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German Pages 350 [352] Year 2012
Bodies in Action and Symbolic Forms
BAND IX
ACTUS et I MAGO Berliner Schriften für Bildaktforschung und Verkörperungsphilosophie Herausgegeben von Horst Bredekamp und Jürgen Trabant Schriftleitung: Marion Lauschke
Bodies in Action and Symbolic Forms Zwei Seiten der Verkörperungstheorie Herausgegeben von Horst Bredekamp, Marion Lauschke und Alex Arteaga
Akademie Verlag
Einbandgestaltung unter Verwendung von Francesco Colonna, „Hypnerotomachia Poliphili“, 1499 (Vorderseite) und Lucas Cranach d. Ä.: Predella des Cranachaltars, Stadtkirche St. Marien, Wittenberg, Foto: Philipp Stoellger.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2012 Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. MitarbeiterInnen dieses Bandes: Mark-Oliver Casper, Inga Nevermann-Ballandis, Johanna Schiffler Reihengestaltung: Petra Florath, Berlin Druck und Bindung: DZA Druckerei zu Altenburg GmbH, Altenburg Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-05-006140-5
In ha ltsverzeic h n is
Einleitung IX Horst Bredekamp Horizonte von „Bildakt und Verkörperung“ / Horizons of Picture Act and Embodiment XXV Marion Lauschke Bodies in Action and Symbolic Forms. Zwei Seiten der Verkörperungstheorie / Bodies in Action and Symbolic Forms. Two Sides of Embodiment Theorie
I. Sy mb ol kör p er 3 Birgit Recki Symbolische Formung als „Verkörperung“? Ernst Cassirers Versuch einer Überwindung des Leib-Seele-Dualismus 15 Christian Möckel Das Zusammenspiel von Körper, Gefühl und Symbolleistungen bei Ernst Cassirer 29 Mats Rosengren Making Sense – Cassirer, Castoriadis and the Embodied Production of Meaning 37 Frederik Stjernfelt Peirce and Cassirer – The Kroisian Connection. Vistas and Open Issues in John Krois’ Philosophical Semiotics
47 Helmut Pape Der Körper der Symbole. Die Materialität der Zeichen in der Semiotik des C. S. Peirce 65 Volker Gerhardt Die öffentliche Form des Geistes 85 Wolfram Hogrebe Kontrollierte Entkörperung. Von Boston nach Marburg
I I. Bi ld kör p er 99 Maria Luisa Catoni From Motion to Emotion. An Ancient Greek Iconography between Literal and Symbolic Interpretations 121 Dirk Westerkamp Das tragische Bild. Patristische Anfänge und ikonische Prägnanz des Schmerzenskindes 143 Philipp Stoellger Theologie der Verkörperung. Die Bildlichkeit des Körpers und Körperlichkeit des Bildes als theologisches Problem 173 Oswald Schwemmer Der Sinn der Sinnlichkeit 185 Barbara Naumann Körpergesten zwischen Bild und Schrift. Victor Hugos Zeichnungen und Tuschen 199 Michael Diers „Jeder Griff muß sitzen“. Künstlerische Begriffsbildung im Handumdrehen bei Joseph Beuys 219 Norbert Meuter Ästhetische Autonomie. Einige Gedanken über Kunst und Moral
I I I. Kör p er 239 John M. Kennedy What Is an Outline Picture in Vision and Touch? Blind and Paleolithic Artists 253 Peter Gärdenfors Bodily Forces, Actions, and the Semantics of Verbs 273 Shaun Gallagher Why the Body Is not in the Brain 289 Hinderk Emrich Intra- und interpersonales Selbst. Resonanzen im Gehirn 297 André L. Blum Die Biologie der Verkörperungen: auch ein Bildakt
309 Bildnachweise
Horst Bredekamp
H OR I Z O N T E VO N BI L DA K T U N D V E R KÖR P E RU N G
Die vorliegende Publikation enthält die Beiträge des gemeinsam von der KollegForschergruppe Bildakt und Verkörperung und dem Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin veranstalteten Symposiums Bodies in Ac tion and Symbolic Forms. Zwei Seiten der Verkörperungstheorie. Es fand im November 2011 zum ehrenden Andenken an John Michael Krois statt. Die starken Bindungen, die Krois in der ganzen Welt, und insbesondere in Skandinavien bewirkt hat, hätten auch ein viertägiges Symposium erlaubt. Krois hat, wen er getroffen hat, in seiner bisweilen fast scheuen Zurückhaltung berührt. Hierdurch hat er Schichten angesprochen, die durch Repräsentanten von Institutionen, Schulbildungen, Einflusssphären und anderen Druckformationen niemals erreicht werden können. Ohne auf seine Umgebung Pressionen auszuüben, hat er auf eine Weise Wirkung entfaltet, wie sie der akademischen Welt als ein Beispiel dienen kann. Die von Krois ausgehenden Perspektiven ergeben von der Symboltheorie bis zur Robotik ein wohl einzigartig komplexes Bild der möglichen Bewährungsfelder der Philosophie. Ich vermag aus meiner Sicht nur einen Ausschnitt vom Horizont seiner Ziele anzusprechen. Als wir uns 1991 erstmals als Fellows am Wissenschaftskolleg zu Berlin näher begegnet sind, haben wir mit der Hamburger Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (KBW) als Ort einer einzigartigen Zusammenarbeit von Kunstgeschichte und Philosophie sehr bald unser gemeinsames Interesse identifiziert. Aby Warburg, Erwin Panofsky und Ernst Cassirer haben diese Kooperation in besonderer Weise verkörpert. Die Grenzen zwischen beiden Fächern waren nicht nur durch die gemeinsam entwickelten Fragestellungen porös geworden, sondern sie waren auch in den Biografien so gut wie aufgehoben. Gertrud Bing, Assistentin von Warburg und spätere Direktorin des Warburg Instituts in London, hat in Philosophie mit einer Arbeit über Lessing und Leibniz bei Ernst Cassirer promoviert, um dann als Kunsthistorikerin zu arbei-
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ten, während Edgar Wind im Gegenzug in Kunstgeschichte promoviert hat, um sich ebenfalls bei Cassirer in Philosophie zu habilitieren.1 Allen Genannten ging es um eine Neuformulierung der Ausdruckskunde als eines Gesamtereignisses, in dem Mimik und Körperbewegung dem Begrifflichen nicht etwa entgegengestellt, sondern als dessen Bedingung mitreflektiert wird. Im Begriff der Pathosformel hat diese Grundüberzeugung ihre bis heute wohl markanteste Formulierung gefunden.2 Krois war insbesondere von Winds Habilitation beeindruckt. Es war nicht nur der Umstand, dass Wind in dieser Arbeit den Begriff der Verkörperung systematisch geprägt und verwendet hat; er war es auch, der Charles Sanders Peirce im deutschen Sprachraum als Erster bekannt gemacht hat.3 Im Jahr 1996 haben Krois und ich gemeinsam mit Bernd Buschendorf und Freia Hartung ein Symposium über Edgar Wind veranstaltet,4 und nach diesen Erfahrungen haben wir eine Reihe von Seminaren und auch Vorlesungen gemeinsam durchgeführt. Die Hörer, dies wird mir bisweilen noch heute berichtet, haben die teils in Wechselform gehaltenen Vorlesungen als eine Grunderfahrung wahrgenommen, dass sich Probleme um Disziplinen nicht kümmern. Wir haben uns während dieser Veranstaltungen mehrfach scherzhaft darüber gestritten, welches der von uns vertretenen Fächer das größere sei. Ich nannte natürlich die Philosophie, Krois aber die Kunstgeschichte, weil deren Methode permanent auf das Konkrete und die Ausnahme zurückführe. Aus dieser überkreuzten Wertschätzung ist die Kolleg-Forschergruppe Bildakt und Ver körperung entstanden. In einer Zeit, über die kaum Angemessenes gesagt werden kann, wenn nicht die aktive Kraft von Bildern in allen Bereichen der Zivilisation, von der Ökonomie über das Militär und die Naturwissenschaften bis in die Kommunikations- und Vergnügungsformen reflektiert wird, schien es uns als ein Gebot der Stunde, mit Hilfe der drei Kategorien Substitution, Leben und Form zunächst eine Theorie des Bildakts zu entwickeln. Unter diesem Titel habe ich den Versuch einer ersten Einlösung vorgelegt, der im besten Wortsinn mit dem pluralis majestatis des „Wir“ verbunden werden kann; jedes Mitglied der Gruppe hat den Text gelesen, kritisiert, ange1 2
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Edgar Wind: Das Experiment und die Metaphysik, Tübingen 1934. Reprint, hg. v. Bernhard Buschendorf, Frankfurt/M. 2001. John M. Krois: Die Universalität der Pathosformeln. Der Leib als Symbolmedium, in: ders., Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, hg. v. Horst Bredekamp/Marion Lauschke, Berlin 2011 (Actus et Imago 2), S. 76–91. John M. Krois: Einleitung in: Edgar Wind. Heilige Furcht und andere Schriften zum Verhältnis von Kunst und Philosophie, Hamburg 2009, S. 20 f., 23, wieder abgedruckt in: Krois: Bildkörper und Körperschema (wie Anm. 2). Horst Bredekamp/Bernhard Buschendorf/Freia Hartung/John M. Krois (Hg.): Edgar Wind. Kunsthistoriker und Philosoph, Berlin 1998.
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regt und erweitert, und dies gilt in besonderer Weise für John Krois, dem ich das fertige Buch noch zu Lebzeiten widmen konnte.5 Es hat eisige Ablehnung und euphorische Zustimmung erfahren. Die zweite Reaktion war eine schöne Überraschung, während die erste der Erwartung entsprach. Dem gemeinsam formulierten Ziel, in der Gestalt eine eigentätig wirkende Kraft zu erkennen, war lange vor Erscheinen der Vorwurf des Animismus einprogrammiert worden. Ich habe es gemeinsam mit John Krois, der neben Leibniz und Warburg auch Peirce als einen „Vordenker“ der Bildakttheorie angesehen hat,6 jedoch als ein Gebot intellektueller Entschiedenheit verstanden, ein virulentes Problem der Phänomenologie, das unsere Kultur zutiefst betrifft, ohne Rücksicht auf die zu erwartenden Vorwürfe zu formulieren. Für den zweiten Teil, die Philosophie der Verkörperung, hat Krois die entscheidenden Anregungen gegeben; diese liegen jetzt in den Händen aller Mitglieder der Kolleg-Forschergruppe. Bereits vor seiner Erkrankung haben wir entschieden, dass wir dem Anspruch der KBW nicht nahekommen könnten, wenn nicht die Sprache als ein Teil der Verkörperungsproblematik aufgenommen werden würde. Wir waren mit dem Sprachforscher Jürgen Trabant über dessen Forschungen zu Vico, Humboldt und Peirce lange verbunden. Es war ein großartiger Schritt, als Trabant nach dem Tod von Krois einwilligte, die Kolleg-Forschergruppe mit mir gemeinsam zu leiten. Als Gesamtziel steht die Reformulierung der Metaphysik in einer Zeit im Raum, die von eigenwilligen Artefakten als Momenten des extended mind erfüllt ist. Dies ist ehrgeizig, aber da der Ort in seiner Zusammensetzung und seiner institutionellen Freiheit ohne Parallele ist, muss etwas Eigenes in einem Prozess erwartet werden, der auch andernorts vehement betrieben wird.7 Wir haben uns zunächst mit Publikationen zurückgehalten, um vom herrschenden Grundton der Geschwätzigkeit nicht erfasst zu werden. Nun aber kommt es dazu, als habe Gaia ihre Kronos-Kinder bis zum Platzen im Bauch gehabt, um diese nun in einem Sturzbach auf die Welt zu lassen. In unserer Reihe Actus et Imago, deren Titel noch von Krois und mir stammt, werden wir bald eine zweistellige Zahl erreicht haben.8 5 6 7 8
Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010. John M. Krois: Eine Tatsache und zehn Thesen zu Peirce’ Bildern, in: Franz Engel/ Moritz Queisner/Tullio Viola (Hg.): Das bildnerische Denken. Charles S. Peirce, Berlin 2012 (Actus et Imago 5), S. 53–64, 63 f. Markus Gabriel (Hg.): Skeptizismus und Metaphysik, Berlin 2012. Actus et Imago. Berliner Schriften für Bildaktforschung und Verkörperungsphilosophie, Berlin seit 2011. Die Akten des Eingangssymposiums machen den Auftakt (Horst Bredekamp/John M. Krois (Hg.): Sehen und Handeln, Berlin 2011), gemeinsam mit einem Band gesammelter Aufsätze von Krois (John M. Krois: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen,
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Bei dem Emblem der Kolleg-Forschergruppe Bildakt und Verkörperung handelt es sich um einen historischen Holzschnitt (Bild 1). Inmitten des Schlangenringes, der den Ouroboros der sich selbst auffressenden und damit zugleich erneuernden Drachenschlange der Zeit symbolisiert, zeigt sich das Attribut des ägyptischen Sonnengottes Serapis: der Kopf eines Löwen, zu dessen Seiten ein Hundekopf und der Schädel eines Wolfes herauswachsen. In Gestalt der drei Tierköpfe zerfällt die Zeit in den Wolf, der das gierige Gedächtnis der Vergangenheit verkörpert, den Löwen, der als Tier der Gegenwart und der Tat den größten Kopf aufweist, und schließlich den Hund, der in die Zukunft weist, weil er sich dem Menschen einzuschmeicheln versteht. Die Darstellung entstammt einem der kostbarsten Bücher der Buchgeschichte, der 1499 bei Manuzio in Venedig erschienenen Hypnerotomachia Poliphili (Bild 2).9 Dieses Buch handelt von der zunächst unerfüllten Sehnsucht des Liebhabers Poliphil zu seiner angebeteten Polia, deren Sträuben nach hunderten von Seiten schließlich in einer rituellen Defloration auf der Venusinsel Kythera aufgegeben wird. Was diesen Liebesroman so einzigartig macht, ist die elegische Projektion des gesamten antiken Wissens in die Person der Geliebten. Die Landschaften, die Ruinen, die Grabmäler und Tempel, sie alle sind bildhafte Substitute eines weiblichen Körpers, der sich entzieht, aus der Distanz aber eine immer größere Attraktivität gewinnt und damit als verkörpertes Symbol der Antike auftritt. Die Sprache trägt diesem spannungsvollen Verlangen als kostbares sprachliches Gemisch aus Griechisch, Lateinisch und Italienisch Rech-
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hg. v. Horst Bredekamp/Marion Lauschke, Berlin 2011). Es folgen die Untersuchung zum Titelkupfer und zur Zeichenlehre von Giambattista Vico (Thomas Gilbhard: Vicos Denkbild. Studien zur Dipintura der Scienza Nuova und der Lehre vom Ingenium, Berlin 2012) sowie eine kunsthistorische Arbeit, in der die bildaktive Kraft einer an der Antike orientierten Renaissance des 11. Jahrhunderts in Nordspanien rekonstruiert wird (Stefan Trinks: Antike und Avantgarde. Skulptur am Jakobsweg im 11. Jahrhundert, Berlin 2012). Als fünfter Band erscheinen die von der Peirce-Arbeitsgruppe der Kolleg-Forschergruppe herausgegebenen Akten der Tagung zu Charles Sanders Peirce (Franz Engel/Moritz Queisner/Tullio Viola (Hg.): Das bildnerische Denken: Charles S. Peirce, Berlin 2012) darauf folgt ein Sammelband zum Konzept der „Verkörperungen“, an dem Krois noch beteiligt war (André L. Blum/John M. Krois/Hans-Jörg Rheinberger (Hg.): Verkörperungen, Berlin 2012). Eine zweite, von Pablo Schneider herausgegebene Reihe bringt kommentierte Reprints aus dem Warburg-Umkreis heraus (Fritz Saxl: Gebärde, Form, Ausdruck, hg. u. vorgest. v. Pablo Schneider, Zürich 2012), und schließlich sind unabhängige Publikationen zu nennen (Edgar Wind: Heilige Furcht und andere Schriften zum Verhältnis von Kunst und Philosophie, hg. v. John M. Krois, Hamburg/Leipzig 2009; ders.: Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand. Ein Beitrag zur Methodologie der Kunstgeschichte, hg. v. Pablo Schneider, Hamburg 2011). Francesco Colonna: Hypnerotomachia Poliphili (1499), hg. v. Giovanni Pozzi/Lucia A. Ciapponi, 2 Bde., Padua 1980.
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Bild 1
Emblem der Kolleg-Forschergruppe Bildakt und Verkörperung.
Bild 2
Titelseite der Hypnerotomachia Poliphili, Venedig 1499.
nung. Wenn jemals Sprache dem Verkörperungsgedanken gefolgt ist, so ist es die Hypnerotomachia Poliphili. Krois und mir schien es wie eine Fügung, dass diese Publikation übersät ist mit komplexen antiken Emblemen, in denen sich eine Literatur, die von der ersten bis zur letzten Seite von der Philosophie der Verkörperung handelt, visualisiert. Wir haben gemeinsam mit der Gestalterin Petra Florath entschieden, jedes Buch unserer Serie Actus et Imago mit einem der Embleme zu versehen. So zeigt eines dieser hieroglyphischen Sinnbilder in Form von Ameisen, welche Elefanten fressen, ein Traumbild aus der ägyptischen Mythologie (Bild 3). Es wacht über der ersten Publikation: dem von John Krois und mir veranstalteten ersten Symposium Sehen und Handeln.10 Das Prinzip der Gestaltung unserer Reihe sieht vor, mit dem Hochformat und der eleganten Gestaltung ein Höchstmaß ästhetischer Feinheit für die Vorderseite zu reservieren, während die Rückseite als Kontrast die Überraschung des anspringenden Bildes bereithält. Im Falle des Bandes mit Schriften von John Krois ist es eines der von ihm besonders geschätzten Schlitzbilder Fontanas, das den Betrachter von der Rückseite her konfrontiert (Bild 4). Für Krois waren die Schnitte Fontanas in ihrer Freilegung der Leinwand als Haut das embodiment der Verkörperungsphilosophie. 10
Horst Bredekamp/John M. Krois (Hg.): Sehen und Handeln, Berlin 2011 (Actus et Imago 1).
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Bild 3 Ameisen- und Elefantenhieroglyphe, in: Francesco Colonna: Hypnerotomachia Poliphili, Venedig 1499.
Ein Gemeinsames der in diesem Band versammelten Beiträge liegt darin, dass sie in ihrem Grundzug, den jüngsten Stand der Bildakt- und Verkörperungstheorie aufzunehmen und weiterzutreiben, historische Ableitungen vornehmen. Im ersten, unter dem Begriff Symbolkörper zusammengefassten Abschnitt sind es vor allem Ernst Cassirer und Charles Sanders Peirce, welche die Gewähr für eine Forcierung der gegenwärtigen Diskussion abgeben. Gerade in den unabgegoltenen Problemstellungen, die Birgit Recki in der Philosophie Cassirers ausmacht, wird die weiterwirkende Brisanz seiner Überlegungen deutlich, und dasselbe gilt für den Beitrag von Christian Möckel und Mats Rosengren. Frederik Stjernfelt und Helmut Pape haben diesen Strang in teils engem Kontakt zur Kolleg-Forschergruppe Bildakt und Verkörperung auf die Beziehung zwischen Cassirer und Peirce angewandt. Dass hier in besonderer Weise die vermittelnde Funktion von John Michael Krois eine Rolle spielt, gehört ebenfalls zum Grundzug des vorliegenden Bandes. Die beiden abschließenden Artikel stellen kontroverse Beiträge dar, die sowohl untereinander wie auch gegenüber dem Thema der gesamten Veranstaltung in einem kritischen Dialog standen. Während Volker Gerhardt gerade in der Entkörperlichung die Möglichkeit einer körperbezogenen Argumentation entfaltet, sucht Wolfram Hogrebe zu zeigen, dass im Gegensatz zu konstruktivistischen Positionen der späte Paul Natorp eine radikale Wende vollzogen habe, die nicht nur dem erkennenden Selbst, sondern auch dem medialen Außenraum eine geradezu schwingende Aktivität zuerkannte. Damit wäre er der gegenwärtigen Verklammerung von Bildakt und Verkörperung nahe gekommen. Die unter dem Titel Bildkörper zusammengefassten Beiträge argumentieren historisch aus der Frage nach der Berechtigung der Bilder im europäischen Religions- und Kulturkreis. Maria Luisa Catoni analysiert in der Vasenmalerei verkörperte Schmerzen; Dirk Westerkamp und Philipp Stoellger erörtern
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Bild 4 Lucio Fontana: Concetto spatiale, Attese, 1961, Öl auf Leinwand, 74 × 54 cm, Köln, Museum Ludwig.
ausgehend von der Frage der Darstellbarkeit Christi und des im Bild körpermimetisch nachvollzogenen Leidens, den seit fast 2000 Jahren schwelenden Konflikt um die Darstellbarkeit des Göttlichen. Es war dieser Konflikt, dessen bildimmanente Lösungsformen der europäischen Kultur einen Bilderreichtum ohnegleichen vermittelt haben. Oswald Schwemmer begründet das bildsinnliche Ornament der Buchmalerei als einen gleichsam divinalen Akt. Barbara Naumann zeigt in ihrer Analyse der Kritzel- und Tuschtechnik von Viktor Hugo die Insistenz, mit der dieser Stoff in der Moderne auch und gerade bis in die tiefste Zufallsschicht persönlicher Gestaltungen gedrungen ist. Michael Diers entwickelt durch die Rekonstruktion der Handaktivitäten von Joseph Beuys erneut das für alle Beiträge geltende Grundmuster, dass wohl keine Interpretation den Werken gerecht wird, die nicht von einer Wechselbestimmung von Bildkörper und Körperbild und kompensatorisch sich bedingenden Aktionsfor-
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men ausgeht, und Norbert Meuter entwickelt an den Problemen der Form, des Wie des Wahrgenommenen, die Parallele von moralischer und ästhetischer Autonomie. Der mit Körper titulierte Abschnitt zeigt mit John M. Kennedys Analyse der Bildproduktion von Blinden, inwieweit die Schemata des Körpers zu einer Grundbestimmung der menschlichen Gestaltung gehören; Peter Gärdenfors untersucht den Zusammenhang von Körper, Aktion und bildaktiven Sprechakten, Shaun Gallagher entwickelt die Körper- und Umweltbedingtheit der neuronalen Tätigkeiten, Hinderk Emrich entfaltet eine innen und außen verbindende Schwingungstheorie des Gehirns, und André L. Blum verfolgt die geistgebundene Tätigkeit des Körpers bis in die bildaktiv erregten Körperzellen des Unterleibs. Gedacht als eine Veranstaltung zu Ehren des im Jahr zuvor verstorbenen Forschers und Freundes Krois, zeugen alle Beiträge davon, das Andenken als Ansporn für eine Neudefinition der Philosophie des Geistes zu nehmen, die sich vom Zerebralzentrismus der herrschenden Neurobiologie ebenso absetzt wie von den Nachzüglern eines neokantisch übersteigerten Konstruktivismus. Eine der Stoßrichtungen geht gegen jenen Begriff der Repräsentation, der im Bild die Wiedergabe von außerhalb sich befindenden Kräften und Größen erkennt. Es geht um eine genuin sich entfaltende Präsenz: auch und vor allem der von John M. Krois, die aus der Erinnerung ebenso genährt wird wie aus der eigenwilligen Gegenwart seiner Schriften.
Horst Bredekamp
H OR I Z O NS O F P IC T U R E AC T A N D E M B O D I M E N T
The present publication comprises the collected contributions to the symposium Bodies in Action and Symbolic Forms. Two Sides of Embodiment Theory, jointly organized by the Collegium for the Advanced Study of Picture Act and Embodiment and the Department of Philosophy at Humboldt University of Berlin. The symposium took place in November 2011 in honoring commemoration of John Michael Krois. The strong bonds Krois developed internationally during his lifetime, and especially in Scandinavia, would even have made a four-day symposium possible. In his almost shy diffidence, he touched whomever he encountered. In effect, he was able to reach (social) layers commonly out of range for representatives of institutions, academic education, spheres of influence, and other formations of pressure. Without exercising the least pressure on his environment, he exerted influence in a way that can serve as an example for academia. Krois’ outlook on philosophy reveals a uniquely complex picture of the possible fields of philosophic probation, reaching from symbol theory to robotics. From my perspective, I can only address a small section of the broad scope of his aims. Soon after having met in 1991 as fellows of the Institute for Advanced Study in Berlin, we identified the Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg (KBW), a place of unprecedented collaboration between art history and philosophy, as a common vibrant interest. Aby Warburg, Erwin Panofsky, and Ernst Cassirer embodied this cooperation in a remarkable way. The boarders between the disciplines not only became porous due to the collectively developed questions, but were also undermined by these scholars’ biographies. Gertrud Bing, Warburg’s assistant and the later director of the Warburg Institute in London, wrote her dissertation in philosophy, which was advised by Ernst Cassirer, on Lessing and Leibniz only to subsequently work as an art historian, while Edgar Wind received a doctorate in art history and was habilitated
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in philosophy, also by Cassirer.1 All of the above were interested in a reformulation of the theory of expression in the sense of an all-encompassing event in which mimics and body movement are not opposed to the conceptual but are considered as its prerequisite. In the concept of the pathos formula this conviction has to date found its most prominent formulation.2 Krois was especially impressed by Wind’s habilitation. This was not only due to the fact that Wind systematically coined and applied the concept of embodiment in this thesis; but also because he was the first to introduce Charles Sanders Peirce into German-speaking scholarship.3 In 1996 Krois and I organized a symposium on Edgar Wind together with Bernd Buschendorf and Freia Hartung,4 followed by a series of conjointly given seminars and lectures. The students, as I am still told today, experienced the lectures we gave alternately as a fundamental revelation of the fact that problems do not care about disciplines. In the course of these lectures, we repeatedly argued half-jokingly about the question of which of our disciplines could be considered the most comprehensive. I, as an art historian, of course, took sides with philosophy, while Krois argued for art history, since its methods always return to the concrete and the exceptional. It was from this reciprocal esteem that the research group Picture Act and Embodiment was born. In times that cannot fully be grasped but by reflection upon the active force of pictures in all fields of civilization, from economy and military to the sciences, forms of communication, and entertainment, it seemed to us the order of the day to develop, for the first, a theory of picture acts founded on the categories of substitution, life, and form. Under the title Theorie des Bildakts I presented a first attempt to meet this challenge, one that can be related to the pluralis majestatis of the “we” in the best sense of the word; each member of the research group read, criticized, inspired, and enhanced the text, a fact which holds especially true for John Krois, to whom I was able to dedicate the book just before his untimely death.5 It has received frigid rejection as well as euphoric affirmation. The second reaction was 1 2
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Edgar Wind: Das Experiment und die Metaphysik, Tübingen 1934. Reprint, ed. by Bernhard Buschendorf, Frankfurt/M. 2001. John M. Krois: Die Universalität der Pathosformeln. Der Leib als Symbolmedium, in: ibid., Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, ed. by Horst Bredekamp/Marion Lauschke, Berlin 2011 (Actus et Imago 2), pp. 76–91. John M. Krois: Einleitung in: Edgar Wind. Heilige Furcht und andere Schriften zum Verhältnis von Kunst und Philosophie, Hamburg 2009, pp. 20 f., 23, reprinted in: Krois: Bildkörper und Körperschema (as fn. 2). Horst Bredekamp/Bernhard Buschendorf/Freia Hartung/John M. Krois (ed.): Edgar Wind. Kunsthistoriker und Philosoph, Berlin 1998. Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010.
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HORIZONS OF PICTURE ACT AND EMBODIMENT
a welcome surprise while the first met my expectations. The jointly formulated aim of acknowledging an actively engaging force in form was programmed to be accused of animism long in advance of the publication. Together with John Krois, who besides Leibniz and Warburg also recognized Peirce as a “precursor” of the picture act theory,6 I understood it as an intellectual imperative to give voice to a virulent problem of phenomenology that deeply concerns our culture, regardless of the foreseeable rejection. For the second part of the research project, which is dedicated to the philosophy of embodiment, Krois has given the decisive stimuli; they now lie at the disposal of the research group members. Even before his illness commenced, we realized that we would critically fall short of the aims of the KBW if we did not include language as a crucial part of the problematic of embodiment. We had been in close exchange with the linguist Jürgen Trabant on grounds of his related research on Vico, von Humboldt, and Peirce. It was moving news when after Krois’ death Trabant agreed to join me as a supervisor of the research group. The overall goal for the second term is to reformulate metaphysics in a time and space that is filled with willful artifacts as instances of extended mind. This is admittedly ambitious, but since the place is unparalleled in its configuration and institutional freedom, something distinct may be expected to result from a process that is just as vehemently spurred in other places.7 We have refrained from extensive publication, to prevent being caught up in the prevailing misdemeanor of loquaciousness. But now it seems as if Gaia, pregnant with her Kronos-children, were ripe unto bursting, ready to give birth to them in a sudden torrent. Our publication series Actus et Imago, a title Krois and I chose, will soon reach a two-digit number.8 6 7 8
John M. Krois: Eine Tatsache und zehn Thesen zu Peirce’ Bildern, in: Franz Engel/ Moritz Queisner/Tullio Viola (ed.): Das bildnerische Denken. Charles S. Peirce, Berlin 2012 (Actus et Imago 5), pp. 53–64, 63 f. Markus Gabriel (ed.): Skeptizismus und Metaphysik, Berlin 2012. Actus et Imago. Berliner Schriften für Bildaktforschung und Verkörperungsphilosophie, Berlin since 2011. The essays presented at the inaugural symposium are compiled in the first volume (Horst Bredekamp/John M. Krois (ed.): Sehen und Handeln, Berlin 2011), while the second volume is a collection of essays by Krois (John M. Krois: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, ed. by Horst Bredekamp/Marion Lauschke, Berlin 2011). This is followed by an analysis of the frontispiece and the drawing theory of Vico (Thomas Gilbhard: Vicos Denkbild. Studien zur Dipintura der Scienza Nuova und der Lehre vom Ingenium, Berlin 2012) as well as an art historical volume that reconstructs the picture-active force of a renaissance oriented on Antiquity in the 11th century in Spain (Stefan Trinks: Antike und Avantgarde. Skulptur am Jakobsweg im 11. Jahrhundert, Berlin 2012). The fifth volume, edited by the Peirce research group of the Collegium, compiles the papers presented on the occasion of the Charles Sanders Peirce conference (Franz Engel/Moritz Queisner/Tullio Viola (ed.): Das bildnerische Denken: Charles S. Peirce, Berlin 2012) and is followed by an
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The emblem of the Collegium for the Advanced Study of Picture Act and Embodiment shows a historical woodcut (figure 1, p. XIII). A snake-ring representing the Ouroboros, a serpent symbolizing time that devours its tail to renew itself, surrounds the attribute of the Egyptian sun god Serapis: the head of a lion that grows the heads of a dog and a wolf out of its sides. In the guise of the three animal heads, time divides up into the wolf, who embodies the greedy memory of the past, the lion, who as the animal of the present and its deeds displays the largest head, and finally the dog, who points towards the future, as he is the one who knows how to endear himself to man. The figure stems from one of the most precious books ever to be published, the Hypnerotomachia Poliphili, issued in 1499 by the publisher Manuzio in Venice (figure 2 p. XIII).9 This book is about the lover Poliphil’s desire for Polia, whose resistance to his love is finally, after hundreds of pages, broken by a ritual defloration on Cythera, the island of Venus. What makes this romance so unique is Poliphil’s projection of the entirety of antique knowledge onto his beloved. The landscape, the ruins, the monuments, and the temples – they all become visual substitutes for a female body that escapes her admirer, thereby only heightening her attractiveness and becoming an embodied symbol of Antiquity. Language pays tribute to this suspenseful yearning by virtue of combining Greek, Latin, and Italian. If ever language followed the idea of embodiment, it did so in the Hypnerotomachia Poliphili. To Krois and me it came as a welcome coincidence that the publication is strewn with complex antique emblems, in which a literature that deals with philosophy of embodiment from the first to the last page is visualized. Together with the designer Petra Florath we decided to choose one emblem for each volume of our series Actus et Imago. One of these hieroglyphic emblems shows ants eating an elephant – a dream vision from Egyptian mythology (figure 3 p. XIV). It watches over the first publication: the records of the symposium Seh en und Handeln, which Krois and I organized in 2009.10 The design principle of
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anthology on the concept of “embodiment” co-edited by Krois (André L. Blum/ John M. Krois/Hans-Jörg Rheinberger (ed.): Verkörperungen, Berlin 2012). A second series, edited by Pablo Schneider, publishes commented reprints of texts originating from the Warburg-circle (Fritz Saxl: Gebärde, Form, Ausdruck, ed. and commented by Pablo Schneider, Zürich 2012), and finally independent publications must be mentioned (Edgar Wind: Heilige Furcht und andere Schriften zum Verhältnis von Kunst und Philosophie, ed. by John M. Krois, Hamburg/Leipzig 2009; ibid.: Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand. Ein Beitrag zur Methodologie der Kunstgeschichte, ed. by Pablo Schneider, Hamburg 2011). Francesco Colonna: Hypnerotomachia Poliphili (1499), hg. v. Giovanni Pozzi/Lucia A. Ciapponi, 2 Bde., Padua 1980. Horst Bredekamp/John M. Krois (Hg.): Sehen und Handeln, Berlin 2011 (Actus et Imago 1).
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HORIZONS OF PICTURE ACT AND EMBODIMENT
the series, with its upright format and elegant layout, aims to preserve an utmost aesthetic refinement for the cover, while the back holds as a surprise an image that jumps out at the unsuspecting beholder. In the case of John Krois’ writings, one of Lucio Fontana’s slashed canvases, so cherished by Krois, confronts the viewer from the back of the book (fig. 4 p. XV). To Krois, Fontana’s cuts in their revelation of the canvas as a skin represented the embodiment of embodiment theory. The contributions to the present volume are united by their common aim to embrace the current state of embodiment and picture act theory and to take them a step further by means of historic derivations. In the first section titled Symbolkörper (symbol-bodies), the authors turn mostly to Ernst Cassirer and Charles Sanders Peirce as warrants for spurring the current discussion. Precisely the unclarified problems of Cassirer’s philosophy as identified by Birgit Recki reveal the continued relevance of his ideas, and the same holds true for Christian Möckel’s and Mats Rosengren’s contributions. Frederik Stjernfelt and Helmut Pape have applied this strand, in part in close contact to the research group Picture Act and Embodiment, to the relationship between Cassirer and Peirce. John Krois’ key mediatory role for the development of these studies presents a recurrent feature of the present volume. The two last essays are controversial contributions that stand just as much in a critical dialogue with one another as with the general topic of the event itself. While Volker Gerhardt develops the idea of a body-oriented argumentation made possible by disembodiment, Wolfram Hogrebe, in opposition to constructivist positions, tries to show that the late Paul Natorp took a radical turn in postulating a vibrant activity not only for the cognizant self but also the medial environment. With this step he would have drawn close to the current entwinement of picture act and embodiment. The essays compiled in the second section under the title Bildkörper (image-bodies) argue historically, examining questions pertaining to the legitimacy of images in the field of European religion and culture. Maria Luisa Catoni analyzes pain as it is embodied in vase paintings. Taking the question of the presentability of Christ and the representation of his suffering in bodymimetic pictures as a point of departure, Dirk Westercamp and Philipp Stoellger discuss the almost 2000-year-old conflict regarding the possibility of representing the divine. It was this conflict which by means of picture-immanent solutions bestowed an incomparable wealth of images onto the European culture. Oswald Schwemmer identifies the sensuous ornamental images of illuminations as a nearly divinal act. In her analysis of Victor Hugo’s scrawls and ink drawing technique Barbara Naumann shows the insistence with which this material penetrated into the deepest layers of coincidence in, and as a result of, Modernity. By means of a reconstruction of Joseph Beuys’ activities of the
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HORST BREDEKAMP
hand, Michael Diers again develops the thesis that lies at the core of all contributions, namely that an interpretation will never do justice to the works if it does not accept as a given the relationship of reciprocal influence between the image-body and the body-image, as well as compensatorily conditioned actions. Finally, Norbert Meuter develops the parallel between moral and aesthetic autonomy along the lines of problems of form, in other words the how of what is perceived. The last section under the title Körper (body) shows by example of John M. Kennedy’s analysis of the ability of the blind to produce pictures in how far body schemes are a fundamental feature of human depiction; Peter Gärdenfors examines the relation between body, action, and picture active speech acts, Shaun Gallagher develops the bodily and environmental dependence of neuronal activity, Hinderk Emrich presents an oscillation theory of the brain that connects the interior with the exterior, and André L. Blum traces the cognitive activity of the body all the way down to the picture-actively stimulated somatic cells of the abdomen. Conceived as an event in honor of the scholar and dear friend Krois a year after his passing, all contributions take the memorial symposium as an incentive to attempt a redefinition of philosophy of mind in a direction that breaks away from the prevailing cerebrocentrism of neurobiology as well as from the late followers of an exaggerated Neo-Kantian constructivism. One of the challenged notions is the concept of representation in the sense of replicating external objects and forces in the visual field of pictures. Instead, the genuine unfolding of presence is at stake: also, and not least, the one of John M. Krois, nurtured by memory as much as by the idiosyncratic presence of his writings.
Marion Lauschke
B O D I E S I N AC T I O N A N D S Y M B O L IC F OR M S Zwei Seiten der Verkörperungstheorie
I. Für die Kolleg-Forschergruppe Bildakt und Verkörperung war es nach dem Tod von John Michael Krois im Herbst 2010 unklar, ob und wie das ehrgeizige Projekt, dem er sich zusammen mit Horst Bredekamp in den letzten Jahres seines Lebens verschrieben hatte, ohne ihn würde weitergeführt werden können. Angestrebt war die Entwicklung einer Theorie agierender Bilder auf der Basis der Verkörperungsphilosophie des menschlichen Geistes bzw. die Erklärung der Semiose, als die er mit Charles Peirce das Denken verstand, unter Rückgriff auf Modelle der Ikonizität. In der Offenheit und Vielseitigkeit seines Denkens bildete er den Mittelpunkt einer Vielzahl divergierender, oft konkurrierender verkörperungstheoretischer Ansätze, die bislang keine disziplinierende Institutionalisierung erfahren haben. Drängend ist nun die Aufgabe, die Furchen, die John Krois in die philosophische Landschaft gegraben hat, zu verfolgen und zu vertiefen. Ein besonderes Anliegen war uns, all den Personen, mit denen er intellektuelle Leidenschaften teilte, die Gelegenheit zu einem Zusammentreffen zu geben und auf diese Weise sichtbar zu machen, wie weit verzweigt – sowohl geografisch als auch disziplinär – die Wurzeln seiner Verkörperungsphilosophie sind. Aus diesem Grund haben wir für November 2011 die Tagung „Bodies in Action and Symbolic Forms. Zwei Seiten der Verkörperungstheorie“ organisiert, auf welche die Beiträge dieses Bandes zurückgehen. Den Referenzrahmen vieler Beiträge der vorliegenden Publikation bilden Schriften von John Krois, die in dem Band Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheo rie ikonischer Formen (herausgegeben von Horst Bredekamp und Marion Lauschke, Berlin 2011, Actus et Imago 2) zusammengeführt worden sind. Er dokumentiert die Entwicklung der Krois’schen Verkörperungsphilosophie und macht die Topographie der Quellen, aus denen sich sein Denken gespeist hat, sichtbar.
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MARION LAUSCHKE
John Krois ist weltweit als maßgeblicher Cassirer-Forscher und -editor bekannt. In den von großer Sympathie und Dank gekennzeichneten Berichten einiger Cassirer-Forscher, die im März 2011 auf Einladung von Birgit Recki und Christian Möckel in Hamburg zu einer Gedenkkonferenz zusammengekommen waren, wiederholte sich ein Element: Wer irgendetwas über das Leben und Werk Ernst Cassirers herausfinden wollte und in seiner Recherche nicht weiterkam, fragte Krois, der die Antwort kannte und seine Forschungsergebnisse in großer Generosität weitergab. Auch mir war er vor allem als Cassirer-Forscher bekannt, der Ernst Cassirer aus den USA nach Deutschland zurückbrachte und ohne den es die Cassirer-Renaissance in der Form und Intensität, wie sie sich in den letzten 15 Jahren in Deutschland entwickelt hat, nicht gegeben hätte. Blickt man jedoch von heute aus auf seine Publikationen wird rasch deutlich, wie weit er in den Forschungen zu Cassirer durch entschiedene Akzentsetzungen dasjenige Thema vorangetrieben hat, dem er sich in der letzten Zeit vordringlich gewidmet hat: der Verkörperungstheorie, die als „embodied cognition“ im englischsprachigen Raum Konjunktur hat, deren kontinentaleuropäische Quellen aber keinesfalls hinreichend ausgewertet und integriert sind. Neben seiner lebenslangen Beschäftigung mit Cassirer hat John Krois Aufsätze und Editionen zu Peirce, Vico, Wind und Warburg publiziert, in denen er sich mit der semiotischen Transformation der Philosophie, mit Zeichenprozessen als Verkörperungsformen und mit der Notwendigkeit, nicht von der Theorie des Bewusstseins, sondern vom belebten Körper auszugehen, beschäftigt hat. Die Aufsätze der letzten 10 Jahre dokumentieren verstärkt Auseinandersetzungen, in denen die Philosophie sich in die Gemengelage der Emotionen und körperlichen Prozesse und ihrer fundierenden Funktion für das Bewusstsein und bewusstes Handeln begibt, die vornehme Überhebung der am Visus orientierten Distanz aufgibt und durch das „hantierende Abtasten des Objekts“1 ergänzt. Die dualistische Perspektive eines Geistes im „Führerstand“ und eines mehr oder weniger willfährigen Körpers bzw. einer mentalen Software, die auf einer beliebigen Hardware läuft, korrigierte John Krois durch ein intrikates Verhältnis gegenseitiger Beeinflussung von Bewusstsein und Körper im Prozess des aktiven Navigierens in der Welt und der Schaffung symbolischer Formen. In Gesprächen, Vorträgen und Publikationen interpretierte er die Aufzeichnungen von Fahrzeugen, die führerlos, allein durch das Feedback auf ausgesandte Infrarotsignale selbst auf kurvigen Passstraßen sicher navigieren können, als Tastbilder. Anhand von perspektivisch gezeichneten Bildern Blinder, über die John Kennedy arbeitet, belegte er, dass auch Taktilität und nicht allein 1
Aby Warburg: Einleitung (1929), in: Der Bilderatlas Mnemosyne, hg. v. Martin Warnke u. a., Berlin ³2008, S. 3.
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BODIES IN ACTION AND SYMBOLIC FORMS
Visualität die Basis der räumlichen Wahrnehmung ist. Stark beeinflusst hat ihn der Enaktivismus Shaun Gallaghers und dessen Wiederentdeckung des von u. a. Henry Head eingeführten Begriffs des Körperschemas, das er unter Rückgriff auf die kognitive Linguistik Lakoff und Johnsons sowie auf architekturtheoretische Überlegungen von Wölfflin für die Erklärung der somatischen Wirkung von Bildern fruchtbar machte. Trotz – denn es ist in diesem Forschungsumfeld keine Selbstverständlichkeit – seiner Vertrautheit mit den neuesten Forschungen der Kognitionswissenschaft, Neurowissenschaft und Robotik wies John Krois immer wieder auf die Tradition der Verkörperungstheorie, insbesondere auf die Beiträge der Denker im Umfeld der Bibliothek Warburg wie Ernst Cassirer, Aby Warburg selbst und Edgar Wind hin. Es sind die Kombination von Traditionsbewusstsein und radikaler Offenheit sowie sein umfassender Begriff von Verkörperung, der sowohl biologistische als auch kulturalistische Ansätze zu integrieren vermochte, die ihn für eine umfassende Philosophie der Verkörperung unersetzbar machen.
I I. Der Titel der Tagung „Bodies in Action and Symbolic Forms: Zwei Seiten der Verkörperungstheorie“ weist auf die bislang zumeist in getrennten Disziplinen betriebenen Forschungen zur verkörperten Intelligenz in der Robotik, Medizin und den Kognitionswissenschaften zum einen, in der Semiotik, Kulturphilosophie und den Kunst- und Bildwissenschaften zum anderen hin. In diesem Sinne markiert er einen Ausgangspunkt, den es zu überwinden gilt. Für John Krois waren es vor allem der Pragmatismus, die Bildphilosophie und die Emotionstheorie, in denen er Ansätze zur Schließung der Kluft zwischen basaler verkörperter Intelligenz und den höchsten, in Symbolen manifestierten kulturellen Produktionen fand. Immer wieder betonte er die Notwendigkeit, Kultur dynamisch zu verstehen und zurückzugehen zu den Körper- und Zeichenprozessen, in denen sich Bedeutungen formieren. Bedeutung wird für ihn keineswegs ausschließlich in sprachlich verfassten propositionalen Formen, sondern bereits durch die Bildung von Differenzen oder Relationen, Tendenzen oder Richtungen erzeugt. Verbunden ist diese Auffassung von Bedeutung, die auf Jakob von Uexküll zurückgeht, mit der Entstehung von Valenzen, wie sie die Biosemantik untersucht, die nicht auf bewusste Entscheidungen zurückzuführen sind, 2 sondern als Emergenzen zu begreifen sind. Den Zei2
Vgl. John M. Krois: Synesthesia and the Theory of Signs, in: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, hg. v. Horst Bredekamp/Marion Lauschke, Berlin 2011 (Actus et Imago 2), S. 168.
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chenbegriff, den er für die Manifestation solcher Bedeutungen zu Grunde legte, fasste er entsprechend weit: „Zeichenwerte entstehen nicht erst mit der Differenz von Zeichen und Bezeichnetem, sondern in der Verkörperung einer Qualität im Objekt.“3
I I I. Auf der Basis Krois’scher Thesen lässt sich zeigen, dass das Paradigma des verkörperten Geistes über den Begriff des Vagen oder Kontinuierlichen zur annäherungsweisen Ab- und Eingrenzung von (Informations)prozessen mit dem Begriff des Ikonischen unlösbar verbunden ist. Wenn man Cassirer zufolge davon ausgeht, dass das menschliche Bewusstsein als ein Einbruch der Reflexivität in Lebensprozesse zu verstehen ist, der mit der Fähigkeit zur Verwendung von Symbolen einhergeht, muss diese Veränderung nicht als ontologische Differenz, sondern als Funktionswechsel begriffen werden. Hilfreich ist es zudem, wie Leibniz, der einen der Gewährsmänner von John Krois darstellte, von Graden des Bewusstseins und einer Stufenleiter der Erkenntnis auszugehen, auf deren unteren Sprossen verkörperte Wissensformen angesiedelt sind, die unser Denken und Handeln grundieren und lenken, ohne klar und distinkt fassbar zu sein bzw. sein zu müssen. Wenn die Neurowissenschaft heute annimmt, dass es bestimmte neuronale Prozesse gibt, die bewusste Erfahrungen hervorbringen, d. h. eine reflexive Wendung nehmen, andere hingegen nicht, die Ursache aber nicht erklären und somit nur von Korrelationen, nicht von Kausalitäten sprechen kann, ist sie exakt dort, wo auch Leibniz ansetzte. Dieser geht davon aus, dass die „kleinen Perzeptionen“, d. h. sinnliche Wahrnehmungen, welche die Reizschwelle des Bewusstseins nicht überschreiten und sich zur Apperzeption wenden, in ihren Wirkungen aber dennoch manifest werden können, nicht prinzipiell unbewusst sein müssen, sondern möglicherweise durch die Entwicklung des menschlichen Geistes eingeholt werden können. Vielleicht wird es jedoch auch nicht gelingen, Bewusstsein aus naturwissenschaftlichen Prinzipien abzuleiten, und über das Konstatieren einer Korrelation von neuronalen Prozessen und Bewusstseinsphänomenen ist nicht hinauszukommen. Vielleicht muss die Tatsache, dass es Bewusstsein gibt, als „Urphänomen“ anerkannt werden. Dies hätte jedoch nicht zur Konsequenz, dass das Nachdenken über Semiosen oder Modi der Apperzeption aufgeben werden müsste. In diesem Sinne ist anzuerkennen, dass das leibliche Sensorium des Menschen sehr viel feiner ist als sein apperzeptives Vermögen. So hat Niels Bohr darauf hingewiesen, dass „die Empfindlichkeit des Auges die absolute Grenze 3
Ders.: Für Bilder braucht man keine Augen. Zur Verkörperungstheorie des Ikonischen, in: ders.: Bildkörper und Körperschema (wie Anm. 2), S. 142.
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erreicht, die durch den atomistischen Charakter der Lichtphänomene gesetzt ist“, d. h. dass „die Absorption von ganz wenigen Lichtquanten, vielleicht sogar von einem einzigen Lichtquant, durch ein solches Netzhautelement hinreicht, um einen Gesichtseindruck hervorzubringen“. „Wir müssen demnach damit rechnen“, so folgert Karl-Otto Apel, „daß unsere alltägliche Wahrnehmung keineswegs nur mit makrophysikalisch idealisierbaren Kollektivphänomenen der Materie befaßt sind; in jedem […] Fall dürfte es sich vielmehr um individuell-organische Ausdrucksphänomene handeln, die in ihrer Leibhaftigkeit durch mikrophysikalisch feine Steuerungszentren bestimmt sind.“4 Wahrnehmung ist zwar auf der einen Seite ein weitaus aktiverer Prozess als eine bloße Verzeichnung gegebener Wirklichkeiten. Wahrnehmungen sind weltkonstitutive Akte, wie die Dokumentation der Eröffnungstagung der Kolleg-Forschergruppe Bildakt und Verkörperung Sehen und Handeln (herausgegeben von Horst Bredekamp und John M. Krois, Berlin 2011, Actus et Imago 1) belegt. Auf der anderen Seite können Wahrnehmungen auch weitaus passivere Prozesse, nämlich das Bewegtwerden durch Dinge ohne Identifizierung des Akteurs, sein. Merleau-Ponty beschreibt solche Phänomene am Beispiel von Farbwahrnehmungen extrem kurzer Dauer, die zu körperlichen Reaktionen führen, indem sie tonischen Einfluss auf die Muskulatur nehmen, ohne dass die Farben selbst wahrgenommen werden können.5 An dieser Stelle geht es jedoch nicht um die direkten körperlichen Reaktionen, die Merleau-Ponty in diesem Beispiel beschreibt, sondern um eine Vermittlungsstufe innerhalb des referentiellen Prozesses, im Verlauf dessen sich Bedeutungen aus dem Körperbewusstsein herausschälen können. John Krois zufolge – und hierin ist er mit anderen wie z. B. Terrence Deacon, Wilma Bucci oder Susanne K. Langer einig – erfolgt dieser Prozess über ikonische Formen. Es sind ikonische Formen und Übergangsformen, denen John Krois eine Schlüsselfunktion im Verständnis des verkörperten Geistes zuerkannt hat. Ihre Charakteristika können in drei Thesen abstrahiert werden: 1.
Ikonizität im semiotischen Sinne bedeutet konkrete, individuelle, (sinnlich) wahrnehmbare Gestaltung. Sie ist nicht allein an Visualität gebunden, sondern bezeichnet eine Formkategorie. „All sense perception is image-like: vision, hearing and even touch involve kinds of ,Gestalten‘.“6
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Karl-Otto Apel: Das Leibapriori der Erkenntnis, in: Jahrbuch für Geschichte und Theorie der Biologie 8 (2001), S. 181–200, S. 197. Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, 1966, S. 245. Merleau-Ponty beruft sich auf Forschungen von Kurt Goldstein und Otto Rosenthal. John M. Krois: Cassirer’s ‚Prototype and Model‘ of Symbolism, in: Bildkörper und Körperschema (wie Anm. 2), S. 57 f.
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Ikonizität ist nicht an die statische Form eines fixierten Bildes gebunden, sondern kann auch die Form eines kontinuierlichen Prozesses der Gestaltung haben. Die Grundleistung der ikonischen Erkenntnis besteht also in der Wahrnehmung räumlicher und zeitlicher Kontinuitäten. „Sensory experience is always image like (not a fixed image or picture): a continuous process of taking shape or closure.“7 Ikonizität ist nicht ausschließlich auf die Wahrnehmung der uns umgebenden Welt reduziert. Auch Emotionen stellen sich ikonisch dar.
John Krois zufolge ist es das Gefühl, das uns die ersten ikonischen Bilder vermittelt. Susanne K. Langer hat sich im Anschluss an Ernst Cassirers und in der Absicht, die Übergangsformen von natürlichem Ausdrucksverhalten und menschlicher Sprache zu bestimmen, mit der Symbolisierungsform von Gefühlen beschäftigt und differenziert zwei verschiedene symbolische Modi: diskursive und präsentative Symbolik. Der Sinngehalt präsentativer Symbolik liege im Gesamtkomplex der „gefügten Form“, könne im Gegensatz zur Symbolisierung des diskursiven Typs nicht in einzelne Aussagen zerlegt werden und bringe spezifische Qualitäten emotionalen Lebens, das nur präsentativ symbolisierbar sei, zum Ausdruck. Geht man wie William James davon aus, dass Emotionen Gefühle körperlicher Prozesse sind,8 und konstatiert mit Merleau-Ponty, dass sie eine motorische Physiognomie besitzen,9 wird klar, dass es diese motorische Charakteristik im inner- oder zwischenleiblichen Raum ist, die Emotionen für ikonische Darstellungen prädestiniert. Sie werden bspw. als Hebung, Senkung, Strömung, Weitung oder Verengung empfunden – Hermann Schmitz hat dies beispielhaft dargestellt. Das Körperschema selbst, das unsere Bewegung und Wahrnehmung steuert, ist, so Krois, die originale ikonische Form. Der Sinnbereich der Gestik, des expressiven Sinns in zwischenmenschlicher Kommunikation, aber auch in der Wahrnehmung von Bildern, Skulpturen, Architektur und Musik wird durch das Körperschema erschlossen.10
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Ebd., S. 49. Vgl. auch ders.: Was sind und was sollen die Bilder, in: ebd., S. 299 f. Ders.: Experiencing Emotion in Depictions. Being Moved without Motion?, in: ebd., S. 240. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung (wie Anm. 5), S. 246 ff. John M. Krois: Bildkörper und Körperschema, in: ders.: Bildkörper und Körperschema (wie Anm. 2), S. 269 f.
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I V. Das Ziel der Kolleg-Forschergruppe besteht darin, eine Theorie der aktivierenden Wirkung von Bildern auf der Basis von Verkörperungstheorien zu entwickeln und diese durch das Wissen um die körperliche Wirkpotenz von Bildern zu untermauern. Der erste Teil: Die Formulierung einer Theorie aktiver und aktivierender Bilder, die die Welt nicht repräsentieren, sondern im Akt hervorbringen, ist geleistet worden. 2010 hat Horst Bredekamp die Theorie des Bildakts vorgelegt. John Krois war es aufgrund seines plötzlichen Todes nicht vergönnt, seine Verkörperungsphilosophie auszubuchstabieren. Der Einsicht in die physisch-mentale Gemengelage und senso-motorische Basis der Erkenntnis stehen allerdings manifeste Widerstände entgegen, denn sie fordert die partielle Aufgabe einer Weltorientierung aus theoretischer Distanz. Und sie setzt die Modifizierung der Vorstellung von Intentionalität voraus, da unsere Intentionen von propositional unerkannten, jedoch leiblich spürbaren Einflüssen grundiert sein können. Diejenigen Formen unseres Weltverhaltens, in denen wir nicht souveräne Subjekte sind, sondern uns mit anderen Menschen und Gegenständen in teils sympathetischer, teils unfreiwilliger Kommunion11 befinden und die Merleau-Ponty als Interkorporalität bezeichnet, werden in vergangene mythische oder frühkindliche Phasen der Phylound Ontogenese verbannt. Allein in der Rezeption von Kunst sind wir gern bereit anzuerkennen, dass wir bewegt werden, und genießen es, uns – wie Martin Seel formuliert – „bestimmen zu lassen“. Die Ästhetik, gewissermaßen die Freizeit- und Frauendisziplin der Philosophen, deren Bedeutung für die Philosophie des Geistes und die Erkenntnistheorie in der Form, wie Baumgarten sie konzipiert hatte, in Vergessenheit geraten ist, nimmt das, was uns leiblich affiziert, in den Blick. Sie ist somit in der Lage, Aufklärung über die Phase des semiotischen Prozesses zu verschaffen, in der Bildakte sich vollziehen. Dass unser Bewusstsein von unserem Leib quasi hintergangen – bzw. überholt wird – heißt nicht, dass wir prinzipiell keine Kenntnis dieser Beeinflussung erlangen können. Es gibt empirische Methoden, Messverfahren und auf Beobachtung beruhende Methoden, um körperliche Reaktionen unabhängig vom Bewusstsein ihrer Auslöser und ihrer kognitiven Verarbeitung zu testen, und es gibt phänomenologische Beschreibungen von leiblichen Erfahrungen. Beide haben ihre Berechtigung. Wir müssen uns nur klar darüber sein, mit 11
Vgl. auch Charles S. Peirce: „Thus, the very origin of the conception of reality shows that this conception essentially involves the notion of a COMMUNITY, without definite limits, and capable of a definite increase of knowledge.“ Some Consequence of Four Incapacities (1868), in: ders.: Writings of Charles S. Peirce, Bd. 2, hg. v. Edward C. Moore u. a., Bloomington 1984, S. 239.
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welchen Methoden wir zu welchen Ergebnissen gelangen, welche Methoden welche Wissensformen produzieren und welche Methoden welchen Gegenständen angemessen sind. Begeben wir uns in die Perspektive eines unabhängigen Beobachters und notieren Körperprozesse, werden wir Erkenntnisse über Körper erhalten. Wollen wir jedoch, in der Formulierung von John Krois, herausfinden, „what it is like to be embodied“,12 müssen wir in das „fruchtbare bathos“ der Erfahrung eintauchen und unser Sensorium schärfen – bis an die Grenzen dessen, was derzeit als Wissenschaft gelten darf. Die Erfahrungen von Interkorporalität, mit denen wir es hier zu tun haben, stellen ein Körperwissen dar, für dessen Explikation die Formen vielleicht erst noch gefunden werden müssen.
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Krois: Experiencing Emotion in Depictions (wie Anm. 8), S. 250, Herv. v. Verf.
Marion Lauschke
B O D I E S I N AC T I O N A N D S Y M B O L IC F OR M S Two sides of embodiment theory
I. After the passing of John Michael Krois in the fall of 2010, the question of whether and how the ambitious project of the Collegium of the Advanced Study of Picture Act and Embodiment, to which he had devoted himself together with Horst Bredekamp during the last years of his life, could continue without him became highly uncertain. The aim of the project had been to develop a theory of active pictures based on philosophy of embodiment, or, in other words, to find an explanation for semiosis, understood in the sense of Charles Sanders Peirce as the process of thought, by drawing upon models of iconicity. In the openness and versatility of his own thought, John Krois became the gravitational center of a variety of diverging, and not seldom competing approaches in the field of embodiment theory, which have not yet been disciplined by institutionalization. It now becomes pressing to trace and deepen the furrows John Krois has plowed into the field of philosophy. It was our particular wish to give everyone with whom he shared intellectual passions over the years the opportunity to convene and hence make visible both the geographical and the disciplinary scope of his ideas. For this reason, in November 2011 we organized the conference “Bodies in Action and Symbolic Forms. Two Sides of Embodiment Theory“, from which the essays in this volume emerged. Many of the contributions take as a frame of reference the writings of John Krois that were compiled in the volume Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen (edited by Horst Bredekamp and Marion Lauschke, Berlin 2011, Actus et Imago 2). This compilation tries to document the development of Krois’ embodiment theory and make visible the topography of his sources. John Krois is best known internationally as a leading scholar and editor of Cassirer. Hence, one element notably recurred in the accounts full of sympathy and gratitude given by Cas-
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sirer scholars at a memorial conference in Hamburg in March of 2011, which was organized by Birgit Recki and Christian Möckel: Whoever wished to inquire into the life and work of Ernst Cassirer and found himself stuck at an apparent dead end, asked Krois, who knew the answer and at all times generously passed on the fruits of his research. Also to me he was first familiar as a Cassirer-scholar, who had brought Ernst Cassirer back to Germany from the USA and without whose work the Cassirer-Renaissance, as it could be observed in Germany over the last 15 years, would not have taken place. Looking back at his publications today, it quickly becomes evident to which extent, by decidedly placing his emphases, he advanced the very topic to which he was most dedicated during the final years of his life: embodiment theory, which in the guise of “embodied cognition” is experiencing great popularity in the English-speaking world, whilst its continental European origins have as yet not been adequately evaluated, let alone integrated. Apart from his lifelong involvement with Cassirer, John Krois published essays on and editions of Peirce, Vico, Wind, and Warburg, in which he dealt with the semiotic transformation of philosophy as well as with signifying processes as instances of embodiment, and demanded that philosophers not take theory of consciousness as a point of departure, but instead the animate body. His essays of the last 10 years document a turn to discussions in which philosophy dips into the murky waters of emotions and bodily processes, considering their foundational function for consciousness and conscious actions, while abandoning the lofty presumptuousness of a philosophical distance oriented on the visus, to complement it with the “haptic handling of the object”.1 John Krois corrected the dualistic perspective of a mind in leadership position and a more or less compliant body, also conceived of as a mental software running on an arbitrary hardware, by establishing an intricate relationship of mutual influence between consciousness and the body regarding their involvement in the active navigation of the world and the creation of symbolic forms. In conversations, lectures, and publications, John Krois consequentially interpreted the recordings of driverless vehicles able to navigate even serpentine mountain passes safely by means of feedback from outgoing infrared signals as tactile images. With the help of perspectively correct drawings by blind test persons, which present the subject of John Kennedy’s research, he was able to prove that also tactility, and not visuality alone, forms the basis of spatial perception. John Krois was profoundly influenced by Shaun Gallagher’s theory of enactivism and his rediscovery of the concept of the body scheme, introduced among others by Henry Head, which Krois made fruitful for explaining the 1
Aby Warburg: Einleitung (1929), in: Der Bilderatlas Mnemosyne, ed. by Martin Warnke et al., Berlin ³2008, p. 3.
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somatic effects of pictures by drawing on Lakoff and Johnson’s cognitive theory as well as Wölfflin’s considerations on architecture. Despite – as it is not a given in this field of research – his familiarity with cutting-edge research in the cognitive sciences, neuroscience, and robotics, John Krois time and again pointed to the tradition of embodiment theory, especially to the scholars in the circle of the Warburg Library, such as Ernst Cassirer, Aby Warburg himself, and Edgar Wind. It is the combination of this consciousness of tradition and his radical open-mindedness as well as his broad concept of embodiment, able to integrate biologistic as well as culturalistic approaches, which render him irreplaceable for the project of a comprehensive philosophy of embodiment.
I I. The title of the conference “Bodies in Action and Symbolic Forms. Two Sides of Embodiment Theory“ points to research on embodied intelligence which has so far mostly been pursued in the separate disciplines of robotics, medicine, and the cognitive sciences, on the one hand, and in semiotics, philosophy of culture, and art history, media studies, visual and material culture studies, on the other. In this sense, it marks a point of departure eventually meant to be transcended. In pragmatism, philosophy of art, and theory of emotions John Krois recognized the particular potential to bridge the divide between basal embodied intelligence and the highest symbolically manifested productions of culture. Ever and again he emphasized the importance of understanding culture as dynamic and of returning to the bodily and signifying processes in which meaning becomes manifest. According to John Krois, meaning is by no means produced exclusively in linguistically expressed propositional forms, but is already present in the formation of differences or relations, tendencies or directions. This concept of meaning, developed by Jacob von Uexküll, is related to the emergence of valences as they are examined in biosemantics, which cannot be traced back to conscious decisions,2 but must rather be understood as emergences. John Krois conceived the concept of the sign, on which he founded the manifestation of such meanings, very broadly: “Sign values don’t emerge with the difference between signifier and signified, but with the embodiment of a quality in the object.”3
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Cf. John M. Krois: Synesthesia and the Theory of Signs, in: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, ed. by Horst Bredekamp/Marion Lauschke, Berlin 2011 (Actus et Imago 2), p. 168. Ibid.: Für Bilder braucht man keine Augen. Zur Verkörperungstheorie des Ikonischen, in: idem.: Bildkörper und Körperschema (as fn. 2), p. 142.
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I I I. On the basis of Krois’ theses, one can show that by mediation of the concept of vagueness or continuity as it is involved in the determination and distinction of (information-)processes, the paradigm of the embodied mind is inseparably connected to the concept of iconicity. Following Cassirer in the assumption that human consciousness must be understood as the intrusion of reflexivity into life processes, a step which enables the use of symbols, this development need not be understood as bringing about an ontological difference, but as a change of function. It is helpful to assume, like Leibniz, another of Krois’ referees, degrees of consciousness and a stepladder of cognition. On the lowest step embodied forms of knowledge would hence be found, which ground and steer our thoughts and actions without being, or even having to be, clear and distinct. When neuroscientists today assume certain neuronal processes to cause conscious experiences, i.e. to take a reflexive turn, while others do not, without being able to offer an explanation or to speak causalities, instead of mere correlations, they have reached the very point from which Leibniz departed. He believed that socalled “small perceptions”, i.e. sensory perceptions which don’t penetrate the level of consciousness and hence don’t appeal to apperception, could nevertheless become manifest in their effects, in result not principally remaining subconscious, but possibly being caught up by the mind. Perhaps researchers will never succeed in explaining consciousness by means of scientific principles and will hence never transcend the stage of asserting a correlation between neuronal processes and phenomena of consciousness. Perhaps the fact of consciousness will have to be accepted as a “fundamental principle”. This, however, would not imply giving up reflection upon semioses or modes of apperception completely. This said, it can be agreed that the bodily sensorium of human beings is much more acute than their apperceptive ability. Niels Bohr, for instance, drew attention to the fact that “the sensitivity of the eye reaches the absolute limit determined by the atomistic character of the phenomenon of light”, meaning that “the absorption of very few quanta of light, perhaps even of one single light quantum, by a retinal element of this sort suffices to produce a sensation of light”. “We hence have to be prepared to find,” Karl-Otto Apel concluded, “that our everyday perceptions are not only preoccupied with collective phenomena of matter capable of being macro-physically idealized; in each […] case, individual organic phenomena of expression must be assumed, which in their particular formation are determined by micro-physically precise mechanisms of regulation.”4 4
Karl-Otto Apel: Das Leibapriori der Erkenntnis, in: Jahrbuch für Geschichte und Theorie der Biologie 8 (2001), p. 181–200, p. 197.
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On the one hand, perceptions are by far more active processes than the mere registration of a given reality. Perceptions are world-constituting actions, as the documentation of the inaugural conference of the Collegium for the Advanced Study of Picture Act and Embodiment Sehen und Handeln (edited by Host Bredekamp and John M. Krois, Berlin 2011, Actus et Imago 1) testifies. On the other hand, perceptions can be far more passive processes than so far described, namely when one is moved by objects without an identifiable actor. Merleau-Ponty describes these types of phenomena using the example of color perceptions of extremely short duration, which cause physical reactions by effecting a tonal change in the muscles without the colors themselves being perceived.5 In this context, we are not concerned with direct physical reactions as described by Merleau-Ponty in his example, but with a intermediate stage in referential processes, in the course of which meanings can precipitate from the bodily consciousness. According to John Krois – and in this he goes along with e.g. Terrence Deacon, Wilma Bucci, or Susanne K. Langer – this process takes place by means of iconic forms. It is iconic and intermediate forms to which John Krois has accorded a key role in the understanding of the embodied mind. Their characteristics can be abstracted and described by three theses: 1.
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3.
Iconicity in the semiotic sense means concrete, individual, (sensorially) perceptible configuration. It is not bound to the visual sense alone, but refers to a category of form. “All sense perception is image-like: vision, hearing and even touch involve kinds of ‘Gestalten’.”6 Iconicity is not bound to the static form of the fixed image, but can take on the form of a continual process of configuration. The basic faculty of iconic cognition is the perception of spatial and temporal continuities. “Sensory experience is always image like (not a fixed image or picture): a continuous process of taking shape or closure.”7 Iconicity is not restricted to the perception of the surrounding world. Also emotions communicate themselves iconically.
According to John Krois, it is in fact emotion which produces the first iconic images for us. Following Ernst Cassirer and with the aim of determining the intermediate forms of natural expressive behavior and human speech, Susanne K. Langer dealt with the symbolizing form of emotions and distinguished two different symbolic modes: discursive and presentative symbolism. The meaning of presentative symbolism lies in the overall complex of the “assembled form”, it 5 6 7
Cf. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, 1966, p. 245. Merleau-Ponty relies on studies by Kurt Goldstein and Otto Rosenthal. John M. Krois: Cassirer’s ‘Prototype and Model’ of Symbolism, in: Bildkörper und Körperschema (as fn. 2), p. 57 f. Ibid., p. 49. Cf. also idem.: Was sind und was sollen die Bilder, in: ibid., p. 299 f.
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MARION LAUSCHKE
cannot, in contrast to the symbolization of the discursive type, be divided into individual statements and it expresses specific qualities of emotional life, which can only be symbolized presentatively. Presuming like William James that emotions are expressions of bodily processes,8 and going along with Merleau-Ponty in claiming that they possess a motorical physiognomy,9 it becomes evident that it must be this motorical characteristic of the inner or interstitial space that predestines emotions for iconic representation. They are experienced, for instance, as an elevation, depression, flux, dilation, or constriction – Hermann Schmitz demonstrated this exemplarily. The body scheme itself, which controls our movement and perception, is, according to Krois, the original iconic form. Gestures, which are central to expression not only in interpersonal communication, but also regarding the perception of pictures, sculptures, architecture, and music, are made accessible through the body schema.10
I V. The goal of the Collegium for the Advanced Study of Picture Act and Embodiment is the development of a theory to explain the activating effect of pictures on the basis of embodiment theory and to underpin this theory with insights into the bodily impact of pictures. The first part: devising of a theory of active and activating pictures, which do not represent the world, but create it through action, has been achieved. In 2010 Horst Bredekamp presented the Theorie des Bildakts. Due to John Krois’ untimely death it would not become possible for him to spell out his embodiment theory. Research into physical-mental coaction and the sensomotoric basis of cognition meets with determined resistance in the scholarly world, as it requires the partial dismissal of a position towards the world marked by theoretic distance. And it implies a modification of the concept of intentionality, since our intentions, according to embodiment theory, can be grounded in propositionally unrecognized, but nevertheless bodily perceptible influences. These forms of interaction with the world, in which we are not sovereign subjects, but find ourselves in at times sympathetic, at times involuntary communion with other
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Idem.: Experiencing Emotion in Depictions. Being Moved without Motion?, in: ibid., p. 240. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung (as fn. 5), p. 246 ff. John M. Krois: Bildkörper und Körperschema, in: ders.: Bildkörper und Körperschema (as fn. 2), p. 269 f.
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BODIES IN ACTION AND SYMBOLIC FORMS
human beings and objects11 – a state which Merleau-Ponty described as intercorporality – are generally relegated to a mythical past or the early stages of phylo- and ontogenesis. Merely regarding the reception of art are we commonly willing to accept that we are moved passively, and even enjoy this experience of – as Martin Seel put it – “letting ourselves be governed”. Aesthetics, in a sense the leisurely and effeminate discipline of philosophy, whose significance for philosophy of mind and cognition as conceived by Baumgarten has been thoroughly forgotten, deals with what affects us bodily. It hence allows for the philosopher to gain insight into that phase of the semiotic process in which picture acts take place. The fact that our consciousness is in a way deceived by the body – or outrun by it – does not principally foreclose our gaining awareness of this influence. Empiric methods have been developed: measuring procedures and observation-based methods for testing bodily reactions irrespective of the test person’s consciousness of the stimulus or of its cognitive processing, and phenomenological descriptions of bodily experiences exist. Both have their legitimacy. We only have to remain aware of the fact that each method leads to different results, different forms of knowledge, and is appropriate only for certain aims. If we take on the perspective of an independent observer and note bodily processes of another person, we will gain knowledge on the body. If, however, to put it in John Krois’ words, we wish to find out “what it is like to be embodied”, we have to dip into the “terrible bathos” of experience and sharpen our sensorium – to the limits of what today is considered scientific. The experiences of intercorporality, with which we are dealing here, represent a knowledge of the body for the explication of which the appropriate form has perhaps yet to be found.
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Cf. also Charles S. Peirce: “Thus, the very origin of the conception of reality shows that this conception essentially involves the notion of a COMMUNITY, without definite limits, and capable of a definite increase of knowledge.” Some Consequence of Four Incapacities (1868), in: idem.: Writings of Charles S. Peirce, vol. 2, ed. by Edward C. Moore et al., Bloomington 1984, p. 239.
I . S Y M B O L KÖ R P E R
Birgit Recki
S Y M B O L I S C H E F OR M U N G A L S „V E R KÖR P E RU N G“? Ernst Cassirers Versuch einer Überwindung des Leib-Seele-Dualismus
Die Bestimmung des Menschen als animal symbolicum findet sich in Ernst Cassirers Werk spät, im Essay on Man 1944.1 Doch das heißt nicht, dass der mit ihr artikulierte Gedanke erst spät aufträte. Wie man Begriffsgeschichte mit Cassirer generell als Problemgeschichte und nicht als Wortgeschichte aufzufassen hat, so hat man auch hier in dem von ihm geprägten Begriff den Gedanken zu sehen, der schon seiner Philosophie der symbolischen Formen zugrunde liegt.2 In der Sache geht es bereits in Cassirers Werk der 20er Jahre um die Konstruktion des Menschen als eines symbolischen Wesens, und dass es sich bei diesem homo symbolicus immer auch um ein Lebewesen handelt, ist zumindest grosso modo in die Konzeption einbezogen. Das Inhaltsverzeichnis des Versuch über den Menschen führt die Kongruenz der späten expliziten Anthropologie und der Philosophie der Kultur vor Augen, die Cassirer in der Phi-
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Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Frankfurt/M. 1990, S. 51. Ich halte mich im Folgenden an die in der Cassirerforschung verbreitete Übereinkunft, Cassirers dreiteiliges Hauptwerk kursiv als Philosophie der symbolischen Formen (1923; 1925; 1929) zu zitieren, den gesamten Systementwurf davon unterschieden recte als Philosophie der symbolischen Formen; zu diesem gehört eine Reihe von großen Abhandlungen, in denen Cassirer nicht nur die Differenzierung seiner Theorie der Kultur in einzelnen Problembereichen, sondern gleichermaßen deren Grundlegungsreflexion leistet: „Goethe und die mathematische Physik“ (1921); „Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften“ (1923); „Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen“ (1925); „Das Symbolproblem und seine Stellung in der Philosophie“ (1927); „Technik und Form“ (1930); „‚Geist‘ und ‚Leben‘ in der Philosophie der Gegenwart“ (1930); „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“ (1931); „Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt“ (1932/33).
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losophie der symbolischen Formen entwickelt hat.3 Die Differenz zwischen Essay on Man und Philosophie der symbolischen Formen besteht darin, dass Cassirer in sein großes Reihenwerk den biologischen Begriff des Menschen noch nicht in den Blick nimmt, den er jedoch in seinem Aufsatz „‚Geist‘ und ‚Leben‘ in der Philosophie der Gegenwart“ (1930) generell avisiert und im späten Werk explizit unter Rekurs auf die moderne Verhaltensbiologie in den kulturphilosophischen Begriff des Menschen einzuholen beansprucht.4 Absichtsvoll in der Schwebe zwischen hermeneutischem und pragmatischem Verständnis besagt dieser Begriff: Der Mensch ist das symbolerzeugende und das symbolverstehende Wesen. Der Begriff des Symbols, auch wie sich zeigen wird, der symbolischen Formung, steht damit in der Dimension der Grundlegung einer Philosophie der Kultur als der humanen Welt. In ihm schießen wie in einem Kristall die Ansprüche zusammen, denen nach der Einsicht dieses Autors eine angemessen reflektierte Theorie zu genügen hat. Cassirer realisiert mit diesem Begriff vom Menschen sein schon früh geltend gemachtes Postulat vom Primat der Funktionsbegriffe vor den Substanzbegriffen,5 indem er damit den Menschen rein funktionell bestimmt durch das, was in menschlichen Leistungen zum Ausdruck und zur Geltung kommt. Durch die Konzeption der symbolischen Aktivität begreift er Poiesis, die selbsttätige Produktivität, als den Nukleus der menschlichen Welt und diese als nichts anderes denn das Produkt der hier in ihrem Inbegriff kondensierten Leistungen. So bahnt er dem Verständnis des menschlichen Wesens als produktive geistige Aktion im Wandel den Weg und gehört damit zu den Kronzeugen einer Einsicht, die man nicht wenigen Theoretikern der Gesellschaft, kritischen wie unkritischen, noch heute nahe bringen muss, als handelte es sich um etwas ganz Neues: Anthro-
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Den Teil II „Mensch und Kultur“ gliedert Cassirer gemäß den dort behandelten Bereichen der Kultur: Mythos und Religion, Sprache, Kunst und Wissenschaft, unter Ergänzung durch die bis dahin nicht untersuchte Geschichte. Siehe Gerald Hartung: Das Maß des Menschen. Apologien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerstwist 2004; Oliver Müller: Eine Frage des Stils. Ernst Cassirers anthropologische Fundierung seiner Kulturphilosophie in Absetzung von Martin Heidegger, in: Birgit Recki (Hg.): Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens. Ernst Cassirer in der Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, Hamburg 2012, S. 675– 700; Birgit Recki: Ernst Cassirer, in: Handbuch der Anthropologie, hg. v. Eike Bohlken/Christian Thies, Stuttgart 2009, S. 45–50. Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910), Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe [ECW], hg. v. Birgit Recki, Bd. 6, Hamburg 2000; siehe dazu Birgit Recki: Ernst Cassirers Theorie des Begriffs als Nukleus einer Theorie der symbolischen Formen, in: Gegenständlichkeit und Objektivität, hg. v. David Espinet/Friederike Rese/Michael Steinmann, Tübingen 2011, S. 139–159.
