue von Männern und Frauen, doch sorgte die traditionelle Rollenzuweisung dafür, daß die Ehefrau diese Loyalität unter neuen und schwierigen Bedingungen maßgeblich zu verteidigen hatte. Die erste Generation der Italo-Amerikaner bot das eindringliche Beispiel einer Gemeinschaft, in der die formale Religionsausübung gering, das Gefühl einer katholischen Identität aber sehr stark verbreitet war. 23 Die Trennung der Männer von Haus und Familie war besonders dort sehr augenfällig, wo, wie in vielen Gegenden Deutschlands üblich, die Männer aus ärmeren bäuerlichen Familien wochenweise zur Arbeit in die Nachbar140 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

Städte zogen. Dieser Prozeß ist für das Dorf Berkheim bei Esslingen sehr genau rekonstruiert worden; gleichzeitig vollzog sich hier eine zunehmende Loslösung der Männer sowohl von ihren Familien als auch von jeder Form religiöser Betätigung. 24 Natürlich waren solche Wanderungen nichts Neues, doch erfaßten sie im 19. Jahrhundert größere Teile der Bevölkerung als jemals zuvor.25 Diese Entwicklungen wirkten sich am stärksten in der Arbeiterschaft aus. Die Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz ist vor allem für das Bürgertum untersucht und häufig als einer der Hauptgründe für den religiösen Rückzug bürgerlicher Männer genannt worden. 26 Im Falle Frankreichs und Deutschlands scheint dieses Argument zuzutreffen; es gilt jedoch nicht für Großbritannien und die Vereinigten Staaten, wo viele bürgerliche Männer sich aktiv am kirchlichen Leben beteiligten. Darüber hinaus prägte sich die religiöse Polarisierung von Männern und Frauen in Frankreich gleichermaßen stark in vielen ländlichen Regionen aus, wo doch Wohn- und Arbeitsplatz noch weitgehend identisch waren. 27

III Das 19. Jahrhundert war ebensosehr eine Epoche wichtiger religiöser Erweckungsbewegungen wie Zeuge einer beispiellosen Säkularisierungswelle. Die meisten geschichtlichen Darstellungen konzentrierten sich überwiegend auf die eine oder andere Seite dieses widersprüchlichen Prozesses, und dies gilt vor allem auch für Untersuchungen, die sich mit der ›Verweiblichung‹ der Religion beschäftigten. In der Regel als ein Aspekt allgemeiner Säkularisierung interpretiert,28 wird sie zuweilen auch mit den Erwekkungsströmungen in Verbindung gebracht. Tatsächlich jedoch war die ›Feminisierung‹ in beiden Entwicklungsprozessen anzutreffen. In Gemeinden, in denen der Einfluß der Kirche und/oder des religiösen Glaubens im 19. Jahrhundert abnahm, wirkten sich Säkularisierungstendenzen früher und stärker bei Männern als bei Frauen aus; wo auf der anderen Seite die Bedeutung der Religion wuchs, waren es die Frauen, die den Weg bereiteten und entscheidend dazu beitrugen, daß sie diese Bedeutung behielt. Als klassische Beispiele der Säkularisierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelten das französische und deutsche Bürgertum sowie Teile der französischen Bauernschaft. Man ist sich darin einig, daß diese Entwicklung bei Männern viel stärker ausgeprägt war als bei Frauen. Trotzdem bleibt noch vieles unklar. In ihrer Untersuchung über das Pariser Bürgertum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vertritt Adeline Daumard die Ansicht, daß religiöse Traditionen von Frauen weitergegeben wurden und daß Gott im Leben der meisten Männer praktisch nicht mehr existierte. Sie deutet aber auch an, daß selbst die augenscheinliche Frömmigkeit bürgerlicher Frauen nur oberflächlich war. Michelet beschrieb dagegen

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im Jahre 1845 den krassen Gegensatz zwischen der Frömmigkeit der Frauen und dem freien Denken der Männer bei seinen bürgerlichen Zeitgenossen. Gleichwohl war auch er, wie viele französische Antiklerikale, nicht bereit, Frauen einen eigenen Willen zuzugestehen, und behauptete, ihre verbohrte Frömmigkeit werde von einem »unsichtbaren Mann« gesteuert, dem Priester nämlich, dessen Geist in jedem Haushalt gegenwärtig wäre und die Autorität des Hausherrn untergrübe. 29 Am ausführlichsten hat Bonnie Smith die radikale Spaltung zwischen männlichen und weiblichen religiösen Einstellungen im Frankreich des 19. Jahrhunderts in einer Untersuchung der Lebensbereiche bürgerlicher Frauen und Männer in Lille dargestellt. Danach lebten bürgerliche Frauen, die an das Haus gebunden waren und ihre Hauptaufgabe im Gebären und in der Aufzucht von Kindern sahen, in einer vorindustriellen Welt, in der vorindustrielle Denkweisen noch sinnvoll w a ren. Ihre Ehemänner hingegen bewegten sich in der rational organisierten, technisch kontrollierten Welt von Industrie und Handel. Hofften Frauen auf das wunderbare Eingreifen Gottes in den Lauf der Natur, glaubten die Männer nur an die Wissenschaft. Während für Männer eine Zeiteinheit der anderen glich, besaßen die Frauen wie auch die Kirche ein komplex strukturiertes Zeitverständnis, wobei manche Wochentage oder Jahreszeiten heiliger waren als andere und sich besser für die Erledigung bestimmter Aufgaben eigneten. 30 Diese völlige Polarisierung, die Michelet und Smith so anschaulich beschreiben, stellt meiner Ansicht nach jedoch nur einen Extremfall dar. Häufig waren die religiösen Einstellungen und Loyalitäten von Frauen wie auch von Männern weit vielschichtiger und ambivalenter, und es war nicht immer ein durch und durch orthodoxer und glaubenstreuer Katholizismus, der einer ebenso kompromißlosen säkularen Mentalität gegenüberstand. Männer und Frauen aus demselben Milieu unterlagen ohnehin teilweise denselben Einflüssen, und wo die Ehepartner in Glaubensfragen verschiedener Meinung waren, führte dies nicht unbedingt zu Konflikten. In Frankreich, wo genaue Zahlen über den Besuch der Messe und die Teilnahme an der Kommunion vorliegen, gab es nachweislich eine enge Beziehung zwischen dem Grad männlicher und weiblicher Beteiligung. In allen Gemeinden waren Frauen die fleißigsten Kirchgänger, aber der Anteil der Männer, die im Westen Frankreichs oder im Massif Central zur Kirche gingen, war immer noch bedeutend höher als der Anteil weiblicher Kirchenbesucher im Pariser Raum. 3 1 Männer lehnten die Frömmigkeit ihrer Frauen auch nicht unbedingt ab. Aus dem Departement Nièvre wurde Anfang des 20. Jahrhunderts berichtet, daß Männer, die niemals eine Messe besuchten, in gewisser Weise stolz waren, wenn ihre Frauen ihren Glauben praktizierten und ihre Kinder zur Erstkommunion gingen. Fast immer bestanden sie darauf, die Kinder taufen zu lassen. 32 Ein Priester umschrieb 1850 die Einstellung seiner der Mittelschicht zugehörigen Gemeindemitglieder mit den Worten: »Die Religion ist

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dafür da, die Jugend in Zaum zu halten . . . Man schätzt es, wenn der Priester den Kindern sagt, daß sie ihren Eltern gehorchen sollen, und die Dienstboten davor warnt, ihre Herrschaft zu bestehlen.«33 Bürgerliche Männer, die selber nicht gläubig waren, mochten also häufig sehr gemischte Gefühle gegenüber der Religion hegen: Mißtrauen gegenüber dem Klerus und der politischen Rolle der Kirche, aber gleichzeitig auch viel Vertrauen in die Kraft der Religion, Menschen, zumindest andere Menschen, moralisch zu heben, gepaart mit der Überzeugung, daß eine gewisse Frömmigkeit ihren Ehefrauen und Töchtern gut anstand. Weibliche Frömmigkeit und männliche Areligiosität gerieten meistens dann in direkten Konflikt miteinander, wenn eine politische Krise ausbrach oder wenn Männer die Kirche aus politischen Gründen leidenschaftlich bekämpften. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts häuften sich Konfrontationen dieser Art, als die Sozialisten eigene Tauf- und Begräbniszeremonien einführten und ihre Kameraden zu überreden suchten, offen mit der Kirche zu brechen.34 Im Gegensatz dazu hatten sich die Liberalen und Radikalen des 19. Jahrhunderts häufig bereit gezeigt, der Kirche nominell weiter anzugehören, wenngleich sie alle Maßnahmen zur Beschränkung ihres Einflusses unterstützten. Die bei weitem dramatischsten Auseinandersetzungen hatten sich im Frankreich der 1790er Jahre ereignet. Geschlechtsunterschiede waren bei der mißglückten Reform der französischen Kirche 1790/91, beim folgenden Versuch, sie zu zerstören und beim abschließenden Wiederaufbau angesichts einer feindselig eingestellten Regierung ein immer wiederkehrendes Leitmotiv. In der Rhetorik der Kirchenstürmer vermischten sich Antifeminismus und Antikatholizismus. Andererseits protestierten Frauen oft am lautesten gegen die Angriffe auf die Kirche, sie ergriffen heimlich Maßnahmen zum Schutz des Klerus und begannen mit der Neubelebung der Religionsausübung. Bei einem typischen Vorfall erklärte ein Abgesandter der Regierung, der sich einer Menge feindlich gesinnter Frauen gegenübersah: »Ihr seid alle ihre Dirnen, besonders diejenigen unter euch, die ihre jämmerlichen Messen besuchen und ihnen bei ihrem Affentheater behilflich sind.« Sodann beschimpfte er die »Nichtsnutze von Ehemännern, die so einfältig sind mitzugehen und dies nur tun, um ihre Hörner zu zeigen.« 35 Das waren die bekannten Themen: Angst und Eifersucht auf die Priester; Verärgerung darüber, wenn Frauen ihre vermeintliche Unabhängigkeit demonstrierten, und dennoch die Überzeugung, daß jede anscheinend unabhängige Frau unter dem Einfluß eines anderen Mannes stand; das Verständnis von Religion als etwas prinzipiell Weiblichem, das den Mann, der damit in Berührung kam, seiner Männlichkeit beraubte. Möglicherweise war es dabei von Bedeutung, daß die Frauen es bei obigem Vorfall mit einem Außenseiter zu tun hatten, dessen scharfe Worte nur seine Isolation verrieten. In jenen Regionen Frankreichs, wo der Katholizismus tief verwurzelt war, kamen die Säkularisierer hauptsächlich von außerhalb, und Frauen handelten hier gleichsam als Vorhut ihrer Männer,

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wenn sie die Loyalität zur Kirche, die von der Mehrheit der örtlichen Bevölkerung geteilt wurde, emphatisch und entschlossen zum Ausdruck brachten. Dort, wo die Säkularisierung eine breitere Unterstützung fand, waren die Rollen offensichtlich vertauscht: Entweder folgten Frauen wieder der ikonoklastischen Führung ihrer Männer, oder sie verhielten sich neutral. 36 Einige Gemeinden allerdings scheinen sich wirklich in zwei nach Geschlechtern getrennte Lager gespalten zu haben.37 Charakteristischer war die Situation jedoch im katholischen Westen, wo Frauen bei der Mobilisierung der Männer, deren Katholizismus passiver war, eine entscheidende Rolle spielten und auf diese Weise das Bündnis zwischen Katholizismus und Gegenrevolution ermöglichten. 38 Daß Frauen an der Aktivierung einer oft schlummernden Religiosität maßgeblichen Anteil hatten, war auch im Amerika des frühen 19. Jahrhunderts unverkennbar. Die Geschichte der zweiten großen Erweckungsbewegung bietet reiches Anschauungsmaterial für die These, daß die ›Feminisierung‹ der Religion im 19. Jahrhundert in Perioden religiösen Aufbruchs ebenso in Erscheinung trat wie zu Zeiten religiösen Niedergangs. Aus einer Untersuchung über die Kirchen Neuenglands zwischen 1810 und 1835 geht hervor, daß sowohl Frauen als auch Männer damals in wachsender Zahl in eine Kirche eintraten, daß aber die weibliche Präsenz in allen Kirchengemeinden überproportional zunahm, weil der Anteil der Frauen unter den Kirchenmitgliedern sich verdoppelte, während der der Männer nur um 50% anstieg.39 Die Aufzeichnungen über Neuaufnahmen in den Kirchengemeinden Uticas während der Aufbruchsjahre 1814—38 zeigen, daß dort, wo mehrere Familienmitglieder einer Kirche beitraten, meistens eine Frau den Anfang machte. Müttervereinigungen, die sich zusammenschlossen, um für die Kinder der Mitglieder zu beten, trugen anscheinend viel dazu bei, die Frömmigkeit der jüngeren Generation zu fördern - mehr, nach Aussagen der Mitglieder, als die Geistlichen.40 Während Frauen sicherlich die überragende Rolle in den großen Erwekkungsbewegungen dieser Zeit spielten, leisteten Männer oft wichtige Unterstützungsarbeit. Anstatt von einem Gegensatz zwischen frommen Frauen und feindlichen oder gleichgültigen Männern zu sprechen, sollte man deshalb den religiösen Aufbruch in Amerika besser als ein gemeinsames Projekt betrachten, in dem Frauen zwar zahlreicher vertreten waren und zumeist tatkräftiger mitwirkten, in dem aber auch Männer nicht ohne Einfluß blieben. Wenn sich Frauen in Rochester gegen Sklaverei, Prostitution und Alkoholismus engagierten, konnten sie auf drei Ressourcen öffentlicher Aktivität zurückgreifen, die ihnen ihre Männer, Brüder oder Väter zur Verfügung stellten: Legitimation, Geld und politisches Wohlwollen. Zwischen wohltätigen Frauen und mächtigen Persönlichkeiten aus Kirche, Presse, Wirtschaft und Politik gab es enge Verbindungen.41 Das gleiche galt für die pietistischen Bemühungen, jedes Haus in ein »christliches Heim« zu verwandeln. Mütter hatten hieran sicherlich den größten Anteil, und viele 144 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

sahen darin ihre besondere Berufung.42 Aber in den Vereinigten Staaten und auch in Großbritannien erhielten bürgerliche Frauen Unterstützung und Ermutigung von ihren Ehemännern, die, ob nun aus Überzeugung oder moralischem Pflichtgefühl, das Familiengebet sprachen, die Familie zur angestammten Bank in der Kirche führten und auf die Einhaltung der protestantischen Feiertage achteten.43 Die Kirche war eine der wenigen öffentlichen Räume, die Frauen offenstanden.44 Sie bot die Möglichkeit einer partiellen Unabhängigkeit von männlicher Kontrolle, und die meisten Männer scheuten davor zurück, diese Unabhängigkeit direkt anzugreifen. Tatsächlich scheinen sie die Religiosität ihrer Frauen und Töchter grundsätzlich gefördert zu haben, wie unbequem sie diese in der Praxis auch immer empfunden haben mögen. 1863 besuchten in Frankreich 54% der Mädchen, aber nur 22% der Jungen Schulen, die von einem geistlichen Orden geleitet wurden. 45 Die Religion war der einzige Ort, an dem sich Frauen auf dem Weg zur Selbstverwirklichung gesellschaftlicher Anerkennung und der Unterstützung einflußreicher Männer, nämlich der Geistlichen, erfreuen konnten und darüber hinaus in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten handelten.46 Der Vorwurf der Antiklerikalen, religiöse Frauen hätten die Unterwerfung unter ihre Ehemänner lediglich gegen die Unterwerfung unter die Priester eingetauscht, war deshalb eine grobe Vereinfachung. Im revolutionären Frankreich hatten Frauen bei der Forderung nach Gottesdiensten, die sich ängstliche Geistliche nicht zu halten getrauten, oder bei der Organisation von Andachten in Abwesenheit von Priestern beträchtlichen Mut bewiesen. 47 In New York ergriffen protestantische Frauen in den 1830er Jahren die Initiative bei der Errichtung von Häusern für abtrünnige Prostituierte: Sie demonstrierten vor den Bordellen, betraten sie auch, um dort Gebete zu sprechen, und veröffentlichten die Namen der ›Kunden‹ in ihrer Zeitung. Ähnlicher Methoden bediente sich die Mäßigkeitsbewegung der Frauen in den 1870er Jahren bei ihrem Kampf gegen den Alkoholausschank, und sie fügte dem noch eine Variante hinzu - den Boykott von Geschäften, die Alkohol verkauften.48 Bei ihren religiös inspirierten Protesten gegen männliche Unsittlichkeit und Grausamkeit konnten Frauen somit auf die Hilfe einer Institution zurückgreifen, deren Ansehen makellos war: auf die Kirche. Während solche direkten Konfrontationen zwischen Männern und Frauen die Ausnahme bildeten, legitimierte die Religion auch zahlreiche weniger spektakuläre Demonstrationen weiblicher Unabhängigkeit. Heranwachsenden Mädchen eröffnete sich durch die kirchlich geforderte Wohltätigkeitsarbeit eine Möglichkeit zu ›unschuldigen‹ Erlebnissen, die von Eltern, wie fürsorglich sie auch sonst sein mochten, kaum unterbunden werden konnten. Viele verheiratete Frauen fanden in kirchlichen Organisationen einen hilfsbereiten Freundeskreis, in dem man über Probleme sprechen konnte und der die seltene Gelegenheit bot, Haus und Familie zumindest für kurze Zeit zu entfliehen.49 Innerhalb der von Männern beherrschten rö145 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

misch-katholischen und anglikanischen Kirchen schufen sich die Frauenorden eine eigene Welt, ausgestattet mit einem beträchtlichen Maß an Macht, und Nonnen erfreuten sich oft größeren öffentlichen Ansehens als Priester. 50

IV Protestantische Gesellschaften und römisch-katholische Länder unterschieden sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer deutlicher darin, daß sie Frauen sowohl in der Kirche als auch im öffentlichen Leben insgesamt andere Rollen zuwiesen. In überwiegend protestantischen Staaten entwickelte sich die Frauenbewegung kräftiger und lebhafter, und das weibliche Stimmrecht wurde in der Regel früher gewährt. 5 1 In der Kirche selber überschnitten sich männliche und weibliche Kompetenzen immer mehr, obgleich die mächtigsten Positionen weiterhin in den Händen von Männern lagen. Im Katholizismus dagegen blieben männliche und weibliche Sphären streng voneinander getrennt. In protestantischen Ländern spielten die Sekten bis Mitte des 19. Jahrhunderts eine entscheidende Pionierrolle, da bei ihnen die Zuständigkeiten von Frauen und Männern oft weniger scharf abgegrenzt waren als bei Anglikanern, Lutheranern oder Kalvinisten. Diese Sekten lassen sich in zwei große Gruppen einteilen. Neben den Erneuerungsbewegungen, die sich häufig innerhalb bestehender Kirchen entwickelten, sich dann aber von ihnen lösten, weil sie sich deren starrer Disziplin nicht beugen wollten, gab es die eher heterodoxen Bewegungen. Sie scharten sich oftmals um prophetische Persönlichkeiten und entstanden vielfach völlig außerhalb des kirchlichen Rahmens. Besonders in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien war die Zeit zwischen 1790 und 1850 eine Phase religiösen Aufbruchs, in der viele neue Kirchen gegründet wurden und eine vergleichsweise alte Sekte, die Quäker, sich aktiver am öffentlichen Leben zu beteiligen begann. Am bekanntesten unter den Erweckungsbewegungen waren die »Primitive Methodists«, die sich um 1810 von der Hauptgemeinde der Methodisten im nördlichen Mittelengland abspalteten, die Bibelchristen Westenglands und die Freiwilligen Baptisten und Christen im Nordosten der Vereinigten Staaten. 52 Diese Bewegungen sahen es als ihre Hauptaufgabe an, die Heilsbotschaft möglichst rasch an möglichst viele Menschen weiterzugeben, und sie setzten sich dabei über Traditionen und Konventionen, die ihnen im Wege standen, unbeirrt hinweg. In der Geschlechterfrage wie auch bei anderen Problemen, die keinen direkten Bezug zur Verkündigung des Evangeliums besaßen, verhielten sie sich pragmatisch. In den Anfangsjahren gab es viele predigende Frauen, und da sie oft auf zahlreiche Bekehrungen verweisen konnten, behaupteten die »Primitive Methodists« und ihnen nahestehende Sekten, Gott habe die Arbeit der Predigerinnen »anerkannt«, und die Kritik der biblischen Fundamentalisten sei somit irrelevant. Als

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diese Kirchen jedoch um die Mitte des 19. Jahrhunderts ihr Hauptaugenmerk von der Expansion auf die Konsolidierung richteten und Prozessen der Zentralisierung und Bürokratisierung unterworfen waren, griffen sie auf das konventionelle Modell eines männlichen professionellen Klerus zurück, wenngleich Frauen weiterhin als Predigerinnen in den Gemeinden tätig waren. Hatten schon bei der Erweiterung weiblicher Rollen eher praktische als grundsätzliche Erwägungen im Vordergrund gestanden, galt das auch dann noch, als sich die Rahmenbedingungen veränderten und die kirchliche Praxis anderen Ansprüchen gehorchte. Trotzdem trugen plebejische Formen religiöser Nonkonformität bei den »Primitive Methodists« zumindest mittelbar zur politischen Emanzipation von Frauen aus Arbeiterschaft und unterer Mittelschicht in Großbritannien bei. Das geschah zum einen, indem sie die männliche Exklusivität der Wirtshauskultur unterminierten und zu einem auf Haus und Familie konzentrierten Leben ermunterten, das auf der partnerschaftlichen Beziehung zwischen den Ehegatten aufbaute. Indem sie Männern und Frauen verantwortliche Ämter in der Kirchengemeinde übertrugen und Unabhängigkeitswillen, Bildungsstreben und Interesse für öffentliche Angelegenheiten in ihnen weckten, forderten die Sekten außerdem die Entwicklung einer Arbeiterkultur, aus der die Women's Cooperative Guilds, die Arbeiterkirchen und die Independent Labour Party (ILP) hervorgingen.53 Obwohl viele ILPAktivisten aus Protest gegen den unter Geistlichen und Laienführern weitverbreiteten politischen Liberalismus aus der Kirche austraten, ist es vielleicht nicht zufällig, daß eine Partei mit einer so stark nonkonformistisch geprägten Vorgeschichte sich von den anderen Vorkriegsparteien einschließlich der sozialistischen durch die bedeutende Rolle, die Frauen in ihr spielten, und durch ihre starke Unterstützung für das Frauenwahlrecht deutlich abhob. 54 Zu noch radikaleren Auffassungen in der Geschlechterfrage allerdings neigten jene verhältnismäßig kleinen Gruppierungen, die der zweiten Kategorie angehörten. Da sie die Bibel nicht als höchste Entscheidungsinstanz betrachteten, konnten sie das Verbot umgehen, das Frauen das Predigen untersagte, und auch die anderen Auslassungen über weibliche Unterordnung, die sich vor allem in den Paulus-Briefen fanden, besaßen für sie keine bindende Kraft. Wo Sekten wie die »Primitive Methodists« noch nach biblischen Rechtfertigungen für ihre religiöse Praxis suchten, fiel es Bewegungen, die die Bibel durch andere Offenbarungsquellen zu ergänzen oder gar zu ersetzen wußten, weitaus leichter, Frauen eine prominente Stellung in der Gemeinde zuzuweisen, ohne dadurch in theologische Konflikte zu geraten. Zu ihnen zählten neben prophetischen Bewegungen, deren oftmals weibliche Prediger vorgeblich eine besondere Gottesbotschaft empfangen hatten, Gruppen wie die Quäker, die die Lehre vom Inneren Licht verkündeten, und rationalistische Kirchen wie Unitarier oder Deutsch-Katholiken. Die prophetischen Bewegungen lehnten das bestehende Kanonwissen

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und Kirchenreglement am kompromißlosesten ab. 55 So bestritten die englischen »Shaker«, die sich 1774 in Amerika niederließen, zwar nicht die Autorität der Bibel, behaupteten aber, daß sich die biblische Offenbarung beständig durch neue Offenbarungen göttlicher Weisheit erweiterte, insbesondere durch solche, die ihrer Gründerin Ann Lee zuteil würden. In diesen Offenbarungen erschien Gott nicht nur als Vater, sondern auch als Mutter. Die »Shaker« übernahmen die zeitgenössische Auffassung, wonach männliche und weibliche Natur wesentlich verschieden seien, doch sie beharrten zugleich darauf, daß die Unterschiede sich ergänzten und nicht hierarchisch verstanden werden dürften. Die Doppelnatur Gottes spiegelte sich im dualen System ihrer Kirchenorganisation wider: Hier war jedem Amt, das ein Mann bzw. eine Frau innehatte, ein gleichrangiges Amt zugeordnet, das ein Angehöriger des jeweils anderen Geschlechts bekleidete. Von den vielen Gemeinschaften, die von Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA entstanden, ging die »Oneida Perfectionist Community« beim Experimentieren mit neuen Lebensformen am weitesten. Die Aufgaben wurden ohne Rücksicht auf konventionelle Geschlechterstereotypen verteilt; es gab Geburtenkontrolle und »komplexe Eheverhältnisse«, in denen sich alle Mitglieder der Gemeinschaft wechselseitig miteinander verheiratet fühlten. Die Ablehnung herrschender Rollenvorstellungen zeigte sich auch darin, daß die Frauen kurze Röcke trugen und ihr Haar kurz schneiden ließen. Die gesellschaftliche Isolation jedoch, die diese Gruppen einerseits in ihrem Experimentiereifer beflügelte, schränkte andererseits ihre Außenwirkung nachhaltig ein. Quäker und Unitarier dagegen, die der Gesellschaft insgesamt näher standen und deren konventionelles Rollenverständnis bis zu einem gewissen Grad übernahmen,56 konnten ihren Einfluß auf die Entwicklung neuer Ideen in der Geschlechterfrage viel stärker geltend machen. Die Quäker erkannten die Einwirkung des Heiligen Geistes bei Abfassung der Heiligen Schrift unumwunden an, und in diesem Punkt wußten sie sich mit den wichtigsten protestantischen Lehrmeinungen in Großbritannien und den Vereinigten Staaten einig. Aber sie betrachteten die Bibel nicht als die einzige Trägerin göttlicher Eingebung, sondern glaubten, daß der Heilige Geist jederzeit zu jedem Menschen sprechen könne - zu Frauen ebenso wie zu Männern. Deshalb hätten Frauen, nicht anders als Männer, stets das Recht und die Pflicht, in der Gemeinde zu reden, sofern sie sich dazu berufen fühlten, und sich um Probleme zu kümmern, selbst wenn sie dadurch in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerieten. Die Spiritualisten, die allerdings weiter vom Hauptstrom protestantischer Lehre entfernt waren als die Quäker, unterminierten die herrschenden Konzepte männlicher Vorherrschaft mit ähnlichen Mitteln. Wo die Quäker von der Universalität des Inneren Lichts ausgingen, glaubten die Spiritualisten an die Möglichkeit, daß jeder Mensch Botschaften von den Geistern der Toten empfangen könne. Die Pioniere der amerikanischen Spiritualismus-Bewegung in den 1840er Jahren waren Frau148 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

en, und 1876 rekrutierten sich die bekanntesten spiritualistischen Redner der Vereinigten Staaten etwa zu gleichen Teilen aus Männern und Frauen.57 Auf ganz anderen Wegen kamen Unitarier und Deutsch-Katholiken dazu, die zeitgenössische Sicht des Geschlechterverhältnisses in Frage zu stellen. Die Unitarier entwickelten sich aus dem britischen und amerikanischen Kalvinismus des späten 18. Jahrhunderts, während die Deutsch-Katholiken 1844 in Deutschland aus einer Vereinigung von katholischen und protestantischen Dissidenten hervorgingen. Als Erben der Aufklärung traten die Mitglieder dieser Bewegungen mit Nachdruck dafür ein, die Bibel im Licht der Vernunft zu interpretieren, und wiesen alle wörtlichen Auslegungen und fundamentalistischen Deutungen zurück. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts verkörperten diese beiden Gruppierungen den äußersten liberalen Flügel des zeitgenössischen Christentums. Bei den Deutsch-Katholiken stand die Frage der Frauenrechte schon sehr früh zur Debatte: Mindestens eine der ersten Gemeinden hatte weibliche Kirchenälteste, und Frauen besaßen bei Gemeindewahlen anscheinend überall das Stimmrecht, selbst wenn die Pastoren alle männlichen Geschlechts waren. 58 In den Vereinigten Staaten gehörten die vergleichsweise wenigen protestantischen Gemeinden, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit weiblichen Pastoren aufwarten konnten, zumeist den Unitariern oder der nahestehenden, eher proletarisch orientierten Universalisten-Bewegung an. 59 Sowohl Unitarier als auch Deutsch-Katholiken setzten sich tatkräftig für die Erweiterung weiblicher Bildung ein. 60 Um die Mitte des 19. Jahrhunderts spielten die Mitglieder dieser kleinen heterodoxen Kirchen eine entscheidende, weil bahnbrechende Rolle bei Aktivitäten, in denen es explizit um die Ausweitung der Frauenrechte ging. Quäker-Frauen waren 1848 maßgeblich an der Organisation der Versammlung von Seneca Falls beteiligt, die gemeinhein als Auftakt der amerikanischen Frauenbewegung gilt. Die Untersuchung einer Gruppe führender feministisch-abolitionistischer Frauen aus dieser Zeit ergab, daß fast jede dritte in der Quäker-Bewegung groß geworden war. Die erste Frau, die 1818 als Zeugin vor einem britischen Parlamentsausschuß aussagte, war eine Quäkerin, ebenso wie die Autorin des ersten Flugblatts, das 1847 für das Frauenstimmrecht eintrat. Quäker und Unitarier waren unter den Begründerinnen der britischen Frauenstimmrechtsbewegung in den 1860er Jahren zahlreich vertreten, und auch viele deutsche Frauenrechtlerinnen standen mit den Deutsch-Katholiken während deren kurzer Blütezeit von den 1840er bis in die frühen 1850er Jahre in enger Verbindung.61 Da diese radikaleren protestantischen Gruppierungen jedoch nur einen kleinen Teil der Bevölkerung für sich gewinnen konnten, waren die langsameren Veränderungen innerhalb der größeren protestantischen Kirchen längerfristig gesehen wichtiger. Spätestens seit 1820 begannen sich die Grenzen zwischen männlichen und weiblichen Sphären in den großen und angesehenen amerikanischen Kirchen, bei Kongregationalisten, Presbyterianern