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SYMBOLISCHE FORMUNG ALS „VERKÖRPERUNG“?
pologisches und historisches Denken, Anthropologie und Geschichtlichkeit stehen nicht im Verhältnis systematischer Unvereinbarkeit zueinander. Doch das ist nicht alles. Auch die Erblast der frühen Neuzeit, die von allen großen Denkern der Moderne als Herausforderung an die eigenen Theorien empfunden wird, gedenkt Cassirer mit seinem Ansatz bei Symbol, Symbolisierung, symbolischer Aktivität abzuschütteln: Es ist der cartesische und mit diesem jeglicher Dualismus, der in der Durchführung des Programms einer Philosophie der symbolischen Formen überwunden werden soll. Cassirer begreift Symbolisierung generell als Vermittlung von Sinnlichem und Geistigem, die sich in den unterschiedlichsten Materialien oder Medien abspielt: in artikuliertem Laut, in Bildern, materiellen Dingen, Ritualen, Zeremonien und Techniken, überhaupt in Handlungen aller Art, in Institutionen, in Formeln. Und „zwischen dem Sinnlichen und Geistigen knüpft sich hier eine neue Form der Wechselbeziehung und der Korrelation. Der metaphysische Dualismus beider erscheint überbrückt, sofern sich zeigen läßt, daß gerade die reine Funktion des Geistigen selbst im Sinnlichen ihre konkrete Erfüllung suchen muß und daß sie sie hier zuletzt allein zu finden vermag.“6 Jede Symbolisierung stellt eine Einheit von „geistigem Bedeutungsgehalt“ und „sinnlichem Zeichen“ dar. Symbole leisten demnach den gesamten gegenständlichen Aufbau unserer Welt. Für die epistemologische Bestimmung, die dies in letzter Instanz ausweisen soll: dass alles sinnlich Wahrgenommene „als sinnliches Erlebnis immer schon Träger eines Sinnes“ ist, steht Cassirers eigene terminologische Prägung des Begriffs der „symbolischen Prägnanz“ im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen: Darunter „soll […] die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als sinnliches Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen Sinn in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt“.7 Damit sind zwei komplementäre Aspekte des spontanen Habens von Bedeutung intendiert: Das Wahrgenommene wird augenblicklich als sinnvoll wahrgenommen, und es wird immer schon in spezifischer Weise, damit aber auch auf verschiedene mögliche Weisen, als sinnvoll wahrgenommen. Cassirer illustriert diesen Gedanken wiederholt an einem elementaren Beispiel – an der Wahrnehmung eines Linienzuges. Dieselbe gleichmäßig geschwungene Linie kann je nach dem Kontext eine „künstlerische Bedeutsamkeit“ als ästhetisches Ornament haben, sie kann aber auch als magisches Zeichen und damit als „Träger einer mythisch-religiösen Bedeutung“ gesehen werden, und sie kann schließlich im wissenschaftlichen Kontext eine Darstel6 7
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 1. Teil, Die Sprache (1923), ECW 11, S. 17. Ders.: Philosophie der symbolischen Formen, 3. Teil, Phänomenologie der Erkenntnis, ECW 13, S. 231.
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BIRGIT RECKI
lung für einen „rein logisch-begrifflichen Strukturzusammenhang“ geben.8 Ebenso wichtig wie die Plastizität der Bedeutung ist dem Autor an diesem Beispiel ganz offensichtlich die Einheit von Sinnlichem und Sinn, die in jedem Wahrnehmungserlebnis spontan und dabei stets (die Wörter „als“ und „zugleich“ markieren dies) ohne Früher und Später, ohne Hin und Her instantan geleistet wird. Es ist der locus classicus der Theorie, in dem Cassirer zu verstehen gibt, wie hoch und weit gespannt der systematische Anspruch ist, den er mit diesem Konzept verbindet – die Stelle, in der Cassirer die Leib-Seele-Einheit zum aussagekräftigen Modell aller Symbolisierung erklärt: „Das Verhältnis von Leib und Seele stellt das erste Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation dar, die sich weder in eine Dingbeziehung noch in eine Kausalbeziehung umdenken läßt. Hier gibt es ursprünglich weder ein Innen und Außen, noch ein Vorher oder Nachher, ein Wirkendes oder Bewirktes; hier waltet eine Verknüpfung, die nicht aus getrennten Elementen erst zusammengefügt zu werden braucht, sondern die primär ein sinnerfülltes Ganze ist, das sich selbst interpretiert“.9 Es wird wohl deutlich, dass Cassirer sich damit unter Symbolisierung eine holistische Leistung vorstellt; nicht allein der adverbiale Ausdruck „ursprünglich“ indiziert an der rein symbolischen Relation, dass sie unvordenkliche Ganzheit stiftet – eine Synthese, der gegenüber jegliche Teilung allenfalls die einer nachträglichen analytischen Unterscheidung sein kann. Und es wird wohl deutlich, dass sich an dem hier provozierten, auf die Probe gestellten und in der Zurückweisung von lauter disjunktiven Relationen forcierten angemessenen Verständnis der symbolischen Relation, die sich weder in eine Dingbeziehung noch in eine Kausalbeziehung umdenken lässt und auch weder in ein Innen und Außen, noch in ein Vorher oder Nachher, ein Wirkendes oder Bewirktes zergliedern lässt, das Gelingen der angestrebten Überwindung des cartesischen Dualismus entscheidet. Wir haben Cassirer hier ernst zu nehmen, wenn er postuliert: Hier waltet eine Verknüpfung, die nicht aus getrennten Elementen erst zusammengefügt zu werden braucht, sondern die primär ein sinnerfülltes Ganze ist. Von Postulat spreche ich hier, weil wir wissen, dass eine solche Absicht im Programm leichter zu haben ist als in der Durchführung. Ob ihre Durchführung gelingt, hängt nicht allein an Argumenten, die belegen, dass sie erforderlich sei, noch allein an Grundbegriffen, die imstande sind, die programmatische Absicht zu tragen, sondern auch an der Konsequenz des langen Atems bei der Explikation: Alle von der Theorie erfassten Zusammenhänge müssen 8 9
Zum Beispiel ders.: Das Symbolproblem und seine Stellung in der Philosophie (1927), in: ECW 17, S. 253–282, Zitate: S. 257 f. Ders.: Phänomenologie der Erkenntnis (wie Anm. 7), S. 113.
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SYMBOLISCHE FORMUNG ALS „VERKÖRPERUNG“?
sich so explizieren lassen, dass der Gedanke der ursprünglichen Einheit und Ganzheit erfüllt wird. Wo Cassirer etwa – in dem großen Aufsatz über die wirklichkeitskonstituierende Leistung der Sprache – über den Aufbau der Gegenstandswelt durch die Mittel der Sprache handelt, wo er die ursprüngliche Hervorbringung von Bedeutung an die Artikulation der Wörter bindet, wo er zur prägnanteren Fassung dieses Gedankens Heinrich von Kleists Essay Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (1804) heranzieht10 – da besteht eine reelle Chance, dass die Absicht nicht bloß Programm bleibt, sondern sich auch in der Durchführung bewährt. Man darf bloß nicht den Fehler machen, hier von „Versinnlichung von Sinn“ oder zum vermeintlich noch größeren Prägnanzgewinn von Verkörperung zu sprechen.11 Denn einen größeren Bärendienst könnte man einem fragilen Gedanken kaum erweisen. Im Konzept der Verkörperung ist dem cartesischen Dualismus, den Cassirer in der Vindikation einer ursprünglichen und ungeschiedenen Leib-Seele-Einheit hinauszuwerfen gedenkt, eine bequeme Hintertür offen gehalten. Diese Kritik ist erläuterungsbedürftig. Tatsächlich verwendet Cassirer nämlich den Ausdruck „Verkörperung“ auffällig oft. So hält er zum Beispiel fest, dass der frühneuzeitliche Skeptizismus seine erste Verkörperung in Montaignes Apologie de Raimond de Sabonde gefunden habe,12 und dass bei Galilei der Begriff in der mathematischen Analyse „ein neues Sein und eine neue Verkörperung“ gefunden habe.13 Er spricht von der „antiken synthetischen Geometrie als […] Verkörperung“ der Grundsätze der traditionellen Logik,14 sieht bei Leibniz in jedem Erfahrungssatz „nur das Beispiel und die Verkörperung eines notwendigen ‚Axioms‘“15 und in dessen Atomistik die „unmittelbare 10 11
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Ders.: Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt, in: Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen, auf der Grundlage der Ausgabe Ernst Cassirer. Gesammelte Werke, hg. v. Marion Lauschke, Hamburg 2009, S. 191–217. Ich habe dies in früheren Arbeiten selber gemacht und erst in der eingehenderen Auseinandersetzung bemerkt, dass darin ein Fehler liegt; vgl. etwa Birgit Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004; dies.: Eine Philosophie der Freiheit – Ernst Cassirer in Hamburg, in: Rainer Nicolaysen (Hg.): 100 Jahre Hauptgebäude der Universität Hamburg, Hamburg 2011. Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 1 (1906), ECW 2, S. 144. Ders.: Das Erkenntnisproblem I (wie Anm. 12), S. 327. – Ähnliche Urteile über die Verkörperung eines Denkens, einer theoretischen Tendenz, eines Zeitgeistes in einer exemplarischen Person bzw. ihrem Werk fällt oder paraphrasiert Cassirer in ECW 3, S. 178; ECW 3, S. 397; ECW 5, S. 214; ECW 9, S. 272; ECW 14, S. 119; ECW 21, S. 209; ECW 22, S. 220. – Siehe auch die Formulierung zum mathematischen Begriff der Dimension und seiner angemessenen Verkörperung ECW 2, S. 361. Ders.: Substanzbegriff und Funktionsbegriff (wie Anm. 5), S. 75; ähnlich ECW 9, S. 523. Ders.: Das Erkenntnisproblem II, ECW 3, S. 111.
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sinnliche Verkörperung des Gedankens, daß alles Sein aus ‚einfachen‘ Elementen aufzubauen ist“.16 Er spricht nicht nur in Leibniz’ System von der „Verkörperung der Logik im System der Mathematik“17 und von der „Verkörperung des definitorischen Inhalts in gegebener Wirklichkeit“ – auch wenn es auf sie, wie er geltend macht, nicht ankomme, sondern nur auf die „Möglichkeit des Gegenstandes“, auf welche die Definition Anspruch erhebe.18 Es findet sich die Formulierung, ein allgemeiner Gedanke sei nicht abstraktes Schema geblieben, sondern habe „lebendige Verkörperung und Formung gefunden […] in der Dynamik und in der Rolle, die innerhalb ihrer der Erfahrung“ zugewiesen werde.19 An anderer Stelle sieht er in physikalischen Messinstrumenten die „sichtbare Verkörperung“ von theoretischen Gedanken.20 Er spricht davon, dass Jacob Burckhardt in den Machtmenschen der Renaissance „die reine Verkörperung von Naturgewalten“ gesehen habe21 und dass bei Schelling die Idee der Polarität in allem Geschehen im Geschlechtsunterschied „gleichsam zur anschaulichen Verkörperung“ komme.22 Und er sagt nicht nur von seinem verehrten Lehrer Hermann Cohen, dass er in ihm „lange Zeit die eigentliche Verkörperung der Sache der Philosophie und ihrer Sachlichkeit gesehen“ habe,23 sondern sieht in einer ähnlich funktionierenden Metapher Pierre Bayle als den Verkünder und die Verkörperung aller eigentlich historischen Tugenden.24 An den genannten Stellen verwendet Cassirer den Ausdruck „Verkörperung“ in zweierlei Weise: zum einen als (geläufige) Metapher im Sinne von Darstellung, Veranschaulichung und Exemplifizierung,25 zum anderen oszillie16 17 18 19 20 21 22 23
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Ebd., S. 117. Ders.: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (1902), in: ECW 1, S. 98. Ebd., S. 102. Ebd., S. 494. Ders.: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, ECW 10, S. 17. Ders.: Das Erkenntnisproblem IV, ECW 5, S. 316. Ders.: Das Erkenntnisproblem III, ECW 4, S. 229. Ders.: Aufsätze und kleine Schriften (1902–1921), ECW 9, S. 488; entsprechend auch S. 491. – Die Formulierungen sind gleichlautend wieder aufgenommen in ECW 17, S. 285 und 289. Wie ein generalisierender Kommentar liest sich ECW 18, S. 248. Ders.: Die Philosophie der Aufklärung (1932), ECW 15, S. 217. – Im selben Modus kann es heißen: „‚Descartes‘, so sagt Dilthey, ‚ist die Verkörperung der auf Klarheit des Denkens gegründeten Autonomie des Geistes.‘“ (Ernst Cassirer: Descartes (1939), in: ECW 20, S. 158). Gemäß diesem Modell versteht sich auch die schöne und werkphilologisch aufschlussreiche Stelle, an der Cassirer davon spricht, dass die Fragen, die ihn seit langem beschäftigt hatten, ihm „bei der ersten genaueren Bekanntschaft“ mit ihren Beständen in der Kulturhistorischen Bibliothek Warburg „gleichsam verkör-
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rend zwischen wörtlichen und metaphorischen Aspekten im Sinne von Personifizierung (dies der am wenigsten problematische Fall). Doch in dieser Pragmatik geht Cassirers Vorliebe für den Begriff keineswegs auf, er spielt vielmehr durchaus auch in systematisch dichten, programmatischen Passagen seiner Philosophie der symbolischen Formen eine Rolle. So ist zum Beispiel im Dritten Teil der Philosophie der symbolischen Formen im Kontext der bereits angeführten Stelle über das Vorbild und Musterbild der symbolischen Relation nicht nur von „Sinnerfüllung des Sinnlichen“, sondern auch explikativ von Besonderung und Verkörperung die Rede.26 John Michael Krois, dem wir die geschärfte Aufmerksamkeit darauf verdanken, in welchem Maße Cassirers Theorie des Symbolischen mit dem Konzept der Verkörperung operiert, hat auf diesen Punkt vor allem deshalb so großen Wert gelegt, weil sich mit ihm die Vermeidung oder Überwindung eines semiotisch verkürzten kognitivistischen Modells von Symbolisierung verbindet.27 In der Betonung dieser systematischen Abgrenzung, die freilich Missverständnissen ausgesetzt ist, sobald man sie pauschal als Ablehnung des Modells der Sprache auf den Punkt bringt, ist ihm entschieden zuzustimmen. Freilich muss man sehen, dass Cassirer zwar mit dem Modell der Verkörperung operiert, aber zugleich auch mit einem methodischen Primat der Sprache, wo es um die Explikation der Symbolfunktionen geht. Bei ihm muss darin deshalb kein Widerspruch liegen, weil er selbst die Symbolisierung in Sprache eben von vornherein nicht gemäß einer verkürzten Konzeption des semiotischen Kognitivismus begreift, sondern die Sprache vielmehr in das Modell der Verkörperung einzuholen beansprucht. Was Cassirer mit dem Begriff der Verkörperung philosophisch im Sinn hat und vorhat, und wie groß die Affinität seiner symboltheoretischen Grundlegung der Kultur zum darin enthaltenen Konzept ist, lässt sich mit Rekurs auf zwei seiner Referenzautoren in den Blick nehmen. Wo Cassirer Hegels methodisches und metaphysisches Ideal des Konkreten erläutert, da heißt es: „Die Darstellung des Ideellen, deren der Mensch bedarf, darf nicht bloßer Gedanke bleiben, sondern muß zur ‚machthabenden Allgemeinheit‘ werden, die sich geschichtlich zu verkörpern und zu verwirklichen vermag. In dieser Verkörpe-
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pert“ zu sein schienen (Ders.: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften (1923), in: ECW 16, S. 75–104, 75.) – Siehe dazu Martin Warnke: Die Bibliothek Warburg und ihr Forschungsprogramm, in: Porträt aus Büchern. Bibliothek Warburg und Warburg Institute. Hamburg 1933 London, hg. v. Michael Diers, Hamburg 1993, S. 29–34. Cassirer: Phänomenologie der Erkenntnis (wie Anm. 7), S. 105. John Michael Krois: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, hg. v. Horst Bredekamp/Marion Lauschke, Berlin 2011; besonders: Cassirer’s ‚Prototype and Model‘ of Symbolism. Its Sources and Significance, S. 44–62.
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rung erst wäre das Besondere im Allgemeinen, das Allgemeine im Besonderen wahrhaft aufgegangen“.28 Desgleichen hebt er in Freiheit und Form Goethes Einsicht hervor, dass Wissen nicht „bloßes Wissen“ bleiben dürfe, sondern sich „verkörpern“ müsse;29 er zitiert dort Goethe, der von sich selber sagt: „Meine Tendenz ist die Verkörperung der Ideen“, und dies im expliziten Gegensatz zur reinen Abstraktion als der „Entkörperung derselben“ begreift.30 Hier ist zu erkennen: Spezifizierung und Exemplifizierung eines allgemeinen Gehalts, das Anschaulichmachen und Lebendigmachen von abstrakten Begriffen und Gedanken im sinnlichen Medium, im anschaulichen Material, und in diesem Sinne deren Konkretisierung und Konkretheit – das ist generell die Bedeutung, die Cassirer im Anschluss an Hegel wie an Goethe dem Verkörperungsbegriff gibt. Man sieht leicht, wie die Funktion des Symbols als Verknüpfung und innerliche Zueignung eines geistigen Bedeutungsgehaltes an ein konkretes sinnliches Zeichen ebendiese systematische Intention aufnehmen und erfüllen soll. Man sieht aber auch, welches Problem die Verkörperungsterminologie dabei aufwirft bzw. ungelöst lässt. Um es noch etwas deutlicher zu machen: In dem Aufsatz „Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie“ (1927), der zum Textcorpus der Philosophie der symbolischen Formen gehört, exemplifiziert Cassirer das Symbolproblem am Schönen gemäß dessen Begriff in der gesamten spekulativen Ästhetik: „Das Schöne ist wesentlich und notwendig Symbol, weil und insofern es immer und überall eins und doppelt ist. In dieser seiner Spaltung, in diesem Haften am Sinnlichen und in diesem Hinausgehen über das Sinnliche, drückt es nicht nur die Spannung aus, die durch die Welt unseres Bewußtseins hindurchgeht, sondern es offenbart sich darin die ursprüngliche und grundlegende Polarität des Seins selbst: die Dialektik, die zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, zwischen der absoluten Idee und ihrer Darstellung und Verkörperung innerhalb der Welt des einzelnen, des empirisch Daseienden, besteht.“31 Es ist – bei einem Autor, der seine eigene Theorie so weitgehend in der konstruktiven Anverwandlung seiner Referenzautoren entwickelt wie Cassirer – in Passagen wie dieser schwer zu entscheiden, an welcher Stelle und inwiefern diese Paraphrase einer metaphysischen Denkfigur „von Plotin bis zu Hegel hin“, diese Paraphrase, in der es ausdrücklich nicht nur um eine Spannung, sondern um eine Spaltung innerhalb des Symbols geht, aufhört, affirmativ zu sein. Das ist aber auch – und selbst mit Blick auf seine zweifelsfrei systematisch dichten Texte – nicht unbedingt erforderlich. Denn wir finden bei Cassirer auch dort, wo er nicht als Interpret, 28 29 30 31
Cassirer: Das Erkenntnisproblem III, ECW 4, S. 281. Ders.: Freiheit und Form, ECW 7, S. 214. Ebd., S. 216. Ders.: Das Symbolproblem (wie Anm. 8), S. 254.
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sondern als Theoretiker in eigener Sache auftritt, neben der programmatischen Tendenz zur holistischen Konzeption einer ursprünglichen Ungeschiedenheit, die dazu angetan wäre, den Dualismus zu überwinden, ebensowohl die Bekräftigung dieser Spaltung, die dann auch in der Verwendung des Verkörperungsbegriffs ratifiziert wird. Zu belegen ist dies schon in dem Aufsatz „Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften“ (1923) – in der Definition der symbolischen Form, die weiter oben bereits angeklungen ist: „Unter einer ‚symbolischen Form‘ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.“32 Es konnte nicht verborgen bleiben, dass es hier so klingt, als gäbe es Zeichen schon vor der symbolischen Formung. Diese bestünde darin, einen offenbar autonomen geistigen Bedeutungsgehalt an ein seinerseits irgendwie in der Welt schon fix und fertig vorhandenes Zeichen zu knüpfen; dies geschähe kraft jener Energie des Geistes, als die Cassirer die symbolische Form verstanden wissen will; und das Produkt dieser Verknüpfung zweier ontologisch selbständiger Entitäten wäre das Symbol. Hier muss man entschieden protestieren. Wir wissen genug, um sagen zu dürfen, dass dies nicht Cassirers Konzeption von Symbolisierung ist – wir haben es vielmehr mit einer suboptimalen Formulierung zu tun, in der der Autor nicht ganz auf der Höhe seiner eigenen Konzeption ist. Allzu offenkundig ist es, dass sich Cassirer die Sache vielmehr so denkt: Das Sinnliche wird erst in der Verknüpfung mit dem geistigen Bedeutungsgehalt zum Zeichen, in dieser Relation wird nicht nur das Sinnliche, sondern auch der geistige Bedeutungsgehalt erst konkret – und das Ganze ist das Symbol. Leider wiederholt sich das Problem, das auf diese Weise mit einem loyalen Akt hermeneutischen Wohlwollens zu lösen ist, im Begriff der Verkörperung, der nicht ähnlich leicht aus der Welt zu schaffen ist wie das oben explizierte Missverständnis, weil Cassirer ihn so häufig und so gern verwendet. In dem Aufsatz „Goethe und Platon“, in dem er Goethes Anti-Platonismus in der Kunsttheorie deutet, zeigt sich das Problem in der folgenden Formulierung: „Im Kunstwerk steht ein Sein vor uns, das der rein geistigen Schau, der inneren Tätigkeit des Bildens entstammt, die doch aus ihrem eigenen Gesetz und ihrer Notwendigkeit heraus die sinnliche Verkörperung fordert.“33 Wenn es gegen eine Verwerfung der Kunst mit einem platonischen oder platonistischen Argument geht, mag das natürlich schon viel sein. Es bleibt aber ebenso auch zuwenig, weil deutlich erkennbar wird, dass hier im Nacheinander der vorgeschla32 33
Ders.: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften (1923), in: ECW 16, S. 75–104, 79. Ders.: Goethe und Platon, in: ECW 18, S. 419.
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genen Konzeption tatsächlich die beargwöhnte Hintertür für den Dualismus sperrangelweit offen bleibt: Das Kunstwerk „entstammt“ der rein geistigen Schau, und diese fordert sinnliche Verkörperung. Das Problem sei abschließend auf den Punkt gebracht: Substantivierungen mit dem Präfix „Ver“ indizieren stets eine Nachträglichkeit der Operation und ihres Effekts: Ganz analog zum Verkleiden, Verhüllen, Verpacken, Verschlüsseln, ja überhaupt zu allem Verwandeln, ist auch das Verkörpern vorgestellt: Ein vorgängig Nichtkörperliches wird nachträglich mit einem Körper ausgestattet oder umgeben. In der Rede von Verkörperung ist so mit der Vorgabe einer dualistischen Gegenüberstellung von Körper und Geist zugleich auch der Primat des Geistigen behauptet. Durch diesen Hinweis soll die Rede von der Verkörperung nicht gänzlich verworfen werden. Wo sie genau das besagt, was sie besagen kann, ist sie sicher angemessen. Es kommt immer darauf an, wovon man ausgeht und worauf man hinauswill. Wo es theologisch um das Verhältnis eines Gottes als geistigen Wesens zu seiner Welt geht, mag die im Verkörperungsbegriff implizierte Nachträglichkeit ihren natürlichen Ort haben.34 Auch kann an der Stelle etwa, an der Cassirer Goethes Kritik an Platon auslegt, deutlich werden, dass in der Insistenz auf Verkörperung dort schon viel gewonnen sein kann, wo es prima facie darum geht, überhaupt den Verdacht gegen das Sinnliche auszuräumen, die Notwendigkeit seiner Beteiligung einsichtig zu machen. Doch wo es um die Überwindung des cartesischen Dualismus geht, ist darin allenfalls eine vorläufige Etappe zu sehen. Will man Ernst Cassirers Systementwurf in seinem systematischen Grundlegungsanspruch und seinem ganzen Umfang gerecht werden, so ist die Einsicht vordringlich: Mit der Absicht der Überwindung des Dualismus, deren stärkstes Dokument die Explikation zur ursprünglichen Leib-Seele-Einheit als Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation ist, soll auch jene Konzeption des Geistes, der ‚über den Wassern schwebt‘ und sich den Stoff seiner Gestaltung allemal nachträglich sucht, gerade verabschiedet werden. „Der Gehalt des Geistes erschließt sich nur in seiner Äußerung; die ideelle Form wird erkannt nur an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen, deren sie sich
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Insofern liegt hier endlich einmal ein einleuchtendes Beispiel vor für das, was Nietzsche meint, wenn er sagt: „Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben“ (Friedrich Nietzsche: Götzendämmerung, Vernunft, 5, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 6, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin/New York 1999, S. 78).
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SYMBOLISCHE FORMUNG ALS „VERKÖRPERUNG“?
zum Ausdruck bedient.“35 Es liegt in diesem Zusammenhang nahe, dass Cassirer sich, wo er das ganze Gebiet der Kultur skizziert, ausdrücklich auf Hegels Begriff des objektiven Geistes bezieht: „Die Sprache, der Mythos, die theoretische Erkenntnis: sie alle werden hier als Grundgestalten des ‚objektiven Geistes‘ genommen“.36 Für die Konzeption des Geistes, wie sie der Bestimmung der symbolischen Form zugrunde liegt, wenn unter einer symbolischen Form jede Energie des Geistes verstanden werden soll, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird, ist es bezeichnend, dass Cassirer die „Energien des Geistes“, von denen hier die Rede ist, am Ende seines Aufsatzes auch „Energien des Bildens“ nennt.37 Auch in dieser Formulierung ist in nuce die systematische Absicht enthalten, die Cassirers Werk nachdrücklich dokumentiert: Der Begriff des Geistes als des bildenden Prinzips der Kultur erlaubt es gar nicht, diesen anders zu denken als im Akt und Prozess der energetischen Gestaltung. Darin liegt die Pointe nicht nur der programmatischen Auffassung der Philosophie der symbolischen Formen als einer „‚Formenlehre‘ des Geistes“,38 sondern auch jener Aufforderung, in den Werken der Kultur die „ursprüngliche[n] Tat[en] des Geistes“ zu erkennen.39
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Cassirer: Die Sprache (wie Anm. 6), S. 16. – Genau genommen schleicht sich auch an dieser im ersten Zugriff gelingenden Formulierung in der Vorstellung, dass die ideelle Form sich eines sinnlichen Zeichens bediente, der Dualismus doch wieder ein. Ders.: Phänomenologie der Erkenntnis (wie Anm. 7), S. 54. Ders.: Der Begriff der symbolischen Form (wie Anm. 32), S. 104; vgl. auch die Rede von „Funktionen und Energien des Bildens“, ECW 11, S. 49. Ders.: Die Sprache (wie Anm. 6), VII. Ebd., S. 9.
Christian Möckel
DA S Z U SA M M E NSP I E L VO N KÖR P E R , GEF Ü HL U N D SY M BOLLEIST U NGEN BE I E R NS T C A S SI R E R Versuch einer Annäherung
Ernst Cassirer wird gelegentlich der Vorwurf gemacht, dass er in seiner Philosophie der symbolischen Formen auf idealistische Manier den Geist, die geistigen Funktionen verselbständige und deren materiellen Träger – die biologischen Strukturen – zumindest unterbelichtet lasse. Für solche kritischen Anmerkungen gibt es durchaus eine Reihe von guten Gründen, auf die hier nicht eingegangen werden soll.1 Für meinen Beitrag habe ich mir deshalb die Frage vorgelegt, ob und welche Belege sich im Werk Cassirers dafür finden lassen, dass er das Zusammenspiel bzw. die Bezüge von Biologischem (Körper), Psychischem (Gefühl) und Geistigem (Symbolleistungen) dennoch im Blick hat. Ich muss bekennen, dass sich die Recherche schwieriger als erwartet gestaltet hat und dass ich als Ergebnis lediglich mit dem Versuch einer Annäherung an die Beantwortung dieser Frage aufwarten kann, da dieser Dreiklang von Körper, Gefühl und Symbolleistungen, und damit auch die Modalitäten einer Rückbindung des Geistigen und Psychischen an das Biologische, für Cassirer offenbar kein explizites Thema seines Philosophierens bilden.2 Dennoch lassen sich Ansätze einer Thematisierung des Problems benennen, was im Folgenden geschehen soll. Diese Ansätze wiederum finden ihre Schranken bzw. Grenzen in bestimmten methodologischen Überzeugungen Cassirers. Zum einen befasst sich
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Christian Möckel: Kulturelle Existenz und anthropologische Konstanten. Zur philosophischen Anthropologie Ernst Cassirers, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 3/2 (2009), S. 209–220, 212 ff. Auf die Rolle des Gefühls in der Form des Gemeinschaftsgefühls für Cassirers politische Philosophie habe ich in einem früheren Beitrag hingewiesen: Christian Möckel: Das Lebensgefühl in der politischen Philosophie Ernst Cassirers. Am Beispiel des Gemeinschaftsgefühls, in: Jan-Christoph Heilinger/Colin G. King/Héctor Wittwer (Hg.): Individuum und Selbstbestimmung. Volker Gerhardt zum 65. Geburtstag, Berlin 2009, S. 167–182.
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seine philosophische Analyse in der Regel nicht mit Kausalzusammenhängen, sondern vielmehr mit dem phänomenologischen Bestand der Sachverhalte. Es geht ihm also von vornherein nicht um das Aufweisen möglicher kausaler Abhängigkeiten zwischen Körperlichkeit, Gefühlen und Symbolvermögen, sondern bestenfalls um das Auffinden von Entsprechungen, Korrelationen. Zum anderen interessiert sich die Philosophie der symbolischen Formen nicht für die Einheit der kulturellen Erzeugnisse, der Kulturgüter, sondern für die des „schöpferischen Prozesses“ bei ihrer Erschaffung. Aus diesem Blickwinkel, der auf die Einheit verschiedenster Sinnrichtungen des Bildens bzw. bildender geistiger Energien aus ist, scheint die Körperlichkeit des Menschen, seine biologische Dimension, weitgehend irrelevant zu sein. Und schließlich haben wir uns immer zu vergegenwärtigen, dass Cassirer eine einfache Übertragung biologischer Begriffe und Theorien auf psychologische, geistig-kulturelle oder soziale Sachverhalte ebenso als problematisch begreift und abweist wie eine unreflektierte Anwendung geistes- und kulturwissenschaftlicher Begriffe auf Psychisches und Biologisches.3 Er spricht zwar selbst immer wieder von Begriffs- und Formanalogien, betont dabei aber stets den als ob-Charakter dieser Analogien.4 Ansätze einer Thematisierung des genannten Zusammenspiels von Körper, Gefühl und Symbolleistungen sollen anhand folgender Problemfelder in Cassirers Philosophieren angedeutet und aufgewiesen werden: 1. anhand des Einflusses von pathologischen Erkrankungen auf das Symbolvermögen, 2. der Rolle des Körperlich-Leibhaften bei der Bildung von Kategorien und Anschauungsformen im mythischen Denken, 3. den philosophisch-phänomenologischen Überlegungen zur Auszeichnung der kulturellen Symbolleistungen gegenüber ihrer naturhaften Vorform im Tierreich.
1. Der E i n f luss von pat holog isc hen Erk ra n k u ngen au f d a s Sy mb olver mögen Hierbei stütze ich mich insbesondere auf Textstellen in Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ‚Wiener Kreis‘ und Phänomenologie der Erkenntnis (Philosophie der symbolischen Formen, 3. Teil: 1929). Cassirer bemüht ab 1925 Erkenntnisse der Sprachpathologie zur Aphasie, aber auch Erkenntnisse zur – optischen und taktilen – Agnosie und zur Apraxie (Pathologie des Handelns), um Form und Bedeutung von geistigen Symbolisierungsleistungen –
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Christian Möckel: Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie. Ernst Cassirer über methodologische Analogien, in: Birgit Recki (Hg.): Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens, Hamburg 2011 (Cassirer-Forschungen 15), S. 139–163, 141 f., 156 ff. Ebd., S. 143.
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d. h. das Vermögen der kategorialen Formung, der Repräsentation etc. – an Hand ihres krankheitsbedingten Verlustes bzw. ihrer Einschränkung zu verdeutlichen.5 In diesem speziellen Kontext wird ein Zusammenhang zwischen den – verlustig gegangenen oder stark eingeschränkten – Symbolisierungsleistungen und körperlich-leiblichen Zuständen (Gehirnschäden, Erkrankungen durch Verletzungen) hergestellt, wobei das durch die leiblichen Schädigungen in Mitleidenschaft gezogene Nervensystem sozusagen ein mittleres Glied bildet. Die verschiedenen Formen von Pathologien, die Cassirer mit Hilfe Kurt Goldsteins studieren kann, gehen nämlich häufig auf körperliche – und dadurch verursacht nervliche – Verletzungen im Weltkrieg 1914/18 zurück. Cassirer berichtet z. B. von einer partiellen Amnesie der Farbennamen, die auf eine „Kopfverletzung“ beim Kranken zurückzuführen sei,6 die wiederum durch eine „Kopfschußverletzung […] bedingt war“.7 Einem anderen Kranken machte es eine „halbseitige Lähmung“ unmöglich, „die rechte Hand zu bewegen“, was über den Verlust bestimmter Fähigkeiten der Symbolisierung zu der Sprachstörung führte, keine Sätze bilden zu können, in denen die unwirkliche rechte Hand eine Rolle spielte.8 Aussagen des Patienten über die gesunde linke Hand waren dagegen von der Störung nicht betroffen. Dieser Fall verweist darauf, dass nicht unbedingt das Symbolvermögen als solches in Gänze betroffen sein muss. So gibt Cassirer auch Hugo Liepmanns Erkenntnis wieder, dass z. B. bei apraktischen Erkrankungen die Störung nicht im geistig-symbolischen Prozess selbst, sondern „vielmehr in der Übertragung desselben auf das Motorium der rechten Hand liegen“ müsse, dass, weil de facto nur ein Gliedmaß gestört ist, folglich „der gesamte sensomotorische Apparat eines bestimmten Einzelgliedes von dem seelischen Gesamtprozess ‚abgespalten‘ sein kann“.9 In diesen und ähnlichen Passagen sehe ich in Cassirers Beschreibungen körperliche, nervliche, wahrnehmungs- und gefühlsmäßige, symbolisierende und sprachlichsymbolische Aspekte in einen Zusammenhang, in eine Entsprechung gebracht, ohne dass daraus jedoch bereits eine eigene konsistente philosophische Theorie erwüchse. 5
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Ernst Cassirer an Kurt Goldstein, 5.1.1925, in: ders.: Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 18: Ausgewählter wissenschaftlicher Briefwechsel, hg. v. John Michael Krois unter Mitarbeit von Marion Lauschke/Claus Rosenkranz/Marcel Simon-Gadhof, Hamburg 2009, S. 70. Im Folgenden zitiert als ECN mit Band und Seitenangabe. Ders.: Der Begriff der Form als Problem der Philosophie, in: ECN 4, S. 271–286, 279. Ders.: Philosophie der symbolischen Formen, 3. Teil, Phänomenologie der Erkenntnis, Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 13, hg. v. Birgit Recki, Hamburg 2002, S. 274. Im Folgenden zitiert als ECW mit Band und Seitenangabe. Ders.: Über Sprache, Denken und Wahrnehmung, in: ECN 4, S. 287–314, 307. Ders.: Phänomenologie der Erkenntnis, ECW 13, S. 305.
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Cassirer gibt zudem zustimmend die Ansicht Goldsteins wieder, dass erst dann, „wenn durch sorgsame Einzelbeobachtung die spezifische Form der Erlebnisse eines Kranken festgestellt“ ist, „die Frage aufgeworfen und beantwortet werden [könne], welche materiellen Vorgänge im Zentralnervensystem einer bestimmten krankhaften Änderung entsprechen“.10 Obwohl er es hier ganz offensichtlich vermeidet, von einem kausalen Zusammenhang zu sprechen, hält Cassirer es doch zumindest für angebracht, nach den materiellen Entsprechungen psychischer und intellektueller Vollzüge zu fragen. Auf dieses Problem kommt er ein zweites Mal zurück, wenn er Adhémar Gelb und Goldstein paraphrasierend feststellt, dass „eine physiologische Erklärung eines bestimmten Krankheitsbildes“ zwar möglich sei, allerdings eben erst dann, wenn „die phänomenologische Analyse bis ins einzelne durchgeführt“ ist, d. h., wenn man sich die Frage gestellt und beantwortet habe, „wie das pathologisch veränderte Erlebnis des Kranken tatsächlich beschaffen sei“. In diesem Zusammenhang bemerkt er ausdrücklich, dass diese Frage zunächst „unabhängig von allen Hypothesen über den ‚Sitz‘ der Erkrankung und ihre Ursachen“ geklärt werden müsse.11 Mit anderen Worten, die kausale Frage nach der physiologischen Ursächlichkeit der Erkrankung, die die Symbolleistungen einschränkt oder aufhebt, bildet weder für den Philosophen Cassirer noch für die forschenden Ärzte Gelb und Goldstein eine primäre Fragestellung, interessieren sie sich doch vor allem für diese Leistungen – z. B. das Vermögen, ideelle Sinneinheiten zu bilden, in denen die einzelnen Sinnfragmente zusammengeschlossen werden – in ihrer vollen und eingeschränkten Form selbst.12 Der Verlust des symbolisierenden Sprachvermögens bedeutet in der Regel auch einen Eingriff in die sinnliche Vorstellungs- und Anschauungswelt, d. h. in die Formen der gegenständlichen Auffassung des Kranken, die auf der Wahrnehmung aufruht.13 Sprachstörungen, so notiert Cassirer in seinen nachgelassenen Papieren, „greifen auf alle mittelbaren und symbolischen Operationen über“.14 Die Wahrnehmungsvollzüge – und damit auch das Anschauungs10 11 12 13
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Ders.: Über Sprache, Denken und Wahrnehmung, in: ECN 4, S. 297. Ders.: Phänomenologie der Erkenntnis, ECW 13, S. 273. Ebd., S. 275. „Wo die Kraft der Nennfunktion, auf Grund pathologischer Störungen, erlahmt – da scheint alsbald auch das Band der gegenständlichen Einheit sich wieder zu lockern. An Stelle dieser Einheit tritt die Vereinzelung; an Stelle der kategorialen Ordnung und Geschlossenheit tritt die bunte, aber beziehungslose Fülle. […] In all dem stellt sich die innere Verwandtschaft dar, die zwischen einer bestimmten Form und Grundrichtung des sprachlichen Verhaltens und gewissen Formen der gegenständlichen Auffassung besteht: die Abwandlung des einen Moments schließt die des anderen in sich.“ Ders.: Vortrag Symbolproblem, in: ECN 4, S. 85– 106, 98. Ders.: Praegnanz, symbolische Ideation, in: ECN 4, S. 51–84, 67.
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vermögen – verlieren infolge der Sprachstörungen einen Teil ihrer sie strukturierenden Symbolwerte. Es besteht für Cassirer nämlich nachweislich „eine ständige Wechselbeziehung zwischen Sprachstruktur und Wahrnehmungsstruktur“.15 Mehr noch, mit den Sprachstörungen treten nicht nur Störungen der Wahrnehmungs- und Anschauungswelt (Agnosie), sondern auch solche des Handelns (Apraxie) ein.16Als bezeichnend an dem Phänomen des pathologisch bedingten Verlustes bestimmter symbolisierender Fähigkeiten sieht Cassirer die empirisch gut belegte Tatsache an, dass der an einer der Pathologien leidende Kranke sich im gegenwärtigen Dingraum, d. h. im alltagspraktischen Leben, im – wie Cassirer dies unter Bezug auf Goldstein auszudrücken pflegt – „primitiven lebensnäheren Verhalten“17 meist völlig normal bewegt. Der Kranke besitze lediglich keinen freien Spielraum mehr, der ins Nichtgegenwärtige greift, was auf einen Mangel an produktiver Einbildungskraft schließen lässt.18 Diesen Gedanken entwickelt Cassirer im Versuch über den Menschen (1944) noch einmal von der anderen Seite. Er führt hier aus, dass der Kranke, der in Folge „einer Gehirnverletzung“ den „Verlust oder eine schwere Beeinträchtigung des Sprachvermögens“ zu beklagen hat, infolgedessen eine Veränderung des „gesamten Charakter[s] [sein]es Verhaltens“ erlebt. Dieses krankhafte Verhalten erweise sich nunmehr als auf „seine biologischen Bedürfnisse und praktischen Interessen beschränkt“.19 Mit anderen Worten, er vermag nicht – mehr – in der Sphäre des bloß Möglichen zu leben, sondern nur noch in der konkreten Sphäre des Wirklichen.20 Was Cassirer hier zum Ausdruck bringen will, ist die Überzeugung, dass dem an einer der genannten Pathologien Erkrankten der kulturelle Charakter, die kulturelle Schicht des Lebens ganz oder teilweise abhanden gekommen ist. Die Erkenntnis, wonach der pathologisch bedingte Verlust der Symbolisierungsleistungen die „Grenzlinie“ zur „biologischen Sphäre“ „wieder […] verwischen“ kann und ein Verhalten nahe legt, wie es im Grunde für die „biologische Schicht“ normal ist, d. h. wie es den Handlungsbildern im Tierreich entspricht, hatte Cassirer bereits in der Phänomenologie der Erkenntnis (1929) ausgesprochen. Das pathologisch eingeschränkte oder veränderte Vorstellen und Handeln vermag seine festen, starren Bahnen nicht mehr zu verlassen, der
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Ders.: Vom Einfluss der Sprache auf die naturwissenschaftliche Begriffsbildung, in: ECN 4, S. 107–150, 112. Ders.: Phänomenologie der Erkenntnis, ECW 13, S. 294. Ders.: Der Begriff der Form als Problem der Philosophie, in: ECN 4, S. 280; siehe auch: ders.: Phänomenologie der Erkenntnis, ECW 13, S. 274, 280 f. Ders.: Über Sprache, Denken und Wahrnehmung, in: ECN 4, S. 307 f. Ders.: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Frankfurt/M. 1990, S. 70 f. Ebd., S. 95.
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für den „Gang der objektiven Kultur“ bezeichnende „Fortgang ins ‚Ideelle‘“ (Zukünftige, Vermittelte) ist gestört oder unmöglich, der Weg vom Greifen zum Begreifen ist umgekehrt worden.21 „Es scheint, als wäre der aphasische oder apraktische Kranke auf diesem Wege [der Kultur], den die Menschheit sich langsam und stetig bahnen musste, um eine Stufe zurückgeworfen“,22 als sei er aus der Mittelbarkeit kultureller Existenz in die Unmittelbarkeit biologischen Lebens zurückgestoßen worden. Kurzum, sein Verhalten hat das ideelle Symbolvermögen eingebüßt und ist aus den Handlungsbildern „der Welt der menschlichen Kultur“, des „objektiven Geistes“ in die der „organischen Welt“, des vegetativen (naturhaften) „Lebens“ zurückgefallen.23 In diesem Kontext will Cassirer den Begriff der Lebensnähe, des praktischen Lebens, des alltäglichen Lebens mit einem Lebensbegriff verbunden wissen, der „die Gesamtheit der organisch-vitalen Funktionen zusammenfasst“ und der diese Funktionen „den spezifisch-geistigen Funktionen gegenüberstellt“.24 Er begreift bekanntlich die symbolischen Formen als letztlich geistige Gebilde, denen allerdings Lebendigkeit eignet, da das Leben, „lange ehe es in diese Formen übergeht, in sich selbst zweckvoll gestaltet, […] auf bestimmte Ziele gerichtet [ist]“.25 Jede dieser symbolischen Formen „baut ein eigenes, ein intelligibles Reich innerer Bedeutsamkeit auf, das sich von allem bloß zweckhaften Verhalten innerhalb der biologischen Sphäre klar und scharf abhebt“.26 Bei den an Aphasie, Agnosie oder Apraxie Erkrankten ist für Cassirer, wie bereits erwähnt, diese Grenzlinie zwischen den beiden Welten wieder verwischt, nicht zuletzt deshalb, weil die Bewusstseinsform des Menschen, die an die Zeitform seiner Erlebnisse gebunden ist, um die Entdeckung ihrer drei zeitlichen Dimensionen als einheitliches Ganzes gebracht ist und erneut der Bindung an 21
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„In zwiefacher Weise macht sich, wenn wir dem Gange der objektiven Kultur folgen, diese Bestimmung, dieser Fortgang ins ‚Ideelle‘ geltend. Die Form des sprachlichen Denkens und die Form des Werkzeug-Denkens scheinen hier nahe miteinander verknüpft und aufeinander angewiesen zu sein. […] Das pathologische Verhalten hat gewissermaßen die Kraft des geistigen Impulses eingebüßt, der den Geist immer wieder über den Kreis des unmittelbar Wahrgenommenen und des unmittelbar Begehrten hinausdrängt.“ Ders.: Phänomenologie der Erkenntnis, ECW 13, S. 321. Ebd. Ebd., S. 322. „Gelb und Goldstein haben das Verhalten der Kranken, um es von dem kategorialen Verhalten der Gesunden zu unterscheiden, als das primitivere und lebensnähere bezeichnet. Und dieser Ausdruck der Lebensnähe trifft in der Tat zu, wenn man unter dem Begriff des Lebens die Gesamtheit der organisch-vitalen Funktionen zusammenfasst und diese den spezifisch geistigen Funktionen gegenüberstellt.“ Ebd., S. 319. Ebd. Ebd., S. 320.
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die sinnliche Gegenwart unterliegt. Mit dem Verlust der Kraft des Rück- und des Vorblickes sind dem Kranken geistige Fähigkeiten wie die der Reflexion, die ihn als Menschen von der gesamten übrigen belebten Natur und ihren seelischen Fähigkeiten, denen Unmittelbarkeit eignet, unterscheiden, abhanden gekommen.27 In der Folge erweist sich die auf Grund aufkommender repräsentativ-vorstellender geistiger Leistungen eingetretene emanzipative Errungenschaft, die die „ausschließliche Herrschaft“ der „Präsenz der Dinge“ über den Menschen abgelöst und damit auch die „ausschließende Herrschaft“ des Körperlichen, Leibhaften über seine Gefühle und Wahrnehmungen aufgehoben hatte, als wieder rückgängig gemacht.28
2. D ie Rol le des Kör p erl ic h-L eibl ic hen b ei der Bi ldu ng der K ategor ien u nd der A nsc hauu ngsfor men des my t h isc hen Den kens Bei der Präsentation der Rechercheergebnisse zu diesem Punkt stütze ich mich insbesondere auf den 2. Teil der Philosophie der symbolischen Formen: Das mythische Denken (1925). Cassirer sucht den Mythos, die mythische Bewusstseins- bzw. Denkform, nicht ausgehend von ihren diversen Vorstellungsinhalten zu erklären, sondern ausgehend von dem, „was unmittelbar im Tun des Menschen und in seinem Affekt und Willen lebendig ist“, und das meint er in den Riten vorzufinden.29 In die rituellen Handlungen, die Teil des realen Lebens und keineswegs lediglich Schauspiele sind, gehen die Menschen samt ihrer Körperlichkeit bzw. Leiblichkeit ein, aber eben auch mit ihren Emotionen und Trieben. Im mythischen Bewusstsein wird der „bloßen sinnlichen Materie“, aus der z. B. die Sprache sich bildet, eine eigentümliche Macht über die Dinge (Schreien, Rufen, Singen) zugeschrieben.30 Auf den „untersten Stufen des mythischen Denkens“, so Cassirer, ist das Weltbild, in dem ein eigener, eigentümlicher Kausalbegriff vorherrscht, „noch ganz dem unmittelbaren Sinneseindruck hingegeben und vom elementarsten sinnlichen Triebleben beherrscht“, auch wenn es bereits eine „Art Gliederung“, d. h. Ansätze von Symbolisierungsleistungen aufweist.31 Die qualitative Grundtrennung des Mythos ist die von Alltäglichem, Gewöhnlichem, Empirischem und Heiligem, Ungemeinem, Nichtprofanem, wobei diese Scheidung keine räumliche, sondern eine der Blickrichtung ist.32 Sie 27 28 29 30 31 32
Ders.: Vortrag Symbolproblem, in: ECN 4, S. 90 f. Ebd., S. 89. Ders.: Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil, Das mythische Denken, ECW 12, S. 47. Ebd., S. 49 f. Ebd., S. 76. Ebd., S. 89.
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macht eine zentrale Form des Mythischen aus: Der „bloße tierische Schrecken [ist] zum Staunen“ geworden.33 In den Tabu-Vorschriften, die Cassirer als das „entscheidende System sozialer Einschränkung und Verpflichtung“ gelten, das – als „Eckpfeiler der gesellschaftlichen Ordnung“ – dem Menschen in totemistischen Gemeinschaften das Leben und Überleben ermöglicht hat,34 legen sich „der Wille und der unmittelbar sinnliche Trieb“ eine erste Beschränkung auf, worin der Keim der „primären mythischen Formgebung“ zu erblicken sei.35 Die Studien zum Mythos als ursprünglicher symbolischer Form der Kultur bzw. zu den Stufen ihrer Entfaltung bieten Cassirer vielfach Gelegenheit, über das Zusammenspiel von Emotion, Gefühl, Ausdruck und geistigen, symbolisierenden Leistungen nachzudenken. Gleichzeitig ist die Aufmerksamkeit aber auch auf die Tatsache gelenkt, dass in diesem Zusammenhang ebenfalls Körper und Leib des Menschen ins Spiel kommen. Auf die vielleicht offensichtlichste Weise geschieht dies, wenn von der mythischen Raumanschauung die Rede ist. Diese, als „eigenartige Mittelstellung zwischen dem sinnlichen Wahrnehmungsraum [d. h. dem Seh- und Tastraum] und dem Raum der reinen Erkenntnis, dem geometrischen Raum“, begriffen, sei dennoch vor allem dem Wahrnehmungsraum mit seinen Hauptrichtungen vorn-hinten, oben-unten und rechts-links nahe verwandt.36 Jedes Hier und Dort besitze als ein Element dieses Raumes „eine eigene ‚Tönung‘“, einen „besonderen auszeichnenden Charakter“, der „als solcher unmittelbar erlebt wird“.37 Mit jeder dieser unvertauschbaren Richtungen der mythischen Raumanschauung ist ein „spezifischer mythischer Gefühlswert verknüpft“, der auf den „eigentlichen mythischen Grundakzent, die Scheidung des Profanen und des Heiligen“, zurückgeht. Diese räumlichen Scheidungen sind, so Cassirer, „schon im primären Sinnesausdruck vollzogen“, was wiederum heißt, dass sie, die primären Scheidungen, „bereits […] durch bestimmte Akte“ der „mythischen […] Apperzeption“ hindurchgegangen sind.38 Mit anderen Worten, in der mythischen Anschauung begrenzt sich der Mensch als Wollender und Handelnder in seiner unmittelbaren Stellung zur Wirklichkeit, indem er die Welt räumlich – und zeitlich – gemäß der mythischen Grundscheidung und den räumlichen Grundrichtungen gliedert und da33 34 35 36
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Ebd., S. 93. Ders.: Versuch über den Menschen (wie Anm. 19), S. 164 f., 169. Ders.: Das mythische Denken, ECW 12, S. 93 f. Ebd., S. 98 f. Der mythische Raum erweist sich im Unterschied zum „Funktionsraum der reinen Mathematik“ als „Strukturraum“. Dieser ist von einem „rein statischen Verhältnis des Inneseins und Innewohnens“ der Elemente im Ganzen charakterisiert. In jedem Element findet sich die Struktur (Form) des Ganzen wieder. Deshalb ist das Kleinste mit dem Größen identisch. Vgl. ebd., S. 104. Ebd., S. 99 f. Ebd., S. 111.
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mit bestimmte Schranken aufrichtet, „an die sein Gefühl und sein Wille sich binde[n]“.39 Obwohl die mythische Raumanschauung mit ihrem Grundscheidungsakzent profan-heilig auf einem „individuell-gefühlsmäßigen Grund“ ruht,40 trete „doch selbst in ihr eine allgemeine Tendenz und eine allgemeine Funktion“, d. h. eine symbolisierende Leistung, heraus.41 So gebe das mythische Bewusstsein im „totemistischen Anschauungskreis“ der ursprünglichen Gliederung „alles Daseins in fest bestimmte Klassen und Gruppen“ einen „räumlichen Ausdruck“, d. h. gliedert es nach „den großen Haupt- und Richtlinien des Raumes“, nach Norden und Süden, Westen und Osten, oberer und unterer Welt und Weltmitte.42 Diese – mit bestimmten Gefühlswerten belegten – räumlichen Unterscheidungen bzw. Grundrichtungen durchziehen das gesamte Leben totemistischer Gemeinschaften: alle Arten und Gattungen des Seins haben irgendwo im Raume ihre Heimat.43 Bei den räumlichen Scheidungen, so Cassirer in Das mythische Denken, geht die „mythische Weltansicht“ vom engsten Umkreis des sinnlich-räumlichen Daseins aus. „In der Betrachtung der Sprache hat sich gezeigt, dass die Ausdrücke der räumlichen Orientierung, die Worte für das Vorn und Hinten, das Oben und Unten der Anschauung des eigenen Körpers entnommen zu werden pflegen: der Leib des Menschen und seine Gliedmaßen ist das Bezugssystem, auf welches mittelbar alle übrigen räumlichen Unterscheidungen übertragen werden“.44 Der Satz endet mit dem Hinweis auf eine Stelle im 1. Teil der Philosophie der symbolischen Formen, in Die Sprache (1923). Dort heißt es u. a., dass in den „Sprachen der Naturvölker“ die Unterschiede des Ortes in Beziehung zur „Unterscheidung der Gliedmaßen des eigenen Leibes [stehen], 39 40
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Ebd., S. 100. Im Mythos ruht „alles Denken wie alles sinnliche Anschauen und Wahrnehmen […] auf einem ursprünglichen Gefühlsgrund“. Differenzierungen des mythischen Anschauungsraumes gehen „zuletzt auf Differenzierungen zurück, die sich in eben diesem Gefühlsgrund vollziehen. Die Orte und Richtungen im Raume treten auseinander, weil und insofern mit ihnen ein verschiedener Bedeutungsakzent sich verknüpft, weil und sofern sie mythisch in verschiedenem und entgegengesetztem Sinne gewertet werden.“ Ebd., S. 113. Ebd., S. 100. Ebd., S. 101 f. Ebd., S. 103. Welche Rolle und Bedeutung Cassirer den totemistischen Klassifikationssystemen im Einzelnen beimisst, so z. B. in Bezug auf den Zusammenhang von Strukturprinzip des Mythos und Strukturprinzip sozialen Lebens, ist noch zu erforschen. Auf jeden Fall sind diese Klassifikations- und Bedeutungssysteme vielfach auch Gegenstand seiner Überlegungen, so wenn er die „Tabu-Vorschriften“ und das „totemistische System“ als zwei das mythische Denken und Leben charakterisierende und realisierende Systeme unterscheidet, die sich nicht aufeinander zurückführen lassen, die nicht auseinander hervorgehen. Ders.: Der Mythus des Staates, Frankfurt/M. 1988, S. 47. Ders.: Das mythische Denken, ECW 12, S. 106.
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die als Ausgangspunkt aller weiteren Ortsbestimmungen dient“.45 Das Bild des eigenen Körpers als in sich geschlossener und gegliederter Organismus dient hier also dem Menschen als Modell, „nach welchem er sich das Ganze der Welt aufbaut“.46 Dieser Gedanke bzw. diese Einsicht bezüglich der Sprachform wird in Das mythische Denken (1925) explizit auf die Form des Mythos bezogen: „Der Mythos geht hier denselben Weg, indem auch er, wo immer er ein organisch gegliedertes Ganze erfassen und mit seinen Denkmitteln ‚begreifen‘ will, dieses Ganze im Bilde des menschlichen Körpers und seiner Organisation anzuschauen pflegt. Die objektive Welt wird ihm erst durchsichtig und teilt sich ihm in bestimmte Bezirke des Daseins ab, indem er sie in dieser Weise analogisch auf die Verhältnisse des eigenen Leibes ‚abbildet‘.“47 Diese „räumlichphysische Entsprechung zwischen der Welt und dem Menschen“ kehre im mythischen Denken in der Anwendung auf viele Daseinskreise wieder, immer wieder erscheinen die Teile der Welt als die Organe des menschlichen Leibes, und umgekehrt. Die von der mythischen Anschauung vorgenommenen Teilungen projizieren „alles Sein auf den menschlichen Körper“ und bilden ihn in diesen Teilungen ab.48 Selbst noch Kant habe in seinem Aufsatz Was heißt: sich im Denken orientieren? gezeigt, dass „alle Orientierung mit einem sinnlich gefühlten Unterschied […] der rechten und linken Hand beginnt“ und dass diese „‚anthropomorphen‘ Bestandteile“ später vom Denken ausgemerzt würden.49 Auf die Rolle des Leibes kommt Cassirer auch anlässlich der Überlegungen zum Verhältnis von Magie und Technik zu sprechen, insbesondere im Zusammenhang mit Ernst Kapps Terminus der Organ-Projektion.50 Moderne Berufstätigkeiten, Maschinen, Waffen und Instrumente ließen sich, so Kapp, auf Momente der natürlichen Gliederung des menschlichen Leibes zurückführen. Der technische Mechanismus diene dann wieder der Erklärung des menschlichen Organismus, des Leibes. Cassirer wiederum stellt eine Analogie (als ob!) zwischen der Organ-Projektion auf den Gebieten der Technik und der 45 46
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Ders.: Philosophie der symbolischen Formen, 1. Teil, Die Sprache, ECW 11, S. 158 f. „In der Tat ist es eine fast durchgehend beobachtete Tatsache, dass der Ausdruck räumlicher Beziehungen aufs engste an bestimmte Stoffworte gebunden ist, unter denen wieder die Worte zur Bezeichnung der einzelnen Teile des menschlichen Körpers den ersten Platz einnehmen.“ Ebd., S. 159. Ders.: Das mythische Denken, ECW 12, S. 106. „Das mythische Denken ergreift eine ganz bestimmte, konkret-räumliche Struktur, um nach ihr das Ganze der ‚Orientierung‘ der Welt zu vollziehen.“ Ebd., S. 110. Ebd. Ebd., S. 253 ff.; siehe auch: Ernst Kapp: Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten. Braunschweig 1877, Kap. II: Die Organprojektion, S. 29–39.
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„Gesamtheit der geistigen Ausdrucksformen“ der Kultur her. Letztere bezeichnet er auch, im Unterschied zu „den unmittelbaren und mittelbaren sinnlichleiblichen Organen“, mit denen es die Philosophie der Technik zu tun habe, als Organe der Sinngebung.51 Die Analogie hinsichtlich der Organ-Projektion behauptet also eine Entsprechung zwischen der Projektion der leiblichen Organe auf die Werkzeuge mit der Projektion der Vorformen der geistig-kulturellen Tätigkeitsformen im vorkulturellen praktischen Leben auf die späteren symbolischen Formen: „Wie er [der Mensch] nur dadurch, dass er werkzeugbildend und werkbildend wird, das Gefüge seines Leibes und seiner Gliedmaßen verstehen lernt, so entnimmt er seinen geistigen Bildungen, der Sprache, dem Mythos und der Kunst die objektiven Maße, an denen er sich misst und durch die er sich als einen selbständigen Kosmos mit eigentümlichen Strukturgesetzen begreift.“52
3. D ie Auszeic h nu ng k u lt u rel ler Sy mb olleist u ngen gegenüb er nat u rha f ten Vor for men Die letzte Gruppe von Ansätzen einer philosophischen Theorie des Zusammenspiels von Körper, Gefühl und Symbolisierungsleistungen stützt sich auf Versuch über den Menschen, Mythus des Staates und ECN 4. Es ist im Beitrag bereits angeklungen, dass Cassirer analog zur These vom Symbolwert der elementarsten Wahrnehmung53 auch bereits Emotionen, Gefühle etc. einer bestimmten symbolischen Formung ausgesetzt sieht. Wenn es z. B. im Versuch über den Menschen heißt, „heftige Gefühlsregungen“ änderten die „Physiognomie“, d. h. die emotionale Tönung, des Wahrgenommenen,54 dann werden die Gefühlsregungen als Ausdrucksleistungen verstanden, d. h. als Leistungen, die einen Symbolwert besitzen.55 Andererseits strebt das mythische Bewusstsein als ein Symbolisierungen leistendes Bewusstsein nicht nur nach einer funktionalen „Einheit des Fühlens“,56 sondern in ihm äußert, artikuliert sich auch immer ein bestimmtes „Lebensgefühl“.57 Mit anderen Worten, ein bestimmtes symbolisierendes Leisten wie dasjenige innerhalb der mythischen Sinnform erweist sich wiederum als gefühlsdurchtränkt. Die Auffassungen Théodule-Armand Ribots und William James’ wiedergebend, beschreibt Cassirer im Mythus des Staates die „Gefühlszustände“, 51 52 53 54 55 56 57
Ernst Cassirer: Das mythische Denken, ECW 12, S. 255. Ebd., S. 257. Ders.: Praesentation und Repraesentation, in: ECN 4, S. 3 ff. Ders.: Versuch über den Menschen (wie Anm. 19), S. 123. Ebd., S. 127. Ebd., S. 129. Ebd., S. 131.
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das „Gefühlsleben“ des Menschen, als einen „direkten und unmittelbaren Ausdruck des vegetativen Lebens“. Mehr noch, es existiere kein „vom Körper unabhängiges Gefühl“.58 Das Gefühlsleben bzw. seine Strebungen und Begierden fänden zumindest beim frühen Kulturmenschen motorische Manifestationen in rituellen Handlungen, d. h. in körperlichen Bewegungen, die wiederum in geistig-kulturellen Leistungen wie in den mythischen Erzählungen eine Interpretation erfahren.59 Andererseits kann für Cassirer der Mythos nur in Rückbindung an das soziale Verhalten, wie es sich u. a. in den Riten äußert, eine theoretische Erklärung erfahren.60 Als kulturelle Erzählung sprieße der Mythos „aus tiefen menschlichen Gefühlen“.61 Obwohl diese Passagen nicht klar aussprechen, inwieweit Cassirer den Feststellungen Ribots und James’ zu folgen bereit ist, lassen sie sich doch so weiterdenken, dass die gefühlsmäßigen, emotionalen Quellen des Mythos letztlich mit körperlichen Zuständen in Beziehung stehen bzw. sich in motorischen Manifestationen des Körpers niederschlagen. Dies bedeutet nach Cassirers Überzeugung aber keineswegs, dass hier die Kategorie der Kausalität notwendigerweise Anwendung finden muss. Wenn er Ausdrucksphänomene und Mythos als symbolischen Ausdruck eines Gefühls deutet, indem dieser das Gefühl „nicht einfach […] fühlt“, sondern intuiert, in ein Bild transformiert62 und ihm – dem Gefühl – damit „eine bestimmte Gestalt“ gibt, oder wenn Cassirer den symbolischen Ausdruck von der Qualität des „natürlichen Ausdrucks“, wie ihn das ganze organisch-beseelte Leben des Tieres kennt, unterscheidet, dann gerät mit dem Leben auch dessen Körper- und Leibhaftigkeit ins Blickfeld. Der symbolische Ausdruck führt, das hebt Cassirer immer wieder hervor, im Endeffekt „weit weg vom […] unbewussten und instinktiven Leben“ des Menschen bzw. seines Vorfahren.63 Das eigentliche Menschsein ist seiner Überzeugung nach nämlich an die „Funktion des symbolischen Ausdrucks gebunden“,64 der Mensch vermag die „Welt des symbolischen Ausdrucks“ nicht mehr zu verlassen, nicht zu transzendieren,65 die alte Unmittelbarkeit des Lebens ist nun unerreichbar. Dieses unbewusste und instinktive Leben war geprägt von Reflexhandlungen, bei denen ein sensorischer Reiz unmittelbar – d. h. reflektorisch – eine motorische Reaktion auslöst, die sich, wie in tierischen Instinkthandlungen, ohne Ideelles,
58 59 60 61 62 63 64 65
Ders.: Der Mythus des Staates (wie Anm. 43), S. 38 f. Ebd., S. 41. Um den Mythos erklären zu können, müssen wir „seine Funktion im sozialen und kulturellen Leben des Menschen“ aufdecken. Ebd., S. 50. Ebd., S. 60. Ebd., S. 60, 66. Ebd., S. 64. Ders.: Vortrag Symbolproblem, in: ECN 4, S. 88. Ders.: Der Begriff der Form als Problem der Philosophie, in: ECN 4, S. 281.
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ohne Bedeutungsmäßiges vollzieht.66 Im symbolischen Ausdruck dagegen bilden Sinn und Sinnliches als Sinnträger einen unauflösbaren Zusammenhang. Das Sinnhafte ist, so Cassirer wortwörtlich, „ein dem Sinnlichen gleichsam Incorporiertes“, es „verkörpert sich“ am psychisch-Sinnlichen, z. B. an der empirischen Wahrnehmung.67 Diesen Tatbestand bezeichnet Cassirer als ein nicht weiter hintergeh- und hinterfragbares Urphänomen.68 Im Versuch über den Menschen konkretisiert er noch einmal seinen Begriff des organischen Lebens unter Berufung auf Jakob von Uexküll insoweit, als er dieses hier als diverse „Funktionskreise“ von Merknetz und Wirknetz verstanden wissen will.69 Dieser Lebensbegriff impliziere, dass es keine „absolute Wirklichkeit der Dinge [gibt], die für alle Lebewesen die gleiche ist“; vielmehr lege der anatomische Körperbau Verhalten und Wahrnehmungsmodus der Innen- und Außenwelt des jeweiligen Organismus fest.70 Bemerkenswert erscheint in dem Zusammenhang die folgende, von Cassirer in dem Zusammenhang getroffene Feststellung: „Offensichtlich stellt die […] [menschliche] Welt keine Ausnahme von den biologischen Grundprinzipien dar, die das Leben aller anderen Organismen beherrschen“,71 allerdings werden diese Grundprinzipien durch das dazwischen getretene Symbolnetz modifiziert. Die Abhängigkeit des Wahrnehmungsmodus vom jeweiligen Funktionskreis, bzw. die Entsprechung zwischen einem bestimmten Modus und einem bestimmten Funktionskreis, verdeutlicht Cassirer auch hier am Beispiel der menschlichen Anschauungsformen von Raum und Zeit.72 Deshalb interessieren ihn hier weniger die Unterschiede im anatomischen Bau zwischen Tieren und Menschen als vielmehr die Unterschiede in der Erweiterung des menschlichen Funktionskreises des Lebens durch mehr oder weniger entfaltete Symbolnetze.73 Über den noch nicht durch echte symbolisierende Leistungen gestalteten organischen Raum, den „Handlungsraum“, seien die jeweiligen Gattungen der Organismen maximal an ihre Umwelt angepasst. Dabei wird das angeborene
66 67
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Ders.: Praesentation und Repraesentation, in: ECN 4, S. 4. Ebd., S. 6. „So bestätigt sich auch hier wieder, wie eng das ‚geistige‘ Moment der Bedeutung an die Art der ‚sinnlichen‘ Ausdrucksmomente gebunden ist – wie beide, erst in ihrer Wechselbestimmung und Durchdringung, das eigentliche Leben der Sprache ausmachen. Dieses Leben ist sowenig jemals ein bloß sinnliches, wie es ein rein geistiges sein kann; es kann stets nur als Leib und Seele zugleich, als Verkörperung des Logos, erfaßt werden.“ Ders.: Phänomenologie der Erkenntnis, ECW 13, S. 124, siehe auch S. 105. Ders.: Praesentation und Repraesentation, in: ECN 4, S. 7 f. Ders.: Versuch über den Menschen (wie Anm. 19), S. 48. Ebd., S. 47 f. Ebd., S. 49. Ebd., S. 72. Ebd., S. 49.
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räumliche Orientierungsvermögen noch „von spezifisch körperlichen Impulsen gelenkt“.74 Doch auch der Kulturmensch bewegt sich in einem Handlungsraum, selbst wenn er diese Orientierung im Unterschied zum Tier erst erlernen muss. Im Mittelpunkt dieser Raumorientierung stehen nach Cassirer dieselben „unmittelbar praktischen Bedürfnisse und Interessen“, die wir bereits bei den an einer Pathologie des Symbolvermögens Erkrankten kennengelernt haben, zusätzlich befrachtet mit „persönlichen oder sozialen Empfindungen, mit emotionalen Elementen“.75 Die für den Handlungsraum charakteristische Anschauung transzendiere keineswegs das ideenblinde „konkrete praktische Leben“,76 vielmehr geht der Mensch hier „vollständig in seinem praktischen Handeln auf“.77 Der Dreiklang von Körper, Gefühl und Symbolisierungsleistungen scheint auch auf, wenn Cassirer über das philosophisch korrekt erfasste Verhältnis von Leib und Seele reflektiert. Für ein Bewusstsein, so heißt es in nachgelassenen Papieren, „‚giebt‘ [es] nicht […] die Welt des ‚Leibes‘ und die der ‚Seele‘ […] als substantiell-geschiedene ‚Teile‘ oder ‚Hälften‘ des Seins“.78 Seele und Leib wären vielmehr als Einheit zu denken, und dies vermag allein ein symbolisches Denken, da der Unterschied von Leib und Seele – als Gegebenheit des Bewusstseins – auf die „Funktion des symbolischen Ausdrucks, der symbolischen Repräsentation“ zurückzuführen sei.79
Resü me e Als resümierende Feststellung bietet sich im Anschluss an die vorgelegten Rechercheergebnisse folgende an: Aspekte des Zusammenspieles von Körper, Gefühl und Symbolisierungsleistungen werden durch Cassirer zu unterschiedlichen Gelegenheiten sehr wohl thematisiert, aber ohne dabei eine konsistente Theorie dieses Zusammenspiels, schon gar keine explizite, zu entwerfen. Eine solche Theorie wäre nach meiner Auffassung erst noch aus dem Cassirer’schen Werk herauszuarbeiten; für völlig aussichtslos halte ich dies nicht, aber auch nicht für ein Unterfangen, dass nur das Offensichtliche zu ergreifen hätte.
74 75 76 77 78 79
Ebd., S. 73. Ebd., S. 76. Ebd., S. 78. Ebd., S. 90. Ders.: Praesentation und Repraesentation, in: ECN 4, S. 16. Ebd., S. 24.
Mats Rosengren
M A K I N G SE NS E – C A S SI R E R , C A S T OR I A D I S A N D T H E E M B O D I E D P RO D UC T I O N O F M E A N I N G
The short essay that follows is a very personal text. It was written to be presented, read out loud, yes, even performed at the very special event of the international conference in memory of John Michael Krois. In print it is of course impossible to emphasize words and make the pauses that might be needed to make present for a reader the implicit connections and ideas that I, with John very much as an absent discussant, had in mind while writing. Still, I hope that some of it may seep through. Can we make sense? Can we stop making sense? And what is the point of trying, when all that is around us melts into air? This last year, I have often asked myself such questions. First during the shattered days just after John’s passing. Then, a bit less desperately, a bit more philosophically perhaps, but always with John and his legacy in mind. It was John, who first in earnest introduced me to the concept of embodiment, and to its many repercussions in contemporary philosophy, art and cognitive science. And it was also John, who encouraged me when I tried to combine Ernst Cassirer’s philosophy of symbolic forms with the political philosophical anthropology of Cornelius Castoriadis, passing through thinkers as different as Ludwick Fleck and Jacques Derrida. In this short speech, I would like to follow in the wake of John’s encouragements and highlight some of the productive connections I see between the work of Cassirer and Castoriadis. Both thinkers have inspired me profoundly when trying to develop a stance of my own within the broad field of philosophical anthropology.1
1
See, for example, my Doxologie – essai sur la connaissance (Paris 2011) and, in Swedish, De symboliska formernas praktiker. Ernst Cassirers samtida tänkande (Göteborg 2010).
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In more ways than one I would like to think of the philosophy of symbolic forms and Castoriadis’s philosophy of human creation and autonomy – with its emphasis on the importance of the magma of social imaginary significations – as complementary and possible to bring into fruitful and mutually beneficiary interaction. I think of Castoriadis’s work, perhaps a bit venturously, as a prolongation and, at some points, a renewal of Cassirer’s philosophical anthropology – even though the former never (to my knowledge at least) referred to the latter. Both of them address and wrestle with the question of human sense-making. Where Cassirer, however, speaks about different symbolic forms as ever developing tools for our human world-making, Castoriadis starts from a slightly different perspective. I will focus on this second perspective, since I know that here in Berlin, and especially at this conference, you are all familiar with Cassirer’s work and thoughts, but perhaps not as much with Castoriadis’s. One way of framing Castoriadis’s perspective and bring out possible connections to Cassirer is to explore two metaphors that arguably structure a large part of his thinking – firstly, the magma of social imaginary significations, secondly the insistence upon the human condition as being downstream.2 Let me start with the second, perhaps less complicated, metaphor. There are, of course, several different senses in which being downstream can be understood as a description of the human historical condition. Most evidently, the notion of downstream evokes a river that flows from a perhaps unknown source or origin towards its goal – perhaps the sea. In this respect, the metaphor tends to guide our thinking about history, about our being in time and in history, towards a conception where time flows, irrevocably, independently, not caring about our human needs and preoccupations, following a pre-established direction, where we are more or less reluctantly washed away with the flow. Ever since Heraclitus, this image has been an integral part of Western thinking, ceaselessly subjected to different interpretations but none the less always implying that change, time and therefore history has a goal, whether we like it or not. We may succeed in building some barriers and, for a time, be able to divert the current from its main course, but in the end the flow of time will carry us all away towards whatever end or telos it itself is approaching. Moreover, the image being downstream tends to evoke a difference in level: What has happened before is upstream; what is to come, what will come to pass, is even further downstream – and we are all familiar with how differences in elevation tend to transform into differences in value. In one interpretation, 2
I have written on this topic before, in a text some drafts of which I had the pleasure to discuss with John. See Mats Rosengren: On Being Downstream, in: Marcia Sá Cavalcante Schuback/Hans Ruin (Eds.): The Past’s Presence. Essays on the Historicity of Philosophical Thought, Huddinge 2005 (Södertörn Philosophical Studies 3).
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the metaphor thus seems to imply that everything was better before the present and will be worse in the future. The water used to be clearer and fresher; after us, it will be even more polluted. Taken in this sense the notion of being downstream is a nostalgic one – expressing a longing for times past and shores long passed, urging us to long for the faraway source or origin whence it all sprang forth. But the value-transformation may work in the opposite direction as well. The trickle, coming from a small source lost in the high, barren wastelands of unfriendly mountains, gains strength, flows more easily, grows mighty and strong as it reaches the valleys and becomes a majestic river in the flatlands, where it unhesitatingly chooses the easiest course towards its goal – the sea, farther away still. If you interpret the metaphor in this way, what is better, richer and more desirable for us humans will constantly be found even further downstream, and the final goal, the sea, even if forever unattainable, will represent an ultimate value, that which gives meaning and purpose to time, history, and to us all. The three interpretations just mentioned all convey what Castoriadis would call a heteronomous notion of man’s place in history and time.3 That is, a notion of history and its laws as something given and immutable, determined once and for all by nature, biology, God, or whatever non-human agent you may choose. Of course, such a notion does not utterly exclude human influence on the events of history, which would be absurd. To a large extent however, it presents history as pre-determined by laws and conditions beyond human reach, laws and conditions that we have to accept and subordinate ourselves to. Castoriadis uses the metaphor to say something quite different.4 His notion of man as always being downstream is more connected to his liking of labyrinths than to flowing rivers. When he says man is always downstream, in water that is always already there, he is thinking of puddles, canals, small lakes and swamps. Rather than a river, the metaphor evokes a marshland where the 3
4
The opposition between autonomy and heteronomy runs as a guiding thread through Castoriadis’s whole work – from his ontological reflections, through his engagement with theoretical biology (mostly in relation to Varela’s work) to the many texts, speeches and seminars he consecrated to the project of autonomy, understood in a political sense. Castoriadis’s usage of autonomy is specific, focusing on autonomy as the recognition of the fact that it is we humans who make and implement the laws (all kinds of laws, from natural to juridical) in and for our world. The spatial limits and the character of this paper does not admit to elaborating this complex idea any further, but please see, for example, Cornelius Castoriadis: La logique des magmas et la question de l’autonomie, in: Domaines de l’homme. Les carrefours du labyrinthe, Paris 1986, p. 481–523. See Cornelius Castoriadis: The Greek Polis and the Creation of Democracy, in: The Castoriadis Reader, ed. and trans. by David Ames Curtis, Oxford 1997, p. 270.
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water flows to and fro, currents are created, grow in strength, diverge, concord, diminish and disappear. Canals go dry, others overflow, puddles stagnate and evaporate, others yet are re-connected to the bigger lakes and so on. No direction is inscribed in this interpretation, no from here to there. In these marshes of history every position we may take or find ourselves in is always already downstream – in the sense that there is always water there before us, filled with toxic or nourishing particles and debris, the leftovers, traces and remains of earlier dwellers and happenings in the marshes. Nor is there a difference in value implied by this interpretation – the different parts of our marshland are just different, other in relation to each other, more or less suitable for different purposes, nothing more. So we humans have to make the best of our situation – using the waters we find ourselves in, and the contents thereof, in order to make the best sense we can of ourselves and our world. And here is, I think, a confluence between Castoriadis and Cassirer. In the third volume of the Philosophy of Symbolic Forms Cassirer writes: “The symbolic process is like a single stream of life and thought which flows through consciousness, and which by this flowing movement produces the diversity and cohesion, the richness, the continuity, and constancy, of consciousness.”5 And this ever on-going process is radically productive, producing for us humans a human world. In Language and Myth Cassirer approaches the questions that he would eventually develop into the complex of problems relating to symbolic pregnance.6 Using the concept of metaphor to describe the common root of both myth and language, he carefully distinguishes his use of the term from the traditional, rhetorical concept. Within the rhetorical tradition, he writes, metaphor “clearly presupposes that both the ideas and their verbal correlates are already given as definite quantities”.7 Fixed in a vocabulary, they would be waiting to be exchanged for one another in metaphorical transference. Such transposition and substitution, Cassirer continues, “which operates with a previously known vocabulary must be clearly distinguished from that genuine ‘radical metaphor’ which is the condition of the very formulation of mythic as well as verbal conceptions”.8 And, a few lines further
5 6 7 8
Ernst Cassirer: The Philosophy of Symbolic Forms, vol. 3, The Phenomenology of Knowledge, New Haven/London 1957, p. 202. In the third volume of Philosophy of Symbolic Forms, first published in Germany in 1929, that is four years after the original publication (in German) of Language and Myth. Ernst Cassirer: Language and Myth, New York 1953, p. 87. Ibid., p. 87
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down, Cassirer specifies that the working of the radical metaphor is not only a “transition to another category, but actually the creation of the category itself”.9 With this in mind, I would argue that the two thinkers share a fundamentally constructivist position, as well as an insistence upon man’s responsibility and ability to change his own situation. None of them accept to see man as being ruled by destiny.10 To show this, let me move on to the second of Castoriadis’s metaphors, the magma of social imaginary significations. It is intended to elucidate how we humans go about constructing our worlds. It is of course much more complex than the former one, so let me sift out some of its parts. First, imagination – why talk of imaginary significations, and not just significations or symbols? In Fait et à faire from 1997, Castoriadis explains his choice of terms: “The use of the term imagination imposes itself due to the twofold connotation of the word: the connection to image in the most general (not only ‘visual’) sense of the term, that is with form (Bild-, Einbildung, etc.); and its connection to the idea of invention or, better and strictly speaking, to creation. I use the term radical [as in radical imagination] first of all to make a contrast with what I call ‘secondary’ imagination, which is the kind of imagination one usually talks about, a simply reproductive and / or combinatory imagination, and, second, to emphasise the idea that this imagination comes before the distinction between ‘real’ and ’imaginary’ or ‘fictitious’. To put it bluntly: It is because there is radical imagination and instituting imaginary that there is any ‘reality’ at all for us, and reality such as it is.”11 Castoriadis talks about image and imagination where Cassirer would have said symbol and symbolic process, and he claims there is a reality for us because we humans are endowed with the capacity of radical imagination – rather like Cassirer talks about radical metaphor as a precondition for the creation of the category itself, and later argues that the possibility of experiencing a world is dependent upon the symbolic pregnance embodied in our being. And for both of
9 10
11
Ibid., p. 88. I am thankful to John, who pointed me to this passage, helping me in my efforts to understand the notion of symbolic pregnance. For a more sustained argument, please see my article “Radical Imagination and Symbolic Pregnance – a Castoriadis Cassirer Connection” in: John Krois/Mats Rosengren/Angela Steidele/Dirk Westerkamp (Eds.): Embodiment Rediscovered, Amsterdam 2007. Cornelius Castoriadis: Fait et à faire. Les carrefours du labyrinthe, Paris 1997, p. 228. The quote is from the essay Imagination, Imaginaire, Réflexion. The translation is my own.
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them a signification, a symbol or an image is nothing if it is not part of a shared functional form – this is what Castoriadis terms the social, and Cassirer the cultural aspect of our human sense-making. But there is more to Castoriadis’s metaphor – the magmatic aspect. The notion of magma – or rather of magmas – is central in Castoriadis’s conception of how our world is, and of what it consists. For him, magma is an ontological concept, designating a chaotic, not completely determined world order, as opposed to an ontology of totality or of systems of totalities.12 According to Castoriadis, our world is made up of magmas with no common foundation from which they all would spring forth or to which they all could be reduced. Together they form a stratified universe in constant motion. Some of these magmas are dense, slow and sluggish, others liquid, fast and brief as water; all are interacting, no magma being completely reducible to another, but all relating and leaning upon each other. Moreover, a magma may include other magmas – and may be included in others, as for example the multitude of ways of sense-making included in the magma of social imaginary significations. As a metaphor, magma suggests instability, volatility and destructive outbreaks, as well as cooling down processes and the formation of layered new ground. Hence its central function in Castoriadis’s way of conceptualizing and explaining society, thought and the processes of institutionalization. The magma of social imaginary significations is arguably the most encompassing of all magmas. And it is only through the human being’s social existence – that is through the incorporation and eventual transformation of the social imaginary significations of a specific society at a specific time – that she makes sense of herself and her world. Castoriadis’s notion of magma is, I would claim, an original contribution to the general upsurge of constructivist epistemologies of the late 20th century, to the growing interest for embodiment in the cognitive sciences, as well as to contemporary developments within the field of philosophical anthropology. In many ways, the notion of a magma of social imaginary significations is an implicit development and a deepening of the notion of symbolic forms. This becomes clear when we notice that Cassirer talks about symbolic forms, in the second volume of his major work, “not as copies of being but as trends and modes of formation, as ‘organs’ less of mastery than of signification”.13 12
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For Castoriadis’s understanding of chaos as productive see my essay True and False Chaos – the Mythical Origins of Creation, in: Servanne Jolivet/Christophe Premat/Mats Rosengren (Eds): Les émigrés grecs et leur influence sur le débat intellectuel français, Paris 2012. Ernst Cassirer: The Philosophy of Symbolic Forms, vol. 2, Mythical Thought, New Haven/London 1955, p. 217.
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I am convinced that the connections and common force of Castoriadis and Cassirer rest on a specific and profoundly philosophical notion of embodiment. In 2004, when John Krois, Angela Steidele, Dirk Westerkamp and I were preparing the first Ernst Cassirer-conference at the University of Gothenburg, John made the following programmatic statement: “Embodiment encompasses more than the [human] body. The body is some particular living entity whereas embodiment refers to a general process. Images and texts are embodied in media, a measuring system becomes embodied in an instrument, meaning is embodied in signs, habituation is an embodiment of ways of life, etc.”14 And I would hear his voice embodied once again, urging me to keep on, go a bit further, putting everything in its right place – here in this room where he no longer is present to make sense of my words.
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Unpublished. The quote is taken from the folder that we produced to present the conference.
Frederik Stjernfelt
P E I RC E A N D C A S S I R E R – T H E K RO I SI A N C O N N E C T I O N Vistas and Open Issues in John Krois’ Philosophical Semiotics
John Michael Krois was known as a leading Cassirer scholar, one of the world’s primary experts on Cassirer’s thought, and chief initiator of the impressive publication of Cassirer’s considerable Nachlass. Less known is the fact that he was also an important Peirce scholar, finding and cultivating many interesting points of contact between Peirce and Cassirer. I never discussed this explicitly with John Krois, but I think the two of us shared the assumption that what made Peirce and Cassirer and their virtual interconnections so interesting and fertile is that they incarnate, each on their continent, the final development of philosophy before the split between analytical and continental traditions during the first half of the 20th century. Both of them constructed extremely ambitious systems with grand metaphysical ambitions – at the same time as they insisted on the close connectedness of philosophy to the ongoing development of the sciences, taken in a very broad sense – such close connections between sciences and metaphysics being one of the ties often cut in the analytical-continental split. Both of the two could be described as a sort of Neo-Kantians, at the same time vigorously transgressing the Kantian framework in order to found comprehensive theories addressing the general semiotic access to and shaping of the world – Peirce in his pragmatism and semiotics, Cassirer in his doctrine of symbolic forms. Both, furthermore, aimed at founding these ambitious doctrines on systematical ontological assumptions, Peirce in his phenomenological list of categories, Cassirer in his little known theory of Basisphänomene, basic phenomena, which became a special focus field for John Krois. This short paper aims at outlining the basic lines of the connection John Krois established between Peirce and Cassirer as well as investigating some open issues made visible by these connections. Five main themes stand out: that of sign categorizations, that of pragmatism, that of images, that of semiotic evolution and that of embodiment. As Krois emphasized, there are also points where the two of them integrate less easily – here could be mentioned
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FREDERIK STJERNFELT
mythic thought, generality, and the relation between semiotic taxonomy and evolution.
Sig n C ategor i z at ions The sign categorizations of Peirce and Cassirer agree in taking human language to be an important special case – but far from the only or even the central example of sign systems. Furthermore, both agree that signs/symbolic forms do not form an arbitrary external vehicle for thought, rather all thought is in signs (Peirce), or, all thought is mediated by symbolic forms (Cassirer). Both of them also share the idea that there are no simple beginnings, no initial intuitions on which to build semiotic forms. To Peirce, the process of growing reason and the gaining of knowledge is one with the evolution of the universe and thus took its beginnings long before human beings and their civilizations accelerated it.1 To Cassirer, the first meaning-bearing symbolic forms are Ausdrücke, expressions, natural symbolisms – a special interest to Krois – but they are never simple and constitute, from the outset, complex phenomena with a perceptive as well as a meaning aspect, saturated with secondary and tertiary qualities which may only subsequently be distinguished and isolated. At the basis of the two philosophers’ systems, Krois never ceased to emphasize their predilection for triadic distinctions: Peirce’s “triadomany”, as e.g. in the icon-index-symbol distinction, and Cassirer’s Ausdruck-DarstellungReine Bedeutung categories. At the forefront of Krois’ research until his last moment was the critical comparison of Peirce’s basic phenomenological trichotomy of Firstness/Secondness/Thirdness to the overlooked triad of Cassirerian Basisphänomene of life/action/work, developed towards the end of Cassirer’s life and only recently being published. Krois emphasized how early versions of Peirce’s triad built on the three personal pronomina in the singular I-you-he – just like Cassirer’s “basic phenomena” did. Important problems in synthesizing the sign categorizations of the two, however, remain – we shall address a couple of them discussing semiotic evolution below. 1
One of Krois’ favorite Peirce quotations is the brief claim that “the idea of manifestation is the idea of the sign”. A backbone of this short paper will be such preferred quotes in Krois. The context of this quote is as follows: “There is a recognition of triadic identity; but it is only brought about as a conclusion from two premises, which is itself a triadic relation. If I see two men at once, I cannot by any such direct experience identify both of them with a man I saw before. I can only identify them if I regard them, not as the very same, but as two different manifestations of the same man. But the idea of manifestation is the idea of a sign.” Charles Sanders Peirce: Collected Papers, vol. 1–8 (1931–58), ed. by Hartshorne/Weiss/Burks, London 1998. In the following referred to as CP along with volume and paragraph numbers, here CP 1.346.
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Prag mat ism Pragmatism was another connecting line between the two theories investigated by Krois – defining it in terms of embodiment as the “embodiment of thought in signs, of beliefs in habits of action, and the ‘mind’ in the body”.2 Pragmatism, of course, is most often used as the historical classification of the philosophies of Peirce, James, Dewey and their descendants – but Krois made a strong case for the extrapolation of the term to cover also Cassirer, based on his idea of objects as being the “sum of possible and actual effects”3, and his claim that the basic schema of causality is not a primitive of understanding but is derived from action experience with tool use.4 Peirce’s “pragmatic maxim” of 1878, cultivated further during his last large creative burst after the turn of the century, claimed that the meaning of a statement is equivalent to the conceived effects of it, similarly connecting meaning to conception of action – belief as “that upon which a man is prepared to act”.5 A related connecting line is the focus upon functions and relations at the expense of substance in both Peirce and Cassirer. Peirce was, parallel to Frege, the discoverer of polyvalent logic of relations while Cassirer emphasized functional correlations as the center of modern science at the expense of substance. The last of the Aristotelian categories, relation, was thus substituted for the first one, substance, which was relegated to a remote and provincial “Nantucket of thought”.6 Thus, to both Peirce and Cassirer, the relational connecting of objects in action forms the central node of semiotic and scientific meaning and world-orientation – the relation of conceiving and acting to objects being a special case of functional relation.
I mages A central semiotic issue highlighted by John Krois is that of the status of images. The preoccupation with individual images, artists, and currents in art history, on the one hand, and the emphasis on conceptual and linguistically expressed meaning in philosophy, on the other, were, to Krois, significative for an important academic shortcoming: the lack of a proper, general study of images as such. Here, again, the Peirce-Cassirer connection appeared as a pledge:
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John M. Krois: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, ed. by Horst Bredekamp/Marion Lauschke, Berlin 2011, p. 94. Ibid., p. 97 Ibid. Peirce quoting Alexander Bain, “Pragmatism” (c. 1906), CP 5.12. Peirce calling the mere study of non-relational terms in logic “the Nantucket of thought”, in “Evolutionary Love” (1892), CP 6.313.
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Peirce’s basic notion of iconicity as a function in most signs, on the one hand, and Cassirer’s insistence upon the prominence of Ausdrücke, expressions, on the other, most often saturated with image-like qualities. Krois, of course, realized that this connection also involved “the greatest difference”7 between the two: while Peirce’s iconicity notion is very general and, what is more, involved in his semiotic doctrine of the growth of generality in the ongoing research process (as indicated in one of Krois’ favorite Peirce quotations that “individualism and falsity are one and the same”8), Cassirer’s notion of expression is tied to specific, bodily, ritual practices. At the bottom of Cassirer’s whole doctrine of symbolic forms lay the important notion of “symbolic pregnance”, defined in another among Krois’ favorite quotations: “Unter ‘symbolischer Prägnanz’ soll also die Art verstanden werden in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ‘sinnliches’ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ‘Sinn’ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt.”9 A perceptual experience which immediately implies a non-perceptive meaning which it brings to concrete representation (Darstellung in Cassirer implying propositional representation with truth-claims): this convoluted description was the target of Krois’ repeated reconstructions. A recurrent example, in Cassirer, of “symbolic pregnance” was the phenomenon of blushing of shame (Schamröte). It is, of course, an immediate sign of shame in the person blushing and thus permits the immediate inference to the proposition ‘He is shameful’. The redness in the face has immediate Peircean icon qualities – the intensity of the red being similar to the intensity of shame – but the relation between the red color and connected social emotion is not immediately one of similarity.10 The blushing of shame as an example is interesting – it is an invol7 8
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Krois: Bildkörper und Körperschema (as fn. 2), p. 106. The more complete quote goes as follows: “When we come to study the great principle of continuity and see how all is fluid and every point directly partakes the being of every other, it will appear that individualism and falsity are one and the same. Meantime, we know that man is not whole as long as he is single, that he is essentially a possible member of society. Especially, one man’s experience is nothing, if it stands alone. If he sees what others cannot, we call it hallucination. It is not ‘my’ experience, but ‘our’ experience that has to be thought of; and this ‘us’ has indefinite possibilities.” (CP 5.402) Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, vol. 3, Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt 1982, p. 235. Which was probably one of the reasons why Krois tended to reject Peirce’s repeated definition of iconicity as similarity between a sign and its object. Krois pointed to a quote where Peirce says there is no similarity in representing a call for sobriety by means of the picture of a drunkard: “It may be questioned whether all icons are likenesses or not. For example, if a drunken man is exhibited in order to show, by contrast, the excellence of temperance, this is certainly an icon, but whether it is a likeness or not may be doubted.” (CP 2.282) – but immediately after that, Peirce adds that “[t]he question seems somewhat trivial […]” (probably because the ex-
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untary, automatic, bodily sign and by no means subject to human convention (even if the situations prompting it are, of course, subject to such conventions). Still, Cassirer – and Krois – took it as a very basic example of natural symbolism, thereby extending the notion of “symbolicity” beyond the limits of human culture. This idea is in conformity with the Peircean idea that symbols are defined by “habit” – of which human convention forms but one, especially developed type. Expression and interpretation habits acquired in the slow adaptation process of biological evolution (cf. the blushing example) form another type of symbols – for instance the typical perceptual appearance of a species by which it is recognizable for fellow specimens (and for related predator and prey species). Just like blushing of shame, the striping of the zebra or the flashing pattern of a firefly have an immediate iconic quality – and the inference it makes possible to the concept of the zebra species with all its stable characteristics of behavior is a piece of natural symbolism.11 Thus, the core Krois-Cassirer concept of symbolic pregnance embeds iconicity in primitive, symbolism facilitating, stable inferences.
Sem iot ic Evolut ion Cassirer’s concept of evolution is to some degree what could be called secularized Hegelianism – it mainly addresses the development of human civilization through history – finding, below that, an abrupt jump between closed animal Umwelten characterized by signals only and human freedom beyond it.12 Cassirer’s notion of mythic thought is the fertile ground of all such subsequent semiotic development in civilization – characterized by the ubiquity of expressive function and symbolische Prägnanz, emotionality, ritual, built from bodily orientation and action, immediate “moodiness” of the natural symbolism of all things perceived. Only later in the process, the aesthetic aspects of mythic thought may become independent as art and the qualitative individuality of
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ample mentioned can be analyzed as similarity plus the rhetorical device of inversion). Krois, sometimes, took the radical consequence of seeing instead iconicity as pertaining to the material qualities of the sign vehicle, taken in isolation, apart from any connection to the sign object. I do not find this interpretation helpful – in that case, all signs will be iconic per definition. The analysis of the blushing of shame/striping of zebra examples might focus upon the whole of which the appearing sign is a part: the totality of the psychophysical shame event has the blushing as an aspect, just like the whole of two zebras interacting has their striping as an aspect. In that analysis, the blushing and the striping may be seen, immediately, as an icon of the whole. As to Cassirer’s inspiration from von Uexküll and his Umwelt notion, see Frederik Stjernfelt:: Simple Animals and Complex Biology. The Double von Uexküll Inspiration in Cassirer’s Philosophy, in: Synthese 179/1 (2009), pp. 169–186.
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artworks (just like the other symbolic forms only gradually become institutionally independent during civilization). With respect to semiotic evolution, Peirce, by contrast, is a continuist, pan-evolutionist Darwinist seeing no limits between biological evolution and physical evolution “below” it and historical evolution “above” it. An important difference here between the two is the relation between semiotic taxonomy and history. Cassirer’s Ausdruck-Darstellung-Reine Bedeutung triad is, at the same time, conceived of as a schema for large phases in man’s historical development. Expressions are taken to be pre-(or proto-)propositional, pre-conventional, rooted in mythical thought as expressed in bodily action and ritual, only secondarily given shape in linguistically molded mythical thought systems. Propositions are taken to arise only in the Darstellung phase with language, facilitating the distinction between subject and predicate and so introducing the notion of substance – which is, later again, disappearing in favor of Reine Bedeutung which focuses on function only in the development of science. Peirce, by contrast, does not project his semiotic triads onto largescale semiotic development.13 To Peirce, pre-propositional meaning exists only marginally, if at all: “no sign of a thing or kind of thing – the ideas of signs to which concepts belong – can arise except in a proposition; and no logical operation upon a proposition can result in anything but a proposition; so that nonpropositional signs can only exist as constituents of propositions”.14 The Peircean idea that all thought is in signs implies that thought signs are propositions which connect by means of logical inferences15 – even what is usually, by psychologists, called “associations” is analyzed as inferences, importantly broadening the Peircean concept of inference to encompass thought processes using non-linguistic sign types like images, gestures, diagrams, etc. Many Peirce scholars fail to realize the central role that propositions play in Peircean semiotics, and John Krois, too, sometimes tended to underrate the position of logic in Peirce’s framework.16 The important thing to learn from 13
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Krois, however, in some respects follows Terrence Deacon in taking icon-indexsymbol to be projectable onto semiotic development so the three sign functions evolutionarily should appear in that order, with symbols as a special human privilege. An Improvement on the Gamma graphs, 1906, CP 4.583 (my emphasis). “Such being the nature of reality in general, in what does the reality of the mind consist? We have seen that the content of consciousness, the entire phenomenal manifestation of mind, is a sign resulting from inference. Upon our principle, therefore, that the absolutely incognizable does not exist, so that the phenomenal manifestation of a substance is the substance, we must conclude that the mind is a sign developing according to the laws of inference.” (CP 5.313) Even to the extent of claiming that Peirce “broke with the belief that philosophy is based upon logic [...].” Krois: Bildkörper und Körperschema (as fn. 2), p. 101.
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Peirce is not that semiotics transcends logic – rather, the notion of “logic as semiotics” gives Peirce a broader conception of logic than most other logicians, especially with regard to which signs are able to embody logical relations and functions. This is especially important regarding propositions, or “Dicisigns”, in Peirce’s terminology. The proposition “must, in order to be understood, be considered as containing two parts. Of these, the one, which may be called the Subject, is or represents an Index of a Second existing independently of its being represented, while the other, which may be called the Predicate, is or represents an Icon of a Firstness [or quality or essence].”17 Importantly, this analysis immediately includes images: Dicisigns may consist of a picture with a legend, of a diagram with text, of two combined gestures, or even, in some cases, of one picture only – one and the same picture fulfilling the S and P functions of a Dicisign (this requires that the observer is able to recognize the subject of the picture from “collateral knowledge”). If we go back to Cassirer’s much-quoted definition of “symbolical pregnance”, we recall it gave rise to “immediate, concrete Darstellung” (propositional representation). So, it seems, also Cassirer realized that the mythic, emotional, immediate “expressions” incarnated implicit propositions (which, it is true, were only later made linguistically explicit in his second category, Darstellung). If that is the case, we might propose the following welding of the semiotic systems of the two and attempt to translate Cassirer’s categories into Peircean terms:18 – Ausdrücke – implicit propositions – Darstellungen – explicit propositions – Reine Bedeutungen – propositions translated into relational logic
E mb o d i ment Cassirer’s concept of “symbolic forms” emphasizes the external storage of human endeavors embodied in ritual, myth, language, sciences, institutions, books, artworks, technology, etc. – with the corollary that the individual’s access to general insights and actions (and thus transgression of his individuality) goes via his reintegration of such results of civilization. This constitutes an early version of what is now called the “extended mind” – the dependence of individual minds on external storing and action technologies for its functioning.
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Syllabus, 1902 (CP 2.312). We do not, however, thereby solve the evolutionary issue of projectability of semiotic taxonomy on history.
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As Krois realized, Peirce has a partially similar doctrine of the embodiment of signs: reasoning is supported by diagrams with which we interact by means of (bodily or imagined) experimentation. Diagrams comprise graphs, maps, algebras, schemas, linguistic syntax ... – all of them sign structures that offer experiments as a road to gaining information. Diagrammatically represented knowledge provides experimental devices, and, when externalized, expand their scope considerably as well as they become collectively accessible by many subjects. The issue of embodiment – as investigated during recent decades of cognitive science – was a special field for John Krois’ unification of Peirce and Cassirer. Peirce insisted that universals must be conceivably embodied in facts, ideas in signs, and signs in replicas – while Cassirer added an emphasis on the specificities of the human body, taken as a basic reference system for the construction of symbolic forms. Krois’ notion of embodiment is wide and encompasses both the necessary incarnation of meaning in symbols – the most widespread embodiment notion in Peirce and Cassirer taken together – and the connection of signs to the human body processing them. This latter doctrine, however, is rarely, if ever, addressed in Peirce19 – while figuring prominently in Cassirer, especially in his doctrine of expression and mythical thought. This comes forward in yet another of Krois’ favorite quotes: “Der menschliche Körper und seine einzelnen Gliedmaßen erscheinen gleichsam als ein ‘bevorzugtes Bezugssystem’, auf das die Gliederung des Gesamtraumes und all dessen, was in ihm gehalten ist, zurückgeführt wird.”20 In this connection, Krois often refers to Cassirer’s example of cosmic directions in Australian aboriginals which are defined not abstractly but with reference myths pertaining to bodily practices like the orientation of burial processions, the location of the afterlife in cosmos, etc. This example is revealing: the Australian cosmic directions do not spring directly from the physiology of the human body but are mediated by mythic and ritual bodily activity. In general, Krois refused embodiment doctrines entailing relativism and their taking the human body to constrain knowledge to such a de19
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A traversal of the Peirce MSS gathered in the Collected Papers, for instance, shows a wide use of the notion of “embodiment”. The term here covers three things: the embodiment of general laws in particulars; the embodiment of thoughts in signs, and the embodiment of signs (e.g. symbols) in material replicas of those signs. In all cases, thus, Peirce’s embodiment notion refers to the fact that general notions of all kinds must (at least possibly, conceivably) incarnate in particulars if not to be void. Peircean “embodiment” thus does not refer to the human body; indeed the wording “human body” is a hapax in the Collected Papers; the only one time it appears is in a discussion of scholastic terminology. Ernst Cassirer: Die Begriffsform im mythischen Denken, in: Schriften zur Theorie der symbolischen Formen, ed. by Marion Lauschke, Hamburg 2009, p. 45.
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gree that changes in bodily abilities would completely change knowledge. What interested Krois was rather the immediacy of expression interpretations coming as ingrained capacities of the human body: our ability to decode the symbolical pregnance of blushing of shame – and, in general, the enormous semiotic foundation inherent in such expressive natural symbolisms, easily quoted and brought to functioning in iconic signs like images.
Per sp e c t ives John Krois’ much too early death cut short his ambitious program of developing a unified doctrine of signs, images, and bodies, based on an integration of Peirce’s and Cassirer’s philosophies. Both Peirce and Cassirer, however, insisted that human knowledge is a collective phenomenon – as implied by Cassirer’s integration of I, thou, and it in his doctrine of “basic phenomena”. As quoted by Krois: “Das Wissen von ‘mir’ ist nicht vor und unabhängig vom Wissen des ‘Du’ und ‘Es’, sondern dies alles konstituiert sich nur miteinander.”21 John Krois set some important milestones, pointing out a direction of research which I hope many of us will be able to continue.
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Unpubl. MS; quoted in Krois: Bildkörper und Körperschema (as fn. 2), p. 181.
Helmut Pape
D E R KÖR P E R D E R S Y M B O L E Die Materialität der Zeichen in der Semiotik des C. S. Peirce
Krois hat gezeigt, dass in Peirce’ Semiotik die Verkörperung von Vorstellungen, Gedanken und Ideen unabdingbar für deren Bedeutung und Entwicklung ist: Vorstellungen, Ideen und Gedanken existieren nur und können nur wirksam werden, insofern sie verkörpert sind. So formuliert Krois in Image Science and Embodiment or: Peirce as Image Scientist seine These bündig: „Peirce realized that we do not first possess an idea and then look for a way to give it shape. Ideas are embodied, somehow, from the beginning.“1 Für Krois ist Peirce’ Semiotik insbesondere eine Verkörperungstheorie von Bildern und Bildprozessen. In diesem Aufsatz werde ich diesen Gedanken weiterführen und die Verkörperungsbedingungen von Symbolen näher betrachten. Die These dieses Aufsatzes lautet, dass Symbole, auch sprachliche Symbole, an Verkörperungsbedingungen gebunden sind. Doch in vielen Fällen sind dies keine Bild- oder Bildprozessbedingungen.
1. D ie Ge w issheit des Ver stehens i m Wac hst u m der Sy mb ole Manchen Lesern wird es auf den ersten Blick vielleicht abwegig erscheinen, die Materialität und Körperlichkeit von Symbolen zu thematisieren. Sind nicht Symbole gerade dadurch charakterisiert, dass sie von ihrem materialen Charakter als dieses oder jenes Zeichen unabhängig verwendbar sind? Gegen diese Vermutung spricht, dass es eine Vielzahl von allmählichen Übergängen und Grenzformen zwischen der materialen Unabhängigkeit der Symbole und ihrer 1
Zuerst veröffentlicht in Ulrich Ratsch u. a. (Hg.): Kompetenzen der Bilder. Funktionen und Grenzen des Bildes in den Wissenschaften, Tübingen 2009, S. 201. Wieder veröffentlicht in: John M. Krois: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, hg. v. Horst Bredekamp/Marion Lauschke, Berlin 2011, S. 195.
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Verkörperung in bildlichen, materialen Bedingungen gibt. So wird unter „Symbol“ im alltäglichen Sprachgebrauch, aber auch in der strukturalistischen Linguistik ein durch seine Bedeutung bestimmtes, bildhaftes Zeichen verstanden. Schon vor über hundert Jahren wurden deshalb Symbole mit dem wunderbar doppeldeutigen Begriff des Sinnbildes2 charakterisiert. Vieles von dem, was man heute ein Symbol nennen könnte, wird dann, wenn es auf der Benutzeroberfläche eines Computerprogramms auftaucht, als „Icon“ oder auch „Piktogramm“ bezeichnet. Dort, wo es um Firmen und ihre Waren, Güter oder Dienstleistungen geht, die durch ein Zeichen „symbolisiert“ werden sollen, spricht man von einem „Logo“. Doch eigentlich handelt es sich dabei häufig um indexikalisch verwendete – nämlich auf den Waren selbst angebrachte – symbolisierte Ikone. Auch wird z. B. die nur schematisch dargestellte weiße Taube allgemein als Symbol des Friedens verstanden. Sie wird heute meistens nicht mehr – wie in der ursprünglichen biblischen Erzählung3 beschrieben und noch von Picasso gezeichnet –, mit einem Olivenzweig im Schnabel gezeigt, sondern ist zum vagen Umriss geworden. In dieser Form wird sie bei politischen Veranstaltungen meistens als Logo oder bestenfalls als allgemeines Ikon verwendet. Es gibt auch die Transformation von Zeichen in die umgekehrte Richtung: So wird die stilisierte Zeichnung eines Koffers, die üblicherweise als indexikalisch gebrauchtes Ikon auf ein Gepäckabteil hinweist, in den Bildrepertoires von Grafikprogrammen allgemein als Symbol für „Koffer“ gebraucht. Doch können wir Symbol, Logo und Ikon so verständlich machen, dass sie trotz dieser Übergänge deutlich voneinander abgegrenzt werden, aber auch ihr unterschiedlicher Bezug zur körperlichen Materialität der Zeichen deutlich wird? Einen ersten Hinweis für das Verständnis des Zusammenhangs gibt Peirce’ These, dass Symbole wachsen, weil sie mit Ikonen und Indices verknüpft sind. In Die Kunst des Räsonierens, 1893, schreibt Peirce: „Symbole wachsen. Sie entstehen aus der Entwicklung anderer Zeichen, vor allem aus Similes [Ikone] oder aus gemischten Zeichen, die am Wesen der Similes und der Symbole teilhaben. […] Wenn ein Symbol ein2
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In Brockhaus’ Kleinem Konversations-Lexikon von 1911 findet sich z. B. der folgende Eintrag: „Symbol ¯ (gr. symbolon; ¯ lat. symbolum), ¯ Erkennungszeichen; bedeutsames Zeichen überhaupt, Sinnbild; im theol. Sprachgebrauche die Bekenntnisformen oder -schriften (s. Symbolische Bücher) der Christen und der einzelnen christl. Kirchen. – Chemische S., s. Chemische Zeichen.“ (Ebd., Bd. 2, S. 795) Die Ursprungserzählung für dieses Symbol gehört im alten Testament in den Zusammenhang der Geschichte über die Sintflut und der Landung von Noahs Arche: „Gegen Abend kam die Taube zu ihm zurück, und siehe da: In ihrem Schnabel hatte sie einen frischen Olivenzweig. Jetzt wusste Noach, dass nur noch wenig Wasser auf der Erde stand.“ Unter: http://www.bibleserver.com/text/EU/1.Mose6 (15. 04. 2012).
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mal entstanden ist, so verbreitet es sich unter den Menschen. Und seine Bedeutung wächst im Gebrauch und mit der Erfahrung. Wörter wie Kraft, Gesetz, Reichtum, Heirat haben für uns eine ganz andere Bedeutung als für unsere barbarischen Vorfahren.“4 Doch können Symbole eben nur deshalb wachsen, weil sie im Gebrauch mit Ikonen (z. B. Bildelementen) und Indices (z. B. faktischen Beziehungen) in ihrer Verkörperung zurückgebunden werden, um überhaupt anwendbar und verstehbar zu sein. Symbole sind somit weitaus verkörperungs- und verwendungsempfindlicher als dies viele Linguisten, Sprachphilosophen und Logiker meinen. Denn die Bedeutung der Symbole wird durch ihre material-qualitative Gestalt auf die Bedingungen ihrer sinnlichen Fasslichkeit und Interpretierbarkeit bezogen. Die Semiotik von Peirce macht es ihren Lesern nicht gerade leicht, diese These und ihre Begründung zu verstehen. Einer flüchtigen Lektüre der gängigen Symboldefinitionen von Peirce erschließt sich dieser Zusammenhang nicht. Denn dort heißt es z. B.: „Ein Symbol ist ein Zeichen, dessen zeichenkonstitutive Beschaffenheit ausschließlich in der Tatsache besteht, dass es so interpretiert werden wird. Nehmen wir z. B. das Wort ‚Eule‘ (engl. owl). Es läßt sich vermuten, dass es, als es zuerst in seiner ursprünglichen Form verwendet wurde, für fähig befunden wurde, die Vorstellung des Vogels hervorzurufen, weil es ähnlich klang wie der Schrei eines Vogels oder wie das Wort heulen (engl. howl). Wenn dem so ist, dann war es in seiner anfänglichen Verwendung ein Ikon. […] Was aber den täglichen Gebrauch betrifft, ist der einzige Grund dafür, dass das Wort die Idee zu vermitteln in der Lage ist, der, dass sich der Sprecher gewiß ist, daß es so interpretiert werden wird.“5 Hier scheint am Beispiel des Wortes „Eule“ veranschaulicht zu werden, dass der Bezug des sprachlichen Symbols „Eule“ auf seine Objekte nicht von der onomatopoetischen Qualität des Wortes „Eule“ abhängig sein kann: „Owl“ und „howl“ werden unterschieden und abgegrenzt. Doch wer nur diese Definition liest, übersieht leicht, dass damit keineswegs bestritten ist, dass wir Symbole nur verstehen können, wenn das Symbol eine vorstellbare, sinnlich fassbare und verkörperte Bedeutung besitzt, die unabhängig von diesem Symbol bereits besteht und die relativ zu seiner Verwendung erfahren werden muss. 4 5
Charles S. Peirce: Semiotische Schriften, Bd. 1, hg. v. Christian Kloesel/Helmut Pape, Frankfurt/M. 1986, S. 200. Charles S. Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen [PLZ], hg. v. Helmut Pape, Frankfurt/M. 1981, S. 65 f.
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Peirce war überzeugt, dass die Bedeutung und Bezugnahme eines Symbols nur dann erfolgreich erfasst, kommuniziert und wirksam werden kann, wenn unabhängig vom Symbol ein sinnlich erfahrbarer Vorder- oder Hintergrund auf andere als symbolische Weise durch das Symbol zugänglich gemacht wird. Die Rede vom „einzigen Grund“ der Interpretationssicherheit des Symbols schließt also ein, dass die Einführung eines Symbols auf der Gewissheit der Interpretation in einer Gemeinschaft nur deshalb aufbauen kann, weil bereits andere Arten des Verstehens dieser Bedeutung bestehen, auf die das Symbol aufbaut, die es überformt und verallgemeinert. Kurzum: Ein „Symbol“ im Sinne der Peirce’schen Definition ist jene Art von Zeichen, das die allgemeine Bedingung der Gewissheit der Interpretation bezogen auf bestehende Verstehensbedingungen zu erfüllen vermag. Deshalb ist einerseits richtig, dass insbesondere sprachliche Symbole unabhängig von jeder ihrer einzelnen Verkörperung sind. D. h. sie können in jeder beliebigen Verkörperung, insofern sie allgemeinen Form- und Gestaltmerkmalen des Symbols entspricht, als dasselbe Symbol erfasst werden. Ob wir jene Gattung vierbeiniger Paarhufer als „Horse“, „cheval“ oder „Pferd“ bezeichnen, ob diese Worte gesprochen, geschrieben oder in Metall geritzt werden, all dies ändert nichts an der Weise, wie dieses Wort qua Symbol Gegenstände bezeichnet. Für jedes Symbol können wir eine weite Ähnlichkeitsklasse von Formen als Fälle desselben Symbols erkennen. Dies bedeutet aber auch: Es gibt sehr wohl eine allgemeine Bindung an die materiale Verkörperungsweise von Symbolen.6 Die relative Unabhängigkeit des Symbols vom Material ist nicht die Abtrennung oder Loslösung von jeder materialen Realisierung, sondern verallgemeinert die Beziehung des Symbols zu seinen materialen Verkörperungs- und damit Verwendungsbedingungen, die niemals völlig aufhebbar ist. Symbole sind also von einzelnen Realisierungen und einzelnen materialen Gebrauchs- und Zeichenereignissen unabhängig, aber sie sind nicht von jeder materialen Verkörperung und Verwendung unabhängig. Die relative Unabhängigkeit von jeder einzelnen Verkörperung bedeutet eben gerade nicht, dass Symbole absolut unabhängig und abgetrennt so verstanden werden können, dass sie ohne jede Verkörperung bedeutsame Zeichen sein könnten. Welche Konsequenzen hat nun die relative Unabhängig6
Peirce’ Theorie des Symbols impliziert das, was Hans Reichenbach – in Elements of Symbolic Logic, New York 1947 in Bezug auf indexikalische Ausdrücke – „token reflexivity“ genannt hat: Das Symbol „Eule“ verweist als materiales Verwendungsereignis – als dieses Zeichen EULE hier und jetzt – auf sich selbst zurück. Als dieses Zeichen erfasst, können relativ zu ihm Eulenvorstellungen oder -wahrnehmungen so identifiziert werden, dass diese reflexive Zuordnung zum einzelnen Zeichenereignis auch in Beziehung zu möglichen anderen Verwendungsfällen von Zeichen bezogen wird. Wie diese reflexiv verankerte Allgemeinheit des Symbols mit der Gewissheit der Interpretation in einer Symbolgemeinschaft verbunden ist, zeige ich im Weiteren noch genauer.
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keit der Symbole für seine materialen Verkörperungsbedingungen? Die relative Unabhängigkeit der Symbole begründet eine allgemeine Form von Abhängigkeit: Nämlich die Abhängigkeit von einem weiten, aber durchaus nicht unbegrenzten Bereich möglicher Verkörperungen. Wir sahen bereits oben: Dies sind die Bedingungen einer Ähnlichkeitsklasse für das Wiedererkennen der Gestalt des Zeichens. Für diesen Punkt ist das charakteristische Merkmal der Peirce’schen Symboldefinition entscheidend: Nur dann, wenn der Verwender (Autor) des Symbols aus guten Gründen für die Adressaten Gewissheit unterstellen kann, dass das Symbol angemessen verstanden und interpretiert wird, kann es sich um ein Symbol handeln. Daraus folgt, dass alle bedeutungsvollen Symbole sowohl wahrnehmungs-, erkenntnis- als auch medienbezogenen Verkörperungsbedingungen unterliegen. Diese Bedingungen lassen sich zumindest allgemein beschreiben: Der Raum der symbolischen Verkörperungsmöglichkeiten ist durch die Menschen, die als mögliche Interpreten gemeint sind, durch ihre sinnlichen und interpretativen Fähigkeiten, aber auch durch ihr Wissen um die Form von Symbolen festgelegt: Wahrnehmungsthese: Alle Verwendungen von Symbolen sind dann und nur dann als bedeutungsvoll erfahrbar, wenn sie in den Bereich des Wahrnehmens, Verstehens und Handelns der Interpreten der Symbole fallen können.7 Immer dann, wenn etwas mit Gewissheit als bedeutungsvolles Symbol interpretierbar ist, wird es diese Anforderung erfüllen. Peirce beschreibt die Beziehung der Symbole auf die allgemein möglichen menschlichen Erfahrungs- und Verkörperungsbedingungen nun leider auf eine eher indirekte Weise. Denn er spricht in diesem Zusammenhang vom „Gesetz“, ja sogar „Naturgesetz“, und kommt zu Formulierungen wie bspw.: „Ein Symbol ist also ein allgemeines Zeichen, und als solches hat es die Seinsweise einer Gesetzmäßigkeit (im wissenschaftlichen Sinne).“ (PLZ, S. 66). Nun ist eigentlich klar, dass ein Symbol, welches die „Seinsweise“ eines Naturgesetzes hat, kein Naturgesetz sein muss, sondern nur eine Regel- oder Gesetzmäßigkeit im Verhalten sein kann. Aber das Missverständnis liegt nahe, es gehe doch irgendwie um eine naturalistische Reduktion von Symbolbedeutung auf ein unabhängig bestehendes Naturgesetz. Doch dies ist deshalb ausgeschlossen, weil die Bedingung für die Gewissheit der Interpretation und die „Gesetzhaftigkeit“ der Symbole durch die Beziehung auf das Verhalten der Interpreten begründet ist: D. h., dass Symbole eben 7
Symbolinterpreten müssen nicht immer nur Menschen sein. Insofern Tiere oder andere intelligente Lebewesen miteinander interpretativ Zeichen teilen können, gibt es auch eine Gemeinschaft der animalischen Symbolinterpreten im Peirce’schen Sinne.
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Zeichen sind, die von allen Symbolverwendern einer bestimmten Gemeinschaft gleichermaßen, z. B. aufgrund einer Konvention, Gewohnheit oder Gepflogenheit auf ähnliche Objekte bezogen werden. Es wäre somit ein Missverständnis, den Gesetzesbegriff naturalistisch so zu verstehen, als ob verwendungs- und verstehensunabhängige naturale Gesetzmäßigkeiten, ohne Bezug auf die Gemeinschaft der Symbolverwender, allein schon Symbolbedeutungen begründen könnten.8 Vielmehr vertritt Peirce genau das Gegenteil: Der Gesetzesbegriff, selbst in den Naturwissenschaften, geht auf die allgemeineren Konzepte der moralischen Ordnung, der Gewohnheit (habit) und der Regel zurück, die Menschen entwickeln und gemeinschaftlich verändern können. Denn ein Symbol „ist die Art von Zeichen, über die etwas in der Zukunft gewiß ist, […] Denn dies Zeichen muß in der Lage sein, wieder und wieder aufzutreten. Diese Wiederholungen existieren, da das Symbol selbst ihre Existenz beherrscht. Ein Wort kann unbegrenzt oft wiederholt werden. Jedes seiner Vorkommnisse kann man als ein Replika dieses Wortes bezeichnen. Das Sein des Wortes selbst besteht in der Gewissheit (die sich der Konvention verdankt), daß eine Replika, die aus einer Folge von Lauten eines gegebenen Typus zusammengesetzt ist, im Geist eine äquivalente Replika hervorruft.“ (PLZ, S. 66) Die Konventionen und Gesetzmäßigkeiten der Symbole besitzen somit keinen naturalen, sondern einen sozialen Status, der aber Naturales einzubeziehen vermag. Um Symbole erfolgreich verwenden zu können, müssen Autor und Interpret zwei Eigenschaften miteinander teilen: 1.
Es gibt eine Gewissheit der Symbolverwender, die ermöglicht, dass sie aufgrund geteilter kultureller Gemeinsamkeiten verstehen, was mit einem Symbol gemeint ist. Symbolverwender gehören deshalb stets einander naher oder ineinander übersetzbarer Sprach-, Kultur- und Lebensgemeinschaften an;
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In dem MS 870 What is a law of nature? von 1902 (im Englischen unveröffentlicht, deutsch in: Charles S. Peirce: Naturordnung und Zeichenprozess. Schriften über Semiotik und Naturphilosophie, hg. v. Helmut Pape, Frankfurt/M. 1991, S. 292–315) zeigt Peirce auf, wie sich der moderne Begriff des Naturgesetzes aus der Vorstellung einer moralisch-göttlichen Ordnung der Natur erst in der Neuzeit entwickelt. Entscheidend ist dabei die Voraussagbarkeit künftiger Ereignisse, die zu einem Merkmal naturwissenschaftlichen Wissens wird. Die unabhängige und notwendige Determinierheit von Ereignissen erweist sich dabei als eine Eigenschaft, die erst von der Naturwissenschaft und Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts mit dem Gesetzesbegriff verbunden wird.
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2.
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Symbolverwender sind aufgrund ihrer geteilten sinnlichen Fähigkeiten und Erfahrungssituationen fähig, eine materiale, qualitative wohlunterschiedene Gestalt oder Form als ein Symbol zu erzeugen, zu erfassen und zu identifizieren.
Wir können nun explizit machen, worauf die Gewissheit beruht, dass ein Symbol angemessen interpretiert werden wird: Sie basiert darauf, dass die Äußerung – allgemeiner: die Verwendung – eines Symbols einen Zusammenhang des Wissens und der Reaktionsweisen in einer Interpretationsgemeinschaft aktualisiert. D.h.: Autor und Interpret sind in einem Zeichen dadurch miteinander verbunden, dass es für sie die Verkörperung desselben Symbols ist: „Ein Symbol“, so schreibt Peirce, „ist ein Gesetz oder eine Regularität für eine unbestimmte Zukunft. […] Doch ein Gesetz beherrscht notwendig oder ‚ist verkörpert in‘ Einzeldingen und schreibt ihnen einige ihrer Eigenschaften vor. Folglich kann ein Bestandteil eines Symbols ein Index sein und ein anderer Bestandteil ein Ikon.“ (PLZ, S. 158) Dass Symbole in ihrer Bedeutung dadurch wachsen, dass sie gemeinschaftlich teilbare Erfahrungen sowohl darstellen als auch – reflexiv zum Zeichenereignis – herstellen, hängt davon ab, dass Symbole ikonische Eigenschaften und indexikalische Beziehungen einschließen. Wie aber die Beziehung auf die Gemeinschaft der Symbolverwender und die reflexive Beziehung auf vorsymbolische Zeichenfunktionen einander ergänzen können, soll der nächste Abschnitt klären.
2. Sy mb ol isier u ng: I kon isc he u nd i ndex i k a l isc he A sp ek te Viele Missverständnisse, auf welche die Peirce’sche Zeichenkonzeption so häufig trifft, haben ihren Grund darin, dass Ikon und Index vom Symbol entweder unvollständig oder nicht genau unterschieden werden oder dass sie so beschrieben werden, dass ausgeschlossen ist, dass sie sich auseinander entwickeln könnten. Insbesondere die Annahme, dass Ikon und Index zu Symbolen werden und als Bestandteile in diese eingehen, schließt ein, dass Symbole ikonische und indexikalische Aspekte auf bedeutungsrelevante Weise in sich aufnehmen und bewahren können. Denn wenn Ikon, Index und Symbol zwar unterschieden sind, sich aber überlagern und einschließen können, dann ist wichtig, unter welchen Bedingungen dies geschieht und wann sie unabhängig voneinander wirksam sind. Betrachten wir als erstes das Ikon als Bedingung der Objektbeziehung von Zeichen. Ikonische Objektbeziehungen kommen durch die qualitative Beschaffenheit des Zeichens zustande. D. h. aber, dass die Qualität des Ikons die Grundlage dafür bildet, was Interpreten als Ähnlichkeit mit einem Objekt er-
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fassen. Wenn zwei Klänge oder Farbtöne einander ähneln, dann kann jeder der beiden zu einem Zeichen des anderen werden. Doch jeder Klang als Ereignis hat seine eigene Klangqualität bereits für sich und unabhängig von jedem anderen, zweiten Klang, auch wenn er gleichartig ist. Das An-sich-Sein der Qualität ist aber die grundlegende Eigenschaft der Ikons: Ikonische Zeichen nehmen nicht automatisch und aus sich heraus auf etwas anderes als ihr Objekt Bezug. Jedes Ikon kann zunächst für sich selbst stehen. Es ist deshalb missverständlich, wenn häufig geschrieben wird,9 das Ikon sei ein Zeichen von Ähnlichem, und dass ein Ikon sein Objekt aufgrund einer Ähnlichkeit mit ihm bezeichne. Peirce definiert das Ikon ganz anders: „Ein Ikon ist ein Zeichen, dessen zeichenkonstitutive Beschaffenheit eine Erstheit ist, das heißt, dass es unabhängig ist, ob es in einer existentiellen Beziehung zu seinem Objekt steht, das durchaus nicht existieren kann. Ein reines Ikon kann nur in der Phantasie existieren, wenn es überhaupt je existiert.“ (PLZ, S. 64) Die Bezugnahme eines Ikons ist eine externe, zweistellige Relation. Sie kann wegen der referentiellen Neutralität der Qualität des Ikons gegenüber allem, was als mögliches Objekt in Frage kommt, auch nur durch eine extern hergestellte Beziehung erzeugt werden. Die Bezugnahme des Ikons auf ein reales Objekt ist ihm äußerlich und wird durch den Verwender und Interpreten des Ikons hergestellt. Durch das wahrnehmungsgeleitete Handeln der Interpreten wird also erst die Ähnlichkeitsbeziehung konstruiert. Nehmen wir z. B. das Blau einer Farbmusterkarte. Dieses ikonische Zeichen soll – das ist der Sinn einer Musterkarte – genau der Farbe gleichen, die wir als Farbe der Ware bestellen wollen. Wir müssen aber das Farbmuster interpretieren, es z. B. mit einem anderen und mit den von uns als „identisch“ gesehenen blauen Farbtönen vergleichen. Das heißt aber nicht, dass Peirce’ Auffassung des Ikons einen radikalen Konstruktivismus unterstellen würde. Nein, das Farbmuster wird nicht dadurch einem blauen Objekt ähnlich, dass Menschen es willkürlich als ähnlich interpretieren, sodass sie genauso gut eine als „Rot“ bezeichnete Farbmusterkarte als dem Blau ähnlich herausgreifen könnten. Vielmehr sind die visuellen Wahrnehmungen der meisten Menschen eben so beschaffen, dass sie eine auch für andere Menschen wahrnehmbare Ähnlichkeit feststellen können. Wenn jemand z. B. einen blauen Pullover nach einer Farbmusterkarte bestellt hat, dann wird er oder sie ebenso wie jeder andere normal visuell befähigte Mensch wahrnehmen können, ob das Blau des Pullovers dem Blau der Musterkarte ähnelt 9
So heißt es z. B. im Wikipedia-Eintrag zum Ikon: „Ikon (auch: ikonisches Zeichen; Genitiv: des Ikons; Plural: die Ikone […] ist ein von Charles S. Peirce eingeführter Terminus der Zeichentheorie (Semiotik) und der Sprachwissenschaft (Linguistik) und bedeutet ein Zeichen, dessen Zeichenfunktion darauf beruht, dass es mit dem bezeichneten Gegenstand (Referenzobjekt) eine wahrnehmbare Ähnlichkeit hat.“ Unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Ikon (17.07.2012).
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oder nicht. Eben deshalb können wir diese Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit durch die Beziehung der Farbe des Musters zur Farbe des Pullovers intersubjektiv belegen. Es geht also nicht um eine willkürliche Interpretation, sondern um normalerweise mögliche Reaktions- und Vergleichsprozesse kompetenter sehender Menschen. Daraus folgt: Die Qualität des Ikon verbindet auf die Weise, wie sie auf uns als Sinnenwesen wirkt. Menschen werden in ihrem sinnlich basierten Verstehen und Identifizieren auf gleiche oder einander ergänzende Weise so durch das Symbol fokussiert, dass sie im sinnlich Gegenwärtigen das für Andere Wahrnehmbare und Denkbare herausgreifen können. Die Qualität einer Farbe oder eines Klangs ist somit etwas, was Menschen körperlich-sinnlich, subjektiv und allgemein erfahren und miteinander teilen, wenn sie ein Symbol erfassen: In der Regel können sie durch ihr Wahrnehmen z. B. Abschattungen von Blau oder Färbungen eines Tons wiedererkennen oder durch den Vergleich mit anderen Erfahrungen der Abschattung oder Färbung desselben Tons oder derselben Farbe interpretierend identifizieren. Der zweite Zeichenaspekt, der eine gemeinschaftlich teilbare Materialität von Symbolen begründet, ist der Index. Auch Zeichen, die vom Merkmal des Indexikalischen dominiert werden, sind nicht durch Symbolinterpretationen erzeugbar oder gar auf ihre bloße Interpretierbarkeit zurückführbar. Wie ein Index der Interpretationsbedingung des Symbols untergeordnet werden kann, ist noch weniger offensichtlich als im Fall des Ikons. Denn ein Index vermag direkt und faktisch zu bezeichnen, was kein Ikon und Symbol zeigen kann. Ein Objekt wird individuell, hier und jetzt zugänglich und kenntlich gemacht, weil es als faktisch oder relational mit dem Index verknüpft dargestellt wird. Der Index bezeichnet ein Objekt nämlich nur aufgrund einer faktisch bestehenden oder existentiellen Relation, weil er selbst in dieser Relation steht: Wie schon beim Ikon erweist sich auch die Erfahrung des Indexikalischen als Erfahrung einer objektiv teilbaren, auf das Zeichenereignis (token) bezogenen Reflexivität. So ist z. B. der aufsteigende Rauch ein Index, den wir spontan als Hinweis auf ein Feuer interpretieren können, weil Rauch und Feuer häufig faktisch verbunden sind. Ein Index kann auch die Spur eines Vogels im Schnee sein, die die Tatsache anzeigt, dass irgendein Vogel durch den Schnee gelaufen ist. Ein anderes Beispiel ist der Wetterhahn, der durch die Kraft des Windes in die Richtung gedreht wird, in der der Wind weht. Aber schon beim aufgemalten Pfeil auf einem Schild am Wegesrand, auf dem „Zum Wirtshaus, 1 km“ steht, zeigt sich, dass der Index der sprachlichen Symbolisierung den Bezug auf das gemeinte Objekt verleihen kann. Die Beispiele zeigen: Indices, die manchmal Spuren sind und manchmal Symbole in faktische Relationen einbetten, können unterschiedlich stark mit Symbolkontexten verknüpft sein. Ich kann z. B. nicht anhand eines Fußabdrucks im Schnee erkennen, um welchen Vogel es sich handelt. Für einen Zoologen
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aber, der sich mit Vögeln beschäftigt und über entsprechendes Wissen verfügt, ist dies durchaus möglich. Alle Indices und alle Spuren müssen also gelesen werden und gewinnen an allgemeiner Bedeutung, wenn sie interpretativ in Symbolkontexte eingebettet werden. Doch die nur ihnen mögliche Leistung, Objekte als Einzeldinge durch das faktische Vorkommen in bestehenden Relationen als zugänglich darzustellen und sie aufgrund ihrer token-Existenz zugänglich zu machen, bleibt erhalten. Die Einbettung und Interpretation von Indices durch Beschreibungen und Argumente ändert nichts daran, dass die faktische Beziehung zum Objekt bereits bestehen muss, damit etwas zu Recht als Index gelesen werden kann. Peirce’ Definition des Index lautet deshalb: „Ein Index erfordert […], daß sein Objekt und er selbst individuelle Existenz besitzen müssen. Er wird zu einem Zeichen aufgrund des Zufalls, daß er so aufgefaßt wird, ein Umstand, der die Eigenschaft, die ihn erst zu einem Zeichen macht, nicht berührt. […] Das indizierte Objekt muß tatsächlich vorhanden sein: dies macht den Unterschied zwischen einem Index und einem Ikon aus.“ (PLZ, S. 65) Welche ikonischen Qualitäten und indexikalischen Relationen oder Spuren sind es, die Symbole verkörpern können? Ein entscheidender Teil der Antwort argumentiert mit der Reflexivität der Verwendung des einzelnen Zeichens: Jedes Symbol ist nur als eine Anordnung von grafischen, akustischen oder haptischen Eigenschaften konkret erfahrbar und indexikalisch verortet. D. h. es existiert immer nur als ein Token, als ein materiales Zeichenereignis, das auch als ein solches interpretiert wird. Doch warum sollte die Beobachtung, dass auch Symbole in Verwendungsereignissen vorliegen, für die Semantik des Objektbezugs der Symbole entscheidend sein? Der Grund, warum dieser Zusammenhang semantisch so wichtig ist, führt in die handlungs- und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Semiotik. Eine der erkenntnistheoretischen Annahmen der Peirce’schen Semiotik besagt, dass nur die Verwendung eines Symbols, sein Gebrauch im einzelnen Fall, ihm einen Objektbezug und eine bestimmte, erkennbare Bedeutung geben kann.10 Betrachten wir die akustische oder grafische Gestaltung von Symbolen, beschäftigen wir uns, wie wir dies mit der Wahrnehmungsthese (S. 51) taten, mit dem Material, aus dem ein Verwendungsereignis eines Symbols besteht: Es geht darum, wie ein Symbol individuell verkörpert ist, und folglich nehmen wir ein singulär, hier und jetzt existierendes Zeichengebilde
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Diese Praxis- und Verwendungsabhängigkeit von symbolischer Bedeutung ist es, die der Peirce’sche Pragmatismus zu einer Methode der Bedeutungsklärung verallgemeinert.
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wahr. Dafür hat Peirce den Begriff Sinzeichen vorgeschlagen: Das Präfix Sinsteht für das Singuläre des Materials, das dabei als Aspekt hervorgehoben wird. An der besonderen Beschaffenheit des Sinzeichens – z. B. der Wörter in diesem Satz – verstehen wir aber auch eine ganz andere, entgegengesetzte Eigenschaft: Nämlich, dass sie allgemeinen Bildungsregeln entsprechend geformt sind. Was wir dann erfassen, ist ihr Legizeichen-Aspekt. Hier verweist das Präfix Legiauf das lateinische Wort für Gesetz, lex: Wir müssen die Bildungsregeln kompetent beherrschen – also nicht nur verbal beschreiben –, um das ihnen gemäß geformte Zeichen als konform zu erfassen. Also gilt: Die materialen Eigenschaften von Zeichen sind durch die reflexive Beziehung zum Zeichenereignis und durch dessen Formmerkmale miteinander verknüpft. Die semantische Bedeutsamkeit des Symbols als Type, z. B. den Begriff „Pferd“, können wir nur dann verstehen, wenn wir ein materiales Objekt wie das Wort „Pferd“ in diesem Satz nicht nur unter seinem Sin- und Legizeichen-Aspekt als Zeichenmaterial erfassen. Eine weitere erkenntnistheoretische Bedingung ist vielmehr, dass wir es als token des semantischen types „Pferd“ dadurch erkennen, dass wir es mit dem Bild und der Erfahrung jenes großen vierbeinigen Säugetiers verknüpfen. Die Semantik des types hat eine untere Grenze: Sie wird durch das Erfassen der Tiefenstaffelung von miteinander nicht nur irgendwie verknüpften, sondern regelhaft geformten sensorischen, interaktiven und praktischen Eigenschaften des Legizeichenaspekts in den einzelnen Sinzeichen gezogen. Ein singuläres Zeichen kann nämlich nur dann in seiner qualitativen Beschaffenheit als einer Regel, Ordnung oder Form gemäß gebildet erfasst werden, wenn eine Tiefenstaffelung der regelgemäß koordinierten Relationen des Bezogen- und Geordnetseins auch wahrnehmbar ist. Eben dies behauptet die Wahrnehmungsthese von S. 51. Was den Symbolaspekt der Zeichen von den beiden anderen Formen der Objektbeziehung unterscheidet, besteht in Folgendem: Symbole müssen nicht allein, um auf Objekte Bezug zu nehmen, ikonisch auf zwischen Menschen teilbare Erfahrungsqualitäten oder auf die indexikalische Faktizität der Beziehungen zu den von ihnen bezeichneten Objekten eingeschränkt werden. Für Symbole ist vielmehr entscheidend, dass der Bezug auf eine Gemeinschaft der Interpretation durch eine Regel, Konvention oder stille Übereinstimmung, durch die die Bedingungen für ikonische und indexikalische Zeichenaspekte verallgemeinert werden. Diese Regel- oder Konventionskomponente muss aber so zustande kommen, dass Vergemeinschaftung zwischen den Symbolverwendern möglich wird: Ihre Objekte sind für die Beziehung der Gewissheit in einer Gemeinschaft freigestellt, jedoch nicht von Eigenschaften oder Beziehungen gänzlich abgelöst. Bereits in Krois’ These der Verkörperung ist diese Einsicht angelegt, dass die freie, allgemeine Zugänglichkeit des Körpers der Symbole erst die Gewissheiten des gemeinsamen Verstehens herstellt.
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Doch dadurch sind Symbole nicht etwa in ein Reich reiner Vernunft oder formaler Logik verschoben. Im Gegenteil: Der implizite Ikon- und IndexBestandteil kann niemals gänzlich formal aufgehoben, sondern eben nur verallgemeinert werden: Damit symbolische Allgemeinheit durch Konvention möglich wird, bedarf es einer Beziehung zu den Weisen des Teilens von Erfahrungsqualitäten und des Bestehens von faktischen Relationen zwischen den Zeichen. Deshalb erneuern sich für den interpretativen Kontext der Symbole die materialen Anforderungen der ikonischen und indexikalischen Zeichenaspekte an die Situation bei jeder Verwendung von Symbolen aufs Neue. Durch das Einbeziehen der materialen, nicht übereinstimmungsbasierten Zeichenaspekte Ikon und Index erhält der Prozess der Symbolisierung deshalb seine praktische, kulturelle und geschichtliche Tiefe: Erst dann, wenn er in der Erfahrung und im kommunikativen Austausch zwischen Menschen faktisch nachvollziehbar ist, werden Symbole auch von allen verstanden: Die symbolische Denkform ist deshalb stets auch eine Lebensform des Symbolisierens: Sie ist eine Weise des Handelns und Erfahrens in einer Gemeinschaft der Interpreten der sich verändernden Symbole. Wir können deshalb eine Verkörperungsthese formulieren, welche die notwendige Tiefe der Symbolisierung in einer Interpretationsgemeinschaft beschreibt: Symbole entwickeln sich dadurch, dass ihr in wechselnden Ikonen und Indices verkörperter Gebrauch sie auf verkörperte Eigenschaften, Einzeldinge und die Erfahrung der sie verwendenden Menschen bezieht.
3. D ie Gemei nsc ha f t der Sy mb ole, der Er fa h r u ng u nd des Ha ndel ns Die bisherigen Überlegungen und die Verkörperungsthese implizieren, dass das Verwenden von Symbolen nicht auf eine syntaktische oder gar neurophysiologische Ebene reduzierbar ist. Denn Symbole können nur dann Bedeutung besitzen und diese weiter entwickeln, wenn sie einen von Menschen miteinander teilbaren Raum von Erfahrungen, Konsequenzen und Voraussetzungen zugänglich machen. Diese symbolische Zugänglichkeit der Wirklichkeit eröffnet einen eigenen relationalen Sinn durch eine Praxis: Im Augenblick des Lesens und Interpretierens eröffnen sich jene kulturellen und sozialen Bezüge, die uns künftige Handlungen mit den symbolisch bezeichneten Objekten ermöglichen. Deshalb kann aber auch die Interpretation eines Symbols niemals allein in den kontextabhängigen Kenntnissen, Wahrnehmungen und Handlungen eines einzelnen Subjekts bestehen.11 Vielmehr sind kulturell geprägte und zwischen11
Das Wittgenstein’sche Privatsprachenargument in den Philosophischen Untersuchungen zielt auf denselben Zusammenhang zwischen Bedeutung und Gemein-
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menschliche Beziehungen, Konsequenzen und mögliche Handlungen unabdingbar. Jedes noch so vertraute Symbol, das in einer Kultur verbreitet ist, ist also abhängig von den Beziehungen und Handlungen, die Menschen miteinander teilen und von denen die Mitglieder einer Interpretationsgemeinschaft praktisch gewiss sind, dass sie in dieser Gemeinschaft anzutreffen sind. Der Ursprung des Symbolbegriffs in der Antike weist auf diesen Zusammenhang hin: Der altgriechische Begriff der Symbola (Singular: Symbolon) kommt von sym-ballein, etwas zusammenwerfen. Die vergemeinschaftende, soziale Bedeutung sprachlicher und nicht-sprachlicher Symbola verweist auf ein antikes Ritual, das menschliche Begegnung und Erinnerung an ein gemeinsames Umgehen mit einem Gegenstand bindet. Um dem Gast seine Gastzugehörigkeit zu bestätigen und um die Wiedererkennung im Haushalt des Gastgebers erfahrbar zu machen, wurde ein Tonring zerbrochen. Die eine Hälfte erhielt der Gast, während die andere Hälfte der Gastgeber verwahrte. So konnte das „Zusammenwerfen“ der zueinanderpassenden Hälften einen Menschen als ehemaligen Gastfreund erweisen.12 Im Ursprung steht das Wort Symbol für einen ikonischen Index, die Weise, wie menschliche Gemeinschaft herstellbar ist. Ein Wort oder anderes Symbol ist und bleibt auch heute eine Weise, wie Menschen zusammenfinden. So stoßen wir auf die bereits oben beschriebene Bedingung: Damit ein Wort als ein Symbolon identifiziert wird, muss es eine allen bekannte und akzeptierte Weise des möglichen „Zusammenwerfens“ von Wahrnehmungen, Handlungen, und Bedeutungen sein. Es ist zwischen uns bereits viel an Begegnung, Austausch und Verstehen über Gemeinsames gelungen und es hat bereits ein Austausch stattgehabt, der zu Übereinkünften, Verstän-
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schaft: „Es kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein. Es kann nicht ein einziges Mal nur eine Mitteilung gemacht, ein Befehl gegeben, oder verstanden worden sein, etc. – Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen).“ (Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M. 1972, § 199, S. 105). Siehe dazu auch Saul Kripke: Wittgenstein on Private Language and Rules, Cambridge, MA 1982. Detailliert und mit überraschender Einsicht rekonstruiert die soziale und ethische Bindung von Bedeutung durch den Begriff der Gepflogenheit und Gewohnheit Christian Strub in: Vom freien Umgang mit Gepflogenheiten, Paderborn 2005. In Platos Symposion wird die Suche nach den zueinander passenden Hälften der Menschen zum Bild der unvollständigen Identität des einzelnen Menschen, der des Anderen bedarf, um ganz zu werden. Schließlich wurden in der Antike aber auch allgemein als symbola die Berechtigungs-, Eintritts- und Zählmarken bezeichnet, die z. B. in Athen als Teilnahmemarken für Volksversammlungen und Gerichtsverhandlungen galten. Aber auch die Aufenthaltsgenehmigungen für im Land lebende Fremde wurden Symbola genannt.
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digungen und Verstehen dieser Verständigungen bei jedem der Zusammenwerfer, jedem kompetenten Symbolverwender, führte.13 Das Peirce’sche Konzept des Symbols verleiht den Symbolen aber nicht nur dadurch einen Körper, dass es über Sin- und Legizeichen auch semantisch Type und Token aufeinander bezieht. Die Semantik rekapituliert nicht einfach nur die Syntaktik: Sie schließt sie nicht nur reflexiv in sich ein, sondern setzt sie in den Raum vergemeinschafteter Beziehungen. Jeder semantische Begriffstype existiert nur einmal in der deutschen Sprache, aber seine Definition ist erst dadurch möglich, dass wir hier und jetzt ein Token als Sinzeichen verwenden. Die reflexive Beziehung des Zeichenereignisses begründet die materiale Untrennbarkeit des Allgemeinen vom Individuellen, die sich auch auf der Ebene der Semantik des Symbols wiederholt: Ebenso wie das Symbol als Type und Legizeichen stets nur als ein Token und Sinzeichen erfahrbar ist, so ist ein Symbol, gleichgültig, ob es sich um einen Terminus, eine Aussage oder ein Argument handelt, nur dann auf Objekte bezogen, wenn es durch seine indexikalische und ikonische Materialität, durch faktische und qualitative Bezüge, ihnen bereits zugeordnet ist. Symbolische Semiosen sind somit stets auch Prozesse der ikonischen und indexikalischen Zeichenbildung, die der Symbolisierung ihre Wirklichkeit verleihen. Die pragmatische Methode ist deshalb auf Symbole anwendbar. Folglich kann es keine Symbole geben, keine Begriffe oder Abstraktionen, ohne dass sie konkret in einzelnen, praktischen Zeichenverwendungen erfolgreich verkörpert sind. Denn der Pragmatist, so fordert Peirce, „unternimmt es, durch eine genaue Untersuchung der Logik zu beweisen, daß Zeichen, die lediglich Teile eines endlosen Viadukts für die Übertragung eines Ideen-Potentials sein sollten, ohne die Übermittlung in irgendetwas anderes als Symbole, nämlich in Handlung oder Handlungsgewohnheiten (habits of action), überhaupt keine Zeichen wären, da sie die Funktion von Zeichen nicht […] erfüllen würden; und weiterhin, daß die Prinzipien der Logik beweisen, daß es, ohne Verkörperung in etwas anderem als Symbolen, nicht das geringste Wachstum der Ideen-Potentialität geben könne.“14 Damit ist die pragmatische Seite auch der Entwicklung von Symbolen angesprochen: Unsere Ideen und unser Denken in Symbolen entwickelt sich nur dann 13
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Jene symbolischen Artefakte, grafischen und sprachlichen Zeichen aber, die über Jahrhunderte immer wieder Gegenstand kultureller Verständigungen und Aufmerksamkeit waren, gewinnen schon dadurch eine herausgehobene Bedeutung. Das esoterische und religiöse Verständnis des Symbols überhöht diese Bedeutung dann noch einmal ins Mystische oder Transzendente. Charles S. Peirce: Semiotische Schriften, Bd. II, hg. v. Christian Kloesel/Helmut Pape, Frankfurt/M. 1990, S. 334 f.