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und Methodistischen Episkopalisten, zu verwischen. Vor allem die verschiedenen Erweckungsbewegungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts trugen entscheidend dazu bei, den Wirkungsbereich von Frauen in den größeren protestantischen Kirchen zu erweitern. Seit den 1820er und 1830er Jahren fingen Frauen an, gemeinsam mit Männern zu beten, während sie zuvor bei den Presbyterianern nur in besonderen Frauenversammlungen gebetet hatten. Seit der Jahrhundertmitte wurden Predigten von Frauen immer üblicher, wenngleich sie nach wie vor umstritten blieben, und 1853 fand bei den Kongregationalisten die erste Ordination einer Frau statt. Seit den 1860er Jahren gründeten Frauen Missionsgesellschaften und schickten Amerikanerinnen als Predigerinnen und Ärztinnen zu afrikanischen und asiatischen Frauen.62 Am wichtigsten aber waren die zahlreichen reformerischen Organisationen, denen sich seit den 1830er Jahren sehr viele Frauen anschlossen. Hier gewannen sie Erfahrungen, wie man Sitzungen abhielt, Gelder beschaffte, öffentlich redete, publizierte und manchmal auch protestierte. Zwar gab es stets auch Teilnehmerinnen, die ausschließlich an einem Thema interessiert waren, und nicht immer dehnten Frauen ihren Widerstand gegen traditionelle Beschränkungen und Eingrenzungen in der Kirche auch auf die weltliche Sphäre aus; zuweilen war ihnen letztere auch gänzlich gleichgültig.63 Trotzdem zogen viele Frauen aus ihrer Tätigkeit in der Kirche oder in religiös inspirierten Reformbewegungen weitergehende Schlußfolgerungen. In den 1840er und 1850er Jahren bildete das Engagement in der Antisklavereibewegung das wichtigste Sprungbrett in die Frauenrechtsbewegung. 64 Später kamen die Vorkämpferinnen für das Frauenstimmrecht sehr häufig aus der Mäßigkeitsbewegung. 65 Die aktive Mitarbeit in solchen Bewegungen ließ Frauen kritischer gegenüber den willkürlichen Beschränkungen ihrer Rechte und Wirkungsmöglichkeiten werden. Sie lieferte ihnen darüber hinaus ein wichtiges Argument, mit dem sie ihren Anspruch auf mehr Macht begründeten, daß nämlich die höheren moralischen Maßstäbe der Frauen bei der Erneuerung der Nation eine entscheidende Rolle spielen könnten.66 Dieses Argument erwies sich als besonders wirksam, wenn es darum ging, die Unterstützung protestantischer Geistlicher zu gewinnen, die offenbar zu Anfang des 20. Jahrhunderts die Verleihung des Wahlrechts an Frauen in den Vereinigten Staaten mit Nachdruck unterstützten.67 Im Gegensatz dazu gab es kaum katholische Priester, die sich für die Frauenbewegung einsetzten.68 Für die auch hier sichtbare Auseinanderentwicklung von Katholizismus und Protestantismus im Laufe des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf die Rolle von Frauen in Kirche und Gesellschaft lassen sich mehrere Erklärungen heranziehen. Eine davon berührt das jeweilige Autoritätsverständnis. Die katholische Theologie des 19. Jahrhunderts betrachtete die Kirchentradition selber als Medium göttlicher Offenbarung. Folglich stießen Katholiken, die eine so fest gegründete Tradition wie den Ausschluß der Frauen vom Prie150 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

steramt in Frage stellen wollten, auf noch größere Schwierigkeiten als die Reformer in den extrem fundamentalistischen Strömungen des Protestantismus. Demgegenüber war die protestantische Doktrin, die die Unterordnung der Frau mit dem Hinweis auf die Bibel rechtfertigte, in mindestens zweifacher Hinsicht angreifbar.69 Am deutlichsten wurde sie durch eine Entwicklung ausgehöhlt, die seit etwa 1875 die wörtliche Bibelauslegung in den protestantischen Kirchen immer mehr an den Rand drängte. 70 Aber auch im Fundamentalismus selber lag eine logische Schwachstelle, ging er doch davon aus, daß alle Sätze der Bibel ›erleuchtet‹ und miteinander vereinbar seien. Das an Frauen gerichtete Gebot des Paulus, in der Gemeinde zu schweigen, mußte demnach mit den zahlreichen Textstellen des Neuen Testaments in Einklang gebracht werden, in denen ohne jegliche Mißbilligung über Frauen berichtet wurde, die sich zu Wort meldeten. Frances Willard, Führerin der Mäßigkeitsbewegung, außerdem eine bekannte Verfechterin weiblicher Ordination, wußte »dreißig oder vierzig« Bibelstellen zu nennen, »die für ein öffentliches Wirken von Frauen für Christus sprachen, und nur zwei dagegen, und selbst diese nicht wirklich, wenn man sie richtig interpretierte«.71 Obgleich sich die Fundamentalisten gegen solche Umdeutungen zur Wehr setzten, waren sie letztlich nicht stark genug, den vielen anderen, dem Protestantismus des 19. Jahrhunderts innewohnenden Kräften standzuhalten, die das Prinzip getrennter Sphären zu entkräften suchten. Ein zweiter, allgemeiner Unterschied zwischen Katholizismus und Protestantismus, der für unsere Frage von Belang ist, macht sich an den Funktionen von Geistlichen und Laien fest. In gewisser Hinsicht war die Erweiterung der Frauenrollen innerhalb der protestantischen Kirchen nur eine Konsequenz der verbesserten Stellung des Laienstandes insgesamt, wie es denn auch, von einigen Ausnahmen abgesehen, die am wenigsten vom Klerus beherrschten Gruppierungen des Protestantismus waren, die den Partizipationsforderungen von Frauen im 19. Jahrhundert am wohlwollendsten gegenüberstanden.72 Hierbei kam den Erweckungsbewegungen eine besonders große Bedeutung zu, da sie einen Rahmen schufen, in dem konventionelle Vorurteile umso entschlossener beiseite geschoben werden konnten, je enthusiastischer das heraufziehende Tausendjährige Reich Christi herbeigesehnt wurde. Als Laien damit begannen, Gebetsgruppen zu bilden, zu predigen und reformerische Organisationen zu gründen, war der Widerstand seitens konservativer Pastöre relativ schwach, und viele Geistliche boten ihre Hilfe an. Katholische Missionen dagegen, die protestantischen Erweckungsbewegungen in manchem ähnelten, unterlagen einer strengen Kontrolle durch den Klerus. Sie mündeten typischerweise in der Gründung kirchlicher Bruderschaften, die gleichfalls unter geistlicher Aufsicht standen und hauptsächlich frommen Zwecken dienten.73 Trotzdem mag die partielle Emanzipation, wie sie protestantische Kirchen und Gesellschaften im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ermög-

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licht hatten, für Frauen letztlich noch enttäuschender gewesen sein als die strenge Trennung der Sphären im Katholizismus. Im liberalen Protestantismus jener Zeit waren der fortdauernde Ausschluß der Frauen von geistlichen Ämtern in den meisten Kirchen sowie die Machtkonzentration in den Händen der Männer Anomalien, für die es keine zufriedenstellende Erklärung gab, während der Katholizismus seinerseits Denkmodelle anbot, die die Trennung der Sphären sinnvoll erscheinen ließen. Indem der Katholizismus den Individualismus des Protestantismus verwarf, begünstigte er die Entwicklung einer hoch differenzierten inneren Arbeitsteilung. Lebende und Tote waren aufeinander angewiesen, Laien hingen von Priestern ab, die wiederum verpflichtet waren, auf Heim, Ehe und Familie zu verzichten Dinge, an denen sie nur stellvertretend durch die Gemeindeglieder und Verwandte Anteil hatten, und auch Frauen und Männer mußten sich aufeinander verlassen können. Bezeichnend für diese wechselseitigen korporativen Abhängigkeiten war die katholische Einstellung zum Gebet. Ebenso wie die Seelen im Fegefeuer durch die Gebete lebender Verwandter Beistand erhielten, wurden Männer, die durch ihre Tätigkeit in der Welt vielfältigen Versuchungen und Glaubensanfechtungen ausgesetzt waren, durch die Gebete von Müttern, Ehefrauen und Schwestern gestärkt und vor den schlimmsten Gefahren bewahrt. Das Prinzip handelnder Männer und betender Frauen fand im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 eine besonders augenfällige Verwendung: Damals behauptete die Vereinigung der »Kinder Mariens«, die von ehemaligen Schülerinnen der Eliteschulen Lilies gegründet worden war, ihre Gebete hätten die Stadt vor feindlicher Besetzung und Bürgerkrieg bewahrt. Anschließend sammelten sie große Geldsummen für den Bau einer Kirche zum Zeichen ihres Dankes. 74 Die katholische Theologie ermöglichte es auf diese Weise auch den passiv scheinenden Gemeindegliedern, im Leben der Glaubensgemeinschaft eine wichtige Rolle zu spielen. Darüber hinaus trugen die Hinweise auf das Beispiel Marias, die sich in der katholischen Lehre des 19. Jahrhunderts auffällig häuften, nicht unerheblich dazu bei, in den Frauen ein Bewußtsein ihrer eigenen religiösen Identität und Berufung zu wecken. Mädchen wurden von ihren Müttern dazu erzogen, in Maria ein Vorbild zu sehen, und diese Botschaft wurde durch Lehrer und Priester immer wieder bestärkt. In der Welt katholischer Frauen des späten 19. Jahrhunderts, von den bürgerlichen Villen in Lille bis zu den Mietskasernen in New York, war Maria stets allgegenwärtig, dargestellt auf zahllosen Bildern und Altären, zu denen sie pilgerten, und durch den Namen, den Millionen katholischer Frauen trugen. Katholische Mädchen wurden zu Töchtern Mariens; als Mütter bezogen sie später Stärke aus dem Wissen, daß Maria dieselben Freuden und Leiden erlebt und erlitten hatte, und in der Not erflehten sie ihre Hilfe. 75 Wo der Protestantismus ein männlich definiertes Ideal der Menschlichkeit präsentierte, hielt der Katholizismus folglich zwei Ideale bereit, Jesus und Maria. Zugleich neigte er dazu,

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beide nebeneinander zu stellen und die maskulinen Eigenschaften des einen mit den femininen Eigenschaften des anderen Ideals zu kontrastieren. Damit stärkte er den Sinn der Frauen für ihre persönliche Würde und Ansehen aber auch die Kräfte, die Frauen in einer ›Frauenwelt‹ gefangen hielten.

Anmerkungen 1 P. Drews, Das kirchliche Leben der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche des Königreichs Sachsen, Tübingen 1902, S. 365. Drews' Äußerung bezieht sich auf die Großstädte Leipzig und Dresden. 2 Zur katholischen Lehre in den 1960er Jahren vgl. zwei Bücher, die, obgleich sie von verschiedenen Standpunkten ausgehen, zu ähnlichen Schlußfolgerungen gelangen: M. Daly, The Church and the Second Sex, New York 1975 2 ; G. Tauard, Woman in the Christian Tradition, Notre Dame 1973. Zur Statistik weiblicher und männlicher Religionsausübung in den 1950er und 1960er Jahren in Frankreich s. F.-A. Isambert u. J . - P . Terrenoire, Atlas de la pratique religieuse des catholiques en France, Paris 1980. 3 F. Lebrun (Hg.), Histoire des catholiques en France, Toulouse 1980, S. 324; P. Pieper, Kirchliche Statistik Deutschlands, Freiburg 1899, S. 233. Für London und New York s. Tab. 1 u. 2. 4 R. D. Shiels, The Feminisation of American Congregationalism 1730-1835, in: American Quarterly, Bd. 33, 1983, S. 48f.; H. McLeod, Building the ›Catholic Ghetto‹: Catholic Organisations 1870-1914, in: W. J . Shiels u. D. Wood (Hg.), Voluntary Religion, Oxford 1986, S. 434; M . Marrus, Pilger auf dem Weg: Wallfahrten im Frankreich des 19. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft, Bd. 3, 1977, S. 341; P. Boutry u. M. Cinquin, Deux pélérinages au XIXe siècle, Paris 1980, S. 105. 5 M. Ewens, The Leadership of Nuns in Immigrant Catholicism, in: R. R. Ruether u. R. S. Keller (Hg.), Women and Religion in America, Bd. 1: The Nineteenth Century, San Francisco 1981, S. 101; C. Langlois, Le catholicisme au feminin, Paris 1984, S. 308. 6 H. McLeod, Protestantism and the Working Class in Imperial Germany, in: European Studies Review, Bd. 12, 1982, S. 337; ders., Class and Religion in the late Victorian City, London 1974, S. 66-68. 7 J . McMillan, Clericals, Anti-Clericals and the Women s Movement in France under the Third Republic, in: Historical Journal, Bd. 24, 1981, S. 361-376. 8 M. Segalen, Mari et femme dans la société paysanne, Paris 1980, S. 156-158. 9 B. G. Smith, Ladies of the Leisure Class: The Bourgeoises of Northern France in the Nineteenth Century, Princeton 1981, S. 86, 105f., 118. 10 Ebd., S. 97; C. McDannell, The Christian Home in Victorian America 1840-1900, Bloomington 1986, S. 134-136. 11 R. Mudie-Smith (Hg.), The Religious Life of London, London 1904, S. 271. 12 Eine Zusammenfassung der Ergebnisse wurde in der »New York Times« v. 24. 11. 1902 veröffentlicht. 13 R. Cobb, Les armées révolutionnaires, 2 Bde., Paris 1961-3; Bd. 2, S. 644-647. 14 M. M . Dunn, Saints and Sisters: Congregational and Quaker Women in the early Colonial Period, in: I. W. fames (Hg.), Women in American Religion, Philadelphia 1980, S. 27-46. 15 G. F. Moran, ›Sisters‹ in Christ: Women and the Church in Seventeenth-Century New England, in: James, Women, S. 47-65; L. T. Ulrich, Vertuous Women Found: New England Ministerial Literature 1688-1735, in: ebd., S. 67-87; J . Rendall, The Origins of Modern Feminism in Britain, France and the United States 1780-1860, London 1985, S. 28f.; O. Hufton, The Reconstruction of a Church 1796-1801, in: G. Lewis u. C Lucas (Hg.), Beyond the Terror: Essays in French Regional and Social History 1794-1815, Cambridge 1983, S. 22f.

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16 Vgl. z. Β. J . Sperber, The Shaping of Political Catholicism in the Ruhr Basin 1848-1881, in: Central European History, Bd. 16, 1983, S. 347-367; R. Magraw, Popular Anti-Clericalism in nineteenth-Century rural France, in: J . Obelkevich, L. Roper u. R. Samuel (Hg.), Disciplines of Faith, London 1987, S. 369 f. 17 C. Smith-Rosenberg, Disorderly Conduct, New York 1985, S. 151, beschreibt die Erwek­ kungsbewegungen des frühen 19. Jh. als »a massive rite de passage marking the emergence of an American Bourgeoisie«. 18 A. A. Maclaren, Religion and Social Class: The Disruption Years in Aberdeen, London 1974; J . Hunter, The Making of the Crofting Community, Edinburgh 1976. 19 Vgl. dazu die ausführliche Diskussion bei E.J. Hobsbawm, Worlds of Labour, London 1984. S. 33-48. 20 R. Burman, ›She Looketh Well to the Ways of her Householde The Changing Role of Jewish Women in Religious Life c. 1880-1930, in: G. Malmgreen (Hg.), Religion in the Lives of English Women 1760-1930, London 1986, S. 234-259. 21 Vgl. z. Β. G. Connolly, Irish and Catholic: Myth or Reality, in: R. Swifi u. S. Gilley (Hg.), The Irish in the Victorian City, L ondon 1985, S. 225-254; F. Charpin, Pratique religieuse et formation d'une grande ville: Marseille 1806-1958, Paris 1964, S. 281-301. 22 Diesen Aspekt erwähnt M. Kaplan, Priestess and Hausfrau: Women and Tradition in the German Jewish Family, in: S. M. Cohen u. P. E. Hyman (Hg.), The Jewish Family, New York 1986, S. 75 f. 23 R. Orel. The Madonna of 115th Street, New Haven 1985. 24 W. v. Hippel, Industrieller Wandel im ländlichen Raum, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 19, 1979, S. 107-111. 25 Vgl. S. Bonnet, Verriers et bûcherons d'Argonne, in: F. Bédarida u. J . Maitron (Hg.), Christianisme et monde ouvrier, Paris 1975, S. 222, wo eine Region in Ostfrankreich beschrieben wird, die eine lange Tradition von Arbeitsmigration und Nichtbeteiligung der männlichen Bevölkerung am katholischen Gemeindeleben aufweist. 26 Vgl. die Argumente bei K. Hausen, Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere, in: W. Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363-393. 27 Segalen, Mari et femme, S. 160-162. 28 So z. B. Barbara Welter in ihrem bahnbrechenden Artikel: The Feminisation of American Religion 1800-1860, in: M. S. Hartmann u. L. Banner (Hg.), Clio's Consciousness Raised, New York 1976, S. 137-157. 29 A. Daumard, La bourgeoisie parisienne de 1815 à 1848, Paris 1963, S. 365-368; J . Michelet, Du Prêtre, De la Femme, De la Familie, Paris 1845, S. V f. »Wir können mit unseren Müttern, unseren Frauen und unseren Töchtern über Themen sprechen, über die wir auch mit Unbeteiligten sprechen, . . . aber nicht über die Dinge, die das Wesen des moralischen Lebens berühren, die ewigen Dinge, die Religion, den Geist Gottes«. 30 Smith, Ladies, S. 93-122. 31 In der Diözese von Orleans schwankte der Anteil der Frauen, die 1852 zur Osterkommunion gingen, je nach Kanton zwischen 7 und 60%, der der Männer zwischen 0,4 und 16%: C. Marcilhacy, Le diocèse d'Orléans au milieu du XIXe siécle, Paris 1964, S. 302, 304, 490f. 32 G. Dupeux, French Society 1789-1970, London 1976, S. 186. 33 Zit. bei Marcilhacy, Diocese, S. 215. 34 McLeod, Protestantism, S. 337-339. 35 Zit. bei Cobb, Les armées, S. 646 f. 36 Hufion, Reconstruction, S. 23-25. 37 Cobb, Les armées, S. 647. 38 R. Dupuy, Les femmes et la Contre-Révolution dans l'Ouest, in Bulletin d'histoire économique et sociale de la Revolution Française, Année 1979, Paris 1980, S. 69f. 39 Shiels, Feminisation, S. 51. 40 M. P. Ryan, A Women's Awakening, in: James, Women, S. 89-110.

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41 Ν. Α. Hewitt, Women's Activism and Social Change: Rochester, New York, 1822-1872, Ithaca 1984, S. 50. 42 Eine in der neuenglischen Erweckungsbewegung engagierte Frau schrieb 1831: »O, how solemn, how great the responsibilities of a Mother, - how great, how arduous and yet delightful work to teach and train these dear children aright - I desire to feel it in all its length and breadth - and I feel I am in a great measure responsible for their future conduct and destiny.« Zit. bei Ν. F. Cott, The Bonds of Womanhood: ›Woman's Sphere‹ in New England 1780-1835, New Haven 1977, S. 46 f. 43 L . Davidoff u. C. Hall, Family Fortunes: Men and Women of the English Middle Class 1780-1850, L ondon 1987, S. 86-92; die ausführlichste Diskussion findet sich in McDannell, Christian Home, wenn auch mit dem Schwergewicht aufder Theorie und weniger aufder Praxis. 44 Segalen, Mari et femme, S. 162, schreibt, daß im ländlichen Frankreich die Kirche der einzige öffentliche Raum war, der Frauen außerhalb des Arbeitsplatzes offenstand; für bürgerliche Frauen gab es in Birmingham um 1840 ein paar weitere Möglichkeiten wie ζ. Β. Konzertsäle und vornehme Geschäfte. Siehe L. Davidoff u. C. Hall, The Architecture of Public and Private Life: English Middle Class Society in a Provincial Town 1780 to 1850, in: D. Fraser u. A. Sutcliffe (Hg.), The Pursuit of Urban History, London 1983, S. 327-345. 45 Rendall, Origins, S. 148; Michelet, Du Prêtre, S. 259-267. Von jungen, unverheirateten Frauen wurde selbstverständlich erwartet, daß sie die Messe regelmäßig besuchten (Boutry u. Cinquin, Deux pélérinages, S. 29). 46 Cott, Bonds, S. 141. 47 R. Cobb, Paris and its Provinces 1792-1802, London 1975, S. 124f., 131; Hufton, Reconstruction, S. 38-42, 48-50. 48 Smith-Rosenberg, Disorderly Conduct, S. 109-128; S. D. Lee, Evangelical Domesticity, in: Η. F. Thomas u. R. S. Keller (Hg.), Women in New Worlds, Bd. 1, Nashville 1981, S. 293-309. 49 M. Vicinus, Independent Women: Work and Community for Single Women 1850-1920, London 1985, S. 52f.; McL eod, ›Catholic Ghetto‹, S. 435; Cott, Bonds, S. 142-146. 50 Vicinus, Independent Women, S. 72-74; Ewens, Nuns in Immigrant Catholicism, S. 105-7; Langlois, Catholicisme au feminin, S. 643; Orsi, Madonna, S. 84 f. 51 R. J . Evans, The Feminists, London 1977, S. 134ff. 52 Vgl. D. M. Valenze, Prophetic Sons and Daughters: Female Preaching and Popular Religion in Industrial England, Princeton 1985; E. D. Graham, Called by God: The Female Itinerants of early Primitive Methodism, Ph. D., University of Birmingham 1987; L. Billington, ›Female L aborers in the Church‹: Women Preachers in the North-eastern United States 1790-1840, in: Journal of American Studies, Bd. 19, 1985, S. 369-384. 53 A. Ainsworth, Religion in the Working Class Community, in: Histoire Sociale, Bd. 10, 1977, S. 354-380; Η. McLeod, Religion in the British and German L abour Movements c. 1890-1914: A Comparison, in: Bulletin of the Society for the Study of Labour History, Bd. 51, 1986, S. 25-28; D. F. Summers, The Labour Churches and Allied Movements of the late 19th and early 20th Centuries, Ph. D., University of Edinburgh 1958, S. 117-119, erwähnt die große Zahl der in den Arbeiterkirchen tätigen Frauen. 54 J . Liddington u. J . Norris, One Hand Tied Behind Us: The Rise of the Women's Suffrage Movement, London 1978, S. 43-46, 125. Vgl. auch J . Liddington, The Life and Times of a Respectable Radical: Selina Cooper 1864-1946, London 1984, S. 335-338. Cooper war ein führendes Miglied der ILP und setzte sich in Nelson, Lancs., wo die ILP der Gemeinde der »Independent Methodists« »entsprang«, aktiv für das Frauenstimmrecht ein. Cooper und ihr Mann kamen beide aus Familien der »Primitive Methodists«, obgleich sie selber anscheinend nie aktiv in der Kirchengemeinde tätig war, im Gegensatz zu vielen anderen Sozialisten der Stadt. 55 Vgl. M. F. Bednarowski, Outside the Mainstream: Women's Religion and Women Religious Leaders in Nineteenth-Century America, in: Journal of the American Academy of Religion, Bd. 48, 1980, S. 207-231; R. R. Ruether, Women in Utopian Movements, in: Ruether u. Keller (Hg.), Women and Religion, Bd. 1, S. 46-100. 56Davidoffu.Hall, Family Fortunes, S. 135-140.

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57 Bednarowski, Outside the Mainstream, S. 215; vgl. auch A. Owen, Women and nineteenth-century spiritualism: Strategies in the subversion of femininity, in: Obelkevich u. a., Disciplines, S. 130-153; B . G. Hersh, The Slavery of Sex, Urbana 1978, S. 148f. 58 C. M. Prelinger, Religious Dissent, Women's Rights and the Hamburger Hochschule für das weibliche Geschlecht in mid-nineteenth century Germany, in: Church History, Bd. 45, 1976, S. 42-55. 59 N. A. Hardesty, Women Called to Witness: Evangelical Feminism in the 19th Century, Nashville 1984, S. 97 f. 60 Prelinger, Religious Dissent; O. Banks, Faces of Feminism, Oxford 1981, S. 30, 38. 61 Hersh, Slavery of Sex, S. 119-156; Banks, Faces, S. 23-26, 118-120; Prelinger, Religious Dissent. Vgl. auch Hewitt, Women's Activism, S. 38-68: In Rochester, Ν. Y., einer Hochburg von Frauenorganisationen, existierten zwischen 1822 und 1872 drei wichtige Netzwerke, die jeweils eng mit einzelnen Kirchen verbunden waren. Im ersten, hauptsächlich auf Wohltätigkeitsarbeit konzentrierten, engagierten sich die wohlhabendsten und sozial angesehensten Frauen der Stadt, die zumeist der episkopalistischen und presbyterianischen Kirche angehörten. Die Aktivistinnen des zweiten Netzwerks, die offensiv gegen Sklaverei, Alkohol und Prostitution kämpften, entstammten in der Regel den Methodisten, Baptisten, Kongregationalisten und einigen Presbyterianergemeinden. Das dritte Netzwerk schließlich, aus dem die Pioniere der Frauenrechtskampagnen hervorgingen, rekrutierte seine Mitglieder anfangs überwiegend aus Quäkern, später aus Unitariern. 62 Hardesty, Women Called, S. 86-103; Β. Β. Zikmund, The Struggle for the Right to Preach, in: Ruether u. Keller, S. 193-241; R. S. Keller, L ay Women in the Protestant Tradition, in: ebd., S. 242-293. 63 L ee, Evangelical Domesticity, S. 293-309; O. Anderson, Women Preachers in mid-Victo­ rian Britain: Some Reflexions on Feminism, Popular Religion and Social Change, in: Historical Journal, Bd. 12, 1969, S.483f. 64 Hersh, Slavery of Sex, S. 1 ff. 65 Evans, Feminists, S. 53, 60-63, erwähnt die Bedeutung der Women's Christian Temperance Union, die nicht nur in den USA, sondern auch in Neuseeland und Australien, die als erste Länder das Wahlrecht für Frauen einführten, aktiv für das Frauenstimmrecht kämpfte. 66 Vgl. dazu die Diskussion über die Ideen von Frances Willard bei N. Hardesty, Minister as Prophet? Or as Mother?, in: Thomas u. Keller (Hg.), Women in New Worlds, S. 97, und bei C. D. Gifford, For God and Home and Native Land, in: ebd., S. 322. 67 A. S. Kraditor, The Ideas of the Woman Suffrage Movement 1890-1920, New York 1965, S. 94. Auch in Kanada und Südaustralien taten sich protestantische Geistliche anscheinend schon früh durch ihre Unterstützung für das Frauenstimmrecht hervor: C. L. Cleverdon, The Women Suffrage Movement in Canada, Toronto 1974 2 , S. 14; N. MacKenzie, Women in Australia, London 1963, S. 34. 68 T.J. Kenealley, Catholicism and Woman Suffrage in Massachussets, in: Catholic Historical Review, Bd. 53, 1967, S. 54. 69 Eine typische protestantische Sichtweise um die Mitte des 19. Jahrhunderts findet sich bei J . A. James, Female Piety: or the Young Woman's Friend and Guide through Life to Immortality, London 1852, S. 49-53, wo die Unterordnung der Frauen aus der »unfehlbaren Offenbarung der Hl. Schrift« abgeleitet wird. 70 S. dazu für die U S A Kraditor, Suffrage Movement, S. 75-95. 71 Zit. bei Hardesty, Minister as Prophet?, S. 91. 72 Die Ausnahme bilden einige von Laien geführte fundamentalistische Bewegungen wie z. B. »Brethren« und »Christadelphians«, die sich hauptsächlich um die Erneuerung der wahren Kirche und die Erhaltung der Reinheit der Lehre innerhalb der Kirche bemühten und jeden nicht ausdrücklich durch die Hl. Schrift legitimierten Usus ablehnten. 73 J . P. Dolan, Catholic Revivalism, Notre Dame 1978, S. 60f., 174-179, 196f. 74 Smith, Ladies, S. 117f. 75 Ebd., S. 100, 103, 109-111; Orsi, Madonna, S. 206-210.