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weiter, wenn die Praxis des Verwendens durch die ikonischen und indexikalischen Zeichenbezüge bestimmt werden kann. Eine Sprache als ein Symbolsystem zu verstehen, heißt auch zu verstehen, welche logischen Beziehungen zwischen Begriffen und welche logischen Beziehungen zwischen Aussagen in ihrer Verwndung bestehen.15 Aber nur aufgrund seiner indexikalischen Verwendung kann ein Symbol auf ein individuelles Objekt bezogen sein. Einem symbolischen Terminus die Erfahrung des Vorkommens eines Gegenstandes in einer Situation zuordnen zu können, bedeutet also nichts anderes als fähig zu sein, dieses Symbol als Replika und damit auch als token indexikalisch zu verwenden. Eine Aussage, wie z. B. „Heute regnet es den ganzen Tag“ – erlangt erst durch ihre Verwendung an einem bestimmten Tag, durch die Handlung des Behauptens, eine eindeutige, entscheidbare Bedeutung. Ein wahrheitsfähiger Gehalt der Aussage ist erst aufgrund der Verwendung der Aussage in einer Situation aufweisbar – oder eben nicht. Aus der semiotischen Verkörperungstheorie folgt somit, dass die gelungene Herstellung einer Symbol-Replika Beziehung darüber entscheidet, ob die Bedeutung von Symbolen praktisch nachweisbar ist.16 Durch die Beziehung einer allgemeinen symbolischen Form zu einzelnen Fällen ihrer Verwendung oder Replikas wird die Bedeutung dieser symbolischen Form an die Praxis des Handelns gebunden. Das kann aber nur heißen, dass durch den Erwerb der habits of action Bedeutungen erkennbar und beurteilbar werden. Dies entspricht den sensomotorischen Fähigkeiten des Herstellens und Wiedererkennens von materialen Zeichenfolgen. Nur so können wir Symbolbedeutungen klären und ihnen konkrete, erfahrbare ikonische Gehalte indexikalisch zuordnen.17 Inso15
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Dieses Verstehen ist somit selbst eine Praxis: Erst die Verwendung eines Symbols in einer Sprache konstituiert seine Bedeutung und seine logische Funktion, die der Praxis implizit ist. Damit die Bedeutung einer Aussage durch ihre Verwendung in einer geeigneten, relevanten Situation beurteilt werden kann, muss diese Aussage in eine indexikalische Aussageform gebracht werden. Eine solche indexikalisch verwendete Aussage nennt Peirce die „Replika“ der Aussage als symbolische Form. Er schreibt: „ohne Bedeutung ist jede explikative Aussage, wenn sie nicht als eine Aussage über eine bestimmte Art Symbol betrachtet werden kann, von der eine Replika tatsächlich vorkommt. […] Also ist jede Art von Aussage entweder bedeutungslos oder sie hat eine reale Beziehung zu ihrem Objekt.“ (PLZ, S. 77 f.) Eben darin liegt die semiotische Entsprechung zum Peirce’schen Pragmatismus, der behauptet, dass nur die praktischen Konsequenzen die Bedeutung eines Begriffs klären können – wenn er denn eine hat. Die Unterscheidung zwischen Semantik und Syntaktik in Sprachphilosophie und Linguistik ist oberflächlich und nicht generell haltbar, wenn es um Symbolverstehen geht. Denn gerade durch die Beziehung zwischen token und type sind allgemeine Form und Bedeutung miteinander verknüpft. Und wir können auch genau angeben, warum das so sein muss: Die objektive Seite der Semantik des Symbols, die das Einschließen von ikonischer und indexikalischer Objektbeziehungen erfor-
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fern Menschen auch fähig sind, im Gebrauch von Symbolen die ikonischen Ähnlichkeitsbeziehungen, die sie wahrnehmen, mit den indexikalischen Anlässen zu verbinden, sind sie zum Verstehen praktischer Konsequenzen in der Lage. Das Verstehen von Symbolen wie „Pferd“ kann niemals allein in den sensomotorischen Fähigkeiten des Herstellens und Wiedererkennens von Lautoder Grafikformen von „Pferd“ bestehen, weil schon die Fähigkeiten des Herstellens und Wiedererkennens semiotischer Formen ein sensomotorisches Wissen einschließen, das praktisch und habituell nur dann gelingt, wenn es weit über die Symbolbildung hinausgeht. Keine Symbolisierung ist ohne die nur praktisch ausgeübten sensomotorischen Fähigkeiten möglich, die zu diesem praktischen Wissen gehören. Das Verfügen-Können über sensomotorische Fähigkeiten zur semiotischen Bindung von Formerfahrungen ist bereits mit einem praktischen Wissen verknüpft: Ich weiß z. B. praktisch, wenn ich ein Pferd von hinten sehe, dass ich das Ganze des Pferdes sehen kann, wenn ich mich um das Pferd herum bewege. Dieses Wissen ist körperlich basiert und vorbewusst, ja kann meistens nicht sprachlich ausgedrückt werden. Das gilt für alltägliche sensomotorische Fähigkeiten, aber auch für die Fähigkeit eines Musikers, sein Instrument zu spielen und im freien Spiel mit anderen im Ensemble seine Fähigkeit des Spielens eines Instruments einzubringen und zu modifizieren. Alva Noë argumentiert deshalb,18 dass ein Pianist, der seine Arme verloren hat, auch nicht mehr über das armrelative sensomotorische Wissen verfügt, wie diese Stücke zu spielen sind. Der armlose Pianist mag dann ein noch so guter Musiklehrer, -kritiker oder -theoretiker sein, das sensomotorische Wissen und die Fähigkeit, Klavier zu spielen, hat er mit seinen Armen verloren, weil er keinen Zugang zu dieser Form der Replika-Formung hat. Aber auch das praktische Wissen um die replizierende Anwendung der Symbole ist körperlich basiert. Ob als habit oder als sensomotorische Fähigkeit verstanden, es bedarf im Gebrauch keiner bewussten Entscheidung. Die Regel des Symbols zu kennen heißt deshalb, aufgrund der eigenen habits die für die Symbol-Replika erforderlichen sensomotorischen Fähigkeiten und kognitiven Verstehensleistungen im Symbolgebrauch spontan einsetzen zu können. Denn nur so sind, wie Peirce betont, der Bezug zur Gemeinschaft der Interpretation und die Tatsache, dass wir uns in spontan verfügbaren Gewissheiten immer schon auf sie beziehen, verständlich.19 Deshalb ist es auch möglich, die Verkör-
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derlich macht, entspricht und ist koordiniert mit der semiotischen Bindung der Semantik, die die Verwendung des Symbols als Fähigkeit beschreibt, Token oder Replikas eines Symbols zu bilden. Alva Noë: Action in Perception, Cambridge, MA 2004. So Peirce 1903: „Das Sein des Wortes selbst besteht in der Gewißheit (die sich der Konvention verdankt), daß eine Replika, die aus einer Folge von Lauten eines gege-
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perungsthese der Semiotik sowohl ethisch wie metaphysisch zu verallgemeinern. Ohne die Beziehung zwischen Symbolen, Indices und Ikons zu erwähnen, formuliert Peirce deshalb eine metaphysische Version seiner Verkörperungsthese, die den Vorteil hat, den Gegensatz zwischen Theorie und Praxis zu überwinden. Das ist dadurch möglich, dass in dieser Formulierung die Beziehung des sich entwickelnden Denkens zu seiner Umgebung thematisiert wird und so eine Grundlage sowohl für moralische als auch für die theoretische Erkenntnis angebbar ist: „Die Art und Weise, in der Geist auf Materie wirkt, besteht darin, daß er ihr die Übereinstimmung mit bestimmten besonderen Gesetzen auferlegt, die Zwecke genannt werden, und die Art der Reaktion besteht darin, daß die Zwecke selbst verändert und entwickelt werden, indem man sie ausführt. Die logische Analyse zeigt, daß es wesentlich für die Darstellung ist, daß sie sich dadurch selbst entwickelt, daß sie der Materie Zwecke auferlegt. […] Die dritte und vornehmste Funktion der Darstellung ist die Entwicklung. […] der Prozeß der Entwicklung ist das summum bonum. Nur darf man nicht vergessen, daß die Entwicklung der Idee ihre Reproduktion einschließt, ja, daß sie undenkbar und bedeutungslos ist, es sei denn im Rahmen einer Schöpfung. Denn Denken ist ein Prozeß, und zwar ein kreativer Prozeß.“ (PLZ, S. 169) Seinem Denken als kreativer Prozess folgt jeder Symbolverwender, der den situativ-indexikalischen Gebrauch der einzelnen Replika eines Symbols beherrscht: Er hat die Bedeutung eines Wortes verstanden. So wird der Körper der Symbole zur Basis des Verstehens in der Wahrnehmung von Zeichen in der Situation ihrer Verwendung: Eine in einer Replika reproduzierte Verkörperung des Symbols gestattet es, immer wieder mit der Entwicklung der Bedeutung der Symbole fortzufahren.
benen Typus zusammengesetzt ist, im Geist eine äquivalente Replika hervorruft. Ein Symbol ist also ein allgemeines Zeichen, und als solches hat es die Seinsweise einer Gesetzmäßigkeit (im wissenschaftlichen Sinne). Folglich verrät, wenn bestimmte Leute sagen, daß etwas ‚bloß‘ ein Wort ist, das Adjektiv ‚bloß‘ ein tiefgehendes Unverständnis für das Wesen des Symbols.“ (PLZ, S. 66)
Volker Gerhardt
D I E Ö F F E N T L IC H E F OR M D E S G E I S T E S „Brain is wider than the sky, deeper than the sea, and just the weight of God.“ (Emilie Dickinson)
0. Ad p er sona m Wenn der Tod uns einen Menschen entreißt, dem wir als Person verbunden sind, einen Menschen, der uns in seiner Haltung wie in seiner Leistung beeindruckt, lässt sich die Trauer nicht auf die Zeit begrenzen, in der früher Schwarz getragen wurde. Sie wird zur Grundstimmung, die bis zum eigenen Lebensende vorläuft. Und sollten wir nicht alles getan haben, um dem Toten im Leben beizustehen, kommt ein Schmerz hinzu, der jedes Mal spürbar wird, wenn uns die vordringlichen Tagesaufgaben nicht genügend schützen. So ergeht es mir mit John Michael Krois, der mir aus dem Kreis der Kollegen des Instituts am nächsten stand. Ich habe ihn 1986 auf einer CassirerKonferenz in Zürich kennengelernt und dort nach seinem Vortrag über Cassirer und Goethe ein längeres Gespräch mit ihm geführt. Sieben Jahre später war es mir wichtig, die Professur für Anthropologie und Kulturphilosophie so auszustatten, dass auch John Michael Krois von Düsseldorf mit nach Berlin wechseln konnte. Es war Oswald Schwemmer, der durch den Aufbau seines Lehrstuhls und durch sein Engagement für die Nachlass-Edition der Werke Ernst Cassirers diesen Wechsel möglich gemacht hat. Später habe ich in zwei Anläufen die Verhandlungen mit der Senatsverwaltung geführt, die sich aus Furcht vor der Antragsflut übergeleiteter DDRKollegen der Ernennung von Krois zum Professor widersetzte. Das war in dieser Lage zwar allgemein verständlich, mit Blick auf den aus Amerika stammenden, dort ausgebildeten und in Düsseldorf habilitierten John Michael Krois jedoch eine in jeder Hinsicht absurde Posse, die schließlich aber einen glücklichen Ausgang nahm. Zweimal habe ich ein gemeinsames Seminar mit Krois angeboten: Über Menschenrecht und Rhetorik bei Martin Luther King und über John Deweys Experience and Nature. Im Unterschied zu anderen Versuchen dieser Art, wa-
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ren beide Veranstaltungen überaus gelungen. Es kam zum „Du“ und mit ihm zu einer Vertrautheit, wie sie außer zu ihm an der Humboldt-Universität nur noch zu zwei weiteren Kollegen in der Skandinavistik und der Theologie bestand.
1. E i n Vor t rag f ü r Joh n K rois Unser letztes Gespräch am 7. Juli 2010 hat sich auf meine Bedenken gegen den Begriff der „Verkörperung“ bezogen. Während sich der Senatssaal mit den Gästen zu Rahel Jaeggis Antrittsvorlesung füllte, habe ich John auseinandergesetzt, warum der Begriff, streng genommen, nur passend ist, wo von der Eigenständigkeit des Geistes ausgegangen werden kann. Wo es den Geist bereits in der Form von Gedanken oder Vorstellungen gibt, da bedarf er, um über Mitteilung wirksam zu werden, der Veranschaulichung. Zum Zweck der Kommunikation oder unter den besonderen Bedingungen technischer Realisierung oder künstlerischer Produktion kann das mit einer Verkörperung verbunden sein. Ob das aber Grund genug ist, dem Terminus die Stellung zu geben, die ihm in der Philosophie und der Psychologie der letzten Jahre zugeschrieben wird, bedürfe der Klärung. Ich bin nicht sicher, ob bei diesem Gespräch die Bemerkung fiel, dass Hegel der einzige sei, der wirklich Anlass habe, von „Verkörperung“ zu sprechen. Nur wenn ursprünglich alles „Geist“ ist, können die Gestalten des Lebens dessen „Verkörperungen“ sein. Tatsächlich verwendet Hegel im Anthropologie-Kapitel seiner Enzyklopädie den Begriff der Verkörperung in eben diesem Sinn.1 Der Organismus verleiht dem Geist eine sinnliche Verfassung und damit eine – durch Körper, in Körpern und mit Körpern – wirksame Form. Aber was soll ein Denker, für den ursprünglich alle Bewegung materiell und somit körperlich ist, vom Begriff der Verkörperung erwarten? Mehr als eine Mechanik des Übergangs von einem physischen Zustand in einen anderen? Mehr als eine Verkörperung eines Körpers – was den Begriff ad absurdum führen würde? Solle der Terminus hingegen gehaltvoll sein, bleibe nur die Ver-
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), 3. Teil, Die Philosophie des Geistes, Der subjektive Geist, Anthropologie, §§ 377–412. Die „Verleiblichung des Geistes“ – etwa in den Affekten – ist in § 401 zentrales Thema der „psychischen Physiologie“. Vom Geist heißt es in § 392, Zusatz: „Der Geist, als verkörpert, ist zwar an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Zeit, dennoch über Raum und Zeit erhaben.“ Dem liegt, um wenigstens so viel zur Erläuterung anzufügen, die unüberbietbare Einsicht zugrunde: „Der Geist ist die existierende Wahrheit der Materie, dass die Materie selbst keine Wahrheit hat.“ (§ 389)
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körperung von mentalen Zuständen, von Gefühlen, Vorstellungen oder Ideen, die man so oder anderes zum sichtbaren oder hörbaren Ausdruck bringen kann. Wolle man jedoch mehr damit sagen, etwa wie es zur Ausbildung von Zeichen, Bildern oder symbolischen Formen kommen könne, käme es einem Rückfall in eine Metaphysik des reinen Geistes gleich, sobald man von „Verkörperung“ spreche. Denn wörtlich verstanden setze der Begriff eine nicht körperliche Disposition voraus, die durch einen formgebenden Akt in ein körperliches Gebilde transformiert werden müsse. Dann scheine zwar größtes Gewicht auf dem Gegenständlichen und Bildlichen, auf Produktion und Kommunikation und damit auch auf den Medien zu liegen. In Wahrheit aber bleibe es bei einem nicht eingestanden Vorrang des Geistes. Also könne man den dann doch irgendwie als eigenständig angenommenen Status des Bewusstseins gar nicht stärker akzentuieren, als durch die These, Bedeutung bedürfe der Verkörperung, um als Bedeutung wirksam zu sein. Mir hingegen, so erinnere ich mich an das Gespräch, erscheine es plausibler, von der ursprünglichen Körperlichkeit aller Dinge auszugehen, die sich im Übergang zum Leben Myriaden spezieller Aktionsräume schaffe, deren Vorzug es sei, ihre Bewegungspotentiale nicht mehr allein durch Druck und Stoß auszuschöpfen, sondern zunehmend auf Distanz gehen zu können, ohne dabei die physische Verbindung abreißen zu lassen. Daher sei der entscheidende Vorgang, auf den sich die Analyse von Sachverhalten, die als geistig oder bildlich begriffen werden, nicht die Verkörperung, sondern vielmehr die in ihnen gelingende Distanzierung von der Unmittelbarkeit des körperlichen Zusammenhangs. John war so großzügig, nicht erkennen zu lassen, wie abwegig er die im Gespräch gewiss etwas weniger wortreich vorgetragene Ansicht fand. Er lud mich umstandslos zu einer der nächsten Sitzungen der Kolleg-Forschergruppe Bildakt und Verkörperung ein, damit ich Gelegenheit fände, meine Auffassung vorzutragen. Doch dazu kam es nicht mehr. Die Krankheit, die ihn, wie ich nachträglich meine, bereits gezeichnet hatte, wurde kurz darauf erkannt und ließ ihm nur noch drei Monate zum Leben. Ich sehe eine Verpflichtung darin, uns heute das vorzutragen, was ich vor einem Jahr gern in seinem Beisein entwickelt hätte.
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2. E nt kör p erl ic hu ng a ls Med iu m der k u lt u rel len Evolut ion Die Generosität von John Krois kam auch in seiner spontanen Einladung zum Ausdruck. Vermutlich war ihm augenblicklich klar, dass ich ein eingeschränktes Konzept von „Verkörperung“ zugrunde lege, dem der Wortgebrauch des englischen embodiment gar nicht folgen muss und an der er in der Nachfolge von Peirce und Wind selbst schon wesentliche Korrekturen angebracht hatte.2 Die Deutung, auf die sich mein skizzierter Einwand stützte, dürfte nur für reduktionistische Auffassungen gelten, wie sie etwa im physikalisch angelegten Naturalismus Ruth Milikans oder David Papineaus anzutreffen sind.3 Sie mag auch auf ältere Konzeptionen zutreffen, die eine Engführung der Theorie künstlicher Intelligenz aufzuheben suchen. Da kann es als Erweiterung gelten, im Vergleich mit den Rechenprozessen der turing und der computing machines ein Stück Natur zurückzugewinnen, um dem Leib noch eine Rolle als Träger oder Hülle des Denkens zuzugestehen. Inzwischen aber wird der Ausdruck embodiment so vielfältig verwendet, dass die Einseitigkeit als behoben gelten kann. Mit Blick auf die Arbeiten von Antonio Damasio, Andy Clark, Shaun Gallagher, George Lakoff, Mark Johnson oder Horst Hendricks-Jantzen4 hat sich der Horizont der Debatte beträchtlich erweitert und man darf davon ausgehen, dass der Körper nicht etwa nur als Hülle, Träger oder Werkzeug des Geistes angesehen wird, sondern eher als dessen Subjekt. Unter diesen Bedingungen kann body selbst als originärer Ausdruck des Geistigen und damit auch mit Referenz auf das Bewusstsein als das Integral der Lebensvorgänge gelten, das er ist. Damit ermäßigt sich der kritische Impuls meines Einwands, zumal beim embodiment gar nicht allein vom einzelnen Leib gesprochen werden kann. Vielmehr muss auch dessen natürliches und soziales Umfeld einbezogen werden. Unter Berufung auf Einsichten, die im angelsächsischen Sprachraum mit den Arbeiten von Varela und Maturana, von Gregory Bateson oder, in neuerer Zeit, von Gerald Edelman entwickelt worden sind (und über die wir in Deutsch2 3 4
Siehe dazu die in diesem Band mehrfach genannten Arbeiten von John Michael Krois. Ruth Garrett Millikan: Varieties of Meaning, Cambridge MA 2004; dies.: Language. A Biological Modell, Oxford 2005; David Papineau: Thinking About Consciousness, Oxford 2002; ders.: The Roots of Reason, Oxford 2003. Andy Clark: Being There. Putting Brain, Body and World Together Again, Cambridge MA 1997; Antonio Damasio: The Feeling of What Happens. Body and Emotion in the Making of Consciousness, New York 1999; George Lakoff/Mark Johnson: Metaphors We Live By, Chicago 1989; Horst Hendriks-Jansen: Catching Ourselves in the Act. Situated Activity, Interactive Emergence, Evolution, and Human Thought, Cambridge MA 1996.
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land seit Jakob von Uexküll und Helmuth Plessner schon etwas länger verfügen) wird der Körper in seiner Beziehung zur Umwelt verstanden, so dass embodiment auf den Leib als Gesamtorgan eines in das environment bezogenen Gattungsgeschehens bezogen werden muss. Unter diesen Bedingungen wird Bedeutung in Eindruck und Ausdruck, in Erleben und Handeln, in Rezeption und Produktion – und dies jeweils im umweltbezogenen Austausch mit seinesgleichen – generiert. Sie ist nicht als solche vorgegeben, sondern wird im Vollzug des interaktiven Daseins hervorgebracht. Damit bleibt sie in ihrer Geltung an die leiblichen Vorgänge gebunden.
3. E nt kör p erl ic hu ng Mag sein, dass mit dieser Beschreibung dem embodiment zu viel unterstellt wird. Doch unter dieser Voraussetzung kann auch ich den Begriff gelten lassen und der Rede von der Verkörperung bedenkenswerte Einsichten abgewinnen. Aber sie dürfen, wie im Folgenden deutlich werden soll, nicht zu eng an die individuellen leiblichen Vollzüge geknüpft sein. Denn sosehr sie in ihrer Herkunft und Ausübung an die selbsttätige Präsenz des einzelnen Leibes gebunden bleiben, entstehen sie doch erst in Vollzügen der generativen wie der kommunikativen Selbstüberschreitung des Körpers. Es ist der zu sich selbst und zu seinesgleichen auf Distanz gehende Leib, der als Ursprung des Bewusstseins oder des Geistes anzusehen ist. Das will ich in den folgenden Bemerkungen kenntlich zu machen versuchen. In dieser Absicht werden einige Stationen der kulturellen Entwicklung des Menschen skizziert. Sie sollen anschaulich machen, wie es gewesen sein könnte, dass der Mensch zu seiner geistigen Verfassung kommt. Und es soll deutlich werden, dass der Geist überhaupt erst in Funktionen hervortritt, die ihren Ursprung nirgendwo anders als in der gleichermaßen technischen wie sozialen Organisation lebendiger Körper haben können. Aber sie sind nicht auf sie beschränkt. Das Entscheidende ist die Überschreitung der Körperlichkeit. In Anerkennung der Leibhaftigkeit aller Lebensprozesse könnte sie uns nötigen, von der Entkörperung des Lebendigen bereits unter den Bedingungen des sozialen Stoffwechsels zu sprechen. Und es ist diese Entkörperung, dieses, wenn ich so sagen darf, debodiment, das es zunehmend erlaubt, unter Verzicht auf physischen Druck und gewaltsamen Stoß im Medium bloßer Sichtbarkeit Verbindungen herzustellen, um schließlich durch bloße Vorstellung eine Exaktheit der Verständigung möglich zu machen, die es unter den Konditionen bloßer Körperlichkeit gar nicht geben kann. Kurz: Ich optiere für die Entstehung des Geistes unter den Konditionen zunehmender somatischer Distanz, die durch Techniken ermöglicht wird und
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soziale Dimensionen eröffnet. Dabei möchte ich wenigstens ahnen lassen, dass die „Befreiung“ von Druck, Stoß und direktem körperlichen Kontakt es ist, die uns von der unmittelbaren Bindung an die gegebene Stofflichkeit emanzipiert. Erst dadurch kommen Bewusstsein und Geist ins Leben, die uns möglicherweise auch verstehen lassen, wie es zum Anspruch auf Freiheit kommen kann. Bewusstsein ist immer auch Ausdruck einer partiellen Freisetzung von den vorgegebenen physischen Elementen, und Geist muss als der geborene Anwalt der Freiheit verstanden werden. Erinnern wir uns nur daran, dass Nietzsche keine Gelegenheit auslässt, die Freiheit in Abrede zu stellen, aber nicht umhin kann, mit allen seinen Hoffnungen auf den „freien Geist“ zu setzen. Die Freiheit wird bereits zur Kommunikation, Kooperation und erst recht zur eigensinnigen Produktion benötigt. Sie wirkt bereits im Übergang von der Natur- in die Kulturgeschichte, in der sie dann auch als Freiheit bewusst werden kann.5 Natürlich kann der Geist sich nicht, wie ihm gelegentlich träumen mag, völlig von den physischen und somatischen Konditionen befreien. Er bleibt an die endliche Gegenwart des Stoffs gebunden und ist, wie uns noch der Anlass zu dieser Tagung vor Augen führt, sterblich. Doch im Leben vermag er den durch die Technik erweiterten Raum zur Disposition über die erstmals durch ihn erkannten Alternativen nutzen, so dass er sich vom jeweils Gegebenen lösen und eigene Präferenzen ausleben kann. Mitten in der Natur, die aus sich heraus das Leben möglich macht, das aus sich heraus die physiologischen Grenzen des jeweiligen Körpers hinter sich lässt, aus sich heraus Gattungszusammenhänge zu sozialen Körpern formt, sich durch sie nötigen lässt, die somatische Technik ihrer internen Organisation in den sozialen Raum zu erweitern, sich in der Extroversion der Technik derart herausfordert, dass sie sich der bloßen Technik der Berechnung und exakten Verständigung unterwirft, die sich bereits in der Entstehung des Lebens die Freiheit nimmt, mehr zu tun, als physikalisch nötig wäre. Diese Natur bringt auch den Geist auf den Weg, aber nicht um ihn zu „verkörpern“ – denn körperlich ist alles ohnehin. Vielmehr vollzieht sich im Aufschwung der lebendigen Natur das Gesetz der Evolution, die offenbar keinen Lebensraum unbesetzt lassen kann und dazu das technische Organ des Geistes nutzt, um großflächig und von speziellen Umwelten unabhängig über möglichst viel Stoff verfügen zu können.
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Zur Naturgeschichte der Freiheit siehe Volker Gerhardt: Leben ist das größere Problem. Philosophische Annäherung an eine Naturgeschichte der Freiheit, in: Berichte und Abhandlungen, Bd. 13, hg. v. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin 2007, S. 195–216; überarbeitete Fassung in: Jan-Christoph Heilinger (Hg.): Naturgeschichte der Freiheit, Berlin/New York 2007 (Humanprojekt 1), S. 457–479.
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Dazu benötigt sie zunächst und in allem den Stoff, den es so oder so zu organisieren gilt und dem sie Gestalten und Formen verleiht, die sich in ständigem Übergang befinden. Wenn sich diese Gestalten und Formen aber unter Wahrung ihrer Eigenart verbinden sollen, wenn es um die Organisation des jeweils Individuellen zu individuellen Einheiten größerer Wirksamkeit geht, dann reichen Druck und Stoß nicht aus und es bedarf der Fähigkeit zur Distanz, deren Risiken durch Präzision in der wechselseitigen Verständigung aufgewogen werden müssen. Beides bietet der Geist, der Ausdruck einer graduellen Entkörperlichung ist, obgleich er in den Akten der konkreten Verständigung auf jeweils neue Akte der Verkörperung angewiesen ist, wie sie uns im Bild und in der Schrift vor Augen stehen.
4. D ie k u lt u rel le E x isten z des Mensc hen Die Philosophie geht seit Platon davon aus, dass die Besonderheit des Menschen damit ihren Anfang nimmt, dass er für seine Lebensmittel selbst zu sorgen hat. Gewiss: Sogar die Auster muss etwas tun, um am Leben zu bleiben. Und für den Menschen hat Blumenberg gezeigt, dass nicht allein der aufrechte Gang, sondern bereits der aufrechte Stand eine besondere Leistung ist. Man muss nur einmal versuchen, ein paar Stunden auf der Stelle zu stehen und schon weiß man von der singulären Schwierigkeit, Mensch zu sein. Beim Menschen genügt es aber nicht, nur die spezifische Beweglichkeit des Körpers und seiner Sinne zum Einsatz zu bringen. Dem Menschen reicht es auch nicht, sich Höhlen zu graben oder Nester einzurichten. Er begnügt sich nicht damit, gelegentlich herumliegende Stöckchen oder Steine als Werkzeug zu nutzen oder, wie es die Amazonas-Delphine tun, sich für die Zwecke der Brautwerbung mit dem Schwenken stattlicher Pflanzenbüschel aufzuwerten. Der Mensch ist in seiner Lebensweise auf planvoll und gemeinschaftlich genutzte Mittel angewiesen, die er für durchaus unterschiedliche Zwecke zu verwenden versteht. Was das bedeutet, ließe sich am Umgang mit dem Feuer illustrieren, das vom Menschen – und nur von ihm! – im Gang von zwei Millionen Jahren eingehegt und dienstbar gemacht worden ist. Die Selbstdisziplin, die in der Überwindung der Furcht vor dem Feuer nötig war, der Grad an sozialer Kooperation, der die Nutzung des Feuers ermöglichte, und der Erfindungsreichtum, der in den unterschiedlichsten Verwendungsformen des Feuers zum Ausdruck kommt, erlaubt uns, das Spektrum kultureller Leistungen zu imaginieren, durch die sich der Mensch allererst zum Menschen entwickelt hat. Bei Platon ist es Prometheus, der dem physiologisch entspezialisierten Menschen das Feuer aus der Waffenschmiede eines Gottes stiehlt und so dem ohne Fell, ohne Flossen, ohne Flügel und ohne Klauen oder Hauer ins Dasein
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gesetzten Menschen einen Aufstieg ermöglicht, der den Neid der Götter erregt. Dabei steht das Feuer für alles, was Wärme gibt, so dass unwirtliche Gegenden bewohnbar werden. Es erlaubt, dass sich der Mensch zum einzigen Lebewesen entwickelt, dass seine Nahrung kochen, schmoren, backen oder braten kann. Sein Speisezettel erweitert sich dadurch beträchtlich. Die erhöhte Kalorienzufuhr hat das Wachstum seines Großhirns begünstigt, das gefordert war, weil er (das Feuer versichernd im Rücken und vieles erhellend vor Augen) sich neuen Herausforderungen der Arbeitsteilung widmen konnte. Der Mensch ist also darauf angewiesen, seine arbeitsteilige Kultur zu bewahren, um die Lebenschancen zu haben, auf die es ihm selbst ankommt. Alles, was mit der Sicherung und Ausgestaltung seines kulturellen Lebensraums zusammenhängt, findet sein besonderes Interesse. Und da er in der Erhaltung und Entfaltung seiner Kultur stets über den Augenblick der eigenen Tat hinaus sein muss, um die unerlässliche Kooperation mit seinesgleichen sicherzustellen, erweitert sich sein Wahrnehmungsfeld um Zukunft und Vergangenheit.
5. Te c h n i k a ls I nst r u ment a r iu m der Ku lt u r Die lebendige Natur die allemal aus Organismen besteht, die unter einander – und dies keineswegs nur im Kontext ihrer Gattung – in organisierten Zusammenhängen leben, lässt sich als eine Vielfalt von Organisationen begreifen, die ineinandergreifen, sich überlagern, überlappen und zugleich in dramatischer Weise gegeneinander stehen. So können Organismen und Organisationen als Komplex von Mitteln und Zwecken beschrieben werden, die man auch als Gefüge von Techniken ansehen kann. Eines dieser Gefüge von Techniken ist die Kultur. Kultur entsteht mit und in der Verselbständigung einzelner Techniken, mit denen es gelingt, neue zu erfinden und sie mit anderen Techniken zu kombinieren. So wird die vom Menschen in Dienst genommene Technik zur Brücke, die aus der Natur in die Kultur hinüberführt. Durch den sich steigernden Eigenanteil des Menschen wird sie zu dem ihm selbst zugehörenden Faszinosum, in dem sich der Mensch in seinen eigenen Leistungen bewundert. Technik, so kann man auch sagen, ist die durch die Fähigkeiten des Menschen entfesselte Natur, die als Kultur erfahren wird und einer beständigen Pflege, Lenkung und Aufsicht bedarf. Als das über die Natur des Menschen entscheidende Lebensmittel ist es auch am stärksten in den Kampf um knappe Ressourcen und verlässliche Lebenschancen eingebunden. Das fordert den Preis einer unablässigen Verbesserung der Techniken, die ihm das Leben ermöglichen. Es ist die Technik, die dem Menschen berechenbare Sicherheiten bietet, und die zugleich die denkbar größte Unruhe in das Leben der Gattung bringt.
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Sie weitet den Radius seiner Lebenskreise aus, erhöht seine Wirksamkeit und exponiert ihn immer neuen Risiken. Die Perfektionierung, zu der die Technik selber nötigt, entscheidet darüber, wie hoch die Lebenschancen des Menschen unter dem sich mit der Technik zwangsläufig steigernden Risiko des kulturellen Daseins sind. Wer die Technik geringschätzt, lässt nicht nur den Sinn für Natur und Kultur vermissen; ihm fehlen nicht nur Auge und Ohr für die Kunst, sondern auch das Sensorium für sich selbst. Denn alles, was an ihm spezifisch menschlich ist – ganz gleich, ob es sich um die Sprache, das Denken, die Moral oder die Institutionen des Rechts, der Religion oder der Wissenschaft handelt –, ist Technik. Und zugleich vermag der Mensch zu glauben, er könne sich in der Distanz zu sich und seinen Lebensformen von allen Techniken befreien, um nur bei sich selbst zu sein.
6. Wissen a ls i nter na l isier te Te c h n i k Es gibt eine Technik, die der Mensch erfindet und sich wie keine andere zu eigen macht. Das ist die Technik des Wissens. Sie ermöglicht es ihm, individuell bei sich selbst und zugleich unmittelbar bei seinesgleichen zu sein – und dies durch nichts anderes als dadurch, dass er sich auf denselben Sachverhalt bezieht! In der Natur gibt es nichts, dass sich im strengen Sinn des Wortes als „dasselbe“ bezeichnen lässt. Alles ist individuell; auf seinem Platz und zu seiner Zeit ist jedes Ding einmalig – selbst wenn es vom Fließband kommt. Zwar gleicht ein Ei dem anderen, aber keines ist mit dem anderen wirklich – physisch und mathematisch – gleich. Erst die Organisation des Lebens führt zur Entsprechung von Funktionen, die es erlauben, Materialien, Konditionen, Prozesse und Effekte als gleich anzusehen. Es ist dies eine funktionale Gleichheit in Relation zu den vom Leben aufgebauten Strukturen. Streng genommen ist jedoch auch hier kein Vorgang mit irgendeinem anderen identisch. Erst mit der organisierenden Leistung des Denkens, das im kommunikativen Zusammenhang mit Anderen Wissen ermöglicht, kommt es, wie wir aus Mathematik und Logik wissen, zu „Gleichungen“ im strikten Sinn. Dass sie im täglichen Leben nicht ohne Bedeutung sind, belegt ein Blick auf die Uhr: Jeder hat seine Uhr an seinem Arm, die auf ihrem Ziffernblatt ihre Zeiger hat, die in ständiger, nur an ihrem Ort stattfindender Bewegung sind. Wir betrachten sie gleichwohl so, als stünden sie für den Augenblick der Zeitansage still. Und so zeigen sie jedem, vorausgesetzt, sie gehen richtig, dieselbe Zeit. Diese Gleichheit gibt es nur unter den Konditionen des Wissens. Und nur das Wissen lässt uns erkennen, dass es diese Gleichheit nur unter jeweils ungleichen Umständen gibt. Das unterstreicht die Erkenntnis, dass es das Wissen ist, in dem Individualität und Universalität verbunden werden.
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Diese Leistung des Wissens ist auf das Engste mit den reproduktiven Effekten der Technik verknüpft. Auch unter diesem Aspekt erweist sich die Technik als die eigentliche Bedingung der kulturellen Lebensform des Menschen. Dass sie die Voraussetzung für die Leistungen der Sprache, der symbolischen Darstellung, der Schrift sowie der darauf gegründeten Manifestationen der Kunst, der Politik und der Wissenschaft ist, darf hier als selbstverständlich gelten. Also kann man das Wissen als die Technik bezeichnen, mit der sich der Mensch die Technik am stärksten einverleibt. Zugleich ist sie es, durch die er die Stabilität gewinnt, die ihm in seinen Instrumenten und Institutionen entgegentritt. Nur sofern er mit den technischen Leistungen eine – notwendig pragmatische – Bedeutung verbindet, sich in ihnen versteht und wiedererkennt, können sie ihm die Sicherheit geben, die sich mit der metaphorischen Vorstellung vom „kulturellen Gehäuse“ verbindet. Da Wissen notwendig mit den Kriterien für Richtigkeit oder Wahrheit verbunden ist, ist es eine essenzielle Feststellung, dass der Mensch nach Wissen strebt und dabei auf Wahrheit nicht verzichten kann.
7. I nd iv iduu m a ls I nst it ut ion Die aus der feudalen Verachtung der niederen Tätigkeiten entspringende intellektuelle Geringschätzung der Technik hat bis heute übersehen lassen, dass sie das zentrale Element der Selbststimulation wie auch der Selbststeuerung sozialen Verhaltens ist. Gewohnheiten sind teils korporale, teils intellektuelle Techniken mit durchschnittlichen Lebenserfahrungen individuell entlastend umzugehen. Institutionen sind soziale Techniken zur einvernehmlichen Steuerung sozialen Verhaltens. Zu den mächtigsten Institutionen in menschlichen Gemeinschaften gehören die Moral und das Recht. Aber auch der Arzt und der Therapeut sind Techniker der individuellen und der kulturellen Selbstkorrektur des Menschen. Sie arbeiten in der Regel zwar am individuellen Fall, sollten aber nie vergessen, dass sie in ihren epochalen Leistungen wesentlich zum Niveau einer Lebensform beitragen. Ähnliches ließe sich vom Wissenschaftler sagen, der im Streben nach Erkenntnis Gewissheiten sucht, die freilich auch zum Anlass weitreichender Verunsicherung des Menschen werden. Künstler sind Grenzgänger der Kultur, allein dadurch dass sie nach neuen Formen des Ausdrucks suchen, in denen der Mensch sich und seine Welt auf neue Weise erfahren kann. Also: Techniken und Techniker – wohin man auch blickt. Dort, wo es ihnen gelingt, Kraft und Zeit zu sparen oder Ängste zu mindern, haben sie die Suche nach Verbesserungen zur Folge; dort aber, wo sie verunsichern und
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Ängste schüren, lassen sie nach anderen Techniken suchen. Allein die Tendenz zur Dynamisierung der Technik, die ihre Fortsetzung in der impliziten Progressivität des Wissens findet, verrät ihren Ursprung in der Natur. Er zeigt sich auch darin, dass sie den Menschen selbst jederzeit wie ein Rad im Räderwerk der Technik erscheinen lassen kann. Schon im Gattungsprozess erscheinen die Individuen wie Mittel, derer sich die Natur bedient, um der Spezies den Lebenserfolg zu sichern. Doch mit dem bewussten Aufbau von Institutionen treten kulturelle Einrichtungen an die Stelle der Natur. Obgleich sie von Individuen geschaffen, erhalten und gesteuert werden und zahllose neue Belastungen der Individuen mit sich bringen, ermöglichen sie eine Entlastung der Einzelnen, die bis zur Freistellung von evolutionären Veränderungen gehen kann.6 Ihr bedeutendster Effekt aber besteht darin, dass sie die Individuen lehren, selbständig zu werden und sich selbst nach Art einer Institution zu verstehen, so dass sie sich selbst nach dem Vorbild in sich vielfältiger gesellschaftlicher Einrichtungen lenken können. So lernen die Individuen, arbeitsteilig, kräfteschonend und situationsspezifisch mit sich selber umzugehen. Nach einem langen Prozess kultureller Selbsterziehung verstehen sie sich darauf, der Vielfalt ihrer nicht selten als widersprüchlich erlebten Antriebe Herr zu werden. Sie werden in Stand gesetzt, sich in Relation zu Anlass und Aufgabe zu disziplinieren. Der sich selbst nach dem Modell der von ihm selbst geschaffenen Institutionen begreifende Mensch, nennt sich Person.
8. Geist aus D ist a n z Den Hinweis auf die unsere Kultur tragende Technik der Institutionalisierung, die ihren höchsten Ausdruck im Selbstbegriff des Menschen als Person findet, gebe ich nur, um nicht den Verdacht zu schüren, der Funktionalismus naturaler und sozialer Erklärung müsse zwangsläufig im moralischen und politischen Relativismus enden. Dazu ist an anderer Stelle mehr gesagt.7 Mit Blick auf die „Verkörperung“ interessiert die Frage, was die Bedeutung von Zeichen und Symbolen, von Bildern und Texten konstituiert, die immer in einer physischen Form gegeben sein müssen, um das bedeuten zu kön6
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Das ist die Überzeugung, die in der Rede von der kulturellen Evolution zum Ausdruck kommt. Dazu Volker Gerhardt: Kulturelle Evolution. Philosophische Anmerkung zu einem nicht erst seit Darwin aktuellen Programm, in: Volker Gerhardt/Julian Nida-Rümelin (Hg.): Evolution in Natur und Kultur, Berlin/New York 2010 (Humanprojekt 6), S. 185–204. Volker Gerhardt: Selbstbestimmung, Stuttgart 1999; ders.: Partizipation. Das Prinzip der Politik, München 2007; ders.: Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München 2012.
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nen, wofür sie stehen. Da ihre signifikante Bedeutung mit ihrer physischen Beschaffenheit nicht zusammenfällt (also keine Identität zwischen dem die Bedeutung anzeigenden Gegenstand und der Bedeutung gegeben ist), aber gleichwohl eine Beziehung zwischen dem physischen Träger und dem von ihm getragenen intelligiblen Sinn gegeben sein muss, liegt die Vermutung nahe, das gesprochene Wort, das Bild oder das Schriftzeichen sei das der Bedeutung irgendwie ähnliche Substrat der Bedeutung. Die unterstellte Ähnlichkeit zwischen dem Träger und der von ihm getragenen Bedeutung ist es, die die Umschreibung durch embodiment oder „Verkörperung“ nahelegt. Beim Bild oder dem ein Bild verdichtenden Schriftzeichen ist dieses Verständnis gleichsam vor den Augen angelegt. Beim Wort hat man sie im Ohr, wenn man von Lauten für den Ausdruck von Schmerz, Überraschung oder Freude ausgeht. Dass es solche onomatopoetischen und pittoresken Beziehungen geben kann, braucht nicht in Abrede gestellt zu werden. Die Frage ist nur, ob sie der Eigenart und der Leistung der signalisierten Bedeutung gerecht werden. Und hier habe ich meine Zweifel: Denn wir wissen ziemlich sicher, dass die Vorfahren des Menschen schon vor mehr als einer Million Jahren das Feuer für ihre Zwecke nutzen konnten. Etwa eine halbe Million Jahre später haben sie bereits präzise bearbeitete Werkzeuge verwendet. Es dürfte ausgeschlossen sein, dass der Umgang mit Feuer und Faustkeil eine monologische Angelegenheit Einzelner gewesen ist. Es dürfte vielmehr so gewesen sein, dass sie sich mit ihresgleichen sowohl über Feuer und Faustkeil wie auch über den Umgang mit ihnen mit ihresgleichen verständigt haben. Für jene Frühzeit können wir ausschließen, dass dies in schriftlicher Form oder durch Höhlenmalerei geschehen ist. Ob über das, worum es den Frühmenschen dabei ging, bereits in begrifflicher Ordnung gesprochen worden ist, ist ebenfalls nicht wahrscheinlich. Für die Konstitution der Bedeutung ist das aber auch nicht erheblich: Denn es reicht völlig aus, auf das zu zeigen, worum es jeweils geht, und dabei die Erwartung zu haben, dass es im deiktischen Verweis auf situativ gegebene Vorkommnisse – das Glimmen in der Asche, die Beschaffenheit des gefundenen Steins oder der Hufabdruck eines jagdbaren Tieres – möglich ist, Anderen etwas sinnlich derart nahezubringen, dass sie dasselbe sehen, hören oder erkennen können wie der Zeigende selbst. Um die Relevanz dieser unscheinbaren Tatsache einzuschätzen, muss man in Rechnung stellen, dass die auf etwas hingewiesenen Anderen durchaus nicht das gleiche Netzhautbild, nicht exakt den gleichen Laut im Gehörgang haben und dennoch dasselbe verstehen können müssen: dass nämlich das Feuer noch nicht ausgegangen ist, dass man den Stein bearbeiten kann und dass wenig zuvor Wild in der Nähe war. Und eben darin – in diesem Selben – liegt die Be-
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deutung von dem, was man durch Zeigen, Lautgabe, Mimik oder Gestik zum Ausdruck bringt. Von dieser Bedeutung, von diesem Selben kann man nun sagen, es sei im Ausdruck des Sprechers, in seiner Mimik und Gestik, vielleicht auch in den von ihm verwendeten akustischen und visuellen Zeichen „verkörpert“. Aber, und hier bin ich wieder bei dem Punkt, mit dem ich eingesetzt habe: So kann man nur sprechen, wenn die Bedeutung als solche erfasst ist und man ihrer so sicher ist, dass sie so, wie man sie versteht, zum Zweck der Verständigung mit sich oder seinesgleichen in einem Zeichen so „verkörpert“ sieht, dass man es Anderen dergestalt vor Augen oder Ohren führen kann, dass sie es auf dieselbe Weise verstehen. Dieses Verstehen geschieht jedoch nicht auf dem Weg der Verkörperung, sondern in der Begrifflichkeit, in der allein Bedeutungen gegenwärtig sind. Wir brauchen keine Ähnlichkeit zwischen der materialen oder formalen Beschaffenheit des Trägers und seiner ihm beigegebenen Bedeutung, sondern nur das gelingende Verständnis eines als gleich aufgefassten Sachverhalts. Im Umgang mit einem irgendwie brauchbaren Gegenstand wird Bedeutung in ihn hineingelegt, um jedem, der es versteht, in dieser Bedeutung ins Auge zu springen. Das also, worauf es im eigenen Verstehen und in der Verständigung mit Anderen ankommt, ist nicht die „Verkörperung“, sondern die „Entkörperung“, die nötig ist, um überhaupt etwas, das Bedeutung hat, in dieser Bedeutung – in genau diesem und keinem anderen Sinn – erfassen zu können. Der für sich unter Umständen völlig belanglose Gegenstand setzt den Sinn frei, wann immer jemand kommt, der ihn versteht. Geist ist tatsächlich das, was sich vom Körper löst. Er liegt im Gebrauch, den man von Körpern macht. Was kann uns schon die Druckerschwärze, die nichts als Kontraste schafft, in ihrer bloßen Grenzfunktion bedeuten? Offenbar sehr viel, sobald sie in der uns vertrauten Weise so auf dem Papier verteilt ist, dass wir den die Verteilung disponierenden Sinn des Autors oder Setzers nach Art unseres eigenen Sinns verstehen. Der Umweg über das Mittel macht uns nicht nur die Ursprünglichkeit, sondern auch die Allgemeinheit des in jedem Fall eines gelingenden Verstehens benötigten individuellen Geistes bewusst. Damit ist nicht bestritten, dass man einem gegebenen und im Gebrauch bereits gefestigten Sinn zum Zweck der Verständigung einen Träger verschaffen kann, der ihn von einer situativen Äußerung unabhängig macht. Damit kann auch nicht geleugnet werden, dass es besonders gelungene Verbindungen zwischen Sinn und Träger gibt; so bietet eine Anordnung der Zeichen in einer planen Ebene offenbar besondere Vorteile für den Bedeutungstransport. Unbestreitbar ist schließlich auch, dass es Mehr- und Vieldeutigkeit gibt, die durch das Material des Trägers begünstigt wird; die Kunst lebt von dieser Offenheit für verschiedene Verständnisweisen. Gleichwohl liegt das entscheidende Mo-
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ment nicht im gelingenden Einbetten eines Sinns in einen Körper, sondern im Gegenteil in der Freisetzung eines Sinns, der nur aus der Distanz zu dem hinter dem Sinn verschwindenden Träger erfasst werden kann. Die Materialität der Schrift verschwindet im Akt ihres Verstehens. Selbst dort, wo der Gegenstand den Sinn so in sich aufnimmt, wie wir das vom Ausdruck eines Gesichts oder der Bedeutung einer Handbewegung gewohnt sind, bietet er einer prinzipiell unbegrenzten Zahl möglicher Adressaten die in unendlich vielen Situationen realisierbare Chance, eine Bedeutung unabhängig von ihrer materialen Gegebenheit zu erfassen. Im Verstehen der Bedeutung wird alles überschritten, was die physis seines Trägers ausmacht. Sinn ist das, was sich von dem lösen kann, das es trägt. Im Begriff der Verkörperung wird diese universelle Eigenständigkeit der Bedeutung verfehlt.
9. Da s Problem der D ist a n z Da wir mit guten Gründen von der Bindung unserer Existenz an die Konditionen sinnlicher Gegenwart überzeugt sind, fällt es uns nicht leicht, die überhaupt erst in der Bedeutung eines Sinns hervortretende logische Sphäre der Semantik adäquat zu erfassen. Sie ist in ihrer Leistung nicht sinnlich beschaffen, so unverzichtbar ihr sinnliches Fundament auch sein mag. Sie erlaubt es, selbst noch das Körperliche, Leibliche oder Somatische als solches zu benennen; sie kann allein schon in dieser begrifflichen Funktion nicht selber körperlich, leiblich oder somatisch sein. Also wird man sie, wohl oder übel, als geistig bezeichnen müssen. Wer dies heute sagt, zieht den Argwohn seiner Zeitgenossen auf sich, die sich in der angeblich anti-platonischen, scheinbar anti-idealistischen Überzeugung einig sind, dass es „rein Geistiges“ nicht gibt. Wer mit Platon von den Ideen, mit Leibniz oder Kant von der intelligiblen Welt, mit Hegel vom Geist, mit Frege vom Reich der Gedanken oder mit dem Wittgenstein des Tractatus vom Über- oder Außerweltlichen spricht, gerät augenblicklich unter Metaphysikverdacht. Selbst die Theologen schreiben heute ihrem Gott lieber einen Körper zu, als sich damit zu blamieren, an einen bloßen Geist zu glauben.8 Tatsächlich haben wir das Bedürfnis, uns zum Glauben an den Empirismus der Wissenschaften zu bekennen und den Ausgangspunkt beim Alltäglichen so offenkundig zu machen wie unser Bekenntnis zum Menschenrecht. Das sage ich ohne Ironie. Es ist gut, am Fundament der eigenen Leiblichkeit festzuhalten und dabei jedem das Recht zur Wahrung seines in ihm selbst
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Christoph Markschies: Der Körper Gottes, Vortrag in der Geisteswissenschaftlichen Klasse der BBAW am 20. Oktober 2011.
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liegenden, immer auch leibhaftigen Ausgangspunktes zuzugestehen. Doch das fordert seinen methodologischen Tribut: Wir haben zu sagen, wie wir von der Leiblichkeit und von der Konkretion des Alltäglichen zum Allgemeinen kommen, das es nirgendwo „gibt“, das wir aber immer schon in Anspruch nehmen, wenn wir auch nur versuchen, über das Alltägliche zu sprechen. Also hat man zu erklären, wie es kommt, dass inmitten der Natur über deren Körperlichkeit hinausgegangen werden kann, und wie es möglich ist, schon in der Reflexion auf das Alltägliche das rein Sinnliche und bloß Leibliche hinter sich zu lassen. Zu den bewährten Gedankenfiguren der Veranschaulichung dieses Übertritts in die nur der Einsicht offenstehende Welt gehört die Berufung auf die Distanz. Hans Jonas hat sich dieser Rhetorik in Organismus und Freiheit auf meisterliche Weise bedient, kann aber die Schwierigkeit nicht ausräumen, dass eine räumliche Metapher schlecht geeignet ist, den alles Räumliche hinter sich lassenden Hiat zwischen Begriff und Sinnlichkeit zu erfassen.9 Leider ohne von Jonas Kenntnis zu nehmen, hat Thomas Nagel das Problem dadurch zu lösen gesucht, dass er die intelligible Sicht auf die Dinge als view from nowhere zu beschreiben suchte.10 Nach Nagel schaut man unter dem Anspruch objektiver Erkenntnis (und der darin eingeschlossenen allgemeinen Bedeutung) auf die Dinge, als sei man unendlich weit von ihnen entfernt. Tatsächlich geht man dadurch allen Irritationen aus nächster Nähe aus dem Weg; doch der Nachteil ist, dass man aus einer Position in unendlicher Entfernung vermutlich gar nichts mehr erkennen kann. Der Progress ins Unendliche hat seinen unerhörten Reiz, weil er alle störenden Details zum Verschwinden bringt. Leider geht auch der zu erkennende Sachverhalt verloren. Folglich verschwindet jeder mögliche Gegenstand einer Erkenntnis – zumindest für Wesen, die in ihrer Geistigkeit auf Sinnlichkeit angewiesen sind. Deshalb kann es im menschlichen Erkenntniszusammenhang nicht überzeugen, die Lösung des Problems in der über alles Körperliche erhabenen Allgemeinheit aus unendlichem Abstand zu suchen. Sub specie einer räumlich verstandenen Unendlichkeit geht jeder Sinn verloren. Hans Blumenberg hat an einen technischen Vorschlag des 1934 aus Deutschland vertriebenen Mediziners Paul Alsberg erinnert, der in seinen Menschheitsrätseln bereits 1922 die spezifische Leistungsfähigkeit des Menschen durch die zunehmende Fähigkeit zur „Körperausschaltung“ des Men-
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Hans Jonas: Organismus und Freiheit, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 1, hg. v. Horst Gronke/Dietrich Böhler, Freiburg 2010. Thomas Nagel: The View from Nowhere, New York/Oxford 1986.
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schen zu beschreiben sucht.11 Das ist ein höchst bedenkenswerter Vorschlag, dem Blumenberg leider selbst nicht gerecht wird, wenn er ihn in die Formel von der actio per distans überträgt und den anthropologischen Fortschritt des Menschen unter dem Titel der „Sichtbarkeit“, der „Visiblität“, ins Positive übersetzt. Überzeugen kann das deshalb nicht, weil die „Körperausschaltung“ nur bedeutet, einen weiter gefassten technischen Wirkungsraum zu erobern. Das, was man nun mit der Hand nicht mehr berühren muss, muss von einem Werkzeug oder einer Waffe erreicht werden können. Der Körper setzt Instrumente ein, die er betätigt, ohne selbst durch leibhaftigen Kontakt mit dem Feuer oder dem Feind in Gefahr zu geraten. Damit ist erneut die (technisch gewahrte und überwundene) Distanz zum Kriterium intelligibler Leistungen gemacht. Will man den Kurzschluss von dem Sicherheit vermittelnden räumlichen Abstand auf die prinzipiell benötigte intellektuelle Distanz vermeiden, muss eine grundsätzlich andere Lösung gefunden werden, welche den erforderlichen geistigen Abstand nicht räumlich, sondern sozial versteht. Auf sie will ich abschließend verweisen.
10. Ö f fent l ic h keit der Bedeut u ng Der provozierende Begriff der „Körperausschaltung“ scheint den Körper – mitsamt der „Verkörperung“ – auf einer überwundenen Stufe der Evolution hinter sich lassen zu wollen. Technik wäre dann das, was den Körper definitiv dadurch entlastet, dass sie von ihm befreit. Damit aber würde sie selber überflüssig werden. So also kann die Lösung nicht gefunden werden. Es gibt aber eine Überwindung der Körperlichkeit, die sie in ihrem natürlichen Bewegungsraum nicht nur unbeschränkt gelten lässt, sondern sie auf neue Weise zur Geltung bringt. Wie selbstverständlich uns diese Steigerung ist, sollte der beiläufige Hinweis auf die Institutionalisierung des Individuums in Form der Person vor Augen führen: Als Person bleibe ich Körper und habe ihn nicht nur in einer moralisch und rechtlich ausdrücklichen Form; ich kann ihn im sozialen Kontext auch als allgemein erweitert und mit Blick auf die mir im institutionellen Zusammenhang prinzipiell gleichen Individuen als in seiner kommunikativen Leistung generell gesichert und gesteigert ansehen. Und nach dem im sozialen Verband wirksamen Modell gesellschaftlicher Generalisierung können wir auch die Konstitution von Sinn und Bedeutung verstehen.
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Paul Alsberg: Das Menschheitsrätsel (1922), Neuausgabe: Der Ausbruch aus dem Gefängnis – zu den Entstehungsbedingungen des Menschen, kommentiert v. Hartmut u. Ingrid Rötting, hg. u. mit einem Vorw. versehen v. Dieter Claessens, Gießen 1985; dazu: Hans Blumenberg: Selbstbeschreibung des Menschen, Frankfurt/M. 2007.
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Dazu brauchen wir nur den kühnen Funktionsgedanken Ernst Cassirers aufzunehmen, dass selbst die als substanziell gedachte, die nicht-sinnliche, sich prinzipiell aus allem Körperlichen lösende Bedeutung in Funktionszusammenhängen steht, in denen über das, was uns wichtig und richtig erscheint, in einer allen Beteiligten gleichen Weise verfügt werden kann.12 Diese Verfügung ist aber selbst in Funktionszusammenhänge eingebettet, zu denen auch noch das sprechende und denkende Individuum gehört. Und die Funktion, in der alles Verstehen, Erkennen, Begreifen und Schließen steht, ist die Mitteilung, in der sich jeder entweder auf sich selbst oder auf seinesgleichen bezieht, um ihm etwas, das in der Mitteilung dasselbe bleiben muss, so nahe zu bringen, dass es jeder selbst wieder als denselben Sachverhalt weitergeben kann – ohne dabei selbst als ein vollkommen Anderer angesehen zu werden. In der Vermittlung des semantisch Gleichen aber werden somit alle, die sie sich darauf verstehen (freilich nur sofern sie dies tun) selber gleich. Der unscheinbare Akt der sachhaltigen Mitteilung, die prinzipiell jedem, der sich ihr zu öffnen vermag, das Gleiche zum Verständnis offeriert und darin jedem Anderen, der an der Verständigung teilnimmt, die gleiche Funktion zuweist, hebt die (allemal sinnlich fundierte) Bedeutung über alle sinnlichen Bezüge hinaus und gibt ihr einen Status, den sie allein als physisches Datum niemals haben könnte. Ja, dieser Akt der Mitteilung ist selbst schon über die Sphäre des Körperlichen hinaus, denn man abstrahiert bereits von allen individuellen Besonderheiten, wenn man etwas, das sachlich von Bedeutung ist, weitergibt. Die hier offenkundig wirksame Distanz besteht aber nicht in der räumlichen oder zeitlichen Entfernung, sondern im gleichen Abstand, den jeder haben kann und den jeder auch braucht, um etwas als etwas erkennen zu können. Das Modell für diese Form des gleichen Abstands ist nicht die (räumliche oder zeitliche) Unendlichkeit und auch nicht das Jenseits dieser – wie auch immer zu fassenden – Welt, sondern die (inmitten der physischen Welt gesellschaftlich aufgespannte) Öffentlichkeit, die ursprünglich zu jeder auf Allgemeinheit Anspruch erhebenden Mitteilung gehört. Öffentlichkeit, obgleich sie zur Natur eines jeden gesprochenen Wortes zu gehören scheint (wann immer Andere anwesend sind, die das Gesprochene weitergeben können), hat gleichwohl den Charakter einer Institution. Sie wird in den Akten wechselseitiger Verständigung hervorgebracht und im Prozedere fortgesetzter Mitteilung ausgebaut und getragen. Öffentlichkeit ist etwas in der Gegenseitigkeit der Verständigung Gemachtes. Sie beruht auf der Gleichheit der kommunizierenden Partner, die in 12
Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. v. Birgit Recki, Bd. 6, Hamburg 2003.
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Lebensalter, Erfahrung und sozialer Stellung höchst verschieden sein können, aber als sich wechselseitig ansprechende Individuen einander funktional gleich sein müssen, wenn sie sich etwas mitteilen können wollen, das auch Anderen (derzeit vielleicht nicht Anwesenden) verständlich sein soll und das im Wechsel raum-zeitlicher Positionen jeweiliger Sprecher gleichwohl dasselbe meinen soll. So ist es die in sich selbst notwendig allgemein verfasste Öffentlichkeit, welche die Allgemeinheit der mitgeteilten Sachverhalte erforderlich macht, sofern sie als Sphäre der Verständigung fungieren können soll. Mitgeteilt wird immer nur ein allgemeiner Sinn der von allem Physischen gleichweit entfernt ist, zu dem aber alle, die ihn verstehen, den gleichen Zugang haben. Und wenn sie ihn haben, sind sie ihm gleichermaßen nahe, denn es ist der Sinn, den sie verstehen und den sie in der Regel auch gerne weitergeben. Dabei darf nicht übersehen werden, dass Weitergabe, Mitteilung und Übertragung auf sinnliche Medien angewiesen sind. Das Körperliche muss anwesend und wirksam bleiben. Aber in der Kommunikation eines für sich stets intellektuellen Sinns leistet die Verkörperung nur einen instrumentellen Beitrag. In der Verständigung wird der Körper zum Mittel für etwas, dem er in dieser Funktion – wohlgemerkt: nur in dieser – lediglich auf instrumentelle Weise dient. Erst die soziale Leistung einer generalisierenden Kommunikation versetzt die Individuen in die Lage, sich in ihrer Einsicht ihren Körpern überlegen zu fühlen. Denn der Körper hat hier tatsächlich nur die Aufgabe eines Instruments, eben das, worum es im Sprechen, Denken und Verstehen geht, zu vermitteln. Und solange darüber nicht vergessen wird, dass die dadurch mögliche intellektuelle Kommunikation an materiell verfasste soziale Konditionen gebunden bleibt (und der Sphäre physischer Körper ohnehin nicht entraten kann), ist gegen die funktionale Freistellung des Gedankens nichts einzuwenden, zumal er allemal Teil des Lebens bleibt. Um das zu erkennen, braucht man nur zu beachten, dass Leben sich nicht in der internen Organisation eines Organismus erschöpft, sondern immer auch eine Individuen übergreifende Organisation einschließt. Sie bezieht sich primär auf das Verhalten im Lebenskontext einer Gattung, bindet aber die Konditionen spezifischer Umwelten ein, die dadurch besonders belastet, ausgeglichen oder gefördert werden können. Die vom Menschen entwickelte Organisationsform der Erkenntnis ist eine hochgradig kulturelle Spezialisierung sowohl im Verhalten der Individuen untereinander wie auch in ihrem Umweltbezug. Dem Menschen erscheint sie besonders ausgeprägt, weil sie große Teile seines sozialen Handelns und einen wachsenden Anteil seiner Umweltbeziehungen organisiert. Gewiss liegt hier ein Sonderfall vor. Aber die funktionale Abstufung zwischen intellektueller, sozialer und physischer Organisation ist dennoch gänzlich ungeeignet, um daraus metaphysische Werthierarchien abzuleiten.
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Der elementare Vorgang der Emanzipation von bloßer Körperlichkeit liegt somit in der Verständigung von Individuen, die sich bereits darin, gleichsam kontrafaktisch, als gleich begreifen. Und das, was sie sich unter diesen Bedingungen mitteilen, kann, um die funktionalen Bedingungen der Mitteilung zu erfüllen, nur dasselbe sein, wenn es denn eine Mitteilung sein soll. In dieser für alle Individuen prinzipiell gleichen Beziehung auf den Sinn liegt der eigentümliche Gewinn des Erkennens und Verstehens. In ihm wird unterstellt, dass alle Individuen grundsätzlich den gleichen intelligiblen Abstand zur fraglichen Bedeutung haben, die sich im Inhalt eines Begriffes niederschlägt. Kant hat erst spät die transzendentale Leistung des menschlichen Verstandes darin erkannt, dass in ihr die sinnlichen Eindrücke, wie er sagt, „communicabel“ gemacht werden.13 Erfahrung ist das, was sich mitteilen lässt. Erst von daher erschließt sich, warum Kant die Öffentlichkeit nicht nur als „transzendentale Formel“ der Politik auszeichnet, sondern sie bereits zur Bedingung einer jeden Wissenschaft erklärt. Was immer Anspruch auf Erkenntnis erhebt, muss „kritisch und öffentlich“ sein. Damit wird nicht erst eine Gesellschaft, sondern die Welt als Ganze öffentlich, sobald sie unter dem Anspruch der Mitteilung zum Gegenstand der Erkenntnis wird. Und der Mensch, das animal symbolicum, muss zum homo publicus werden, wenn er der Kultur, die er zu seiner Natur gemacht hat, gerecht werden will. Für die Ausführung dieser allgemeinen These habe ich an anderer Stelle sechshundert Seiten benötigt. Wenn ich sie abschließend auf den Begriff der Öffentlichkeit verkürze, dann füge ich nur noch den Hinweis hinzu, dass in der Öffentlichkeit natürlich physische Individuen mit realen Problem anwesend sein müssen. Wenn es der Theorie der Öffentlichkeit bislang nicht möglich war, die mehrfach gestellte Frage nach dem „Sinn von Öffentlichkeit“14 zu beantworten, so hatte dies seinen Grund darin, dass der lebenspraktische, auf Problemlösung bezogene Charakter der Öffentlichkeit verkannt worden ist. Öffentlichkeit ist keine himmlische Sphäre ätherischer Verständigung. In ihr treffen real-existierende Individuen zusammen, um über Fragen ihrer – oft genug erzwungenen – Lebensführung zu verhandeln. An Körpern ist hier kein Mangel. Aber das, was die Öffentlichkeit zu begreifen erlaubt, ist etwas, das allen gemeinsam sein können muss. Um das im begrifflichen Sinn zu werden, muss sich der Sinn von der konkreten Verfassung der Leiber lösen und eine geistige Form annehmen. Die kann zwar nicht ohne materielle Träger vermittelt werden, doch in ihrer sachhaltigen Bedeutung, also in dem, was ihren Inhalt ausmacht, entmaterialisiert sein muss. Also ist der entscheidende Akt im Übergang zu einer allgemeinen, in jedem einzelnen Bewusstsein bereits auf 13 14
Immanuel Kant: Brief an Jacob Sigismund Beck vom 1. Juli 1794. Bernhard Peters: Der Sinn von Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 2007.
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Öffentlichkeit angelegten Bedeutung die Entkörperung. Erst wo sie gelungen ist, kann es in einzelnen Fragen der Verständigung auch um Verkörperung gehen. Auf die Eigenständigkeit des Geistes – nicht für sich, sondern stets gegenüber und im Verhältnis zum Körper – können wir nicht verzichten. Die Begründung dafür ist in den letzten Abschnitten gegeben. Sie lässt sich abschließend durch das bereits zitierte Diktum Hegels zusammenfassen: „Der Geist ist die existierende Wahrheit der Materie, dass die Materie selbst keine Wahrheit hat.“15
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Hegel: Enzyklopädie (wie Anm. 1), § 389.
Wolfram Hogrebe
KO N T RO L L I E RT E E N T KÖR P E RU N G Von Boston nach Marburg
Wahrheit wird angestrebt, ist aber manchmal schmerzhaft. Nichts als die Wahrheit, also die nackte Wahrheit, ist darüber hinaus nicht nur schmerzhaft, sondern manchmal geradezu grässlich. Bei Jean-Léon Gérôme (1824–1904), dem französischen Salonmaler, sehen wir sie 1895 mit der Peitsche aus dem Brunnen steigen, um die Menschheit zu züchtigen (Bild 1).
Bild 1 Jean-Léon Gérôme: La vérité sortant du puits, armée de son martinet, pour châtier l’humanité, 1896, Öl auf Leinwand, 91 × 72 cm, Moulins, Musée Anne-deBeaujeu.
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Dieses Bild gehört wahrscheinlich in den Katalog einer politischen Ikonographie im Einzugsbereich der Dreyfusaffäre.1 Es hat nichts genutzt. Zwei Jahrzehnte später begann in Europa das Desaster des 20. Jahrhunderts. Und wir sind immer noch dabei, seine hinterlassenen Zerrüttungen gütlich zu sortieren. Dazu gehört sicher auch eine Neufassung des Verhältnisses von Sinn und Sein. Dem dient der folgende kleine Beitrag zur Frage nach der Prozedur einer kontrollierten Entkörperung. Diese Frage wurde mitten im 20. Jahrhundert von zwei Denkern in eigentümlich konträrer Weise gestellt und beantwortet. Diese Stimmen sollen uns hier beschäftigen. Wer Wahrheit will, darf die historische Vergewisserung ja nicht scheuen. Schelling vollzog gegenüber Fichte, der den ‚Weltpassungsgedanken‘ des Kant der letzten Kritik nicht eigentlich vollzogen hat, eine Drehung im Ansatz: Sinn will vom Sein her gedacht werden, nicht Sein vom Sinn her wie bei Fichte. Diese Inversion findet sich, wie ich schon früher gezeigt habe,2 auch bei Hölderlin. Konstruktivistische Attitüden wie bei Fichte verfallen Hölderlin zufolge dem Verdacht einer ‚Tyrannei gegenüber der Natur‘. Dagegen gilt, wie es die metrische Fassung des Hyperion bekundet: „was ist, Das nicht durch uns so wäre, wie es ist.“3 Die Kursivierung des „ist“ in der letzten Zeile ist natürlich Interpretation. Aber nur in dieser Lesart wird die realistische Option Hölderlins überhaupt erst sinnfällig. Nur so erobert er sich gegen Fichte, der das „durch uns“ kursivieren würde, eine Natur zurück, die zu ihm sprechen kann. Unsere Registratur von Weltverhältnissen ist nicht wie bei Fichte gegenstandssetzend, sondern mit Hölderlin szenisch. Diese Drehung ist keine fixe Idee von Denkern oder Dichtern, sondern der Rückgang auf ein anthropologisches Faktum, das von Systemtheorie und Konstruktivisten aller Schattierungen notorisch ignoriert bzw. verdrängt wird. Aus dieser Drehung ist in unserer Zeit auch die Theorie des Bildakts von Horst Bredekamp konzipiert.4 Kein Wunder, dass konstruktivistisch kontaminierte Leser damit ihre Schwierigkeiten hatten. Auch Gottfried Boehm betont wie
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Vgl. Daniela Kneissl: Die Republik im Zwielicht. Zur Metaphorik von Licht und Finsternis in der französischen Bildpublizistik (1871–1914), München 2010, S. 287 ff., bes. S. 310 f. Daniela Kneissl bringt das Bild von Gérôme nicht, aber es gehört wohl tatsächlich in das von ihr vorgestellte Bildportfolio. Vgl. Wolfram Hogrebe: Ahnung und Erkenntnis, Frankfurt/M. 1996, S. 110 ff. Friedrich Hölderlin: Hyperion, in: ders.: Sämtliche Werke, Stuttgarter HölderlinAusgabe, hg. v. Friedrich Beissner, Bd. 3, Stuttgart 1957, S. 193. Vgl. Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2011.
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Horst Bredekamp, dass „die Helligkeit der Vernunft“ weiter reicht als Worte, „bis dahin, wo sich etwas als das zeigt, was es ist“.5 Etwas muss sich erst präsentieren, bevor es zum Dies-da werden kann: Ohne ‚Sichigung‘ keine ‚Diesigkeit‘. Philosophen machen bisweilen gerne Gebrauch von reduzierten Segmenten der Realität. So bevorzugen sie seit alters gerne anthropologische Karikaturen, um ihre Anliegen auf dieser pauperisierten Basis durchzubringen. Sie lassen die wissentliche Normalausstattung des Menschen manchmal zusammenbrechen, um Elementares in ihrem intendierten Sinne sichtbar machen zu können. Willard Van Orman Quine (1908–2000) schickt einen Sprachforscher munter gottweißwohin, um die Sprache eines bis dato unbekannten Volkes zu erkunden. Die Regie Quines schließt die denkbare Nutzung eines Dolmetschers vor Ort aus. Der karikierte Sprachforscher ist auf seine Wahrnehmungen der Umgebung und der ihm völlig unverständlichen Äußerungen der Eingeborenen allein angewiesen. Es bleibt ihm daher nichts anderes übrig: Er versucht zunächst Korrelationen festzuhalten, die zwischen einem Ereignis und einer Äußerung der Eingeborenen aufreizend sinnfällig werden. Dieses Panorama hat natürlich etwas Künstliches und Quine weiß das auch. So könnte sich der Sprachforscher vernünftigerweise in der fraglichen Gegend „niederlassen und die Sprache der Eingeborenen unmittelbar lernen, so wie ein Kind sie lernen würde“.6 Aber darauf kommt es hier gar nicht an. Es geht in diesem Gedankenexperiment lediglich darum zu zeigen, dass unsere sinnlichen Reize und Registraturen nicht ausreichen, um die Bedeutung von sprachlichen Äußerungen sicherzustellen. Kurz: Die fingierte Situation einer radikalen Übersetzung soll bloß den Befund stützen, „daß vollständige Kenntnis der Reizbedeutung eines Beobachters nicht genügt, um einen Terminus zu übersetzen oder auch nur als solchen zu erkennen“.7 Ohne Bedeutungshypothesen und probeweise Setzungen kommen wir schon hier nicht weiter. Unsere Lernprozesse sind eben schon an ihrer Basis nicht einfach linear oder kontinuierlich. Wir müssen unseren kreativen Talenten von Anfang an Raum geben und wir tun das auch. Dennoch brauchen wir nicht alles neu zu erfinden, um weiter zu kommen. Die „Dressur der Gesell-
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Gottfried Boehm: Faszination und Argumente, in: ders.: Wie Bilder Sinn erzeugen, Berlin 2007, S. 16. Willard Van Orman Quine: Wort und Gegenstand, übers. v. Joachim Schulte/Dieter Birnbacher, Stuttgart 1980, S. 93. Ebd., S. 407. Zu den skeptischen Doktrinen bei Quine, Davidson, Putnam und Kripke vgl. Axel Bühler: Bedeutung, Gegenstandsbezug, Skepsis, Tübingen 1987. Bühler zeigt, dass diese Doktrinen ihr Ziel nicht erreichen, da sie mit der überzogenen Forderung unabhängiger Prüfinstanzen für die Stützung von Behauptungen operieren. Aber solche Prüfinstanzen werden nicht einmal in den Naturwissenschaften verlangt.
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schaft“8 hat uns von Kindesbeinen an das Geschäft erleichtert, in den Spracherwerb hineinzufinden. Quine unternimmt diesen exotischen Ausflug ins Nirgendwo also bloß, um die Fragilität von Bedeutungen zu demonstrieren, die selbst dann gebrechlich bleiben, wenn wir so etwas Solides wie Sinnesreize zu ihren Trägern machen. Den Rest besorgt uns die Dressur durch die Gesellschaft. Wo eine stromlinienförmige Reduktion von Bedeutungen auf Reize scheitert, helfen uns, so Quine, Setzungen weiter. Solche Setzungen (posits) haben natürlich immer eine konventionelle Quelle, können sich in der Praxis aber stabilisieren, weil sie sich als nützlich, ja schließlich sogar als unentbehrlich erweisen: „Eine Setzung eine Setzung nennen, heißt nicht, sie von oben herab zu behandeln.“9 Denn schließlich sind auch Zahlen, Klassen, Funktionen, aber auch Moleküle etc. Setzungen, ganz ebenso wie früher die Götter Homers.10 In heuristischen Phasen ist sogar „alles, dem wir Existenz zubilligen, eine Setzung“, allerdings „vom Standpunkt der gebildeten Theorie [aus gesehen] gleichzeitig real“.11 Das ist eine Sichtweise auf schmaler Basis, mit der man in der Praxis leben kann. Das skeptische, ja relativistische Aroma der Setzungsterminologie Quines oder seine façon de parler von „praktisch nützlichen Mythen“12 wird ja letztlich abgefangen von seinem Holismus.13 Es geht eben nicht alles, wie seinerzeit Paul Feyerabend kokett vorschlug, sondern es geht mit jedem nur dann, wenn es mit allem, mit dem es geht, kompatibel ist. Diese Kompatibilität hat alles, was ist, im Rücken. Das ist der Kern eines projektiven Empirismus, der mit unseren deliberativen Attitüden vereinbar ist. Darüber hinaus kann man von Nietzsche und auch von Quine lernen, dass es in den Wissenschaften, auch in der Physik, nützliche Idealisierungen gibt, die sich nicht restlos im überdehnten Einzugsbereich unserer Beobachtungen explizieren und damit eliminieren lassen. Termini wie Massenpunkte, reibungslose Oberflächen, isolierte Systeme oder auch das Unendliche14 gehören zu diesen Idealisierungen. Hier bleibt auch die Sprache der Physik, wie Quine sie nennt, „symbolisch“.15 8 9 10 11 12 13 14 15
Quine: Wort und Gegenstand (wie Anm. 6), S. 25. Ebd., S. 53. Vgl. W. V. O. Quine: Zwei Dogmen des Empirismus, in: ders.: Von einem logischen Standpunkt, übers. v. Peter Bosch, Frankfurt/Berlin/Wien 1979, S. 27 ff., hier bes. S. 48 f. Quine: Wort und Gegenstand (wie Anm. 6), S. 54. Ebd., S. 431. Ebd., S. 57. Ebd., S. 429. Ebd., S. 430.
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Mit dieser Charakterisierung könnte man sich in Erinnerung an Ernst Cassirer durchaus anfreunden. Allerdings würde Cassirer darauf hinweisen und darauf bestehen, dass diese symbolische Qualität schon an der Basis anzutreffen ist. Deshalb wäre für Cassirer die von Quine so energisch herausgearbeitete Unbestimmtheit der radikalen Übersetzung nichts Dramatisches, weil sie Cassirer zufolge schon elementar in die Natur unseres sprachlichen Weltumgangs eingebaut ist und für die Sprache insgesamt gilt. Nur weil das so ist, so Cassirer, ist der Korridor der symbolischen Formen schon da eröffnet, wo wir nur sind, weil wir es szenisch sind. Solche Perspektiven sind für Quine als Behavioristen natürlich alles andere als verlockend. An der Basis will er nur Reize, aber keine Symbole. Er bleibt ein Denker des Heterologen, nicht des Autologen. Quine hat seinen Naturalismus einschließlich seiner Reizorientierung bis zum Ende durchgehalten. In einer seiner letzten Schriften, Pursuit of Truth von 1992, gibt er eine Diskussion in Stanford wieder, in der er von Donald Davidson aufgefordert wurde, den neuronalen Reizkontakt mit der Welt fallenzulassen zugunsten einer kausal relevanten Ontologie von Situationen. Kurz: Davidson plädiert dafür, den Reizen ihren privaten Status bei Quine zu nehmen, um sie als Wirkungen gemeinsamer Situationen, Szenen „gemeinsamer Aufmerksamkeit“, wie Michael Tomasello später sagt,16 verständlich zu machen. Damit wäre der primäre Reizkontakt a limine öffentlich, nicht erst durch die Dressur der Gesellschaft. Der alte Quine kontert geradezu bockig: „[M]ich überzeugt das nicht und ich halte unnachgiebig daran fest, unsere Reizungen am neuronalen Input festzumachen.“17 Die Chance, einen angemessenen szenischen Realitätsbegriff zu entwickeln, war für ihn damit endgültig vertan. Ein anderer Philosoph ging nun lange vor Quine und seiner Strategie einer kontrollierten Entkörperung der Welt in gewisser Weise noch radikaler zur Sache. Und das war Paul Natorp, geboren im Todesjahr Schellings, also 1854, gestorben 1924. Ihm wäre in seiner reifen Zeit in Marburg der manchmal sogar liberale Szientismus Quines, selbst wenn dieser durch Abgründe von Kant entfernt gewesen ist, nicht unsympathisch gewesen.18 Dem alten Natorp kamen dann allerdings doch Zweifel, die beim alten Quine ausblieben. 16 17 18
Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Frankfurt/M. 2002, S. 78. W. V. O. Quine: Unterwegs zur Wahrheit, übers. v. Michael Gebauer, Paderborn/ München/Wien/Zürich 1995, S. 58. Vgl. Paul Natorp: Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften, Leipzig/ Berlin 1910. Dieses Buch Natorps ist Wissenschaftstheorie auf der Höhe der damaligen Zeit. Insbesondere hat Natorp das Verdienst, schon in diesem Buch auf die Bedeutung Gottlob Freges hingewiesen zu haben. Zu den neukantianischen Ur-
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Natorp argwöhnte zunehmend, dass man mit der Rede von ‚Setzungen‘, beliebte Metapher in Boston und Marburg, die Eigenart der menschlichen Weltstellung verfehlt. Er würde Quine gewiss konzedieren, ein diskutables Bild unserer szientifisch dominierten Praxis geliefert zu haben, aber er würde ihm vorhalten: Das kann nicht das letzte Wort eines Philosophen sein. Das anthropologische Fundament von Quine, seine kompromisslose Anlehnung an den Behaviorismus, wäre dem alten Natorp als viel zu eng erschienen. Dennoch beginnt der späte Natorp wie Quine mit Lernprozessen und Spracherwerb, bohrt sich hier jedoch in eine Tiefe vor, die Quine, der schon die harmlose szenische Öffentlichkeit der Reize vor aller Dressur scheute, völlig fremd geblieben wäre. Paul Natorp machte sich also in seiner letzten Vorlesung von 1922/23 Gedanken über den Anfang des Spracherwerbs als Beginn unserer Weltstellung. Im Gegensatz zu Quine, der einen immerhin sprachkompetenten Sprachforscher ins Niemandsland schickt, empfiehlt Natorp einen Blick zurück auf unsere sprachfreie Vergangenheit, d. h. auf die jedermann zugemutete Phase des Spracherwerbs in der Kindheit. Quine zieht diese Entwicklungsphase häufig auch in Betracht, immer dann, wenn er der Ontogenese des Bezeichnens nachgeht und hier sogar den Rosengarten vorsprachlicher Qualitätsräume betritt.19 Wir alle haben diese vorsprachliche Phase durchgemacht, konnten also zunächst kein Wort sprechen und keins verstehen. Hier fragt sich Natorp: „Wie geht es zu, daß das Neugeborene, das von unserer Menschensprache noch schlechterdings nichts weiß noch wissen kann, jemals dazu gelangen kann und tatsächlich sehr bald dahin gelangt zu verstehen; nicht nur zu verstehen, was man mit Worten, Mienen, Gebärden, Fingerzeig, oder schweigenden Anblicken, Berühren, oder einem Tun oder Nichttun irgendwelcher Art ihm zu verstehen geben will, sondern überhaupt, daß man etwas zu verstehen, und ihm zu verstehen geben will?“20 Natorp fragt hier weitaus radikaler als Quine nach dem Ursprung unserer verstehenden Weltstellung. Wie kommt es, dass das Kleinkind, noch bevor es in Quines Dressurpark der Gesellschaft gerät, überhaupt beginnen kann, Worte
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sprüngen von Wissenschaftstheorie und der späteren Analytischen Philosophie vgl. Gottfried Gabriel: Frege, Lotze, and the Continental Roots of Early Analytic Philosophy, in: Albert Newen/Ulrich Nortmann/Rainer Stuhlmann-Laeisz (Hg.): Building on Frege, Stanford 2001, S. 19–33. Zuerst in Wort und Gegenstand (wie Anm. 6), § 17 ff.; vgl. ferner W. V. O. Quine: The Roots of Reference, La Salle 1974; dt.: Die Wurzeln der Referenz, übers. v. Hermann Vetter, Frankfurt/M. 1976. Paul Natorp: Philosophische Systematik, Hamburg 2000, S. 26.