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M A R I O N KAPLAN

Freizeit - Arbeit Geschlechterräume im deutsch-jüdischen Bürgertum 1870-1914

1. Fallen des Begriffs Unsere Wörterbücher umschreiben Freizeit mit »freier, beschäftigungsloser Zeit«, mit »Nicht-Arbeit« und stellen die historische Frauenforschung damit vor ein schwieriges Problem. Solange man unter Freizeit etwas versteht, das als Gegensatz, als Ergänzung oder völlig jenseits bezahlter Arbeit stattfindet, bezeichnet der Begriff einen wichtigen Teil im täglichen Leben von Männern, wie neueren Untersuchungen über die Freizeit männlicher Arbeiter im 19. Jahrhundert zu entnehmen ist. Was Frauen betrifft, dürfte diese Definition eher verwirren als zum besseren Verständnis ihrer Erfahrungen beitragen. Schließlich gestand man bürgerlichen Frauen nicht einmal zu, daß sie überhaupt ›arbeiteten‹. Zeitgenossen beiderlei Geschlechts sahen im 19. Jahrhundert weder die Hausarbeit der Frauen, die als Liebe, Pflicht oder natürliche Neigung charakterisiert wurde, noch ihr kulturelles Engagement im Wohnzimmer oder Konzertsaal als ›Arbeit‹ an. Hing doch ihr Erfolg als bürgerliche Frauen geradezu davon ab, wie überzeugend sie den Eindruck vermittelten, daß sie keine Arbeit verrichteten - weder im Haushalt noch in ihrer Freizeit. Wenn Frauen jedoch nicht ›arbeiteten‹, wann hatten sie dann ›freie Zeit‹? Zudem hat sich die Definition des Begriffs ›Freizeit‹ im Lauf der Zeit verändert. Im vorindustriellen Europa assoziierten Männer wie Frauen Freizeit mit religiösen Feiertagen und gemeinschaftlichen Anlässen. Da Wohnung und Arbeitsplatz gewöhnlich eine Einheit bildeten, spielte sich unstrukturierte, nicht klar abgegrenzte Zeit innerhalb der Wohnung oder in unmittelbarer Nähe dazu ab. Mit der Industrialisierung verlagerte sich die bezahlte Arbeit nach außen, so daß sich Arbeit und Spiel zumindest für Männer räumlich voneinander entfernten. Bei Männern, die außerhalb des Hauses arbeiteten, konnte mehr und mehr eine strikte Trennungslinie zwischen ›öffentlich‹ (Arbeit) und ›privat‹ (Spiel) gezogen werden. Zu Hause war jedoch keine so strenge Unterscheidung möglich. Die Arbeit der Hausfrau war in der Tat niemals vollendet, ihr Arbeitsplatz blieb mehr oder weniger an das Haus gebunden. Unbezahlte Hausarbeit und Freizeit-Arbeit gingen ineinander über; jede dieser Tätigkeiten umfaßte Pflichten und Verantwortun157 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

gen ohne klare Abgrenzung. Bürgerliche Frauen verblieben überwiegend in der privaten Sphäre, wo sich Arbeit und Freizeit in einer Weise überschnitten, wie es in der vorindustriellen Epoche für beide Geschlechter üblich gewesen war. Im Kaiserreich galt Freizeit als persönliche, private Angelegenheit. Dennoch eigneten sich gerade Freizeitaktivitäten hervorragend dazu, die Grenzen der Privatsphäre zu überschreiten. In ihrer ›Freizeit‹ pflegten Frauen Beziehungen, die ihre unmittelbare Kernfamilie mit den Netzwerken gesellschaftlicher und geschäftlicher Interessenkreise verbanden. Andererseits bot Freizeit auch eine Gelegenheit und einen Ort, wo eine kulturelle Osmose zwischen öffentlichem und privatem Bereich stattfinden konnte. Heute sind erwerbstätige Frauen der Mittelschicht eher in der Lage, zwischen bezahlter Arbeit und Hausarbeit zu unterscheiden. Freizeit ist für sie die Zeit, in der sie sich weder um das eine noch um das andere kümmern. Zugleich aber werden diese Frauen, ähnlich wie die Männer des 19. Jahrhunderts, in ihrer Freizeit wieder für ihre Arbeit reaktiviert, motiviert und »neugeschaffen«, wovon ihre soziale und berufliche Stellung oft profitiert. Eben dieser Wandel in der Definition von Freizeit wie auch die zahlreichen Unklarheiten des Begriffs sind für die Frauengeschichte zugleich wichtig und problematisch. Freizeit war (und ist) eng mit der Gesellschaftsstruktur verknüpft. Der Begriff war für die Abgrenzung der mittleren von den unteren Schichten von entscheidender Bedeutung. Die ›Müßigen‹ oder ›Mußeklassen‹ nahmen Zeit und Konsumgüter in weit höherem Maße für sich in Anspruch als jene, die ihren Platz weiter unten in der Gesellschaftspyramide fanden. Symbole und Realität dieser Lebensweise wurden in erster Linie von Frauen verkörpert: Während sich bürgerliche Männer in der auf Konkurrenz und vollem persönlichen Einsatz beruhenden Geschäfts- und Berufswelt verausgabten, verliehen bürgerliche Frauen ihrer Klasse den äußeren Glanz des Nichtstuns. Freizeit besaß folglich eine wichtige soziale Funktion. Was man mit seiner Freizeit anfing, trug zur Konstitution einer sozialen Klasse und zur Stabilisierung der eigenen gesellschaftlichen Position bei. Mit der zeitlich-räumlichen Festlegung von ›Freizeit‹ und ihrer sozialen Funktion eng verbunden ist die Frage, ob Freizeit Freude machte. War Freizeit Kurzweil? Bereitete der äußere Glanz Vergnügen? Gewiß, was für den einen Vergnügen ist, mag für den anderen eine Qual bedeuten. Situationen, in denen wir uns heute nicht wohl fühlen würden, können von guterzogenen Bürgerfrauen als äußerst angenehm empfunden worden sein, während andere vielleicht nur vorgaben, sich zu amüsieren. Außerdem kann auch Arbeit Spaß machen. Der wichtige Unterschied zwischen Arbeit und Spieljedoch, der im Leben der Männer leichter auszumachen ist, nämlich die räumliche und zeitliche Trennung von Büro und guter Stube, bleibt im Leben der Frauen unsichtbar. Ist das Vorlesen von Gute-Nacht-Geschichten Arbeit oder Vergnügen, oder ist es beides? In der historischen Erfahrung von Frauen sind die Grenzen zwischen Pflicht und Vergnügen, wie auch zwischen Arbeit und Freizeit, außerordentlich fließend. 158 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

Eine letzte Schwierigkeit: Wenn wir die Frauen des Bürgertums um die Jahrhundertwende über ihre Freizeit befragen könnten, würden unsere Wahrnehmungen von den ihrigen deutlich abweichen. Während wir Freizeit möglicherweise als frei verfügbare, von uns kontrollierte Zeit definierten, hätten sie darunter die Zeit verstanden, die sie nicht damit verbrachten, den Haushalt zu führen (obwohl eine Abendgesellschaft zusätzliche Hausarbeit nach sich zog) oder das Baby zu wickeln (obwohl ein Spaziergang mit dem Kinderwagen im Park zu den mütterlichen Pflichten gehörte). Auch der Besuch eines Kurorts oder eines Konzertsaals hätte für sie Freizeit bedeutet. Aus heutiger Perspektive war dies alles bestenfalls ein Tempowechsel. Wenngleich wir über den Inhalt freier Zeit wahrscheinlich auf keinen gemeinsamen Nenner kämen, könnten wir doch hinsichtlich ihrer Funktion und Schwierigkeiten Einigkeit erzielen. Auf unsere beharrlichen Fragen hätten Frauen des 19. Jahrhunderts wohl zugegeben, daß Freizeit, selbst wenn sie Vergnügen bereitete, zielorientiert, klassenbewußt und anstrengend war. Was gemeinhin Freizeit genannt wurde, stellte sich Frauen als ernstliche Arbeit dar. Innerhalb der Familie vermehrte sie die Hausarbeit, außerhalb der Familie ging es darum, mit Einfühlungsvermögen das Bildungsbürgertum zu pflegen - ein Phänomen, das ohne die ›gebildete Frau‹ undenkbar gewesen wäre. Im jüdischen Bürgertum stärkte die Zeit und Energie, die Frauen neben ihrer Hausarbeit aufwandten, darüber hinaus den ethnischen Zusammenhalt und intensivierte familiale Bindungen. Weiterhin erforderte Freizeit in einer Umwelt, die häufig von Arroganz und Abwehr gegenüber Juden geprägt war, behutsame gesellschaftliche Navigationsmanöver. Bei dem Versuch, die Freizeit des deutsch-jüdischen Bürgertums zu analysieren, werden im folgenden sowohl definitorische Probleme aufgezeigt als auch ein vorläufiges Vokabular entwickelt, mit dem diese Probleme diskutiert werden können. Wichtig ist, daß wir an die Funktion von Freizeit neue Fragen stellen und nach neuen Quellen suchen, mit denen sie zu beantworten sind. Wir müssen unser Konzept von Freizeit überdenken, indem wir ihm neue Bedeutungen anlagern und andere Begriffe wie weibliche Geselligkeit verwenden, wenn wir uns auf die Aktivitäten beziehen, die bisher unkritisch als ›Freizeit‹ bezeichnet wurden. Dieser Beitrag besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil behandelt Freizeitaktivitäten des deutsch-jüdischen Bürgertums in dem Umfeld, in dem der größte Teil dieser Zeit verbracht wurde: im engsten Familienkreis. Hier wird die Rolle und Funktion der Hausfrauen und Mütter bei der Initiierung und Durchführung familialer Freizeitgestaltung näher beleuchtet und die in diesem Bereich eher nachgeordnete Rolle der Männer angesprochen. Der zweite Teil untersucht die Geselligkeit deutsch-jüdischer Frauen außerhalb der engeren Familie, angefangen von zwanglosen Treffen mit Freunden bis hin zu relativ bescheidenen, lokalen Formen des Freizeitverhaltens. Diese Aktivitäten fanden in erster Linie, wenn auch nicht ausschließlich, im weib159 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

lichen Kreis statt, wobei zwischen Unternehmungen, an denen Frauen in ihrer Eigenschaft als Gattinnen, also im Interesse ihrer Männer und Familien teilnahmen, und anderen zu unterscheiden ist, die sie aus eigener Neigung und auf eigene Initiative hin betrieben. Die Rolle jüdischer Männer bei der außerfamilialen Freizeitgestaltung war sehr eingeschränkt und wird am Ende kurz erläutert. Bürgerliche Freizeit war vor allem durch zwei Merkmale gekennzeichnet. Zunächst war sie für beide Geschlechter verschieden organisiert. Im allgemeinen beinhalteten die Aktivitäten verheirateter Frauen fest umrissene Pflichten, selbst wenn dies auf den ersten Blick nicht so deutlich war. Je mehr Freizeit zur Verfügung stand, um so komplexer wurde sie: Frauen mußten sie in einer Weise ausfüllen, die ihrer Gesellschaftsschicht, ihrem Alter, ihrer Generation und ihrem Geschlecht entsprach. Sie umfaßte ein breites Spektrum von Aktivitäten, von einem genußreichen und entspannenden Kuraufenthalt bis zu der Aufregung, die Vorbereitung und Durchführung einer Abendgesellschaft mit sich brachten, von geistiger Anregung bis zu physischer Anstrengung. Im Kaiserreich war Freizeit zum größten Teil eine Familienangelegenheit, und Frauen, besonders verheiratete Frauen, trugen die Verantwortung für die wichtigste Art der Freizeitbeschäftigung Familienfeiern. Frauen mittleren Alters, die Mütter kleiner oder unverheirateter Kinder, schufen ein Forum für ihre Männer und Kinder, für ihre Eltern und unverheirateten Geschwister. Dagegen galt Freizeit verheirateten Männern oder Vätern durch die räumliche Entfernung von Geschäft und Büro eher als Erholung, obwohl sie auch hier eine gesellschaftliche Funktion erfüllte. Die mit den Kindern verbrachte Zeit war eine Belohnung und Rechtfertigung, keine Mehrarbeit wie bei ihren Frauen. In der Tat wurde die Zeit, die Männer zu Hause verbrachten, von jedermann als Erholung aufgefaßt, wobei es keine Rolle spielte, ob es sich um einen ruhigen Abend oder ein festliches Ereignis handelte. Eine Frau erinnerte sich: »Vater, der sehr angestrengt tätig war, wollte in der Familie seine Ruhe haben. Mit Klagen über die Kinder, Dienstboten usw. durfte Mutter ihm nicht kommen. ›Aufregungen habe ich genug im Geschäft‹, pflegte er zu sagen.« 1 Männer gaben Ratschläge, wie die Zeit in der Familie ausgefüllt werden sollte, sie nahmen daran teil, waren passive Gastgeber, manchmal sogar Initiatoren, aber Frauen sorgten dafür, daß alles ›lief‹. Zweitens waren weibliche Freizeitrollen im Bürgertum schichtspezifisch differenziert. Da sie auf die Hilfe von Hausangestellten rechnen konnten, war die eigentliche Freizeit-Arbeit für Frauen, die begütert waren oder der oberen Mittelschicht angehörten, körperlich nicht anstrengend. Sie widmeten einen Großteil ihrer Zeit kulturellen städtischen Ereignissen und erfüllten demonstrativere gesellschaftliche Pflichten, die ihr soziales Ansehen wahrten oder sogar erhöhten. Frauen des kleinen und mittleren Bürgertums benötigten ein größeres Maß an physischer Energie, um sich und ihrer Familie eine Entspannung zu gewähren, die in der Regel häuslicher Natur

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war. Ihre Hausarbeit war buchstäblich nie getan. Wie nahmen Frauen mit einer Tätigkeit, die sie ständig forderte, Freizeit wahr? Dieses Problem stellte sich selbst jenen Frauen, die über Hausangestellte verfügten. Freizeitaktivitäten verringerten nicht etwa die Hausarbeit der Frauen, sondern ließen sie wieder einmal nur als Vergnügen erscheinen. In all diesen Fällen waren sich Ehepaare durchaus bewußt, daß Heim und Familienleben »den Erfolg des Unternehmens« verkörperten. Die jüdische Schriftstellerin Lina Morgenstern schrieb 1886: »Die Häuslichkeit ist also das Gebiet, welches das Maaß unseres wirthschaftlichen Erfolges darstellt und Niemand soll dies Gebiet mehr beherrschen als die Frau. « 2 Von Frauen erwartete man, daß sie Status und Vermögen ihrer Ehemänner repräsentierten. Zugleich aber mußten sie mit Rücksicht auf die Überempfindlichkeit eines sich assimilierenden Judentums sowie die von Antisemiten häufig erhobenen Vorwürfe eines exzessiven Materialismus sorgsam darauf bedacht sein, Frivolität und Prahlerei zu vermeiden. 2. Freizeit in Haus und Familie Bedingt durch ein Zusammenspiel sozialer und ökonomischer Entwicklungen, wandelte sich die Rolle jüdischer Frauen wie die bürgerlicher Frauen insgesamt in den 1860er und 1870er Jahren von der Geschäftspartnerin und Produzentin zur Hausfrau und Konsumentin. Im Kaiserreich sah sich die jüdische Familie geprägt von einer raschen wirtschaftlichen Mobilität, die die meisten Juden in das mittlere und höhere Bürgertum aufsteigen ließ, von Maßnahmen zur Geburtenregelung, die sie seit den 1880er Jahren zu Vorreitern des Zwei-Kinder-Systems machten, sowie von dem Wunsch, sich dem deutschen Bürgertum so schnell wie möglich zu akkulturieren. Die Familien des jüdischen Bürgertums bedurften dazu der Ehefrauen und Mütter, die die Freizeit in Haus und Familie so zu gestalten wußten, daß sie als soziale und kulturelle Mittler zwischen Familie und Gesellschaft wirkten. Die Familien verbrachten den größten Teil ihrer freien Zeit zu Haus, in einem Bereich also, der als Domäne der Frau galt. Unter der Maske des Vergnügens (obwohl es sicherlich auch Spaß machen konnte), waren Frauen hier unermüdlich damit beschäftigt, gesellschaftliche Werte und Kultur zu verbreiten und an ihre Kinder weiterzugeben. Sie brachten nicht nur - im physischen Sinne des Wortes - die nächste Generation hervor, sie trugen auch zur gesellschaftlichen Reproduktion bei. Von den Müttern erwartete man, daß sie ihren Kindern eine »gute Kinderstube« boten, eine solide bürgerliche Erziehung in Übereinstimmung mit den Standards des deutschen Bürgertums. Das taten sie nicht nur im Rahmen ihrer üblichen Pflichten, sondern auch noch in ihrer freien Zeit. Sie lasen ihren Kindern deutsche Märchen und Gute-Nacht-Geschichten vor und führten mit ihnen zusammen deutsche Theaterstücke auf.3 Gerade in jüdischen Familien nahmen die 161 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

gesammelten Werke von Goethe und Schiller, jenen Säulenheiligen bürgerlicher Ehrbarkeit und Bildung, einen herausgehobenen Platz im Familienspielplan ein.4 Deutsche Juden brachten so ihre Verbundenheit mit dem, was sie als deutsche Kultur betrachteten, im wahrsten Sinne des Wortes zum Ausdruck. Frauen waren als kulturelle Mittlerinnen gut geschult. Dazu erzogen, andere zu unterhalten und, wenn auch oberflächlich, über Literatur und Kunst zu plaudern, wurden sie zu eifrigen Konsumentinnen des wachsenden Bücherangebots und zu begeisterten Benutzerinnen der neugegründeten Leihbibliotheken.5 Bildung und Kultur, die Symbole von Rechtschaffenheit, Beständigkeit und Besitz, waren fast so real wie ihre prall gepolsterten Möbel, ihr Innendekor und die Matrosenanzüge, in die sie ihre Kinder an Feiertagen patriotisch und modisch kleideten. Zusätzliche Freizeit konnte bürgerliche Hausfrauen aber auch in »Putznärrinnen« verwandeln, die von morgens bis abends das Haus aufräumten. Auf die übertriebene Sauberkeit einer jüdischen Nachbarin angesprochen, meinte eine »Gewährsperson«: »Da habet unsre Bauersfrau keine Zeit dazu.« 6 Indem sie eine bürgerliche Häuslichkeit gestalteten, förderten jüdische Hausfrauen den Prozeß kultureller Anpassung an die Normen des deutschen Bürgertums. Das bildete sich nirgendwo deutlicher ab als im romantischen Verhältnis deutsch-jüdischer Frauen zum Klavier. Jede deutsche bürgerliche Frau mußte zur Unterhaltung von Mann und Kindern Klavier spielen können. Da es noch keine Grammophone gab, die erst im frühen 20. Jahrhundert Einzug in wohlhabendere Häuser hielten, machten die Familien-oder wenigstens die Frauenselber Musik. Das jüdische Bürgertum eiferte diesem Vorbild rasch nach. Töchter, »ob Begabung vorhanden war oder nicht«,7 wurden im Klavierspiel unterrichtet. Eine Frau, die erst verspätet und auf Wunsch ihres Verlobten Klavier spielen lernte, trug ihrer Familie regelmäßig etwas vor. 8 Klavierstunden waren im jüdischen städtischen Milieu »selbstverständlich«, aber auch Juden in ländlichen Gebieten kauften ihren Töchtern Klaviere und ließen sie unterrichten.9 Es war keineswegs ungewöhnlich, wenn ein Viehhändler ein Klavier besaß, damit seine Frau und seine Töchter darauf spielen konnten.10 Tatsächlich waren es eben solche Aktivitäten der Frauen, die den Juden auf dem Lande Anstrich und Realität einer bürgerlichen Lebensweise verliehen. Musik galt für junge Frauen als »standesgemäße« und angenehme Beschäftigung, und einige Familien entwickelten genügend Ernsthaftigkeit und Talent, daß sie eigene Quartette bilden und regelmäßig miteinander und füreinander musizieren konnten.11 Neben ihren Aufgaben als kulturelle Mittlerinnen nutzten Frauen, was ebenso wichtig war, ›Freizeit‹ auch zur Stabilisierung jüdischer Familienund Freundschaftsbeziehungen. Sie trugen Verantwortung für den moralischen Rückhalt, für Kontinuität und Organisation einer häufig in alle Richtungen zerstreuten Familie. Sie sorgten dafür, daß die Beziehungen intakt blieben und ausgebaut wurden, was oft und besonders für Juden von ent162 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

scheidender Bedeutung für das wirtschaftliche und soziale Überleben war. Wochenenden und Feiertage wurden zumeist im weiteren Familienkreis verbracht. Man amüsierte sich bei Karten- und Brettspielen, wobei Männer und Frauen häufig unterschiedliche Spiele in verschiedenen Räumen spielten. »Selbst wir Kinder saßen in einem anderen Raum und spielten ebenfalls Karten.«12 Mütter bereiteten die Lieblingsspeisen zu, von denen viele als »jüdische Gerichte« galten, und arrangierten Feste und Familien-Treffen. Oder aber sie bereiteten Picknicks vor, wenn die Familie in nahegelegenen Wäldern oder Parks wanderte und sich wie viele andere Deutsche auch an Natur und Landschaft erfreuten, die sie tief und fest ins Herz geschlossen hatten. Ob sie immer noch gegen das Klischee ankämpften, wonach Juden denaturierte Fremde auf deutschem Boden und mit der deutschen Seele ewig unvertraut wären, oder ob sie diese Verhaltensweisen mit demselben Schwung und Engagement übernahmen, mit dem sie andere deutsche Konventionen kopierten, ist schwer zu sagen. Zweifellos aber hatten jüdische Rucksack-Familien Spaß daran, inmitten ihrer bürgerlichen Mitmenschen in den Parks und Wäldern der Umgebung zu wandern und spazieren zu gehen. Eine Frau erinnerte sich an die traditionellen Familienwanderungen im Taunus mit dem obligatorischen Picknick und der späteren Einkehr in einer wundervollen Konditorei: Man kehrte »heilsam erschöpft« und in dem Bewußtsein zurück, deutsch zu sein und den Familienzusammenhalt gestärkt zu haben.13 Für Juden, die den Sabbat feierten, bot dieser die Gelegenheit zu formellen, von den Frauen geplanten »Familienbesuchen« bei Verwandten und Freunden. Dieselben Frauen, die während der Woche zwanglos miteinander geplaudert hatten, machten am Samstagnachmittag einen offiziellen »Besuch«. Der Unterschied lag in der religiösen Bedeutung des Tages und in der Anwesenheit der Ehemänner. Es gab strenge Regeln dafür, wie lange man blieb, wieviel man aß und daß der Besuch zu gegebener Zeit erwidert werden würde. In der Stadt und auf dem Lande waren Hausfrauen im allgemeinen auf unvorhergesehene Gäste vorbereitet, es sei denn, sie machten selber Besuche.14 In Süddeutschland gingen jüdische Familien Samstag nachmittags regelmäßig ins Cafe. Abends trafen sich die Familien in den örtlichen Biergärten. Die Mütter packten Picknickkörbe (die Gasthäuser waren nicht koscher), man kaufte Bier und Limonade. Selbstgemachte Desserts wurden unter den Familien ausgetauscht, während die Kinder in der Nähe spielten.15 In anderen Städten gab es andere Sabbat-Rituale wie lange Spaziergänge mit Familie und Freunden. Bei weniger religiösen Juden ersetzte der Sonntag den Sabbat, aber auch sie begingen diesen Tag als Familientag. Die jüdischen Feiertage brachten die engere und weitere Familie zusammen. Selbst wenn religiöse Zeremonien nicht beachtet oder auf ein Mindestmaß reduziert wurden, war man sich doch des jüdischen Kalenders und der Tradition bestimmter Rituale und Speisen an Feiertagen bewußt. Die Frauen

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gaben sich bei der Planung dieser Feiertage große Mühe; besondere Aufmerksamkeit schenkten sie der Zusammenstellung von Speisen, feinem Porzellan, Kerzen, festlicher Kleidung und den Einladungen an Familienmitglieder. Bei den weltlichen Juden verdrängten solche Familientreffen die ursprüngliche Bedeutung der religiösen Feiertage.16 Im religiös gebundenen jüdischen Milieu wurde die in der Regel auf Synagogenbesuche und Gebete beschränkte Rolle der Männer durch die Rolle der Frauen ergänzt. Da die jüdische Frömmigkeit weit mehr als in anderen Religionen zu Hause und in der Familie praktiziert wurde, spielten Frauen eine beherrschende Rolle - waren sie es doch, die den Rahmen schufen, in dem der Feste gedacht wurde. Eine wichtige familiale Funktion besaßen auch die Ferien. Frauen waren nicht nur Gastgeberinnen, in den meisten Fällen regten sie auch Besuche an, insbesondere den Austausch von Cousins und Cousinen innerhalb der Familien. Obwohl der genaue Nachweis hierfür noch fehlt, scheinen Juden viel mehr als die übrigen Deutschen gereist zu sein, um sich gegenseitig zu besuchen. Vielleicht wurden diese Kontakte deshalb so eifrig aufrechterhalten, weil die Familienbindungen durch eine hohe Migrations- und Urbanisierungsrate außerordentlich starken Belastungen ausgesetzt waren. 17 Die Juden waren eine unverhältnismäßig mobile Bevölkerungsgruppe und eine kleine Minderheit, die sozial nur unvollkommen integriert war. Sie zogen in immer größere städtische Agglomerationen, und einzelne Generationen ließen sich an verschiedenen Stationen dieses langen Weges nieder. Wahrscheinlich reisten Juden auch öfter ins Ausland als andere Deutsche, da viele jüdische Familien international weit verzweigt waren. »Wir hatten Verwandte in Brüssel, Ungarn und England. Wie schön war es doch immer, sich gegenseitig zu besuchen. Man lernte andere Länder kennen und hielt die Verbindung innerhalb der Familien aufrecht.«18 Solche Besuche waren auch familialen Geschäftsverbindungen durchaus förderlich, ebenso wie sie zuweilen zu Eheschließungen zwischen Cousins und Cousinen führten, einer unter Juden relativ häufigen Alliance. 19 Und schließlich gaben diese Austauschprogramme »höheren Töchtern« eine Beschäftigung und die Gelegenheit, durch Familienbesuche in einer Großstadt kulturellen Schliff zu erwerben, oder bei Reisen zu Verwandten, die noch auf dem Lande lebten, die »gute frische Luft« zu genießen. Während junge Männer das Haus verließen, um eine Lehre zu absolvieren oder an einer Universität zu studieren, gingen Mädchen von daheim fort, um familiale Bindungen zu pflegenbeide bereiteten sich so auf ihre sehr verschieden konzipierten Erwachsenenrollen vor. Frauen waren verantwortlich für die Vorbereitung der Familienreisen. Die kostspieligste Variante, eine ausgedehnte Auslandsreise, war unter Juden nicht sehr verbreitet, es sei denn, sie besuchten Verwandte. Selbst die Tochter eines Bankiers entsann sich, daß in ihren Kreisen das sommerliche Reisen in den 1870er und 1880er Jahren noch nicht üblich war. 20 Man 164 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

verbrachte seine Ferien, unterbrochen von kleinen Ausflügen, zu Hause. Dennoch gab es Familien, die sich ins Ausland wagten, und solche Reisen waren für Frauen besonders anstrengend. Eine Frau erinnerte sich, daß man »Bettwäsche, Decken und alles, was damit zusammenhing« einpacken mußte, dazu noch, falls die Familie koscher war, das notwendige Kochgeschirr und Teller. Eine andere Familie besuchte jedes Jahr Verwandte in England. »Aber was für eine Reise! Was für Gepäck! wir mußten für unsere (koscheren) Mahlzeiten selber sorgen, hatten riesige Körbe, einschließlich Nachtgeschirr und all die anderen Sachen bei uns.« 21 Außerdem führten Frauen oft auch noch den Ferienhaushalt in gemieteten Zimmern oder einem Häuschen an der See oder im nahen Gebirge. Hier bot sich eine zusätzliche Gelegenheit für den weiteren Familienkreis, der sich häufig aus Frauen, Kindern und Großeltern zusammensetzte, sich wieder einmal zu treffen. Manchmal mietete man gemeinsam ein Haus, zuweilen auch benachbarte Häuser, wobei gemeinsam gegessen und die Kinder gemeinsam betreut wurden. Oftmals verbrachten die Ehemänner nicht die gesamten Ferien mit ihren Frauen und Familien, sondern unterbrachen nur ihre Geschäftsreisen am Urlaubsort oder blieben lediglich für kurze Zeit. Die Kur, ein jährliches Ritual für bürgerliche Juden (und Nichtjuden), ist ein noch deutlicheres Beispiel für die Verbindung von Familienferien und Familienstrategien. Die für die Gesundheit empfohlene Kur bot Erholung vom anstregenden Leben in der Stadt, frische Luft und eine streng geregelte Lebensweise. Frauen besuchten Kurbäder zusammen mit anderen Familienmitgliedern, meistens mit anderen weiblichen Verwandten. Einige Badeorte waren »hauptsächlich für junge Mädchen und Frauen« reserviert. Eine Frau kehrte jedes Jahr mit ihrer Mutter in den selben Kurort zurück: »Jeden Morgen gingen wir den leicht ansteigenden Kurpark hinauf . . . , wobei wir durch einen Strohhalm Wasser aus der berühmten Flinsbergquelle tranken. Dieses Wasser wurde empfohlen als Heilmittel gegen Rheumatismus, Anämie, Leberschäden und andere Beschwerden. Um die ›Kur‹ abzurunden, nahmen wir zweimal in der Woche ein Fichtennadelbad.« Die beiden Frauen unternahmen auch Kletterpartien, die bei Kaffee und Kirschtorte mit Schlagsahne ihren Abschluß fanden. Es ist sicherlich schwierig, den medizinischen Wert des Backwerks zu beurteilen; kein Zweifel bestand jedoch darüber, daß die Damen ihren Aufenthalt genossen. Die Tochter erinnerte sich: »Meine Mutter wurde während dieser Ferienaufenthalte ein völlig anderer Mensch. Sie begann zu leben.« 22 Einem weiblichen Schlupfwinkel ähnelnd, verhieß das Kurleben eine kurze Ruhepause von männlicher Dominanz und intensivierte die Beziehungen unter den Frauen. Die eigentliche Arbeit eines solchen Aufenthalts aber, sein heimliches Programm stellte sich mühelos und wie von selber ein. Das bloße Ereignis eines Bäderbesuchs war ein Statussymbol, da die Kurorte die Klientel, der sie dienten, öffentlich bekannt gaben. Obwohl die meisten 165 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

Bäder Rassenschranken offiziell aufgehoben hatten, wußten die Juden doch, wo sie willkommen waren und wo nicht. Einige Badeorte warben sogar mit koscherer Küche um ihre Gäste. Hier achteten die Mütter darauf, daß ihre Kinder die ›richtigen‹ Spielgefährten fanden, und, was noch wichtiger war, sie hielten für ihre erwachsenen Kinder sorgsam Ausschau nach dem perfekten Ehepartner oder den passenden Schwiegereltern. 23 Kontakte mit den ›richtigen‹ Leuten konnten ferner neue Geschäftsbeziehungen oder berufliche Verbindungen fördern. Frauen fanden auch neue Freundinnen, doch obwohl es möglich war, Nichtjuden kennenzulernen und darauf langfristige freundschaftliche Beziehungen aufzubauen, neigte das jüdische Bürgertum dazu, Bekanntschaften untereinander zu schließen. Die Frivolität der Bäder, Mineralwässer, Wanderungen, Konzerte und Sahnetörtchen hatte folglich den Zweck, die eigene Gruppe zu konsolidieren. Das jüdische Bürgertum versuchte, ebenso wie sein nichtjüdisches Gegenstück, sich zu festigen und sein Fortbestehen zu sichern. Ferienaufenthalte, besonders Kurbäder, boten hierfür die perfekte Gelegenheit, wobei Frauen meistens die Führungsrolle übernahmen. Ihre Arbeit, die eindeutig zu den Pflichten einer deutschjüdischen Mittelschichtsfrau gehörte, war sicherlich angenehm, wenn auch nicht gänzlich spannnungsfrei. 3. Jenseits der Familie: Die Welt weiblicher Geselligkeit Neben der Vermittlung kultureller Standards, der Erhaltung verwandtschaftlicher Beziehungen und des gesellschaftlichen Status besaß Freizeit in ihrer sozialen Definition für eine Minderheit weitere bedeutsame Implikationen. Freie Zeit erleichterte die gesellschaftliche Integration nicht nur in das jüdische, sondern auch in das übrige deutsche Bürgertum. Frauen bot sie ferner die Gelegenheit, eigene Freiräume zu entwickeln und für sie wichtige Bindungen einzugehen. Bei gesellschaftlichen Unternehmungen spielten Frauen eine dominierende Rolle, da jüdische Männer aus geschäftlichen und beruflichen Gründen häufig auf Reisen waren und viel Zeit am Arbeitsplatz verbrachten. Trotzdem engagierten sich auch Männer in ihrer arbeitsfreien Zeit in jüdischen Organisationen. Die berühmteste war B'nai Brith, gegründet 1882 und bis 1937 auf mehr als hundert Ortsgruppen mit 12000 Mitgliedern angewachsen. Überdies waren es jüdische Männer, die der Gemeinde vorstanden und seit 1893 den Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, die wichtigste jüdische Schutzorganisation, aufbauten. Wenn auch nicht im gleichen Ausmaß, beteiligten sich jüdische Männer auch an nichtjüdischen Organisationen, angefangen von politischen Parteien bis zum lokalen Stammtisch auf dem Lande. In einer Gesellschaft, in der der Männerbund zur Legende wurde, waren sie dennoch nicht voll in die biertrinkende,

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kartenspielende, lautstarke Kameraderie ihrer Nachbarn integriert. Auch die Alten Herren hießen sie nicht gerade willkommen, nahmen doch studentische Korporationen in dieser Zeit zunehmend nationalistische, militaristische und antisemitische Züge an. 2 4 Die Hiebe und Stiche, die die Mitglieder der Corps und Burschenschaften einander so großzügig in Nachahmung aristokratischer Gepflogenheiten verabreichten, wurden durch die gesellschaftliche Ächtung der Juden vervollständigt. 25 Darüber hinaus besaß jede Stadt ihre eigenen elitären Vereine, zu denen Juden und häufig auch Nichtjuden, die mit jüdischen Frauen verheiratet waren, keinen Zugang hatten. In Sonderburg beispielsweise gründete die gesellschaftliche Oberschicht gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen privaten Freizeitclub, zu dem die reichste Familie der Stadt nicht zugelassen wurde, weil sie jüdisch war. 2 6 Die gesellschaftlichen und wohltätigen Organisationen, mit Ausnahme des Stammtisches, wurden von ihren männlichen Mitgliedern oft als Erweiterung des normalen Geschäftsbetriebs oder als Geschäfte mit anderen Mitteln betrachtet, als ein Ort, wo man politische und wirtschaftliche Ziele verfolgte, nicht jedoch seine Freizeit verbrachte. Auf der anderen Seite werteten Männer und auch Frauen die kommunalen und gesellschaftlichen Aktivitäten von Frauen, die häufig und mit Erfolg ähnlichen Zwecken dienten, als Teil weiblicher Freizeitbeschäftigung ab. Anstatt auf die kommunale Tätigkeit von Frauen und Männern näher einzugehen, 27 sollen an dieser Stelle eher private, intimere Geselligkeitsformen im Vordergrund stehen. Für jüdische Frauen war die Zeit außerhalb der Familie nach ethnischreligiösen und Geschlechtszugehörigkeiten strukturiert. Juden teilten die Überzeugung, daß sie im gesellschaftlichen Leben in der Regel auf sich selber angewiesen waren. Bei den meisten jüdischen Frauen waren private, formlose Treffen mit jüdischen Freundinnen und Verwandten traditionell die Hauptbeschäftigung neben ihrer Hausarbeit. In kleineren Städten und Dörfern besuchten sich jüdische Frauen zu Hause, um den neuesten Klatsch zu besprechen, über aktuelle Ereignisse, Geschäfte und Probleme der Kindererziehung zu plaudern und Kochrezepte und Heilmittel gegen Krankheiten zu tauschen. Jüdische Frauen nahmen an Spielkränzchen teil, und auch ihre Töchter gründeten eigene Spiel- und Lesezirkel. Frauen, die aus verschiedenen sozialen Schichten kamen, neigten in ihrer häuslichen Sphäre eher dazu, miteinander zu verkehren, als die Freundschaft nichtjüdischer Frauen der eigenen Schicht zu suchen. 28 Das war besonders in ländlichen Gegenden der Fall, wo die Beziehungen der Juden verschiedener Schichten untereinander enger waren als die Kontakte zwischen Nichtjuden oder zwischen Juden in einer städtisch geprägten Umgebung. Der Grund dafür lag wahrscheinlich darin, daß die Spannweite sozialer Schichtung unter Nichtjuden größer war als in der jüdischen Mittelschicht kleiner Städte. Dennoch gab es in Kleinstädten auch manche öffentliche Gelegenheiten, Freundschaften zwischen nichtjüdischen und jüdischen Frauen zu schließen,