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in Korrelation zu Dingen oder Ereignissen konditioniert nachzuplappern? Es muss zumindest in eine verstehende Weltstellung schon eingerückt sein, mit Tomasellos Worten: in Szenen „gemeinsamer Aufmerksamkeit“.21 Es weiß noch nichts, weder von sich, noch von den Dingen. Es verhält sich in einem Indifferenzpunkt,22 aus dem heraus sich Ich und Es zugleich erzeugen: „Nicht die Ichheit wird in das ichlose Objekt hineingetragen, so wenig wie die Esheit in das esfreie Ich, sondern zunächst ist beides gleich unbekannt, objektloses Ich und ichloses Objekt.“23 Das klingt nun reichlich entkörpert, ist aber bloß ein mühsamer deskriptiver Versuch, die erste szenische Weltstellung des Kleinkindes sprachlich halbwegs kontrolliert einzufangen. Wie soll man den Primärkontakt von Infanten auch anders formulieren, wenn sie de facto noch in „der ursprünglichen reinen Schau des erst erwachenden Bewußtseins“24 befangen sind? Von hier aus verfolgt Natorp jedenfalls ein Ziel, das Quines Entwurf wieder verwandt ist. Denn es geht auch Natorp darum, „die Grundlinienzüge des Aufbaus aller geistiger Gestalt“25 aus Grundstrukturen sprachlicher Art, d. h. aus elementaren Aussageformen (Kategorien) zu entwickeln. Dieses Projekt ist im Ansatz strikt aristotelisch und Natorp betont das auch immer wieder.26 Aristoteles bleiben Natorp und etwas gequält auch Quine, trotz seines immensen Sachabstandes, gleichermaßen treu, selbst wenn Natorp am Ende noch einen Ausblick in die Dimension des Transkategorialen riskiert, um einen nicht definierten Begriff der ‚Totalität‘ als ‚Alleinheitssinn‘ zu retten, ohne den uns ein nicht-einschließbares Ganzes, in dem wir nun einmal leben, abhanden käme.27 Die eindrucksvollsten Resultate seiner Analysen bietet Natorp zweifellos schon an der Basis, also im Areal eines Noch-nicht-Wissens ante portas cognitionis. Hier waren wir nicht nur als Infanten zu Hause, sondern sind es auch passager als adulte Weltlinge, immer dann, wenn wir mit Unbekanntem konfrontiert werden und uns fragen: Was hat das zu bedeuten? Auch diese Frage können wir nur stellen, weil wir in eine Verstehensbeziehung zur Welt hineingeboren wurden, in eine Verfassung, die nicht erlernt
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Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens (wie Anm. 16), S. 78. Paul Natorp: Philosophische Systematik (wie Anm. 20), S. 31. Ebd., S. 30. Ebd. Ebd., S. 13. Ebd., S. 12 et passim. Vgl. ebd., S. 403 f.
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werden kann, die, wie Natorp richtig sah, nicht ‚andressiert‘ werden kann.28 Hier ist die Geburtsstätte, der Ursprung „für alles, wovon irgend die Rede sein kann“.29 In dieser Dimension, die Natorp mit Clemens Brentano auch die „heimliche Welt“ nennt,30 leben wir, wenn wir überhaupt leben. In dieser szenischen Verstehensdimension – nennen wir sie mit Brentano ruhig unsere ‚heimliche Öffentlichkeit‘ – ist nun das erste immer nur das, was sich zeigt. In dieses Sich-Zeigende ist das Neugeborene noch ganz versunken, um aus dieser Versenkung erst allmählich zu sich zu kommen. Allerdings: Aus diesem Grundverhältnis, in dem zunächst alles nur für uns ist, treten wir nie mehr heraus. Deshalb kann es ja irgendetwas für uns nur geben. Mit Quines Vokabular von Reizen kommt man an diese Verhältnisse nicht heran. Der Behaviorismus von Skinner und Quine operiert nicht in Sinnverhältnissen. Hier ist Natorp deutlich im Vorteil. In der Arena des Für-uns-Seins tritt alles vor uns hin und blickt uns als Erblicktes fragend an: Was bin ich für dich? Diesen Befund feiert Natorp als seine späte Einsicht in das, was es heißt, dass überhaupt etwas ist. „Darin stecken alle Wunder, das Wunder aller Wunder, daß überhaupt etwas ‚ist‘. Was ist denn dieses ‚Es ist‘, was ist zuletzt sein Sinn?“ Quine würde antworten: Alles ‚es ist‘ ist eine Setzung. Bei Natorp hingegen lautet die Antwort: „Ist es nicht […] ein Sich-aussprechen, ein gleichsam Voruns-hintreten und sagen ‚Da bin ich‘? Aber dann muß man doch fragen: Was spricht da? Und was spricht es?“31 Natorp möchte so das Eigenrecht der Dinge artikulieren, Partner unseres Verstehens zu sein. Dieses Eigenrecht gründet in ihrem „Sich-präsentieren“,32 für das wir aufgrund unserer Spezialbegabung als homo sapiens empfänglich sind. Sie zeigen sich als das, was sie sind. Sie sind „nicht bloß da, sondern für einen da.“33 Unser vernehmendes Existieren ist eben etwas anderes als ein bloß physikalisches Existieren. Sein und Sinn fallen in unserer vernehmenden Exis-
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Natorp fasst diesen Befund so zusammen: „[W]as das eigentlich Rätselhafte bei der Sache ist: daß wir überhaupt verstehen, überhaupt einen Sinn erfassen, daß es einen erfaßlichen Sinn ein τί, ein ‚das was es ist‘, eben dies Sein (τί ην ειναι) überhaupt gibt, und daß wir, indem wir diesen Sinn ursprünglich vor aller Belehrung durch andere oder ohne anderes ohne alle jene Hilfen […] erfassen, damit in eine Gemeinschaft mit ihm eintreten, oder vielmehr gar nicht erst einzutreten brauchen, sondern uns von Haus aus darinstehend finden.“ Natorp: Philosophische Systematik (wie Anm. 20), S. 27. Ebd., S. 28. Ebd., S. 24. Ebd., S. 22. Ebd., S. 23. Ebd.
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tenz zusammen.34 Deshalb kann es für uns Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit im Sinne Tomasellos überhaupt nur geben. Objekte, Sachen, Dinge, Ereignisse, alles, dem wir uns vernehmend zuwenden, das wir dann auch sprachlich thematisieren, ohne schon Genaueres zu wissen, wird auf diese Weise umgekehrt für uns zum Sprecher: „Spricht nicht alles?“, fragt sich Natorp.35 Er möchte mit diesen schon fast poetischen Wendungen aber keineswegs „in Romantik […] landen, sondern in nüchterner, methodischer Erkenntnis“.36 Dennoch bleibt es unverkennbar, dass er hier eine neue Einsicht geradezu überschwänglich feiert. Als Kantianer, der bestenfalls einen kognitiven „Synthesizer“ auf die Welt kommen lassen kann, hätte er bis dato kaum damit rechnen können, dass ihm die Welt einmal zum Gesprächspartner wird. Als ehemaligem Kollegen von Hermann Cohen schon gar nicht. Denn dieser hatte die Sinnlichkeit als Ganzes verabschiedet und die wundervoll zweideutige Devise ausgegeben: „Wir fangen mit dem Denken an.“37 Der späte Natorp kritisiert diese rigide Position, die ihren methodischen Vorteilen gewaltige Phänomenbestände opfert. Deshalb ist Natorps neuer Held Aristoteles. Allenfalls der Kant der dritten Kritik kommt dem ‚Weltpassungsgedanken‘ bei ihm ebenfalls im Horizont des neu konzipierten basalen Füruns-Seins entgegen. Der späte Kant gewinnt daher für den späten Natorp eine ungemein wichtige Bedeutung. Denn erst hier erreicht auch Kant ein tieferes Verständnis des Individuellen, zu dem uns noch die Worte fehlen, nach denen wir folglich ringen, indem wir nachdenkend verschiedene Möglichkeiten abwägen. Diese deliberative Attitüde ist ja das Geschäft einer reflektierenden Urteilskraft, sie ist es, die uns fragen läßt: Was ist das? Damit vollzieht der späte Kant nach Auffassung des späten Natorp jedenfalls so etwas wie eine Kehre, eine ‚Umkehrung der Wegrichtung‘: „[E]s
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„Was auch immer sich mir darstellt, sei es außen oder innen, sei es Sache oder Vorgang, sei es Wahrnehmung, Phantasie, Gedanke, oder Gefühl, Willensantrieb oder was auch immer, sei es das Bedeutendste oder Bedeutungsloseste, das Gehaltreichste oder das ganz Nichtige, sei es das Auge Gottes oder der Blume, sei es das sichtbare Universum oder das verschwindende Stäubchen oder was man nur Höchstes oder Niederstes nennen mag, das stellt sich mir da, tritt für mich heraus (existit); woraus denn? Aus dem an sich […] ganz unlöslichen Zusammenhang mit allem in dem schließlich einen, unzerstückten und unzerstörbaren All; um zu mir gleichsam zu sprechen, mir sich kundzugeben: Ich bin, ich bin da, und ich bin dir, ich bin für dich da.“ Natorp: Philosophische Systematik (wie Anm. 20), S. 23. Ebd., S. 24. Ebd. Hermann Cohen: Logik der reinen Erkenntnis, Berlin ³1922, S. 13.
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muß statt der Außenwendung […] eine Innenwendung eintreten.“38 Unsere aktive Weltstellung weicht damit aber nicht bloß einer passiven, sondern, da wir in jeder Zuwendung immer Mitgenommene sind, einer medialen im Sinne der griechischen Grammatik. Natorp ist der erste Denker im vorigen, 20. Jahrhundert, der diese mediale Weltstellung des Menschen ausdrücklich gemacht hat. Sie ist nachvollziehbar in unseren „einvernehmlichen“39 Begegnungen mit dem, was sich uns zeigt, konkret: „‚Es gibt sich‘ (si dà) in nicht bloß passivem, nicht bloß aktivem, sondern medialem Sinne. Weder die eine noch die andere Seite ist dabei untätig […].“40 Natorp modelliert unseren Primärkontakt mit der Welt in dieser medialen Façon und mit Rückgriff auf Platon geradezu als ein erotisches Verhältnis, vergleicht ihn selbst sogar dem Geschlechtsakt.41 In dieser Beziehung ist der erste Weltkontakt ein monovalentes Ja, eine Bejahung ohne Alternative, Bejahung dessen, was sich zeigt als das, was ist: „Diese Un-verborgenheit (A-letheia), diese unmittelbare zweifelsfreie Wahrheit also des Seins besteht ohne Weiteres für den, der nur ihr aufgetan und unverschlossen ist.“42 Dass sich mit solchen Erwägungen deutliche Bezüge zu Heidegger geradezu aufdrängen, ist in der Forschung bereits ausgeführt worden.43 Natorp beweist hier jedenfalls eine erstaunliche Sensibilität für einen geradezu zärtlichen ersten Weltkontakt im Sinne von Goethes „zarter Empirie“. Dieser verliert sich auch bei adulten Mitgliedern des homo sapiens nicht, wenn sie sich Reste einer kindlichen Weltoffenheit bewahren können und nicht völlig verpanzert eine egoide Weltstellung behaupten und verteidigen, die am Ende zwangsläufig doch zusammenbricht. Genau genommen ist Natorps Sensibilität hier eine musikalische. Mit Aristoteles braucht man diese auch, um für Wahrheit empfänglich zu sein. Denn, wie es in der Nikomachischen Ethik heißt: „Mit dem Wahren singt alles Zugrundliegende mit.“44 Natorp fundiert daher unsere erste und „einvernehmliche“ Weltstellung in harmonischen Strukturen, in Sinnstrukturen, die er
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Natorp: Philosophische Systematik (wie Anm. 20), S. 124. Ebd., S. 371. Ebd., S. 370. Ebd., S. 371. Ebd., S. 376. Vgl. Christoph von Wolzogen: Schöpferische Vernunft. Der Philosoph Paul Natorp und das Ende des Neukantianismus, in: FAZ vom 17.3.1984. Ders.: Die autonome Relation, Würzburg/Amsterdam 1984. Eth. Nic. I, 8 1098 b 11–12: „τω […] αληθει παντα συναδει τα υπαρχοντα“. Vgl. zu diesem Befund Wolfram Hogrebe: Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, Berlin 2009, S. 141 ff.
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„Figurationen“ nennt.45 Modell für solche Figurationen sind bei ihm Rhythmus, Harmonie, Melos. Diese Formate sind in ihrer expressiven Bedeutung gar nicht auf die Musik beschränkt, sondern durchdringen das ganze Leben und machen es zu einer einzigen großen Symphonie.46 An der Basis bildet der Mensch mit der Welt einen Klangzusammenhang. Hieraus erklärt sich im Reich der Infanten auch die Bedeutung von Liedern, die Mütter ihnen abends vorsingen, um sie in das Traumland des Schlafens zu begleiten. Man darf sich daher daran erinnern, dass die Welt überhaupt zuerst besungen wurde, bevor sie besprochen wurde. Reim geht Prosa vorher. Solche musikalischen Befunde sind Quine, der Lexika und Atlanten liebte, nun völlig fremd, obwohl sie realitätshaltig sind. Abzüglich ihrer spezifischen Auslöseeffekte bleiben Reize für Quine ja völlig stumm. Eine Phänomenologie des Geistes degeneriert bei ihm zu einer Phänomenologie der Dressur. Der Musik ist eine gewisse Art der Dressur natürlich auch nicht fremd, so z. B. in der Einübung der Beherrschung eines Musikinstrumentes oder eines neuen Stückes. Hier bleibt die Dressur ebenso notwendig wie erlitten. Wer übt schon gerne die immer selbe schwierige Stelle? Dennoch ersetzt diese musikalische Dressur nicht das Hören auf Klänge, und darauf kommt es beim Zusammenspiel und seinen Abstimmungen als Solist, Orchestermusiker oder Dirigent natürlich an. Musikalische Temperamente sind in der Philosophie selten. Aber es gibt sie, nicht nur als Dilettanten der Instrumentalmusik, sondern sogar als solche der Komposition.47 Nietzsche hatte eine beachtliche musikalische Begabung, aber eben auch Paul Natorp und später Theodor W. Adorno. Alle drei Denker haben sich auch als Komponisten versucht: Nietzsche im Schatten von Richard Wagner, Paul Natorp im Schatten von Johannes Brahms und Adorno im Schatten von Alban Berg und Arnold Schönberg. Nietzsche wurde für seine Kompositionen von Hans von Bülow, dem Dirigenten Wagners, rüde abgestraft (Notzüchtigung Euterpes), Natorp etwas konzilianter, aber dennoch deutlich von Brahms. Adorno kam einigermaßen ungeschoren davon, abgesehen von dem fernen Donnergrollen Schönbergs. Warum ist das hier wichtig? Weil gerade die musikalische Sensibilität von Natorp für seine Fassung eines ersten, non-verbalen Weltkontaktes von konzeptueller Bedeutung war. Natorp stellt den homo sapiens in seinem spezifischen Sein in eine anonyme harmonia mundi ein. Das scheint auch heute noch wesentlich erfolgsversprechender zu sein als das neurologische Gekröse 45 46 47
Natorp: Philosophische Systematik (wie Anm. 20), S. 150. Vgl. ebd., S. 379. Vgl. hierzu Jürgen Stolzenberg: Paul Natorp als Musiker, Musiktheoretiker und Komponist (Manuskript, Halle 2006).
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unserer Zeit. Denn auch die neuronalen Verschaltungen unseres Gehirns folgen in ihrem Design nicht der Architektur eines Rechners, sondern ähneln viel eher einer Architektur, wie wir sie aus der Harmonielehre der Musik kennen. Darüber belehrt uns die Asymmetrie der Leistungen: Der Rechner ist da sehr schnell, wo unser Gehirn sehr langsam ist und umgekehrt. Unser Gehirn ist da sehr schnell, wo es z. B. um das Erfassen informeller Informationsmilieus wie Stimmungen, Nuancen, Valeurs und Klangfarben aller Art geht. Hier ist ein Rechner wegen der ungeheuren Komplexität der Algorithmen zur Erfassung solcher Qualitäten sehr langsam. Aber zur Erfassung diskreter Informationslagen im quantifizierbaren Sinne von 0 und 1 ist er uns natürlich haushoch überlegen. Insofern können wir von Paul Natorps Intuitionen im Bereich einer kontrollierten Entkörperung auch heute noch lernen. Über solche Fragen, noch ohne Bezug auf Natorp allerdings, hatte ich anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des Wissenschaftskollegs zu Berlin am 30.9.2006 mit John M. Krois im Grunewald ausführlich gesprochen. Damals hatten wir uns auf Folgendes geeinigt: Verkörperung setzt, um notwendig zu werden, Entkörperung voraus wie ebenso Entkörperung Verkörperung impliziert. Beides ist mithin auf geheimnisvolle Weise äquivalent. Das ist das Rätsel des Seins in der Dualität von Sinn und Sein.
I I . B I L D KÖ R P E R
Maria Luisa Catoni
F RO M M O T I O N T O E M O T I O N 1 An Ancient Greek Iconography between Literal and Symbolic Interpretations
In this essay, I will approach the larger issue of how images work by analyzing a single figure found in ancient Roman art. The case study poses the problem of the relationship between motion and emotion in depictions in strictly literal terms.2 I will, for the present, leave aside one very important element, namely the ancient theoretical context in which the images analyzed were produced and received. It should not be left unmentioned, however, that between the IVth and the IIIrd centuries BCE in Greece, theories on imitation were proposed mainly within political treatises, which rested upon the crucial assumption that humans have an involuntary, natural tendency to imitate the images they are exposed to. In this context, images in movement – such as dance figures – or still images that imply or represent movement played a major role.3
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This text is based on the lecture delivered at the International Conference “Bodies in Action & Symbolic Forms. Zwei Seiten der Verkörperungstheorie. Internationale Tagung zum Gedenken an John M. Krois”, 4.–6.11.2011, Humboldt-Universität zu Berlin. My deep gratitude goes to Alex Arteaga, Horst Bredekamp, Marion Lauschke and Jürgen Trabant. In 2009, I had the opportunity to discuss the problem of embodiment in Classical Antiquity with John M. Krois in the context of a seminar organized by him and Horst Bredekamp. Both of these discussions and one of his essays in particular (John M. Krois: Experiencing Emotions in Depictions. Being Moved Without Motion?, in: id.: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, ed. by Horst Bredekamp/Marion Lauschke, Berlin 2011, pp. 233– 251) have inspired the following reflections. I worked on the general theme of ancient representations of women dying in childbirth during my stay at the Wissenschaftskolleg in Berlin in 2009. I thank for their suggestions and criticism Luisa Ciammitti, Silvia Ginzburg, Sara Olson, who also revised the English text, Maria Cecilia Parra, Carlo Ginzburg, Luca Giuliani, Salvatore Settis. My deep gratitude goes to Elena Torno for her warm kindness and generosity. On the active effect of images on viewers, see recently Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010.
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The case presented here lends itself to the analysis of a process that led an iconographic schema to change in function and, in particular, to shift from a literal narrative function to a mainly rhetorical one.4 The form of a figure that literally communicated a fast motion forward ended up signifying a strong emotion, becoming a sign expressing a state of extreme pathos, namely desperation. Furthermore, the rhetorical function seems to have emerged at the expense of the literal-narrative one, the meaning of “extreme desperation” ultimately superceding the meaning of “fast movement forward” almost completely. The story of the figure analyzed here gets to the heart of this disjunction. Among the extant or documented ancient Roman sarcophagi decorated with the story of Meleager, nine represent the scene of the lamentation over his corpse.5 Six of them are well preserved and complete (figures 1–6). The sarcophagus in the Louvre (figure 1) is decorated with three scenes on the front: to the left, in the presence of the Moirai, Meleager’s mother Althaea is placing the log, which served as a token for his life, on the fire, thereby causing the death of her son. On the right, we see the cause of Althaea’s dreadful gesture: Meleager has just killed one of his two uncles, Althaea’s brother. The dying uncle, albeit falling, still keeps hold of the contended object, the Calydonian boar hide that Meleager had given to Atalanta. The other uncle, on the right, is facing Meleager with his right hand ready on the hilt of his sword. The central scene (figures 1, 7) represents a ritual lamentation: Meleager’s corpse is lying on the kline, its lower half wrapped in a shroud. Meleager’s helmet rests on the footstool in front of the kline, his sword leans against its side while on the ground, under the footstool, lays his spear.6 On the same foot-
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I adopt a distinction that certainly requires further refinement. “Rhetorical”, in this text, is used in a technical sense as “element of a rhetorical figure”. “Literal” and “narrative”, in contrast, are used to indicate the semantic value of the figure within a specific narrative. I thank Luca Giuliani for his criticisms on this point and Carlo Ginzburg for calling my attention to the relevance of Francesco Orlando: Per una teoria freudiana della letteratura, Torino 1973, in this context. Six further fragments or sarcophagus sides could belong to the same group. Guntram Koch: Die antiken Sarkophagreliefs, vol. 12: Die mythologischen Sarkophage, part 6: Meleager. [ASR 12.6], Berlin 1975, nr. 112 ff. Susan Woodford: Meleagros, in: Lexicon Iconographicum Myhtologiae Classicae, vol. 6.1, Zürich/München 1992, s.v. and nrr. 134–138, 150–155. Katharina Lorenz: Image in Distress? The Death of Meleager on Roman Sarcophagi, in: Jas Elsner/Janet Huskinson (Eds.): Life, Death and Representation. Some New Work on Roman Sarcophagi, Berlin/ New York 2011, pp. 305–332. The presence of helmet, sword, and shield (which identify a warrior rather than a hunter) provides a significant hint as to the origin of this iconography as it has been shown by Luca Giuliani: Achill-Sarkophage in Ost und West. Genese einer Ikonographie, in: Jahrbuch der Berliner Museen 31 (1989), pp. 25–39, p. 36 f., to which I refer for the relevant literature.
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Figure 1 Lamentation over Meleager, Roman sarcophagus, c. 180–190 CE, Paris, Louvre, once Borghese Collection. Figure 2 Lamentation over Meleager, Roman sarcophagus, c. 160 CE, reused as a fountain in late Antiquity, Ostia, Museo Archeologico Ostiense. Figure 3 Lamentation over Meleager, Roman sarcophagus, c. 170–180 CE, Milano, Torno Collection, once Simonetti Collection; until 1902, Florence, Palazzo Montalvo. Figure 4 Lamentation over Meleager, Roman sarcophagus, c. 170 CE, Rome, Musei Capitolini.
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Figure 5 Lamentation over Meleager, Roman sarcophagus, c. 180 CE, once Rome, reused in the Church of S. Angelo in Pescheria since the first half of the XVIth century, Salisbury, Wilton House, Inner Courtyard 1963. Figure 6 Lamentation over Meleager. Roman sarcophagus, c. 230 CE, once Rome, later Vatican Gardens, Castel Gandolfo, Villa Barberini.
stool, Meleager’s father rests his left leg and cane, while his son’s shield is visible behind him. Meleager’s father is the first of three figures that build a sort of close mourning circle around the kline, the other two both being young women, identifiable as Meleager’s sisters. The first one, behind the kline, brings her left hand to her head grasping her hair and extending her right arm, hand open. The second woman embraces Meleager’s head and holds an apple to his mouth. Farther left, behind Meleager’s father and outside the closest mourning circle around the dead body, Atalanta sits in a mourning gesture. The space between Atalanta and Meleager’s father is occupied by the figure of an old woman (figure 7), whose bearing implies her rapid movement towards the right-hand side of the scene, in the direction of the corpse. Her arms are vigorously thrown back, both hands open. In her desperate rush, the heavy chiton she is wearing slips down her right arm, leaving both her shoulders and upper right arm exposed. With variations I won’t discuss here, the compositional block of the lamentation reappears on all of the sarcophagi belonging to the series (figures 1–6). I only mention the peculiar treatment of the old running woman figure on the Torno sarcophagus (figure 8) because it shows traits that do not appear in the
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Figure 7
Detail of fig. 1.
Figure 8
Detail of fig. 3.
Figure 9 Sassetti Chapel, detail of the reliefs attributed to Giuliano da Sangallo, c. 1485, Florence, Santa Trinita.
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same figure on the other sarcophagi. The first peculiar trait is that the spatial relationship between the end of the kline and the running woman’s body is made visible (figure 8, see also figures 5–6). This visual circumstance makes the literal interpretation of the figure problematic, insofar as the woman’s movement forward is hardly compatible with the space between her and the end of the kline. As we shall see, this area bore spatial difficulties; as the analysis of the whole series shows very clearly, the treatment of both the space at the end of the kline and the figure of the running woman were subject to a number of not always successful attempts at making them as spatially consistent as possible. The second peculiar trait of the figure on the Torno sarcophagus concerns the treatment of her dress, which, unlike its occurrences in the series, is made of a very fine fabric. By representing the fluttering edges of her dress, particularly in the back, the sculptor was able to give the woman’s forward movement an extra frantic and dramatic character, thus turning the garment into a highly expressive device.7 The series of sarcophagi representing the lamentation over Meleager (figures 1–6) is, so to speak, particularly dense, from both a scholarly and an artistic point of view. Over many centuries, a great number of intense and diverse gazes have interwoven around it. The scene hence poses crucial questions both if we look backwards, in search of its iconographical models (figure 12), and forwards, in an attempt to analyze the numerous post-antique gazes that selected and reused either entire portions or single figures (figures 9, 10, 12, 18). Given the continuous attention paid to this ancient formula from late medieval and Renaissance times to the XXth century, it becomes particularly relevant to try to identify, whenever possible, on the one hand, a specific sarcophagus that would have been observable by artists in a given city at a given time and, on the other hand, what specific figure or group of figures attracted the artists’ attention. The intense gaze that some late medieval and early Renaissance artists in particular bestowed upon the lamentation over Meleager also raised the interest of great art historians, such as Aby Warburg, who both devoted important circumstantial studies to instances of its Renaissance reception, such as the interpretation of the relief decorating the tomb of Francesco Sassetti in his 7
The sculptural treatment of the running woman on the Torno sarcophagus is one of the numerous concrete hints at its higher quality compared to the other sarcophagi belonging to the series. One is reminded of the expressive value of the “bewegte Beiwerke” as it was unforgettably analyzed and interpreted by Aby Warburg: Sandro Botticellis ‚Geburt der Venus‘ und ‚Frühling‘ (1893), in: Aby Warburg: Werke in einem Band, hg. v. Martin Treml et.al., Berlin 2010, pp. 39–123, or in: Aby Warburg: Opere. La Rinascita del paganesimo antico e altri scritti (1889– 1914), vol. 1, ed. by Maurizio Ghelardi,Torino 2004, pp. 77–161.
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Figure 10a Nicola Pisano: Massacre of the Innocents, 1265–1268, detail of the pulpit, Siena Cathedral. Figure 10b Nicola Pisano: Massacre of the Innocents, 1265–1268, detail of the pulpit, Siena Cathedral (detail).
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Figure 11 a Giotto: Deposition of Christ, fresco, c. 1304–1306, Padua, Scrovegni Chapel.
Chapel in Santa Trinita (figure 9), and included it in his Atlas Mnemosyne.8 Warburg considered the gestures of the mourning women around Meleager examples of those “formulae of intensified pathos” that provided artists with a new figurative language. The frieze attributed to Giuliano da Sangallo that runs around the sarcophagus of Francesco Sassetti (ante 1485) also provided Warburg with a specific instance of the larger issue concerning the concrete conditions under which a renewal of the figurative language took place among Florentine artists through the live contact with Antiquity. This was a case-study that 8
The art-historical account has recently been re-analyzed by Salvatore Settis: Ars moriendi. Cristo e Meleagro, in: Annali della Scuola Normale Superiore, 4 Quaderni 1/2 (2000), pp. 145–170, to which I refer for the relevant literature; it mainly focuses on the iconography of the hanging arm and therefore on the sarcophagi decorated with the scene of the transport of Meleager’s body. Nonetheless, both his methodological observations and specific analyses of the lamentation formula are relevant in this context. The relief depicting the death of Francesco Sassetti is included in the Table 42 of the Atlas Mnemosyne under the heading “Leidenspathos in energetischer Inversion (Pentheus, Mänade am Kreuz). Bürgerliche Totenklage, heroisiert. Kirchl. Totenklage. Tod des Erlösers. Grablegung. Todesmeditation” (on this text see Martin Warnke/Claudia Brink (Eds.): Aby Warburg. Der Bilderatlas Mnemosyne, Berlin 2008, pp. IX–X).
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Figure 11 b Giotto: Crucifixion, fresco, c. 1310s’, Assisi, Lower Church of San Francesco, north transept. Figure 11 c Giotto: Massacre of the Innocents, fresco, c. 1310s’, Assisi, Lower church of San Francesco, north transept.
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Warburg approached unforgettably in the mentioned essay on the Cappella Sassetti (1907 but also earlier in 1901)9 through an analysis of Ghirlandaio’s frescoes in the same chapel. Upon the suggestion of Carl Robert, Warburg rightly indicated as a likely model for the portion of the frieze representing the death of Francesco Sassetti the sarcophagus now in Milan, the same that was walled along a corridor of the Palazzo Montalvo (1568) until 1902.10 The quotation in the Sassetti frieze (ante 1485) would gain the Torno sarcophagus almost a hundred years of visibility in Florence. Indeed, the frieze attributed to Giuliano da Sangallo would become the main proof that the Torno sarcophagus was visible in Florence before its physical reuse in the Montalvo palace and might provide some hints on the actual conditions under which it was observable. Warburg’s hypothesis can actually be considered a certainty, based on both the arguments he and Schottmüller brought forth and two small details from the ancient model that were reinterpreted as decorative elements in the modern relief. On the sarcophagus, only two portions of the cane that Meleager’s father is holding to his right are preserved (figure 9). The smaller fragment is visible on the edge of the footstool, to the left of Meleager’s helmet. Meleager’s father’s cane must have already been broken when the sculptor of the Sassetti frieze took the ancient relief as a model, and to such an extent that 9
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Aby Warburg: Florentinische Wirklichkeit und antikisierender Idealismus. Francesco Sassetti, sein Grab und die Nymphe des Ghirlandaio (1901), in: Warburg: Werke (as fn. 7), pp. 211–233, p. 224. Id.: Francesco Sassetti letztwillige Verfügung (1907), ibid., pp. 234–280, and in: Warburg: Opere, vol. 1 (as fn. 7) pp. 425–484. At note 65 (Warburg:Werke [as fn. 7]) or note 69 resp. (Warburg: Opere [as fn. 7]), Warburg refers to his Vorlesungen für die Hamburger Oberschulbehörde (1901, unpublished), where he indicated the Montalvo Sarcophagus as the model for the Sassetti frieze. I thank Maurizio Ghelardi, who discussed this unpublished text with me. In the same footnote, Warburg himself mentions the work of Frida Schottmüller: Zwei Grabmaler der Renaissance und ihre antikenVorbilder, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 25 (1902), pp. 401–408, p. 406 ff., who independently reached the same conclusions about the Sassetti frieze and its model. Both Warburg (Warburg: Werke [as fn. 7] p. 224, 272) and Schottmüller (p. 406, note 8) declare their common source, Carl Robert, who provided them with the indication of the Montalvo Sarcophagus as specific source (Carl Robert: Die antiken Sarkophagreliefs, vol. 3: Einzelmythen, part 2: Hippolytos – Meleagros [ASR 3.2], Berlin 1904, p. 341, nr. 282). Koch (ASR 12.6, p. 121, nr. 117) indicates the year 1902 for the sale of the sarcophagus. Erwin Panofsky: Tomb Sculpture. Four lectures on its changing Aspects from Ancient Egypt to Bernini, ed. by Horst Woldemor Janson, New York 1992 (first edition New York 1964), p. 73, fig. 313, reproduces the sarcophagus in Ostia instead of the one in Milan. Eve Borsook/Johannes Offerhaus: Francesco Sassetti and Ghirlandaio at Santa Trinita, Florence. History and Legend in a Renaissance Chapel, Doornspijk 1981, p. 25 and note 82; Settis: Ars moriendi (as fn. 6), p. 149 f. gives a precise account of how the running woman on the Torno sarcophagus was recognized as the source for Nicola Pisano and Giotto.
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he could probably have no longer understood the cane fragment as such and hence turned it into a little band attached to the helmet. The same happened with the crest of the helmet, which was turned into a kind of extension of the funerary shroud in the Sassetti frieze. The presence of this sarcophagus in Florence (a rather rare circumstance at the time) could also make it a likely candidate as the source of the earliest extant reuse of one of its figures, albeit far less certain than the Sassetti Chapel reuse. In the Massacre of the Innocents scene found on the pulpit sculpted for the Cathedral of Siena between 1265 and 1268, Nicola Pisano inserted the figure of the woman running forward with her arms thrown backwards (figure 10). 11 Apart from its physical presence in Florence, the Torno sarcophagus also presents visual traits that could distinguish it as a likely source of Nicola’s figure. These are the treatment of the exposed upper shoulders and left arm of the running woman, the way her dress slips down her arm, the triangular shape of her back neckline, and the fine fabric the garment is made of. In the context of the Massacre of the Innocents on the pulpit, the figure belongs to a central circle composed of the only three mature women in the whole scene and the only ones who do not hold an infant in their arms or defend it from the soldiers’ attack. The three women build a sort of central “mourning comment” to the entire scene. The woman running forward with her arms thrown backwards, however, is very different not only from the other figures populating the scene, but also from the two mourners close to her, with whom she seems to share the same function. Of the three, she is the only one represented in a state of violent 11
André Jolles: Zur Deutung des Begriffes Naturwahrheit in der Bildenden Kunst, Freiburg i.Br. 1905 (lecture held Dec. 16, 1904), pp. 34–36 (who quotes Schottmüller at note 21). I thank Stefania Gerevini for getting me a copy of this text. Erwin Panofsky: Early Netherlandish Painting. Its Origins and Character, Cambridge, MA 1953, p. 367; Albert Bush-Brown: Giotto. Two Problems on the Origins of his Style, in: Art Bulletin 34 (1952), pp. 42–46. Quoting Robert (ASR 3.2), BushBrown (p. 44, note 32) and many others maintain that the same figure was used by Donatello in the Deposition on the Tabernacle of St. Peter’s Sacristy and in the Basilica of St. Antonio in Padua. This statement, though, seems to identify the gesticulating women appearing in many scenes of Deposition and Crucifixion, belonging to the Greek Byzantine tradition, with the woman running with her arms thrown backwards as in the Meleager sarcophagi. This identification does not seem sufficiently grounded, both in terms of the tradition of the figures and in strictly iconographical terms. On the general theme, see Max Seidel: Il pulpito di Nicola Pisano nel Duomo di Siena, Milano 1971; id.: Studien zur Antikenrezeption Nicola Pisanos, in: Mitteilungen des kunsthistorischen Instituts in Florenz, 19/3 (1975), pp. 307–392; Moshe Barasch: Gestures of Despair in Medieval and Early Renaissance Art, New York 1976; id.: Giotto and the Language of Gesture, New York/ London 1987. Very useful is Irving Lavin: The Sources of Donatello’s Pulpits in San Lorenzo: Revival and Freedom of Choice in the Early Renaissance, in: The Art Bulletin 41/1 (1959), pp. 19–38.
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motion. Furthermore, she runs forward for no narrative reason: where is she heading to and why? She is not rushing to help anybody or to defend an infant from the grasp of a soldier. Indeed, none of the three central women partake in the action of the massacre that is taking place. However, while two of them perform traditional codified gestures of grief, which are consistent with their “mourning comment-like function” and whose execution does not require the entire body’s motion, the running old woman not only does not perform any traditionally codified ritual gesture, but she is represented in action. An action, however, that does not make any sense, as action, in the context in which it is performed. It is precisely for this circumstance that the figure looks as if it were interjected from an entirely different context. Our visual familiarity with it, due to a long tradition of reuse, lets us take for granted what at the beginning of that tradition was not a given in the least. We take as a matter of course that the woman’s strong forward motion, so characteristically represented, does not have a literal narrative but a ritual emotional function, just as the gestures performed by the other two mourning women. The latter perform ritual funerary gestures that had been codified since at least the VIIIth (the hands to the head) and the VIth century BCE, later becoming part of the Byzantine painters’ repertoire, and well attested to by numerous XIIIth century reuses12 (figure 12). The violent movement forward, in contrast, cannot rest on such a tradition, as it is widely maintained that it is documented for us for the first time by the Meleager sarcophagi. In the earliest extant post-antique reuse, i.e. in the Sienese pulpit, the narrative inconsistency of the old woman’s forward movement and its proximity to two highly codified and ritualized funerary gestures evidence that the forward movement with the arms thrown backwards must also count as a codified mourning gesture. It needs not to be read literally: it is represented as motion but it has to be read as emotion, namely desperation. The same seems to hold true for the subsequent history of the use of this same figure. It is enough to point out just the example of Giotto, who used the figure three times within a very short time span, and always in connection with figures performing ritually codified and traditionally crystallized gestures (figure 11). I will not enter into the much-discussed issue of whether Giotto took the gesture of the figure running with the arms thrown backwards from Nicola Pisano or from a Roman sarcophagus, which could have been the Torno sarcophagus.13 Nor will I analyze either the new spatial function that Giotto gives to the figure of St. John in the Deposition, where he performs the gesture of the 12 13
Ernesto de Martino: Morte e pianto rituale, Torino 1975 (first published 1958), Atlante del pianto, figg. 58–67. Bush-Brown: Giotto (as fn. 11) discusses the issue.
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Figure 12 Fra’ Guglielmo da Pisa: Compianto, c. 1270, detail of the pulpit, Pistoia, Church of San Giovanni Fuorcivitas.
running woman, nor the amplification effect the painter achieves by having the angels in the sky repeat the gestures of grief performed around the corpse of Christ in the Deposition and under the cross in the Crucifixion. Instead, I just want to stress how both Giotto and Nicola do not give the figure any strictly narrative function. The movement has become a rhetorical figure of desperation, in this respect resembling the two other traditional mourning gestures, as shown not only by its total lack of sense in terms of narrative but also by the close gestural context in which it is employed.14 The question arises as to when this change of function took place: was it Nicola who gave this gesture the new meaning, as a consequence of his detaching it from a certain narrative context 14
That both Nicola and Giotto renounce the literal meaning of the figure does not mean, of course, that they do not give it a crucial function. From a compositional point of view, the figure plays a crucial role in building a specific space. Precisely through this figure, Nicola closes to the right the “central space” where action is suspended and an emotional meditation on the horror around is evoked. In the Compianto, St. John’s forward movement and bending has the function of prolonging the round space around the corpse of Christ to the background and of accompanying the viewer’s gaze to the centre of the composition. Conversely, in the Crucifixion in Assisi the painter slightly corrects the position of the running woman making her almost a still-standing figure, her upper body far less bent forward than in the Compianto and the Massacre. In the Crucifixion, the forward movement has almost disappeared: of the entire formula, only the position of the arms is left, turned into a gesture performed without motion. St. John and the two women under the cross present an almost encyclopedic sequence of ritual gestures of mourning: the same three gestures that in the Deposition in Padua link together the three figures in the background, at the two opposite ends of Christ’s body.
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Figure 13 Stories from Achilles’ life, Roman sarcophagus, c. 160 CE, Ostia, Museo Archeologico Ostiense.
(the sarcophagus) and reusing it within a different one? In other words, are we now witness to a cost to be paid in exchange for the capacity of a figure to migrate from one context to another? The first place to look for a possible answer is the scene of the lamentation over the corpse of Meleager in the series of Roman sarcophagi that preserve it. Does the running woman have a narrative function here, and has the change we noticed therefore taken place in the post-antique reuse of the figure? Or rather, does her action also count as rhetorical figure or ritual gesture on the sarcophagi? From a compositional point of view, does the running woman’s action make sense, or is she, like in the post-antique reuses, a kind of extraneous body, an insert added to the main narrative block of the lamentation over a dead body, whose composition goes back to Achilles’ lamentation over the body of Patroclus (figure 13)?15 In other words, is the compositional choice we see on the Meleager sarcophagi functionally similar to the one later made by Nicola and Giotto? A fresh look on the whole series of the Meleager sarcophagi (figures 1–6 and 14) reveals a stunning similarity between the post-antique reuses and the ancient Roman uses, in terms of both function and a certain awkwardness of the figure of the running woman in the context within which she is represented. In the scene of the lamentation over the corpse of Meleager, as well as in the post-antique reuses, the running old woman does not seem to make much sense: why is she moving forward? And where to? From a compositional point of view, her figure creates very evident problems on the sarcophagi as well: the running woman would actually crash onto the end of the kline, where the corpse lies (figures 14a, c, d). Each one of the sarcophagi belonging to the series 15
As demonstrated by Giuliani: Achill-Sarkophage (as fn. 6).
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Figure 14 a–d Details of figs. 2, 5, 3, 1.
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actually tries to solve the problem somehow, whether by unnaturally squeezing the figure in (figure 14b), or by trying to find some more space for it (figures 14a, 4, 6). On the sarcophagi, again, the gestural context in which the figure is placed says something: no other character’s entire body is in movement, although each one of the figures performs a codified ritual gesture of funerary mourning. The figure of the running old woman does not seem to have a literal meaning even on the sarcophagi; her running should not be taken as an action, but rather as a sign of intense desperation.16 Moreover, the sarcophagi show, far more clearly than the post-antique reuses, that from a compositional point of view, the figure does not entirely belong and a series of spatial efforts are required in order for it to fit the context. The hypothesis that the woman moving forward with her arms thrown backwards could be an insert in the Roman sarcophagi showing the lamentation over Meleager’s body, and that her figure might hence have come from a context in which her running makes sense, gains plausibility. A second question then arises: when and in what context did this type of figure lose its literal narrative function and change its meaning from a figure in motion to a figure of emotion? The earliest known occurrence of the figure, in the form familiar to us through the Meleager sarcophagi and the post-antique reuses, dates to the first half of the first century CE. It appears on a silver cup found in Pompeii (figure 15). It is rather unlikely, however, that it was coined within the same artistic genre as it is generally assumed that this type of object accommodated schemes and inventions normally created within different types of monuments. The figure must have been invented for a different type of object and before the silver cup was produced. If the cup from the Ist century CE, then, cannot be a faithful witness for locating the invention of the running woman figure, the subject represented on it can. The scene portrays the death of Semele, who had been impregnated with Dionysos by Zeus, and who Zeus’ wife Hera therefore arranged to be struck by lightning. Just before Semele’s death, however, Zeus arrived in time to explant Dionysos from her body and to re-implant him into his own thigh, from where Dionysos would later be born. Mythologically speaking, Semele did not die in childbirth. Through a process I cannot illustrate here, however, her death ended up by being assimilated with and represented as a death in childbirth. This assimilation must have
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Another example of the disjunction between literal-narrative and stylistic-rhetorical meanings is offered by the use of the device of the velificatio both in our series and elsewhere. I thank Luca Giuliani for pointing this connection out to me.
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Figure 15 a, b, c Silver cup from Pompeii, Casa del Menandro. Dying Semele and bath of baby Dionysos, first half of the Ist century CE, Naples, MAN.
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already happened by the end of the Vth century BCE and the beginning of the IVth.17 On the silver cup (figure 15), Semele is represented in the moment of highest distress: she has fallen backwards, assuming a very inelegant and unbalanced position, as shown by her mantel that hardly covers her lower body and the position of her legs. She throws her head back in a spasm of pain, bringing her right hand to her head. Her undressed hair freely flows across her shoulders and her left arm hangs down in abandonment, the sign of her imminent death. A servant woman tries to help her from behind, supporting her left shoulder. The servant raises her right hand and looks towards another woman, who is arriving on the scene in a desperate rush, trying to reach dying Semele and possibly help her. Her arms are thrown back and her dress has slipped down, leaving her right shoulder and upper back uncovered. Her right wrist visually crosses the wrist of the male figure who stands behind her in a state of sovereign calm: Death.18 There is no hope for Semele, no matter how quickly the running woman reaches her. Death is already there, the running woman helpless and Semele hopeless. The other side of the cup, which also displays theatrical masks just as the side with Semele, is decorated with a scene depicting the bathing of the newborn. In the background, a woman holds a cloth while another woman on the foreground bathes baby Dionysos. A woman on the left and a silenus on the right attend the scene. Both episodes and the general composition recur, jointly, on a much earlier object: a column crater produced in Apulia around the end of the IVth century BCE (figure 16). In the lower register, Hermes on the left and a goddess, possibly Eileythyia, the protectress of women in childbirth, take care of baby Dionysos. The upper register of the Apulian vase is occupied by the scene of Semele’s death in the center. She falls backwards, her unbalance being visually stressed by the position of her legs. To the right, a richly dressed woman supports Semele from behind, while the latter has rested her left arm on the helping woman’s left shoulder; to the left, another woman rushes to Semele’s aid, extending her arms forward, a gesture performed by midwives in childbed scenes. Above Semele, Zeus’ lightning is visible. It has to be mentioned that between the end of the Vth century BCE and the beginning of the IVth, the subject of giving birth seems to have gained 17 18
Maria Luisa Catoni: Le regole del vivere, le regole del morire: su alcune stele attiche per donne morte di parto, in: Revue Archéologique 1 (2005) pp. 27–53; id.: La comunicazione non verbale nella Grecia antica, Torino 2008, pp. 295–302. I thank Silvia Ginzburg for her observations on this scene and its interpretation.
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Figure 16 Apulian red-figure crater, c. 310–300 BCE, attributed to the Arpi Painter, Tampa Museum of Art.
some popularity in Athens. I’ll just mention here a theatre piece by Timotheos entitled “The Birth Pangs of Semele”, of which we know from the sources that it was performed in Athens at the beginning of the IVth century BCE. The scandal it provoked left a persistent trace in the literary sources, which mention in particular the shock caused by the musical performance imitating the screams of Semele in pain. The assimilation of Semele’s death with a death in childbirth is documented since the IVth century BCE not only by Timotheos’ theatrical piece and the painted vase from Apulia, but also by a series of Athenian funerary stelai. It was not a particularly successful production in Antiquity, although it can help us go one step backwards in the story of the figure we are analyzing. These Athenian funerary stelai (such as the one of Plangon, figure 17) were produced for common women who died in childbirth. However, they use
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Figure 17 Attic funerary stele for Plangon, c. 350–300 BCE, Athens, National Museum.
the same iconographical formula we have observed on the Apulian vase, where it is employed to represent the mythical death of the mother of the God Dionysos. The iconographical formula includes the dying woman and two figures who try to help her, one supporting her from behind, the other representing a midwife, who moves forward with her arms stretched out toward the dying woman, in the same direction in which the body is moving. It is likely that this iconography was actually coined for a high register subject, such as the mythological story of Semele’s death, and that through the latter’s assimilation with a death in childbirth, the same formula ended up being used for real women who died in childbirth. Although they show the same subject and general composition, a crucial innovation intervened between the IVth century BCE representations, be they mythological or not, and the first century CE silver cup, i. e. the coinage of that particular figure of woman moving forward with her arms thrown backwards. We cannot say when this innovation was brought about and in what medium. We can reasonably conjecture, though, that it was invented within a high register subject, most likely the same as is represented on its earliest extant witness (the silver cup), i. e. a representation of Semele’s death; and, again, that it was probably employed for the figure of the midwife (or a goddess performing this function) running to help the woman in distress.
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Figure 18 Pablo Picasso: Guernica, 1937, Madrid, Museo Nacional Reina Sofia.
The figure moving forward with her arms thrown backwards must have always retained a connotation that situated it on a tragic high register; as far as we know, it was neither used in Greek nor in Roman times for non-mythological subjects. It has been proposed that the gesture of the running woman on the silver cup has the literal narrative meaning of keeping Death from reaching Semele. Apart from being a clue as to the difficult interpretation of the figure, this hypothesis seems unlikely as there is no contact between the running woman and Death who, moreover, is standing in complete stillness. Once the figure of
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the running woman, however, is considered as belonging to the series of midwives found on the Apulian vase and the funerary stelai, both its narrative meaning and its innovative character, as being the reflection of a powerful iconographical innovation, emerge clearly. On the silver cup, the woman’s dramatic forward movement makes sense from a narrative point of view, because – unlike Meleager or Christ – Semele has not died, yet, but is in a state of extreme distress and in need of help. On the other hand, though, her arms thrown backwards contradict both physically and conceptually the action itself of bringing help. It is possible, albeit not yet proven, that this powerful gesture is a magnificent figurative version of a rhetorical figure of inversion. The reversal of the midwife’s gesture would have resulted in the coinage of an anti-midwife figure. The reversal of the direction of the arms in particular, from forwards to backwards, and the intense energy of their extension could be a literal denial of the midwife’s gesture and function of bringing help, which is normally represented (and likely performed) through her fast moving with her arms stretched forward, in the direction of her movement.19 The overall result, in particular the contradictory movement between the woman’s body, which has a narrative sense, and her arms could then be a powerful rhetorical figure, which Warburg would have called a Pathosformel or a pathetic gesture in the superlative degree. It becomes the denial of the midwife’s helpfulness or, better, the rhetorical figure of helplessness and desperation in front of a horrible destiny. Of one thing we can be sure: it cannot be said, as it often happens, that the gesture of the woman moving forward with her arms thrown backwards on the silver cup is a common traditional gesture of intense pathos that does not need an explanation. This statement casts its later story of reuse (figures 9, 10, 12, 18) onto the ancient figure, and attributes to it the function it performed once it had already become a rhetorical figure of emotion. The silver cup from Pompeii, instead, testifies to a moment when the figure changed its function, turning motion into the representation of emotion.
19
To my knowledge, the problem of how images deny or represent the opposite of a concept or reach a parody-effect without the help of writing has been only partially researched as far as Antiquity is concerned. The relevance of the topic in the present context has been suggested to me by the reading of Carlo Ginzburg: Idoli e immagini, in: id.: Occhiacci di legno. Nove riflessioni sulla distanza, Milano 1998, pp. 118–135; id.: Straniamento. Preistoria di un procedimento letterario, ibid., pp. 15–39.
Dirk Westerkamp
DA S T R AG I S C H E BI L D Patristische Anfänge und ikonische Prägnanz des Schmerzenskindes
1. Da s d ra mat isc he Bi ld: Sophok les’ Öd i p u s Ein sizilianisches Vasenbild des vierten Jahrhunderts v. Chr. zeigt den entscheidenden Augenblick der Ödipus-Handlung (Bild 1). Der rotfigurige Kelchkrater aus Syrakus, dessen Darstellung dem Capodarso-Maler zugeschrieben wird,1 setzt die Ankunft des greisen Boten in Szene, der Ödipus die Nachricht vom Tode seines Ziehvaters Polybos überbringt, und von der Aristoteles’ Poetik als der Peripetie des sophokleischen Dramas spricht: „Die Peripetie ist […] der Umschlag (metabolê) dessen, was erreicht werden soll, in das Gegenteil (enantion) und zwar […] gemäß der Wahrscheinlichkeit oder mit Notwendigkeit. So tritt im ‚Ödipus‘ jemand auf, um Ödipus zu erfreuen und ihm die Furcht (phobos) hinsichtlich seiner Mutter zu nehmen, indem er ihm mitteilt, was er sei, und er erreicht damit das Gegenteil.“2 Tatsächlich fällt die Trauer über den Tod des vermeintlichen Vaters zusammen mit der Erleichterung über die vermeintliche Nichterfüllung jenes Orakelspruchs, welcher Ödipus den Mord am Vater und die Heirat der Mutter vorhersagte. Seine Bedenken, wegen der Prophezeiung niemals nach Korinth zurückkehren zu können, werden allein durch die Aussagen des Boten zerstreut, er, Ödipus, sei nicht der leibliche Sohn des Polybos und der Merope, sondern ein von ihnen an Sohnes statt genommenes Findelkind. Unwissentlich steht mit dem Boten jener Mann vor Ödipus, durch dessen Hände er in die Obhut seines adoptivelterlichen Königspaares von Korinth kam. Schon die im dritten Epeisodion überbrachte Nachricht trägt an sich selbst jene Polarität von Rettung und Vernichtung aus,3 die im Drama Voraus1 2 3
Vgl. Richard Green/Eric Handley: Bilder des griechischen Theaters, Stuttgart 1999, S. 45, 67, 112. Aristoteles: Poetik 11, 1452a22–26 (Übers. v. Manfred Fuhrmann). Peter Szondi: Versuch über das Tragische, Frankfurt/M. 1961, S. 65.
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Bild 1 König Ödipus, Botenbericht, rotfiguriger Kelchkrater, drittes Viertel 4. Jh. v. Chr., Syrakus.
setzung des Handlungsumschlags ist. Es bleibt dem vierten Epeisodion zu enthüllen, dass ein Hirte (von Laios beauftragt, seinen und der Iokaste Sohn Ödipus im Kithairon-Gebirge auszusetzen, um dem Orakelspruch vom Mord an Laois durch die Hand seines eigenen Sohnes zu entgehen) das verstoßene Kind jenem korinthischen Hirten gab, der es an den Hof von Korinth brachte – und nun vom Vasenbild den Betrachter anblickt. Am Wahrheitsgehalt des Botenberichts besteht kein Zweifel, der Mann aus Korinth erkennt die Narben der durchbohrten Fesseln des Ödipus. Während die geschilderten Einzelheiten der Auffindung und Rettung des Findlings dem König von Theben kurzfristig die Zuversicht zurückgeben, nicht der Mörder zu sein, den zu suchen er sich selbst beauftragt hat, enthüllen sie der erschütterten Iokaste, dass ihr Mann niemand anderes sein kann, als der nach seiner Geburt ausgesetzte, deshalb für tot gehaltene Laios-Sohn, der ihr eigener ist. Kaum zufällig wählt das Vasenbild zum Sujet die dramatische Wende, welche den objektiven Umschlag der Handlung mit dem subjektiven Wissen der Handelnden (hier zunächst nur der Iokaste) und beides noch einmal mit dem Wissen des Lesers/Zuschauers um die tragischen Verwicklungen zusammenfallen lässt. Indem es diesen Umschwung als Koinzidenz von Handlungsper-
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spektiven darstellt, wird das Bild selbst zur ikonisch prägnanten „dramatischen Analysis“.4 Freilich zeigt es gerade das Auseinandertreten von Peripetie und Anagnorisis, deren Einheit Aristoteles eigentümlicherweise für den Ödipus behauptet.5 Zur Ansicht kommt der Erkenntnismoment der Iokaste, die entsetzt ihre Hände vors Gesicht hält, während Ödipus noch sinniert. Entgegen der aristotelischen Empfehlung, Peripetie (= Umschlag der Handlung selbst) und Anagnorisis (= Umschlag im Bewusstsein der Handelnden) zusammenfallen zu lassen, gewinnt Sophokles’ Drama zwischen dem dritten und vierten Epeisodion seine dramatische Prägnanz gerade aus dem Aufschub dieses Zusammenfalls, den das Vasenbild festhält. Entgegen kommen der Darstellung die beiden im Sophokleischen Text verwobenen Wortpaare der Licht/Dunkel- und der Sehen/Blindheit-Metaphorik, die den Weg der Wahrheitsenthüllung von Schein zum Sein6 sprachlich figurieren. Neben der plastischen Gestik ist es die Mimik der Figuren, in der sich der Selbstenthüllungsvorgang der Handlung spiegelt. Alle Augen, traditionell Symbole des Wissens, sind bei den dargestellten Personen leicht überdimensioniert und aufgerissen. Alles Geschehen wird in den Anblick, griechisch eidos, gelegt. Während die Augen des Boten dramatisch den Rezipienten der Vase fixieren, gehen sie doch zugleich an ihm vorbei in eine leere Ferne. Denn protentional spiegelt sich in ihnen die kommende Katastrophe, deren Unglück in Wahrheit längst eingetreten und nicht mehr abzuwenden ist. Überwölbt werden die Augen durch Sorgenfalten auf der Stirn des Boten, die mit den nachdenklichen Stirnfalten des über seine Herkunft grübelnden Ödipus korrespondieren. Zwischen den Gemütsregungen ihrer Eltern schwebt der so ahnungs- wie unheilvolle Gesichtsausdruck der Kinder, zweifellos Antigone und Ismene, die Ödipus umrahmen. Von ihnen weiß der attische Zuschauer, dass sie dem geblendeten Ödipus am Ende der Tragödie durch Kreon genommen werden. Einzig Iokaste ist keine Erkennende mehr, weil sie alles erkannt hat. Wissen kommt ihr allein im Sinn jenes perfektischen „Gesehen-Habens“ zu, wie es das griechische eidenai ausdrückt, das aber nun keiner Sprache mehr bedarf: „Iu, Iu, Unseliger! Einzig dies Wort noch kann ich zu dir sagen, kein anderes mehr!“ (V. 1071–2) In Ödipus erkennt Iokaste nicht mehr ihren Mann, sondern ihren Sohn, dessen Aufklärungsanstrengungen (und damit der endgültigen Lösung, lysis, des Handlungsknotens) sie nicht mehr folgt, sondern sich selbst richtet.
4 5 6
Friedrich Schiller/Johann Wolfgang von Goethe: Briefwechsel, hg. v. Emil Staiger, Frankfurt/M. 1966, S. 480. Poetik 11, 1452a33–34. Vgl. Karl Reinhardt: Sophokles, Frankfurt/M. 1933.
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Verschiedene Ästhetiker (wie Alberti,7 Shaftesbury,8 Diderot,9 Caylus,10 Lessing11, Hegel12 und andere) haben, an je unterschiedlichen systematischen Orten ihrer Kunsttheorien, die Peripetie der Handlung als entscheidende „Situation“ und damit als das zentrale Sujet der bildenden Künste empfohlen, insoweit diese sich zum Ziel setzen, die sprachlich-dramaturgischen Zeitverhältnisse von Handlung und Handelnden in die drei- bzw. zweidimensionale Raumfläche von Plastik und Malerei zu übertragen. Das sizilianische Vasenbild, selbst Einheit von dreidimensionalem Gebrauchgegenstand und zweidimensionaler Darstellungsfläche, führt ins Zentrum dieses systematischen Problems des Verhältnisses von Zeit und Bild, und ihr Schöpfer hätte kaum einen „prägnanteren Augenblick“ wählen können. Diese, in Hegels Worten, „ganz einfache Reflexion“13 über das Verhältnis von Handlungszeit im Bild soll iko nische Prägnanz genannt und als Funktion dramatischer Bilder bestimmt werden: Ikonische Prägnanz meint die sinnvolle Konzentration von Handlungsverläufen auf den Augenblick einer ikonisch darstellbaren Gegenwart, auf den Punkt, an dem ein Maximum an Handlungen (pragmata) als Optimum von Handlung (mythos) in ein Minimum an Zeit (das, was Platon und Aristoteles „Plötzlich“, exaiphnês, nennen) zusammenschießt. Als tragische können ikonisch prägnante, dramatische Bilder dann gelten, wenn ihre ikonische Prägnanz auch pathê (also Furcht und Mitleid) und katharsis im Sinne des aristotelischen Tragödiensatzes zu begünstigen geeignet ist und nicht nur von etwas handeln, sondern selbst Handlungen evozieren.14 7 8
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13 14
Leon Battista Alberti: Das Standbild. Die Malkunst [De pictura]. Grundlagen der Malerei, hg. v. Oskar Bätschmann/Christoph Schäublin, Darmstadt 2000, S. 40. Anthony Ashley Cooper of Shaftesbury: A Notion of the Historical Drought of Tablature of the Judgement of Hercules, in: ders.: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times with a Collection of Letters, Bd. 3, London 1790: „choice of the determinate Date or Point of Time“; vgl. Ivan Nagel: Gemälde und Drama, Berlin 2009, S. 37. Denis Diderot: Encyclopédie, Bd. 3, Paris 1753, S. 772: „instant le plus intéressant“. Comte de Caylus: Tableaux tirés de l’Iliade, de l’Odyssée d’Homer et de l’Enéide de Virgile, Paris 1757, S. xxxiii: „der glückliche Augenblick frappierender Art“. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 5/2: Werke 1766, hg. v. Wilfried Barner, Frankfurt/M 1990, S. 117: „den prägnantesten […] Augenblick“. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik III, in: ders.: Werke, Bd. 15, Frankfurt/M. 1986, S. 89: „daß durch diesen einen Moment das Ganze der Situation oder Handlung, die Blüte derselben, dargestellt und deshalb der Augenblick aufgesucht werden muß, in welchem das Vorhergehende und das Nachfolgende in einen Punkt zusammengedrängt ist“. Ebd. Ob sie damit auch für die Theorie der Bildakte im Sinne Horst Bredekamps (Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010) relevant sind, wäre eigens zu untersuchen.
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2. Zu m Verhä lt n is von d ra mat isc her u nd i kon isc her M i mesis: A r istoteles’ Poe t i k Aristoteles selbst hat an mehreren Stellen seiner Poetik, wenngleich eher implizit, auf die Kontiguitäten von dramatischer und ikonischer Mimesis hingewiesen. Seine Abkehr von der platonischen Kritik mimetischer Tertiarität (die künstlerische Mimesis als Nachahmung einer Wirklichkeit verstand, die selbst schon Mimesis von Ideen ist, deren Einheit wiederum von der Idee des Guten gestiftet wird) erlaubt eine generelle Aufwertung der bildenden Künste und führt in der Poetik zu zahlreichen Vergleichen zwischen Drama und Malerei. Sie zeigen die grundsätzliche Vermittlung von Stoff- und Formursache in je eigenen Wechselverhältnissen, denen die Differenz von Raum- und Zeitkünsten innewohnt. Denn wer Farben (chrômata) und Formen (schêmata) aufträgt, muss zum einen anders nachahmen als der Bildhauer, dessen Material nach dreidimensionaler Formung verlangt;15 er wird aber auch anders vorzugehen haben als der Schriftsteller oder Historiker, dessen Text ein Nacheinander (tade meta tade) von Handlungen zeigt. So lässt sich die Unterscheidung zwischen der Semantik der Farben und der Syntax der Linienzeichnung auch in der Dramentheorie anwenden. Letzteres entspräche der Handlung (mythos) als der „Seele“ der Tragödie, ersteres der Charakterdarstellung. Während das Primat der Linie dem Primat der Handlungskomposition korreliert, steht die Charakterdarstellung an zweiter Stelle. Denn die Tragödie ist Nachahmung von Handlung und nur zu diesem Zweck auch von Handelnden. Ähnlich in der Malerei: „Denn wenn jemand blindlings Farben aufträgt, und seien sie noch so schön, dann vermag er nicht ebenso zu gefallen, wie wenn er eine klare Umrisszeichnung herstellt.“16 Freilich wird die Tragödienhandlung erst durch die Charaktere „farbig“ und „plastisch“, und die Charakteriologie des Dramas – es soll bedeutendere Charaktere darstellen, die uns gleichwohl menschlich nicht unähnlich sind – findet sich auch in den bildenden Künsten wieder: So ahme der Maler Polygnot bedeutendere (kreittous), Pauson gemeinere (cheirous) und Dionysius uns ähnliche (homoioi) Personen nach.17 Den Gedanken, dass die Struktur der dramatischen Handlung nach Anfang, Mitte und Schluss verlangt, um eine einheitliche Verlaufskurve des plots zu gewähren,18 und dass diese Mimesis von Handlungen in der Bildkunst nur gelingen kann, wenn sie die Darstellung von Handlung auf einen prägnanten 15 16 17 18
Poetik 1, 1447a19–a30. Poetik 6, 1450b1–4. Poetik 2, 1448a6. Das Verhältnis der antiken Vasenmalerei zu den einzelnen Tragikern untersucht die klassische Arbeit von John Homer Huddilston: Die griechische Tragödie im Lichte der Vasenmalerei, Freiburg/Br. 1900. Poetik 7, 1450b24–b34.
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Gegenwartspunkt zuspitzt, formuliert Aristoteles nicht explizit, wohl aber indirekt. Denn er argumentiert, dass sich unsere Freude über den Anblick von Bildern einer doppelten geistigen Tätigkeit mit angenehmer Wirkung verdankt. Wir lernen beim Betrachten und schließen (syllogizesthai) auf schon Bekanntes: „Dieses soll also jenes darstellen“. Vergnügen bereitet entsprechend das Nachvollziehen dieses Bezugs auf etwas (was in die Leistung unseres Intellekts fällt); kennen wir hingegen das Abgebildete nicht, so vergnügt zumindest die Kunstfertigkeit der Abbildung, d. h. die intellektuelle und handwerkliche Leistung des jeweiligen Künstlers.19 Die sizilianische Vasenmalerei erfüllt dieses Kriterium. Ihre Darstellung zwingt zum Schließen von einer bestimmten Szene auf das Ganze der Ödipus-Handlung. Ihr gelingt, nicht nur das Nacheinander des Textes (tade meta tade) in die Simultanität eines Anblicks zu bringen, sondern auch das geordnete Ineinander bzw. Wegeneinander (tade dia tade) der Handlungsmomente ansichtig zu machen. Dies aber hat die Darstellung der Peripetie zur Voraussetzung, weil in ihr der prägnanteste Punkt der Handlungszusammenfügung (systasis pragmatôn) selbst, das „Drama im Drama“ (C.-A. Scheier) zur Darstellung kommt. Mit der Systasis gewährt das Drama zugleich eine bildähnliche Synopsis. So kann sich Aristoteles erneut der Analogie von Raum- und Zeitrelation bedienen, um die räumlichen Ausdehnungsverhältnisse des Naturschönen mit den zeitlichen Anschauungsverhältnissen des Kunstschönen zu vergleichen. So wie die Größe bei Körpern „gut zusammenschaubar“ (eusyn opton; Raum, Naturschönes) sein muss, so hat die Länge der dramatischen Handlung „gut erinnerbar“ (eumnêmoneuton; Zeit, Kunstschönes) zu sein.20 Der Vergleich zum Naturschönen gewährt einen Seitenblick auf Aristoteles’ Physik, in der Wirklichkeit als die größtmögliche Fülle von Differenzen in einer Einheit und diese in sich differenzierte Einheit als in ihrer Wirkung umso erfreulicher (d. h. schöner) bestimmt wird, je mehr Differenzen sie harmonisch zu vereinen vermag.21 Daher ist es für Aristoteles nur noch ein Schritt, das Schöne als harmonische Einheit größtmöglich vieler Unterschiede zu bestimmen – was erneut den Rang des Epos problematisch erscheinen lässt, welches aufgrund der Fülle seiner erzählten Vorgänge, also aufgrund der so verursachten Ausdehnung in ihrem Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit uneinheitlich zu werden
19 20 21
Poetik 4, 1448b13–19. Poetik 7, 1451a6. Aristoteles: Physik 1, 1.
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droht.22 „Um es ganz einfach (haplôs) zu sagen“,23 resümiert Aristoteles seine Überlegungen zum Quantum des Kunstschönen: Schön ist im Fall der Tragödie das Maß an Welthaltigkeit und Größe, welches erforderlich ist, um innerhalb der Handlungsgrenzen von archê und teleutê einen ununterbrochenen Handlungsgang zu erzeugen. Diese ununterbrochene Mitte (to meson) hat nach der Art der dramatischen Verlaufskurve aus sich selbst den Umschlag (metabolê) vom Unglück (atychía) ins Glück (eutychia) (klassischer Komödienverlauf) oder vom Glück ins Unglück (klassischer Tragödienverlauf) zu entwickeln. Der durch Anfang, Mitte und Schluss strukturierte plot hat die ununterbrochene Bewegung des Lebens als Handlung zu zeigen, und ihr Umschlag wiederum zeigt diese Bewegung in seiner äußersten Schärfe und Zuspitzung auf die Pole des Lebens (eutychia – atychia), also das Treffen oder Verfehlen der eudaimonia zeigt (was nicht heißen muss, dass damit die Tragödie unter der Komödie rangiert, welche klassischerweise durch den gelingenden Umschlag von Handlung in die eutychia gekennzeichnet ist). Auch ist das Glück nicht schon identisch mit der eudaimonia eines gelingenden Lebens, sondern Zweckursache einer unhintergehbar tragischen Existenz, in der sich das Notwendige und Wahrscheinliche des Lebens auch dann als Möglichkeit zeigt, wenn es nicht eintritt.
3. Chr i sto s pa s ch ô n: D ie pat r ist isc he K r it i k der Tragö d ie u nd der t rag isc he Gr u nd i m Ch r istent u m Zu den ebenso irrigen wie hartnäckigen Vorstellungen der Ideengeschichte zählt die These von der Unterdrückung der Tragödie und des in ihr sedimentierten Wissens um die tragische Verfassung menschlicher Existenz24 durch das frühe Christentum. Die Behauptungen reichen von Wilperts kühner These, das Mittelalter kenne „aus dem einheitlichen christlichen Glaubenshorizont heraus keine Tragik und damit keine Tragödie, da ein absolut tragisches Geschehen
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Dies lässt nochmals die implizite Gattungsunterscheidung sehen: Während das Epos größtmögliche Unterschiede (und damit Welthaltigkeit) versammelt, aber deren strenge Einheit vermissen lässt, ist die Einheit der lyrischen Mimesis unproblematisch, bietet aber weniger Unterschiede (was sie subjektiv und weniger welthaltig erscheinen lässt). Fuhrmann übersetzt zu stark: „um eine allgemeine Regel aufzustellen“ (Aristoteles: Poetik, übers. und hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 27), wodurch er Aristoteles in große Nähe zu den normativen Poetiken des 17. und 18. Jahrhunderts stellt, die aus seinem Text unverrückbare Regeln zu gewinnen hofften. Dagegen Wolfram Ette: Kritik der Tragödie. Über dramatische Entschleunigung, Weilerswist 2011.
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nach dem göttlichen Heilsplan ausgeschlossen ist“,25 bis hin zu dem absurden Urteil, das Verschwinden der Tragödie in der Spätantike falle in eine „Periode der totalen Unterdrückung durch die Kirchenväter“.26 Die bequeme These, die sog. Kirchenväter hätten eine „Ausrottungskampagne“27 gegen das Drama geführt, ist ebenso falsch wie prima facie eingängig. Dem unvoreingenommenen Blick auf die patristischen Texte zeigt sich ein anderes Bild: eine reiche, in sich selbst kontroverse Tradition der Aneignung und Verwandlung dramatischer Formen, mythologischer Stoffe28 und ästhetischer Wirkungsabsichten. Schon die Vermutung, es gebe „keine Tragik und damit keine Tragödie“ scheint selbst für die Eröffnungsphase der Mittleren Epoche,29 also für die Patristik zwischen 200 und 600 n. Chr., untriftig. Nicht nur gibt es Tragödien wie den lange Zeit Gregor von Nazianz zugeschriebenen Christos paschôn, „Der leidende Christus“; auch wird die Passionsgeschichte des Neuen Testaments selbst als Drama gelesen; und nicht zuletzt wandern dramatische Elemente in die entstehende Liturgie ein, deren Zeitlichkeit in der Konzentration von chro nos auf kairos besteht. Gegen die communis opinio einer die Patristik ignorierenden Forschung besteht jedenfalls aller Grund zur Annahme, dass die frühchristlichen Philosophen in ihrer impliziten Poetik wenn nicht die Geschichten des Neuen Testaments in Dramen verwandelt, so doch mindestens die dramatische Form in die Heiligen Schriften selbst hineingelesen haben. Entsprechend konnten, und zwar sowohl in kritischer Abgrenzung wie komplizierter Adaption des tragischen Wissens, die frühchristlichen Apologeten Clemens von Alexandrien, Origines und Tertullian die Heiligen Schriften als dramatische Dichtung interpretieren – ein Umstand, der die ganze Ambivalenz der frühchristlichen Aneignung des Tragischen (und der Tragödientheorie) vor Augen führt. So deutet Clemens von Alexandrien die biblischen Geschichten als tragische Stoffe und Präfigurationen des kommenden, sich für die menschliche Schuld opfernden Logos;30 Leo der Große schildert die Passion Christi wie eine Tragödie,31 Tertullian die Apokalypse und das jüngste Gericht als das letzte Weltdrama, das in dem Maße alle Tragödien überwindet, wie Christus’ letztes
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Gero von Wilpert: Tragödie, in: Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 71989, S. 961. Dieter Baldo: Die Tragödie, in: Otto Knörrich (Hg.): Formen der Literatur, Stuttgart 1981, S. 406. Ebd. Vgl. Raban von Haehling (Hg.): Griechische Mythologie und frühes Christentum, Darmstadt 2005. Zum Terminus vgl. Heribert Boeder: Topologie der Metaphysik, Freiburg/München 1980. Clemens Alexandrinus: Stromateis I, 23, 155, 1. Leo Magnus: Sermo LV.
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Opfer das Ende aller Opferkulte herbeiführt;32 Johannes Chrysostomos fordert eine Dramatisierung der Liturgie, um mit den heidnischen Theatern zu konkurrieren.33 Selbstverständlich konnte diese patristische Doppelstrategie ihre Ambivalenz nie ganz in den Griff bekommen. Dazu blieb die Ablehnung zu stark von Platons Mimesis-Kritik und seiner Verstoßung der Tragödiendichter als crimi natores deorum motiviert;34 andererseits sollte die dramatische Handlungsverknüpfung der Tragödie eben nicht nur als Idololatrie oder simulacrum,35 sondern auch als Grundverfassung einer durch göttliches Opfer und Schuldaufhebung bestimmten Passionsgeschichte verstanden werden, die als „höheres Schauspiel“36 die Unschlüssigen nicht weiter in die Theater treibt, sondern zum christlichen Glauben finden lässt. Möglich wird eine solche Verwandlung nicht zuletzt deshalb, weil jene Dichtung, Erkenntnis und Politik vermittelnde griechische Kultur einer von Verhängnis (anangkê), Verfehlung (hamartia), Schuld und Affektreinigung (katharsis) durchwalteten tragischen Verfassung menschlicher Existenz angemessen nur in ihrer Bestimmung als religiös-politischer Kultus verstanden werden kann.37 In der Tragödie durchlebt nicht bloß ihr Held, sondern es erfährt mit ihm eine ganze Polis die kathartische Kraft des versöhnenden Gottes (bzw. der Götterwelt), der darin den „verborgenen“ Grund ihrer Existenz zum Vorschein bringt.38 In der kritischen Adaption des Tragischen und der Lektüre der neutestamentlichen Narrative als Tragödie(n) konnte freilich das attische Verständnis des Tragischen nicht einfach wiederholt werden oder unverwandelt bleiben – wie schon der flüchtige Blick auf die frühchristliche Historiographie zeigt: Welche antike Tragödie, fragen Eusebius und Theodoret, schildert solche Grausamkeiten wie jene, welche die Christen der Julianischen bzw. Diokletianischen Verfolgungen erleiden mussten? Das ist keine bloß rhetorische Frage, sondern Ausdruck eines theologischen Programms, das sich an ein durch und durch hellenistisches Publikum wendet. Um die „Tragik“ dieser Ereignisse in ihrer „dramatischen Würde“ darstellen zu können, bedürfte es, so Theodoret, der 32 33 34 35 36 37 38
Tertullian: De spectaculis 30, 1–5. Vgl. Blake Leyerle: Theatrical Shows and Ascetic Lives. John Chrysostom’s Attack on Spiritual Marriage, Berkeley, CA 2001. Tertullian: Ad nationes I, 7, 11; Augustinus: De civitate dei VIII, 21. Novatian: De spectaculis 6–7: simulacrum und idololatria sind die „Mutter aller Spiele“. Ebd. 10. Vgl. Christian Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988. Claus-Artur Scheier: Zeit, Glaube und Geschichte. Zum tragischen Grund des Christentums, in: Braunschweiger Beiträge für Theorie und Praxis von Religionsunterricht und Konfirmandenunterricht 100 (2002), S. 80–85, 83.
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„Eloquenz eines Aeschylus oder Sophokles“.39 Das klingt nach Übernahme, doch lassen sich an solchen Nebenbemerkungen bereits Spuren der fundamentalen Verwandlungen in der Auffassung der Tragödie und ihrer Wirkung ablesen. Denn erst mit dem Gebot der Darstellung auch des Abscheulichen (miaron) können andere als die von Aristoteles vorgeschriebenen Charaktere die „Bühne“ der frühchristlichen Literatur erobern: etwa auch die vollkommen tugendhaften und uns dadurch unähnlichen. Entsprechend muss auch die dramatische Handlung, die ja primär die tragischen Wirkungen von eleos und phobos hervorrufen soll, eine neue Bestimmung erhalten.40 Nicht allein das Tragische, sondern auch das Traurige, das Grausame und Abscheuliche kann, in seiner Überwindung als Heilsgeschehen gekleidet, Gegenstand der dramatischen Form werden. Es bedarf zugleich einer Verschiebung der poetologischen Kategorien des Aristoteles, um nicht nur den Aposteln, Heiligen und Märtyrern, sondern auch dem als Gottessohn personifizierten Logos die Bühne zu öffnen. Zwar bilden im Zeitraum patristischen Denkens zwischen 200 und 600 n. Chr. (also in der für die folgenden Überlegungen relevanten Phase), letztlich bis in die Neuzeit, Christus-Dramen die Ausnahme, aber die Darstellung der Passion Christi durch Johannes und die Synoptiker wird von vielen „Kirchenvätern“ als ein solches gelesen. Nicht erst Corneille wird fordern, auch die „Passion de Jésus-Christ et les martyres des saints“ auf die Bühne zu bringen;41 bereits die Patristen denken in Kategorien einer solchen Märtyrertragödie – mitsamt dem von ihr erwirkten Affekt der Bewunderung, wobei die Nachahmung dann nicht mehr nur jene aristotelische mimêsis von Handlung, sondern die imitatio (hu militatis) Christi (Eph 5,1; Kor I, 4,16; Kor I, 11,1) selbst wäre.42 Nirgends dürfte die kritische literarische Adaption des Tragischen und der verborgene „tragische Grund“43 im Christentum klarer ausgesprochen sein als in jener Äußerung Novatians, der seinen nichtchristlichen Lesern zuruft: „Ein Christ hat, wenn man so will, die besseren Schauspiele. […] Denn welches von menschlicher
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Theodoret: Historia Ecclesiastica III, 3. Vgl. Eusebius: Historia Ecclesiastica I, 8, 4, wo der vorgeblich von Herodes angeordnete Kindesmord (vgl. Mt 2,1 ff.) als Tragödie bezeichnet wird: „Ein Bericht darüber würde jedes Trauerspiel in den Schatten stellen.“ Vgl. Eusebius: Historia Ecclesiastica VIII, 9, 11; vgl. Theodoret: Epistulae LXXXVI und CLXII. Im Falle der sog. Märtyrertragödien ist diese Verbindung noch relativ offensichtlich. Aus aristotelischer Perspektive stellen sie aber mindestens einen Grenzfall des Tragischen, wenn nicht dessen Auflösung dar, insofern die mesotês von Tugend und Unglück ignoriert wird. Pierre Corneille: Œuvres complètes I, hg. v. Georges Couton, Paris 1980, S. 979. Vgl. u. a. Chrysostomos: In Matthaeum Homilia 78, 4; Augustinus: Sermo 304, 2, 2. Claus-Artur Scheier: Zeit, Glaube und Geschichte (wie Anm. 38).
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Hand erbaute Theater könnte sich mit den [in der hl. Schrift genannten] Werken vergleichen?“44
4. Da s K i nd m it dem K reu z: Pseudo - Ch r ysostomos’ O p u s Im pe r fec t um Das breite Einsickern tragischen Wissens in die Frühphase der Mittleren Epoche wirft die ikonologisch spannende Frage nach parallelen Entwicklungen in den frühchristlichen Bildprogrammen auf. Es ist zu fragen nach einem dem hellenistischen Denken vergleichbaren Verhältnis von tragischem Stoff und ikonischer Figuration – mit der Schwierigkeit freilich, dass es zur kritischen philosophisch-theologischen Aneignung der Tragödie kaum Entsprechungen in der Dramenpraxis geben konnte (die Datierung des Christus paschôn ins 4./ 5. Jahrhundert ist ebenso umstritten wie die Möglichkeit seiner Aufführung), zumal sie in Gestalt ihrer kaiserzeitlichen Depravation zu Mimus und Pantomimus45 von den patristischen Denkern unisono verurteilt wird: Tertullians De spectaculis (um 200) dürfte hier das frühste und einschlägigste Dokument sein. Zu suchen wäre in den frühchristlichen Bildprogrammen zwischen 200 und 600 n. Chr. nach ähnlich ikonisch prägnanten Bildern dramatischer Handlungen, wie sie mit den antiken Darstellungen der Orestie-, der Iphigenie- oder auch der Ödipus-Handlung überliefert sind. Gibt es, mit einem Wort, schon im Frühen Christentum das tragische Bild? Geht man nicht kunstgeschichtlich von existierenden Darstellungen aus, sondern konstruiert philosophisch das gesuchte Bild aus den Begriffen der aristotelischen und patristischen Bestimmung des Tragischen, so bietet sich an, die ikonische Prägnanz des tragischen Bildes in der folgenden Konstellation von Motiven zu suchen: 1) Gemäß der Hegelschen Überlegung, in der christlichen romantischen Kunst drücke sich der unendliche Geist der göttlichen Liebe als versöhnende Rückkehr des Geistes aus seinem Anderen zu sich selbst aus, wäre ihr zentrales Sujet das Madonnenbild.46 Hegel bemerkt, dass die romantische Kunst ihren Inhalt nicht kognitiv-abstrakt zu setzen, sondern unserem empfindenden Gemüt als eine durch und durch persönlich-subjektive darzustellen habe:
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Novatian: De spectaculis 9, 3: „Habet christianus spectacula meliora, si velit […]. Quod theatrum humanis manibus extructum istis operibus poterit compari?“ Vgl. William J. Slater: Roman Theatre and Society, Ann Arbor 1996; Richard C. Beachham: The Roman Theatre and its Audience, Cambridge, MA 1992. Hegel: Ästhetik II, in: ders.: Werke, Bd. 14, S. 155.
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„Am zugänglichsten aber für die Kunst ist in diesem Kreise die Liebe der Maria, die Mutterliebe, der gelungenste Gegenstand der religiösen romantischen Phantasie. Am meisten real, menschlich, ist sie doch ganz geistig, ohne Interesse und Bedürftigkeit der Begierde, nicht sinnlich und doch gegenwärtig […]. Zwar ist auch diese Liebe nicht ohne Schmerz, aber der Schmerz ist nur die Trauer des Verlustes, die Klage über den leidenden, sterbenden, gestorbenen Sohn und wird nicht, wie wir auf einer späteren Stufe sehen werden, zur Ungerechtigkeit und Marter von außen oder zum unendlichen Kampf der Sünde […]. Solche Innigkeit ist hier die geistige Schönheit, das Ideal, die menschliche Identifikation des Menschen mit Gott, dem Geist, der Wahrheit […].“47 2) Die Darstellung der Madonna als Schmerzensmutter weist auf den zweiten, für das tragische Bild konstitutiven Aspekt voraus: auf das Moment der hamar tia als schuldlose Schuld. Die Formulierung entstammt Schellings epochaler Deutung in der Philosophie der Kunst (1802/3), der zufolge Ödipus für ein Verbrechen bestraft wird, welches eigentlich ein „Werk des Schicksals“,48 Ergebnis eines Geschlechterfluchs war. So besteht die hamartia und mit ihr „das höchste denkbare Unglück“ des Ödipus darin, „ohne wahre Schuld durch Verhängnis schuldig zu werden“.49 Erstaunlicherweise hat Schelling dieses Verhältnis vierzig Jahre später, in seiner Philosophie der Offenbarung (1841/2), auf den Gottessohn selbst übertragen.50 Der Logos, oder die „zweite Potenz“, wie Christus in Schellings später Offenbarungsphilosophie genannt wird, „ist nicht der Schuldige, aber doch ist er schuldig. Die zweite Potenz kann sich des gottwidrigen Seins nicht annehmen, ohne selbst in seine Schuld mit einzugehen.“51 Wie also ließe sich die schuldlose hamartia im tragischen Bild eindringlicher darstellen als in der Figur des unschuldigen Kindes, das als Schuldiger bestraft wird und die Erbsünde auf sich nimmt? 3) Für den dritten Aspekt des tragischen Bildes kann wiederum auf Hegels Deutung der romantischen Kunstform zurückgegangen werden. Da die Mutterliebe als „Bild […] des Geistes“, der sich „in der Form der Empfindung für die Kunst fassbar macht“,52 dialektischerweise ein Bild nicht nur der Innig47 48 49 50 51 52
Ebd., S. 157 f. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Kunst, in: ders.: Sämtliche Werke [SW], Bd. 5, hg. v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart 1856–61, S. 695. Ebd. Vgl. Dirk Westerkamp: Schellings Anthropologie der Schuld, in: Archiv für Begriffsgeschichte 46 (2004), S. 197–224. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Offenbarung (1841/42), hg. v. Manfred Frank, Frankfurt/M. 1977, S. 268 f. Hegel: Ästhetik II (wie Anm. 46), S. 158.
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keit, sondern des Schmerzes ist, kann sie nicht als Sehnsuchtsidyll ansichtig werden, sondern muss überschattet sein vom Wissen über den bevorstehenden Opfertod.53 So ist das Moment der schuldlosen Schuld durch die Zeichen der Passion zu verstärken, folglich müssten das Kreuz, die Wundmale oder die Marterwerkzeuge in die Gegenwart der Madonnen-Kind-Szene fallen. Kaum zufällig hat sich dies in der ostkirchlichen Ikonographie dann auch konsequent von der Theotokos54 (Gottesgebärerin) und Hodegetria (Wegbegleiterin) zur Elousa (Mitleidenden), Glykophilousa (Süßküssenden) und Arakiotissa 55 bzw. „Gottesmutter der Passion“ – der im westkirchlichen Raum die mater dolorosa entspricht – fortentwickelt. 4) Ikonische Prägnanz gewinnt das tragische Bild durch Pointierung der Handlungs- und Zeitverhältnisse der exemplarisch tragischen Existenz Christi.56 Daraus erhellt, dass mit dem Einzug nach Jerusalem oder der Kreuzigung selbst noch keine eindeutige Peripetie bestimmt ist (wenngleich der Opfertod Christi später auch als Peripetie nicht nur der Heils-, sondern der Weltgeschichte selbst interpretiert wurde), so dass es (gemäß dem zweiten Aspekt und gemäß der aristotelischen Bestimmung des Zusammenfalls von Anfang und Schluss in der sie verbindenden Mitte) nahe liegt, das Kindheits- mit dem Opfer- und Wiederauferstehungsmotiv in eins fallen zu lassen. Alle vier abstrahierten Kriterien konvergieren zuletzt im Schmerzens kind als dem ikonischen Pendant zur kritischen patristischen Aneignung des tragischen Gedankens; sein Bild erst scheint die volle Dialektik von Schmerz und Triumph, von hamartia und Unschuld, von Opfer und Rettung auszutragen, deren das tragische Bild bedarf. Allerdings kennt die ikonologische Literatur ein Schmerzenskind erst ab dem späten Mittelalter, vor allem erst in der deutschen Graphik des 15. Jahrhunderts.57 Das vermeintlich späte Aufkommen solcher Darstellungen hat mit komplizierten, hier nicht nachzugehenden Motivtraditionen zu tun, die mit der langwierigen Wandlung des Kreuzzeichens 53
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Walter Benjamin bestimmt die Grundidee tragischer Dichtung als die „Opferidee“, welche auf der Doppelbedeutung von Entkräftung des alten Rechts und Ankündigung eines neuen unbekannten Gottes beruhe, dem der Held „hingegeben“ werde (Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I/1, Frankfurt/M. 1974, S. 214). Zum Begriff: Gregor von Nazianz: Ep. 101, 4, 5; Gregor von Nyssa: Ep. 3. Vermutlich erstmals 1192 als Panagia Arakiotissa in Zypern. Entsprechend ist für den späten Schelling das „Loos der Welt und der Menschheit […] von Natur ein tragisches“ (SW 11, S. 486). Vgl. Lexikon der christlichen Ikonographie, hg. v. Engelbert Kirschbaum/Wolfgang Braunfels (im Folgenden: LCI), Bd. 4, Rom (u. a.) 1972, S. 93. Zum Begriff schreibt mir Nicholas Constas alias Fr. Maximos (Mt. Athos, Griechenland): „And who, by the way, can deny the greatness of a language that gets to say things like ‚Schmerzenskind‘?“ (Brief vom 8. Sept. 2009).
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Bild 2 Kreuzigung, Holztür S. Sabina, Rom, um 430 n. Chr., Florenz, Museo Nazionale del Bargello.
von einem Schand- und Leidens- zu einem Triumph- und Leidenszeichen zusammenhängen. Die Scheu vor der Darstellung ihrer negativen Semantik bestimmt noch die wohl früheste christliche Kreuzigungsdarstellung auf der Tür von S. Sabina um 430 n. Chr. in Rom (Bild 2).58 In einer fast schon optischen Täuschung, die zwar Gekreuzigte, aber kein Kreuz sehen lässt,59 bleibt die Darstellung noch ganz auf der Schwelle zwischen dem Skandalon einer Hinrichtungspraxis für Verbrecher und dem Triumphemblem des Pantokrators. Doch erst in ihrer Doppelsemantik von Sieges- und Leidenszeichen (die für den Doketismus bis zuletzt ein Ärgernis blieb)60 vermag die Kreuzessymbolik die ganze Spannung der tragischen Existenz auszutragen. Vor diesem Hintergrund verwundert nicht, dass Textzeugen für das Schmerzenskind-Motiv auch in den patristischen Schriften rar sind. Die Aus-
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Eigentümlicherweise lässt Wolfgang Kemp in seiner berühmten Deutung der Tür (Christliche Kunst. Ihre Anfänge, ihre Strukturen, München/Paris/London 1994, S. 223–262) die Kreuzigungsszene aus. Vgl. Susanna Partsch: Frühchristliche und byzantinische Kunst, Stuttgart 2004 (Kunstepochen Bd. 1), S. 135. Vgl. Guy G. Stroumsa: Christ’s Laughter: Docetic Origins Revisited, in: Journal of Early Christian Studies 12/3 (2004), S. 267–288.
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nahme bildet eine rätselhafte Passage des Opus Imperfectum in Matthaeum.61 Neuere Forschungen datieren den Matthäus-Kommentar, der lange als ein Werk des Johannes Chrysostomos galt, auf die erste Hälfte des fünften Jahrhunderts und schreiben es einem Autor zu, der Umgang mit Pelagianern und Arianern gehabt haben dürfte.62 In seiner zweiten Homilie rekonstruiert der Kommentar die Umstände der Prophezeiung, die den drei Weisen aus dem Morgenland zuteil wurde. Es ist die Rede von einem Volk im Orient „nahe beim Ozean“, unter dem eine Offenbarungsschrift mit dem Namen Seth kursierte. Über Generationen pflegten die Hüter des Buchs einen Kultus, der ihnen aufgab, des geweissagten Sterns zu harren: „Sie wurden aber in ihrer Sprache Weissager [magi] genannt, weil sie im Stillen und mit flüsternder Stimme Gott verherrlichten.“ Dazu bestiegen die orientalischen Protochristen in einer jährlichen Zeremonie den sog. Siegesberg, auf welchem eine drei Tage währende Einkehr das Ritual des Wartens auf ein Zeichen des prophezeiten Sterns einleitete. Dieser Kultus wurde über Generationen tradiert, „bis er ihnen endlich erschien und über dem genannten ‚Siegesberg‘ niederstieg: Er besaß in sich die Gestalt eines kleinen Jungen und über sich eine kreuzesähnliche Erscheinung [similitudo crucis]. Und er sprach zu ihnen und belehrte sie und wies sie an, nach Judäa aufzubrechen.“63 Denkbar, dass das Opus Imperfectum einen der literarischen Ursprungsorte jener suggestionskräftigen Bildvorstellung markiert, deren tragische Dialektik in der Verbindung von Kind und Kreuz besteht.
5. Da s Sc h mer zensk i nd a ls t rag isc hes Bi ld: Da s D ip t yc hon von St. Lupic i n Es wäre zu einfach, diese Passage umstandslos als narrative Präfiguration einer späteren ikonographischen Praxis von Schmerzenskinddarstellungen zu werten. Dazu müssten Rezeptionswege aufgehellt werden, die verschlossen sein dürften. Gleichwohl legt der Passus eine wichtige Spur, die zur Ineinsbildung des Christuskindes mit dem Kreuz führt, dessen früheste bislang bekannte Darstellung ein spätkonstantinischer Sarkophagdeckel mit der Anbetung der Magier (Vatikanische Grotte, 345 n. Chr.) zeigt (Bild 3). Unausgemacht ist, ob das Kreuz hinter der thronenden Gottesmutter „als typologisch-historischer
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Auf diese Quelle verweist Friedrich Zoepfl: Das schlafende Jesuskind mit Totenkopf und Leidenswerkzeugen, in: Volk und Volkstum 1 (1933), S. 147–164. Vgl. Franz Mali: Das „Opus Imperfectum in Matthaeum“ und sein Verhältnis zu den Matthäuskommentaren von Origines und Hieronymus, Innsbruck/Wien 1991. Pseudo-Chrysostomos: Opus Imperfectum in Matthaeum, Hom. 2, in: Patrologia graeca, ed. Migne, S. 638: „stella […] habens in se formam quasi pueri parvuli, et super se similitudinem crucis“ (Übers. v. B. Radomski).
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Bild 3a
Anbetung der Magier, Sarkophagdeckel, Vatikanische Grotte, 345 n. Chr.
Bild 3b Anbetung der Magier, Sarkophagdeckel, Vatikanische Grotte, 345 n. Chr (Detail).
Rückverweis oder als eschatologischer Vorverweis zu verstehen ist“.64 Unkontrovers aber dürfte sein, dass es als „prophetisches Kreuz“ bereits die Kindesanbetung überschattet und darin die Huldigung durch die Magier als erste Stufe der Passion erscheinen lässt. Anders als in dieser noch exzentrischen Kreuzesposition im Hintergrund rückt in späteren Darstellungen der Anbetungsszene das Kreuz zunehmend ins Zentrum. Die folgende Bildanalyse soll zeigen, wie sich parallel zur Vertiefung des Verständnisses der tragischen Signatur der Passion in der philosophisch-theologischen Literatur auch die Darstellung des Tragischen in der frühchristlichen Ikonographie festigt und vertieft. Dem Material lässt sich ablesen, wie das Kreuz dem Kind näher, ihm geradezu auf den Leib rückt, bis es den Gegenstand als Marterwerkzeug selbst in der Hand hält. Es handelt sich, wie bei der Peripetie als Drama im Drama um ein ikonisch prägnantes Symbol innerhalb der ikonischen Prägnanz erzählender Elfenbeindiptychen. Denn schon die Kreuzsymbolik selbst ist, wie Phillip Stoellger bemerkt, die Abbreviatur der Kreuzigungsszene, und so „eine anschauliche Verdichtung, eine Ultrakurzgeschichte im Bild als Bild“.65 Es existieren zahlreiche frühchristliche Darstellungen des Motivs der Magieranbetung, doch nur ein auf das 5. Jahrhundert datierter, vermutlich klein64 65
LCI 2, S. 575; vgl. zum Sarkophag-Deckel: Lucien de Bruyne: Importante coperchio di sarcofago cristiano scoperto nelle Grotte Vaticane, in: Rivista di Archeologia Cristiana 21 (1944/45), S. 249–380, 252: „una vera crux immissa“. Philipp Stoellger: Iconic Turn by Theology. Theologie als Bildtheorie, unter: http:// www.kirchbautag.de/uploads/media/Iconic_Turn_by_Theology.pdf (05.01.2012).
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Bild 4 Anbetung der Magier, Kästchenbeschlag, 5. Jh., München, Sammlung C. S., Inv. 690.
asiatischer Kästchenbeschlag zeigt erstmals das nimbierte Kind – so, wie das Opus Imperfectum berichtet – mit dem Kreuz, auf dem Schoß der Gottesmutter (Bild 4).66 Mit dieser frühen Version des Schmerzenskindes ist die Tür aufgestoßen zur Darstellung der tragischen Doppelsemantik des Kreuzes als Erhöhungs- und Leidenszeichen, das dem Kind in die Hand gelegt wird. Ikonische Prägnanz erhält das Bild durch die Konzentration der Handlung auf ihren Anfangs- und Endpunkt, der mit Blick auf die Wiederauferstehung freilich selbst wiederum Peripetie ist. Tragisch hingegen wird das dramatische Bild des Schmerzenskindes, das Mitte des 6. Jahrhunderts in zwei seltenen, aber umso eindrucksvolleren Varianten aufkommt, kraft seiner Wirkung, die auf das Mitleid mit dem schuldlos schuldigen Kind zielt. Im Folgenden sei eine der beiden Versionen näher untersucht, deren Kühnheit im Vergleich dreier verschiedener Konsulardiptychen aus der Mitte des 6. Jahrhunderts eindrucksvoll hervortritt. Zwei Entwicklungen bestimmen zunächst das ästhetische Milieu, in dem eine solche Schmerzenskinddarstellung möglich werden konnte. Die erste besteht in der Tradition der Konsularsdiptychen, die Symbolformen staatlicher Repräsentation nunmehr auf das Bildprogramm und die Bildthemen der christlichen Kunst übertragen. Solche Tafeln, in Auftrag gegeben zur kaiserlichen Ernennung eines consul ordinarius, enthielten in der Regel eine Inschrift mit Namen und Ämtern des ernannten Würdenträgers. Im oströmischen Raum wurden Diptychen dieser Form dann zu Schreibtafeln für liturgische Zwecke oder als Buchtafeln von Evangeliaren verwendet. Die zweite Entwicklung be66
Ludwig Wamser (Hg.): Die Welt von Byzanz – Europas östliches Erbe, Köln/München 2004, S. 263.
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Bild 5 Elfenbeindiptychon, Murano, Mitte 6. Jh., Ravenna.
steht in der sich wandelnden Erzählform solcher nunmehr liturgisch verwendeten Diptychen: Auf ihrer Bildfläche weicht das in den Konsularstafeln übliche Inschriftsfeld (tabula ansata) dem Relief einer Himmels- oder Kreuzesdarstellung mit Engelsgestalten; vor allem aber unterteilt sich die Tafel in mehrere Darstellungsflächen. Denn als Erbe der römischen Sarkophagkunst gewinnen die spätantiken Elfenbeindiptychen verstärkt die Form der Erzählung. Diese Episierung scheint der Rede vom dramatischen Bild zu widersprechen, doch schließt das Tragische die epische Form keinesfalls aus: Aristoteles bestimmt Tragödie und Epos als des Tragischen fähig, denn auch das Epos lässt sich dramatisch bauen; es kann Anfang, Mitte und Schluss wie ein „lebendiges Ganzes“ (zôon hen holon) zusammenführen und auch die entsprechenden Leidenschaften hervorbringen – eleos und phobos.67 Die Form der erzählenden Tragik, in der Geschichten der Geburt, der Wundertaten und der Passion Christi auf eine zentrale Repräsentationsfigur als deren Einheitspol hin erzählt und auf diese Weise ikonisch prägnant werden, findet ihren Niederschlag in bedeutenden spätantiken Elfenbeintafeln, von denen jedoch nur eines das tragische Bild enthält. Das zeigt der Blick auf drei Diptychen in Ravenna, Edschimiatzin/Erewan und St. Lupicin/Paris, die aller Wahrscheinlichkeit nach derselben Werkstatt im Konstantinopel des 6. Jahrhunderts entstammen (Bild 5, 6, 7).68 An67 68
Poetik 23, 1459a16–a30; Poetik 14, 1453b11. Jean-Pierre Caillet: Remarques sur l’iconographie Christo-Mariale des grands diptyches d’ivoire du VIe siècle. Incidences éventuelles quant à leur datation et origine, in: Spätantike und byzantinische Elfenbeinbildwerke im Diskurs, hg. v. Gudrun Bühl/Anthony Cutler/Arne Effenberger, Wiesbaden 2008, S. 17–24.
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Bild 6a/b Elfenbeindipytchon, Mitte 6. Jh., Etschmiadzin, Eriwan, Archäologisches Museum, Armenien. Bild 7a/b Elfenbeindiptychon, Saint Lupicin, Mitte 6. Jh., Paris, Bibliothèque Nationale de France.
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gemessen vergleichen lassen sich näher wohl nur die Tafeln aus Edschmimiatzin/ Erewan und St. Lupicin/Paris, zumal die Rücktafel des Ravenna-Diptychons einzig aus Bruchstücken zu rekonstruieren ist.69 Erzählend bezieht das Edschimiatzin-Diptychon (Bild 6) auf seiner Vorderseite abwechselnd die Heilung des Wassersüchtigen, Heilung des Gichtbrüchigen, Heilung des Blinden,70 Heilung des Besessenen und den Einzug nach Jerusalem auf die zentrale bartlose Christusgestalt, die, von Paulus und Petrus umrahmt, einen verschlossenen Kodex in der linken Hand hält, während sich die rechte zum Sprachgestus winkelt. Auf der Rückseite werden Verkündigung und Geburt, Heilung des Blinden, Ritt nach Jerusalem und Anbetung der Magier auf die Zentralfigur der sitzenden Theotokos bezogen, die, auf ihrer sella curulis von vermutlich angelischen Thronwachen begleitet, das Kind auf dem linken Schoß trägt, welches leicht zu ihr aufblickt.71 Demgegenüber zeigt die epochale St. Lupicin-Tafel (Bild 7) eine motivisch ungleich kühnere, auch handwerklich filigrane Konstruktion.72 Sie versammelt auf der Vorderseite die Narrative der Heilung des Blinden, Heilung der Blutflüssigen, Heilung des Gichtbrüchigen, (vermutlich) Heilung des Besessenen sowie die Samariterin am Brunnen und die Erweckung des Lazarus, welche sie nicht mehr – wie noch das Edschmiatzin-Diptychon – auf einen jungen, sondern bärtigen Pantokrator-Christus im Philosophentypus bezieht.73 Damit wird ein Kontrast zur Rückseite gebildet, der alles Licht eindrucksvoll auf das dort erstmals so dargestellte Schmerzenskind fallen lässt. Denn die hintere Tafel versammelt Verkündigung und Probe mit Fluchwasser, Heimsuchung und Ritt nach Jerusalem mit dem Einzug nach Jerusalem (also dem Beginn der eigentlichen Passion), auf die Figur der Theotokos, deren Kind das Kreuz nicht als Triumph-, sondern als Erhöhungs- und Leidenzeichen trägt (Bild 8). Eindeutig 69 70 71
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Rekonstruktion bei Caillet, ebd.; sowie bei Wolfgang Fritz Volbach/Jaqueline Lafontaine-Dosogne: Byzanz und der Christliche Osten, Berlin 1968 (Propyläen Kunstgeschichte 3), Tafel 92 a/b. Pieter Singelenberg: The Iconography of the Etschmiadzin Diptych and the Healing of the Blind Man at Siloe, in: The Art Bulletin 40 (1958), S. 105–112. Beide sitzen (so auch die Pantokrator-Figur der Vorderseite) wie die Konsulen der Konsularsdiptychen frontal zum Betrachter auf einer sella curulis, dem Klappstuhl der curulischen Beamten, die Füße auf kostbar verzierten Schemeln. Anstelle der Beamteninsignien wird ein Codex gehalten oder der Sprechgruß gezeigt; vgl. Gudrun Bühl in: Wamser (Hg.): Die Welt von Byzanz (wie Anm. 66), S. 162. Einschränkend: John Lowden: The Word Made Visible. The Exterior of the Early Christian Book as Visual Argument, in: The Early Christian Book, hg. v. William E. Klingshirn/Linda Safran, Washington, DC 2007, S. 13–47, 40. Diese Zuordnung folgt der Beschreibung von Frauke Steenbock (Der kirchliche Prachteinband im frühen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Beginn der Gotik, Berlin 1965, S. 76–77), die eigenartigerweise jedoch das Kreuz in der Hand des Kindes kommentarlos übergeht.
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DAS TRAGISCHE BILD
Bild 8 Evangeliar, Saint Lupicin, Mitte 6. Jh., Paris, Bibliothèque Nationale de France, (Rückseite). Bild 9 Evangeliar, Saint Lupicin, Mitte 6. Jh., Paris, Bibliothèque Nationale de France, (Detail).
geht das aus der genau kontrapunktischen Darstellung hervor: Während auf der Vorderseite das Kreuz stets im Hintergrund der Heilungstaten gegenwärtig ist, um die Rettung der Geheilten mit der kommenden Hinrichtung ihres Retters zu kontrastieren, fehlt auf der Rückseite das prophetische Kreuz im Hintergrund der Heilungsgeschichten, um desto dramatischer dem Kind selbst in die Hand gelegt werden zu können. Hinzu kommt ein weiteres, im Vergleich zu den beiden werkstattgleichen Diptychen einzigartiges Detail: Das Gesicht der Maria von St. Lupicin blickt nicht en face auf einen imaginären Betrachter, sondern ist, im Zeichen des Schmerzes leicht geneigt, ganz dem leidenden Sohn zugewandt (Bild 9). Wo ihr Blick auf dem Edschmiatzin-Diptychon noch frontalisiert ist, während das Kind zu ihr aufschaut, muss zur Ursache der Umkehrung ihres Blicks in eine mitleidende Neigungsgeste auf dem St. Lupicin-Diptychon zweifellos jenes Opferzeichen in der Hand des Kindes werden, welches den Ausdruck ums Ganze verändert. Deshalb kann das Kreuz nicht mehr das Triumphzeichen eines Pantokrators sein; und das Schmerzenskind ist alles andere als ein Racheengel des jüngsten Gerichts: Seine Darstellung entbehrt vollkommen jener Häme der Rache, wie sie aus den doketischen Narrativen bekannt ist, die Christus der
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Kreuzigung entkommen, um ihn vom Himmel auf seine unwissenden Peiniger herablachen zu lassen.74 Die ganze Radikalität der historisch präzedenzlosen Darstellung des byzantinischen Schmerzenskind-Diptychons von St. Lupicin liegt in der Kontrapunktik von kodexhaltendem Pantokrator und kreuztragendem Kind, in welchem sich die tragische Dialektik von Rettung, Vernichtung und Auferstehung als wechselseitige Aufhebung des Triumphs im Leiden und des Leidens im Triumph ereignet. Die ikonische Prägnanz dieses, nach Hegel, Zentralthemas romantischer Kunstform gewährt hier die verblüffende Angemessenheit, ja Spiegelung, von religiösem Inhalt und materialer Gestalt der Elfenbeinarbeit. Denn sie legt die dramatischen Extreme in die polare Materialität der Diptychon-Form selbst: Nicht nur korrespondiert die Schärfe des Linienschnitts ausgewogen mit der Sanftheit und Plastizität der Oberflächenmodellierung (vor allem in dem bewegten und doch ruhigen, gütigen und doch leidenden Gesicht der Maria), die auf einer Reliefhöhe von kaum drei Millimetern eine erstaunliche Tiefenräumlichkeit hervorbringt; nicht nur muss bei der Fertigung der Tafel im Schnitzen des Elfenbeins und im exakten Bohren der Pupillen unausweichlich jene Marterpraxis reproduziert werden, an die das Kreuz in der Hand des Kindes erinnert; zuletzt trägt das Diptychon an dem Scharniergelenk, das die beiden Tafeln zusammenhält, auch noch die Peripetie der Handlung von Geburt und Leid, von Opfer und Erhöhung, an sich selbst aus. Mit dieser wohl prägnantesten frühchristlichen Elfenbeinikone des Schmerzenskindes scheint die windungsreiche und mühevolle patristische Verwandlung des Tragischen auch in ihren Bildprogrammen abgeschlossen. Was solchen geschichtlichen Vollendungen folgt, ist entweder (wie die Trias von Schmerzensmann, Schmerzensmutter und Schmerzenskind in der Frühen Neuzeit) ästhetischer Neuanfang oder (wie die sentimentalen Schmerzensputten im Spätbarock): religiöser Kitsch.
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Vgl. Stroumsa: Christ’s Laughter (wie Anm. 60).
Philipp Stoellger
T H E O L O G I E D E R V E R KÖR P E RU N G Die Bildlichkeit des Körpers und Körperlichkeit des Bildes als theologisches Problem
1. L e on i n isc he Verkör p er u ng Ein Löwe ist ein Löwe ist ein Löwe und bleibt auch, was er ist. In freier Wildbahn ist er schlicht, was er ist: ein lebendiges Tier, ein beseelter Körper, eine Gefahr für seine Opfer, möglicherweise auch für seine Jäger, und seien sie nur mit Kameras bewaffnet. Kann man sagen, er verkörpert einen Löwen? Kein anderer Löwe würde wohl eine Differenz machen zwischen dem Löwen und der Verkörperung eines Löwen. Nur, hier beginnt es schon, kompliziert zu werden. Für Beobachter verkörpert er: etwa ‚Gefahr‘, die Erfüllung von Safariträumen oder gar das Erhabene. Die Wahrnehmung lässt ihn zum Exemplar einer Gattung werden (als Synekdoche) oder zum König der Tiere (als Metapher) oder zur Verkörperung wilder Natur (als Metonymie). Der Löwe ist für seine Beobachter nie nur ein Löwe, sondern immer auch mehr: Jäger oder Gejagter, Bewunderter und Gefürchteter, Fabelwesen und Majestät, ein mysterium tremendum und fascinosum. Der Löwe verkörpert ‚etwas‘, so oder so, was der Beaobachter in ihm sieht. Das könnte man elementare Verkörperung nennen oder Verkörperung in vivo, am Ort der Natur, die wir sind, mitten im Leben, im Spiel der Körper und Kräfte. Wenn es dem Löwen schlecht ergeht, wird er gefangen und kommt hinter Gitter – und wird dort zum Bild seiner selbst. Er ist und bleibt ein Löwe, aber er wird ausgestellt, präsentiert und fungiert als ‚lebendes Bild‘ eines Löwen. In der Sicherheit ästhetischer Distanz kann der Zoobesucher ihn beobachten, wie andernorts auch Menschen im Container oder Politiker im Glashaus. Aus seinem natürlichen Sitz im Leben gerissen, eingehegt und gefüttert, wird er (der Löwe) zum Schauspieler seiner selbst. Das könnte man schematische Verkörperung nennen (dem schematischen Bildakt entsprechend). Hinter Gittern wird der Löwe zum tableau vivant seiner selbst. „Der Mensch ist das Tier, das sich ande-
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re Tiere hält. Zuerst als Haustiere, dann viel später als Schautiere“,1 notierte Hans Blumenberg. Wenn es dem Löwen im Laufe der Zeit noch schlechter ergeht, so wie es jedem ergehen wird, endet er als toter Löwe. Tote werden in der Regel den Blicken entzogen, sind sie doch in ihrer leichenhaften Ähnlichkeit zu sich selbst (im Sinne Blanchots) unheimlich und erschreckend, mehr tremendum als fascinosum. Aber der Tote kann auch präpariert werden, ob aufgebahrt und balsamiert oder mumifiziert. Dem Löwen kann es ähnlich ergehen, wenn er ausgestopft und prächtig präsentiert wird, etwa am Eingang eines Museums. Was immer er dann verkörpert, er wird artifiziell präpariert zur substitutiven Verkörperung (dem substitutiven Bildakt entsprechend). Er repräsentiert einerseits den vergangenen, den vorübergegangenen Löwen, der er war. Aber er repräsentiert nicht nur, er ist es auch, vorübergegangen und doch präsent. Er ist nicht mehr die lebendige Realpräsenz seiner selbst, wie in freier Wildbahn oder im Gehege, aber er ist doch artifiziell realpräsent in seinem präparierten Körper. Würde man den ausgestopften Löwen verbrennen, würde man den Vorübergegangenen vernichten. So können auch Puppen von Herrschern stellvertretend verbrannt werden.2 Wenn der Löwe schließlich porträtiert wird, im Bild als Bild weiterlebt oder wiederaufersteht wird er zur intrinsischen Verkörperung. Wovon – kann man fragen: Verkörperung des Porträtierten, symbolisch generalisiert der Gattung oder allegorisch genutzt als Herrscheremblem? Vermutlich kehrt in der intrinsischen Verkörperung ästhetisch sublimiert der erste, elementare Sinn von Verkörperung wieder: Versteht man das Bild nicht als Abbildung oder Repräsentation von etwas Entzogenem, ist das Bild ein Bild (wie der Löwe ein Löwe). Das Bild ist ein Körper und verkörpert sich selbst, auf das es ewig lebe.3
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Hans Blumenberg: Löwen, Frankfurt/M. 2001, S. 90. Ausgestopfte Löwen sind mittlerweile zum Glück selten, aber Bilder, die auch sind, was sie zeigen, gibt es vielerlei: Grabtücher und Reliquien von Heiligen etwa oder Trikots von Sportlern und andere Kontaktreliquien von Prominenten, Haarlocken der Geliebten oder aufgebahrte Herrscher bis zur Präsentation eines balsamierten toten Papstes. Lauter substitutive Verkörperungen – und genauso kompliziert zu verstehen, was man da sieht, was sich zeigt und wie diese Bilder wirken. Dass auch Bilder sterben müssen, vergehen mit der Zeit, sei nur notiert. Dagegen arbeiten die Techniken des Anti-Aging, Restauratoren vor allem, um Bilder immer wieder so zu balsamieren, dass ihr materieller Körper jung bleibt.
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2. Verkör p er u ngen Got tes Bei Jesaja heißt es: „So hat der Herr zu mir gesprochen: Gleich wie ein Löwe und ein junger Löwe brüllt über seinem Raub […] so wird der Herr Zebaoth herniederfahren auf den Berg Zion und auf seinen Hügel, um zu kämpfen.“4 Gott als Löwe – das passt. Denn auch Gott ‚in freier Wildbahn‘ ist lebensgefährlich. Schon Gott zu sehen, ist nach alttestamentlicher Überlieferung tödlich. Auf Moses Begehren, „Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“ lautet Jahwes klare Antwort: „Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht“.5 Warum eigentlich, kann man fragen. Vermutlich, weil das Endliche im Licht des Unendlichen vergehen würde, so die platonische Antwort. Oder weil seine Heiligkeit den Menschen in seiner Unheiligkeit vergehen ließe. Visueller Gotteskontakt jedenfalls wäre unerträglich. Finitum non capax infiniti, heißt später die schlichte Regel. Aber nicht, weil Gott selbst tödlich wäre (ist er doch der Schöpfer, Grund des Lebens) und nicht weil sein Blick uns versteinern ließe (anders als bei der Medusa), sondern weil er unerträglich lebendig ist, muss man wohl vermuten. Leonardos Notiz lautete: „Nicht enthüllen, wenn dir die Freiheit lieb ist, denn mein Antlitz ist Kerker der Liebe.“6 Das ist im Blick auf Gott noch deutlich zu verschärfen: ‚Nicht hinschauen, wenn Dir Dein Leben lieb ist, denn mein Antlitz zu schauen, ist tödlich.‘ Darüber, ob Bilder töten können, kann man noch disputieren. Für Gott ist das jedenfalls klar. Daher trifft Jahwe auch seltsame Vorkehrungen, um die Begegnung mit Moses auf dem Berg Sinai nicht tödlich enden zu lassen. So heißt es in Ex 33,21–13: „Und der Herr sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.“ So lebensgefährlich die Schau Gottes für Sterbliche ist, wird damit doch vorausgesetzt, dass er nicht körperlos ist. Sein Angesicht bleibt zwar ewig entzogen, aber sein wahrnehmbarer Körper ist vor allem die Stimme als Phänomen, als Körperspur, in der sich Gott verkörpert und real präsent ist, wie auf dem Berg Sinai. Von solch sublimierten Verkörperungen wie der Stimme Got-
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Jes 31,4. Vgl. Jer 49,19; 50,44. Ex 33,18.20 Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010, S. 17.
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tes finden sich alttestamentlich einige: der Dornbusch, der nicht verbrennt,7 die Rauch- und Feuersäule in der Wüste und Donner oder leises Säuseln im Windhauch. Es sind Glanzeffekte, vor allem Abglanz (wie auf Moses Angesicht), und Soundeffekte. Körperspuren, könnte man sagen, die Gott synekdochisch (pars pro toto) oder metonymisch (concretum pro abstracto) verkörpern. Nur sind es stets flüchtige Verkörperungen, Spuren des Entzogenen, gleichwohl manifest, ohne handfest oder handgreiflich zu werden. Darin zeigt sich eine symptomatische Differenz, eine Religionsdifferenz zum altorientalischen Kontext Israels. Üblich waren in dieser Umwelt skulpturale Artefakte vermeintlich abbildlicher Art wie Statuen oder nicht abbildlicher Art wie Steinsäulen, die Götter verkörpern konnten (unter speziellen rituellen Bedingungen).8 Solche materiellen Präsenzfiguren, handgreifliche Verkörperungen, waren für Israel ein Problem, mehr noch: ein ‚Gräuel‘ (so die religionskritische Semantik v.a. des Deuteronomismus). Nun läge nahe zu sagen, in Israel gab es keine Verkörperung als Präsenz, sondern allenfalls als Repräsentation Gottes: Gebote, die seinen Willen repräsentieren, in denen er aber nicht präsent ist; oder Tempelkultpraktiken, in denen er indirekt repräsentiert wird, aber nicht in Artefakten präsent ist. Das stimmt zwar – wäre aber nur die halbe Wahrheit. Denn selbstredend wird Gott nicht ‚nur‘ repräsentiert, sondern ist auch präsent, immer wieder ‚real gegenwärtig‘. Nur wie? Negativ formuliert: ohne sich so zu verkörpern, dass er handgreiflich würde, im Bilderkult verendlicht, in Dingen immanent. Es sind stets transzendenzwahrende Verkörperungen am Ort der Immanenz. Kleine Inkarnationen, könnte man sagen, bei denen indes die Körperlichkeit der Verkörperungen stets äußerlich bleibt, prekär und nicht ‚eigentlich‘. Darin weicht Jahwe von anderen Göttern ab (die doch ‚Nichts‘ seien), darin unterscheidet sich Israel von anderen Völkern und das Verhältnis von Gott und Israel als ‚Bund‘ wird im Laufe der Geschichte beider immer ‚geistiger‘, körperloser und ‚freier‘. Das zeigt das Problem der Verkörperung seit Israel. Die Lösung scheint zu sein: Präsenz ohne Verkörperung, in immer schärferer Differenz zur altorientalischen oder später der hellenistischen Umwelt. Nur ist es so einfach eben nicht. Man kann wohl (von außen und von innen) die Geschichte der Verkörperung Gottes in zwei Perspektiven different verstehen: Von außen gesehen besteht bei noch so großer Differenz eine immer noch größere Kontinuität zur Umwelt: In Israel gab es Bilder, auch Bildkult-
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Vgl. Ex 3,2: „Und der Engel des Herrn erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch. Und er sah, dass der Busch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt wurde.“ Vgl. Angelika Berlejung: Die Theologie der Bilder. Herstellung und Einweihung von Kultbildern in Mesopotamien und die alttestamentliche Bilderpolemik, Göttingen 1998.
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praktiken und vor allem im Kult eine (ikonoklastische) Bildlichkeit (Tempel, Lade und Cheruben, vielleicht sogar eine Jahwestatue?). Und selbst von innen ex post gesehen zeigt sich bei noch so deutlicher Verkörperungskritik eine immer noch subtilere Raffinierung der Verkörperung Gottes: in Glanz, Stimme – Schrift und Kult. So wenig Israel anikonisch war, so wenig kannte Jahwe nur unanschauliche oder nur immaterielle Verkörperungen. Wird sein Wille Wort und sein Bund Lebensform und die Riten Tempelkult, erscheint die Religionsgeschichte Israels als Geschichte der Erfindungen nicht abbildlicher Verkörperung ohne Verkörperungskult: – – – –
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Sprachbildlichkeit in der Metaphorik und ihren Verwandten (Jahwe als Löwe), ikonoklastische Kultbildlichkeit (im dunklen Allerheiligsten, in der leeren Lade, der leeren Cella), bis zur Schriftbildlichkeit in der graphischen Materialität der Schrift und ihrer visuellen Inszenierung, und responsorische Verkörperung in der Lebensform gemäß der Tora, im Ethos des Bundes. Denn die geforderte Entsprechung zur Stimme Gottes, des Gebots und der Verheißung, ist für die Israeliten die Bundestreue, das heißt, seiner Stimme zu gehorchen und so zu leben, wie es sein Wille ist, also Tora. Die Verkörperung von Gottes Wille in vivo ist die religiöse Lebensform: das Ethos. Daher ist ‚der Gerechte‘ die Verkörperung – nicht einfach Gottes, aber doch seines Willens. Der leidende Gerechte (Jesajas Gottesknecht) zeigt das ebenso wie der leidende Gerechte, der im Ecce homo Schlägen und Spott exponiert wird.9
Diese Verkörperung von Gottes Willen ist allerdings nicht so moralisch rein und formal, wie sie von der neukantianischen Religionsphilosophie (etwa Cohens) gern dargestellt wurde. Denn die Bundestreue verkörpert sich zwar nicht im Körperkult, aber doch im kultischen Körper, wie in dem Bundeszeichen der Beschneidung. Das heißt, die responsorische Verkörperung im Leben ist einschneidend. Man muss nicht gleich von ‚Biomacht‘ sprechen, als der Macht (der Religion) über die Körper der Gläubigen; aber im Christentum gibt es, bei aller Zurückhaltung, doch Verwandtes, nicht nur bei Jesuiten oder dem Opus Dei. Eine schlichte Version dessen ist das Pfarrerdienstrecht evangelischer Landeskirchen, das die Lebensführung des Pfarrers (und seiner Familie) regelt. Denn die Pfarrfamilie steht sozialgeschichtlich in der Nachfolge der Klosterinsassen, die ein heiliges Leben zu verkörpern hatten. Daher gelten hier auch verschärfte Vorschriften, die von unten wie von oben durchaus überwacht werden. Von der Residenzpflicht im Pfarrhaus über die allgegenwärtige Erreichbarkeit, die moralischen Standards – ist darin eine ‚Corporate Identity‘ kodifiziert, in der eine Verkörperung der moralischen Ideale einer Institution vorgeschrieben wird.
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Gott, der Löwe, mochte in freier Wildbahn lebensgefährlich gewesen sein. Er ist es nicht geblieben. Schon Stimme und Name waren Selbstbindungen in der Selbstoffenbarung, die ihn ansprechbar und, wenn nicht beherrschbar, so doch bestimmbar machten. Er konnte bei seinem Namen gerufen und bei seinem Wort genommen werden. Und bei der Stimme als sublimierter Körperspur ist es nicht geblieben. Gott ward Wort, Tora, Schrift, in Gesetzestafel und Schriftrolle. Damit ist die liminale Verkörperung in der Stimme überschritten in die Materialität der Schrift – bis zur Verkörperung in Bildschriftlichkeit, wenn die Torarolle umhergetragen, gekleidet, gefeiert und geküsst wird (an Simchat Tora). Das ‚eigentliche‘ Kultbild ist dann kein goldenes Kalb, sondern die Torarolle. Denn sie repräsentiert nicht nur Gottes Willen, sondern verkörpert ihn in Gestalt der darum ‚heilig‘ genannten Schrift. Daher werden die Torarollen auch rituell belebt, wenn sie in Gebrauch genommen werden, und nach langen Jahren irgendwann beerdigt in der sog. Geniza, der Grabstätte liturgischer Schriften. Gottes Wort als Schrift – das ist nicht mehr Gott ‚in freier Wildbahn‘, sondern Gott gebunden an sein Wort, fixiert in der Schrift, verkörpert in der Rolle, gefeiert, getragen und geküsst. Damit ist Gott nicht gleich hinter Gittern, wie der Löwe im Zoo, aber er ist doch eine selbstgewählte Bindung eingegangen: den Bund, sei es der des Alten oder später des Neuen Testamentes. Dass es sich bei diesen Bestimmungen und Bindungen um Zuschreibungen handeln mag, ist klar. Dass die aber als Selbstzuschreibungen Jahwes verstanden werden (wie als Selbstoffenbarungen), markiert eine Differenz: diese Bestimmungen seien gesetzt als nicht gesetzt. Das heißt, dass der so Bestimmte sich selbst so bestimmt habe, gebunden im Wort. Das kann man als ultimative Selbstermächtigung solcher Zuschreibungen unter Verdacht stellen. ‚Von innen‘, in vivo der Religion, wird das hingegen als ‚gegeben‘ verstanden, religiös gesprochen als ‚geoffenbart‘. Daher stehen diese Bestimmungen (ähnlich einer Verfassung) nicht zur Disposition gelegentlicher Änderungen, sondern sind der Zuschreibungslust der Späteren gerade entzogen.
3. Ch r ist us a ls Verkör p er u ng Got tes Von der gefährlichen Gottesschau aus zum gebundenen Gott im Wort der Schrift könnte man nun erwarten, es gehe (am Leitfaden des Löwen) zum toten Gott weiter, gar zum ausgestopften, der im Bild als Bild ausgestellt wird. Das wäre möglich, aber doch etwas übertrieben und zu schnell. Der ‚gekreuzigte Gott‘ verweist zunächst auf Christus als Verkörperung Gottes. Sein Leben und Sterben gilt den Christen im Rückblick als ultimative und definitive Verkörperung – in medialer Verschachtelung. Sind doch die ‚echten Bilder‘ wiederum Verkörperungen Christi (sei es die Veronika, das Grabtuch oder das Kruzifix),
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werden Wort und Abendmahl zur wiederholbaren Verkörperung, so dass in vivo das Leben der Christen als finale Verkörperungen Christi gelten mag. Diese Verkörperungskaskade nimmt ihren Anfang in der harten Unsichtbarkeit Jahwes: „Niemand hat Gott je gesehen“.10 Und an die Stelle von Tora und Tempelkult tritt eine neue Verkörperung Gottes: „Wer mich sieht, der sieht den Vater“,11 lässt Johannes seinen Christus sagen. Damit wurde Christus ex post etwas zugeschrieben: Christus in vivo sei das lebendige Bild Gottes. Das kann keine ‚nur‘ schematische oder substitutive Verkörperung meinen, sondern als intrinsischer Bildakt ist Christus der, den er verkörpert – oder er ist der, der sich in ihm verkörpert. Die metaphysisch dunkel klingende Prädikation Christi als ‚wahrer Gott und wahrer Mensch‘, die Homoousie von Vater und Sohn, insistiert darauf, dass hier nicht ein körperloser Gott (vorübergehend) verkörpert wird. Das platonisch vertraute Modell von immateriellen Ideen, die in der Abbildung Körper werden, oder der leiblosen Seelen, die auf ihrer Wanderung mal diesen, mal jenen Körper beleben – wird hier mit der christologischen Entplatonisierung konfrontiert. Verkörperung ‚auf platonisch‘ ist von dem Dual belastet, dass das wahre Wesen eigentlich körperlos und immateriell sei und nur sekundär verkörpert wird, so dass die Verkörperung ontologisch inferior und nur vorübergehend sein kann. Ob das auf Platons Ideenlehre zutrifft, ist eine eigene Frage, die angesichts von Platons zweideutbarem Verhältnis zur Kunst differenzierter zu beurteilen wäre.12 Dass der (Neu-)Platonismus so gedacht zu haben scheint, ist zumindest in dessen gnostischer oder asketischer Wirkungsgeschichte unübersehbar. Gegen den ontologischen Dual (oder den ontologischen Komparativ ‚per visibilia ad invisibilia‘) spricht die christologische Pointe: Christus ist Gott, und vice versa Gott ist Christus. Diese (griechisch gehört) absurd oder (jüdisch gehört) blasphemisch klingende These kann paradox genannt werden, weil sie einerseits erwartungswidrig ist, andererseits wider den Augenschein gerichtet. Wer würde einen, wenn auch außergewöhnlichen, Menschen Gott nennen; und wer würde Gott als voll und ganz gegenwärtig in diesem Menschen verstehen? Folglich zeigt die christologische Pointe eine Schubumkehr im Denken und Wahrnehmen Gottes an: nicht erst im Jenseits, um dann vorübergehend im Diesseits verkörpert zu werden und sich wieder ins Jenseits zurückzuziehen; auch nicht ‚eigentlich‘ transzendent und nur ‚uneigentlich‘ hier und dort immanent; sondern eigentlich und wesentlich immanent und darin transzendent. Die 10 11 12
Joh 1,18. Joh 14,9. Vgl. u. a. Maria Luisa Catoni: Schemata. Comunicazione non verbale nella Grecia antica, Turin 2008.
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Differenz zur immanenzlosen Transzendenz ist damit offensichtlich – die Differenz zur transzendenzlosen Immanenz indes weniger augenscheinlich. Denn erst wenn in Christus ‚mehr‘ gesehen wird als nur ein exemplum immanenten Schicksals, wird er als Verkörperung Gottes wahrnehmbar. Und erst dann wird auch das Gottesvorverständnis angetastet. Ohne diese christologische Paradoxierung hier dogmatisch weiter auszuführen, ist deren Konsequenz für die Verkörperung soweit klar, dass nicht der platonische Dual unterstellt und gewahrt wird, sondern gegenläufig von ‚absoluter Verkörperung‘ gesprochen werden sollte, entsprechend der ‚absoluten Metapher‘ Blumenbergs. Nicht erst abgeleitet und sekundär ‚wird etwas verkörpert‘, das eigentlich körperlos ist, sondern nur in und als diese Verkörperung ist, was darin real gegenwärtig ist.13 Im Anschluss an die Verkörperung von Gottes Willen in vivo als Lebensform gemäß der Tora, kann auch Christus als gelebter Wille Gottes begriffen werden, als dessen Verkörperung. Nur ist die Differenz nicht zu übersehen, dass er in Person und Werk Gott verkörpert, nicht eigentlich die Tora. Davon zehrt die protestantische Differenz von Gesetz und Evangelium. In Aufnahme der antiplatonischen Wendung der Christologie ist indes eine Differenz zu schärfen: Es wird nicht nur ein Wille anschaulich gemacht oder ihm in treuem Gehorsam gefolgt, sondern wer Gott ist und was sein Wille, zeigt sich maßgeblich im Leben und Sterben Christi. Alle anderen Verkörperungen sind in dessen Licht zu beurteilen. Erst dann wird dem protestantischen ‚solus Christus‘ entsprochen. Diese exklusive Zuschreibung, verdichtet in dem ungeheuren Satz: „Wer mich sieht, der sieht den Vater“,14 vollzieht sich ihrerseits am Ort der Schrift. Das ist bereits Christus in vitro, der Schrift gewordene Christus. So verkörpert die Schrift das Zeugnis von ihm. Wird damit nicht die Schrift (als Schrift!) zur intrinsischen Verkörperung dessen, von dem sie Zeugnis gibt? Wird sein Schriftbild (namens Evangelium) zum intrinsischen Bildakt? Oder ist dieser Übergang von Leben zu Schrift ein ‚Abfall‘ vom Geist zum Buchstaben? Würde man das so sehen, wäre (platonischer Schriftkritik entsprechend) eigentlich der Geist lebendig, der Buchstabe hingegen tot (wenn nicht tödlich). Dagegen aber die Schrift als ‚Buch‘ zur gleichermaßen gültigen Verkörperung Gottes zu verstehen, scheint der ‚absoluten Verkörperung‘ zu entsprechen: Die Tora ist Gottes Wille, das Evangelium ist die Verkörperung Christi und damit ist sie Gottes Wort. Ebenso wurde allerdings protestantisch nur vorübergehend 13
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Die christologische Implikation dessen wurde dogmatisch so gefasst, dass nicht von einem logos asarkos auszugehen ist, der erst später zum logos ensarkos inkarniert wurde. Vielmehr ist Christus ursprünglich logos ensarkos. Der ganze Sinn christologischer und trinitarischer Explikationen ist es daher, diesen ensarkos zu verstehen. Joh 14,9.
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(in der barocken Schriftlehre mit Inspirationstheorie im Hintergrund) argumentiert. Luther hingegen verstand nicht die Schrift, d. h. zunächst das Buch der Bibel, als Wort Gottes, sondern deren Gestalt als viva vox, als gelesene und verkündigte Schrift. Nicht ein literarisches Artefakt, ebenso wenig wie ein ikonisches, ist dann die ‚absolute Verkörperung‘, sondern ein bestimmter Gebrauch in rituellem Kontext. Der Sinn dieser Differenz lässt sich nachvollziehbar machen: Nichts ‚an sich‘, nichts ‚Totes‘ wie ein Artefakt selber, sondern stets die Lebensform, der lebendige Gebrauch, ist Verkörperung zu nennen. Ein Körper wie der der Schrift (oder der Tora) ist nicht per se Verkörperung Gottes, sondern nur dessen beseelter Gebrauch kann Verkörperung sein: in vivo.
4. Verkör p er u ngen Ch r ist i: Ch r ist us i n pic t u ra? Die Verkörperung Gottes in vivo des Lebens und Sterbens Christi, in vitro der Schrift und in vivo des Schriftgebrauchs – das führt zur Frage: Was sieht, wer Bilder von Christus sieht? Christus in pictura lässt erwarten, solche Bilder seien substitutive Verkörperungen, in denen das Bild als Person gesehen wird und wie diese Person agiert. Das führt sc. in die Tradition der Veronika, kultisch begangene Christusbilder, die sind, was sie zeigen, und zeigen, was sie sind (so der Anspruch). Dann wären Bilder Christi in ‚fröhlichem Wechsel‘ Substitution Christi, so wie später die Bilder aller Heiligen. Die christliche Anerkennung des Bildes als Gottes würdiges Medium ist eine Wette auf die Verträglichkeit der Macht des Bildes mit der Allmacht Gottes. Seine Macht sprenge nicht alle Bilder, und deren Macht gefährde nicht diejenige Gottes, sondern beide seien koinzident. Diese Wette gründet sc. in Christus als Verkörperung Gottes. Wenn der Logos Fleisch geworden ist und wenn die sichtbare Schöpfung Medium der Versöhnung ist, dann wird das Sichtbare zum legitimen Raum der Wahrnehmung des nicht mehr unsichtbaren Gottes; dann sind Metaphern Wort-Gottes fähig; dann sind auch Bilder Bild-Gottes fähig. Gott und Christus wie Wort und Bild werden konvertibel, weil das Sehen ‚seiner Herrlichkeit‘ und damit das Sichtbare zum voll gültigen Heilsmedium geworden ist. Daher ist das Bild dann nicht mehr nur Medium der Repräsentation von x. Es hat nicht nur die Funktion, etwas zu bezeichnen oder darzustellen. Vielmehr ist es die Präsenz des Dargestellten – als Verkörperung Gottes in Christo. Christus als Bild Gottes ist Gott. Sind dann die Bilder von Christus, was sie darstellen? Das jedenfalls wäre der Maximalbegriff eines Bildes: Wenn Christus ist, was er verkörpert, müssten die religiös stärksten Bilder nicht nur repräsentieren oder bezeichnen, sondern selber sein, was sie zeigen: sie müssten sich selbst zeigen, weil sie sind, was sie zeigen – und zeigen, was sie sind. Es wären Bilder, die das Vorverständnis des Bildes als Abbildung oder Repräsentation oder Zeichen für anderes sprengen. Diese Bilder wären nicht allein substitutive
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Verkörperungen zu nennen, sondern intrinsische Verkörperungen in vivo, sofern sie in ihrer Wirkung im religiösen Gebrauch beseelt wie belebt werden. Zentral in christlichen Traditionen ist in diesem Sinne die Ikone (Mandylion, Veronika) und in westlicher Tradition trotz aller anderen Reliquien das Turiner Grabtuch. Als ‚wahre Ikone‘ biete es den Abdruck Christi und prätendiert damit Abdruckreliquie zu sein. (Wären noch Zellen des Verstorbenen zu finden – könnte man ihn klonen …). Eben dies beansprucht mit nicht weniger onto-ikonologischer Emphase der volto santo,15 der ‚Schleier von Manoppello‘. Er bildet nicht ab, sondern beansprucht, der zu sein, den er zeigt. Die Hand, ‚qui fecit‘, bleibt daher namenlos und ungenannt, verschwiegen wie verleugnet, weil es ein Abdruck sei, eine Kontaktreliquie ganz besonderer Art. Die Legende (letztlich die der Veronika) kennt nur eine legitime Hand, von der dieses Bild stammt: die dessen, der diesen Abdruck von eigener Hand gemacht hat. Die Hand Gottes autorisiert dieses Bild. Entsprechend muss das heilige Bild ontologisch aufgeladen werden, entweder kraft einer platonischen forma (eidos) wie bei den Ikonen oder lateinisch und justiziabel durch Substanz, Körperspuren oder gar Knochen und Ähnliches. Dann wird das Bild zur Verkörperung des Wesens dessen, der sich darin zeigt. Das Bild wird zur Inkarnation eigener Ordnung, zur Inkarnation des Inkarnierten, aber mittlerweile Auferstandenen, der sich nun ‚reinkarniert‘ im Bild als Bild. So würden die Christusbilder zu abgeleiteten, aber deswegen gleichermaßen gültigen Verkörperungen (indes abhängig von Gründungslegenden, die die Substitution von Christuskörper und Bildkörper verbürgen sollen). Das heilige Bild wird so gesehen zur Verkörperung des Heiligen. Diese Bilder als Bilder gesehen sind nicht allein substitutive, sondern zugleich intrinsische Bildakte. Denn in ihnen wird der Körper des Bildes wirksam resp. das Bild als Körper, auch dies- oder jenseits ihrer legendarischen Aufladung. Alle Strategien, mit historischen und empirischen bzw. naturwissenschaftlichen Mitteln die ‚Authentizität‘ solcher ikonischen Artefakte zu ‚beweisen‘ oder wenigstens deren Falsifikation zu widerlegen und die Möglichkeit der ‚Authentizität‘ offenzuhalten, sind verständliche Versuche, dem religiösen Begehren die Realität des Imaginären offenzuhalten. Nur ist dergleichen schon irritierend selbstwidersprüchlich: In der historischen wie empirischen Apologetik werden Methoden in Anspruch genommen, die hinsichtlich der prätendierten divinen Abkunft der ‚Acheiropoieta‘ schlicht inkompetent sind. Nimmt man diese Bilder nicht bei ihrem legendarischen Wort und Wert, sondern als Bild, als ikonische Artefakte (wie auch die Schrift sc. Artefakt ist), entlastet das zunächst von allen apologetischen Strategien, die historische Wahrheit ihrer Gründungsmythen zu erweisen (oder wenigstens zu ermögli15
Ein vultus sanctus: ein heiliges Gesicht.
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chen). Die Artefakte als Bild zu nehmen, gewährt einen merklichen Wahrnehmungsgewinn – sie auf ihre Eigendynamik hin zu betrachten. Sie sind mächtig, kräftig und wirksam. Daher ist es weiterführend, solche Bilder als Bildakt zu begreifen und nicht in der Alternative von ‚Gotteswerk‘ oder ‚Menschenwerk‘. Denn der Bildakt ist eine Figur des Dritten demgegenüber. Indem diese Bilder sich zeigen, ihren eigenen Körper, werden sie jenseits ihrer Gründungsmythen vom substitutiven zum intrinsischen Bildakt. Wer sie so (anders) sieht, sieht anderes – und das Bild agiert anders. Das zeigt sich an zwei Beispielen – die auf zweierlei grundverschiedene Weise Christus verkörpern: einmal gleichsam seinen pneumatischen Auferstehungsleib und einmal den verletzten Leibkörper des Gekreuzigten. a Die Veronika von Manoppello
Bild 1 und 2 Der Schleier von Manoppello, o. D., Reliquiar auf Muschelseide, 17,5 × 24 cm, Santuario del Volto Santo (Wallfahrtskirche).
Der ‚Schleier‘ ist ein 17,5 cm auf 24 cm messendes hauchdünnes Tuch aus Muschelseide, das in Manoppello in den Abbruzzen, seit 1638 in der Kapuzinerkirche Santuario del Volto Santo in einer doppelseitig verglasten Monstranz, seit den 1960er Jahren über dem Altar, steht.16 16
Benedikt XVI. würdigte als erster Papst am 1. September 2006 den Schleier mit einer Wallfahrt nach Manoppello. Er äußerte dazu, dies sei ein „Ort, an dem wir
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Der Bildkörper wirkt wie der Körper des Auferstandenen. In der Doppelung von Abdruck und Spur inszeniert er ein ‚reales Imaginäres‘: eine Kontaktreliquie, in der Eidos und Substanz koinzidieren. Er ist vermeintlich abbildliche und ‚abdrückliche‘ Repräsentation und urbildliche Präsenz des Dargestellten zugleich. Auffällig ist der ätherische oder pneumatische Körper dieses Bildes: als verkörpere es den unverweslichen und substanzlosen Körper als hauchfeine Spur des Auferstandenen.
b Die Wittenberger Predella
Bild 3 Lucas Cranach d. Ä.: Predella des Cranachaltars, 1547, Öl auf Leinwand, Stadtkirche St. Marien, Wittenberg.
Auf den ersten, gewohnten Blick hat man es mit einem sogenannten ‚Lehrbild‘ zu tun. An seiner repräsentierten Oberfläche führt es vor Augen, was lutherische Theologie lehrt: die Predigt des Gekreuzigten als viva vox der Verkündigung an die Gemeinde. Nicht die Schrift als Buch wird hier repräsentiert, sondern die ‚Mitte der Schrift‘, die ‚außen‘ ist, nicht im Buch, sondern selber ein Außen dem Buch gegenüber. Christus als diese Mitte ist sowohl der Andere der Schrift als auch der Verkündigung. Und wie verhält es sich zwischen Christus und seiner Darstellung im Bild als Bild? Das Vorverständnis, dies sei ein Lehrbild, ist nicht falsch, aber es macht halbseitig blind. Denn hier zeigt sich mehr, als die eingespielte Denk- und Seh-
über das Geheimnis der göttlichen Liebe nachdenken können, indem wir die Ikone des Heiligen Antlitzes betrachten“ (dt. Ausgabe des L’Osservatore Romano, 22. September 2006).
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gewohnheit erwarten lässt. Die spannende Frage ist, ob sich in und mit diesem Bild mehr und anderes zeigt, als gesagt und gelehrt wird. Ist dieses Bild nur Verkörperung (im Sinne der Repräsentation) einer Lehre – oder was zeigt sich, wenn man es als intrinsischen Bildakt sieht?
Bild 4 Lucas Cranach d. Ä.: Predella des Cranachaltars, 1547, Öl auf Leinwand, Stadtkirche St. Marien, Wittenberg (Ausschnitt). Bild 5 Lucas Cranach d. Ä.: Predella des Cranachaltars, 1547, Öl auf Leinwand, Stadtkirche St. Marien, Wittenberg (Ausschnitt).
Auf den zweiten Blick fällt der Hintergrund ins Auge, der Raum, der durch den Boden und die zwei Wände eröffnet und gerahmt wird. Die Spuren wirken einerseits wie Schlagspuren – ein Menetekel des Ikonoklasmus. Anderseits wirken sie auch wie Blutspuren, als würde die Wand verkörpern, was dem Gekreuzigten widerfährt: Ecce imago. Der kunsthistorisch versierte Blick kann hier an die Fotos von Abu-Ghuraib erinnert sein:17 Der Raum wirke wie eine Folterkammer. Wird dann das Bild als Bild zu solch einer Kammer des Schreckens? Emanzipiert sich der Hintergrund von der semantischen Oberfläche und wird zu einer Szene, einer Inszenierung, in der nicht nur eine Lehre in Szene gesetzt wird, sondern das Bild selbst – so dass es sich als intrinsischer Bildakt zeigt? Der repräsentierende Bildakt würde von einer unheimli17
So Michael Diers mündlich.
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chen Präsenz durchzogen, kraft derer sich das Bild zur intrinsischen Verkörperung verdichtet. Auf den dritten Blick kann man eine irritierende Kontiguität wahrnehmen: die der Spuren der Schläge am Leib des Gekreuzigten und die der Spuren der ikonoklastischen Schläge an der Wand der Kirche. Hier wird die gemalte Wand zur Metonymie Christi (in räumlicher Nachbarschaft, ohne ontologische Kontinuität) – oder wird umgekehrt der Gekreuzigte zur Metonymie des Ikonoklasmus, der von Spuren gezeichneten Wand? Hier kann der Blick ins Oszillieren kommen, in ein Hin und Her. Wird der gemalte Christus zur Verkörperung des Bildgeschehens, bis dahin, dass sich an Christus zeigt, was den Bildern widerfuhr im Bilderstreit? Oder bleibt es bei einer supplementären Leidensgemeinschaft des Hintergrundes mit der Figur im Vordergrund?
Bild 6 Lucas Cranach d. Ä.: Predella des Cranachaltars, 1547, Öl auf Leinwand, Stadtkirche St. Marien, Wittenberg (Ausschnitt).
Auf den vierten Blick kann man nochmals anders und anderes sehen: Das Bild ‚selber‘, der Bildkörper ist von Spuren (des Alters und Gebrauchs) gezeichnet. Das ließe sich leicht auffangen durch den Hinweis auf das übliche Krakelee: die Zeichen der Zeit, in der die Spannung zwischen Farbe und Malgrund zu haarfeinen Rissen führt. Schon das wären leichte Risse, in denen sich die Eigendynamik des Materials manifestiert – die sonst latent bleibt und restauratorisch auch möglichst gebändigt wird. Nur sind diese Risse und Riefen hier tiefer, fast als würde die Farbe bald blättern. Und neben der Seitenwunde scheinen Stichspuren sichtbar zu sein. Die
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Verletzungen des Bildkörpers – verkörpern dem interpretierenden Blick, was hier Thema ist. Der Gekreuzigte kommt im Bild als Bild zur Anschauung – und Wirkung. Der gemarterte Leib, die geschlagene Wand und in irritierender Entsprechung dazu der Riss im Bild als Bild: Kann man da sagen, der Bildkörper wird zum Körper des Inkarnierten und Gekreuzigten? Anders als das ätherisch feine Schleiergespinst aus Manoppello ist dieses Bild opak und körperlich bis in sein Vergehen. Der Bildkörper zeigt an sich selbst, was das Bild zeigt – oder zeigt das Bild in seinem Thema, was im Grunde selbstbezüglich das Bild zum Thema hat? Tritt man etwas zurück, kann man im Rückblick schließlich auch einigermaßen getroffen sein und beunruhigt von dem bedauerlichen Zustand des Bildes in seiner Körperlichkeit und Materialität. Als würde diesem Bild eine Nachlässigkeit widerfahren, in der man es zerblättern lässt wie einen toten Körper. Was sieht man, wenn man ein Bild Christi sieht? Die Frage verwandelt sich im Zeichen der Verkörperung: Was verkörpert das Bild Christi? Den Lehr- und Predigtgegenstand? Christus selbst – in der Veronika als substitutiver Bildakt, in der reißenden Predella als intrinsischer Bildakt?18 Den Ikonoklasmus und dessen Folgen? Ist doch eine prägnante Manifestation des protestantischen Bilderglaubens der Ikonoklasmus – und zwar insbesondere dessen selektive Gestalt: indem die Gesichter auf Bildern, Statue oder LettnerFiguren sorgfältig ‚abgekratzt‘ oder zerstochen wurden.19 Was sich hier jedenfalls zeigt – im Schleier von Manopello wie im rissigen Bildgrund –, ist eine Eigendynamik des Bildes: der Eigensinn der Sinnlichkeit. Würde man die Bilder nur als Versinnlichung eines Sinns auffassen, als sinnliches Scheinen theologischer Ideen, wären sie im Grunde nur ‚extrinsische Bildakte‘: die etwas darstellen dürfen, aber nichts intrinsisch verkörpern. Als intrinsische Bildakte aber beginnen sie sich selbst zu zeigen und anders zu wirken, als Verehrungsgegenstand oder als Illustration der Lehre. Kippt es so weit, dass das Bild sich von seinem Gegenstand emanzipiert, vor allem sich selbst zeigt, seinen Bildkörper exponiert, und dabei das Ereignis des Zeigens zeigt, bis in das Zeigen von Riss und Zerfall? Wenn diese Bilder ‚embodied theology‘ gewesen wären – sind sie es nicht geblieben oder nicht nur das geblieben? Die Eigendynamik der Verkörperung 18
19
Hier kann man überlegen, ob nicht die Bilder Christi zum supplementären Bildakt werden können,, sofern die Supplemente (im m Sinne Derridas) sich so verselbständigen, dass ihr Woher und Wovon verschlingen oder „realpräsent“ zu ersetzen vermögen. Der Schleier wie die Predella zeigen, woher sie kommen und wovon sie handeln. Aber zumindest die Veronika-Tradition führt in Bildkörper, deren ontologische Aufladung sie ebenso mächtig wie das ‚Original‘ erscheinen lassen (wenn nicht sogar mächtiger, weil präsent und wirksam). Mit Diarmaid MacCulloch: Die Reformation 1490–1700, München 2010, S. 726.
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führt die Theologie über ihre Denk- und Sehgewohnheiten hinaus, bis dahin, dass der vertraute Sinn angesichts der Sinnlichkeit rissig werden kann. John Michael Krois notierte: „Embodiment makes thought logically vague, but it also makes thought possible.“20 Vagheit gewährt Deutbarkeit und ist die Möglichkeitsbedingung näherer Bestimmung.21 Der Eigensinn der Sinnlichkeit – wie er sich an den beiden Beispielen zeigt – ist und bleibt vage, in einer beunruhigenden Unentscheidbarkeit. Aber genau diese Beunruhigung lässt den Bildkörper lebendig werden (und stört die theologischen Denkgewohnheiten).