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und das Dorfleben förderte gutnachbarliche Verhältnisse. In einigen Kleinstädten unterhielten jüdische Frauen Kontakte zu den Frauen nichtjüdischer Beamter, die sich in ihrem eigenen Sozialmilieu selbst dann noch wohler fühlten, wenn einige jüdische Frauen dazu gehörten. 29 Sogar in größeren Städten nahm der »Frauenstammtisch« in einem beliebten Gasthaus auch jüdische Frauen auf, »deren Männer gleichen Berufsschichten angehören« wie die Männer der nichtjüdischen Frauen. 30 Aber all das durfte niemals ›zu weit‹ gehen. So wurde die jüdische Frau eines reichen Fabrikanten in einer dieser Städte von nichtjüdischen Frauen ihrer Schicht zwar zum privaten Kaffeeklatsch eingeladen, hatte jedoch niemals die Ehre, deren exklusivem Frauenverband beitreten zu dürfen. Ihr wurde sogar gestattet, für das Rote Kreuz tätig zu sein, doch die Teilnahme an gesellschaftlichen und unterhaltsamen Veranstaltungen blieb ihr verschlossen. Die Arbeit, die diese Frau für den Verband leistete, war allgemein bekannt, gewährte ihr aber dennoch keinen Zutritt zum offiziellen gesellschaftlichen Leben - eine Enttäuschung, die sie nie verwand. 3 1 In Dörfern, wo die deutsche bäuerliche Bevölkerung neben (klein)bürgerlichen jüdischen Nachbarn lebte, war diese Form der Zusammenkunft nicht üblich. Dennoch fanden auch hier informelle, öffentliche, gesellschaftliche und der Erholung dienende Kontakte zwischen den Konfessionen am häufigsten unter Frauen statt. Feiertage boten eine ausgezeichnete Gelegenheit zu ritualisierter Freundlichkeit. Pessach war für jüdische Frauen ein Anlaß, ihre Kinder mit Matzot (ungesäuertem Brot) zu den nichtjüdischen Nachbarn zu schicken, und umgekehrt bekamen sie zu Ostern bunte Ostereier geschenkt. So manches jüdische Kind half beim Schmücken des Weihnachtsbaums. Jüdische und nichtjüdische Frauen besuchten und beglückwünschten sich bei Geburten, Hochzeiten, Konfirmationen oder Geburtstagen. Sie notierten die Daten solcher Ereignisse und überbrachten Geschenke, manchmal mit ihren Kindern oder Ehemännern im Gefolge. In den Dörfern gingen Arbeit und Erholung oft unmerklich ineinander über. Frauen unterbrachen ihre Arbeit für ein Schwätzchen vor der Haustür. So beschwerlich das Wasserholen vom Brunnen auch immer sein mochte, gewährte es doch zugleich eine »tägliche Erholungs- und Plauderstunde«. Als 1919 in einem Dorf Wasserleitungen gelegt wurden, beschwerte sich eine Frau darüber, daß sie nie mehr jemanden auf der Straße traf und nicht erfuhr, was los war. 3 2 Mit Wohlstand und moderner Technik kam auch die Privatisierung und schränkte die Bewegungsfreiheit von Frauen in der Öffentlichkeit weiter ein. Öffentliche Räume und Kontakte aber waren um so wichtiger gewesen, als es keine informellen, privaten, häuslichen Beziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Frauen im Dorf gab. Man begegnete sich in der Öffentlichkeit, betrat die Privatsphäre der anderen aber ausschließlich bei formellen Anlässen. Nur wenige waren in der Lage, die durch Klassen- und ethnisch-religiöse Unterschiede geschaffene gesellschaftliche Distanz im privaten Bereich zu überwinden. Während nichtjüdi-

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sche und jüdische Männer geschäftliche Beziehungen untereinander unterhielten, hatten ihre Frauen mehr Möglichkeiten, einen freundschaftlichen Umgang zu pflegen, ohne jedoch wirkliche Freundschaften zu schließen. 33 Wo das Dorfleben formlose nachbarliche Kontakte erlaubte und die Kleinstadt einige wenige öffentliche Gelegenheiten kannte, die Juden und Nichtjuden derselben Schicht nutzen konnten, sahen sich jüdische Frauen in den Städten, wo 1910 die Mehrheit aller deutschen Juden lebte, mit anderen Aufgaben und Chancen konfrontiert. Hier waren förmliche Kaffeevisiten bei anderen Frauen in der ›gutbürgerlichen‹ Gesellschaft an der Tagesordnung. Im Interesse ihrer Ehemänner und Familien besuchten jüdische Frauen die Gattinnen jener Männer, die beruflich oder geschäftlich mit ihren eigenen Männern zu tun hatten, oder auch andere Frauen, mit denen sie gesellschaftlich liiert sein wollten. Diese Besuche galten als weibliche Pflichtübungen und unterlagen einem strengen Ritual. Frauen besuchten sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Nachmittag. Sie unterhielten sich über ›passende‹ Themen während eines ›angemessenen‹ Zeitraums und verabschiedeten sich dann. Memoiren lassen die Langeweile und die Qual erahnen, die manche Frauen dabei empfanden. Viele freuten sich, wenn die Dame, die man besuchen wollte, nicht daheim war; in solchen Fällen ließ man nur eine offizielle, gedruckte Visitenkarte auf einem dafür vorgesehenen Tischchen zurück. Andere Frauen wiederum scheinen an diesen Besuchen Gefallen gefunden zu haben. In diesen Kreisen bestand die gesellschaftliche Funktion weiblicher Freizeit darin, Geschäftsbeziehungen zu festigen oder neu anzuknüpfen. So mußte die Gattin eines Rechtsanwalts und einzige jüdische Frau in Konstanz nach ihrer Übersiedlung Einladungen von den Ehefrauen sämtlicher anderer Rechtsanwälte annehmen. Bei diesen Kaffeevisiten fand sie bald heraus, »daß es nicht angebracht wäre, über andere Dinge zu reden als Wohnungen, Dienstboten oder Haushaltung«. 34 Von dem Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden in diesem Milieu haben wir bislang noch kein klares Bild. Ging es bei solchen Besuchen nur um gesellschaftliche Verpflichtungen, forderten sie auch freundschaftliche Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden, oder dienten sie gar beiden Zwecken? Am Stil der Frauenbesuche können wir den Grad formaler Integration ablesen. Kontakte zwischen den Ehefrauen hatten zwar oft einen geschäftlichen Hintergrund, gingen aber darüber hinaus und bewegten sich langsam in Richtung sozialer Anerkennung. Aus diesem Grund wurde 1900 in Kiel ein jüdisches Mädchen nicht zur Geburtstagsfeier ihrer besten Freundin eingeladen. Da die Mütter aller anderen Mädchen miteingeladen waren, hätte auch ihre Mutter hinzugebeten werden müssen. Die Gastgeberin war jedoch nicht bereit, eine jüdische Frau bei sich zu bewirten, also wurde auch die Tochter von der Gästeliste gestrichen. 35 Arnold Zweig erzählt in »Die junge Frau von 1914« die aufschlußreiche Geschichte eines jüdischen Berliner Bankierehepaares, das hocherfreut war, als die Frau im Ersten Weltkrieg in die Frauenhilfe aufgenommen wurde. Beide hatten zuvor sehr unter der

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gesellschaftlichen Ächtung seitens nichtjüdischer Frauen gelitten, die ihre Einladung zum Tee nicht angenommen und sie bei ihren eigenen Damenkränzchen übersehen hatten. Paarbesuche kamen noch seltener vor und galten als noch deutlicheres Zeichen gesellschaftlicher Akzeptanz. Gershon Scholem erinnerte sich, daß die nichtjüdischen Kollegen seines Vaters ohne Damenbegleitung zu einer privaten Feier erschienen. Hätten sie ihre Frauen mitgebracht, wäre es notwendig geworden, die Frauen der Familie Scholem anschließend zu sich einzuladen, und dies wollten die nichtjüdischen Gäste offensichtlich vermeiden. 36 Neben den Damenkaffees stellte auch die rituelle Extravaganz der Abendgesellschaften einen Testfall jüdisch-nichtjüdischer Integration dar. Um die Jahrhundertwende war die bis dahin eher zwanglose Gastfreiheit den formellen Soupés gewichen, mit denen Ehepaare sich ihrer gesellschaftlichen Verpflichtungen entledigten.37 Mindestens zweimal jährlich veranstalteten bürgerliche Frauen üppige Abendessen für Geschäftskollegen und Freunde. Zwanzig und mehr Gäste nahmen zehn und mehr Gänge zu sich - die Etikette verlangte wenigstens sechs. Abgesehen von den üblichen Vorbereitungen und dem Aufputzen der Zimmer und Möbel konzentrierten sich die Gastgeberinnen darauf, eine möglichst interessante Gästeliste und eine variationsreiche, originelle Speisenfolge zusammenzustellen.38 So wie die Frauen alle Anweisungen mit größter Genauigkeit trafen, waren sich auch die Männer der standesgemäßen Aspekte eines Soupés völlig bewußt. Die abendliche Einladung zum Essen bot die seltene Chance, den eigenen Lebensstil anderen, zur selben Schicht gehörenden Personen vorzuführen. Neben sorgfältig vorbereiteten Speisen und dem Glanz von Gläsern und Tafelsilber war das Auftreten der Gastgeberin, die Ruhe, die sie ausstrahlte, ihre größte Leistung.39 Jüdische Frauen, wie andere bürgerliche deutsche Frauen auch, suchten auf diesen Festlichkeiten, die sie aus dem eigenen Elternhaus nicht kannten, den Eindruck klassentypischer Erfahrenheit und Selbstsicherheit zu erwecken. Darüber hinaus stand ihr »weibliches« Können auf dem Prüfstand: ihr Einfallsreichtum, ihre Kochkünste und ihr Organisations- und Führungstalent gegenüber Dienstboten und, wenn nötig, Lieferanten. Oft war es auch eine Gelegenheit, voller Stolz auf ihre Herkunftsfamilie zu verweisen, konnten sie doch die Kostbarkeiten ihrer Aussteuer allseits sichtbar zur Schau stellen. Da die Frauen für den reibungslosen Ablauf solcher Ereignisse verantwortlich waren, nahmen sie auch einen Großteil der Spannung und Sorgen auf sich, um sich selber und ihre Familien im besten Licht erscheinen zu lassen. Dennoch gab es auch für städtische Frauen angenehme Momente. Jüdische Frauen trafen sich regelmäßig in verwandtschaftlichen Klubs und Wohltätigkeitsvereinen, zu Vortragsabenden und in Frauenorganisationen. Jüdische Mädchen hatten ihre eigenen Nähkreise, in denen sie einander beim Nähen aus Werken der Klassiker vorlasen.40 Seit den 1890er Jahren konnten immer mehr bürgerliche Frauen an den sich ausweitenden städtischen kultu170 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

rellen und gesellschaftlichen Veranstaltungen teilnehmen, Aktivitäten also, die außerhalb der Familie stattfanden. 1910 lebten 58% der Juden in Großstädten, 27% allein in Berlin. Jüdische Frauen waren daher weit häufiger als nichtjüdische Frauen in der Lage, die Früchte städtischen Lebens zu genießen. Wenn sie über genügend Zeit und Geld verfügten, konnten sie sich in Theatern, Cafes, Tanzstunden und Konzerten amüsieren. In der Folge dieser außerfamilialen Verlockungen fingen Frauen an, der »Autorität von Vater oder Ehemann zu entfliehen«.41 Wie bei Kuraufenthalten begleiteten die Männer ihre Frauen zeitweise, aber es war völlig annehmbar, wenn Mutter und Tochter oder zwei Freundinnen gemeinsam eine Theateraufführung oder ein Konzert besuchten. Viele Konzerte fanden ohnehin am Tage und nur für Frauen und Kinder statt. Jüdische Frauen waren daher nicht nur daheim Vermittlerinnen offizieller Kultur, sondern konsumierten diese auch öffentlich, was den Bestrebungen eines neu etablierten Bürgertums nach kultureller und sozialer Integration gleichfalls sehr entgegenkam. Ein unvorhergesehenes, aber willkommenes Ergebnis ihrer musischen und künstlerischen Interessen bestand nebenbei darin, daß Frauen sich auf dem Kulturmarkt relativ selbständig bewegen konnten. 4. Was daraus zu folgern ist Die zunehmende Freizeit hatte für jüdische Frauen mehrere Funktionen. Als jüdischen Frauen gab sie ihnen die Möglichkeit, einen bürgerlichen Lebensstil anzunehmen, familiale Beziehungen zu pflegen und einen jüdischen Gemeinschaftssinn zu entwickeln. Oberflächlich gesehen konnten jüdische Frauen ihren Familien schon durch ein gewisses Maß an Wohlstand und Freizeit bei der Anpassung an Bildung und Besitz des deutschen Bürgertums helfen. Sie übernahmen rasch die Kleidungs-, Bildungs- und Kulturgewohnheiten jener städtischen Gruppe, die ihnen finanziell oder in ihren Aufstiegsprojektionen am nächsten stand. Jedoch waren es nicht nur die Juden der städtischen Mittelschicht, die bürgerliche Kultur absorbierten. Auch ländliche und ärmere Juden fanden solche Verhaltensweisen und Sitten attraktiv. Wie schon die Ausführungen über das Klavier zeigten, gehörten Juden zu den ersten, die städtische Möbel, Konventionen und Frauenmode in die kleineren Dörfer brachten. Ihre äußerst arbeitsintensive Freizeit verschaffte einer hart arbeitenden Minderheit wie auch ihren wohlhabenden Mitgliedern die Möglichkeit, an der bürgerlichen Kultur teilzuhaben und sich ihr, zumindest an der Oberfläche, anzupassen. Bei der schwierigen Aufgabe, in dieser Freizeit Freundschaften mit nichtjüdischen deutschen Mitbürgerinnen zu schließen, waren jüdische Frauen weniger erfolgreich. Von einigen Ausnahmen abgesehen brachten die geselligen Kontakte der Frauen Juden einer allgemeinen gesellschaftlichen Integration nicht viel näher. Die meisten jüdischen Frauen hielten sich im

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wesentlichen an ihre Familien und andere jüdische, vor allem weibliche Freunde. Eine weitgehend assimilierte Ärztin schrieb: »Eine Familie bildet einen engen Kreis, und der läßt oft wenig Zeit für Freundschaften. Eine jüdische Familie war damals ein Musterbild eines dichtgewebten sozialen Netzes . . . Freundschaften mit anderen Juden ähnelten positiven Familienbanden, waren aber eher flüchtig, und Kontakte mit Nicht-Juden gingen über Bekanntschaften nicht hinaus.«42 Möglicherweise hat Freizeit auf diese Weise sogar zu einer Verhärtung der Abgrenzungen zwischen Mehrheit und Minderheit beigetragen. Als bürgerliche Frauen konnten sich jüdische Frauen zudem durch ihre Wohnkultur, ihre hausfraulichen Talente und Verhaltensweisen an deutsche Mittelschichtsnormen anpassen. Sie fühlten sich dafür verantwortlich, sich selber und ihre Familien zu einem Teil des deutschen gebildeten Bürgertums zu erheben. Ihre Anhänglichkeit an die deutsche Kultur gestattete es ihnen, sich und ihre Ehemänner gesellschaftlich und national als integriert wahrzunehmen. Jüdische Männer hingegen arbeiteten lange, gingen auf Geschäftsreisen und hatten viel weniger Zeit für Geselligkeit. Ihre freie Zeit widmeten sie der Familie, in der Frauen die Führungsrolle innehatten und bürgerliche Kultur sowie das dazugehörige Familienleben organisierten und pflegten. Weil sie selber keine Zeit dazu hatten, erwarteten sie, daß ihre Ehefrauen bürgerliche Formen und Inhalte imitierten, sich in allen gesellschaftlichen Situationen zurechtfanden, Klugheit und Gastlichkeit demonstrierten, Französisch sprachen und Klavier spielten. In den Memoiren von Männern wurden häufig eben diese Eigenschaften genannt, wenn sie die Frau beschrieben, die sie sich zu Gattinnen auserkoren hatten, obgleich die Mitgift immer noch von großer Wichtigkeit war. Um es überspitzt zu formulieren: Während sich Männer den Geschäften und der Karriere hingaben, waren Frauen die eigentlichen bürgerlichen, also kultivierten und ›müßigen‹ Individuen. Man sehe sich nur die wunderbaren Graphiken Honoré Daumiers an, auf denen müde Ehemänner im Konzert oder Theater einnicken und von wütenden Ehefrauen geweckt werden, um zu erkennen, daß hier ein allgemein bürgerliches und nicht etwa ein spezifisch jüdisches Phänomen dargestellt wurde. Jüdische Frauen profitierten aber auch als Frauen, sogar von den nicht ganz gelungenen Ergebnissen ihrer Freizeit-Investitionen. Besonders ihre schon frühzeitig eingegangenen Bindungen an andere Frauen unterstrichen, daß sie nicht nur den Interessen ihrer Ehemänner und Familien dienten, wenn sie Besuche machten und Abendgesellschaften arrangierten, sondern daß sie durchaus auch eine eigene Identität besaßen. Frauen konnten heiraten und immer noch sie selber sein, sie konnten die Beziehungen zu ihrer Herkunftsfamilie, zum eigenen Bekannten- und Freundinnenkreis beibehalten und so ihre räumlichen und sozialen Grenzen erweitern. Auch wenn sie ihren Familien als gesellschaftliche Repräsentantinnen und kulturelle Mittlerinnen 172 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

zur Verfügung standen, konnten sie im allgemeinen doch in die öffentliche Sphäre hineinwirken, weibliche Netzwerke pflegen und sich immer häufiger an der Erfahrung eigener Leistung und Autonomie erfreuen. Anmerkungen 1 A. Kronthal, Posner Mürbekuchen. Jugend-Erinnerungen einer Posnerin, München 1932, S. 10. 2 In: Deutsche Hausfrauenzeitung, Berlin, 10. 1. 1886, S. 14. 3 C. Geismar, Unveröffentlichte Memoiren, Leo Baeck Institut, New York (LBI), Nr. 126, S. 182. 4 S. Bolkosky, The Distorted Image: German Jewish Perceptions of Germans and Germany, 1918-1935, New York 1975. 5 J. Zinnecker, Sozialgeschichte der Mädchenbildung, Weinheim 1973. Die meisten jüdischen Mädchen im Kaiserreich besuchten eine private oder öffentliche Volksschule, und ein zunehmender und unverhältnismäßig hoher Prozentsatz - etwa 42% aller jüdischen Mädchen in Preußen im Jahre 1901 verglichen mit 3,7% aller nichtjüdischen Mädchen (obgleich diese Ziffern anders aussähen, wenn wir die Schichtzugehörigkeit berücksichtigen könnten) - besuchte eine höhere Mädchenschule (nach: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden, September 1909, S. 141). 6 U. Jeggle, Judendörfer in Württemberg, Tübingen 1969, S. 221. Vgl. auch S. Moor, The History of the Family Moss. Memoirensammlung des LBI, S. 52. 7 Τ. Ehrlich, Memoirensammlung des LBI, S. 32. 8 C. Sander, unveröff. Memoiren, LBI, Nr. 344, S. 3. 9 Ehrlich, Memoirensammlung, S. 32. 10 Interviews mit A. Hamburger (geb. 1880 in Württemberg), New Jersey, Juni 1981 und März 1982. 11 M. Richarz (Hg.), Jüdisches Leben in Deutschland, Bd. 2: Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte im Kaiserreich, Stuttgart 1979. 12 Interview mit Frau L., in: J . Foster, Community of Fate: German Jews in Melbourne, erscheint demnächst. 13 Β. Katz, unveröff. Memoiren, LBI, S. 26. 14 H. Hirsch, Memoirensammlung des LBI, S. 3. 15 Jeggle, Judendörfer, S. 240; B. Stern, Meine Jugenderinnerungen an eine Württembergische Kleinstadt und ihre jüdische Gemeinde, Stuttgart 1968, S. 97. 16 M. Kaplan, Priestess and Hausfrau: Women and Tradition in the German-Jewish Family, in: S. Cohen u. P. Hyman (Hg.), The Jewish Family: Myths and Reality, New York 1986, S. 76, 69. 17 Richarz, Jüdisches Leben, S. 19-23. 18 H. Necheles, unveröff. Memoiren: Reminiscences of a German-Jewish Physician, S. 6. 19 M. Kaplan, For Love or Money: The Marriage Strategies ofJewsin Imperial Germany, in: dies. (Hg.), The Marriage Bargain: Women and Dowries in European History, New York 1985, S. 152f. 20 S. Diamant, Familiengeschichte Schlesinger, unveröff. Memoiren, LBI, S. 5. 21 N. Rosenthal, Opus One, unveröff. Memoiren, Stadtarchiv Frankfurt, S. 6. 22 C. Wolff, Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit. Eine Autobiographie, Frankfurt 1986, S. 38. 23 Kaplan, For Love, S. 149, 162. 24 1886 gründeten jüdische Männer wegen ihres Ausschlusses vom studentischen Leben die erste jüdische Studentenverbindung, die Viadrina. 25 Heinrich Mann lieferte dafür in seinem »Untertan« ein besonders anschauliches Beispiel.

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26 F. Henry, Victims and Neighbors: A Small Town in Nazi Germany Remembered, C a m bridge/Mass. 1985, S. 58. 27 Die geschlechtsspezifische Analyse großflächiger, organisierter gesellschaftlicier Tätigkeiten bleibt einer späteren Forschungsarbeit vorbehalten. 28 Jeegle, Judendörfer, S. 227. 29 S. Andorn, unveröff. Memoiren, LBI, Nr. 414, S. 15. 30 R. Hallo, Geschichte der jüdischen Gemeinde Kassel, Bd. 1, Kassel 1931, S. 119 31 Henry, Victims, S. 58 f. 32 Stern, Jugenderinnerungen, S. 79. 33 Henry, Victims, S. 65. 34 Geismar, unveröff. Memoiren, S. 156. 35 K. Frankenthal, Der dreifache Fluch: Jüdin, Intellektuelle, Sozialistin, Frankfurt 1981, S. 4. 36 G. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, Frankfurt 1977. 37 M. Freudenthal, Gestaltwandel der städtischen, bürgerlichen und proletarischen Hauswirtschaft zwischen 1760 und 1910, hg. v. K. Rutschky, Frankfurt 1986, S. 104, 151 f. 178. 38 S. Meyer, Das Theater mit der Hausarbeit. Bürgerliche Repräsentation in der Familie der wilhelminischen Zeit, Frankfurt 1982. 39 Viele Jahre später erzählte ein Gast, der an einem solchen Abendessen teilgenommen hatte, Marie Munk, die als erste Frau dem Berliner Kammergericht angehörte, daß er in Maries Mutter am meisten die Ruhe bewundert hätte, mit der sie zusah, wie ihr Serviermidchen in Anwesenheit von 24 Personen eine riesige Platte mit Hirschbraten zu Boden fallen ließ (Marie Munk, Unveröff. Memoiren, Helene Lange Archiv, Berlin, I, IIa). 40 Ehrlich, Memoirensammlung, S. 14 f. 41 A. Allen, Sex and Satire in Wilhelmine Germany: ›Simplicissimus‹ Looks at Fanily Life, in: Journal of European Studies, Bd. 7, 1977, S. 34. 42 Wolff, Augenblicke, S. 15.

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ERIC J . HOBSBAWM

Kultur und Geschlecht im europäischen Bürgertum 1870-19141

I Regelmäßig erscheinende Nachschlagewerke über Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wurden in Großbritannien seit der Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlicht. Das bekannteste, direkter Vorgänger des heutigen »Who's Who«, der wiederum Ahnherr der meisten biographischen Kompendien dieser Art ist, war »Men of the Time«. 1891 änderte sich der Titel dieses jährlich erscheinenden Bandes: Er hieß jetzt »Men and Women of the Time«. Diese kleine, aber nicht unwesentliche redaktionelle Änderung möchte ich an den Anfang meines Überblicks über die öffentlichen und privaten Beziehungen zwischen den Geschlechtern in der bürgerlichen Kultur von 1870 bis 1914 stellen. Die Titeländerung ist nicht etwa deswegen von Bedeutung, weil ein Nachschlagewerk, das bis dahin ausschließlich Männer verzeichnet hatte, nun dazu überging, auch Frauen aufzunehmen. Tatsächlich hatte »Men of the Time« schon seit langem eine kleine Zahl weiblicher Personen berücksichtigt, und der Anteil von Frauen, die regelmäßig in solchen Kompendien, seit 1897 auch im »Who's Who« aufgeführt wurden, erhöhte sich seitdem nur unerheblich. Trotz aller Bemühungen, auf die ich im folgenden näher eingehen werde, kletterte er nicht über drei bis höchstens fünf Prozent.2 Erst im Zuge der zweiten großen Welle weiblicher Emanzipation in den 60er und 70er Jahren dieses Jahrhunderts hielt ein merklich höherer Anteil von Frauen Einzug in die geschlechtsneutralen Nachschlagewerke: Das »Dictionary of National Biography Supplement« für die Dekade 1970/1980 listete 15% weibliche Namen auf. Neu war 1891, daß man dem weiblichen Geschlecht jetzt auch offiziell einen Platz in der öffentlichen Sphäre zuerkannte, von der es bis dahin ausgeschlossen gewesen war, sieht man von untypischen Einzelfällen einmal ab. Schon die Tatsache, daß die bürgerlichste aller Nationen über fünfzig Jahre lang von einer Frau regiert worden war, bevor man ihrem Geschlecht auch formal einen Platz im Kreis öffentlich anerkannter Persönlichkeiten einräumte, unterstreicht die Bedeutung des redaktionellen Eingriffs. Daß Frauen in der Öffentlichkeit verstärkt wahrgenommen wurden, zeigte sich auch anläßlich der Anglo-Französischen Ausstellung, die 1908 in 175 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

London stattfand. Diese Ausstellung glich, wie alle internationalen Veranstaltungen dieser Art im 19. Jahrhundert, einer überdimensionalen Vitrine voller Symbole, die zeitgenössischen Denkweisen und Haltungen Ausdruck verliehen. Erstmals hatte man einen besonderen Pavillon für ›weibliche Arbeiten‹ aufgebaut. Was dort zu sehen war, soll hier nicht näher interessieren; es sei nur soviel gesagt, daß Künstlerinnen ihre Werke offenbar lieber in dem allgemeinen, geschlechtsunspezifischen Pavillon der Künste zeigten, anstatt sie unter der Rubrik »Frauenarbeit« auszustellen, und daß der Frauengewerberat dagegen protestierte, daß die auf der Ausstellung beschäftigten weiblichen Arbeitskräfte zuviele Überstunden leisten mußten und zuwenig Bezahlung erhielten. 3 Wichtiger für unser Thema ist die Tatsache, daß der neue Pavillon Frauen nicht als Wesen, sondern als schaffende Personen, nicht als funktionelle Rädchen in der Maschinerie von Familie und Gesellschaft, sondern als individuelle Tatmenschen feierte. Dieser Umschwung zeigt sich auch an den Kriterien, nach denen Frauen in Nachschlagewerke aufgenommen wurden. Sehr viele Frauen, die in einem typischen Handbuch früherer Zeit 4 aufgeführt waren, verdankten dies nicht sich selber, sondern ihren verwandtschaftlichen Beziehungen. Sie erschienen als Schwestern, Töchter, Ehefrauen, Witwen, Geliebte berühmter Männer oder, was auf dasselbe hinauslief, als Mitglieder königlicher und aristokratischer Familien. Die späteren Lexika verrieten eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit solchen Fällen - es handelte sich immerhin meistens um Damen königlicher und adliger Herkunft - , doch tendierte man dazu, sie einfach wegzulassen. Ein dritter Beleg für die Aufmerksamkeit, die Frauen im späten 19. Jahrhundert zuteil wurde, findet sich in dem offenkundigen Bemühen, weibliche Wesen ausfindig zu machen, die sich zur Präsentation unter der Überschrift ›Frauenleistungen in der öffentlichen Sphäre‹ eigneten. Die frühen Ausgaben von »Men and Women of the Time« verzeichneten die Namen junger Frauen, deren einziges Verdienst es war, Universitätsprüfungen mit sehr guten Noten bestanden zu haben, wobei sich die Zahl der Eintragungen zeitweilig durch die Aufnahme einiger adliger Damen erhöhte. Später ließ man diese beiden Kriterien nicht mehr gelten. 5 Vielleicht noch bemerkenswerter war die relativ starke Vertretung von Frauen unter den Preisträgern der neugegründeten Nobel-Stiftung. Zwischen 1901 und 1914 ging der Nobelpreis viermal an Frauen: an Selma Lagerlöf (Literatur), an Bertha von Suttner (Frieden) und zweimal an Marie Curie (Naturwissenschaften). 6 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bildete sich in Europa und Nordamerika eine ausgeprägte Neigung heraus, Frauen als Personen im Sinne der bürgerlichen Gesellschaft zu behandeln, nicht viel anders als Männer und somit als Menschen, die etwas leisten konnten. Dies galt vor allem für einen symbolisch so ausdrucksvollen Bereich wie den Sport, der damals gerade einen enormen Aufschwung erlebte. Im Tennis wurde das Dameneinzel schon kurz nach den Einzelturnieren der Herren in Großbritannien, Frankreich