5. Verkör p er u ng der The olog ie? Die Wittenberger Predella ist demnach nicht ‚nur‘ eine extrinsische Verkörperung lutherischer Theologie, nicht bloß ein Lehrbild, sondern eine intrinsische Verkörperung, deren Bildaktivität doch klüger zu sein scheint als manche Denkgewohnheit nahelegt. Nur waren die ästhetischen Strategien des Protestantismus nicht in jedem Fall so raffiniert wie Cranach. Das Begehren nach Verkörperung des Vorübergegangenen zur Vergegenwärtigung dessen konnte auch andere Wege gehen, in der die substitutive Verkörperung reliquiengleich handgreiflich wurde – wie ein seltsamer Fall in Halle an der Saale zeigt. Lukas Schöne hieß der Artifex, der unter Verwendung der postumen Wachsabgüsse von Luthers Händen und seines Gesichts, also seiner Totenmaske,22 20 21 22
John M. Krois: Image, Science and Embodiment. Or: Peirce as Image Scientist, in: ders.: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, hg. v. Horst Bredekamp/Marion Lauschke, Berlin 2011, S. 207. Vgl. vom Verf. Art. „Vagheit“ in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 10, Ergänzungen A–Z, Register, hg. v. Gert Ueding, Tübingen 2011, Sp. 1364–1377. Vgl. zur Sache: Jochen Birkenmeier: Luthers Totenmaske? Zum musealen Umgang mit einem zweifelhaften Exponat, in: Luther-Jahrbuch 88 (2011), S. 187–204; Uta Kornmeier: Luther in effigie, oder: Das Schreckgespenst von Halle, in: Stefan Laube/Karl-Heinz Fix (Hg.): Lutherinszenierungen und Reformationserinnerung, Leipzig 2002, S. 343–370; dies.: Kopierte Körper. ‚Waxworks‘ und Panoptiken vom 17. bis 20. Jahrhundert, in: Ausst.-Kat.: Ebenbilder. Kopien von Körpern – Modelle des Menschen, hg. v. Jan Gerchow/Hans Belting, Ruhrlandmuseum Essen März– Juni 2002, Ostfildern-Ruit 2002, S. 115–124; Otto Kammer: Lutherus redivivus – die Totenmaske und die umstrittene Effigie in Halle, in: Ausst.-Kat.: Luther mit dem Schwan. Tod und Verklärung eines großen Mannes,, hg. v. Gerhard Seib,, Lutherhalle Wittenberg, Berlin 1996, S. 25–32; Inge Mager: Justus Jonas an Luthers Sterbebett. Zur Entstehung der Totenmaske, in: Luther 77 (2006), S. 164–170; Friedrich Loofs: Die angebliche Totenmaske Luthers, in: Zeitschrift für Religionskunde [RelKu] 15 (1918), S. 2–13; ders.: Die Lutherfigur in Halle, ebd., S. 67–73; B. Weissenborn: Die sogenannte Totenmaske Luthers. Zur Frage ihres Alters, in: RelKu 17 (1920), S. 39; Paul Brathe: Luthers Totenmaske, ebd., S. 129–139; ders.: Neues Material zu ‚Luthers Totenmaske‘, in: RelKu 18 (1921), S. 111–113; Alfred Dieck: Cranachs Gemälde des toten Luther in Hannover und das Problem der LutherTotenbilder, in: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 2 (1962), S. 191–218;
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1663 eine Lutherfigur fabrizierte:23 eine effigies Lutheri, in der Luther artifiziell verkörpert wurde, allerdings wohl nicht als Gegenstand der Bildverehrung, sondern der (mehrdeutigen) Luthervergegenwärtigung. Die Wachsteile, Kopf und Hände, wurden auf ein Holzgerüst gesteckt, das gepolstert und gekleidet den ‚corpus‘ bildete. Exponiert wurde die Figur in der Marienbibliothek 24 am Marktplatz von Halle, bei der Marienkirche, bis sie am Ende des zweiten Weltkriegs eingelagert wurde. (Bild 7) Ernst Benkard beschrieb diese effigies so: „Das Mannequin, angetan mit der Tracht der protestantischen Geistlichen, ist mit einem Lederriemen an die Hohe Lehne eines alten Renaissancestuhles angeschnallt, wodurch die sitzende Haltung ermöglicht wurde. Vor der Puppe steht ein ovaler (moderner) Tisch, auf dem
23 24
Stefan Laube: Von der Reliquie zum Relikt. Luthers Habseligkeiten und ihre Musealisierung in der frühen Neuzeit, in: Archäologie der Reformation. Studien zu den Auswirkungen des Konfessionswechsels auf die materiale Kultur, AKG 104 (2007), S. 429–466; –466; 466; Mirko Gutjahr: ‚Non Non cultus est, sed memoriae gratia‘.‘.. Hinterlassenschaften Luthers zwischen Reliquien und Relikten, in: Ausst.-Kat.: -Kat.: Kat.:: Fundsache Luther. Archäologen auf den Spuren des Reformators, hg. v. Harald Meller, Landesmuseum für Vorgeschichte Halle/Saale, Darmstadt 2008, S. 100–105; –105; 105;; Claudia Häßler:: Die Effigie Martin Luthers in Halle (Saale). Eine Kuriosität frühühhneuzeitlicher Memoria zwischen Reliquienkult und Schaulust?, BA-Arbeit, Ms Berlin 2011; Bernhard Siegert: Die Leiche in der Wachsfigur. Ein Krisentopos der Repräsentation zwischen Kunst, Wissenschaft und Medien, in: Peter Geimer (Hg.): Untot – Undead. Verhältnisse vom Leben und Leblosigkeit/Relations between the Living and the Lifeless, Berlin 2003, S. 53–69. Über die Genese der Totenmaske gibt es keine gesicherten Erkenntnisse. Justus Jonas war anwesend, als Luther am 18.2.1546 in Eisleben starb. Am 19.2. zeichnete Lukas Furtenagel aus Halle Luther auf dem Totenbett (Kopf des toten Luther, Federzeichnung 1546, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Inventarnummer KdZ 4545), und vermutlich hat er auch einen Gipsabdruck von Luthers Gesicht und Händen genommen. Aus diesem Negativ wurde in Furtenagels Werkstatt in Halle ein Wachsabguss als Totenmaske gemacht, die in den Besitz von Justus Jonas kam, der sie der Marktkirche in Halle überließ. Die Herkunft und Authentizität der Totenmaske ist jedoch keineswegs unzweifelhaft; vgl. Johannes Birkenmeier: Luthers Totenmaske?, ebd., S. 187–204. Möglich ist von der Quellenlage her auch, dass er sie nur repariert hat. Vgl. Kornmeier: Luther in effigie (wie Anm. 22), S. 346 f., 353 f.; vgl. Birkenmeier: Luthers Totenmaske? (wie Anm. 22), S. 191. Vgl. aber J. Fritze: Die Luthermaske von Halle, in: FAZ 1. Morgenblatt, 22.4.1927. Der Stadtpfarrer Fritze schrieb, die Marienkirche „birgt in ihrem Inneren eine viel besprochene Merkwürdigkeit“. Kornmeier: Luther in effigie (wie Anm. 22), S. 343, klärt das: Erst seit 1924 wurde die effigies in der Kirche präsentiert, zuvor in der Marienbibliothek. Vgl. Heinrich L. Nickel (Hg.): Die Totenmaske Martin Luthers, in: ders. (Hg.): Die Marienbibliothek zu Halle. Kostbarkeiten und Raritäten einer alten Büchersammlung, erw. Neuauflage, Halle 1998, S. 45–48.
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Bild 7 Lucas Schöne: Lutherfigur in der Marienbibliothek, 1663, Marienkirche, Halle/Saale.
ihre Arme mit den im Wachs geformten Händen (ebenfalls angeblich nach Gipsabgüssen von der Leiche gearbeitet) Platz gefunden haben. Die Rechte, leicht zur Faust geballt, liegt auf einer dicken Bibel, die Linke ruht ausgestreckt auf dem Tischtuch. Der Wachskopf ist auf einen festgestopften Balg aufgesetzt und trug ursprünglich eine Perücke, die heute durch ein Barett ersetzt ist.“25 Bemerkenswert ist, dass Lucas Schöne die Vorlage der Totenmaske artifiziell überarbeitete nach dem Geschmack des Barock, zur Animation durch ‚Verlebendigung‘: Der Hinterkopf wurde komplettiert, mit Echthaar versehen, dazu die Ohren erfunden, der Kehlkopf ergänzt, Stirnfalten, Mund und Doppelkinn
25
Ernst Benkard: Das ewige Antlitz. Eine Sammlung von Totenmasken, mit einem Geleitwort v. G. Kolbe, Berlin 1926, S. 67 f.
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Bild 8 Lucas Furtenagel: Luthers Augen, Marienkirche Halle.
wurden ausgearbeitet, die Lider geöffnet und – Glasaugen eingesetzt. Was wir sehen, blickt uns an – sieht uns aber nicht.26 Doch das skurrile Artefakt blickt unangenehm streng, wenn auch mit leichtem Silberblick. (Bild 8, 9, 10) Aus einem Abdruck, der Totenmaske, wurde eine effigies Lutheri zwecks visueller ‚Realpräsenz‘, so kann man vermuten. Nicht der Auferstandene, sondern nur ein artifizieller Wiedergänger wurde der Schaulust protestantischer Pilger exponiert. Die Figur war dort zu sehen bis 1943, dann wurde sie in eine Bank ausgelagert, in den 60er Jahren sollen noch Reste vorhanden gewesen sein, und seit 2006 ist sie in einem Nebenraum der Marktkirche wieder zugänglich. Dass ausgerechnet im Barockprotestantismus diese effigies fabriziert wurde, ist so überraschend wie vielleicht noch in ikonischer Konkurrenz zur Gegenreformation und deren Bildpolitik rekonstruierbar. Um nochmals Benkard anzuführen: „Wann auch immer die Panoptikumsfigur des Reformators entstanden sein mag […] sie bleibt im Herzen des protestantischen Sachsen eine pikante Parallele zu der Heiligenverehrung der katholischen Gläubigen. Abgesehen davon, daß noch heute diesem heiligen Luther Blumensträußchen von der Bevölkerung dargebracht werden, zeigt überhaupt schon sein Dasein, daß weite Schichten nicht ohne Heroendienst auskommen werden. In dem Heiligenkult hat dieses allgemein menschliche
26
Vgl. Georges Didi-Huberman: Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999; aber v. a. ders.: Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln 1999, S. 49 f., wo er auf „das visuelle Paradox“ hinweist, „daß das, was man erblickt, keinen Anblick bietet, in dem Sinne, daß im Schweißtuch der Veronika oder dem Turiner Grabtuch die Züge des darin Abgedrückten, das heißt des Gesichts Christi, zu erkennen wären“. Die Animation des Antlitzes Jesu im Falle des Schleiers von Manoppello reagiert auf dieses Problem mit den visionär blickenden Augen.
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Farbe
Bild 9 und 10 Lukas Furtenagel/Lucas Schöne/Hans Hahne: Luthers Totenmaske, Gipsabdruck, 1546/1663/1926 (1926 Gipsrekonstruktion durch Hans Hahne, auf der Grundlage der Überarbeitung der Totenmaske von 1663, ausgestellt seit 2006 in der Marktkirche zu Halle).
Gefühl einen höchsten Ausdruck gefunden. Daher darf man die Panoptikumsfigur Luthers als Produkt einer psychologischen Verdrängung ansprechen.“27 ‚Verdrängung‘ überrascht hier als Fazit, aber sie ließe verständlich werden, dass hier eine vom Protestantismus verdrängte Form der Kultfigur wiederkehrt – wenn auch nicht in einem Kult. Deutlicher noch: Luther wird mit der Figur nicht als Heiliger oder Heilsvermittler dargestellt (etwa betend), sondern protestantisch ernüchtert als Schreibtischarbeiter, mehr nicht.28 Erwähnenswert ist allerdings, dass Benkard mit der These der Heiligenverehrung nicht eine nur verfremdende Zuschreibung vornimmt, sondern dass der Emporenschmuck (nach 1549 fertiggestellt) der Marktkirche diese ‚Pikante27
28
Benkard: Das ewige Antlitz (wie Anm. 25), S. 68. Stadtpfarrer Fritze reagierte auf Benkard mit merklichem Affekt: „Das ist einfach erlogen! Niemals ist es einem Besucher der Marienkirche eingefallen, in der Lutherfigur etwas anderes zu sehen als eine eigenartige künstlerische Rarität. […] An Kultus und ‚Verehrung‘ der Maske denkt kein Mensch“ (Fritze, ebd.). Ganz so eindeutig ist das kaum. Denn das Geburtshaus Luthers in Eisleben hatte angeblich ein ‚Unbrennbares Lutherbildnis‘, in Apolda habe ein Lutherbildnis mehrfach ‚geweint‘ und Splitter von Luthers Möbeln sollen gegen Zahnleiden geholfen haben (nach Mirko Gutjahr: „Non cultus est, sed memoriae gratia“ [wie Anm. 22], S. 100). Vgl. Kornmeier: Luther in effigie (wie Anm. 22), S. 354 f.
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Bild 11
Empore, Marienkirche Halle.
rie‘ noch explizit macht. Dort heißt es „Sanctus Doctor Martinus Lutherus Propheta Germaniae Decessit Anno 1546. Natus Anno 1483 – Docuit 1517.“ Der Tondo von Jobst Kammerer (1553) zeigt den, von dem hier als Heiligem gesprochen wird (mit dem polemischen Motto in der Umschrift: „Pestis eram vivus, Moriens ero mors tua papa“, also ungefähr: Im Leben war ich deine Pest, im Tode werde ich Dein Tod sein, Papst).29 (Bild 11) Was wird mit der effigies gezeigt und was zeigt sich dabei nichtintentional? Bei aller Unklarheit der Provenienz der Figur in der Marienbibliothek30 wurde damit ein ‚Doctor Theologiae‘ inszeniert, Luther in seiner Schreibstube. Nicht der junge Luther der sogenannten ‚reformatorischen Entdeckung‘, sondern der alte wird dargestellt. Wie hätte es mit der Totenmaske auch anders sein können, die doch als Abdruckreliquie zur Authenifizierung der effigies dienen musste. Die Maske als (legendarischer) Bildgrund des artifiziell präparierten Wachsgesichts ist das Symptom eines legitimatorischen Begehrens: dass hier wirklich das Angesicht Luthers zu sehen sei, und zwar kraft des kausalen Konnex mit dem toten Körper des Reformators. Hier melden sich offensichtlich Traditionen des vorreformatorischen Reliquienkults – wie er gegenreformatorisch wiederkehrte. 29 30
Vgl. Susan R. Boettcher: Late Sixteenth-Century Lutherans. A Community of Memory?, in: Michael Halvorson/Karen Spierling (Hg.): Defining Community in Early Modern Europe, Hampshire/Burlington 2008, S. 121–142, 138 f. Vgl. insbesondere Birkenmeier: Luthers Totenmaske? (wie Anm. 22).
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Der Maximalsinn eines Bildes Christi war, zu sein, was es zeigt. Davon zehren noch die Bilder aller Heiligen. Nur – ist das der Sinn der effigies Lutheri? Zu sein, wen es zeigt? Eine effigies ist ‚per definitionem‘ ein substitutiver Bildakt, in dem in effigie Luther nicht nur repräsentiert, sondern präsentiert wird. Aber – wie ‚realpräsent‘ ist oder sollte er sein in dieser seltsamen Gestalt? Für die Fabrikation der imaginären Szene von ‚Luther am Schreibtisch‘ ist bemerkenswert, dass die Hände für diese Situation seltsam passend erscheinen (auch wenn deren Gelenke nicht unversehrt scheinen). Wäre deren Abguss tatsächlich dem toten Luther abgenommen, hätte man dessen Hände (gewaltsam möglicherweise sogar) manipulieren müssen, um sie in die passende Form zu bringen.31 Nur wer hätte 1546 daran gedacht, für eine spätere effigies die Hände entsprechend zu präparieren, um sie zu diesem Zwecke geeignet abgießen zu können? (Bild 12)
Bild 12 Lucas Schöne: Lutherfigur in der Marienbibliothek, 1663, Marienkirche, Halle/Saale (Ausschnitt Hand).
Soweit ex post zu vermuten, scheint die Inszenierung Luthers in ‚seiner‘ Schreibstube nicht auf Verehrung gezielt zu haben, sondern auf Gedenken und Andenken, also eine memoriale Identitätspolitik des (lokalen) Luthertums zu bedienen. Hier wäre dann passend, dass nicht ‚est, est, est‘ für die effigies gilt, sondern lediglich ein ‚Signifikat‘. Aber dafür hätte ein Gemälde Luthers gereicht. Warum also wurde das Begehren nach körperlicher Realpräsenz bedient? Als ‚touristische Attraktion‘ mag die heutige, fragmentierte Präsentation dieser Artefakte dienen (wobei ‚touristische Repulsion‘ passender erscheint ange31
Vgl. ebd., S. 193 f.
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sichts der durchaus monströsen Wirkung dieser Wachsmaske). Aber damals? So scheint diese Figur ein ästhetisch befremdliches Monument lutherischer Memorialkultur, in der sich auf symptomatische Weise manifestiert, wie die memoria ein tiefes Begehren nach mehr als nur Repräsentation hat. Kontaktreliquien wie Luthers letztes Trinkgefäß32 sind daher allemal ontologisch inferior gegenüber einer Totenmaske. Und wenn die imaginative Potenz der memoria bis in die Animation einer effigies führt, ist dies ein Lehrstück für die Genese und Wirkung eines szenisch verfassten substitutiven Bildakts. Als intrinsischer Bildakt gesehen wirken die animierte Maske und die krallenartigen Hände so gespenstisch wie viele der Wachsfiguren. Die legendarische Aufladung als Abdruck von Luthers ‚Veronika‘, der Totenmaske, befördert diese Repulsion nur. Fast könnte man meinen, contre cœur würde Luther postum zum Opfer einer Bildpolitik, gegen deren spätmittelalterlichen Vorgänger er auf der sola scriptura insistierte. Das fromme Begehren kann Gespenster fabrizieren. Als würde mit der effigies ein Wiedergänger inszeniert, der aus Versehen Luthers Haupt und Hände wie abgeschlagen präsentiert, als würde hier ein Verbrecher exponiert und für das touristische Entsetzen präpariert. Edgar Winds Hamburger Antrittsvorlesung über „Theios phobos“, die göttliche oder heilige Furcht, kann einem angesichts dieser Monstrosität in den Sinn kommen. Von solch einem Artefakt affektiv getroffen zu werden, lässt dessen Wirkungspotential manifest werden: Ekel, Furcht, Schrecken – jedenfalls ein phobos, der die Konfrontation zu einem Pathosereignis macht.33 „Die körperliche Wirkung von Kunst verleiht ihr jene politische Wirksamkeit, die sie für Platon so bedenklich machte“ ,34 notierte John Michael Krois (zu Wind). Was wir sehen, blickt uns an – aber wie? Wie wirkt dieses Heldenhaupt, das wie eine Jagdtrophäe präsentiert wird? Die in Falten gezogene Stirn, zornig wirkende Falten zwischen den Brauen, bulldoggenähnlicher Ausdruck mit fleischigen Wangen, eine etwas versoffen wirkende Nase mit dem gelben Teint des Leberkranken und zu alledem noch die abgehackten Hände, auf einen zu kriechende Klauen, vor denen man sich lieber zurückzieht (und erleichtert ist, dass sie hinter dickem Glas gefangen sind). Von Gewissensnöten, Skrupeln und Verzweiflung des ‚jungen‘ Luther keine Spur, auch nicht von der gern bemühten 32 33
34
Vgl. Laube: Von der Reliquie zum Relikt (wie Anm. 22), S. 429–466. Kornmeier spricht von der „Nähe der ausgestellten Wachsfigur zum Panoptikum, die sich in den Spitznamen ‚Schreckgespenst‘ und ‚Lutherschreck‘ ausdrückte. Während aber im ‚Schreckenskabinett‘ der lustvolle Schauer bewusst inszeniert ist, ruft das wächserner Lutherbild den gleichen Verlust an Sinnes- und Gefühlskontrolle ungewollt hervor“ (Kornmeier: Luther in effigie [wie Anm. 22], S. 370). John M. Krois: Einleitung in: Edgar Wind. Heilige Furcht, in: ders.: Bildkörper und Körperschema (wie Anm. 20), S. 25–42, 37.
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Lebensfreude des ‚alten‘. Vielmehr bekommt man es hier mit der Angst zu tun, von Angesicht zu Angesicht mit einem irre blickenden Kinderschreck, einer Maske, die aus der Geisterbahn der Geistesgeschichte stammen könnte. Wenn das ‚embodied theology‘ wäre, verkörperte Erkenntnis, dann eher die eines theologischen Holzwegs: die Verkörperung eines zornigen Hausvaters, der zum heroischen Über-Ich der protestantischen Familie stilisiert wird, mit dem sich Zucht und Ordnung verbreiten lassen, wenn nicht Furcht und Zittern. „Aller Ausdruck durch Muskelbewegung ist metaphorisch“,35 erklärte Edgar Wind. Was zeigt sich dann, nolens oder volens, in diesem Ausdruck? Ein Luther als Stellvertreter des zornigen Gottes, also des Gottesbildes, von dem Luther gerade Abschied zu nehmen verholfen hatte? Der Ausdruckssinn dieses ‚Antlitzes‘ ist widersinnig, zumindest für eine Theologie, die ‚evangelisch‘ zu nennen wäre und von der ‚Freiheit eines Christenmenschen‘ bestimmt wird. Der seltsame ‚Knick in der Optik‘, der Silberblick der Maske, zeigt das an, wenn auch versehentlich. Cranachs Predella ließ Luther beinahe diskret am Rande, in der Rolle des Zeigers, wie Johannes der Täufer, der von sich weg, auf Christus – und damit im Bild als Bild auf den gemalten Christus zeigt. Bei aller Selbstreferenz wird dabei die Predella zur Verkörperung des Gezeigten: ein Bild als Christus im Chiasmus zu Christus als Bild. In der effigies hingegen wird Luther selbst zum Gezeigten, zum exponierten Haupt mit Gliedern, der eine imaginäre Figur inszeniert, deren Moulagerealismus nur noch gespenstisch wirkt. ‚Hier hänge ich und kann nicht anders‘, den Touristen ausgesetzt, aufgehängt in ‚blue velvet‘ als Relikt aus dem Jurassic Park der Religionsgeschichte. Die Cranach-Predella wurde im Laufe der Zeit ‚versehentlich‘ zu einer metonymischen Verkörperung des gekreuzigten Christus. Die Luthereffigies – wurde im Laufe der Zeit zum Monster. Die Materialität des (eben nicht ‚ewigen‘) Antlitzes, das Wachs ist anfänglich zwar täuschend ähnlich, so ähnlich wie eine Moulage nur sein kann, bis dahin, dass die Gesichter präparierter Leichen (Lenin oder Mao) ihrerseits wie Wachsfiguren wirken. Nur kippt diese befremdliche Ähnlichkeit mit der Zeit in eine immer noch größere Unähnlichkeit – bis „ins Widerwärtige […]. Jede Veränderung oder Verletzung der Wachsoberfläche wirkt durch die Nähe zu Haut und Fleisch wie eine Mißhandlung
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Edgar Wind: Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik, in: Vierter Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Hamburg, 7.–9. Oktober 1930, Beilagenheft zur Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. 25, 1931, S. 163–179, 175; worauf John M. Krois wiederholt hinwies (ders.: Einleitung [wie Anm. 34], S. 37; ders.: Die Universalität der Pathosformeln. Der Leib als Symbolmedium, in: ders.: Bildkörper und Körperschema (wie Anm. 20), S. 77–91, 79.)
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oder Verwundung eines echten menschlichen Körperteils“,36 notierte Uta Kornmeier so treffend. Der (historisch ungesicherte, legendarisch imaginär zu nennende) ursprüngliche Abdruck der Totenmaske war eine erste Form der Fabrikation eines Ausdrucks: des friedlich schlafenden Toten. Die begehrte „Ähnlichkeit durch Berührung“37 im Abdruck mag sich als „Modell für den allgemeinen Begriff des Bildes“38 anbieten, wie Didi-Huberman meinte. Darin berührt er sich mit Krois, der Taktilität und schematisierendes Körpergefühl als Ursprung der Bildkompetenz verstand.39 Nur bleibt diese ursprüngliche Berührung im Dunkel des Imaginären, die Authentifizierung der ‚Kontaktreliquie‘ fiktiv. Dass schon die Totenmaske selber nur eine fiktive Rekonstruktion anhand des später ausgearbeiteten ‚animierten‘ Gesichtes der effigies ist, lässt diesen Ursprung umso entzogener bleiben. Die Animation war dann eine Form der ‚Präsenzintensivierung‘40 mit Übersteigerung der Ausdrucksqualität. Dieses Nachleben der Präsenz des Entzogenen wird zur Passionsgeschichte, wenn die Eigendynamik des Materials zu einer immer intensiveren Entfremdung führt. Der anfängliche Index wird in seiner ikonischen Gestaltung fremd, in seiner Alterung aber umso entfremdender – sodass die symbolische Qualität alles andere als eine Verkörperung Luthers, gar seiner Theologie, ist. Das Nachleben wird zum Verleben und zur ikonischen Qual des so zur ewigen Wiedergängerschaft Verurteilten. Zum ‚Kunstgegenstand‘ zu werden in ewiger Bildstrafe, das kann man unter ‚Hölle‘ verstehen. Rächt sich hier das Bild als Bild postum an seinem Kritiker?41 Der Eigensinn der Sinnlichkeit dieser effigies, das Eigenleben der Materialität, wirkt je-
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37 38 39 40 41
Kornmeier: Luther in effigie (wie Anm. 22), ), S. 345. Dieser Effekt ist auch bei Computersimulationen von Menschen bekannt als Uncanny-Valley-Effekt: Wenn eine Simulation eines Menschen der ‚Realität‘ immer näher kommt, gibt es auf den letzten 10% einen Einbruch der Akzeptanz seitens der Wahrnehmenden. Wenn die Nähe besonders groß ist, aber doch noch nicht perfekt, ist die abstoßende Wirkung besonders groß. Vgl. Horst Schumann/Thomas Nocke: Computerbilder, Visualisierungsstrategien und Informationsdarstellung, in: Philipp Stoellger/Thomas Klie (Hg.): Präsenz im Entzug. Ambivalenzen des Bildes, Tübingen 2011, S. 519–534, 522 ff. Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung (wie Anm. 26), S. 34. Ebd., S. 36. Vgl. Krois: Bildkörper und Körperschema (wie Anm. 20), S. 271. Gottfried Boehm: Repräsentation – Präsentation – Präsenz, in: ders. (Hg.): Homo Pictor, München/Leipzig 2001, S. 3–13, bes. 4, 5, 8, 13. Wobei zu notieren ist, dass Luther kein Bilderfeind war, sondern sie (den Apokryphen ähnlich) für ‚gut und nützlich‘ hielt in pädagogischer und memorialer Funktion. Eben solch eine Funktion kann man hermeneutisch wohlmeinend als intentio recta den Fabrikanten der Luthereffigies unterstellen.
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Bild 13 Lucas Schöne: Lutherfigur in der Marienbibliothek, 1663, Marienkirche, Halle/Saale.
denfalls gnadenlos. Zu Reformationszeiten wurden die einst verehrten Reliquien begraben, diskret beigesetzt etwa auf dem Kirchhof. Nur solch eine späte Gnade wird Kunstwerken ‚aus Prinzip‘ vorenthalten. (Bild 13)
6. Verkör p er u ng a ls emb o d ied c og n it ion – u nd emb o d ied t he olog y „Embodiment makes thought logically vague, but it also makes thought possible“, so lautete die bereits angeführte These von John Michael Krois. Daher ist nach der vorangehenden Arbeit an den Verkörperungsphänomenen Theoriearbeit nötig, um die ‚possible thoughts‘ zu formulieren. „Sagen zu können, was
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ich sehe“ galt für Hans Blumenberg als „das vollkommene irdische Glück“.42 Die semantische Dichte der Bilder und ihre entsprechende Vagheit provoziert die Versuche zu differenzieren und theoretisch sagbar werden zu lassen, was sich in ihnen alles zeigt. John Michael Krois’ Arbeit an der ‚embodied cognition‘ verkörpert einen entsprechenden Anspruch an alle Wissenschaften, so auch an Theologie und Religionsphilosophie. Denn in platonischer,43 vor allem neuplatonischer, cartesischer oder idealistischer Tradition wurde auch in der Theologie der ‚body‘ unter Verdacht gestellt, Sitz all der Leidenschaften und Perturbationen zu sein, die im semantischen Feld von Schuld und Sünde siedeln. Die traditionellen Topoi dieses ‚dualen Systems‘ lauten: der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach; oder der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig. Kognition, zumal die cognitio Dei, galt daher als Abkehr von Fleisch und Leib, als eine Entsinnlichung (wie bei Plotin und Augustin, in den Varianten der Gnosis oder später auch in der Mystik – bis in die Vielfalt des ‚Puritanismus‘) oder Entweltlichung (wie noch Heidegger und Bultmann meinten). Wenn die Natur, die wir sind – Leib, Körper und Fleisch –, Sitz des sündigen Begehrens wäre und daher das 9. und 10. Gebot verkürzt werden konnten zu ‚Du sollst nicht begehren …‘, oder wenn ‚Welt‘ als Gegensatz zur ‚Kirche‘ gelten konnte, wird zum Erkenntnisideal die Entkörperung bis zur Entleibung, die Entweltlichung bis zur Weltlosigkeit: Der ‚regressus‘ wird zur Abwendung von der Welt in der Erkenntnis Gottes.44 Das führt in die asketischen Übungen, in der die Arbeit gegen den eigenen Körper negativer Ausdruck der Zuwendung zum körperlosen Heiligen wird (wie klassisch bei Heinrich Seuse, bis zur ‚Fußtuchvision‘). Heiligung als Denaturierung bis in die Entkörperung ist die via negativa der Verkörperung: in der finalen Auslöschung des Körpers unsichtbar zu werden, um dann beim Unsichtbaren zu sein. Sokrates trug seinen Jüngern auf, nach seinem Tod dem Asklepios einen Hahn zu opfern – als Dankopfer für den Tod als Heilung von der körperlichen Existenz. Diese Intuition bestimmt die negativistische Tradition der Entkörperung. Das ist nicht gleich gnostisch zu nennen, aber doch gnoseogen in seinem wirkungsgeschichtlichen Potential: potentiell gnosisproduktiv, wenn der epistemische Dual ontologisch ‚begründet‘ wird und zu metaphysischen Dualismen führt.
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Hans Blumenberg: Fragebogen, in: Frankfurter Allgemeine Magazin, Ausgabe 118, 4. 6. 1982, S. 25. Abgesehen davon, dass Platon allemal klüger war als viele Platonisten, so wie Aristoteles gegenüber den Aristotelisten – und so weiter. Nun wird dergleichen nur noch selten vertreten. Ein neuplatonisierender Papst etwa kann so sprechen, oder ein neuidealistischer Theologe könnte so fehlgehen.
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Vico wie Blumenberg oder Cassirer, Wind und John Michael Krois arbeiteten gegen diese prekäre Tradition an. Verkörperung statt Entkörperung ist dabei keine bloße Gegenbesetzung, die das Modell ihres ‚Wogegen‘ wiederholen würde. Es ist vielmehr eine Umbesetzung, wie sie oben bereits als Pointe der Christologie rekonstruiert wurde. Verkörperung im programmatischen Sinne kann nicht meinen, dass etwas zuvor Körperloses verkörpert wird oder sich verkörpert (wie immaterielle Ideen in die Materie abgebildet würden). Nicht etwas wird, sondern es ist unhintergehbar verkörpert. Das wäre Hans Blumenbergs ‚absoluter Metapher‘ entsprechend die ‚absolute Verkörperung‘, d. h. sie ist irreduzibel auf etwas zuvor oder nachgängig Körperloses. So wenig der Mensch körperlos gedacht werden kann (selbst in Visionen und Himmelsreisen bleibt doch die ‚Seele‘ als sublimierter Körper irreduzibel), so wenig ist das im Blick auf Ausdruck, Darstellung und Symbol möglich, selbst im Blick auf Gott nicht. Dabei ist es erstaunlich, wie hartnäckig der alte Dual als Denkgewohnheit wirksam bleibt. Einerseits erscheint das dualisierende Dispositiv mittlerweile so alt zu sein, dass es eher in das Museum der Wissenschaftsgeschichte gehört. Andererseits verhext es doch immer noch den Verstand, etwa in Gestalt von Wiedergängern in manchen Wissenschaftspopulismen. Das Problem der Dualisierung (von Geist und Leib, von mind und body wie von Gott und Welt) ist so persistent wie seltsam anachronistisch. Sie scheint vor allem ein in-vitroProdukt zu sein, theorieinduziert, eine Kopfgeburt. Denn in vivo erscheint sie ebenso abwegig wie an ‚den Phänomenen‘ der Verkörperung. Daher ist nur zu einleuchtend, dass John Michael Krois’ Arbeit an der embodied cognition gerade die Verkörperung als Paradigma wählte. Damit geht es nicht um eine Veranschaulichung von Gedanken, auch nicht um die Anschaulichkeit ‚Gottes‘, sondern „Rede, Schrift, alle Symbole verkörpern Sinn“,45 wie Krois mit Edgar Wind erklärt. Zugleich wird damit Wahrnehmung und Erkenntnis nicht mehr im Bewusstseinsmodell konzipiert, sondern basal von der körperlichen Wahrnehmung her: „Die Fähigkeit, das eigene Körperschema als bewegtes Tastbild zu fühlen, ist der Beginn der Bildkompetenz.“46 ‚Verkörperung‘ ist (im Sinne einer declaratio terminorum) daher zu differenzieren. Der doppelten Kontingenz jeder Kommunikation verwandt ist von einer doppelten Verkörperung auszugehen: auf Seiten des Artefakts wie des Artifex und des Artefakts wie des Wahrnehmenden.47 Verkörperung ist zudem 45 46 47
John M. Krois: Kunst und Wissenschaft in Edgar Winds Philosophie der Verkörperung, in: ders.: Bildkörper und Körperschema (wie Anm. 20), S. 3–23, 6. John M. Krois: Bildkörper und Körperschema, in: ders.:: Bildkörper und Körperschema (wie Anm. 20), S. 253–271, 271. Daher ist näher besehen die doppelte auch eine multiple Kontingenz: weil in einer Kommunikation nie nur ‚one to one‘ zwei beteiligt sind, sondern zumindest symbolisch eine Figur des Dritten mitgesetzt ist.
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nicht als ‚Substanz-‘, sondern als Funktionsbegriff zu verstehen, im Sinne von Cassirers Differenz.48 Denn mit dem Substanzmodell würde (in der Regel zumindest) eine von ihrer Verkörperung zu unterscheidende Form unterstellt, die in dieser oder jener ‚Materie‘ verkörpert sein kann. Das würde zudem eine dingliche Auffassung von Verkörperung befördern, nicht eine prozedurale, wie sie in den Formen des Lebendigen vorliegt. Als Funktionsbegriff hingegen ist Verkörperung stets wie bei einer Funktionsrelation eine Relation, deren Relate verkörpert sind. Krois’ These zum Ursprung der Bildkompetenz wie seine Studien zur basalen Bedeutung der Körperlichkeit in der Wahrnehmung zeigen das für die Seite des Wahrnehmenden ebenso wie für die des Wahrgenommenen. Sofern er mit Cassirer von der Basalität von Ausdrucksphänomenen ausgeht, ist Ausdruckssinn stets sinnlich verfasst, und das heißt für alles Lebendige ‚körperlich‘. Verkörperung hat auf diesem Hintergrund zunächst 1. einen wörtlichen Sinn: Der Wahrnehmende ist und hat Körper. Von daher gilt 2. übertragen auf das Wahrgenommene (metaphorisch gesprochen, nicht ohne Anthropomorphismus): Das Wahrgenommene ist Körper (wie ‚ich‘). Das vorausgesetzt hat Verkörperung 3. die Funktion eines Schemas bzw. Modells des Bildagenten wie der Bildinteraktion. Macht man dieses Schema zur Grundlage einer Bildtheorie wird Verkörperung 4. einen theoretisch zentralen Sinn entfalten. Sie ist nicht ‚nur‘ ein basaler Aspekt der Gegenstände und Voraussetzungen, sondern theorieleitend. Diese Bedeutung kann 5. prinzipialisiert werden, wie es bei Edgar Wind geschah, wenn Verkörperung 6. einen metaphysischen Sinn zugeschrieben bekommt. Die ‚radikale Verkörperung‘ (der ‚radikalen Metapher‘ bei Cassirer verwandt)49 nannte Wind daher einen „metaphysischen“ Vorgang, wie es Krois ausführte.50 Im Gefolge dessen ist es nur konsequent, Verkörperung 7. als theologischen Grundbegriff zu verstehen. Man braucht nur an die bereits genannten jüdischen Quellen des Christentums zu erinnern, um zu bemerken, Gott ist stets verkörpert, wie auch immer – und Theologie daher Verkörperungstheorie:
48 49
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Vgl. Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 6, hg. v. Birgit Recki, Hamburg 2007. Vgl. Philipp Stoellger: Die Metapher als Modell symbolischer Prägnanz. Zur Bearbeitung eines Problems von Ernst Cassirers Prägnanzthese, in: Dietrich Korsch/ Enno Rudolph (Hg.): Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie, Tübingen 2000, S. 100–138. Vgl. John M. Krois: Einleitung (wie Anm. 34), S. 33.
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in Gestalt der Tora (in Schriftbildlichkeit ihrer ‚graphé‘ oder der Sprachbildlichkeit der Narrationen und mancher Metaphern, der Bildlichkeit der artifiziellen Schriftrolle), in Gestalt des Tempelkults (in Kultbildlichkeit, wie sublimiert auch immer), in der Vorstellungswelt des Symbolischen und Imaginären wie der Eschatologie, oder in Gestalt der dem Bundesschluss entsprechenden Lebensform.
Dem folgt das Neue Testament recht radikal: Es gibt keine Menschenlosigkeit Gottes. Daher sind Gott und Glaube stets verkörpert, inkarniert, mit Sitz im Leben. Ent(neu)platonisierung des Christentums wäre die Programmformel, um Theologie im Sinne von John Michael Krois als embodied theology zu verstehen, um sie als Hermeneutik christlicher Lebensformen und Phänomenologie der wahrnehmbaren Verkörperungen auf ihre Lebenswelten und -formen rückzubeziehen. Dass dafür Bild und Bildlichkeit tragend sind, also die visuellen Kulturen, in denen christliche Religion sichtbar wird, dürfte einleuchten, auch wenn damit nicht das Auge allein ins Zentrum rückt. Denn Bilder sind nicht nur sichtbar, sondern wahrnehmbar. Die Verkörperungsthematik eröffnet die Aufgabe, Bildwahrnehmung als leibliches Geschehen zu begreifen, wie es in der Begehung von ikonischen Artefakten geschieht, in Religion wie im ‚Kunstbetrieb‘. Daher sollte die Verkörperung der Theologie nicht im Sinne einer Luthereffigie kurzgeschlossen werden. Die handwerkliche Simulation eines Körpers ist gewissermaßen wörtlich genommene Verkörperung. Andererseits ist das Schaurige solch einer effigie durchaus ein affektiver Index dafür, dass solch ein Artefakt ‚agiert‘, ‚bewegt‘ oder eine Kraft und Wirkung entfaltet, die durchaus dem Phänomen der ‚Rührung zu Tränen‘ verwandt ist, auf das Krois mit James Elkins wiederholt hinwies.51 Selbst solch eine verspätete effigie kann als „alter ego“52 wirken und auf gespenstische Weise mit den eigenen Ängsten interagieren.
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Krois: Bildkörper und Körperschema (wie Anm. 46), S. 254f; ders.: Für Bilder braucht man keine Augen. Zur Verkörperungstheorie des Ikonischen, ebd., S. 133– 160, 159 f. So Krois: Bildkörper und Körperschema (wie Anm. 46), ), S. 256; vgl. Philipp Stoellger: Das Bild als Anderer und der Andere als Bild? Zum Anspruch des Anderen als Bild seiner selbst und zum Bild als Anspruch des Anderen, in: Etica & Politica/ Ethics & Politics.. The Paths of the Alien. On the Philosophy of Bernhard Waldenfels, XIII/1 (Juni 2011), S. 230–247.
Oswald Schwemmer
D E R S I N N D E R SI N N L IC H K E I T
Sy mb ol isc he Präg na n z Wer auf einer Tagung zum Gedenken an John Michael Krois über den Sinn der Sinnlichkeit reden will, muss auf Ernst Cassirer Bezug nehmen. Wird doch in seiner berühmten Passage zur symbolischen Prägnanz eben dieser Sinn der Sinnlichkeit thematisiert. Die Rede von der symbolischen Prägnanz wird von Ernst Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen mit einer zugleich berühmten und schwierigen „Definition“ eingeführt: „Unter ,symbolischer Prägnanz‘ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ,sinnliches‘ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ,Sinn‘ in sich fasst und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt.“1 Mit dieser Formulierung wird der symbolischen Prägnanz die Verbindung zwischen Sinnlichkeit und Sinn zugewiesen. Wie Sinn im sinnlichen Erleben entsteht, erläutert Cassirer im Weiteren. Dabei ist es nicht so, dass Sinn zusätzlich zur abgeschlossenen Wahrnehmung eigens geschaffen werden müsste: „Vielmehr ist es die Wahrnehmung selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger ‚Artikulation‘ gewinnt – die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört. In ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit, ist sie zugleich ein Leben ‚im‘ Sinn. Sie wird nicht erst nachträglich in diese Sphäre aufgenommen, sondern sie erscheint gewissermaßen als in sie hineingeboren. Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen,
1
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 3. Teil, Phänomenologie der Erkenntnis, Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 13, hg. v. Birgit Recki, Hamburg 2002, S. 231.
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hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinn-Ganzes, soll der Ausdruck der ‚Prägnanz‘ bezeichnen.“2 Gemessen an ihrer Zitationshäufigkeit möchte man dieser Passage – zumindest in der Cassirer-Gemeinde – zum einen eine Art Kultstatus und damit zum anderen eine, zumindest dem Anspruch eines solchen Status geschuldete, restlose Verständlichkeit zugestehen. Das erste – also der Kultstatus – mag der Fall sein, das zweite – die restlose Verständlichkeit – aber nicht. Ist es verständlich, dass ein sinnliches Erlebnis „zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ,Sinn‘ in sich fasst und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt“? Ist also Sinnlichkeit als solche bereits ein nicht- oder übersinnliches Sinngeschehen? Tatsächlich behauptet Cassirer dem Wortlaut nach nicht, dass ein sinnliches Erleben immer einen nicht-anschaulichen Sinn in sich fasst. Man könnte seine Definition der symbolischen Prägnanz auch als eine Existenzbehauptung lesen, dass es dieses Verhältnis von sinnlichem Erleben und nicht-anschaulichem Sinn überhaupt gibt. Wie dem auch sein mag: Ich möchte in meinen Überlegungen im Feld der Sinnlichkeit bleiben, und zwar in einem Feld, in dem es um den immanenten, also den sinnlichen Sinn der Sinnlichkeit geht. Das mag zunächst verwirrend erscheinen. Sinnlichkeit im Selbstbezug ist aber auch für Cassirer kein Unding. Im Liniengleichnis oder auch in seinen Darlegungen zur Kunst geht es um Konfigurationen, die in sich selbst ein Spannungsverhältnis erzeugen können, das nicht auf anderes verweisen muss, sondern in und aus sich selbst heraus auf uns einwirkt. Man kann dies an Bildern im Unterschied zu Wörtern und sprachlichen Wendungen verdeutlichen. Letzteren kommt in ihrer rein sinnlichen – also phonetischen oder auch schriftbildlichen – Existenz noch kein nicht-anschaulicher Sinn zu. Der kann sich erst über eine Systematisierung dieser phonetischen oder visuellen bzw. schriftlichen Elemente ergeben. Eine solche Systematisierung erzeugt in Wörtern und Phrasen das Zeichengefüge einer Sprache, in dem vielfache Verweisungsmöglichkeiten bereitstehen, die einen auch nichtanschaulichen Sinn ergeben. Dieser nicht-anschauliche Sinn ist in verschiedenen Formen der Bezugnahme realisiert: der Bezugnahme der Zeichen auf das mit ihnen Gemeinte oder Gezeigte. Auch Bilder können einer solchen Bezugnahme dienen. Bilder gegenständlicher Kunst, zum Beispiel Porträts, Landschafts- und Städtebilder, zeigen, was sie abbilden. Dass damit aber der „Sinn“ – und damit meine ich das Verweisungsgefüge – eines Bildes nicht erschöpft ist, erweist sich schon in den vielfach realisierten Malsituationen, in denen man verschiedene Maler das gleiche Motiv hat malen lassen und völlig verschiedene Bilder erhielt. Noch größe2
Ebd., S. 231.
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re Unterschiede ergeben sich gewöhnlich, wenn man Abbildungen des gleichen Motivs aus verschiedenen Epochen miteinander vergleicht.
E x ter ner u nd i m ma nenter Bi ld si n n Diese Beobachtung führt uns zu einer Unterscheidung zwischen dem externen und dem immanenten Sinn von Bildern. Der externe Sinn ist in einem Bild realisiert, das auch eine Abbildung ist: der Sinn als sein externer Verweisungssinn. Der immanente Sinn eines Bildes ergibt sich in dem Formgefüge z. B. aus Linien und Farben, also als koloristische und flächige bzw. lineare Komposition, oder aber auch aus Materialien und Gegenständen – wozu auch Splitter von Gegenständen gehören. Dieser immanente Sinn der Bilder, den es – wie gesagt – auch in Abbildungen gibt, ist es, über den ich als den Sinn der Sinnlichkeit reden will. Und ich grenze noch einmal ein: Ich möchte nur über den Sinn reden, der sich nur in der Sinnlichkeit ergibt und zudem explizit, also auch in der Intention des Malers, als Gegensinn zum nicht-anschaulich bzw. begrifflich Sinnvollen des Bildsinns angestrebt ist: als begrifflicher Nichtsinn und sinnlicher Eigensinn des im Bild Gezeigten. Im Grunde könnte ich auch sagen, dass es mir darum geht, eine gewollte Sinnverweigerung im Bild anschaulich zu machen, die durch eine reine Sinnlichkeit erreicht werden soll. Da all dies – zumindest auf den ersten Blick – reichlich enigmatisch klingen mag, versuche ich, es an einigen (wenigen) Beispielen zu verdeutlichen. Geradezu eine Institutionalisierung solchen Unsinns und Nicht-Sinns finden wir in der Buchmalerei. Dabei wird übrigens der Unterschied zwischen Unsinn und Nicht-Sinn besonders deutlich. Beginnen wir mit dem Unsinn.
Bi ld u nd Sc h r i f t Dazu bedarf es einiger vorbereitender Bemerkungen. Im Verhältnis zwischen Bild und Schrift gibt es in verschiedenen Kulturen und den Epochen einer, nämlich auch unserer, Kultur verschiedene Formen von Nähe und Distanz. Vor allem in der islamischen Kultur finden wir kunstvoll arrangierte Ornamentalisierungen von Schrift- und Wortzeichen, deren visuelle Präsentation vielfach einer kodifizierten Tradition entspricht. Hier geht es dann nicht um Unsinn oder Nicht-Sinn, sondern um eine besondere Form der Heraushebung der Bedeutung des Geschriebenen, die mit dem Bildlichkeitsverdikt des Göttlichen zu tun hat. Sozusagen in der Gegenrichtung finden wir in der mittelalterlichen Buchmalerei – vor allem, soweit ich das wahrgenommen habe, in der gotischen
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Buchmalerei des 13. und 14. Jahrhunderts – eine bildliche Präsentation von schlichtem Unsinn. Dabei denke ich zunächst nicht an die ornamentalen Initialen der Schrift und Randbemalungen der Bilder, sondern an eigene bildliche Konfigurationen, die vielfach als Drolerien – also als Spaßbilder oder Grotesken – in die Bildwelt der entsprechenden Handschriften gleichsam hineingeschmuggelt wurden. Und in vielen Fällen bedarf es schon eines abgehärteten Humors, um diese Drolerien spaßig zu finden.
D roler ien Einige Beispiele mögen hier vorgestellt werden. Ich habe sie dem Goslarer Evangeliar (um 1240) entnommen, also einer Handschriften aus der Mitte des 13. Jahrhunderts. Das Goslarer Evangeliar beginnt mit einer Initiale B für „Beatissimo pape Damaso“. Sie ist in einer kleinen Miniatur eingebettet, auf der Hieronymus seine Bibelbearbeitung bzw. -übersetzung dem Auftraggeber, Papst Damasus, überreicht. Als Bildbeschreibung gibt der Kommentar zu dem Evangeliar an: „Im oberen, kleineren Bogen des B thront der Papst. Seinen geistlichen Rang verdeutlicht allein die Tiara. Der Papst, mit Nimbus als Heiliger gekennzeichnet, beugt tief das Haupt und streckt beide Arme der Gabe des Hieronymus entgegen. Dieser reckt sich hoch auf, um sein Buch Damasus zu präsentieren. Bart und Haar (mit deutlicher Tonsur) sind grau, das Karnat des Gelehrten ein wenig heller als das des Kirchenfürsten.“3 (Bild 1) Damit, so scheint es, ist das Bild beschrieben. Doch schauen wir uns nun das Bild genauer, das heißt: in allen seinen Teilen, an. Da sehen wir links – und zwar über die ganze Höhe des Bildes verteilt – von unten einen Vierbeiner, vielleicht einen Hund, der mit offenem Maul nach dem über ihm stehenden halbnackten Menschen schnappen zu wollen scheint. Rechts hinter dem Hund erkennt man einen bedrohlichen grünen Drachen, der mit seinem ebenfalls offenen Maul den Hinterbeinen des Hundes schon gefährlich nahe gekommen ist. Und mit einer überraschenden Ausdehnung über die ganze untere Bildhälfte zeigt sich ein blauer Drache, der den ganzen unteren B-Bogen ausfüllt und in Richtung Hieronymus sein Maul aufgerissen hat. Links über dem Menschen giften ein wiederum grüner Drache von unten und ein Löwe von oben einander an.
3
Das Goslarer Evangeliar.. Mit Erläuterungen von Renate Kroos und Frauke Steenbock, Graz 1991, Lizenzausgabe Darmstadt 21999, Kommentar S. 5 f.
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Bild 1 Hieronymus reicht Papst Damasus seine Bibelübersetzung hinauf, Goslarer Evangeliar, um 1240, fol. 2v.
Dass eine solche Drolerie ausgerechnet am Beginn des Evangeliars eingeschmuggelt wurde, hebt ihre Bedeutung – aber wohin? Ich denke: ins Nirgendwo der unbeherrschten Zonen, die auch ein Evangeliar umgeben. Sie soll gar keinen Sinn entfalten, die groteske Anreicherung der hoch sinnvollen und in ihrem Sinn erfassbaren Initialminiatur. Eine zweite Miniatur auf der ersten Seite des Lukas-Evangeliums (Bild 2) wird im Kommentar auch in ihrer sozusagen „abseitigen“ Seitenverlängerung nach unten eigens erwähnt und, wenn auch nicht in ihrem vollständigen Bildgehalt, erklärt. So interpretiert der Kommentar im Grunde nur den Jäger, der ganz unten aus dem Hinterhalt einen Pfeil auf den mit dem kleineren Drachen kämpfenden Menschen abgeschossen hat. Als Jäger aus dem Hinterhalt wird ein solcher Jäger in der Literatur oft mit den Dämonen gleichgesetzt. Die Drachen wären in dieser Sicht dann Symbole für List und Verführung. Aber selbst wenn all dies zuträfe, zeigt die Fülle des Bildes, das der eigentlichen Initialminiatur gleichsam angehängt ist, eine Freude an der Opulenz der Darstellung, die – mit ihrer Darstellung der beiden Hunde und dem Arrangement der beiden Drachen nebst ihrer Verwicklung in die Zierranken der Miniatur – weit über ihre mögliche Symbolfunktion hinausgeht.
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Bild 2
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Der Evangelist Lukas, Goslarer Evangeliar, um 1240, fol. 69v.
Bi ld zeic hen u nd Sc h r i f t for men Die Frage, die sich bei diesen Drolerien stellt, ist die nach der möglichen Motivation. Dazu ein Antwortversuch. Es gibt immer wieder Bildformen, die in unterschiedlicher Hinsicht eine Nähe zur Schrift haben. Und es gibt z. B. in der chinesischen Schrift Bildzeichen als Schriftzeichen für eine Silbe der chinesischen Sprache. Hier möchte ich mich aber auf die alphabetischen Schriften beschränken, in denen nicht Silben, sondern Buchstaben die Elemente der Schrift ausmachen, und in denen den Buchstaben außer ihrer Lautung kein eigener Sinn zugeordnet wird. (Dass ein Lautsinn immer wieder z. B. auch von den Brüdern Grimm in ihrem deutschen Wörterbuch jedenfalls für die Vokale unterstellt worden ist, mag hier nur als wenig plausibel am Rande vermerkt wer-
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Bild 3 Der Evangelist Lukas, Goslarer Evangeliar, um 1240, fol. 69v., Detail.
den.) Eine mögliche Zuordnung von Schrift und Bild hängt dann vom Charakter der Bilder und nicht von dem der Schrift ab. So findet sich eine besondere Nähe der Bilder zur Schrift in der griechischen Vasenmalerei. Wenn wir diese flächigen Vasenbilder betrachten, stellen wir eine Art schriftförmiger Bilder fest, die – ganz im Gegensatz zu den Plastiken – auf hoch prägnante Grundformen fast wie in den Buchstaben der Schrift reduziert sind. Und diese Schriftförmigkeit hat sich auch in der Sprache niedergeschlagen. Es ist das gleiche Wort – γράμμα –, mit dem wir im Griechischen einen Buchstaben (und übrigens auch die Schrift überhaupt oder ein ganzes Buch usw.) oder ein Gemälde bezeichnen können. Und dies gilt ähnlich
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für die γραφή: die Schrift oder das Gemälde, das Schreiben oder die Malerei. Und auch der γραφέυς kann sowohl der Maler als auch der Schreiber sein. In der mittelalterlichen Buchmalerei finden wir noch eine stärkere Formähnlichkeit der Bilder zur Schrift. Bis hin zur Wende vom 14. ins 15. Jahrhundert, also bis zum Ausgang der gotischen Buchmalerei, begegnen uns weitgehend stereotype, und zwar von den jeweiligen Charakteristika der Schreibschulen geprägte Formen, die in den gemalten Gesichtern und Körpern keinerlei Individualität erkennen lassen. So gibt es etwa den sogenannten Langnasenmaler, der seinem gemalten Personal immer eine etwas längere Nase als üblich, und auch diese nur in einem immer wiederholten Linienschema, zuteilte.
Bi lder a ls Z eic hen Die Identifikation der Figuren ergab sich also nicht aus den gemalten körperlichen Besonderheiten einer Person oder den Gesichtszügen, wie wir sie in einem Porträt finden, sondern aus vielfach normierten Zeichen: aus Haltung, Größe, Abstand zu den anderen Personen, Gewandung, symbolisch definierter Kleidung und Ausstattung und Ähnlichem. Es konnte jedenfalls niemandem gelingen, auf den Bildern eine Person alleine aus ihrer rein körperlichen Präsenz zu erkennen. Erst durch die kodierten und damit zeichenhaften äußeren Attribute wurde sie zu der Person, die dargestellt sein sollte. Mit anderen Worten: In dieser Buchmalerei waren die Bilder nicht abbildlich gemalt und gemeint, sondern sie wurden als eine bestimmte Zeichenkonfiguration präsentiert. In seinem Kommentar zum Stundenbuch Les Belles Heures du Duc de Berry aus dem Ende des 14. Jahrhunderts (um 1380) spricht Eberhard König hier von „Bildauffassungen, die ganz vom Begrifflichen ausgehen“ und von einer diese ablösenden „Malerei […], die Körper und Gestik neuerprobt“ bzw. von „Bildvokabeln“ einerseits und von rein bildlich realisierten „Kompositionselementen“ andererseits.4 Mit diesem Zeichencharakter der Bilder stellen sich aber auch Regeln ein. Man könnte metaphorisch von einer Orthographie der Bilder sprechen. Und eben diese Orthographie bringt als Regelkanon der bildlichen Darstellungen ein statisches Moment in die Buchmalerei: feste Konventionen, innerhalb derer es nur einen geringen Spielraum für Variationen gibt. Ein Geniekult des kreativen Individuums wird damit schon im Ansatz ausgeschlossen. In vielen Fällen passieren die Abweichungen eher, als dass sie gewollte Variationen sind. So gab es wohl Musterbücher für Bildmotive und Regeln für die z. B. wappen-
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Eberhard König: Die Belles Heures des Duc de Berry, Stuttgart 2004, S. 54.
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kundlich korrekte Anordnung der Figuren. Da „das, was im Bild links erscheint, heraldisch rechts und deshalb höherwertig war als das auf der anderen Seite“,5 waren auch die Seiten in ihrer Wertigkeit für das Dargestellte festgelegt. Wo aber ein orthographisches Regelsystem besteht, mag die Übertretung dieser Regeln einen eigenen Reiz entwickeln. Gäbe es diese Regeln nicht, gäbe es auch nicht deren Übertretung. Wo ein anything goes die Szene bestimmt, bringt auch das Ungewöhnliche oder Unwahrscheinliche keine besondere Anziehungskraft zustande. Es bleibt den meisten gleichgültig. Mit solchen Regeln und vor allem mit den statuarischen Regeln einer Orthographie muss es den Malern unter den Fingern gejuckt haben, kleine Ausbruchversuche aus diesem System anzuzetteln oder durchzuführen. Diese Ausbruchversuche müssen dabei nicht von einem gezielten Protest oder einer überlegten Verweigerung getragen sein. Sie scheinen einfach Regelübertretungen gewesen zu sein, mit denen man sich selbst als Maler ein kleines Stück Freiheit erobern konnte. Ihr Sinn war ein Sinn der reinen Sinnlichkeit, der im Prozess des Malens seine Erfüllung fand.
O r na ment a le Bi lder Man könnte nun weitergehen und neben den figuralen Abweichungen auch die ornamentalen Rand- oder Rahmenausmalungen der Handschriften auf ihren Sinn hin befragen. Auch hier bleibt der Sinn ja rein anschaulich, auch wenn durch solche ornamentalen Zusätze die Bedeutung des figural Gemalten des Bildes oder auch der gesamten Handschrift unterstrichen wurde. Dabei ist zu unterscheiden zwischen den üppig verzierten und bis in die kleinsten Details hinein ausgemalten Bildrahmen, wie wir sie insbesondere in den Handschriften des 14. und 15. Jahrhunderts – etwa in den Stundenbüchern des Duc de Berry und des Bedford Meisters – finden, und den im Vergleich dazu eher bescheidenen und skizzenhaften Randverzierungen im bereits vorgestellten Goslarer Evangeliar aus dem 13. Jahrhundert. Ein kleines Beispiel aus diesem Evangeliar mag zumindest eine Vorstellung von solchen Randverzierungen bieten. Wie man sieht, geht es hier um schlichte geschwungene Buchstabenverlängerungen in den Rand des Textes hinein und – wenn auch nicht immer – um ährenförmige Ausweitungen dieser Zierlinien: in diesem Fall unter den Textspiegel verlegt. Wo wir bei den Drolerien zumindest einen gegenständlichen Sinn, wenn er auch rein anschaulich bleibt, erkennen können – nämlich Menschen und Tiere
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Ebd., S. 46.
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Bild 4
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Textseite mit Randverzierungen, Goslarer Evangeliar, um 1240, fol. 16r.
in einem sozusagen erzählerischen Zusammenhang –, fehlt in den farbigen Linienornamenten auch dieser. Sie sind reine Ausschmückungen nach bestimmten Mustern: Uns begegnet hier ein Sinn des rein Ornamentalen, eines figurativen Linienspiels ohne weitere Bedeutung (Bild 4).
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O r na ment u nd Abst ra k t ion Man könnte nun solche Beispiele eines sinnlichen Bildsinns in anderen Epochen der Malerei vorstellen – und dies im Übrigen auch innerhalb der prallen Schein-Naturalistik der Renaissance. So malt Leonardo, wie in der Ausstellung „Gesichter“ zu sehen war, im Porträt der Cecilia Gallerani (der Dame mit dem Hermelin) die elegant gekrümmte rechte Hand, mit der Cecilia das Hermelin hält, überdimensioniert – und erreicht dadurch in der hervorgehobenen Konfiguration von Hermelin und Hand eine Intensivierung des Porträts. Ähnliches finden wir bei der Mona Lisa, dem Inbegriff des unmittelbar Gegenwärtigen. Er schafft in diesem Bild artifizielle Schattierungen, die nicht den natürlichen Lichtverhältnissen entsprechen. Wie Frank Zöllner feststellt, ging es „in Leonardos Malerei nicht mehr nur um die exakte Wiedergabe der Natur, sondern auch um einen malerischen, autonomen Effekt“6 und damit um einen Effekt in der rein sinnlichen Konfiguration. Als abschließendes Beispiel möchte ich hier eines aus dem 20. Jahrhundert angeben, das in einer geradezu abstandslosen Nähe zu dem reinen Liniensinn der eben gezeigten Handschriftseite aus dem Mittelalter passt. Es ist dies ein Bild von Jasper Johns – und diesmal keines seiner Flaggenbilder (Bild 5). Ich habe das Bild, das sich im Ausstellungskatalog mit dem programmatischen Titel „Ornament und Abstraktion“ findet, darum ausgewählt, weil Jasper Johns selbst einen kleinen Kommentar dazu gibt: „Es hatte […] all das an sich, was mich interessiert – das Konkrete, das Repetitive, etwas Obsessives, Ordnung, verbunden mit Plattheit, und die angedeutete Möglichkeit vollkommener Bedeutungslosigkeit.“7 Dies hätte auch, wäre er denn schon ein Intellektueller gewesen, ein ornamental interessierter Buchmaler des Mittelalters sagen können. Die „angedeutete Möglichkeit vollkommener Bedeutungslosigkeit“ – dies ist die Zauberformel für die Charakterisierung eines in seiner reinen Sinnlichkeit verbleibenden Bildsinns. Dieser Sinn der Sinnlichkeit schafft autoritätsfreie Zonen, in denen keine Botschaften verfasst und gesendet werden oder zumindest nicht verfasst und gesendet werden müssen. Hier herrscht der Spieltrieb über den Ernst des Lebens. Es geht, wie Norbert Wolf über Dürers „figürliche Capricci“, aber auch die Fauna und Flora z. B. in Kaiser Maximilians Gebetbuch von 1515 schreibt, nicht um „theologische oder moralische Hinweise“, sondern um ein „rein imaginatives Spiel“, das die „kreative Freiheit der Marginalien“ blühen lässt.8 Es müssen 6 7 8
Frank Zöllner: Leonardo da Vinci. Sämtliche Gemälde und Zeichnungen, Köln 2007, S. 161. Markus Brüderlin (Hg.): Ornament und Abstraktion. Kunst der Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog, Köln 2001, S. 167. Norbert Wolf: Albrecht Dürer, München 2010, S. 169.
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Bild 5 Jasper Johns: Corpse and Mirror, 1976/77, Öl auf Leinwand, 183 × 244 cm, Budapest, Ludwig Museum.
keine Zwecke genannt oder erreicht werden. Es herrscht, wenn man so will, die reine Immanenz der Sinnlichkeit. Und dies kann man auch in einem anderen Bezugsrahmen formulieren. Nicht zuletzt, um hier dem Genius Loci gerecht zu werden, lässt sich diese Immanenz auch als eine besondere Form des Bildaktes verstehen, als eine Form nämlich, in der der Aktcharakter gleichsam unvermischt mit inhaltlichen Aspekten auftritt: als reine, alleine in sich existierende bzw. sich ereignende Aktualität, als – wie ich mir im Selbstzitat zu sagen erlaube – reines „Ereignis der Form“. Einen solchen reinen Akt kannte schon die scholastische Philosophie. War doch einer ihrer Grundbegriffe dieser reine Akt, nämlich der „Actus purus“. Und dabei wäre daran zu erinnern, dass „Actus purus“ in der Scholastik eine Charakterisierung der Natur Gottes war. Soll diese Erinnerung einen Wink zur Interpretation enthalten, dann könnten wir zu dem Ergebnis kommen, dass der rein immanente Sinn der Sinnlichkeit, der eine Akt also, etwas Göttliches an sich hat. Ist dem so, dann wäre „die angedeutete Möglichkeit vollkommener Bedeutungslosigkeit“, die wir auch in der Buchmalerei finden, eine Entdeckung spielerischer Selbstgenügsamkeit, über die hinaus nichts mehr zu fordern ist. Das gilt denn auch für meinen Vortrag.
Barbara Naumann
KÖR P E RG E S T E N Z W I S C H E N BI L D UND SCHRIF T Victor Hugos Zeichnungen und Tuschen
Georges Hugo, ein Enkel des großen Schriftstellers und Malers Victor Hugo, berichtet folgendermaßen über die Zeichen- und Laviertechnik seines Großvaters: „Il jetait l’encre au hasard en écrasant la plume d’oie qui grinçait et crachait en fusées. Puis il pétrissait pour ainsi dire la tache noire qui devenait bourg, lac profond ou ciel d’orage; il mouillait délicatement de ses lèvres la barbe de sa plume et en crevait un nuage d’où tombait la pluie sur le papier humide; ou bien il en indiquait précisément l’horizon. Il finissait alors avec une allumette de bois et dessinait de délicats détails d’architecture, fleurissant des ogives, donnant une grimace à une gargouille, mettant la ruine sur une tour et l’allumette entre ses doigts devenait burin.“1 Das zeichnerische und malerische Werk Hugos, meist Arbeiten auf Papier, hat schon bei Zeitgenossen wie Charles Baudelaire2 und Théophile Gautier und erst 1
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„Wie zufällig spritzte er die Tinte umher, indem er die Gänsefeder zerdrückte, die dabei krachend kleine Geschosse verteilte. Danach fixierte er sozusagen den schwarzen Fleck, der zu einer Burg, einem tiefen See oder einem Gewitterhimmel werden konnte; er feuchtete mit seinen Lippen vorsichtig den Federkiel an und kratzte eine Regenwolke auf das nasse Papier; oder aber er zeichnete eine präzise Horizontlinie ein. Er brachte das Ganze mit einem Streichholz zu Ende, mit dem er feine Details der Architektur wie Spitzbogen einzeichnete oder einem Wasserspeiher ein Gesicht verlieh. Er setzte eine Ruine auf einen Turm , und das Zündholz zwischen seinen Fingern wurde zu einem Grabstichel.“ (Übers. v. Verf.) – Dies hat der Enkel Victor Hugos in der Zeit nach dessen Exil beobachten können. Georges Hugo: Mon grand-père (1902), Whitefish, MT 2009, S. 27. Baudelaire lobte in einem Brief an Hugo dessen Zeichnungen in Chinesischer Tinte, die er im Pariser Salon von 1859 gesehen hatte. Baudelaire bezeichnete sie in seiner Kritik des Salon de 1859 als Äußerungen einer „wunderbaren Einbildungskraft“, die „pulsiere“ wie „ein himmlisches Geheimnis“ („[L]a magnifique imagi-
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recht bei den Rezipienten des 20. Jahrhunderts, etwa den Surrealisten André Breton, Pablo Picasso und Jean Cocteau, Staunen und Bewunderung hervorgerufen. Hugos Zeitgenossen, allen voran Charles Baudelaire, hatten ihn als großen Landschaftsmaler bezeichnet, dies aber in erster Linie auf seine Dichtungen und Romane bezogen; nach der Ausstellung einiger Tuschen im Salon von 1859 wandte man den Begriff des „paysagisten“ auch auf Hugos malerisches Werk an. Die Surrealisten meinten, einen der ihren avant la lettre in Hugos Bildwerken zu erkennen. Wie der Bericht des Enkels George zeigt, ließ Hugo der Selbstorganisation eines Tintenflecks auf feuchtem Papier ebenso viel Freiheit wie der schnellen und impulsiven Bewegung seiner Hand mit dem Pinsel. Der Mal- und Zeichenakt bezog noch weitere Körperteile mit ein: Hugo ließ Mund, Lippen und Speichel beim Malen aktiv werden. Zuweilen versuchte der Künstler sogar, das Auge nahezu gänzlich auszuschalten und so dem Zufällig-Ereignishaften der Formentstehung seinen Lauf zu lassen, indem er im Dunkeln malte. (Bilder 1, 2)
Bild 1 Victor Hugo: Composition abstraite, um 1864–1869, braune Tinte, 13,3 × 24,3 cm, Paris, Maison de Victor Hugo, Inv. 2428.
Der unkonventionelle Umgang mit ungewöhnlichen Materialien wie Schuhcreme, Tinte, Chinatusche, Kaffee und anderen dunklen Flüssigkeiten, mit abgebrannten Zündhölzern und zerdrückten Federkielen ist Zeuge einer von heute aus modern anmutenden Experimentierfreude. Konturlose Farbflenation qui coule dans les dessins de Victor Hugo, comme le mystère dans le ciel. Je parle de ses dessins à l’encre de Chine, car il est trop évident qu’en poésie notre poète est le roi des paysagistes.“ Charles Baudelaire: Œuvres complètes, 2 Bde., hg. v. Claude Pichois, Paris 1976; Bd. 2, S. 668. – Zum Bezug Baudelaires auf Hugo s. auch: Thomas Bremer/Günter Oesterle: Arabeske und Schrift. Victor Hugos „Kritzeleien“ als Vorschule des Surrealismus, in: Susi Kotzinger/Gabriele Rippl (Hg.): Zeichen zwischen Klartext und Arabeske, Amsterdam/Atlanta 1994, S. 187–217).
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cken, durch Klappdruck mit Symmetrie versehen, tauchen bei Hugo in einer Art Vorwegnahme von Rohrschachtests auf. Ein großer Anteil an Ungegenständlichem, Unentzifferbaren und nicht zuletzt die Verschränkung von Schrift und Bild in einem Bildraum –, all dies erstaunte bei einem Künstler, der vor allem als Romancier, Lyriker und Dramatiker geschätzt wurde und dessen literaturtheoretische Texte zugleich als Wegweiser der französischen Romantik und als Wegbereiter des Realismus verstanden werden können. Nur am Rande sei hier deshalb auf die lange Geschichte des assoziativen Experimentierens mit freien Formen in der bildenden Kunst verwiesen. In einem anderen historischen und konzeptionellen Kontext stand beispielsweise
Bild 2 Victor Hugo: Paysage et nom, um 1856–1858, Sammlung Jan Krugier und Marie-Anne Krugier-Poniatowski, Kat. Nr. 38.
Leonardo da Vincis Ratschlag an seine Schüler, sich von unförmigen Flecken auf Wänden zu Landschaften und Ähnlichem inspirieren zu lassen: „[…] wenn du in allerlei Gemäuer hineinschaust, das mit vielfachen Flecken beschmutzt ist, oder in Gestein von verschiedener Mischung – hast du da irgendwelche Szenerien zu erfinden, so wirst du dort Ähnlichkeiten mit diversen Landschaften finden, die mit Bergen geschmückt sind […].“3 3
Leonardo da Vinci: Schriften zur Malerei und sämtliche Gemälde, hg. v. André Chastel, München 2011, S. 384 f. (Für den Hinweis danke ich Horst Bredekamp).
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Bild 3 Victor Hugo: Composition abstraite, um 1856, braune Tinte, 5,8 × 12,1 cm, Paris, Maison de Victor Hugo, Inv. 1393. Bild 4 Victor Hugo: Taches-Voilures, um 1862, Feder, braune Tinte und Lavierung, 13 × 14 cm, Bibliothèque nationale de France, NAF 13351, f. 20.
Die unförmigen Flecken jedenfalls suchte Hugo nicht nur zu entdecken und dann zu interpretieren; er verfertigte sie selbst. Selten folgte Hugo beim Zeichnen einem mimetischen Impuls; vielmehr kam es ihm darauf an, die Umrisse und Formen aus der Zufälligkeit verlaufender Farbflächen entstehen zu lassen. Er beobachtete dabei die allmähliche Verfertigung einer „Physiognomie“ – die durch den Einsatz der ganzen Physis des Malenden zustande kommen sollte. Da mit den Armen, Händen, Fingern, Lippen und mit dem Speichel der ganze Körper des Künstlers beim Zeichenakt aktiv war, ist das Bild bzw. die Zeichnung Hugos nicht Resultat eines nur von Auge und Hand angeleiteten Prozesses. Ebenso wenig folgten die Tuschearbeiten einer vorgängigen, einer apriorischen Idee des Bildes oder Bildmotivs, die mit Hilfe von Auge, Hand und Farbmaterial realisiert würde. Vielmehr komponierte Hugo das Bild und die Schrift aus einem Suggestionspotential der Form heraus, die als liquide begriffen wurde. Hugos Bildakt suchte nach dem, was sich zeigt.
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Bild 5 Victor Hugo: „Dentelles et Spectres“, 1855–1856, braune und blaue Tinte, 6 × 6,8 cm, Paris, Maison de Victor Hugo.
E i ne hybr ide Bi ld for m Strebte Hugo indes feste Formen und Konturen an, so platzierte er nicht selten fertige Objekte wie Spitzenstoffe und Papierausschnitte auf dem Papier und ließ dann wiederum dem Prozess der freien Assoziation Raum, indem er solchen „objets trouvé“ nach und nach die Bestimmtheit eines Gegenstands abgewann. In einem dem Schreiben mit der Feder ähnlichen Prozess trug Hugo in die meisten seiner Nachtbilder dann Linien, Konturen und kühne Perspektiven ein, die ihrerseits das bildsemantische Potential der Farbflecke als landschaftliche Aspekte interpretierten: Burgen und Kathedralen, Klippen am Meer, Abgründe und Hügel, Meereswogen und Hafenbefestigungen und andere Dinge entstanden in ihrer Gegenständlichkeit durch Überschreibung und Einzeichnung in die Flächigkeit des unregelmäßig umrissenen Untergrunds. In dieser doppelzügigen Arbeitsform, im freien Fließen der Farbflecke und dem nachträglichen Konturieren von Gegenständen durch Linien, liegt das Dispositiv einer hybriden Bildform. Deren farbige Flächigkeit wird kombiniert mit Schrift oder schrift-
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ähnlichen Formen: Schrift ist für Hugo unter anderem auch farbige Flächigkeit.4 Überdies erzeugte Hugo die charakteristische Lichtarmut seiner Bilder, ihre Düsternis, das Dunkel-Geheimisvolle der Nachtstücke, just mit den Mitteln, die der Autor zu seinem literarischen Handwerk benötigt: Es sind dies Tinte und Tusche, aber auch diverse Stimulantien wie Kaffee, Tee, Wein usf. Die Vorliebe des romantischen Autors für die Dämmerstunde, die „heure crépusculaire“, findet in diesen Stoffen ein Bildpotential, das eine metonymische Verbindung zwischen Malen, Schreiben und der Anregung des Geistes im Interesse beider Tätigkeiten schafft. Wie kommt nun ein Dichter zu einer solchen Freiheit des bildnerischen Ausdrucks, die ihn zu Bildwelten von quasi-avantgardistischer und zuweilen quasi-surrealistischer Manier vorstoßen ließen?5 Der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman hat eine Erklärung für dieses Phänomen in Hugos Auseinandersetzung mit dem Körper zu finden gesucht. Mit dem Hinweis auf die ubiquitäre Herrschaft eines Körperphantasmas im Bild hat er einen der bisher avanciertesten Interpretationsvorschläge geliefert. Didi-Huberman bringt die körperliche Aktivität des Künstlers beim Zeichnen in Verbindung mit einem generell Hugos Künsten unterliegenden, psychologisch begründeten Körperphantasma. Die Zeichnungen bildeten einen von „der Bewegung des Unbewußten“6 geleiteten, anthropomorphisierten Bildraum, der die Tendenz aufweise, alle Dinge in ein organisches Kontinuum einzuordnen. Didi-Huberman macht denn auch ein Motiv für diese organisch-anthropomorphisierende Tätigkeit des Malers aus: eine Form der Hypochondrie. Didi-Huberman fasst die Hypochondrie, mit Pierre Fédida, als eine „somatische Theorie des Denkens“ auf, die vor allem durch die „Entsubjektivierung der Körpererfahrung“ charakterisiert sei. Ein „hypochondrischer Schatten“ mache sich in den meisten Bildwerken Hugos bemerkbar.7 Alles, jedes Objekt vermöge die aus der Hypochondrie gewonnene Energie in ein im Bild wiedergegebenes „hyperbolische[s] Organ“ zu transformieren und eben dadurch eine „bemerkenswerte Macht der Figurabilität“, eine über die Differenz von Bild und Schrift hinausgehende hybride Grundfigur, zu erreichen.8 Aus diesem Grunde bezeichnet Didi-Hubermann den Bildtypus Hugos – in Erweiterung seiner eigenen Theorie des „symptomalen Bildes“ – als „hypochondrisches Bild“. 4 5 6 7 8
S. dazu: Horst Bredekamp/Sibylle Krämer (Hg.): Bild – Schrift – Zahl, München 2003 (Reihe Kulturtechnik). Vgl. dazu: Otto Stelzer: Die Vorgeschichte der abstrakten Kunst. Denkmodelle und Vor-Bilder, München 1964, S. 87. Georges Didi-Huberman: Das hypochondrische Bild, in: Erika Fischer-Lichte/ Nicola Suthor (Hg.): Verklärte Körper, München 2002, S. 223–247, 238. Ebd., S. 240. Ebd.
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Bild 6 Victor Hugo: Souvenir de Chelles, 1845, Feder und Federfahne, braune Tinte, 10 × 15,4 cm, Maison Victor Hugo, Paris, MHVP D 893.
Mit diesen Thesen eröffnet Didi-Huberman ein psychoanalytisch informiertes Sprachspiel über Hugos Werke. In letzter Konsequenz bleibt die kühne Bildsprache Hugos damit einem Darstellungsparadigma verpflichtet, das die Bildform als Darstellungsraum eines außerbildlichen, nämlich eines unbewussten Konflikts wahrnimmt. Von mindestens ebenso großem Interesse scheint mir dem gegenüber aber die Frage nach dem Entdeckungspotential dieser Zeichnungen und nach einem im Bild wirksam werdenden aktiven Moment zu sein. Ich möchte also, mit Ernst Cassirer, nach der erkenntniskritischen Leistung dieser Zeichnungen fragen. Um diese Leistung genauer einzuschätzen, lohnt sich ein Blick auf den Umstand, dass der Schriftsteller Hugo, der ein prominenter Theoretiker der literarischen Romantik war, sich als Anwalt einer von präskriptiven Poetiken entbundenen, offenen Dichtung verstand. Schon in dem bedeutenden Vorwort zu seinem Drama Cromwell (1827/27) wandte Hugo sich, scheinbar Nietzsches kühnen Erneuerungsgestus vorwegnehmend, als ein Philosoph „mit dem Hammer“,9 gegen die reglementierenden „Gipsmasken“ vor der Fassade der Kunst: 9
Vgl. Rede vom Hammer Gottes im AT, Jeremia 51, V. 20. – Zur Rede vom Philosophieren mit dem Hammer s. Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert (1889).