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und den USA eingerichtet. Daß es Frauen und gar verheirateten Frauen jetzt gestattet war, als Individuen an einer Meisterschaft teilzunehmen, war in den 1880er und 1890er Jahren ein Ereignis von geradezu revolutionärer Bedeutung. Selbstverständlich läßt sich zwischen der intensiveren Wahrnehmung des ›zweiten Geschlechts‹ als potentielle Leistungsmenschen und dem gleichzeitig wachsenden Druck, Frauen die klassischen Rechte des bürgerlichen Individuums zuzugestehen, eine Parallele ziehen. Formal und institutionell verzögerte sich die Anerkennung der Frau als Staatsbürgerin zwar in fast allen Ländern bis 1917, doch zeigt das rapide Tempo des Fortschritts während und nach dem Ersten Weltkrieg an, wie stark der Druck gewesen sein muß. Noch 1914 gab es kaum eine Nation, in der Frauen wählen durften, aber zehn Jahre später war das Frauenstimmrecht bereits in den Verfassungen der meisten europäischen Staaten und Nordamerikas festgeschrieben. Für das Thema ›Frauen und Öffentlichkeit‹ noch aussagekräftiger war der Umstand, daß die britische Monarchie 1917 erstmalig Ehrenzeichen für besondere Verdienste ausgab, die Frauen und Männern gleichermaßen verliehen werden konnten, namentlich den Orden des Britischen Empire. Obgleich dieser Einbruch von Frauen in die öffentliche Sphäre theoretisch nicht auf eine bestimmte Klasse beschränkt war, haben wir es in der Praxis überwiegend mit Frauen aus den Ober- und Mittelschichten zu tun, mit einer wichtigen Ausnahme, dem Unterhaltungssektor. Jedwede Form professioneller oder nichtprofessioneller Tätigkeit, durch die Frauen öffentlich bekannt werden konnten, war von Freizeit, materiellen Mitteln und/oder Schulbildung abhängig - Ressourcen also, die proletarischen Frauen nicht zur Verfügung standen. Schon die Entscheidung, eine bezahlte Beschäftigung aufzunehmen oder sich selbständig auf dem Arbeitsmarkt zu bewegen, hatte für bürgerliche Frauen eine öffentliche Bedeutung, die sie für Frauen aus der Arbeitklasse nicht besaß. Letztere ›arbeiteten‹ bereits per definitionem und sahen sich im Laufe ihres Lebens fast durchweg gezwungen, ihre Arbeitskraft aus ökonomischer Notwendigkeit gegen Geld zu verkaufen. Andererseits war man der Meinung, daß Arbeit mit dem Status einer Dame, den bürgerliche Frauen zu erwerben trachteten, nicht vereinbar war. Eine Mittelschichtsfrau, die Geld verdiente, verhielt sich daher absolut regelwidrig: Sie war entweder unglückliches Opfer oder Rebellin. In beiden Fällen gerieten eingeschliffene gesellschaftliche Rollenkonventionen ins Zwielicht. Darüber hinaus widersetzten sich die Bildungseinrichtungen und akademischen Berufe, in denen bürgerliche Frauen Fuß fassen wollten, dem weiblichen Ansturm mit allen Kräften. Daher standen Frauen, die es trotzdem ›geschafft‹ hatten, per se im Scheinwerferlicht öffentlichen Interesses. 1891 wäre es niemandem eingefallen, junge Männer im »Who's Who« aufzuführen, nur weil sie einen erstklassigen Universitätsabschluß vorzuweisen hatten; junge Frauen dagegen fanden aus eben diesem Grund Erwähnung. Deshalb beschäftigt sich dieser Bei-

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trag auch fast ausschließlich mit solchen Frauen, die dem Bürgertum angehörten oder angehören wollten, sowie mit Frauen der gesellschaftlichen Oberschicht. Die Ursachen der obengenannten Entwicklungen sind hier eher nebensächlich. Offensichtlich übten Frauen der Mittelschicht beträchtlichen Druck aus, um in die öffentliche Sphäre vorgelassen zu werden, und zweifellos ist ihnen dies in einem Ausmaß gelungen, das bis dahin undenkbar gewesen war. Fest steht auch, daß sie ohne die maßgebliche Unterstützung der Männer erfolglos geblieben wären. Frauen waren sowohl auf die Hilfe männlicher Familienoberhäupter angewiesen als auch auf die sehr viel schwerer zu erlangende Kooperation jener Männer, die die von ihnen avisierten Institutionen beherrschten. So besehen sind die privaten und öffentlichen Sphären der Geschlechter untrennbar. Aus ersichtlichen Gründen neigen wir dazu, den Widerstand gegen die Frauenemanzipation hervorzuheben, der in der Tat so verbohrt, irrational und manchmal geradezu hysterisch war, daß er dem vorurteilsfreien modernen Betrachter des 19. Jahrhunderts sofort auffällt. 1907 debattierte die Wiener Psychoanalytische Vereinigung über einen Artikel, der sich mit weiblichen Medizinstudenten auseinandersetzte und behauptete, daß diese Mädchen erstens nur studierten, weil sie zu häßlich waren, um einen Mann zu bekommen, daß sie zweitens die männlichen Kommilitonen durch ihr zügelloses sexuelles Verhalten demoralisierten und daß sich drittens ein Studium für Frauen nicht schickte. Dabei gehörten die Psychoanalytiker, die höflich über dieses hysterische Elaborat diskutierten, wohl kaum zu den traditionellen oder reaktionären Fraktionen des männlichen Wiener Bürgertums. Doch obgleich sie die schrillen Töne in den Schmähungen des Autors nicht billigten, war Freud selber der Ansicht, »daß durch das Studium nichts für die Frau gewonnen sei und daß damit auch das Schicksal der Frauen im großen und ganzen nicht gebessert werde. Die Frauen können sich überdies in der Sublimierung der Sexualität nicht mit der Leistung des Mannes messen.« 7 Andererseits darf man nicht übersehen, daß hinter jedem bürgerlichen Mädchen, das studierte, ein Vater stand, der seine Einwilligung dazu gab und die Kosten trug. Keiner jungen Frau, die eine ›damenhafte‹ Erziehung genossen hatte, wäre es leicht gefallen, ohne Billigung ihrer Eltern oder anderer einflußreicher Verwandter eine bezahlte Beschäftigung aufzunehmen. Tatsächlich jedoch unterstützten viele Eltern die Wünsche ihrer Töchter, was sich in einer außerordentlichen Expansion höherer Mädchenbildung in den vier Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg niederschlug. Während die Anzahl der Knabengymnasien in Frankreich stabil blieb und zwischen 330 und 340 pendelte, erhöhte sich die Zahl höherer Mädchenschulen zwischen 1880 und 1913 von null auf 138. In Großbritannien hielten sich Mädchen- und Jungenschulen um 1913/14 in etwa die Waage: 350 weiblichen standen 400 männliche weiterführende Bildungs178 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

einrichtungen gegenüber. Dreißig oder sogar zehn Jahre zuvor war dies noch ganz anders gewesen. Die nationalen Abweichungen dieser allgemeinen Trends sind gleichfalls hochinteressant, ohne daß ich sie hier erklären könnte. War das höhere Mädchenschulwesen in Italien mit 7500 Schülerinnen kaum der Rede wert und machte es auch in den Niederlanden und der Schweiz nur zögernde Fortschritte, besuchten um die Jahrhundertwende eine Viertelmillion russischer Mädchen die höhere Schule. Rußland war auch in der Universitätsausbildung von Frauen führend, wenn wir die amerikanischen College-Studentinnen als nicht vergleichbare Gruppe beiseite lassen. Die Zahl russischer Studentinnen lag mit 9000 im Jahre 1910 ungefähr doppelt so hoch wie in Deutschland, Frankreich und Italien und viermal so hoch wie in Österreich.8 Als die schweizerischen Universitäten seit den 1880er Jahren in größerem Umfang Frauen zuließen, wurde diese Möglichkeit in erster Linie von Studentinnen aus osteuropäischen Ländern genutzt. Ohne auf die materiellen Hintergründe dieser Entwicklung näher eingehen zu wollen, kann doch kaum bezweifelt werden, daß es zwischen der Einstellung der Eltern und den Emanzipationsaussichten ihrer Töchter einen direkten Zusammenhang gab. In vielen Teilen Europas, wahrscheinlich noch am wenigsten in den katholischen Ländern, entdecken wir im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert bürgerliche Väter mit einer vermutlich eher liberalen Weltanschauung, die in ihren Töchtern fortschrittliche Ansichten und emanzipatorische Absichten weckten und immer häufiger damit einverstanden waren, daß diese Töchter eine höhere Schule besuchten und später eine Rolle in Professionen und öffentlichem Leben spielten. Das bedeutet nicht, daß solche Väter ihre Töchter wie Söhne behandelten. Wenn Frauen leichter in der Medizin als in anderen akademischen Berufen Fuß faßten, hing das vermutlich auch damit zusammen, daß eine heilende Tätigkeit in das konventionelle Bild der Frau als einem besonders zur Fürsorge geeigneten Wesen paßte. Noch in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts riet der Vater der Kristallographin Rosalind Franklin - sie stammte aus einer typischen bürgerlichen Familie wohlhabender liberaler Juden, in der man an radikale oder gar sozialistisch eingestellte Kinder gewöhnt war seiner Tochter davon ab, Naturwissenschaftlerin zu werden. Er hätte sie lieber in einem sozialen Beruf gesehen.9 Trotzdem scheinen sich gerade solche eher fortschrittlichen bürgerlichen Männer noch vor dem Ersten Weltkrieg damit abgefunden zu haben, daß ihre Töchter und vielleicht sogar ihre Frauen nunmehr einen neuen und bedeutenderen Platz in der Gesellschaft ausfüllen würden. Dieser Wandel vollzog sich äußerst rasch. In Rußland stieg die Zahl der Studentinnen von weniger als 2000 im Jahre 1905 auf 9300 im Jahre 1911. Gab es 1897 nur etwa 800 Frauen, die in Großbritannien studierten, waren es 1914 bereits 2900. 10 Bis 1921 hatte sich ihre Zahl auf ungefähr 11 000 erhöht, fast jeder dritte Student war jetzt eine Frau. Übri-

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gens blieb die Zahl der Studentinnen ebenso wie die weibliche Studierquote insgesamt bis zum Zweiten Weltkrieg fast gleich, wobei der Anteil von Frauen an der Gesamtzahl der Universitätsstudenten beträchtlich zurückging. 11 Daraus läßt sich nur folgern, daß das Reservoir jener Eltern, die ihre Töchter zum Studium ermutigten, schon gegen Ende des Ersten Weltkriegs gänzlich ausgeschöpft war. In Großbritannien sollte diese kulturelle und soziale Stagnation bis zur Hochschulexpansion der 1950er und 1960er Jahre anhalten. Noch 1951 kamen Studentinnen zudem weitaus häufiger als ihre männlichen Kommilitonen aus der Mittel- und Oberschicht. Diese Entwicklungen scheinen, zumindest in Großbritannien, eng mit dem Aufstieg der Frauenbewegung verbunden gewesen zu sein, deren Stimmrechtsforderungen in den Anfangsjahren dieses Jahrhunderts einen Massenanhang gewannen. Das ›Suffragettentum‹ war damals selbst für konventionell gesinnte Frauen der Mittel- und Oberschicht eine völlig annehmbare Option. So listete das Verzeichnis, das als Anhang des feministischen »Englishwoman's Yearbook« erschien, 1905 ein Viertel aller britischen Herzoginnen auf, von denen drei, zusammen mit ebenso vielen Markgräfinnen und sechzehn Baronessen, sogar Vizepräsidentinnen der konservativen und unionistischen Stimmrechtsvereinigungen waren.12 Aus dem Nachschlagewerk »The Suffrage Annual and Woman's Who's Who« von 1913, das fast 700 Aktivistinnen der Stimmrechtsbewegung aufführte, geht hervor, daß diese Frauen zum überwiegenden Teil nicht nur aus dem mittleren Bürgertum stammten, sondern auch aus der Oberschicht der britischen Gesellschaft.13 Soweit feststellbar, waren ihre Väter zu über 70% Offiziere, Geistliche, Ärzte, Anwälte, Ingenieure, Architekten oder auch Künstler, Professoren und Rektoren von Privatschulen, höhere Beamte und Politiker. 13% waren Adlige oder Landbesitzer ohne nähere Angaben und 12% Geschäftsleute. Offiziere und Geistliche waren besonders stark überrepräsentiert, ebenso Väter, die im Kolonialdienst tätig gewesen waren. Die Ehemänner dieser Aktivistinnen, von denen 44% verheiratet waren, fanden sich weniger in den traditionellen Berufen als vielmehr unter Geschäftsleuten und jungen Professionen wie etwa Journalisten. Auf jeden Fall gehörte die Mehrheit der Frauen zur Oberschicht und oberen Mittelschicht. Bemerkenswert ist auch, daß fast ein Drittel der im »Woman's Who's Who« verzeichneten Personen ein Telefon besaß, was 1913 noch relativ selten war. Um das Bild abzurunden, bleibt nur noch hinzuzufügen, daß jede fünfte Frauenrechtlerin mit einem akademischen Grad aufwarten konnte. Daß sich diese Frauen am kulturellen Leben besonders aktiv beteiligten, verdeutlicht schon ein erster Blick auf ihre Berufe. 28% waren Lehrerinnen, 34% Schriftstellerinnen und Journalistinnen; 9% bezeichneten sich selber als Künstlerinnen und 4% als Schauspielerinnen und Musikerinnen. Drei von vier all jener 229 Personen, über die wir nähere Informationen besitzen, übten demnach Tätigkeiten aus, die mit der Produktion, Verbreitung oder Reproduktion von Kultur unmittelbar verknüpft waren. 180 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

II Wir können nach allem davon ausgehen, daß sich innerhalb der letzten zwanzig oder dreißig Jahre vor dem Ersten Weltkrieg weibliche Rollen und Verhaltensstandards, wie sie sich in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts herauspräpariert hatten, in mehreren Ländern rapide und einschneidend veränderten. Zwar bildeten die ›neuen‹ emanzipierten Frauen des Bürgertums selbst unter ihren Altersgenossinnen nur eine kleine Minderheit, doch deutet die Geschwindigkeit, mit der sie öffentliche Anerkennung erlangten, darauf hin, daß man diese Minderheit von Anfang an als die Avantgarde einer sich bereits ankündigenden größeren Bewegung wahrnahm. Bürgerliche Männer wiederum hießen diese emanzipierten Frauen keineswegs besonders herzlich willkommen. Gerade in den Jahren um die Jahrhundertwende reagierten selbst liberale Intellektuelle mit unverhohlener Misogynie oder extremem Sexismus, worin sich Unsicherheit und Furcht ausgedrückt haben dürften. Besonders typisch und bei Weininger, Kraus, Möbius, Lombroso, Strindberg und damaligen Nietzsche-Jüngern in verschiedenen Versionen und hysterischen Spielarten anzutreffen war das Argument, wonach das ewig und wesentlich Weibliche allem Geistigen fremd sei. Die Konkurrenz von Frauen auf Gebieten, die bislang als männliche Domäne galten, war daher im besten Fall sinnlos, im schlimmsten Fall aber katastrophal für beide Geschlechter. Die bereits erwähnte Debatte der Wiener Psychoanalytiker im Jahre 1907 spiegelte diese Unsicherheit ebenso wider wie die sich verdichtende, selbstbewußt homosexuelle Kultur der intellektuellen männlichen Jugend in Großbritannien.14 Wichtiger als der fortdauernde, wenngleich verdeckte männliche Widerstand gegen den Feminismus war jedoch die auch in dem Freud-Zitat anklingende Erkenntnis, wie sehr sich die Rolle bürgerlicher Frauen bereits gewandelt hatte. Immerhin gehörte die Anerkennung einer eigenständigen weiblichen Sexualität, zumindest in den Augen der kriegführenden Männer, zum Geschlechterkampf der Jahrhundertwende hinzu. Das Wesen der Frau, und zwar jeder Frau, jetzt auch der bürgerlichen, bestimmte sich nun nicht mehr durch Anstand, Bescheidenheit und Moral, sondern durch Sinnlichkeit - Sinnlichkeit statt Sittlichkeit. Karl Kraus hat dieses Thema mehrfach variiert, und die östereichische Literatur von Schnitzler bis Musil war davon erfüllt. Sicherlich war die sexuelle Befreiung, jedenfalls in der Theorie, Teil der allgemeinen Emanzipation, vor allem für das unverheiratete bürgerliche Mädchen, das, wie es die Konvention verlangte, virgo intacta zu bleiben hatte. Die Forschung tut sich seit jeher schwer damit, Schlafzimmertüren aufzubrechen, und noch weit komplizierter ist die Quantifizierung dessen, was sich dahinter abspielte. Dennoch war es im protestantischen und jüdischen Milieu Europas um 1914 zweifellos sehr viel leichter geworden, mit einem bürgerlichen Mädchen zu schlafen, als zwanzig Jahre vorher. Das traf

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insbesondere auf politisch und kulturell aufgeschlossene Kreise zu, wie die sexuelle Karriere eines H. G. Wells beispielhaft illustriert.15 Wie gestalteten sich nun aber die Geschlechterrollen in dieser Epoche bürgerlicher Kultur, und wo genau zwischen öffentlicher und privater Sphäre waren sie angesiedelt? Immer wieder begegnet man dem Argument, Frauen seien in der klassischen bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts die hauptsächlichen Trägerinnen der Kultur oder besser der geistigen und moralischen ›höheren‹ Werte des Lebens gewesen, während Männer die materiellen oder gar animalischen ›niederen‹ Werte verkörperten. Dies entspricht dem Bild des wohlhabenden Geschäftsmannes, der sich im Symphoniekonzert, zu dem ihn seine Frau gegen seinen Willen mitgeschleppt hat, sichtlich langweilt. An diesem Stereotyp ist etwas Wahres, selbst wenn wir davon ausgehen, daß das kulturelle Interesse der Ehefrau eher dem Wunsch entsprang, an dem hohen gesellschaftlichen Status von Konzertbesuchern teilzuhaben, als einer Leidenschaft für Musik als solcher. Allerdings war die Kulturfunktion bürgerlicher Frauen in der Praxis deutlich begrenzt, und zwar sowohl durch den Anspruch auf ein männliches geistiges Monopol in der öffentlichen Sphäre, zu der die Kultur zweifelsfrei gehörte, als auch dadurch, daß man Frauen die Bildung verweigerte, ohne die kulturelle Kompetenz nicht denkbar war. Natürlich lasen bürgerliche Frauen, doch bestand ihre Lektüre größtenteils aus dem, was andere Frauen für einen spezifisch weiblichen Markt schrieben, nämlich aus Romanen, Modenachrichten, Gesellschaftsklatsch und Briefen. Große Romane, wie die von Jane Austen, die aus dieser weiblichen Welt heraus geschrieben wurden, handelten von intelligenten, aufgeschlossenen jungen Frauen, die sich jedoch doppelt isoliert fühlten: isoliert von Männern, die von ihren Bräuten nicht Kultur, sondern »Schliff« erwarteten - ein bißchen Klavierspielen, ein bißchen Zeichnen oder Aquarellieren -, isoliert aber auch unter Frauen, deren Gedanken nur um Heiratsstrategien und -taktiken kreisten, die ansonsten völlig naiv waren und denen manchmal, wie der Mrs. Bennett in Austens »Stolz und Vorurteil« sogar die grundlegenden Haushaltungskünste fehlten. Wenn sich eine gute Heirat nach der Höhe des ehemännlichen Einkommens bemaß, waren solche Künste eben Nebensache. Paradoxerweise trat die Funktion der Frauen als Kulturträgerinnen im weitesten Wortsinn an den unteren Rändern der sozialen Aufstiegspyramide am sichtbarsten in Erscheinung. Gerade in der Arbeiterschaft verkörperten Frauen die einzigen alternativen Werte zur körperlichen Kraft und Rohheit, durch die sich Männer gemeinhin auszeichneten. In der Männerwelt jedoch suchte sich der bürgerliche Mann von der grauen Masse unter ihm ebenso wie von der unzivilisierten Minderheit Adliger über ihm dadurch abzusetzen, daß er seinen Erfolg auf geistige und nicht auf körperliche Leistungen und Anstrengungen gründete. In den Biographien und Autobiographien unterer Schichten waren es häufiger Mütter und nicht Väter, die den intellektuellen und kulturellen Ehrgeiz der Söhne förderten, wie man bei D. H. 182 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

Lawrence nachlesen kann. Der zivilisierende Einfluß‹ der Frauen war es, dem Huckleberry Finn wie so viele idealtypisch chauvinistische Männer entfliehen mußte, und sobald die allgemeine Schulpflicht eingeführt worden war, schlüpften Frauen auch noch in die Rolle der Lehrerinnen par excellence. Nicht nur in den angelsächsischen Ländern, auch in Frankreich ergriffen schon 1891 weit mehr Frauen als Männer diesen Beruf.16 Die bürgerliche Frau dagegen sah sich erstmals gegen Ende des 19. Jahrhunderts wirklich in der Lage, zu einer Trägerin von Kultur im buchstäblichen Sinn zu werden. Erst in dieser Zeit tauchten Frauen als eigenständige Mäzene auf: Isabella Stewart Gardner als Kunstsammlerin, Miss Horniman, Emma Cons, Lilian Bayliss und Lady Gregory als Gründerinnen, Förderinnen oder Direktorinnen von Theatern. Auch in der kommerziellen Kultur spielten sie jetzt eine aktivere Rolle: als Produzentinnen und Geschäftsfrauen im Kunsthandwerk oder auch, wie Elsie de Wolfe oder Syrie Maugham, in dem neuen, zumeist von Frauen ausgeübten Beruf des Innenarchitekten.17 Dies wäre ohne die beträchtliche Ausweitung höherer Schul- und Universitätsbildung für Frauen sicher nicht möglich gewesen, und auch nicht ohne die rasche Vermehrung von Kunstakademien im Gefolge von William Morris in Großbritannien und Kunstgeschichte-Studiengängen in Mitteleuropa. Beide wurden wahrscheinlich stärker von Studentinnen als von Studenten frequentiert. Im Kern jedoch war es der Strukturwandel des Bürgertums selber, der der Kultur eine größere soziale und identitätsstiftende Signifikanz einräumte und die kulturelle Position von Frauen aufwertete. Drei Veränderungen trafen dabei aufeinander. Zum einen mußte sich das etablierte Bürgertum der zweiten oder dritten Generation - Familien also, die nicht mehr aufzusteigen brauchten, da sie bereits angekommen warennicht mehr darum sorgen, wie man den Reichtum mehrte, sondern wie man ihn ausgab. Wie jede Familiengeschichte belegt, kreierte dieses Bürgertum eine Freizeitkultur, die gerade auch die unverheirateten und verwitweten, von Renteneinkommen lebenden weiblichen Verwandten einbezog. Ihnen boten (und bieten) kulturelle Aktivitäten eine ausgezeichnete Möglichkeit, dieses Einkommen solide auszugeben, und zwar nicht nur deshalb, weil sie den Gebildeten erstrebenswert erschienen, sondern auch, weil sie weniger kosteten als der demonstrative Konsum einer ›Mußeklasse‹ im Sinne Thorstein Veblens.18 Zweitens galt die formale Schulbildung seit dieser Zeit, und zwar bis heute, zunehmend als Symbol bürgerlicher Klassenzugehörigkeit und war demgemäß eine beliebte Methode, die Kinder der Neureichen zu ›richtigen Bürgern‹ zu sozialisieren. Auch der Eintritt ins Bürgertum konnte mittels schulischer Bildung erreicht werden, wie das Beispiel der Familie Keynes zeigt, die es in drei Generationen vom provinziellen baptistischen Gärtner zum weltberühmten Ökonomieprofessor brachte.19 Bildung und Bildungsbürgertum aber besaßen immer auch eine starke kulturelle Dimension, und so kristallisierte sich endlich auch in Großbritannien, wo Matthew Arnold um die Mitte des Viktorianischen Zeitalters nur unzivilisierte Aristo-

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kraten und spießbürgerliche Mittelschichten zu unterscheiden vermochte, gegen Ende des Jahrhunderts eine bedeutende Gruppe kultivierter Bürger heraus. In diese Zeit fallt drittens eine ausgeprägte Neigung, bürgerliche Lebensformen sowohl zu privatisieren als auch zu ästhetisieren. Diese Neigung machte sich wiederum zuerst in Großbritannien bemerkbar, wo sich der erste bürgerliche Wohnstil entwickelte, der wirklich bequem war - die Villa in der Vorstadt oder das Landhaus, erbaut im einheimischen Stil und mit kunsthandwerklichem Design ausgestattet. Dieser neue Stil war sichtlich an ästhetischen und künstlerischen Werten ausgerichtet, und Frauen, die nach bürgerlichem Muster für die häusliche Sphäre Verantwortung trugen, sahen sich nun intensiv mit kulturellen Dingen konfrontiert. Selbst eine Beatrice Webb mußte ihre soziale und politische Tätigkeit unterbrechen, um sich nach Einrichtungsgegenständen von William Morris umzusehen. 20 Damals wurden in Großbritannien mindestens drei noch heute bestehende Unternehmen gegründet, deren geschäftlicher Erfolg auf dem Handel mit Stoffen, Möbeln und Innendekor in kunstgewerblicher Tradition aufbaute, nämlich Heals (Möbel), Sandersons (die immer noch die von Morris selbst entworfenen Tapeten und Vorhänge führen) und Liberty, dessen Namen die Italiener später zur Bezeichnung des Jugendstils verwenden sollten. Jugendstil oder art nouveau in all seinen regionalen Schattierungen aber war vor allem anderen ein avantgardistischer Stil, der mit künstlerischen Formen arbeitete, welche im häuslichen Wohnen Verwendung fanden. Alle drei Entwicklungen zogen Frauen unweigerlich ins Zentrum kulturellen Lebens. Immerhin bildeten sie die Mehrheit jener müßigen bürgerlichen Schicht, die von fremdem oder Renteneinkommen lebte. Wie wir gesehen haben, holten sie die Männer im Bereich höherer Schulbildung in mehreren Ländern rasch ein, und darüber hinaus besuchten sie nun in Großbritannien und den USA die Schule meistens sogar länger als Jungen, obwohl dann doch wieder weniger Frauen ein Studium begannen. In der häuslichen Abteilung bürgerlicher Ökonomie waren zweifellos sie diejenigen, die das Geld ausgaben. 21 Doch selbst die nützlichsten und profansten Einkäufe für das, was man nun oft das ›schöne Heim‹ nannte, besaßen eine ausgeprägte und betonte kulturelle Dimension. Kulturproduzenten wußten darüber Bescheid, auch wenn sie es, wie William Morris, nicht schätzten, von müßigen wohlhabenden Damen vereinnahmt zu werden. All dies hätte die kulturelle Rolle bürgerlicher Frauen auch ohne deren eigenständigen Drang nach Emanzipation verstärkt, ein Drang, der zugleich auch ein Streben nach Gleichberechtigung im Bildungswesen und in der Kultur war. Ebensowenig dürfen wir die spezifischen Verbindungen zwischen künstlerischer Avantgarde und den Protagonisten sozialer und weiblicher Emanzipation übersehen, die zwischen 1880 und 1900 besonders eng waren. Außerdem sollten wir die sich immer mehr ›einbürgernde‹ Einstellung bürgerlicher Männer nicht außer acht lassen, die es selbstverständlich

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viel lieber sahen, wenn Frauen, wie T. S. Eliot schrieb, »im Zimmer umherwandeln und über Michelangelo plaudern«, als daß sie sich auf umstrittenere Themen und Aktivitäten einließen. Zweifellos wurden gebildete Frauen folglich in diesem Zeitraum kultivierter, fühlten sich zu kulturellem Engagement verpflichtet und gewannen eine größere Bedeutung für die Kontinuität kultureller Produktion, besonders in der darstellenden Kunst. Das typische Publikum, für das die Autoren der Boulevardstücke des 19. Jahrhunderts schrieben, bestand wohl kaum aus Frauen; zwischen den beiden Weltkriegen jedoch war es, wie sich der britische Bühnenschriftsteller Terence Rattigan ausdrückte, die idealtypische »Tante Edna«, die zur Vormittagsvorstellung ins Londoner West End kam und den Massengeschmack repräsentierte. Die allerersten Zuschauer amerikanischer Kinofilme waren mit größter Wahrscheinlichkeit arm, ungebildet und zu drei Vierteln männlich. Schon bald aber verlegte sich die U S Filmindustrie auf die Produktion sogenannter »Klassiker der Leinwand«, anspruchsvoller Filme mit einem kulturellen Hintergrund, die in der Regel um das Interesse und Geld der modernen Mittelschichtsfrauen und ihrer Kinder warben. Und auch die Medici-Gesellschaft, die seit 1908 Reproduktionen alter italienischer Meister herstellte, oder die Insel-Bücherei hatten es sicherlich auf eine junge weibliche Zielgruppe abgesehen. Trotzdem waren die bemerkenswerten Veränderungen bürgerlicher Kultur in dieser Epoche keineswegs allein oder überwiegend das Werk von Frauen. Selbst bei einer so traditionell und ausgesprochen weiblichen Literaturgattung wie dem angelsächsischen Roman scheinen die ›seriösen‹ Autorinnen um die Jahrhundertwende einen Teil ihrer Berühmtheit eingebüßt zu haben, die sie zur Zeit von Jane Austen und George Eliot genossen hatten und in der Zwischenkriegszeit wiedergewinnen sollten. 22 So ging denn auch der Anteil der Schriftstellerinnen, die zusammen mit den darstellenden Künstlerinnen den Großteil der in den biographischen Verzeichnissen erwähnten Frauen ausgemacht hatten, unter den weiblichen Eintragungen drastisch zurück. 23 Das lag wohl vor allem daran, daß Kultur nun für das Bürgertum insgesamt größere Bedeutung erlangte. Dieser allgemeine Bedeutungszuwachs mag eng mit der Entstehung einer eigentlichen ›Jugendkultur‹ zusammengehangen haben, die nach 1870 als neues Phänomen bürgerlicher Öffentlichkeit überall wahrgenommen wurde. Die Verknüpfungen zwischen Jugend und Kultur oder genauer zwischen Jugend und ›Moderne‹ fielen unmittelbar ins Auge und kamen schon in den Sprachschöpfungen der Jahrhundertwende - »Jugendstil«, »Die Jungen«, »Jung-Wien« - zum Vorschein. Das Jugendalter oder besser die Phase der Schul- und Universitätsbildung war offensichtlich die Zeit, in der sich die meisten Bürgerlichen kulturelles Wissen und Geschmack aneigneten, und sie taten das immer häufiger innerhalb der eigenen Peer-Gruppe. Die Beliebtheit von Nietzsche und Wagner beispielsweise war offensichtlich generationsbedingt.

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Nun gewährte diese Jugend-Kultur jungen Frauen zweifellos weit mehr Rechte als alle anderen Formen bürgerlicher Öffentlichkeit, doch änderte das nichts daran, daß sie vor allem unter jungen Männern reüssierte. Schon aus statistischen Gründen — Männer absolvierten ungleich häufiger als Frauen eine höhere Schulbildung oder ein Studium - , war der Kreis ernsthaft an Kultur interessierter Personen hauptsächlich männlichen Geschlechts. Hinzu kam, daß jetzt viel mehr Söhne aus dem Bürgertum in der Lage waren, ihr Leben der Kulturarbeit zu widmen. Bei ihren Eltern oder Verwandten fanden sie für ihren Entschluß größere Unterstützung als früher, und die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft stellte in zunehmendem Maße Bedingungen her, die diese Wahl erleichterten. Sehr viele bedeutende Persönlichkeiten des kulturellen Sektors hingen lange Jahre von der finanziellen Großzügigkeit ihrer Familien oder anderer Gönner ab, bis sie ihren Unterhalt aus eigener Kraft bestreiten konnten: der Dirigent Sir Thomas Beecham, der Komponist Frederick Delius, E. M. Forster (»in came the dividends, up went the lofty thoughts«), Hofmannsthal, Karl Kraus, Stefan George, Thomas Mann, Rilke, Marcel Proust, Georg Lucács, um nur einige zu nennen. In den ›kultivierten‹ Teilen Europas gab es sogar Geschäftsleute wie den Winterthurer Reinhardt, die ihren Beruf aufgaben, um sich ganz auf Kultur konzentrieren zu können. War jemand wie Reinhardt vielleicht auch eher die Ausnahme, wollten Unternehmer in der Regel doch wenigstens für ihre Kinder den begehrten sozialen Status erwerben, der sich mit einem Leben jenseits allen geschäftlichen Interesses verband. Ein solcher Status, der bislang ausschließlich in einem öffentlichen bzw. politischen Amt oder auch durch einen aus dem Familienvermögen finanzierten aristokratischen und luxuriösen Lebensstil winkte, konnte jetzt auch aus einer künstlerischen oder seltener - man denke an die britischen Rothschilds - wissenschaftlichen Tätigkeit gewonnen werden. Dies deutet auf die neue gesellschaftliche Anerkennung der Kunst einschließlich des Theaters hin, das mit den puritanischen oder pietistischen Werten des klassischen Bürgertums bis vor kurzem noch am wenigsten vereinbar schien. Seit den 1890er Jahren ergriffen Söhne und sogar Töchter des britischen Bürgertums den Schauspielerberuf, und berühmte Theaterstars erhielten den Adelstitel. Das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert war demnach eine Epoche, in der sich Kultur für das europäische Bürgertum und seine Aufsteiger zu einem immer bedeutenderen schichtspezifischen Unterscheidungsmerkmal entwickelte. Keinesfalls aber war es eine Epoche, in der eine klare kulturelle Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zu beobachten gewesen wäre, auch nicht in Form eines idealtypischen Modells. Gewiß trafen Frauen im Alltag Voraussetzungen an, die ihr kulturelles Engagement begünstigten. Zum einen mußten die meisten erwachsenen bürgerlichen Männer den Lebensunterhalt verdienen und hatten am Tag deshalb wahrscheinlich weniger Zeit für kulturelle Aktivitäten als bürgerliche Ehefrauen, die in der Regel keiner Erwerbstätigkeit nachgingen. Zweitens erfuhr das bürgerliche Heim

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eine zunehmende ›Ästhetisierung‹, womit sich, wie es die Tradition verlangte, hauptsächlich Frauen befaßten, die darin auch von einer sich rasch ausbreitenden Werbeindustrie bestätigt wurden. Trotzdem läßt sich die aus Hollywood-Filmen bekannte Karikatur des ungehobelten Millionärs, den die gesellschaftlichen und kulturellen Ambitionen seiner Frau langweilen, nicht auf die Männer des gebildeten Bürgertums übertragen. Dieses Bild mag vielleicht noch auf diejenigen Männer zutreffen, die in der ersten Generation den familialen Reichtum anhäuften, vielleicht auch auf manche ›müde Geschäftsleute‹, die nach einem langen Arbeitstag im Büro nach Hause kamen und andere Formen der Entspannung bevorzugten. Es gilt aber wohl kaum für die vielen bürgerlichen Männer, die Gymnasien und Universitäten besucht hatten und sich selber durch eben diese Bildung gesellschaftlich abgrenzten, oder gar für deren Söhne. Wie in Ε. Μ. Forsters 1910 erschienenen Roman »Howard's End« müssen zumindest zwei Typen bürgerlicher Männer voneinander unterschieden werden: die Gebildeten und die Ungebildeten, die Schlegels und die Wilcox. Überdies lernten selbst die ungehobelten Millionäre jener Zeit recht bald, daß sich Bilderkäufe als Methode demonstrativen Konsums ebenso gut eigneten wie das Sammeln von Rennpferden, Yachten und Mätressen. Die Vorstellung, daß Männer, die außerhalb des Hauses tätig waren, folglich nicht genügend Zeit für kulturelle Aktivitäten aufbringen konnten, während Frauen die eigentlichen Trägerinnen von Kultur und geistigen Werten gewesen seien, erweist sich daher als historisch nicht stichhaltig. Zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stimmte sie nur selten mit der Wirklichkeit überein. Schließlich sollte sich die weibliche Sphäre weder mit Klugheit noch mit Bildung oder Kultur verbinden, außer in einem ganz oberflächlichen Sinn - und oberflächlich durfte Kultur nach bürgerlichem Verständnis nun gerade nicht sein. Erst in der Anfangszeit bürgerlicher Frauenemanzipation erlangten Frauen Zugang zur anspruchsvollen Kultur, ebenso wie sie andere Rechte erwarben, die bis dahin formal oder faktisch dem anderen Geschlecht vorbehalten gewesen waren. Aber dies gelang ihnen eben deshalb, weil sie sich von ihrer besonderen weiblichen Sphäre distanzierten. Sofern sie in ihr verblieben, hatte diese Frauenwelt im Sinne bürgerlicher Hochkultur nicht viel zu bieten. Im Gegenteil: Was sich in der weiblichen Sphäre zu jener Zeit abspielte, lief vor allem darauf hinaus, Frauen systematisch als Käuferinnen von Waren und Dienstleistungen, insbesondere auf dem Literaturmarkt, auszubeuten. Einerseits entwickelte sich eine Werbung, die sich direkt an Frauen wandte, andererseits entstand ein weiblicher Journalismus in Form eigener Frauenzeitschriften und Frauenseiten in Zeitungen und Magazinen. Beide, Werbung und Zeitschriften, konzentrierten sich ganz bewußt auf die ihrer Meinung nach wirkungsvollsten Mittel, um Frauen zum Kauf anzuregen. Sie wählten Themen aus, von denen sie annahmen, daß sich Frauen dafür interessierten: Familie, Heim, Kinder, Schönheitspflege, Liebe, Romantik. Anspruchsvol-

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le Kultur war nicht darunter, außer vielleicht für eine kleine Minderheit extrem reicher und exotischer Frauen, denen daran lag, gesellschaftlich überall auf dem laufenden zu sein. Dies alles bedeutet nicht, daß Frauen zwischen 1870 und 1914 versuchten, Männer zu imitieren oder gar wie Männer zu sein. Sie wußten sehr wohl, daß Männer und Frauen nicht gleich waren, auch wenn sie das gleiche taten, sich als Gleiche anerkannten oder die gleiche Rolle in der Öffentlichkeit spielten, wie ein Blick in die Briefe von Rosa Luxemburg oder in die Tagebücher von Beatrice Webb erkennen läßt. Es bedeutet aber, daß zu dieser Zeit das Insistieren auf einer separaten weiblichen Sphäre sowie die Behauptung, Frauen trügen eine besondere Verantwortung für Kultur, politisch und gesellschaftlich eher rückschrittlich und rückwärtsgewandt waren. Emanzipierte Männer und Frauen wollten in einer öffentlichen Welt leben, die keines der beiden Geschlechter diskriminierte. In dieser öffentlichen Sphäre aber war Kultur im bürgerlichen Sinn für die Bestimmung von Bürgerlichkeit wahrscheinlich von größerer Bedeutung, als sie es vorher und vielleicht sogar nachher jemals gewesen ist.

Anmerkungen 1 In diesem Beitrag wird der Begriff ›Kultur‹ so verwendet, wie er im bürgerlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts geprägt worden ist. ›Kultur‹ umfaßt demnach zum einen die Leistungen in den verschiedenen Künsten, die im Gegensatz zur bloßen ›Unterhaltung‹ moralischen und ästhetischen Wert beanspruchen, zum anderen ihr richtiges Verständnis und drittens das Wissen und die Bildung, die für dieses Verständnis notwendig sind. 2 Vgl. J . Park, Women of Their Time: the Growing Recognition of the Second Sex in Victorian and Edwardian England, in: Journal of Social History, Bd. 21, 1987, S. 49-67. Mein Beitrag stützt sich stark auf die veröffentlichten und unveröffentlichten Forschungen Parks auf diesem Gebiet. 3 D. R. Knight, Great White City, Shepherd's Bush, London: 70th Anniversary, 1908-1978, New Barnet 1978. 4 Men of the Reign: A Biographical Dictionary of Eminent Persons of British and Colonial Birth who had died during the Reign of Queen Victoria, London 1885. Dieses Lexikon erschien anläßlich von Viktorias 50jährigem Kronjubiläum. 5 Park, Women. 6 Ich wage zu bezweifeln, daß es danach j e wieder einen ebenso langen Zeitraum gegeben hat, in dem ähnlich viele Frauen mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden. 7 Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, hg. v. H. Nunberg u. E. Federn, Bd. I, Frankfurt 1976, S. 186 f. 8 Vgl. dazu E. Chamier, L'Evolution Intellectuelle Féminine, Paris 1937, S. 140, 189. 9 A. Sayre, Rosalind Franklin and DNA, New York 1975. 10 M. Vicinus, Independent Women: Work and Community for Single Women, 1850-1920, London 1986, S. 127; R. McWilliams-Tullberg, Women and Degrees at Cambridge University, 1862-1897, in: M . Vicinus (Hg.), A Widening Sphere. Changing Roles of Victorian Women, Bloomington 1977, S. 117-145. 11 D. C. Marsh, The Changing Social Structure of England and Wales, 1871-1961, London 1965, S. 218; A. H. Halsey (Hg.), Trends in British Society since 1900, London 1972.

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12 »The Englishwoman's Yearbook« erschien jährlich in London. 13 »The Suffrage Annual and Woman's Who's Who« ist in einer noch unveröffentlichten Arbeit von J . Park, aus der die hier zitierten Angaben stammen, ausführlich analysiert worden. 14 Ein interessantes Beispiel dieser Männerkultur bieten die wohlbekannten »Apostel« in Cambridge. Vgl. dazu u. a. P. Levy, Moore: G. E. Moore and the Cambridge Apostles, Oxford 1981, sowie R. Skidelsky, John Maynard Keynes I: Hope Betrayed, London 1983. 15 Was sich auf dem unbekannten Terrain des Ehebruchs abspielte, ist noch viel schwieriger zu ermitteln, weshalb ich an dieser Stelle auf weitere Spekulationen verzichte. 16 T. Zeldin, France 1848-1975, Bd. 2, Oxford 1977, S. 169. 17 Im »Englishwoman's Yearbook« von 1905 stand zu lesen, daß »Innenarchitektur und -ausstattung ein Beruf sei, in dem Frauen letzthin sehr erfolgreich« gewesen seien (S. 54). 18 Daß Kultur, wenn es darauf ankam, auch genauso viel kosten konnte wie demonstrativer Konsum, haben Frick, Morgan, Mellon und andere hinreichend bewiesen. 19 Skidelsky, Keynes, Kap. 1-4. 20 The Diaries of Beatrice Webb, Bd. 2, London 1983, S. 38. 21 Noch heute überschreibt die Londoner Financial Times ihre Frauenseite ganz ungeniert mit »How to Spend It«. 22 Der Zeitraum zwischen 1880 und 1914 war wahrscheinlich der einzige in der englischen Literatur seit 1800, in dem im Kreis berühmter Romanautoren wie Thomas Hardy, Joseph Conrad, H. G. Wells, Arnold Bennett, Rudyard Kipling, E. M. Forster oder George Gissing keine Frau zu finden war. 23 Park (s. Anm. 13).

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HERRAD U. BUSSEMER

Bürgerliche Frauenbewegung und männliches Bildungsbürgertum 1860-1880

Die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formierende bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland entwickelte bereits innerhalb weniger Jahre zwei völlig verschiedene Emanzipationskonzepte, die diametral entgegengesetzt auf das Geschlechterverhältnis und den weiblichen Lebensentwurf im Bürgertum antworteten. Während das in der liberalen Aufbruchsphase der 1860er Jahre dominierende egalitäre Modell weiblicher Befreiung auf wenig Gegenliebe bei männlichen Zeitgenossen jeder politischen Couleur stieß, kam das in den 1870er Jahren entwickelte Konzept der Frauenbewegung - ›organisierte Mütterlichkeit‹ - ihren Vorstellungen von Weiblichkeit weit mehr entgegen, auch wenn es den Rahmen bürgerlich-männlichen Politikverständnisses partiell sprengte. Egalitäre Emanzipationstheorien der 1860er Jahre »Arbeit, befreiende und befreite Arbeit, das ist das Losungswort unserer Vereinigung, das Banner, um welches wir uns schaaren.«1 Auf diese knappe Formel brachte eine der Gründerinnen des 1865 in Leipzig konstituierten Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (ADF) ihre Forderungen. Ausgangspunkt für den Aufbruch der Frauenbewegung war der Ausschluß bürgerlicher Frauen aus der Arbeitswelt der Männer. Zum einen entsprach dies der sozialen Zusammensetzung der Vereinsmitglieder: Neben einer kleinen Gruppe von 1848erinnen, die sich um Louise Otto gruppierten, bildeten wahrscheinlich jüngere unverheiratete Frauen bildungsbürgerlicher Herkunft die Mehrheit der Mitglieder. 2 Sie gehörten jener sozialen Problemgruppe an, deren Versorgung durch die bürgerliche Familie nicht mehr gewährleistet schien und die unter dem Begriff ›Soziale Frauenfrage‹ das besorgte Interesse der Öffentlichkeit auf sich zogen. Zum anderen bedeutete Arbeit für die frühe Frauenbewegung nicht nur Abhilfe finanzieller Nöte: Mit dem Recht auf Arbeit reklamierte sie gleichzeitig das Recht auf Selbständigkeit und Selbstverwirklichung. Darüber hinaus sollte der Einbruch in die männliche Berufssphäre den Frauen auch 190 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

den Zutritt zu allen anderen, Männern vorbehaltenen Bereichen eröffnen. So schilderte Louise Otto in ihrer progammatischen Schrift »Das Recht der Frauen auf Erwerb« nicht nur anschaulich die beschränkten Berufsaussichten, die kärglichen Verdienstmöglichkeiten und demütigenden Lebensbedingungen, die Frauen als Gouvernanten, Lehrerinnen und Gesellschafterinnen oder als ›verschämte Heimarbeiterinnen‹ vorfanden, um die Notwendigkeit erweiterter Berufsmöglichkeiten zu belegen, - sie forderte gleichzeitig einen gesellschaftlichen Ort für Frauen außerhalb der Familie: »Wie man nicht den Mann, der keine Familie gründet, deshalb als unnützes Mitglied der menschlichen Gesellschaft betrachtet, so muß auch für das Mädchen das gleiche Recht in Anspruch genommen werden. Auch Mädchen, welche ledig bleiben wollen oder müssen, müssen sich einen Wirkungskreis suchen können, der ihrem Leben einen Inhalt giebt, ihre Existenz sichert und sie zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft macht, auch sie darf man nicht mit dem immer erneuten Fluch belasten, ihre Bestimmung verfehlt zu haben . . . Man darf ihnen nicht mehr sagen, daß sie nur auf der Welt wären, um einem Mann zu gefallen. «3 Arbeit sollte dem weiblichen Individuum die persönliche Emanzipation ermöglichen; ihr korrespondierte auf kollektiver Ebene die Maxime ›Selbsthilfe‹ als Grundlage für die Selbstbefreiung des weiblichen Geschlechts. Die Frauenbewegung als »Fortschrittspartei des 5. Standes« 4 sollte alle Frauen ohne Unterschied der sozialen Herkunft oder Klassenzugehörigkeit zu einer Emanzipationsbewegung vereinigen. Selbsthilfe hieß deshalb immer auch, durch Unterstützung der schwächeren, unterprivilegierten Frauen der Arbeiterschaft die Position des weiblichen Geschlechts insgesamt zu verbessern. Selbsthilfe, konkretisiert in der Form öffentlicher Organisation von Frauen unter Ausschluß von Männern, war nicht nur Mittel zur Emanzipation, sondern bereits partielle Einlösung dieses Anspruchs. Dieses für uns nach den Erfahrungen der neuen Frauenbewegung vielleicht als selbstverständlich erscheinende Prinzip der autonomen Frauenorganisation erregte nicht nur die Sensationsgier und das Mißtrauen des bürgerlichen Publikums, es war für Jahrzehnte auch immer wieder eine Herausforderung für die agierenden Frauen selber; jedes öffentliche Auftreten kostete erneut Selbstüberwindung, gewährte aber auch kollektive Selbstbestätigung und verstärkte das Solidaritätsgefühl. Gleichzeitig lieferte dieses revolutionäre Prinzip vielleicht auch einen der Gründe für die quantitativ sehr bescheidene Entwicklung des ADF: Es waren zunächst knapp drei Dutzend Frauen, die sich als Gründungsmitglieder eintrugen. In den folgenden Jahren entstanden Lokalvereine oder Schwesterorganisationen in ca. 30 Städten, vorwiegend im protestantischnorddeutschen Raum. Die Mitgliederzahlen variierten zwischen 50 und 200, so daß die Gesamtzahl der organisierten Frauen auf höchstens einige Tausend geschätzt werden darf. Da die finanziellen Mittel vermutlich noch magerer

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waren als die Mitgliederzahlen - Frauen verfugten in der Regel weder über hohe Einkommen noch über Vermögen - , blieb der Aktionsrahmen des ADF recht beschränkt. Die Aktivitäten konzentrierten sich auf Bildungsangebote, vornehmlich addressiert an die Frauen des ›Volkes‹, und auf Projekte zur Förderung der ›Berufsfähigkeit‹. Dazu zählten Fortbildungskurse für kaufmännische Angestellte, Stellenvermittlungsbüros oder Versuche, Produktion und Vertrieb weiblicher Handarbeiten genossenschaftlich zu organisieren. 5 Weit größeren Stellenwert besaßen neben diesen praktischen Maßnahmen die Agitation nach außen und die Selbstverständigung innerhalb der Frauenbewegung über Ziele und Charakter ihrer Bestrebungen. Die Integration der Frauen in die Arbeitswelt bürgerlicher Männer ging für die Wortfuhrerinnen des ADF in den 1860er Jahren einher mit der Revision des Geschlechterverhältnisses und einer Neukonzeption des weiblichen Lebensentwurfs: »Indeß, die Arbeits- und Erwerbsfrage ist für das weibliche Geschlecht zur Lebensfrage geworden, sie ist glücklicherweise nicht mehr todtzuschweigen, sie ist das Feld a u f dem die moderne Frauenbewegung ihr Vorpostengefecht gegen Vorurteil und Herkommen eröffnet hat und bietet einer Jeden die Möglichkeit auf das Kräftigste mitzuhelfen zur Vorbereitung unseres großen Zieles . . . Haben die Frauen als Gesamtheit diesen Standpunkt erreicht, so kann die völlige Gleichstellung der Geschlechter nurmehr eine Frage der Zeit sein.«6 Weniger kämpferische Formulierungen wählte Louise Otto, aber auch für sie verstand es sich von selbst, daß wenn die Frauen durch Erwerbsarbeit am gesellschaftlichen Leben partizipierten, sich auch die bürgerlichen Gesetze verändern müßten, desgleichen alle Konventionen und Moralvorstellungen. Wenn neue Berufschancen den Frauen nicht nur eine materiell abgesicherte Existenz, sondern auch Selbstverwirklichung und gesellschaftliche Anerkennung garantieren sollten, dann mußte auch ihr sonstiger Lebensraum über den Bereich der engen Häuslichkeit hinaus erweitert werden. Ihre Forderungen bezogen sich auf die Ebene der großen Politik wie auf die Ebene des Alltags: Frauen sollten mit gleicher Selbstverständlichkeit allein wohnen, allein reisen und unbegleitet Lokale und öffentliche Veranstaltungen besuchen können. Das Assoziationswesen sollte nicht länger ausschließlich Männern vorbehalten bleiben; um diesem Anspruch Geltung zu verschaffen, entsandte der ADF Delegierte etwa zu den Jahresversammlungen der Berufsorganisationen der Lehrer, Schriftsteller oder Philosophen. Während die Partizipation an der außerhäuslichen Lebenswelt bürgerlicher Männer bis hin zur Erlangung völliger staatsbürgerlicher Gleichberechtigung für die ADF-Frauen logische Konsequenz ihres Eintritts in die männliche Berufssphäre war und aus ihrer Sicht keiner weiteren Rechtfertigung bedurfte, waren die Auswirkungen der angestrebten neuen Berufsrolle auf den privaten Bereich, auf das Verhältnis der Geschlechter in Familie und Ehe, auf Haushalt und Kindererziehung offensichtlich schwerer abzuschät-

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zen; jedenfalls nehmen diese Fragen in allen Publikationen erheblich mehr Raum ein. Die Frauenbewegung der 1860er Jahre war in der Regel weit davon entfernt, die vorgefundenen Geschlechterrollen als naturgegeben zu akzeptieren; sie vertrat vielmehr die Ansicht, daß erst freie und gleiche Entwicklungschancen für beide Geschlechter in den nächsten Generationen ein definitives Urteil über die Unterschiede der Geschlechtscharaktere ermöglichen könnten. So erklärte Jenny Hirsch: »Die Unterschiede in der körperlichen Organisation zwischen Mann und Weib sind klar - obschon auch sie keine prinzipiellen sind - wie weit diese aber eine geistige Verschiedenheit zur Folge haben, werden wir erst wissen, wenn ein ungestörter Entwicklungsgang des weiblichen Genius uns gezeigt hat, was im Weibe natürliche Anlage und was Produkt der Jahrhunderte, ja Jahrtausende langen menschlichen Gewohnheit und Erziehung ist.« 7 Entsprechend versuchten andere Autorinnen nachzuweisen, daß das normative Frauenleitbild nur Ausdruck der Unterdrückung der Frauen sei und ausschließlich dazu diene, den Status quo und die männlichen Privilegien zu sichern: »Die Wahrheit ist, daß immer ein stillschweigend anerkanntes festes Bündnis unter den Männern gegen jede mögliche Selbständigkeit der Frauen bestanden hat. Dazu kam, daß die Sklaverei des weiblichen Geschlechts von jeher als einerseits gar nicht vorhanden, oder nur als eine natürliche und notwendige Unterordnung desselben unter das männliche hingestellt worden war; und andererseits die Frauen selbst, mit der Zeit in die verkehrtesten Begriffe von Ehre hineingetrieben, nicht mehr zu denken vermochten, die Natur könne sie zu etwas Anderem als einzig zur wirtschaftlichen-häuslichen Tätigkeit geschaffen haben.«8 Sie wandten sich scharf gegen die »pflanzenhafte Innerlichkeit«, gegen die minder entwickelten intellektuellen Fähigkeiten, die mit dem Begriff ›Weiblichkeit‹ assoziiert würden, und lehnten jede Festlegung auf dienende, pflegerische und erzieherische Funktionen ab. 9 Selbst Frauen wie Louise Otto, die - wie in der älteren und neueren Literatur häufig betont - diese radikal egalitären Vorstellungen nicht teilten, sondern an der Existenz von naturgegebenen, spezifisch weiblichen Eigenschaften festhielten, betrachteten die vorgefundenen Formen der Weiblichkeit nur als Folge der Unterdrückung und des »Systems der gegenseitigen Isolierung der Geschlechter« 10 und gründeten ihren Anspruch auf Emanzipation nicht auf das ›Ewig-Weibliche‹, sondern das ›Rein-Menschliche‹. Von diesen Voraussetzungen ausgehend, konnten die Frauen kaum die Vorstellung übernehmen, der Beruf der Gattin, Hausfrau und Mutter sei ihre natürliche Bestimmung und ihr einziger Daseinszweck. Zwar scheuten selbst radikale Vertreterinnen egalitärer Theorien davor zurück, Ehe und Familie grundsätzlich in Frage zu stellen. Zu groß war die Sorge, in der Öffentlichkeit mit den berüchtigten ›Emancipirten‹ der 1840er Jahre gleich-

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gesetzt zu werden, die, Zigarre rauchend und in Männerkleidung, der ›bacchantischenLockung des Blutes‹ nachgegeben und die freie Liebe propagiert und praktiziert hätten. Wenn also eine prinzipielle Ablehnung von Ehe und Familie weitgehend tabuisiert war, wurden ihre Praxis im zeitgenössischen Bürgertum und ihre rechtliche Verfassung um so heftiger kritisiert. Louise Otto und ihre Mitstreiterinnen wiesen immer wieder darauf hin, daß das äußere Bild des Familienidylls nur um den Preis von Verlogenheit und Heuchelei aufrechtzuerhalten sei; 11 die geplante Neuregelung des Familienrechts im BGB lieferte den Anlaß für eine der breitesten Kampagnen der frühen Frauenbewegung. 1 2 Am verwerflichsten erschien den Frauen die Versorgungsehe, die ohne weiteres mit Prostitution gleichgesetzt wurde, und es fehlte nicht an Hinweisen, daß »die verspotteten alten Jungfern doch in vieler Hinsicht der bessere Teil von uns Frauen« wären, 1 3 da sie der Versuchung widerstanden hätten, materielle Sicherheit gegen die Preisgabe ihrer Person zu erkaufen. Nur die eigene Berufstätigkeit der Frauen, und zwar angemessen bezahlte, gesellschaftlich anerkannte und innerlich befriedigende Berufstätigkeit, biete die Chance, diesen Zwang zu unwürdigen Heiraten zu beseitigen. Kaum umstritten war innerhalb der Frauenbewegung auch die Frage, ob die »Gattin und Mutter unbeschadet ihrer nächsten Pflichten erwerben könne«. 1 4 Der Beruf der Hausfrau konnte für die elitär denkenden Feministinnen keine Alternative zur außerhäuslichen Erwerbstätigkeit sein, da Hausarbeit als unbezahlte und willkürlich auferlegte Tätigkeit als Sklavenarbeit eingestuft wurde. 1 5 Die Notwendigkeit der Erwerbstätigkeit von Ehefrauen wurde historisch begründet: Wie die Hausfrau in der alten familialen Versorgungswirtschaft zum Unterhalt der Familie beigetragen hätte, müßte sie jetzt nach dem Verschwinden der Naturalwirtschaft ihren Anteil durch Gelderwerb bestreiten. Den Ehemännern böte diese Regelung nur Vorteile: Zum einen würden sie von der alleinigen Verantwortung für den Lebensunterhalt der Familie entlastet, zum anderen sei von Frauen, deren Horizont nicht auf den engen Kreis der Häuslichkeit beschränkt sei, mehr Verständnis und Unterstützung für ihre gesellschaftlichen Interessen und Aktivitäten zu erwarten. 1 6 Nicht befriedigend geklärt wurde die Frage, wer nun eigentlich die ungeliebte Hausarbeit erledigen sollte. Keine noch so radikale Feministin verstieg sich zu der Forderung, Männer gleichberechtigt an der Führung des Haushalts zu beteiligen; allenfalls gleiche Zuständigkeit für die Erziehung der Kinder wurde verlangt. Über die Doppelbelastung der berufstätigen Ehefrauen machten sich die Feministinnen zunächst wenig Gedanken; nur gelegentlich tauchten Vorschläge auf, größere Teile der Hausarbeit aus dem privaten Bereich zu verlagern und - analog den Volksküchen für die Unterschichten - Speiseanstalten, Wäschereien, Bäckereien für den Mittelstand einzurichten. 17 Ganz offensichtlich wurde immer stillschweigend die Existenz von Hauspersonal vorausgesetzt.

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Reaktionen bürgerlicher Männer Obwohl in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts kaum die Rede davon sein konnte, daß die offene Kampfansage der egalitären Feministinnen gegen männliche Privilegien eine genügend breite Basis gefunden hätte, um die Vorrangstellung der Männer ernsthaft zu bedrohen, löste das erste öffentliche, organisierte Auftreten der Frauenbewegung bei männlichen Zeitgenossen große Betroffenheit und hitzige Auseinandersetzungen aus: Für eine allerdings sehr kurze Phase von zwei, drei Jahren avancierte die ›Soziale Frauenfrage‹ zum Modethema, das in vielen Organisationen, in zahllosen Broschüren und Periodika diskutiert wurde. Konservativen Männern bereitete das Problem scheinbar wenig Kopfzerbrechen, feministische Ansprüche wurden mit größter Selbstverständlichkeit pauschal zurückgewiesen. Ihre Verunsicherung ist allenfalls an der Quantität ihrer Veröffentlichungen zur Frauenfrage abzulesen, deren Inhalt sich aber in der ständigen Wiederholung von Schilderungen familialer Idylle erschöpfte. Die Voraussetzungen dieser Familie durften nicht gefährdet werden, jede außerhäusliche Aktivität von Frauen war folglich ausgeschlossen. Die alleinstehenden Frauen, deren Existenz innerhalb der Familie problematisch geworden war, wurden entweder nicht zur Kenntnis genommen oder darauf hingewiesen, daß sie aus eigener Schuld ihre wahre Bestimmung verfehlt hätten, da ihr Hang zu übertriebenem Luxus und ihre Unfähigkeit zu sparsamer Haushaltsführung jeden Mann von der Heirat abschrecken müßten. Die »Frauenemanzipation« wurde als »in der Zeit liegende Erkrankung des menschlichen Gehirns« betrachtet. 18 Der Ausschluß der Frauen von politischen Rechten bedurfte keiner Rechtfertigung, da man die Demokratisierung des Wahlrechts für eine bedauerliche Fehlentwicklung hielt, die in absehbarer Zeit sowieso revidiert werden würde. 1 9 Sehr viel mehr Brisanz besaß die ›Soziale Frauenfrage‹ offensichtlich für das liberale Bildungsbürgertum. Diese soziale Gruppe, die durch die beginnende Formierung der Arbeiterbewegung und durch Verschiebungen innerhalb des bürgerlichen Lagers in ein soziales Spannungsfeld geraten war, empfand die ›Soziale Frauenfrage‹ als Indikator einer inneren Krisen- oder Umbruchsituation des Bürgertums. Die Ablösung einer innerbürgerlichen Gruppe, der alleinstehenden Frauen, aus der bislang einzig gültigen bürgerlichen Lebensform, der patriarchalischen Familie, schien diese Familie selber und damit Wertmaßstäbe und Verhaltensstrukturen des Bürgertums grundsätzlich in Frage zu stellen. Von der Lösung der Frauenfrage, d. h. von der Reintegration der expliziten und impliziten Forderungen lediger Frauen in die bürgerlich-patriarchalische Ordnung, schien die Konsolidierung der Identität bürgerlicher Männer abzuhängen. Liberale Politiker wie W. A. Lette, F. v. Holtzendorff, A. Lammers und A. Emminghaus gingen deshalb über die theoretische Diskussion hinaus und versuchten, dem Problem durch die Gründung von ›Vereinen zur

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Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts‹ beizukommen. Finanziell erheblich besser ausgestattet als die autonomen Frauenvereine, eingebunden in das Netz des liberalen Assoziationswesens mit Kontakten zu Kommunal- und Regionalverwaltungen wie zur Presse, konnten diese Organisationen nach wenigen Jahren erheblich größere praktische Erfolge aufweisen und verfügten über funktionierende Einrichtungen wie kaufmännische Schulen, Lehranstalten für Krankenpflege, Telegraphie und Photographie, Druckereien, Stellenvermittlungen, Frauenwohnheime und Damenrestaurants. Zugrunde lag dieser liberalen Frauenpolitik eine sehr widerspruchsvolle Haltung zur Frauenfrage und Frauenbewegung, die zwischen unvereinbaren sozioökonomischen Interessen des männlichen Bildungsbürgertums und seinen liberalen theoretischen Ansprüchen schwankte. Die ›Soziale Frauenfrage‹, das Problem, die ledigen Frauen des Mittelstandes standesgemäß zu versorgen, stellte sich für viele Vertreter des liberalen Bildungsbürgertums als geradezu privates Problem. So spricht aus Zitaten wie dem folgenden deutlich die persönliche Betroffenheit des Autors: »Ich kenne Niemand, der nicht in seiner nächsten Verwandtschaft eine gealterte Tante, Cousine oder Schwägerin hätte, die unversorgt den Ihrigen mehr eine Bürde als eine Hülfe ist. Hier leben erwachsene Töchter, dilettantisch beschäftigt mit Büchern und Noten, eine nie ruhende Sorge bejahrter Eltern; dort finden wir eine Schwester als Wirtin des Bruders, der sich um ihretwillen die Erfüllung der heißesten Triebe seines Herzens versagt; an einem anderen Ort ist die Schwester der Frau im Hause des Schwagers eingenistet als meisternde Muhme den Kindern ein Dorn im Fleische.« 20

Unverheiratete erwachsene Frauen hatten immer in den Haushalten ihrer Verwandten gelebt und sich dort mehr oder weniger nützlich betätigt; im bürgerlich-städtischen Haushalt aber war kein Raum mehr für diesen »Tantenplatz« (W. H. Riehl), und die Kosten für zusätzliche Esserinnen waren deutlich sichtbar geworden, da der gesamte Haushaltsbedarf gegen Geld erworben werden mußte. Mit seinen meist sehr bescheidenen Mitteln konnte das verbeamtete Bildungsbürgertum eine statusadäquate Lebensführung nur aufrechterhalten, wenn es nicht durch Aufwendungen für die standesgemäße Versorgung weiblicher Angehöriger belastet wurde - sei es die Mitgift für die Tochter, sei es der Unterhalt für unverheiratete Schwestern, Tanten oder Schwägerinnen. Die Frauenpolitik der Liberalen zielte jedoch nicht nur darauf ab, die einzelnen Mitglieder des Bildungsbürgertums von ihren privaten finanziellen Problemen zu befreien, sondern diente darüber hinaus der Konsolidierung des gesamten Mittelstandes. Durch die statusadäquate Integration unverheirateter Frauen in die Berufswelt der Männer sollten die Familien des Mittelstandes entlastet und gleichzeitig der soziale Abstieg der ledigen weiblichen Angehörigen dieser Gruppe verhindert werden, um die soziale Statushomogenität von bürgerlichen Männern und Frauen zu wahren. 21 196 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

Wurden liberale Politiker also aus wohlverstandenem Eigeninteresse zu aktiven Förderern des ›Rechts der Frauen auf Erwerb‹, brachten sie die weitergehenden Emanzipationsforderungen der Frauenbewegung in einige Verlegenheit, berief sich diese doch auf die eigenen theoretischen Grundlagen des Liberalismus, das Recht der freien Persönlichkeit, und verlangte nichts anderes, als auch der ›zweiten Hälfte‹ des Menschengeschlechts die Freiheit einzuräumen, ihren Platz in der Gesellschaft durch Leistung und Bildung selber zu bestimmen. Feministische Autorinnen verwiesen immer wieder auf die Emanzipation der Juden oder die Sklavenbefreiung in den Vereinigten Staten von Amerika als analoge Bewegungen. Außerdem argumentierten sie, daß die Veränderungen der gesellschaftlichen Stellung der Frau eine notwendige Folge des allgemeinen zivilisatorischen Fortschritts sein müsse, da die unterprivilegierte Stellung der Frau nur als anachronistisches Relikt vergangener Jahrhunderte zu betrachten sei. Sozialer Fortschritt und Liberalisierung der Gesellschaft seien auf die Dauer nur zu garantieren, wenn alle gesellschaftlichen Gruppen - also auch die Frauen - daran beteiligt wären. Dieser Versuch der Frauenbewegung, sich als natürliche Bundesgenossin des Liberalismus zu präsentieren und ihn gleichzeitig als geistigen Erzeuger zu reklamieren, stieß bei den angesprochenen Männern nur auf begrenzte Gegenliebe. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, lehnten sie die ungewollte Vaterschaft allerdings nicht rundweg ab, denn sie sahen durchaus die Notwendigkeit ein, »die Frauen der geistig strebsamsten, für die Staatsökonomie maaßgebendsten und die Bildung der Nation vertretenden Stände« an den Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft partizipieren zu lassen. 22 So rechtfertigte ein Mitglied des Preußischen Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen sein Engagement für die Frauenfrage: »In der That wendet sich jetzt die allgemeine Aufmerksamkeit der sozialen Stellung der Frauen zu. Hängt doch von den Frauen das Gelingen jeden Aufschwunges ab; verzagen sie, so hängen sie sich mit Bleigewicht an die Fittiche; schreiten sie an der Seite ihrer Männer, bringen sie ihr Haar, ihren Schmuck zum Altar des Vaterlandes, erziehen sie die Söhne zu jeder Erhebung von Neuem, dann aber nur dann kann ein Land auch auf die Bestrebungen seiner Männer vertrauen.«23 Partiell waren liberale Politiker durchaus bereit, die Frauenbewegung als Bündnispartnerin zu akzeptieren oder für eigene Ziele zu instrumentalisieren. So hofften sie beispielsweise auf Unterstützung gegen protestantischen wie katholischen Klerikalismus 2 4 oder versprachen sich von der Reform der Frauenbildung ein dynamisierendes Element für die verkrusteten Strukturen im Schul- und Hochschulwesen. 2 5 Insgesamt aber sahen sich die Liberalen durch die Frauenbewegung in letztlich nicht lösbare Konflikte gestürzt. Außerhäusliche Berufstätigkeit von Frauen bot sich einerseits als einzige Lösung für die auch das männliche Bürgertum bedrohende ›Soziale Frauenfrage‹ an, schien andererseits a b e r -

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aufgrund ihrer Konsequenzen für das Geschlechterverhältnis - unvereinbar mit der bürgerlichen Familienform, die wiederum für unverzichtbar gehalten wurde. Schließlich konnten sie den Schlußfolgerungen, die die Vorkämpferinnen des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins aus ihrem eigenen liberalen Gedankengut gezogen hatten, kaum die Legitimation absprechen, mußten also irgendeine Antwort auf die Gleichberechtigungspostulate der Frauenbewegung finden, ohne die Einbindung der Frau in den familialen Kontext zu gefährden. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit ihren Forderungen und deren Konsequenzen blieben deutsche Liberale der Frauenbewegung lange schuldig; alle Publikationen und Aktivitäten konzentrierten sich auf die ›Soziale Frauentages widmeten sich der Förderung dieses oder jenes Berufszweiges oder einzelner Ausbildungsgänge. Die Frauenfrage blieb also reduziert auf das praktische Problem, standesgemäße Erwerbsmöglichkeiten für eine begrenzte Schicht von Frauen zu entwickeln. Erst das Erscheinen von John Stuart Mills ›Subjection of Women‹ 1869, das Jenny Hirsch noch im gleichen Jahr in deutscher Übersetzung veröffentlichte,26 erzwang - vor dem Hintergrund von Mills Wahlrechtskampagnen - eine Debatte über die rechtliche und politische Emanzipation des weiblichen Geschlechts, die über den Kontext der neuen weiblichen Berufstätigkeit hinausging.

Die Rezensenten der liberalen Periodika begrüßten einhellig Mills Streitschrift als »ganz vortrefflich«, als »einsichtsvolle, unpartheiische Berücksichtigung vom männlichen Standpunkte aus«, die »von erstaunlicher Kenntnis des weiblichen Geschlechts« wäre,27 und erklärten: »Es handelt sich [bei der Frauenfrage, Η. Β.] um das höchste Recht der Persönlichkeit, es handelt sich um absolute Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit. Wo aber die Frage so gestellt ist, kann das Banner nicht zweifelhaft sein, unter dem wir kämpfen und siegen müssen.«28 Andererseits aber verspürten sie »eine berechtigte Scheu, der völligen Emancipation wie Englands großer Nationalökonom J . St. Mill das Wort zu reden«. 29 Obwohl ihnen der historisch und sozial bedingte Charakter der bürgerlichen Familienform durchaus einsichtig war, 30 verteidigten sie ihre Zurückhaltung mit dem Hinweis, »dieses nicht bloß durch Erziehung und Umgebung in uns angebildete Zartgefühl« wurzele in einer »Charaktereigenthümlichkeit des deutschen Volkes«, nämlich »einer tiefen Verehrung des weiblichen Geschlechts«,31 dem besonderen Stellenwert des Familienlebens in Deutschland, und lehnten das Gesamtwerk mit dem Argument ab: »Es ist ein eigener, uns Deutschen fremder Geist, welcher durch das ganze Werk geht.« 32 Vorbehaltlose Zustimmung fanden lediglich Mills Ansichten über die Berufstätigkeit von Frauen und den zu erwartenden volkswirtschaftlichen Nutzen, wenn diese bislang brach liegenden weiblichen Arbeitskräfte in die gesellschaftliche Produktion integriert würden. Aber auch wenn liberale Frauenpolitiker sich weigerten, Frauen eine 198 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

eigenständige Rolle in der Gesellschaft einzuräumen, wurde die Förderung der Frauenarbeit durchweg in Diskussion und Tätigkeit ihrer Organisationen miteinbezogen und von liberal majorisierten Kommunal- und Regionalverwaltungen unterstützt. Als handelnde Subjekte wurden Frauen zwar nicht akzeptiert, sie blieben Objekte liberaler Sozialpolitik; der praktische Stellenwert dieser Politik ist aber nicht zu unterschätzen. Von diesen Prämissen ausgehend, konnten liberale Männer dem ADF und seinem Autonomieanspruch, seinem »phantastischen Radikalismus«, 3 3 nur mit Ablehnung, bestenfalls mit Skepsis begegnen. So betrachtete Lette, Gründer des ersten »Vereins zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts«, die Aktivitäten der Leipziger Frauen: »Ein widerliches Zerrbild malt die Ihnen vielleicht bekannte Frau Louise OttoPeters. Vor solchen Frauenzimmern beschütze uns der Himmel . . . Diese oberflächlichen Kraftweiber schaden ihrem Geschlecht mehr als die frühere Vernachlässigung einer praktischen Bildung. «34

Geistige Mütterlichkeit: Die Frauenbewegung als nützliches Glied der bürgerlichen Gesellschaft Ein knappes Jahrzehnt später hatte sich das Verhältnis zwischen den von Männern initiierten ›Vereinen zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts‹ und den eigenständigen Frauenorganisationen völlig gewandelt. An die Stelle von Abgrenzung und wechselseitigen Angriffen war gegenseitige Anerkennung und Kooperation getreten. Liberale Männer urteilten voller Wohlwollen über Louise Otto und ihre Mitstreiterinnen und hatten ihr Mißtrauen anscheinend endgültig begraben, während die Frauen gegenüber dem beschränkten Ansatz liberaler Frauenpolitik keine weitergehenden Ansprüche mehr geltend machten. Dieser erstaunliche Sinneswandel ist vermutlich allerdings weniger auf einen Lernprozeß der männlichen Politiker als auf Veränderungen innerhalb der Frauenbewegung selber zurückzuführen, die einer völligen Neuorientierung gleichkamen. Die egalitäre Feminismustheorie konnte ihre Dominanz in der organisierten Frauenbewegung nur wenige Jahre lang behaupten. Nach 1871 gelang es der neuen Theorie der ›geistigen Mütterlichkeit‹ innerhalb kurzer Zeit, die feministische Kritik am bürgerlichen weiblichen Lebensentwurf und am Geschlechterverhältnis in Vergessenheit geraten zu lassen. Unter dem Einfluß der pädagogischen Theorien Pestalozzis und vor allem Friedrich Fröbels setzte sich eine differenziertere Definition des Wesens der Frau durch, die Weiblichkeit weitgehend mit Mütterlichkeit gleichsetzte. Der neue Begriff der »geistigen Mütterlichkeit« 3 5 offerierte ein flexibleres Identifikationsschema als die älteren Definitionen von Weiblichkeit, indem er einerseits scheinbar an die konkreten Alltagserfahrungen der Frau-

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en in der Familie anknüpfte, andererseits aber gleichzeitig mit einer konkreten Beschreibung der gesellschaftlichen Verpflichtung der Frau über diese hinauswies. Der Gegensatz zwischen ›Männlich‹ und ›Weiblich‹ blieb zwar als Gegenüberstellung von Empfindungs- und Liebesfähigkeit einerseits und rationalistisch-analytischem Erkennen andererseits erhalten, der damit assoziierte Aufgabenkatalog wurde aber modifiziert: Das Weib personifizierte jetzt nicht mehr nur die von der feindlichen Welt abgeschlossene Poesie des Familienlebens, sondern soziale Verantwortlichkeit in der von männlicher Realpolitik einseitig geprägten Gesellschaft: »Er [Friedrich Fröbel, H. B.] hat uns darauf aufmerksam gemacht, daß der enge Kreis durchaus nicht der ist, auf dem sich die Frau zu bewegen habe, um ächt weiblich zu bleiben und ihre Bestimmung zu erfüllen, sondern daß sie erst recht ihre Bestimmung als Menschenmutter erfülle, wenn sie sich als Grund des Ganzen fühle, sich des Ganzen annehme und die Förderung des Ganzen auch zu ihrer eigenen mache.«36 Fröbels Erziehungslehre bzw. seine Rezeption durch die Frauenbewegung trug zu dieser Adaption des tradierten Weiblichkeitsbegriffes in doppelter Hinsicht bei. Zum einen ermöglichte seine Auffassung der Frauenrolle in der Erziehung, die ›natürliche‹ Begabung und eine spezifische Frauenbildung gleichermaßen voraussetzte, die Anpassung des Frauenbildungsniveaus an männliche Standards, ohne die Eigenart des ›weiblichen Wesens‹ zu gefährden. Zum anderen verdrängte sein Arbeitsethos weitgehend die bisher mit dem Begriff ›Weiblichkeit‹ assoziierten Attribute der Passivität durch die stärkere Betonung des Aspekts des Dienens und der Pflichterfüllung. U m die Beschränkung der Frau auf den häuslichen Bereich aufzuheben, wurden die Bereiche der Gesellschaft und der Familie enger verknüpft; die Mittlerfunktion übernahm dabei der Begriff ›Volk‹, der die mit der Familie verbundenen emotionalen und moralischen Qualitäten in den zweckrational organisierten Bereich des außerhäuslichen Lebens übertrug: »Und wie die sittliche Kraft der Frau gerade den Schwerpunkt für das sittliche Gedeihen der Familie bildet, so muß die Frau fortschreitend in menschlicher Erkenntnis ihre Bestimmung auch für die Volksfamilie erfüllen.«37 Wie in der privaten Familie wurde die Frau auch in der »Volksfamilie« zur Personifikation dieser emotionalen Qualitäten, symbolisiert in der Mütterlichkeit. Als ›geistige Mütterlichkeit‹ war diese Qualität nicht mehr an die biologische Mutterschaft gebunden oder auf eine bestimmte Lebensphase beschränkt; sie verband instinkthaftes ›angeborenes‹ Verhalten mit erworbenem Wissen und hielt die Definition der Frau durch ihre familiale Rolle aufrecht, ohne ihre Funktion auf die Institution der Familie einzuengen: »Die Vergeistigung des Naturberufs der Frau führt nicht nur zu bewußter Erfassung der Pflichten in dem Familienleben, sondern zu der Erkenntnis, daß es der Kulturberuf der Frau sei, das ›Mutterherz‹ für unsere Volkszustände zu erwecken und auch hier das instinktive passive Thun zu einem bewußten und zu gleicher Bedeutung wie das männliche zu erheben.«38

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Vor allem aber lieferte das neue Konzept der Frauenbewegung eine Rechtfertigungsideologie, die die Interessenkonflikte sowohl der Frauen untereinander wie auch zwischen Feminismus und bürgerlich-patriarchalischer Gesellschaft aufhob. ›Geistige Mütterlichkeit‹ konstituierte eine durchgehende ›Kulturaufgabe‹ des weiblichen Geschlechts in allen gesellschaftlichen Subsystemen, die die sich auseinanderentwickelnden Lebenskonzepte von verheirateten und unverheirateten Frauen des Bürgertums wieder auf einen gemeinsamen ideologischen Nenner brachte: »Und in diesem Sinne ist auch Fröbel . . . Derjenige, der die neuen Bahnen unserem Geschlechte anwies und zwar nicht blos einzelnen begabten, bevorzugten - auch nicht blos der Jungfrau oder der Frau, sondern jeder von uns, dem ganzen Geschlecht.«39 Gleichzeitig entschärfte der jetzt auf »Muttersorge im öffentlichen Leben« reduzierte Forderungskatalog der Frauenbewegung die Bedrohung männlicher Machtmonopole durch den Feminismus, der damit seinen Anspruch auf Partizipation an allen gesellschaftlichen Bereichen und politischen Entscheidungsinstanzen aufgegeben hatte. Die Argumente ihrer konservativen Gegner konnten die Fröbelianerinnen durch die Synthese von Elementen des tradierten Frauenleitbildes mit den neuen ökonomischen und sozialen Erfordernissen entkräften. Nicht nur das Problem weiblicher Erwerbstätigkeit konnte durch soziale und pädagogische Berufe in Übereinstimmung mit der familialen Definition der Frau gelöst werden; 40 der Frauenbewegung wurde auch eine direkte politische Funktion zur Stabilisierung von Staat und Gesellschaft zugewiesen. Entsprechend formulierte Henriette Goldschmidt nach der Reichseinigung von 1871: »Welch' große Bedeutung die rechte Verwerthung der weiblichen Arbeitskraft für die Culturaufgabe unseres Volkes in Friedenszeiten hätte . . . Unsere Zeit krankt an socialen Wunden und Schäden. Das ist auch ein Kriegszustand, der mit anderen Helden als mit Soldaten bekämpft werden muß. Hier gilt es eine unausgesetzte stetige Arbeit gegen Roheit, Unwissenheit und Verbitterung bei den Armen, gegen Beschränktheit. Dünkel und Hochmuth bei den Reichen - hier müßte auch in Reih und Glied gearbeitet werden nach dem Muster unserer trefflichen Heereseinrichtung . . . so sei die deutsche Frau jedes Standes und Ranges bereit in Reih und Glied zu stehen mit den Töchtern des Volkes und kämpfen mögen sie gemeinsam gegen die Schroffheit, die Verkennung und Verbitterung, gegen alle Leidenschaften, die der böse Partheigeist so leicht in den Gemüthern der Männer erzeugt.«41 Diese Aufforderung übernahm nicht nur militärische Terminologie und trug so in Form und Inhalt dem siegesbewußten Nationalgefühl im neuen Kaiserreich Rechnung; sie zeigte auch, daß sich Motive und Zielgruppe des sozialen Engagements in der Frauenbewegung völlig verändert hatten. Es ging nicht um Solidarität mit den »ärmeren Schwestern« oder darum, durch Hilfe für unterprivilegierte Frauen die Lage des weiblichen Geschlechts insgesamt zu heben und die »Fortschrittspartei des 5. Standes« zu stärken.

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Noch nicht einmal mehr vom Kampf gegen Elend und Armut war die Rede, sondern nur vom Eintreten gegen deren politische Folgen. Die Frauenbewegung ordnete ihre Sozialarbeit willig den Interessen der bürgerlich-männlichen Gesellschaft unter. Diese Kooperationsbereitschaft schloß ebenso wie das von ›geistiger Mütterlichkeit‹ bestimmte Selbstverständnis einen offensiven Konfrontationskurs gegen die Männergesellschaft zur Durchsetzung von Frauenrechten selbstverständlich aus. Revolutionäre Veränderungen wurden als undeutsch und unweiblich abgelehnt. Statt dessen wurden die Waffen der Frau wieder entdeckt: »Die sanfte Bitte, der anmuth'ge Zweig in Frauenhand ist gewaltiger als Schwert und Waffen.«42 Der Begriff ›Selbsthilfe‹ durchzog zwar noch die programmatischen Erklärungen der 1870er Jahre, wurde aber allmählich zur Leerformel. Er proklamierte nicht mehr den feministischen Anspruch auf weibliche Autonomie, sondern diente lediglich als beruhigende Versicherung, daß die Frauenbewegung nichts von der Gesellschaft fordern wollte, das sie nicht zuvor durch freiwillige Übernahme von Pflichten verdient hätte. Die gleiche Wandlung durchlief auch das eng mit dem Anspruch auf Selbstbestimmung verknüpfte Arbeitsethos der Feministinnen. Der Begriff ›Arbeit‹ verlor seine emanzipatorische Dimension, da das Postulat freier Wahl der Tätigkeit und innerer Befriedigung aufgegeben wurde. Einziges Kriterium in den Konzepten der Frauenbewegung zur weiblichen Berufstätigkeit wurde die Orientierung am mütterlichen Wesen der Frauen, dem Qualifizierung und gesellschaftliche Anerkennung untergeordnet wurden. Statt der inhaltlichen Verknüpfung von Arbeit und Freiheit bestimmten jetzt Topoi wie »Erziehung durch Arbeit zur Arbeit«, Pflichttreue und Opferfreudigkeit die Auslassungen über Frauenarbeit.43 Selbst die Forderung nach Bezahlung galt nicht mehr als selbstverständliches Äquivalent der Leistung, sondern mußte durch wirtschaftliche Not gerechtfertigt werden. Diese Neuinterpretation des Selbstverständnisses der Frauenbewegung durch die Fröbelianerinnen entsprach zum einem ihrem Legitimationsbedürfnis in einer Gesellschaft, die sich zunehmend nach konservativen Normen richtete und die liberalen Rechte des Individuums den Interessen von Staat und Gesellschaft unterordnete. Zum anderen besaß sie vermutlich für eine sehr viel größere Gruppe von Frauen Integrationskraft: Unter der zentralen Forderung »Recht auf Arbeit« hatte sich der ADF 1865 vorwiegend als Selbstorganisation von Betroffenen, d. h. unverheirateten, auf eigenen Verdienst angewiesenen Frauen, konstituiert. Der sehr viel breiteren Schicht von Frauen, die entweder verheiratet waren oder doch mit einer zukünftigen Lebensperspektive als Ehefrau rechneten, hatte das Gründungsprogramm nicht nur wenig geboten, sondern es hatte durch die Aufwertung der bezahlten außerhäuslichen Arbeit die Hausfrauenrolle und damit das Selbstwertgefühl dieser Frauen sogar in Frage gestellt. Das vom Geschlechterdualismus ausgehende Konzept der Fröbelanhängerinnen stellte die Mut-

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terrolle als Naturberuf und Kulturaufgabe der Frau nicht nur auf die gleiche Ebene wie die gesellschaftlichen Leistungen der Männer, sondern ordnete das Weibliche in der Antithese von Leben und Geist über dem Männlichen an, bot dadurch psychische Kompensation und ermöglichte ein neues Selbstbewußtsein für alle Frauen, ohne doch ihre Unterprivilegierung zu verändern. Die Konkurrenz beider Spielarten des Feminismus, des Egalitarismus und des Geschlechterdualismus, in der Frühphase der bürgerlichen Frauenbewegung entwickelt, blieb konstitutiv für ihre gesamte weitere Geschichte bis ins 20. Jahrhundert, wobei eine säuberliche Scheidung der Fraktionen häufig nicht möglich ist. Sie offenbarte ein grundsätzliches Dilemma der Frauenemanzipation innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft: Das radikale Postulat auf Gleichberechtigung und Aufhebung des ungleichen Geschlechterverhältnisses einerseits erschien nicht nur wegen des männlichen Widerstandes als aussichtslos und mit der realen Lebenssituation der meisten Frauen nicht vereinbar; die Berufung auf die weibliche Eigenart andererseits führte zwangsläufig zum Verzicht auf die Revision des weiblichen Lebensentwurfs und auf volle Partizipation an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen und Machtinstanzen. Anmerkungen 1 J . H(irsch), Was ist Arbeit, in: Neue Bahnen, 1. Jg., 1866, Nr. 3, S. 9. 2 Verläßliche Angaben über die Mitgliederzahl des ADF und seine alters- und schichtenspezifische Zusammensetzung sind nicht zu ermitteln; detaillierte Informationen liegen nur für eine schmale Funktionärinnenschicht von ca. 60 Frauen vor, deren soziale Herkunft, Geburtsjahr, Familienstand und Beruf bekannt sind. Unter diesen Exponentinnen der frühen Frauenbewegung lassen sich zwei Gruppen unterscheiden: zum einen eine Anzahl älterer Frauen (zwischen 1805 und 1825 geboren), die als Schriftstellerinnen oder Journalistinnen lange vor ihrem Eintritt in den ADF oder Lette-Verein einer breiteren Öffentlichkeit bekannt waren und sich im Vormärz bzw. in der Revolution von 1848/49 politisch engagiert hatten; zum anderen eine etwa doppelt so große Gruppe berufstätiger Frauen um die Dreißig, deren Engagement in der Frauenbewegung wohl weniger von ihrem politischen Bewußtsein als von ihrer persönlichen Betroffenheit motiviert war. Die soziale Herkunft beider Gruppen ist ziemlich homogen; von wenigen Ausnahmen abgesehen werden als Väter Akademiker oder wohlhabende Kaufleute angegeben. Ein erheblicher Prozentsatz dieser Frauen war ledig, verwitwet oder geschieden (vgl. H. U . Bussemer, Frauenfrage, Frauenbewegung und Frauenberufstätigkeit in Deutschland 1865-1875, Diss. FU Berlin 1982, S. 496-506). 3 L. Otto, Das Recht der Frauen auf Erwerb. Blicke auf das Frauenleben der Gegenwart, Hamburg 1866, S. 57. 4 L. Otto, Frauenleben im Deutschen Reich. Erinnerungen aus der Vergangenheit mit Hinweis auf Gegenwart und Zukunft, Leipzig 1876, S. 254. 5 Vgl. zur Geschichte der frühen Frauenbewegung H. U . Bussemer, Frauenemanzipation und Bildungsbürgertum. Sozialgeschichte der Frauenbewegung in der Reichsgründungszeit, Weinheim 1985. 6 M. Kühler, Selbsthülfe. Erster Artikel, in: Neue Bahnen, 6. Jg., 1871, Nr. 4, S. 25-28, hier S. 27 (Hervorhebung im Original).

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7 J . Hirsch, Rezension zu Hermann Klencke: Das Weib als Gattin, Leipzig 1872, in: Der Frauen-Anwalt, 4. Jg., 1873/74, S. 71. 8 J . Engell-Günther, Die Lösung der sozialen Frage durch die Frauen, Berlin 1871, S. 30f. 9 E. Oelsner, Das Wesen echter Weiblichkeit, in: Der Frauenanwalt, 6. Jg., 1875/76, S. 59-64, hier S. 61. 10 Otto, Recht, S. 53ff. 11 Vgl. ebd., S. 36. 12 Vgl. Otto, Einige deutsche Gesetzesparagraphen, Leipzig 1876. 13 J . Kühne, Offenes Wort an Frau Minna Pinoff gegen ungerechtfertigte Angriffe des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, Stettin 1870, S. 8. 14 M. Ohnesorg-Buchholz, Kann die Gattin und Mutter unbeschadet ihrer nächsten Pflichten erwerben?, in: Der Frauen-Anwalt, 1. Jg., 1870/71, Nr. 4, S. 129-133; s. a. dies., in: Politische Frauenzeitung, Nr. 29, v. 7. 8. 1870, S.359f.; vgl. ferner: J . Kühne, Die Frauenvereine der Gegenwart und die sittliche Berechtigung der Frauenfrage, Berlin 1872, S. 18f.; M . L (ammers), Deutsche Frauen früher und jetzt, in: Nordwest, 2. Jg., Nr. 13, v. 17. 8. 1879, S. 101; P. Gräfin v. Nostiz, Das Recht der Frauen auf bürgerliche Gleichstellung mit dem männlichen Geschlecht, Berlin 1874; Otto, Recht, S. 142ff. 15 J . Engelt-Günther, Materialismus und Idealismus in der Frauenfrage II. Was ist freie Arbeit?, in: Neue Bahnen, 6. Jg., 1871, Nr. 9, S. 65. 16 Vgl. z. B. Otto, Recht, S. 15f., S. 61 f. 17 Vgl. z. B. Engell-Günther, Lösung, S. 179ff. 18 E. Reich, Studien über Frauen, Jena 1875, zit. nach: Der Frauen-Anwalt, 6. Jg., 1875/76, S. 28. 19 P. v. Nathusius, Zur ›Frauenfrage‹, Halle 1871, S. 20. 20 A. Kühne, Giebt es ein Mittel, die Lage der unversorgten Mädchen und Wittwen in den Mittelständen zu verbessern? Eine sozialpädagogische Frage, Berlin 1859, S. 6. 21 Vgl. B. Greven-Aschoff, Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland 1894-1933, Göttingen 1981, S. 45ff. 22 O. Fiebig, Programm der Lehranstalt für erwachsene Töchter zur Ausbildung für das praktische Leben im kaufmännischen und gewerblichen Geschäftsbetriebe zu Leipzig, zit. in: Vierteljahresschrift für höhere Töchterschulen, 2. Jg., 1868, S. 51. 23 G. Eberty, Rezension zu Jules Simenon: L'Ouvriere, in: Der Arbeiterfreund, 2. Jg., 1865, S. 336. 24 F. v. D., Die Frauenbewegung in Deutschland, in: Die Gartenlaube, 19. Jg., 1871, S. 819. 25 A. Emminghaus, Fachschulen für Frauen, in: Die Grenzboten, 28. Jg., 2. Bd., 1869, S. 214. 26 J . S. Mill, Die Hörigkeit der Frau. Übers. u. Vorw. v. J . Hirsch, Berlin 1869, 1873 2 . 27 So z. B. der Rezensent der Vossischen Zeitung v. 28. 8. 1869. 28 G. Schönberg, Die sogenannte Frauenfrage oder Die Frau in der Geschichte der deutschen Wirtschaft, in: Schlesische Zeitung, Nr. 131 v. 18.3. 1868 u. Nr. 133 v. 19.3. 1868, hier Nr. 133. 29 Ebd., Nr. 133. 30 Vgl. z. B. H. Grothe, Die Frau und die Arbeit, in: Der Arbeiterfreund, 5. Jg., 1867, S. 3 3 8 f ; ›Zur Frauenfrage in Deutschland‹, in: Magazin für die Literatur des Auslands, 38. Jg., Nr. 44 v. 30. 10. 1869, S. 637f.; G. Schönberg, Die Frauenfrage. Vortrag gehalten in Basel am 15. 2. 1870, Basel 1872, S.19f. 31 Schönberg, Schlesische Zeitung, Nr. 133. 32 Monatsschrift für Mädchenschulen, 7. Jg., 1873, S. 291. 33 A. L (ammers), Frauenvereinstags-Eindrücke, in: Nordwest, 3. Jg., Nr. 43 v. 24. 10. 1880, S. 364. 34 O. Fiebig an Adolf Lette, zit. in: L. Hauff, Der Lette-Verein in der Geschichte der Frauenbewegung, Berlin 1928, S. 73. 35 Der Begriff ›geistige Mütterlichkeit‹ wurde zuerst von Henriette Schrader-Breymann geprägt (vgl. dies., Zur Frauenfrage, in: E. Hoffmann, Henriette Schrader-Breymann, Wein-

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heim 1962 2 (zuerst Wolfenbüttel 1865), S. 11). 36 L. Morgenstern, in: Stenographischer Bericht über die erste ordentliche Generalversammlung des 1869 gegründeten Verbandes Deutscher Frauen-Erwerbs- und Bildungs-Vereine gehalten in Darmstadt am 10. und 11. October 1872, Darmstadt 1872, S. 24. 37 H. Goldschmidt, Die Frau im Zusammenhang mit dem Volks- und Staatsleben. Vortrag gehalten am 3. März 1871 zu Cassel, Leipzig 1871, S. 2f. 38 Goldschmidt, Ideen über weibliche Erziehung im Zusammenhang mit dem System Friedrich Fröbels, Leipzig 1872, zit. nach F. Magnus von Hausen, Ziel und Weg der deutschen Frauenbewegung im 19. Jahrhundert, in: Deutscher Staat und deutsche Parteien. Friedrich Meinecke zum 60. Geburtstag, Berlin 1922, S. 223. 39 Goldschmidt, Der Kindergarten in seiner Bedeutung für die Erziehung des weiblichen Geschlechts. Vortrag, Leipzig 1872, S. 15. 40 Vgl. ebd., S. 14f. 41 Goldschmidt, Volks- und Staatsleben, S. 27 f. 42 Goldschmidt, Vortrag bei der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins in Braunschweig 1868, Leipzig o. J . , S. 30. 43 Vgl. z. B. Schrader-Breymann, Frauenfrage, S. 13f.

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JÜRGEN KOCKA

Einige Ergebnisse

1. Der Beitrag der bürgerlichen Frauen zur Konstituierung des Bürgertums als einer sozialen Formation mit gewisser innerer Kohäsion und einer wenn auch unscharfen Abgrenzung gegenüber anderen sozialen Gruppen, mit spezifischen Erfahrungen und spezifischen kulturellen Formen war groß und nahm zu. Dies folgt m. E. einerseits aus der relativ zum Vater im Laufe des 19. Jahrhunderts an Gewicht gewinnenden Rolle der Mutter bei der Erziehung der Kinder in den Familien, wenn auch das an Breitenwirkung zunehmende, primär von Männern gesteuerte öffentliche Schulwesen diesen Trend etwas relativiert haben dürfte. Andererseits ist auf die von E. Hobsbawm aufgezeigte »Kulturalisierung« eines Teils der innerbürgerlichen Beziehungen und auf die wachsende Rolle von Frauen auf diesem für die Herausbildung des Bürgertums zweifellos wichtigen Gebiet des Kunstbetriebs, der Geschmacksdefinition, der symbolischen Interaktionen und gleichzeitigen Abgrenzungen hinzuweisen. M. Kaplans Ergebnisse unterstützen diesen Befund. Sie zeigen, wie sehr bürgerliche Frauen an nichtarbeitsplatzbezogenen und nicht im engeren Sinn politischen, zugleich aber außerhäuslichen, kulturellen Aktivitäten maßgeblich beteiligt waren, die einzelne Fraktionen des Bürgertums (Wirtschaftsbürgertum, Bildungsbürgertum) in Verbindung brachten, wenngleich die innerbürgerliche Demarkationslinie zwischen Juden und Nicht-Juden gerade auf kulturellem Gebiet bemerkenswert ausgeprägt blieb. Wieweit diese kulturellen Tätigkeiten und Beziehungen gleichzeitig zur Abgrenzung gegenüber nicht- und unterbürgerlichen Schichten und Klassen beitrugen, konnte nicht ausreichend diskutiert werden. Gab es auf gemeinsamem Geschlecht basierende Loyalitäten, die Schicht- und Klassengrenzen aufzulockern und punktuell zu überwinden geeignet waren? Dies erscheint mir unwahrscheinlich. Doch berichtete U. Bussemer über Ansätze der frühen, noch radikalen bürgerlichen Frauenbewegung, die Interessen der handarbeitenden Schwestern in die eigenen Bemühungen einzubeziehen. Allerdings gewinnt man den Eindruck, daß dieser Versuch einer klassenübergreifenden weiblichen Solidarität nicht viel Erfolg hatte, sondern am tiefen, sich damals noch verschärfenden Klassengegensatz scheiterte. Die durch und durch standesgemäßen Ideale und Orientierungen der bürgerlichen Frauen seit den 1870er Jahren weisen in diese Richtung.

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2. Die Befunde der Konferenz über die soziale, politische, rechtliche Ungleichheit zwischen Bürgerinnen und Bürgern ließen an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Sie war so ausgeprägt, daß man sich wundert, warum nicht früher und stärker dagegen protestiert wurde. Die Mechanismen und Legitimationsmuster, die verhinderten, daß diese Ungleichheit stärker und früher als Ungerechtigkeit definiert und bekämpft wurde, sind mindestens ebenso interessant wie die Ungleichheit selber. Woher nahmen die Familie, die Kirchen, das Schulwesen, Ideologie und Kultur die Kraft und die Macht, die Umsetzung von sozialer Ungleichheit in soziale Proteste im Fall des Geschlechterverhältnisses zu verhindern oder doch sehr klein zu halten, während doch gleichzeitig eine andere Furche sozialer Ungleichheit, nämlich die zwischen den Klassen, zur Front härtester Proteste und Verteidigungen wurde? Oder muß man die Heftigkeits- und Wirksamkeitsdifferenz von Arbeiter- und Frauenbewegung eher mit der Artikulations- und Organisationsschwäche der Frauen (im Vergleich zum Proletariat) erklären? Die Konferenz hat ein weiteres Mal deutlich gemacht, daß sich die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen im Laufe des 19. Jahrhunderts teilweise verschärfte. Vergleicht man das Allgemeine Landrecht des Königreichs Preußen von 1794 mit dem BGB von 1900, dann sieht man, daß die Mann-Frau-Abgrenzung an Deutlichkeit gewann und die Minderberechtigung der Frauen zunahm, vielleicht als defensive, von Männern dominierte Reaktion auf reale Egalisierungsansprüche der Frauen, wie D. Blasius andeutete. In den Familien gewann die Rollendifferenz an Prägnanz, wie Y. Schütze ausführte. Diskutiert wurde, daß dies mit gesamtgesellschaftlichen Veränderungen zusammenhing, ζ. Β. mit der stärkeren Absorption der erwerbstätigen Männer in eine ihre Ansprüche steigernde, in sich zunehmend spezialisierte Arbeitswelt, die zunehmend von Haus und Familie abgetrennt war. Und politisch muß die Rechtlosigkeit der Frauen in dem Maß an Ausprägung und Erfahrbarkeit gewonnen haben, in dem Demokratisierungsprozesse abliefen, die die Rechte und Teilnahmechancen des männlichen Teils der Bevölkerung beispiellos ausweiteten. Man denke an das allgemeine gleiche Männerwahlrecht zum Reichstag von 1871. Andererseits verschärfte sich die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern nicht in jeder Hinsicht, und nicht jede schärfere Ausprägung von Ungleichheit bedeutete einen Verlust für die Frauen. Die Zunahme der Bildung der bürgerlichen Frauen und schließlich ihr massenhaftes Eindringen in das allmählich zur Öffnung gezwungene, allgemeine Bildungssystem sind Bestandteile einer bemerkenswerten Erfolgsgeschichte mit langfristig umstürzenden Wirkungen. Die Ausdifferenzierung der Vater- und Mutterrollen in den bürgerlichen Familien implizierte innerfamiliale Bedeutungszunahme und Einflußgewinn für Frauen. Wurden nicht die Männer an den Rand der Familien gedrängt - wenn auch unter Beibehaltung (und Verstärkung) ihres Außenvertretungsmonopols und ihres Patriarchalismus der letzten Instanz auch im Innern? Und zweifellos war es für eine Minderheit

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bürgerlicher Frauen ein großer Zugewinn an Selbstverwirklichungschancen, Bedeutung und Einfluß, als sie verstärkt in die Welt der Kultur eindrangen, während deren Stellenwert im Gesamthaushalt bürgerlicher Lebensäußerungen zunahm (wie Hobsbawm zeigte). Ich sehe diese Veränderungen des 19. Jahrhunderts als Vorbereitung von Emanzipationsschüben des 20. Jahrhunderts. Aber auch kurzfristig dürften jene Veränderungen in der Frauenbildung, in der kulturellen Partizipation und möglicherweise sogar neue, selbstbewußt machende Erfahrungen in den, öffentlich aufgewerteten, Familien dazu beigetragen haben, daß schließlich das Novum einer vor allem bürgerlichen Frauenbewegung entstand, so schwer sie es hatte, so zahm sie bald wurde und so wenig man ihr die Bildungs- und Kulturemanzipation der bürgerlichen Frauen im 19. Jahrhundert kausal wird zurechnen können. Sicherlich wurde dieser Start einer Frauenbewegung auch durch die allgemeine Verbürgerlichung von Ansprüchen und Erwartungen, durch das Vorbild von Emanzipation auf anderen Gebieten gefördert, die zur Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft gehörten. Die sehr wichtigen Anstöße, die der expandierende Arbeitsmarkt lieferte, blieben auf der Tagung am Rande, zusammen mit der Ökonomie überhaupt. Blickt man auf die Geschichte der bürgerlichen Frauen im 19. Jahrhundert insgesamt, dann verbietet es sich, sie primär als Verlustgeschichte zu interpretieren - ganz im Gegenteil. 3. Umstritten blieb, ob die Emanzipation der Frauen als Konsequenz in zentralen Grundprinzipien der bürgerlichen Gesellschaft angelegt ist, oder ob nicht eher eine volle Emanzipation der Frauen zum Einsturz von Grundpfeilern der bürgerlichen Gesellschaft fuhren würde und deshalb innerhalb bürgerlicher Gesellschaften letztlich nicht realisierbar ist. Für die zuerst genannte Sichtweise spricht, daß zwei Grundbestandteile bürgerlicher Gesellschaften, die Dynamik des Marktes und die der Bildung, an Geschlechtergrenzen nicht Halt machen. Der universelle Charakter bürgerlicher Freiheits- und Mündigkeitsforderungen tendiert letztlich auf Erosion aller angeborenen Vorsprünge, seien es solche des Standes, der Rasse oder des Geschlechts. Andererseits ist klar, daß die Widerstände gegen die gleichen Rechte und Chancen der Frauen nicht im gleichen Maße dahinschwanden wie sich Grundprinzipien der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert durchsetzten. Es gab sogar Gegentendenzen, die mit der Ausgrenzung der bürgerlichen Frauen aus dem zunehmend ausdifferenzierten Erwerbsbereich und aus der abnehmend exklusiven politischen Sphäre wie mit der Bindung der Frauen an den immer anspruchsvolleren Bereich von Familie und Haus zusammenhingen. Selbst auf der programmatischen Ebene verteidigten liberale Theoretiker die soziale, politische und rechtliche Ungleichheit der Geschlechter, wie U. Frevert zeigte, auch wenn sie sich damit in Widersprüche verwickelten. Die frühe Frauenbewegung scheint auf mindestens so schroffen Widerstand gestoßen zu sein wie die frühe Arbeiterbewegung. Schien diese das Eigentum zu bedrohen, 208 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35739-3

so jene die Familie, und das mag in den Augen der Verteidiger die größere Erschütterung gewesen sein. Systematisch gesprochen, resultierten Barrieren und Widerstand gegen die Gleichstellung aus zwei Grundprinzipien, die in der Tat bürgerlichen Gesellschaften inhärent waren (und sind): aus ihrer zunehmenden Ausdifferenzierung und Spezialisierung (zugleich Bedingung ihrer Leistungskraft) einerseits und andererseits aus der großen Bedeutung, die sie der Familie als Ort der Reproduktion und Selbstverwirklichung beimessen. Denn einerseits nahmen mit der Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Bereiche (etwa Erwerbsleben, Familie, Politik) und ihrer internen Spezialisierung (Zunahme von Lebenszeitberufen, Qualifikationssteigerungen, Professionalisierung) die Anforderungen zu, die die Individuen auf kontinuierliche, spezialisierte Tätigkeiten festlegten und somit auch die Rollendifferenzen zwischen Erwerbstätigen und Erziehenden, zwischen außerhäuslicher und häuslicher Arbeit, zwischen Produktion und Reproduktion, zwischen Männern und Frauen schärfer durchzogen und verfestigten. Andererseits ist ja unübersehbar, daß die Familie auch in bürgerlichen Gesellschaften als hauptsächliche Instanz zur Sicherung ökonomischer, sozialer und kultureller Kontinuität über die Generationen hinweg fungiert und gerade in bürgerlichen Gesellschaften - anders als früher - zugleich als Sphäre der Kompensation für die in Erwerbsleben und Öffentlichkeit erlittenen Einbußen und Verzichte hervorgehoben ist. Jedenfalls im 19. Jahrhundert ließ sich dieser Widerspruch zwischen gegenläufigen Grundprinzipien bürgerlicher Gesellschaft - also zwischen ihrem universalisierenden Versprechen allgemeiner Freiheit, Mündigkeit und Chancengleichheit einerseits, den Imperativen von leistungssteigernder Ausdifferenzierung und Familie andererseits - nicht auflösen. Neben uralten, tief eingeschliffenen, nur allmählich an Kraft verlierenden Traditionen trug dieser Widerspruch dazu bei, daß im 19. Jahrhundert die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern fortbestand, verschärft und-zunehmend in Frage gestellt wurde. Denn dieser Widerspruch trat ins Bewußtsein und wurde zum Stachel, der allmählich und vor allem viel später im 20. Jahrhundert - auf einer viel fortgeschritteneren Stufe des menschlichen Stoffwechsels mit der Natur - zu umwälzenden Veränderungen im Geschlechterverhältnis geführt hat und weiterhin führt. Zwar ist dadurch die Wirklichkeit mit den aufklärerisch-bürgerlichen Zielen eines Theodor Gottlieb von Hippel von 1792 noch immer nicht zur Deckung gebracht worden, aber sie wurde ihnen ähnlicher als je zuvor.

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U T E GERHARD

Andere Ergebnisse

Bislang, so zeigen die vorstehenden Beiträge, sind mindestens zwei Geschichten über die bürgerliche Gesellschaft zu erzählen, eine aus männlicher und eine aus weiblicher Perspektive. Und selbst wenn wir bei beiden Vorhaben, was sich eigentlich von selber versteht, immer das andere Geschlecht miteinbeziehen, d. h. Geschlechtergeschichte treiben, ist vorerst nicht zu leugnen, daß die Frauengeschichte wegen eines großen Nachholfbedarfs noch keineswegs abzuhaken ist, ja, daß im Blick auf eine wirklich allgemeine Gesellschaftsgeschichte die bisherige Männergeschichte gründlicher Revisionen und Differenzierungen bedarf Denn spätestens seit der »Dissoziation der Geschlechtscharaktere« (Karin Hausen) am Ende des 18. Jahrhunderts und zwar nicht nur als ideologisches Programm, sondern als gesellschaftliche Realität - gibt es eine zweigeteilte Welt und mindestens zwei Weltansichten, sind die Bewertungen und Normen für Männer und Frauen in dieser bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr dieselben. Deshalb ist weder wissenschaftlich objektiv noch ohne Parteilichkeit festzustellen, welches Geschlecht denn nun die größeren Verluste oder vielleicht die größeren Erfolge aufzuweisen hat. Die Beiträge im vorliegenden Band belegen dies auf vielfältige und verblüffende Weise. So etwa, wenn Marion Kaplan anschaulich beschreibt, wie selbstverständlich die Freizeit, die nach aller Berufsarbeit wohlverdiente Muße der Männer, für Frauen Arbeit bedeutete, produktiv war nicht nur im Sinne gesellschaftlicher Reproduktion der Gattung Mensch sowie der Familienmitglieder, sondern im Hinblick auf Konsum, Bildung und Unterhaltung erst eine Kultur ermöglichte, die ihre Bürgerlichkeit ausmachte. Solche Bewertung aber versteckt sich bisher in einer Verkehrung der Vorzeichen: Die Hausarbeit der bürgerlichen Frauen trug die »Maske des Vergnügens«. Ihre Leistung und ihr Erfolg bestanden darin, den Eindruck zu vermitteln, daß sie keine Arbeit verrichteten. Auf der anderen Seite führt der von Yvonne Schütze vorgenommene Perspektivenwechsel von der Berufs- auf die Vaterrolle des Mannes eindrucksvoll vor Augen, wie nachhaltig die berufliche Karriere der bürgerlichen Familienväter mit ihrer ›Randständigkeit‹ in der Familie erkauft wurde, einer Marginalisierung, die - so die Autorin - länger anhielt, im Grunde bis heute, als der Ausschluß der Frauen aus der Sphäre bürgerlicher Öffentlich-

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keit. Zu fragen ist aber, ob die unterschiedlichen Karrieren von Männern und Frauen im öffentlichen oder privaten Bereich jeweils gegeneinander aufzurechnen sind, ob bereits der verzögerte und vereinzelte ›Einbruch‹ bürgerlicher Frauen in die ›öffentliche Sphäre‹ um die Jahrhundertwende als besonderer Erfolg zu werten ist, an dem Männer als Väter und Ehegatten »maßgeblich« - versteht sich - beteiligt waren (Eric Hobsbawn). Μ. Ε. sind diese ersten Schritte der Wiedergutmachung doch allenfalls als Aufstand und Ausgang der weiblichen Menschen aus einer Unmündigkeit zu verstehen, zu der die »zur Öffentlichkeit versammelten (männlichen) Privatleute« sie verdammten. »Das weibliche Geschlecht kam um die Menschenrechte ohne seine Schuld«, hatte Th. G. v. Hippel beteuert Einsichten, die sich unter dem als Wissenschaft akzeptierten Postulat der Wertfreiheit offensichtlich nur schwer nachvollziehen lassen. Sowie aber die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft auch und explizit als Frauengeschichte thematisiert wird, ist der Widerspruch zwischen dem Emanzipationsversprechen der Freiheit und Gleichheit aller Menschen und der insbesondere mit Hilfe des bürgerlichen Rechts sanktionierten Ungleichheit der Frauen nicht mehr nur als Schönheitsfehler oder ›Nebenwiderspruch‹ zu behandeln. Dieser Widerspruch ließ sich, wie die Geschichte des 19. Jahrhunderts zeigt, auch nur bedingt und vorübergehend im privaten Bereich als »Socialpolitik der Familie« (W. H. Riehl) einfrieren. Er brach immer wieder auf und gerät auch aus der Rückschau zum Dreh- und Angelpunkt gesellschaftlicher und historischer Analyse. Den Theoretikern und Politikern der bürgerlichen Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert zumindest war die große Bedeutung der richtigen ›Ordnung‹ der ›Geschlechtsverhältnisse‹ sehr wohl bewußt. Man lese nach z. B. bei C. Welcker, bei J . J . Rousseau oder J . G. Fichte und vielen anderen ›Meisterdenkern‹ und Interessenvertretern ihres Geschlechts. Anders ist ihr Aufwand an Begründungen und Rechtfertigungen nicht zu erklären. Aus diesem Grund aber kommt eine historische Frauenforschung nicht umhin, sich immer wieder mit großer Hartnäckigkeit an ihnen abzuarbeiten, ihre ungebrochene Androzentrik und defizitäre Menschlichkeit zu entlarven. Insbesondere die »ungereimten Chimären« (M. Wollstonecraft) Rousseaus, des großen Wegbereiters revolutionärer Gleichheit, haben Frauen nun seit fast 200Jahren zum Widerspruch, zur Gegenrede herausgefordert, weil er die für die Staatstheorie und Pädagogik folgenreiche Anweisung gab, wie die Unterwerfung der Frauen und die Gewalt in den Geschlechterbeziehungen als Recht, als Liebe gar, zu legitimieren seien (Isabel Hull). Nicht weniger grundsätzlich ist eine Kritik, die selbst für die verständige und gegenseitige Geschlechterphilosophie der Romantik bei Friedrich Schlegel etwa zu dem Ergebnis kommt, Sinn und Aufgabe der besonderen Liebesfähigkeit der Frauen habe darin bestanden, die Bedingungen zu schaffen, unter denen Männer sich zu Menschen weiterbildeten (Ute Frevert). Es mag verwundern und befremden, daß dieser Ter-

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rain wissenschaftlicher Kritik bisher so großzügig dem weiblichen Geschlecht überlassen blieb. Die gründliche und konkrete historische Analyse beschreibt interessante Differenzierungen im zeitlichen Verlauf, Ungleichzeitigkeiten und vor allem eine Verschärfung der Widersprüche. Ist am Beginn des 19. Jahrhunderts noch nicht eindeutig auszumachen, ob der Patriarchalismus der Hausbzw. Familienväter lediglich als ständischer Überhang, als aufgeklärt-wohlwollende Fürsorge zu interpretieren ist, die in einer Zeit des Umbruchs, der Verunsicherung wenigstens im Schonraum der Familie, jenseits von Rationalisierung und Konkurrenz Stützen und Halterungen suchten, verfestigten sich die Muster und Zuweisungen der Ungleichheit im Laufe des Jahrhunderts. Sie wurden institutionalisiert, ζ. Β. im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 als Recht gesetzt, und verwickelten sich zunehmend in ökonomische Widersprüche, als »der Kapitalismus unerbittlich weiter und gründlicher mit dem Hammer philosophierte« (C. Zetkin). In der Folge sah sich die bürgerliche Gesellschaft zunehmend, nicht zuletzt dank einer sozialen Bewegung der Frauen, zu Zugeständnissen gezwungen, die von den Nutznießern der alten Ordnung als Destabilisierung, Bedrohung oder Verfall zumindest der Familie empfunden und perhorresziert wurde. Oder zeigt sich ganz im Gegenteil in solcher Anpassungsfähigkeit die spezifische Dynamik einer Gesellschaft, die noch keineswegs an ihrem Ende angekommen ist? Unter den Tagungsteilnehmern wie in den Diskussionen der Forschungsgruppe spitzte sich die Frage zu auf zwei gegensätzliche Erklärungsversuche: Entweder ist die Geschlechterdifferenz - und das heißt zugleich die Unterordnung und Ungleichheit der Frauen - begründet in der bürgerlichen Familie, Rahmenbedingung oder unentbehrliche Unterlage und damit konstitutiv für die bürgerliche Gesellschaft, oder aber es vollendet sich erst in der Gleichstellung auch der Frauen der allzu lange versteckte Sinn, das eigentliche, aber verhinderte Ziel bürgerlicher Emanzipation, weshalb alle bisherige Bürgerlichkeit nur erst als ihre Vorgeschichte zu deuten wäre? Die Antwort ist abhängig von einer Positionsbestimmung der Gegenwart, kann also nicht nur eine historische sein, und ist zugleich ein Beleg für die Aktualität des historischen Projekts »Bürgertum, Bürgerlichkeit, Bürgerliche Gesellschaft«. Zu entscheiden oder bewerten ist, ob wir die gegenwärtige Gesellschaft noch immer als bürgerliche, allenfalls spätbürgerliche oder doch als nachbürgerliche, postindustrielle, postmoderne definieren, oder anders gefragt, inwieweit wir davon ausgehen müssen, daß »die Prämissen der Aufklärung tot sind, nur ihre Konsequenzen weiterlaufen« (A. Gehlen). Aus feministischer Perspektive sei abschließend eine Antwort gewagt. Die frühe und erste Frauenbewegung in Deutschland bezeichnete sich als bürgerliche in dem emphatischen, bejahenden Sinn notwendiger Beteiligung der Frauen an dem Projekt ›bürgerliche Gesellschaft‹. Die Achtundvierzigerinnen wie auch die Initiatorinnen der organisierten Frauenbewe-

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gung nach 1865 knüpften bewußt und explizit an die Reklamation der Menschenrechte auch für Frauen an. Und noch die linken Bürgerlichen, die sog. ›Radikalen‹ in der alten Frauenbewegung um die Jahrhundertwende, begründeten ihre ›Bürgerlichkeit‹ mit der Forderung nach Einlösung jener Prinzipien der Vernunft, der Freiheit und Gleichheit und allgemeiner Gesetze auch für Frauen, die Staatsbürgertum und bürgerliche Kultur, eben eine humane Gesellschaft, ermöglichen sollten. Doch sie verstanden die notwendige Partizipation der Frauen nicht nur als Erweiterung, sondern schon als Radikalisierung eines Entwurfs, der eine andere als die bestehende Gesellschaft meinte. Anders die Gemäßigten oder Konservativen, die Mehrheit im Bund Deutscher Frauenvereine: Sie waren wie ihre bürgerlichen Zeit- und Klassengenossen zu sehr mit der Verteidigung bürgerlicher Errungenschaften mach unten‹ beschäftigt, fürchteten, »die Menschenrechte (könnten) unter's Fußvolk geraten« (H. Lange), und richteten sich gerade auch für die besondere Kulturaufgabe der Frauen auf eine klassenspezifische Unterscheidung ein. Die neue Frauenbewegung der 1970er Jahre betrachtete sich von Anbeginn als unbürgerlich, weil sie zunächst, ohne das Erbe ihrer Vorgängerinnen zu kennen oder anzutreten, ebenso wie die studentische Linke ›bürgerlich‹ polemisch als Klassenbegriff verstand, als eine soziologische Zuordnung, die in jedem Fall abzulehnen war. Aber auch grundsätzlicher als ihre Vorgängerinnen haben die neuen Feministinnen die bürgerliche Familie als Institution und Lebensform mit all ihren Befestigungen der Ungleichheit, insbesondere der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, in Frage gestellt und zu verändern gesucht. Mit welchem Erfolg, ist abschließend noch nicht festzustellen, wird schließlich auch von einer Verständigung zwischen Männern und Frauen im Sinne eines endlich allgemeingültigen Gesellschaftsvertrages abhängen. In ihrem Beitrag über die bürgerliche Frauenbewegung zwischen 1860 und 1880 beschreibt Herrad Ulrike Bussemer »das grundsätzliche Dilemma der Frauenemanzipation innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft«, das darin besteht, aufgerieben zu werden zwischen der Forderung nach »Egalität«, »Gleichberechtigung« einerseits und Bewahrung der weiblichen Eigenart andererseits. In der Tat kennzeichnet die Unvereinbarkeit dieser beiden gegensätzlichen Emanzipationsstrategien die reale Geschichte der Frauenbewegung in dieser Gesellschaft. Dennoch genügt es m. E. nicht, die Potentiale und Ziele der Frauenbewegung allein von ihrer Erfolgs- oder Mißerfolgsgeschichte her zu beurteilen, weil damit die Analyse in geschlechtsspezifischen Polarisierungen und falschen Alternativen dieser Gesellschaft befangen bleibt, die zu kritisieren und überwinden der Ansatzpunkt aller Emanzipationsbemühungen war. Das angebliche Dilemma zwischen Egalität, Gleichheit und der Bewahrung der Eigenart und Besonderung von Frauen ist eine von den Herrschenden aufgezwungene, falsche Alternative. Es ist historisch belegt, daß beide Strategien, jede für sich, in eine Sackgasse

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fuhren. Dabei wird Gleichheit, Egalität außerdem vorschnell als Anpassung denunziert, weil Gleichheit überhaupt nur vorstellbar zu sein scheint als Angleichung an die Mannesstellung. Weibliche Besonderheiten aber verkommen zu einer Kontrasttugend und versprechen Emanzipation da, wo ihr bisher die sichersten Fesseln angelegt wurden, in Hingabe, Opferbereitschaft oder einer Liebe, die als Unterwerfungsakt, nicht als gegenseitige, gleiche inszeniert war. »Die Männlichkeit und die Weiblichkeit, so wie sie gewöhnlich genommen und getrieben werden, sind die gefährlichsten Hindernisse der Menschlichkeit.« Diese Kritik Friedrich Schlegels an polaren Rollenzwängen leuchtet auch heute noch ein. Denn eine Gleichheit, deren Maß nicht die Männlichkeit, sondern Menschlichkeit ist, eine Freiheit, die in der Freiheit des anderen nicht notwendig eine Schranke, sondern eher eine Erweiterung erfährt, eine Gesellschaft, deren Ordnung zwischen Männern und Frauen vereinbart wird, ist als Utopie einer besseren und gerechteren Gesellschaft auch für Frauen noch längst nicht verbraucht.

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Die Autorinnen und Autoren Dirk Blasius, geb. 1941, lehrt Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität GHS Essen. Wichtigste Veröffentlichungen: Bürgerliche Gesellschaft und Kriminalität. Zur Sozialgeschichte Preußens im Vormärz, Göttingen 1976; Der verwaltete Wahnsinn. Eine Sozialgeschichte des Irrenhauses, Frankfurt 1980; Ehescheidung in Deutschland 1794-1945, Göttingen 1987. Herrad Ulrike Bussemer, geb. 1950» arbeitet als Historikerin am Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in Berlin. Ihre Dissertation erschien unter dem Titel: Frauenemanzipation und Bildungsbürgertum. Sozialgeschichte der Frauenbewegung in der Reichsgründungszeit, Weinheim 1985. Ute Frevert, geb. 1954, arbeitet als Historikerin am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. Wichtigste Veröffentlichungen: Krankheit als politisches Problem 1770-1880. Soziale Unterschichten in Preußen zwischen medizinischer Polizei und staatlicher Sozialversicherung, Göttingen 1984; FrauenGeschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt 1986. Ute Gerhard, geb. 1939, lehrt Soziologie mit dem Schwerpunkt Frauenarbeit/Frauenbewegung an der Universität Frankfurt. 1978 erschien ihre Dissertation: Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit, Familie und Rechte der Frauen im 19. Jh., Frankfurt, als frauengeschichtliche Pionierarbeit in der Bundesrepublik. Seitdem veröffentlichte sie zahlreiche Aufsätze v. a. zur Rechtsgeschichte von Frauen. Karin Hausen, geb. 1938, lehrt Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Technischen Universität Berlin. Veröffentlichungen zur Kolonial- und Technikgeschichte, seit 1976 wichtige Aufsätze zur Frauengeschichte. Herausgeberin von: Frauen suchen ihre Geschichte. Historische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, München 1983. Eric J. Hobsbawm, geb. 1917, lehrte Geschichte und Soziologie am Birkbeck College der University of London. Wichtige Veröffentlichungen zur englischen Arbeiterund Sozialgeschichte sowie zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft in Europa, v. a.: Industrie und Empire, 2 Bde., Frankfurt 1969; Europäische Revolutionen von 1789 bis 1848, Zürich 1962; Die Blütezeit des Kapitals. Eine Kulturgeschichte der Jahre 1848-1875, München 1977. Isabel V. Hull, geb. 1949, lehrt deutsche Geschichte an der Cornell University, U S A . Wichtigste Veröffentlichung: The Entourage of Kaiser Wilhelm II. 1880-1918, Cambridge 1982. Neuere Forschungen zur Geschichte der Sexualität im 17., 18. u. 19. Jahrhundert.

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Marion Kaplan, geb. 1946, lehrt Geschichte am Queens College, New York. Veröffentlichungen: Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland 1904-1938, Hamburg 1981, sowie zahlreiche Aufsätze zur jüdisch-deutschen Familiengeschichte. Mitherausgeberin von: When Biology Became Destiny. Women in Weimar and Nazi Germany, New York 1984. Jürgen Kocka, geb. 1941, lehrt Sozialgeschichte an der Universität Bielefeld. Wichtige Monographien, Aufsätze und Herausgebertätigkeiten im Bereich der Angestellten-, Unternehmer-, Arbeiter- und Bürgertumsforschung, u. a. Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847-1914, Stuttgart 1969; Klassengesellschaft im Krieg 1914-1918, Göttingen 21978; Lohnarbeit und Klassenbildung 1800-1875, Berlin 1983; (Hg.) Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jh., Göttingen 1987. Hugh McLeod, geb. 1944, lehrt Religionsgeschichte an der University of Birmingham, England. Veröffentlichungen: Religion and the People of Western Europe 1789-1970, Oxford 1981; Religion and the Working Class in Nineteenth Century Britain, Basingstoke 1984. Yvonne Schütze, geb. 1940, arbeitet als Soziologin am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Wichtigste Veröffentlichungen: Die gute Mutter. Zur Geschichte des normativen Musters »Mutterliebe«, Bielefeld 1986, sowie Aufsätze zur Sozialisationsforschung.

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