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„Mettons le marteau dans les théories, les poétiques et les systèmes. Jetons bas ce vieux plâtrage qui masque la façade de l‘art! Il n‘y a ni règles, ni modèles; ou plutôt il n’y a d’autres règles que les lois générales de la nature qui planent sur l’art tout entier, et les lois spéciales qui pour chaque composition résultent des conditions d’existence propres à chaque sujet. Les unes sont éternelles, intérieures et restent; les autres variables, extérieures, et ne servent qu’une fois.“10 Hugo hat im Rahmen seiner poetologischen Aussagen bereits eine ausführliche Argumentation im Hinblick auf die Entgrenzung der Form geliefert. Dies zeigt, in welch grundsätzlicher Weise Hugo sich mit Fragen der Form und Formung befasste. In seinen Zeichnungen und Tuschebildern fand er dafür ein neues, von Gattungskonventionen und Publikumserwartungen freigestelltes Medium. Der Dichter empfand diese besondere Freiheit der Malerei als „Zwischenspiel“ und Entlastung von Zwängen, die er als Autor und öffentliche Persona erfuhr: „Cela m’amuse entre deux strophes“; mit diesen Worten im Begleitbrief sandte er eine seiner Zeichnungen an Baudelaire,11 wobei der Vers selbst für Hugo auch eine bildlich-optische Seite aufweist:„Le vers est la forme optique de la pensée.“12 Die nicht-gebundene Form des freien Verses war das, was Hugo als neue poetische Möglichkeit der romantischen Literatur vorschwebte: „[N]ous voudrions un vers libre, franc, loyal, osant tout dire sans pruderie, tout exprimer sans recherche; passant d’une naturelle allure de la comédie à la tragédie, du sublime au grotesque; tour à tour positif et poétique, tout ensemble artiste et inspiré, profond et soudain, large et vrai“.13 Hugo stellt Gedanken der Formgebung und der Befreiung von jeglichem regulativen Formverständnis immer in den metaphorischen Kontext des Körpers. So kann ein Vers die Umarmung des Gedankens sein, eine Figur, Figuration und sogar ein Elixier, das den Gedanken leichter schlucken lässt: „Chez lui [Molière], le vers embrasse l’idée, s’y incorpore étroitement, la resserre et la développe tout à la fois, lui prête une fi10
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Victor Hugo: Cromwell (1827/27) Paris 1968, hier: Préface, S. 88. „Schlagen wir die Theorien, die Poetiken und die Systeme mit dem Hammer entzwei. Reißen wir den alten Putz nieder, der die Fassade der Kunst überzog. Weder gibt es Regeln noch Vorbilder; oder besser: es gibt keine anderen Regeln als die allgemeinen Naturgesetze, die für die Kunst in ihrer Gesamtheit gelten, und besondere Gesetze, die sich für jedes Werk aus den Bedingungen des jeweiligen Gegenstands ableiten. Die einen sind ewig, ins Innerste eindringend und beständig; die anderen sind veränderlich, gelten dem Äußeren und bestehen nur für den Einzelfall.“ (Übers. v. Verf.) Brief Hugos an Baudelaire vom 29 April 1860, in: Œuvres complètes, hg. v. Jean Massin, Bd. 12, Paris 1969, S. 1097 f. Hugo: Cromwell. Préface (wie Anm. 10), S. 95. Ebd.
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gure plus svelte, plus stricte, plus complète, et nous la donne en quelque sorte en élixir.“14 Aus diesem Grund kann es keine feste Form avant la lettre geben, die der leiblich aufgefassten Physiognomie des Gedankens und der Sprache adäquat wäre: „C’est donc en vain que l’on voudrait pétrifier la mobile physionomie de notre idiome sous une forme donnée.“15 Im Interesse seiner Kritik an der klassischen Regelpoetik verwirft Hugo die fixierende Auffassung der regulativen oder präskriptiven Grammatik. In der Logik seiner Umwertung des Formbegriffs erscheint selbst die Grammatik als ein sprachliches System des Wandels; sie sollte sich als Dienerin eines individuellen Idioms und nicht als Gefangene der Sprachlogik verstehen: „Notre Dame la grammaire mène l’autre [la logique de la langue] aux lisières; celle-ci tient en laisse la grammaire. Elle peut oser, hasarder, créer, inventer son style: elle en a le droit.“16 So stark Hugo die Funktion der Physiognomie, des Körpers in der literarischen Darstellung des Gedankens und der seelischen Bewegung betont, so nachdrücklich verankert er die Körperbezogenheit in einer geschichtsphilosophischen und religionskritischen Perspektive auf die Kunst. Für Hugo ist es nämlich das Christentum, das mit seiner Zweiteilung von Seele und Körper, von irdischleiblichem Dasein und ewigem Leben eine Spaltung in das Denken gebracht und den Menschen zum Schnittpunkt zweier Sphären gemacht habe. „Une religion spiritualiste, supplantant le paganisme matériel et extérieur, se glisse au cœur de la société antique, la tue, et dans ce cadavre d’une civilisation décrépite dépose le germe de la civilisation moderne. Cette religion est complète, parce qu‘elle est vraie; entre son dogme et son culte, elle scelle profondément la morale. Et d’abord, pour premières vérités, elle enseigne à l’homme qu’il a deux vies à vivre, l’une passagère, l’autre immortelle; l’une de la terre, l’autre du ciel. Elle lui montre qu’il est double comme sa destinée, qu’il y a en lui un animal et une intelligence, une âme et un corps; en un mot, qu’il est le point d’intersection, l’anneau commun des deux chaînes d’êtres qui embrassent la création, de la série des êtres matériels et de la série des êtres incorporels, la première, partant de la pierre pour arriver à l‘homme, la seconde, partant de l‘homme pour finir à Dieu.“17 14 15 16 17
Ebd. Ebd., S. 97. Ebd. Ebd., S. 66. „Eine vergeistigte Religion ersetzt das dem Stofflichen und der Außenwelt zugewandte Heidentum; sie dringt ein in das Herz der antiken Gesellschaft, tötet sie und senkt in den Leichnam einer zerfallenden Kultur den Keim der mo-
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Die irdischen und leiblichen „Ketten“ der Schöpfung verbinden extreme Pole miteinander, wie das Schönste und Hässlichste. Mit der Figur des hässlichen Menschen Quasimodo, der in der Kathedrale Notre Dame zum Retter der weiblichen Unschuld wird, hat Hugo wohl eine der populärsten literarischen Figuren genau im Kontrapunkt dieser „Ketten“ platziert. Körperlich extrem hässlich und abstoßend, gelingt es Quasimodo, seine Entstellung in eine moralisch gute und „schöne“ Handlungsweise zu transformieren. Die Zerrissenheit des christlichen Menschen bildet für Hugo den Ausgangspunkt seiner Überlegungen zu einer Signatur der Moderne. Sie kehrt auf der Bildebene als Auseinandersetzung zwischen der Materialität des Signifikanten (Material, Form) und seiner Bedeutung wieder: Die Materialität des Zeichens erhält in den Bildwerken ein Eigenleben und ist nicht unmittelbar – oder nicht unbedingt – in Bedeutung zu übersetzen. Die formale Freiheit des Zeichens und des Zeichnens, die Hugo für sich als Maler und ebenso als Dichter reklamiert, spielt er modellhaft für eine philosophische und gesellschaftliche Freiheit durch. Am Beispiel des hässlichsten Meerestiers, des Kraken, lässt sich diese Insistenz auf Gespaltenheit und formale Freiheit genauer verfolgen. (Bild 7) Im letzten Teil dieses Textes möchte ich deshalb einen Moment bei der berühmten Tuschezeichnung Hugos, „La pieuvre“, verweilen. Die „pieuvre“, Krake, ist übrigens eine Wortschöpfung Hugos. Sie geht auf den Dialekt der Fischer der Kanalinseln zurück, auf denen Hugo sein 16jähriges selbst gewähltes Exil verbrachte. Die Wendung „la pieuvre“ wurde durch seinen Roman Les travailleurs de la mer, Die Arbeiter des Meeres (1866) populär und in den allgemeinen französischen Wortschatz aufgenommen. Auf vielfache Weise – gegenständlich, explizit, metaphorisch, metonymisch – verankert die Zeichnung des Kraken den Übergang zwischen Bild und Schrift und formt ein Bild des Schriftstellers im vielfachen Sinne. Hugo stilisierte die Krake zum hässlichsten, gefährlichsten Meerestier und stiftete damit die lange und bis heute reichende Reihe literarischer Phantasiebildungen über dieses Meeresungeheuer.18
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dernen. Diese Religion ist umfassend, denn sie ist wahr; zwischen ihr Dogma und ihren Ritus hat sie die Ethik eingeschlossen. Als erstes hat sie dem Menschen die Wahrheit verkündet, dass er zwei Leben zu leben habe, ein vergängliches und ein ewiges, ein irdisches und ein himmlisches. Sie zeigt ihm, dass er, wie sein Schicksal, doppelt ist, dass in ihm ein animalisches Wesen und die Vernunft existieren, dass er eine Seele und einen Körper hat; mit einem Wort, dass er den Schnittpunkt bildet, den Ring, der die beiden Ketten der Schöpfung verbindet und so die Reihe der stofflichen Wesen, die vom Stein bis zum Menschen führt, mit der Reihe der körperlosen Wesen verknüpft, die beim Menschen beginnt, um in Gott zu enden.“ (Übers. v. Verf.) Zur Geschichte dieser von Hugo inaugurierten Fantasie s. Roger Caillois: Der Krake. Versuch über die Logik des Imaginativen, München 1986, bes. S. 48–57.
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Bild 7 Victor Hugo: La Pieuvre, um 1866, Feder, Pinsel, braune Tinte und Lavierung, 35,7 × 25,9 cm, Bibliothèque nationale de France, NAF 24745, f. 382.
Vor allem aber zeigt die Zeichnung den Kraken selbst in einem Moment der Bildwerdung, die von der Schriftentstehung nicht zu trennen ist. Es lässt sich für viele Zeichnungen Hugos feststellen, dass sie durch die Spur der dichte-
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rischen Tätigkeit, die Spur der Schrift ebenso charakterisiert sind wie durch die Transformation des Ungestalteten in konkrete Gegenständlichkeit. Ein Übergang, nämlich die figurale Transformation von Schrift und Bild, ist ihnen wesentlich. Wenn der Krake auf dem Bild La pieuvre seine Arme zu Formen verbiegt, die die Initialen des Schriftstellers Hugo reproduzieren, repräsentiert er gewissermaßen unabhängig davon das Formlose, die Wandelbarkeit der Form schlechthin. Gerade diese Unfassbar- und Wandelbarkeit des Tieres ist es, die die „pieuvre“ in den Augen der Fischer (im Roman) zu dem unheimlichsten, gefährlichsten und hässlichsten aller Lebewesen macht. „Wenn alle Ideale Geltung hätten“, so führt Hugo in den Travallieurs de la mer aus, „und man sich das Grausige zum Ziele setzte, dann wäre der Krake ein Meisterwerk.“19 „Tous les idéals étant admis, si l’epouvante est un but, la pieuvre est un chef d’œuvre.“20 Der Krake ist ein Wesen, geboren wie aus dem „in unseren Träumen Schwebenden“;21 „ils semblent appartenir à ce commencement d’êtres terribles que le songeur entrevoit confusément par le soupirail de la nuit“,22 eine Fixierung des Ungeheuerlichen, das der Traum hervorbringen kann; ein Zwitterwesen zwischen „Trugbild und Wirklichkeit“.23 Diese an Goyas Caprichos erinnernden Formulierungen verleihen dem Kraken symbolische Prägnanz. Im bedrohlichen, Angst erregenden Ausdruck des Meerestiers liegt der emotionale Aspekt der Symbolisierung, die hier als Bildwerdung in einem doppelten Sinne festgehalten ist: Bild ist die Zeichnung selbst, und sie zeigt ihren unförmigen – oder formlosen – Gegenstand im Akt der Bild- ebenso wie der Schriftwerdung. Mit John M. Krois könnte man also im Rückgriff auf Ernst Cassirer festhalten, dass hier symbolische Prägnanz zum Bildakt selbst geworden ist. Krois hielt in seinem Aufsatz „Was sind und was sollen die Bilder?“ fest: „Cassirer definierte die symbolische Prägnanz als ‚die Art, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ‚sinnliches‘ Erlebnis, zugleich einen bestimmten anschaulichen ‚Sinn‘ in sich fasst und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt.‘ Dieser Sinn muss nicht in einer geschlossenen Form bestehen, sondern liegt auch schon in Ausdrucksqualitäten, wie Freundlichkeit, Bedrohlichkeit, Düsterkeit, Heiterkeit, usw.“24 Vor allem aber insistierte Cassirer darauf, dass jede symbolische Form schon deshalb einen episte-
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Victor Hugo: Les Travailleurs de la mer, zit. bei Caillois: Der Krake (wie Anm. 18), S. 49. Ders.: Les Travailleurs de la mer, Paris 2002, S. 529. Ders.: Les Travailleurs de la mer, zit. bei Caillois: Der Krake (wie Anm. 18), S. 49. Ders.: Les Travailleurs (wie Anm. 20), S. 537. Caillois: Der Krake (wie Anm. 18), S. 49. John M. Krois: Was sind und was sollen die Bilder?, in: ders: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, hg. v. Horst Bredekamp/Marion Lauschke, Berlin 2011, S. 291–306, 302.
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KÖRPERGESTEN ZWISCHEN BILD UND SCHRIFT
mischen Mehrwert produziere, weil sie „das Gesetz des Bildens“ selbst mit darstelle.25 Deshalb hängt die Zeichenhaftigkeit, hängt der semiotische Charakter, den die symbolische Form annehmen kann, nicht unwesentlich von emotionalen Qualitäten ab. Cassirer weist am gleichen Ort – übrigens mit Bezug auf Goethes Farbenlehre – darauf hin, dass beispielsweise nicht die Farbe allein, sondern ihre subjektiv wahrnehmbaren Qualitäten wie Glanz, Leuchten, Glühen usf. entscheidend an der Formung der symbolischen Farbprägnanz beteiligt sind. Die Besonderheit der Hugo’schen Zeichnungen scheint gerade darin zu liegen, dass sie den Augenblick der Bildgenese festhalten. Dieser bildliche Augenblick bringt zugleich den Anspruch auf eine Bildsprache der formalen Entgrenzung und formalen Innovation zum Ausdruck. Die Bilder nehmen eine mediale Zwischenstellung zwischen Bild und Schrift ein und sind zugleich Chiffren einer Kunst im Widerstreit gegen den christlichen Antagonismus zwischen Körperlichkeit und Geist. Hugo verankert in allen seinen Zeichnungen starke emotionale Qualitäten wie die Düsternis, das Geheimnisvolle, Bedrohliche, Hässliche, und mit diesen starken Emotionen einen Bereich des Ausdrucks, der das Können des Bildkünstlers mit dem des Schriftstellers und des Musikers verbindet und die spezifische aisthetische Qualität der Kunst ausmacht. Der Krake stellt für Hugo als Inbegriff einer „nicht-geschlossenen Form“ eine Angst auslösende Unform dar. Er ist das Hässliche schlechthin, und damit kommt, symbolisch prägnant, das ganze Ungeheuerliche, das Umfassende aber auch Moderne seiner Künstlerexistenz zwischen Schrift und Bild ins Bild. Mehr als eine bloße Allegorie des schöpferischen Schriftstellers im 19. Jahrhundert, ist der Krake das Ungeheuer an Formlosigkeit und Erfindungsgeist für die einen, wandelbares Universalwesen für die anderen, Hässlichstes und Erfindungsreichstes des Denkens für die Dritten. „Ce que nous appelons le laid,“ so führt Hugo aus, „est un détail d’un grand ensemble qui nous échappe, et qui s’harmonise, non pas avec l‘homme, mais avec la création tout entière. Voilà pourquoi il nous présente sans cesse des aspects nouveaux, mais incomplets.“26 An dieser wie an anderen Stellen hat Hugo auf die Geburt der Modernität aus der hässlichen Form hingewiesen, da das Hässliche sich gelöst habe von allen regulativen Symmetrie- und Schönheitsvorstellungen, die die vormoderne Kunst bestimmten. Das Hugo’sche Wort „pieuvre“ ist übrigens bis heute zur Bezeichnung des abstoßenden, hässlichen Krakentiers gebräuchlich, währen das 25 26
Ernst Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1983, S. 192. Hugo: Cromwell. Préface (wie Anm. 10), S. 73. „Was wir das Häßliche nennen, ist […] der Einzelteil eines großen Ganzen; wir können es nicht überblicken, und es steht nicht mit dem Menschen, sondern mit der ganzen Schöpfung in Einklang. Deshalb zeigt es sich uns immer wieder in neuen, aber unvollständigen Erscheinungsformen.“ (Übers. v. Verf.)
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BARBARA NAUMANN
Wort „pulpe“ auf das essbare Tier verweist.27 Zur Produktivität und Modernität des Hässlichen hatte Hugo auch in anderen Kontexten, so z. B. im Roman Notre Dame de Paris Vieles zu sagen. Dort haust der körperlich abstoßende, aus allen sozialen Zusammenhängen ausgeschlossene Mensch Quasimodo als das seelisch Gute inmitten der Kathedrale Notre Dame. Hugo ist es gelungen, der Gespaltenheit auf der Ebene der Psyche des Künstlers einen prägnanten Ausdruck zu geben – was Georges Didi-Huberman dargelegt hat –, vor allem aber, den symbolischen Riss in prägnanter Form an die christliche Fundierung der Gesellschaft zu binden und ihm damit epistemologische Aussagekraft zu verleihen. Wie man am Bild der „pieuvre“ erkennen kann, wird die Bedingung der Möglichkeit der symbolischen Erkenntnis reflexiv an die innere Gespaltenheit des Symbolbegriffs zwischen empirischen Gegebenheiten, Entgrenzung von regulativen Vorgaben (durch das Hässliche) und epistemischer Verallgemeinerung gebunden. Im ambivalenten Prozess der Bild- und Schriftwerdung, der bei Hugo zur Debatte steht, ist ein Moment der Aktivität enthalten, ein Agieren der Bilder. Dies lässt einerseits eine Korrespondenz zu Cassirers Annahme einer symbolischen Formierung der Kunst erkennen, denn für Cassirer war ja die bildende Kunst weniger durch ihren mimetischen, abbildenden Charakter interessant, denn aufgrund einer erkenntniskritischen Leistung: Kunst trage dazu bei, abstrakte und zugleich sinnliche Phänomene zu formalisieren, also zu symbolisieren, und so gegenüber der Kommunikation, der Argumentation und der erkenntniskritischen Aktivität aufzuschließen. Dies vermag die Kunst durch Übertragungsvorgänge, bei denen sinnliche (aisthetische), somatische oder psychosomatische und schlicht physische Impulse mindestens gleichberechtigt neben reflektierte, rationale Impulse treten. Die freie Bewegung der Hand, des Arms, der Farbverlauf der Tusche auf dem Papier und das impulsive Wischen geschehen bei Hugo gleichberechtigt mit dem kontrollierten, schriftartigen Eintragen, Einritzen, Einzeichnen und Schreiben mit der Feder, mit dem Schaffen einer Kontur, einer präzisierenden Gestalt und einer theoretischen Positionierung. Was wir auf dem Papier sehen, ist Ergebnis eines Übertragungsvorgangs des somatisierenden, aber sich reflexiv von vorgängigen Darstellungsregeln, von präskriptiven Rhetoriken befreienden Malers. Dessen Körpergestus bezieht sich allerdings nicht naiv oder atavistisch auf eine Frontstellung zur Idee des Malens, sondern reflektiert und überbrückt die Zerrissenheit des neuzeitlichchristlichen Subjekts zwischen metaphysischem Kunstanspruch und Materialität der Zeichen.
27
Vgl. Caillois: Der Krake (wie Anm. 18), S. 51.
Michael Diers
„J E D E R GR I F F M U S S SI T Z E N“ Künstlerische Begriffsbildung im Handumdrehen bei Joseph Beuys*
1. Vom 2. bis 3. Februar 1973 fand im Kunstverein Hannover eine Klausurtagung zur Vorbereitung einer geplanten Ausstellung zum Thema „Kunst und Gesellschaft“ statt. Die Einladenden waren der Leiter des Kunstvereins Helmut R. Leppien und der Gastkurator Christos M. Joachimides, die Eingeladenen die als Aussteller vorgesehenen Künstler Albrecht D., HP Alvermann, Joseph Beuys, KP Brehmer, Hans Haacke, Dieter Hacker, Jochen Hiltmann, Jörg Immendorff, Siegfried Neuenhausen, Klaus Staeck und Wolf Vostell sowie als Gäste der Verleger Gerhard Steidl und der Philosoph Hans-Joachim Lenger als Assistent Hiltmanns. Gemeinsam, das heißt „partnerschaftlich“ und „gleichberechtigt“, wollte man das Konzept erarbeiten und die Fragen der Umsetzung diskutieren.1 Mit Ausnahme von Haacke, der damals bereits in New York lebte und nicht eigens anreisen konnte, sowie Alvermann, der beruflich verhindert war, nahmen alle Genannten an der Veranstaltung teil.2 Die Gespräche wurden mittels Tonband protokolliert und darüber hinaus, einem Vorschlag Hiltmanns folgend,
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Für die anregende Diskussion des Vortrages danke ich den Teilnehmern der Tagung, für freundliche (Literatur-)Hinweise darüber hinaus André L. Blum, Romainmôtier, Pamela Kort, Berlin, Oswald Schwemmer, Berlin, Klaus Staeck, Berlin/ Heidelberg und Philipp Stoellger, Rostock. Ausst.-Kat.: Kunst im politischen Kampf. Aufforderung, Anspruch, Wirklichkeit, hg. v. Christos M. Joachimides/Helmut R. Leppien, Kunstverein Hannover 1973, S. 3. Ebd., S. 5.
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Bild 1 Kunstverein Hannover, Februar 1973, Kolloquium zur Vorbereitung der Ausstellung „Kunst im politischen Kampf“, Gruppenfoto der Teilnehmer; von links nach rechts: Steidl, Beuys, Staeck, Vostell, Neuenhausen, Leppien, Joachimides, Albrecht D., Hacker und Immendorf; Aufnahme: Elke Walford.
per Videokamera aufgezeichnet.3 Im Katalog der Ausstellung, die nach längerem Hin und Her schließlich den von Beuys vorgeschlagenen Titel „Kunst im politischen Kampf“ tragen sollte,4 hat Leppien das der Idee und Sache nach innovative, aber erwartungsgemäß auch kontrovers geführte Kolloquium, in dessen Folge Alvermann, Immendorff und Hiltmann aus unterschiedlichen Gründen ihre Ausstellungsbeteiligung abgesagt haben, in Kurzform dokumentiert.5 Die illustre Diskussionsrunde (Bild 1) wurde in einem Raum des Kunstvereins an locker gereihten Tischen versammelt. Joseph Beuys hatte an einem eigenen Tisch zwischen Klaus Staeck und Wolf Vostell Platz genommen.6 Während der Veranstaltung machte sich Beuys mit einem Bleistift Notizen, allerdings nicht auf einem Blatt Papier, sondern unmittelbar auf der Tischplatte, die mit hellem Resopal belegt war (Bild 2). Dieser Beuys’sche „Schreibtisch“, genauer seine Arbeitsfläche, ist in einer Privatsammlung erhalten (Bild 3).7 Die 3
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Das Tonbandprotokoll besorgte Bernd Carow (siehe Ausst.-Kat.: Kunst im politischen Kampf [wie Anm. 1], S. 5), ob es sich erhalten hat, ist ungewiss; für die Videoaufzeichnung zeichnete Hans-Joachim Lenger verantwortlich; die Videobänder sind allerdings heute nicht mehr erhalten, vielmehr im Laufe der Jahrzehnte „zerfallen und im Müll gelandet“, laut freundlicher Auskunft von H.-J. Lenger an den Verf. (E-Mail vom 28. Mai 2008). Ein alternativ erwogener Titel lautete „Kunst im antiimperialistischen Kampf“, siehe Ausst.-Kat.: Kunst im politischen Kampf (wie Anm. 1), S. 7. Ebd., S. 5 ff. „Beuys hatte einen Einzeltisch vor sich, der sich von [den] anderen Tischen unterschied.“ Klaus Staeck, Briefpostkarte an den Verf., Heidelberg, 28. Mai 2008. Ehemals Sammlung Reiner Speck, Köln, jetzt Sammlung Rheingold, Düsseldorf.
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Bild 2 Diskussionsrunde im Kunstverein Hannover: Beuys (schreibend), Vostell und Neuenhausen; Aufnahme: Elke Walford. Bild 3 Joseph Beuys: Ohne Titel (Tischzeichnung), 1973, Bleistift auf grauem Resopal, 79 × 79 × 2 cm, Düsseldorf, Sammlung Rheingold, (ehemals Köln, Sammlung Reiner Speck). Bild 4 „Jeder Griff muß sitzen!“, Detail aus Bild 3.
Platte weist eine Fülle von Notizen, Diagrammen und kleinen Zeichnungen auf und ähnelt darin jenen (Schul-)Tafeln, die Beuys bei öffentlichen Veranstaltungen zur anschaulichen Erörterung seiner Thesen zu benutzen pflegte.8 Dieter Koepplin hat diesen Notaten vor einigen Jahren einen erhellenden Aufsatz ge8
Siehe dazu Franz-Joachim Verspohl: ‚Zeichnen ist eigentlich ... nichts anderes als eine Planung‘. Joseph Beuys bei der ‚Tafelarbeit‘, Galerie Löhrl, Mönchengladbach 1988.
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widmet.9 Er geht darin auf viele Einzelheiten ein, darunter auch auf die Zeichnung einer Spitzhacke, die sich an der Tischkante abzuarbeiten scheint, und diejenige eines Schädels, die der Künstler um ein braungelbes Zigarettenbrandloch herum geführt hat. Weitgehend ausgespart hat der Autor jedoch die beiden zentral postierten Zeilen: „Kunst im politischen Kampf“ sowie, gleich darunter gesetzt und daher wie ein Zweizeiler anmutend: „Jeder Griff muß sitzen!“ (Bild 4). Während die erste Formulierung den von Beuys im Lauf der Sitzung gefundenen Ausstellungstitel wiedergibt, scheint die zweite Wendung inhaltlich nicht unmittelbar darauf bezogen zu sein. Mit dem bekräftigenden Ausrufezeichen an ihrem Ende erinnert sie an eine Direktive oder Maxime. Ob es sich um eine Beuys’sche Eigenprägung handelt, steht dahin. Inhaltlich klingt die Redewendung zwar markant und eingängig, dem Wortlaut nach aber ist sie bis zu ihrem Auftauchen im Beuys’schen Zusammenhang allerdings nicht geläufig. Nahezu sprichwörtlich und, zumindest in Kunstkreisen, ubiquitär geworden ist sie vor allem durch eine von Klaus Staeck noch im selben Jahr als unlimitiertes Multiple edierte und entsprechend weit verbreitete Künstlerpostkarte, die den Schriftzug jetzt in Preußischblau, demnach in Tintenschrift, vor weißem Fond prononciert herausstellt (Bild 5).10 Im Unterschied zur Tischplatten-Variante, die den Ausgangspunkt bildet, beginnt der Satz jetzt eher beiläufig mit einem Kleinbuchstaben und darüber hinaus fehlt das Ausrufezeichen, eventuell um die Interjektion in ihrer Unbedingtheit (und Oberlehrerhaftigkeit) ein wenig abzumildern.11 Soviel zu Genese und Kontext einer Devise, die wie eine alte Lebensweisheit daherkommt, von der aber weder klar ist, woher sie rührt, worauf sie bei Beuys abzielt, an wen sie adressiert ist und wie sie im Gefüge der Tischnotizen 9 10 11
Dieter Koepplin: A Plan Drawn on a Table by Joseph Beuys, in: Ausst.-Kat.: Joseph Beuys. Jeder Griff muß sitzen/Just Hit the Mark. Works from the Speck Collection, Gagosian Gallery, London/New York 2003, S. 23–32. Offsetdruck in Blau auf Weiß. Noch eine zweite markante Wendung dieser Schreibtisch-Tafel, wiederum ein Imperativ, hat es im Rahmen einer Reihe von „Beuys-Statements“ zu Postkartenehren gebracht („Gib mir Honig“). Wie auch im ersten Fall wird die Herkunft oder der Zusammenhang mit der Tischzeichnung, die sich ehemals in der Kölner Sammlung Rainer Speck befand, in der Literatur nicht nachgewiesen. Für die „Griff“Variante heißt es im Multiple-Verzeichnis nur knapp: „Redewendung gebraucht von Beuys und Klaus Staeck während der Arbeit.“ (Jörg Schellmann: Joseph Beuys, Die Multiples. Werkverzeichnis der Auflagenobjekte und Druckgraphik, München 1992, S. 503 [P 10]). Vor dem Hintergrund der Hannoveraner Diskussion lässt sich die Angabe „während der Arbeit“ vermutlich genau auf eben diesen Kontext beziehen; noch vor Schluss des Kolloquiums jedenfalls hatte Staeck den (Schreib-)Tisch vom Künstler erworben sowie dessen Einverständnis eingeholt, die Beine wegen der besseren Handhabbarkeit als Ausstellungsobjekt zu entfernen; mündliche Auskunft von Klaus Staeck.
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Bild 5 Joseph Beuys: „jeder Griff muß sitzen“, Postkarte, Original Grafik Serie D Nr. 2, Edition Staeck, Heidelberg 1973.
sowie des damals in Rede stehenden programmatischen Ausstellungsprojektes, das der Frage nach der politischen Wirksamkeit von Kunst gewidmet war, zu verstehen ist. Alle Versuche, sie aus dem Umfeld des Hannoveraner Projektes heraus, das ursprünglich einmal bestens dokumentiert war,12 näher zu erläutern, sind bislang fehlgeschlagen. Dieter Koepplin begnügt sich mit dem Hinweis, es handele sich um „a phrase directed at a false understanding of dilettantism“.13 Dass der Merksatz allgemein auf ein Prinzip „Könner- oder Meisterschaft“ verweist und sich historisch auf das Milieu des Handwerks beziehen lässt, ist durch Etymologie und Kulturgeschichte rasch klargelegt. Dass sich statt von Handgriff weitgehend synonym auch von Kunstgriff sprechen lässt, bezeugt ein Blick in Adelungs „Deutsches Wörterbuch“, wo es erläuternd zu Letzterem heißt: „ein jeder bey Ausübung einer Kunst nöthiger Handgriff“.14 Dass sich für Beuys die Bildende Kunst trotz aller Technisierung einer- und Konzeptualisierung andererseits weiterhin als eine sehr praktische, von Hand geprägte Tätigkeit verstand, muss im Blick auf sein Schaffen kaum eigens betont werden. Wie kaum ein anderer Künstler hat Beuys bei seinen öffentlichen Auftritten stets in vielfältigster Weise mit oder ohne Werkzeuge „hantiert“, das heißt zugepackt und zugegriffen oder aber gestikuliert. Damit ist er der Idee des Bildhauers auch im Rahmen seiner Aktionskunst treu geblieben. Aber auch als Rhetor sowie als Autor und Lehrer – an der Tafel schreibend, Objekte signierend, etc. – stellt die Hand das bevorzugte Instrument, das zentrale „Werkzeug aller Werkzeuge“, von dem bereits Aristoteles gesprochen hat, dar (Bild 6).15 12 13 14 15
Vgl. dazu hier die Anmerkung 3. Koepplin: A Plan Drawn on a Table (wie Anm. 9), S. 24. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Wien 1811, Bd. 2, Sp. 1834. Dazu ausführlicher Eva Beuys und Wenzel Beuys: Joseph Beuys. Handaktion 1968, in: dies.: Joseph Beuys. Handaktion 1968 & Anatol Herzfeld. Der Tisch 1968, hg. v.
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Bild 6 Joseph Beuys signiert ein Zertifikat von „Freitagsobjekt, 1 a gebratene Fischgräte (Hering)“; Einladungskarte zur Ausstellung „Bernd Jansen, Porträts aus der Düsseldorfer Kunstszene, Fotografien 1968–1975“, Kunstmuseum Düsseldorf 1975; Aufnahme: Bernd Jansen 1970.
Es gibt vermutlich von keinem anderen Künstler seiner Epoche eine solche Vielzahl fotografisch dokumentierter Hand-Aktionen, seien es inszenierte, seien es alltägliche Verrichtungen, bei denen man Beuys zusieht. Insofern kann der Satz vom (kreativen) Griff, der immer und überall sitzen muss, durchaus als universelles persönliches Gebot des immer um Perfektion bemühten Künstlers gelten. Es gilt selbstverständlich auch im „Kampf mit sich selbst“, so Beuys in Hannover,16 im übertragenen Sinn aber vor allem auch im „(hochschul-)politischen Kampf“, dem der Künstler sich gerade Anfang der siebziger Jahre durch Gründung der „Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ allgemein und darüber hinaus im Rahmen des Düsseldorfer Akademiestreites direkt zuwendet, das heißt im Kontext der von zahlreichen Demonstrationen begleiteten Auseinandersetzungen mit dem Wissenschaftsministerium von Nordrhein-Westfalen, die im Oktober 1972 zu seiner fristlosen Entlassung als Hochschullehrer geführt hatten. Wie auf der Kasseler documenta 5 im Sommer des Vorjahres baut Beuys auch in der Hannoveraner Ausstellung wieder sein „Informationsbüro für direkte Demokratie“ auf, aktuell ergänzt um Material zum Projekt einer „Freien Hochschule“.17
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Joseph Beuys Medienarchiv/Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart-Berlin, Göttingen 2009, S. 16 ff. Ausst.-Kat.: Kunst im politischen Kampf (wie Anm. 1), S. 7. „An der Wand des Beuys-Raumes [im Kunstverein Hannover] hängt ein Porträt des Anthroposophen Rudolf Steiner, und es liegen Schriften über die soziale Frage von Steiner zur Ansicht aus. Auf der Basis der Steiner’schen Dreigliederungsidee
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„Ich verneige mich vor den Begriffen.“ Joseph Beuys, Einladungskarte zur Arbeitstagung der Free International University, 1979
2. „Begriffsarbeit“ – Was aber hat es mit dem Beuys’schen Griff-Wahlspruch in einem erweiterten, historischen Verständnis auf sich und aus welchem kulturellen Zusammenhang stammt er?18 Der anschaulich praktische Aspekt der Devise verweist im Verein mit dem pädagogisch-didaktischen Zug in Richtung Emblemliteratur. Tatsächlich lässt sich in einem berühmten Hausbuch des 17. Jahrhunderts ein mögliches Vorbild finden (Bild 7). In den Emblemata moralia et ae[!]conomica des niederländischen Schriftstellers und Staatsmannes Jacob Cats, in erster lateinischer Ausgabe in Rotterdam 1627 erschienen, wird unter dem lateinischen Motto „omnibus ansa rebus inest“ („allen Dingen ist ein Griff zugesellt“) am Beispiel einer Weintraube deren richtige Handhabung gefordert und zugleich visuell expliziert.19 Eine aus den Wolken fahrende deiktische Hand greift mit elegant gespreizten Fingern das auf einem Präsentierteller dargebotene Traubenbündel, um es leicht zu lüften (Bild 8). Man langt, so das Sinnbild, nicht mit geöffneter, voller Hand nach der Rispe, weil sie dadurch, druckempfindlich wie sie ist, Schaden nehmen könnte, sondern erfasst vielmehr den Stiel als ihren natürlich gegebenen Henkel. Der kommentierende Text lautet in deutscher Übertragung: „WEr da angreifft zarte Früchte/Sie zu fassen mit der Hand/Thue solches mit Verstand/Daß er sie nicht mach zunichte/Noch den Zierrath ihnen kränckt/Wann er sie mit Fingern drängt./So auch hat in allen Sachen/Man darauff zu geben acht/Daß man es behende [sic!] macht/So wie man es hat zu machen/Daß man ein behender Mann/Warlich seyn und heissen kan.“20
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formuliert Beuys in den Gründungsschriften der ‚Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung‘ die Forderung nach Autonomie der Bereiche Rechts-, Wirtschafts- und Geistesleben.“ Götz Adriani/Winfried Konnertz/Karin Thomas: Joseph Beuys. Leben und Werk, Köln 1981, S. 312 f. Siehe allgemein zu Redensarten mit „Griff“-Bezug Lutz Röhrich: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Bd. 1, Freiburg/Basel/Wien 2003, S. 581; eine der Beuys’schen Wendung ähnliche Formulierung findet sich dort allerdings nicht. Jacob Cats: Emblemata moralia et aeconomica, Rotterdam 1627, Emblem Nr. 27, S. 134. Cats: Emblemata moralia (wie Anm. 19), zit. n. der deutschen Ausgabe, Hamburg 1710, angeführt bei Arthur Henkel und Albrecht Schöne, Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Taschenausgabe, Stuttgart/ Weimar 1996, Sp. 269 f.
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Bild 7 „Omnibus ansa rebus inest“, Kupferstich von Jan Gerritsz. Swelinck (?) nach Adriaen van de Venne, aus: Jacob Cats, Emblemata moralia et ae[!] conomica, Rotterdam 1627, S. 134.
Der spezifische Anwendungsfall, den Cats mit seiner ursprünglich „Jungfern-Pflicht“ (Maechten-plicht ofte ampt der ionck-vrouwen, 1618) betitelten Schrift im Auge hat, und zwar der rechte, sprich rücksichtsvolle Umgang mit dem weiblichen Geschlecht, muss hier außer Acht bleiben. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert die allgemeine Maßgabe, die sich der Idee und Vorschrift nach mit dem Beuys’schen Motto, das auf jede Argumentation oder explizite Begründung verzichtet, weitgehend deckt. Cats führt die literarischen Quellen, aus denen er geschöpft hat, im unteren Abschnitt des Blattes an (Bild 9). Es sind dies der wenig bekannte römische Jurist Proculus und vor allem der durch sein encheiridion (Handbüchlein der Moral) berühmte griechische Stoiker Epiktet. Auf ihn geht das lateinische Motto des Emblems zurück, das in seiner Kurzform auf die bei Cats angeführte Sentenz verweist: „Habet res unaquaeque ansam su[a]m, eâque apprehendenda ei, qui feliciter ea uti velit; scire enim quorsum quaeque res spectet, & quis ejusdem geminus sit usus, non minima pars prudentiae est.“ („Jedem einzelnen Ding wohnt seine Handhabe inne, und ebendort muss man es (an-)fassen, wenn man es mit Erfolg nutzen will; zu
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Bild 8 Detail aus Bild 7.
wissen nämlich, was jede Sache erwartet und welcher deren doppelter Gebrauch ist, ist nicht der geringste Teil der Klugheit“).21 Epiktet und Cats gehen bei ihren Überlegungen jeweils vom Gegenstand und dessen adäquater Handhabe aus, wohingegen das Beuys’sche Motto von der Gegenseite, demnach von der Aktion und dem Zugriff der Hand und somit vom handelnden Subjekt aus gedacht ist. Alle drei Autoren aber heben auf ein und denselben Aspekt ab, und zwar auf den rechten (Hand-)Gebrauch, den man von einer Sache – gegen Missbrauch und Missgriff – zu machen hat.
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Cats: Emblemata moralia (wie Anm. 19), S. 134, dt. Übertragung v. Verf. – Im Handbüchlein der Moral Epiktets findet sich der Satz in der zitierten Form nicht; es gibt dort nur den Lehrsatz: „Jede Sache bietet zwei Handhaben: an der einen ist sie zu tragen, an der anderen nicht“ [„Jedes Ding hat zwei Handhaben; je nachdem man es faßt, wird es unerträglich oder erträglich.“], der sich inhaltlich etwa mit der geläufigen Weisheit, dass jedes Ding zwei Seiten habe, deckt; wahrscheinlich ist demnach, dass Cats ein anderes Werk Epiktets herangezogen hat.
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Bild 9 Detail aus Bild 7 (nur Text, letztes Drittel).
Bei der Anführung des Cats’schen Emblems geht es weniger um die naheliegende Frage, ob Beuys es im Sinne einer Quelle gekannt hat. Als Niederrheinländer an der Grenze zu Holland aufgewachsen, wo die Redewendungen „Hij heeft den greep weg“ („Er hat den Griff weg“, „hat’s im Griff“, „den Griff raus“) oder „Eenen blinden greep doen“ („einen blinden (Fehl-)Griff tun“) einmal geläufig waren,22 sowie als kulturgeschichtlich interessiertem Zeitgenossen mag es ihm über den Weg gelaufen sein. Möglich auch, dass Beuys Epiktet gelesen hat oder auch über Dritte, zum Beispiel durch seine Rudolf Steiner-Lektüre auf die antike Variante der Griff-Maxime und deren philosophisch-moralischen Hintergrund aufmerksam geworden ist.23 Wichtiger ist hier das allgemeine Verständnis eines Merk- oder Leitsatzes, der auf ein Kunstverständnis abhebt, das Praxis und Theorie sehr konkret zusammenführt, indem die Idee der notwendigen Konjunktion von Werkzeug und Gedanke in der Assoziation von Griff und Begriff nicht nur wortgeschichtlich, sondern zugleich auch epistemologisch beinahe in eins fallen. So könnte der Lehrsatz vom Griff, der sitzen muss, sowohl eine Summa der Beuys’schen Kunsttheorie als auch ein (Selbst-)Porträt des Künstlers darstellen. Dass die historischen Wandlungsstufen der Bedeutung des Verbums „begreifen“ über berühren, betasten, anfassen und umfassen schließlich hin zu in Worte fassen und damit zugleich bis zu verstehen führen, ist etymologisch 22 23
Karl Friedrich Wilhelm Wander: Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk, Bd. 2, Leipzig 1870 (Reprint Darmstadt 1964), s. v. Griff; siehe auch http://www.zeno.org/Wander-1867/A/Griff (19.06.2012). Uwe M. Schneede: Joseph Beuys. Die Aktionen. Kommentiertes Werkverzeichnis mit fotografischen Dokumentationen, Ostfildern-Ruit 1994, S. 217 erwähnt einen verwandten Zusammenhang; vgl. allgemein hier Anm. 17, ferner den Ausst.-Kat.: Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart, hg. v. Markus Brüderlin, Kunstmuseum Wolfsburg, Kunstmuseum Stuttgart, Köln 2010.
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leicht nachzuvollziehen.24 Dass für Beuys das Wort „Begriff“ darüber hinaus eines der zentralen Substantive darstellt, das er in mannigfacher Weise immer dann heranzieht, wenn er einen Zusammenhang prägnant bezeichnen möchte, muss ebenso wenig betont werden. Der „erweiterte Kunstbegriff“ ist die bekannteste Variante dieses Konzeptes, den „Weltinhalt“25 durch eine Vielzahl zusammengesetzter Wörter zu apostrophieren. Dass Bilden und Begreifen für Beuys im Übrigen zwei unmittelbar parallel laufende künstlerische Strategien darstellen, belegt ein Satz wie der folgende aus dem Jahr 1972: „All meinen Aktionen – seien sie nun bildnerischer oder begrifflicher Art – liegen in Form von Bildern Begriffe menschlicher Grundkräfte zugrunde.“26 „Begriffe zu bilden“, „konkrete“ zumal, heißt für Beuys im Rahmen seiner „plastischen Theorie“ (der Gesellschaft) künstlerisch eingreifend zu agieren. Bilden und Begreifen verschmelzen schließlich zu einem einzigen (Erkenntnis-)Vorgang, wenn es an anderer Stelle heißt: „Ich glaube, dass ich auch ganz falsche Begriffe in meinem Kopf herumwälzen würde, wenn ich diese Arbeit [scil. das zeichnerische Werk] nicht gemacht hätte.“27 Die Hand ist für Beuys neben einem Sinnes- und „Erlebnisorgan“ ein Theorie- und Erkenntnisorgan par excellence. Mit Vilém Flusser ließe sich von der „theoretischen Hand“,28 welche der praktischen, funktionalen zur Seite steht, sprechen, mit Horst Bredekamp auch von der „denkenden Hand“.29 Sie rangiert für den Künstler weit vor dem seit der Renaissance als Zentralorgan des Künstlers in einem reichen Schrifttum nobilitierten intelligiblen Auge.30 Insofern scheint Beuys mit seinem Motto eher an ein vormodernes Kunstverständnis anzuknüpfen, dem weniger der Künstler, sondern vielmehr der Kunsthand24 25 26 27
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Der Große Duden, Bd. 7: Duden-Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim 1963, s. v. greifen und Griff. Beuys in einem Interview 1973, zit. n. Adriani/Konnertz/Thomas: Joseph Beuys (wie Anm. 17), S. 247. Beuys in einem Interview 1972, zit. n. ebd., S. 304. Beuys im Gespräch 1981, zit. n. ebd., S. 366; vgl. in diesem Zusammenhang auch die mit Zitaten belegten Ausführungen zur Beuys’schen „Begriffsarbeit“ in dem von Helmut Gold, Margret Baumann und Doris Hensch herausgegebenen Ausst.-Kat.: ‚Wer nicht denken will fliegt raus‘. Joseph Beuys Postkarten, Sammlung Neuhaus, Museum für Post und Telekommunikation Frankfurt/M., Heidelberg 1998, S. 123–125. Vilém Flusser: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Düsseldorf/Bensheim 1991. Horst Bredekamp: Denkende Hände. Überlegung zur Bildkunst der Naturwissenschaften, in: Ausst.-Kat.: Räume der Zeichnung, hg. v. Angela Lammert/Carolin Meister/Jan-Philipp Frühsorge/Andreas Schalhorn, Akademie der Künste Berlin, Nürnberg 2005, S. 12–24. Vgl. dazu Matthias Winner (Hg.): Der Künstler über sich in seinem Werk. Internationales Symposium der Bibliotheca Hertziana, Rom 1989; im Übrigen gilt seit alters die Hierarchie der Sinne, die dem Gesicht die betrachtende Schau aus der Distanz und Ferne („theoria“) und der Hand mit dem Tastsinn nur den Kontakt zum Naheliegenden und unmittelbar Fassbaren zubilligt.
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Bild 10 Marcantonio Raimondi: Raffael ohne Hände, Kupferstich, um 1530, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin; Aufnahme: Volker-H. Schneider.
werker (artist vs. artisan) und dessen Körperwissen Modell gestanden hat.31 Doch haben zahlreiche Untersuchungen der letzten Jahre herausgestellt, dass gerade das Zusammenspiel von abstraktem und praktischem oder Erfahrungswissen in der Frühen Neuzeit zum Fortschritt von Kunst und Wissenschaft ganz wesentlich beigetragen haben.32 Das Renaissance-Modell des ingeniösen Künstlers, der sich auf die „idea“ als den eigentlichen künstlerischen Akt beruft, verkörpert in der Rezeption Raffael, dem Marcantonio Raimondi im Bild eines in einen weiten Umhang gehüllten Künstlers „ohne Hände“ ein beredtes Denkmal gesetzt hat (Bild 10). Noch Lessing knüpft an diese Vorstellung an, indem 31
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Vgl. bezüglich der Tendenz zur „Vergeistigung der [Künstler-]Hand“ und zu den Schwierigkeiten der Renaissancetheoretiker, „einer Hand geistige Fähigkeiten zuzubilligen“, Martin Warnke: Der Kopf in der Hand, in: ders.: Nah und fern zum Bilde. Beiträge zu Kunst und Kunsttheorie, hg. v. Michael Diers, Köln 1997, S. 112 ff.; vgl. aber Aby Warburg: „Zwischen imaginärem ‚Zugreifen‘ und begrifflicher Schau steht das hantierende Abtasten des Objekts mit darauf erfolgender plastischer oder malerischer Spiegelung, die man den künstlerischen Akt nennt.“ Der Bilderatlas Mnemosyne, hg. v. Martin Warnke unter Mitarbeit v. Claudia Brink, Berlin 22003, S. 3. Vgl. neben den diversen Studien zu diesem Thema von Martin Kemp und Barbara Stafford vor allem Pamela H. Smith: The Body of the Artisan. Art an Experience in the Scientific Revolution, Chicago/London 2004.
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Bild 11 Joseph Beuys überquert gemeinsam mit Schülern im Einbaum den Rhein, 1973.
er in seiner Emilia Galotti den Hofmaler Conti fragen lässt: „Oder meinen Sie, Prinz, dass Raffael nicht das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er unglücklicherweise ohne Hände wäre geboren worden?“ Joseph Beuys steht dieser Position, indem er die Hände sehr entschieden unter dem weiten Mantel, den er bekanntlich selbst gern getragen hat, wieder zum Vorschein bringt, diametral gegenüber (Bild 11).33 33
Die Literatur zur Hand des Künstlers im konkreten wie im übertragenen Sinn sowie allgemein zur Geste und „sprechenden Hand“ ist in den vergangenen Jahren enorm angewachsen; vgl. neben den bereits oben angeführten Titeln unter anderem die Standardwerke von: André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt/M. 1980 und Richard Sennett: Handwerk, Berlin 2007, ferner die Ausst.-Kat.: Die Hand des Künstlers, hg. v. Siegfried Gohr, Museum Ludwig Köln, Köln 1991; Ausst.-Kat.: Die Beredsamkeit des Leibes. Zur Körpersprache in der Kunst, hg. v. Ilsebill Barta Fliedl/Christoph Geissmar, Albertinum Wien, Wien 1992 sowie den Sammelband Matthias Bickenbach/Annina Klappert/Hedwig Pompe (Hg.): Manus loquens. Medium der Geste – Gesten der Medien, Köln 2003; ferner Horst Wenzel: Von der Gotteshand zum Datenhandschuh. Zur Medialität des Begreifens, in: Sybille Krämer/Horst Bredekamp (Hg.): Bild–Schrift–Zahl, München 2003 (Reihe Kulturtechnik), S. 25–56; Mariacarla Gadebusch Bondio (Hg.): Die Hand. Elemente einer Medizin- und Kulturgeschichte, Berlin 2010; vgl. auch den TV-Film Der AusDruck Der HänDe (1997, Harun Farocki).
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„Greifen – Ergreifen – Begreifen – Ergriffenheit“ Aby Warburg, Notiz 34
3. „Handaktion“ – Dies belegt vor allem auch eine Beuys’sche Performance, in deren Zentrum ausschließlich die bloße, demnach die requisitenlose Hand und deren gestisch-plastisches Vermögen steht. Konsequenterweise hat Beuys die Aufführung als „Handaktion“ betitelt.35 Sie fand im Rahmen einer Veranstaltung statt, die sein Schüler Anatol Herzfeld am 5. Dezember 1968 in der Düsseldorfer Kneipe „Creamcheese“ unter dem Titel „Drama Stahltisch“ (auch „Der Tisch“) anberaumt hatte. Uwe M. Schneede hat diesen Auftritt ausführlich beschrieben:
Bild 12 Ulrich Meister, Johannes Stüttgen und Joachim Duckwitz während der „Tischaktion“ von Anatol Herzfeld, Düsseldorf 1968; Aufnahme: Gunther Bohnen.
„In der Mitte des Raumes stand ein eigens für diese Aktion von Anatol hergestellter Stahltisch, an dem, in rotem, gelbem und blauem Gewand, Joachim Duckwitz, Ulrich Meister und Johannes Stüttgen saßen, die Handgelenke mit Stahlschellen am Tisch befestigt [Bild 12]. […] In einer Ecke saß Anatol an einem ‚Schaltpult‘, Blinkzeichen gebend für die am Tisch Sitzenden: Grün für Sprechen, Rot für Schweigen. ‚Während sie in zunächst wirr erscheinender freier Rede von der Freiheit des einzelnen,
34 35
Zit. n. Fliedl/Geissmar: Die Beredsamkeit des Leibes (wie Anm. 33), S. 61. Eva Beuys/Wenzel Beuys: Beuys (wie Anm. 15); der Publikation liegt eine DVD mit einer digitalen Kopie der Film-Dokumentation der Beuys- und Anatol-Aktion bei. (Beuys, Handaktion, Super 8-Film von Dietmar Kirves, 16 min; dazu ein 90-minütiges Tonband in Alukassette, Edition, 1971 erschienen) siehe auch die Filmdokumentation der Beuys-Anatol-Aktion von Dietmar Kirves unter: http:// kirves.no-art.info/de/filme/1968_beuys+herzfeld/24_film.html (31. 05. 2012).
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„JEDER GRIFF MUSS SITZEN“
von dem neuen Reich des Bewußtseins, von Platon und Sokrates sprachen, stand Beuys in der Ecke und gestikulierte.‘ [Bild 13] […] [Beuys] bewegte Arme und Hände in verschiedenen, dauernd wechselnden Höhen und Positionen asymmetrisch vor dem Körper und dem Kopf, sehr auf sich konzentriert, fast autistisch. […] Er hielt die rechte offene Hand, dann die Faust einen Moment vor dem Gesicht, machte zeigende, drückende, quetschende Gesten, aber keine, die pantomimisch-nachahmenden Charakter gehabt hätten: nicht darstellende, sondern autonome Gesten [Bild 14]. Es gab rasche und dann verlangsamte Bewegungen, auch kurze Momente des Verharrens. […] ‚Unermüdlich, zwei Stunden [recte: eineinhalb Stunden] lang, in Schweiß gebadet, spreizte er die Hände auseinander, ballte sie zusammen, beugte den Oberkörper, ging in die Knie.‘ Aller Ausdruck lag bei der Gestik, die Mimik war bis zur Starrheit zurückgenommen.“36
Bild 13 Joseph Beuys während der „Handaktion/ Eckenaktion“, 196; Aufnahme: Volker Krämer. Bild 14 Joseph Beuys während der „Handaktion/ Eckenaktion“, 1968; Aufnahme: Dietmar Kirves.
Während sich die Aktion der Schüler um den allgemeinen „Zustand der Welt, die Automatisierung und die Fremdbestimmung des Menschen, auch den Verlust seiner ursprünglichen Fähigkeiten und das Gefangensein in einseitiger In36
Schneede: Die Aktionen (wie Anm. 23), S. 216.
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tellektualität“ drehte, zeigte Beuys „exemplarisch Gestaltungsfähigkeiten auf der Basis der Einheit von Psyche und Körper auf, die Bewegung dabei als transformatorisches Prinzip einsetzend. […] [Beuys’ Parallel-Aktion zielte symbolisch auf] die unabhängigen schöpferischen Möglichkeiten eines erweiterten Denkens. Als plastisch verstandenes sollte dieses Denken statt allein aus dem Kopf, aus dem ganzen Körper hervorgehen und damit das Grundmodell für den eigentlichen, den umfassenden Gestaltungsprozeß ausmachen.“37 Beuys’ „Handaktion“ mit ihren „plastisch modellierenden Bewegungen im leeren Raum“38 stellt zugleich eine künstlerische Denk- und Begriffsoperation dar. Indem Beuys frei mit den Händen agiert, führt er deren gestisches Vermögen im Sinne einer „sichtbaren Sprache“ vor Augen: „Zumal die Gesten vor dem Kopf verweisen auf das Denken und die Notwendigkeit seiner Erweiterung auf den Körper: Denken als Plastik, Körperaktion als deren vitale Abbildung.“39 Greifen und Begreifen gehen – neurophysiologisch sogar manifest – Hand in Hand.40 Die „Handaktion“ kann als eine Vorführung und Verbildlichung dieser Idee einer Einheit (oder zumindest engen Verbundenheit), die Beuys’sche Schrift- und Spruchpostkarte (vgl. Bild 5) als eine andere Weise der „Verkörperung“ desselben Theorems gelten. Wobei im letzten Fall der performative Akt des Schreibens im Schriftzug auf Dauer sichtbar niedergelegt ist. Die Handschrift als eine andere Form von Zeichnung prägt den Schriftzug bildlich und körperlich fassbar aus, so dass Aussage und Akt unlösbar miteinander verschränkt werden und Theorie und Praxis im Schriftbild zusammenfallen – der Duktus der Handschrift als reduzierte oder kondensierte, komprimierte Form eines Emblems, bei dem Motto, Pictura und Subscriptio eine nahezu hieroglyphische Einheit bilden. 37 38 39 40
Ebd., S. 217. Peter Schmieder in: Ausst.-Kat.: Sammlung Feelisch, Museum am Ostwall, Dortmund 1993, S. 100, zit. n. Schneede: Die Aktionen (wie Anm. 23), S. 216. Schneede: Die Aktionen (wie Anm. 23), S. 217. André L. Blum hat in diesem Zusammenhang auf ein neurobiologisches Experiment hingewiesen: „Man lässt dabei die Versuchspersonen einen Satz lesen, der lautet: ‚Begreifen Sie den Sinn‘ oder ‚Gehen Sie bei der Bearbeitung dieses Problems einen neuen Weg‘. Beim Satz über das Begreifen wird im Hirn die Stelle aktiviert, welche die Hand steuert, und wenn neue Wege begangen werden sollen, wird die für den Fuß verantwortliche Stelle aktiviert. In beiden Fällen geht es um etwas Abstraktes, um das Begreifen und um das Begehen neuer Wege, und doch springen motorische Zentren ein. Das zeigt, dass das Körperschema auch abstrakte Aufgaben löst.“ André L. Blum/John M. Krois/Hans-Jörg Rheinberger (Hg.): Verkörperungen, Berlin 2012 (Actus et Imago 6), S. 113 (Diskussion des Beitrags von John M. Krois; Herv. d. Verf.). – Vgl. ferner Michael A. Arbib: From Grasp to Language. Embodied Concepts and the Challenge of Abstraction, in: Journal of Physiology Paris 102/1–3 (2008), S. 4–20.
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Bild 15 „Wie man ein yede federn recht fassen und furen sol“, Radierung aus: Johann Neudörffer: Anweisung … wie man einen Kiel zum Schreiben erwählen, bereiten, teilen, schneiden und temperieren soll, Nürnberg 1544.
Darüber hinaus lässt sich der Anspruch der Beuys’schen Devise, die nicht von ungefähr an die Apelles-Maxime „Nulla dies sine linea“ erinnert, unmittelbar und pragmatisch auf den Schreib- oder auch Zeichnungsvorgang beziehen (Bild 15).41 Dass jeder Griff sitzen muss, gilt gerade auf diesem Feld seit alters, das heißt seit es den Griffel, der zugleich Schreib- und Zeichenstift ist, gibt, und insbesondere seit in der Renaissance Schrift- und Vorlagenbücher in großer Zahl an die Pracht und Ausdruckskraft der Kalligraphie erinnern und gemahnt haben.42 Im Fall der hier herangezogenen Illustration aus Johann Neudörffers Schreib-Traktat Anweisung […] wie man einen jeden Kiel zum Schreiben erwählen, bereiten, teilen, schneiden und temperieren soll ist unter der Überschrift „Wie man ein jede federn recht fassen und füren sol“ unter anderem von der „rechten zusammen haltung und ordnung der finger“ die Rede. Beuys’ Handschrift ist nicht nur in ihrer Mischung aus lateinischen und altfränkisch-deutschen (Sütterlin-)Buchstaben signifikant, sondern zugleich auch im Sinn einer Schönschrift elegant, sodass sie den eigenen Grundsatz bestens erfüllt. Dies gilt, sieht man dem Künstler noch einmal genau „auf die Finger“, ähnlich auch für die anderen Bereiche praktischen Hantierens. Als Beuys zum Beispiel die (Regal-)Installation Barraque D’Dull Odde (1961–1967) mit ihren 41 42
„Auch wenn ich meinen Namen schreibe zeichne ich.“ Joseph Beuys 1977, zit. n. Klaus Staeck: Beuys und das Jahr der Postkarten, in: Ausst.-Kat.: ‚Wer nicht denken will‘ (wie Anm. 27), S. 17. Beuys’ Motto könnte auch aus dem verwandten Bereich des traditionellen Schriftsetzers herrühren bzw. dort in gesteigertem Maß gelten, denn jeder Griff in ein falsches Buchstaben-Fach führt hier zu einem Satz- bzw. Druckfehler.
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Bild 16 Joseph Beuys am 7. Februar 1977 beim Abbau der „Barraque D’Dull Odde“ im Kaiser Wilhelm Museum Krefeld, Aufnahme: Sigwart Korn. Bild 17 Vergleich der Handhaltungen, Details aus Bild 8 und 16.
600 Einzelteilen im Krefelder Museum zunächst in dem einen Raum ab- und in einem anderen Raum wieder aufzubauen hatte (Bild 16), hat er diesen Vorgang über Stunden als Hand-Arbeit inszeniert und seinen Griff nach den Dingen jeweils sehr überlegt, einem Ritual gleich gesetzt, und auf diese Weise die Cats’sche Forderung geradezu paradigmatisch erfüllt (Bild 17).
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„JEDER GRIFF MUSS SITZEN“
4. Als Resümee der Ausführungen über das Wechselspiel von „Handaktion“ und „Begriffsarbeit“43 bei Beuys kann ein weiterer Merkspruch dienen. Er stammt von Bertolt Brecht, der ihn in seinen „Flüchtlingsgesprächen“ dem durch Hegellektüre dialektisch geschulten Physiker Ziffel in den Mund legt: „Die Begriffe, die man sich von was macht, sind sehr wichtig. Sie sind die Griffe, mit denen man die Dinge bewegen kann.“44 Die vielfältigen Beuys’schen Hantierungen argumentieren in einem verwandten Sinn, allerdings von der Kehrseite aus, indem sie vom körperlichen Griff zum abstrakten Begriff überleiten und dadurch das Ineinander der beiden Wortfelder und Erkenntnisformen klarlegen.
43 44
Siehe dazu den Ausst.-Kat.: ‚Wer nicht denken will‘ (wie Anm. 27), S. 123. Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in acht Bänden, Bd. 6, Frankfurt/M. 1967, S. 1461.
Norbert Meuter
Ä S T H E T I S C H E AU T O N O M I E Einige Gedanken über Kunst und Moral
1. E i n leit u ng Kunst und Moral scheinen sehr verschiedene Dinge zu sein. Jedenfalls ist eine moralisch „gut gemeinte“ Kunst in der Regel keine wirklich gute Kunst – oder wenn doch, dann aus anderen Gründen. Zwar lässt sich über Fragen danach, ob oder weshalb etwas „gute Kunst“ ist, keine allgemeine Übereinstimmung mehr erzielen, allerdings dürften doch viele der berechtigten Auffassung sein, dass bei der Beantwortung dieser Fragen moralische Kriterien relativ unwichtig sind. Die Qualität eines Kunstwerks verdankt sich weder seinen möglichen moralischen Inhalten noch den möglichen moralischen Intentionen des Künstlers. Dennoch denke ich, dass zwischen Kunst und Moral eine bestimmte Beziehung besteht – allerdings nicht auf einer inhaltlichen, sondern auf einer formalen Ebene. Natürlich ist dieser Gedanke selbst nicht besonders originell, er findet sich schon in der Kritik der Urteilskraft, aber z. B. auch in der Ästhetischen Theorie. Mit Kant lässt sich Kunst als „Symbol der Sittlichkeit“ verstehen, mit Adorno als „Statthalter einer besseren Praxis“.1 Dennoch halte ich eine bestimmte – nämlich symboltheoretische – Artikulation des Gedankens für durchaus lohnenswert. Dies will ich im Folgenden in Form einer Skizze versuchen.2 Im Zentrum steht dabei der Begriff der Autonomie.
1 2
Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe, Bd. 10, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974, § 59; sowie Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1973, S. 26. Für inhaltliche und stilistische Kommentare bedanke ich mich bei Frank Thiel.
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NORBERT MEUTER
2. Autonom ie Der Autonomiebegriff ist bekanntlich ein sehr komplexer Schlüsselbegriff in der Tradition der kantischen Moralphilosophie. Darauf will ich hier nicht eingehen.3 Für meine Skizze ist folgende Intuition ausreichend: Autonomie (in moralischer Hinsicht) besteht in der individuellen Fähigkeit und aktiven Bereitschaft, zu den moralischen Normen und Werten der jeweiligen sozialen bzw. gesellschaftlichen Umgebungen auf eine reflexive Distanz gehen zu können. Distanz ist dabei nicht gleichbedeutend mit Kritik oder Ablehnung. Aus der Distanzierung heraus kann sich auch eine Bestätigung ergeben. Aber es handelt sich dann um eine reflektierte Bestätigung. Erst in und mit der Distanzierung entwickle ich einen eigenen moralischen Standpunkt. Das Gegenteil von moralischer Autonomie ist gedankenloses Mitmachen oder Mitlaufen. Mich interessiert nun – allgemein formuliert – das Verhältnis von moralischer und ästhetischer Autonomie. Ich will dazu drei Thesen diskutieren, wobei ich auf die These (1) ausführlicher, auf die Thesen (2) und (3) nur kurz eingehen werde. Die Thesen lauten: 1. Kunst ermöglicht ästhetische Autonomie. 2. Ästhetische Autonomie ist ein Modell für moralische Autonomie. 3. Ästhetische Autonomie ist eine notwendige Bedingung für moralische Autonomie. Die ersten beiden Thesen halte ich für weitgehend richtig, die dritte für weitgehend falsch. Bevor ich zu den Thesen komme, ist jedoch eine kurze Anmerkung zum Begriff der „ästhetischen Autonomie“ angebracht. Im Zusammenhang mit Ästhetik und Kunst wird der Begriff der Autonomie hauptsächlich in zwei Diskursen verwendet. Der erste Diskurs ist ein genuin philosophischer und steht in der Tradition Kants. Die Kritik der Urteilskraft fundiert das ästhetische Urteil in einem „interesselosen Wohlgefallen“, und die Struktur des Ästhetischen selbst besteht entsprechend in einer „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“.4 Damit ist die Kunst konstitutiv frei von allen externen Ansprüchen, z. B. utilitaristischer und/oder moralischer Art. Sie gibt sich autonom ihre eigenen Regeln.5 Der zweite Diskurs ist ein soziologischer und wird prominent u. a.
3 4 5
Vgl. Heiner Bielfeld: Autonomie, in: Marcus Düwell/Christoph Hübenthal/Micha Werner (Hg.): Handbuch Ethik, Stuttgart 22006, S. 311–314. Kant: Kritik der Urteilskraft (wie Anm. 1), §§ 2 und 10. Vgl. dazu Jens Kulenkampf: Kants Logik des ästhetischen Urteils, Frankfurt/M. 2 1994 und Andrea Esser (Hg.): Autonomie der Kunst? Zur Aktualität von Kants Ästhetik, Berlin 1995.
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ÄSTHETISCHE AUTONOMIE
von Niklas Luhmann vertreten.6 Danach ist die Kunst ein gesellschaftliches Subsystem, das, wie die anderen Subsysteme (z. B. Politik, Wissenschaft, Wirtschaft) auch, seine eigenen Strukturen und leitenden Differenzierungen – seine eigenen „Gesetze“ – aufbaut. Jedes Subsystem steht zwar mit der Gesellschaft insgesamt sowie mit den anderen Subsystemen in vielfältigen Beziehungen – und durchaus auch in Abhängigkeiten –, aber diese Beziehungen unterliegen immer den Bedingungen des je eigenen Systems. Kein Subsystem ist autark, aber jedes ist autonom: eben eigengesetzlich. Die Eigengesetzlichkeit des Kunstsystems besteht in erster Linie darin, dass es selbst darüber entscheidet, was Kunst ist und was nicht.7 Beide Diskurse besitzen also, obwohl sie sich ansonsten stark unterscheiden, einen gemeinsamen Fluchtpunkt: die Autonomie der Kunst. Meine eigenen Überlegungen zur ästhetischen Autonomie sind weit weniger anspruchsvoll. Wie bei der moralischen Autonomie genügt mir auch hier zunächst eine bloße Intuition. Ich will unter ästhetischer Autonomie eine zweifache Fähigkeit verstehen: (1) die Fähigkeit, Gegenstände oder Sachverhalte in der Welt in einer Weise wahrnehmen und über sie kommunizieren zu können, die der Eigenwirklichkeit und der Individualität dieser Gegenstände bzw. Sachverhalte gerecht wird; und sie ist (2) die Fähigkeit, dabei auch zu sich selbst, zu der eigenen Individualität ein adäquates Verhältnis zu entwickeln. Ästhetische Autonomie ist dabei als ein regulativer und prozessualer Begriff gemeint. Eine vollständige „Selbstgesetzgebung“ ist wohl in keinem Lebensbereich realisierbar, auch in der Kunst nicht – und vielleicht auch gar nicht erstrebenswert. Es geht eher um die Ausbildung von bestimmten „Kompetenzen“, die eine zunehmende ästhetische Selbstbestimmung des Individuums ermöglichen; d. h. es geht eher um „Autonomisierung“ als um „Autonomie“. Meine erste These lässt sich im Anschluss an diese Bestimmung nun etwas genauer so formulieren: Ästhetische Prozesse – insbesondere die Auseinandersetzung mit Kunst – ermöglichen die Ausbildung eines spezifischen Selbst- und Weltverhältnisses, dass sich mit dem Begriff der „ästhetischen Autonomie“ bezeichnen lässt. Grundlegend für die Begründung meiner These ist die allgemeine Annahme, dass alle unsere Selbst- und Weltverhältnisse auf symbolischen Prozessen beruhen. Der Mensch lebt in einem zwar selbstgeschaffenen, aber höchst
6 7
Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1995, insb. Kap. 4: Die Funktion der Kunst und die Ausdifferenzierung des Kunstsystems. Vgl. dazu und zu den weiteren ästhetischen Implikationen auch Markus Koller: Die Grenzen der Kunst. Luhmanns gelehrte Poesie, Wiesbaden 2007 sowie Harry Lehmann: Die flüchtige Wahrheit der Kunst. Ästhetik nach Luhmann, München 2006.
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eigendynamischen „symbolischen Universum“.8 Die weitergehende Annahme besteht nun darin, dass unterschiedliche Formen der Symbolisierung eben auch unterschiedliche Selbst- und Weltverhältnisse generieren (können). Und im Kontext dieser weitergehenden Annahme halte ich die Unterscheidung zwischen diskursiven und präsentativen Formen der Symbolisierung, die von Susanne Langer entwickelt worden ist, für äußerst konstruktiv.9 Mein Anschluss an Langer ist allerdings nicht philologischer Natur; ich übernehme lediglich den grundlegenden Gedanken, aber nicht die Einzelheiten und übergehe auch die z. T. erheblichen symboltheoretischen Probleme.10
3. D isk u r sive u nd prä sent at ive Sy mb ol isier u ngen Beispiele für diskursive Symbolisierungen sind: Mathematik, Logik, Wissenschaftssprachen. Beispiele für präsentative Symbolisierungen sind: Rituale, Bilder, Musik, Gedichte, Narrationen. Die Beispiele zeigen, dass sich präsentative Symbole vor allem in der Kunst finden. Es gibt natürlich auch außerhalb der Kunst präsentative Symbole, aber Kunst kann als derjenige Bereich verstanden werden, der systematisch versucht, unsere Erfahrungen mit Hilfe präsentativer Symbole zu artikulieren und zu erweitern. Die Beispiele zeigen auch, dass die Unterscheidung diskursiv/präsentativ nicht identisch ist mit der Unterscheidung sprachlich/nicht-sprachlich. Es gibt sowohl präsentative sprachliche Symbolisierungen – z. B. Gedichte – als auch nicht-sprachliche diskursive Symbolisierungen – z. B. mathematische Formeln. Darüber hinaus handelt es sich um eine idealtypische Unterscheidung. In der Realität haben wir es häufig mit Mischformen zu tun. Insbesondere natürliche Sprachen enthalten sowohl diskursive als auch präsentative Elemente. Andere Beispiele dafür sind Piktogramme oder Embleme. Soweit die Beispiele. Worin bestehen nun aber die strukturellen Unterschiede zwischen den beiden Symbolisierungsformen? Die Elemente diskursiver Symbolisierungen besitzen eine konventionelle Bedeutung. Damit ist gemeint, dass diese Bedeutung eine über die jeweilige Verwendungssituation bzw. den jeweiligen Verwendungskontext hinausreichende Stabilität aufweist. Die Bedeutung ist kontextstabil. In den natürlichen Sprachen 8 9 10
Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996, S. 50. Susanne Langer: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt/M. 1965, insb. Kap. 4: Diskursive und präsentative Formen. Dazu und zu Langer insgesamt vgl. Rolf Lachmann: Susanne K. Langer. Die lebendige Form menschlichen Fühlens und Verstehens, München 2000.
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hat sich diese Stabilität durch Konventionalisierung von selbst eingespielt. Da natürliche Sprachen einem kulturellen und historischen Bedeutungswandel unterliegen, handelt es sich dabei allerdings nur um eine relative Stabilität. In den Wissenschaftssprachen wird die Bedeutungsstabilität durch explizite Definitionen eigens abgesichert. Die höchste diskursive Stabilität erreichen wahrscheinlich die Mathematik und die formale Logik: In einer formallogischen Aussage wie z. B. „wenn a, dann b“, ist die Bedeutung der verwendeten Symbole „wenn“, „dann“, „a“ und „b“ bei jeder neuen Verwendung identisch. Die Elemente präsentativer Symbolisierungen besitzen dagegen keine konventionelle, sondern eine individuelle Bedeutung. Sie sind nicht in andere Kontexte transportierbar, bzw. ein solcher Transport verändert die Bedeutungen. Die Bedeutung ist kontextsensitiv. In einem Bild – z. B. einer Porträtzeichnung – können bestimmte Linien ein Auge, eine Augenbraue, eine Nase oder einen Mund bedeuten. Dieselben Linien können in einem anderen Kontext – z. B. der Zeichnung einer Landschaft – etwas ganz anderes symbolisieren, z. B. eine Sonne, einen Bergrücken, eine Horizontlinie oder ein Häuserdach. Man denke hier z. B. an die Bilder Paul Klees. Ein weiterer wichtiger Unterschied besteht darin, dass die Elemente diskursiver Symbole sich in eine „logische Sukzession“ bringen lassen. Damit ist gemeint, dass diskursive Symbole aus logisch verschiedenwertigen Elementen bestehen. Zum Beispiel besteht die diskursive Aussage „Alle Menschen sind sterblich“ aus einen Allquantor und zwei Prädikaten: „Alle F sind G“. Mit diskursiven Symbolen lassen sich also logische Aussagen formulieren, auf die man mit „Ja“ oder „Nein“ antworten kann. Präsentative Symbolisierungen führen dagegen zu keiner logischen, sondern zu einer dichten und simultanen Bedeutung. Die einzelnen Elemente ergänzen sich gegenseitig und fügen sich zu einer kompakten Ganzheit zusammen, aber es bestehen keine logischen Beziehungen zwischen ihnen. In einem Porträt etwa steht die Nase nicht in einer logischen Beziehung zum Mund. Ein Bild, ein Musikstück, ein Gedicht behaupten daher auch keine logischen Sachverhalte. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Diskursive Symbolisierungen setzen bestehenden Sinn bzw. Bedeutung voraus. Sie generieren keinen neuen Sinn; ihre Funktion besteht in erster Linie im Ordnen und Systematisieren von bereits bestehendem Sinn. In diesem Sinne sind sie konservativ. Natürlich ergeben sich auch durch Ordnung und Systematisierung neue (gewissermaßen höherstufige) Bedeutungen, allerdings nur innerhalb des Rahmens eines vorgegebenen Paradigmas. Ein Paradigmenwechsel verlangt eine neue Weise des Ordnens und Systematisierens, d. h. eine neue und grundlegend andere Perspektive auf bereits bestehenden Sinn. Präsentative Symbolisierungen sind dazu in der Lage, sie können auch grundlegend neuen Sinn generieren. In die-
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sem Sinne sind sie kreativ: Sie bedeuteten das individuelle „Ereignis einer Form“11 und können zur Ausbildung von neuen Perspektiven und Paradigmen führen.
4. Ä st he t isc he Autonom ie Soweit die Skizze der symboltheoretischen Grundlagen, nun zur Erläuterung meiner ersten These, nach der es in der Auseinandersetzung mit Kunst zu Prozessen ästhetischer Autonomisierung kommt (oder jedenfalls: kommen kann). Systematisch werde ich vier Bereiche unterscheiden: Wahrnehmung, Emotionalität, Kommunikation und Identität. Auch diese Auswahl verdankt sich lediglich einer ersten Intuition, ist also – wie es natürlich für jede Systematisierung gelten sollte – offen für Revidierungen und Erweiterungen.
4 .1 Wa h r neh mu ng Als Ausgangspunkt dient eine bekannte Formeigenschaft sprachlicher Symbolisierungen. Wenn man Sprache hört, fokussiert dies sofort die Aufmerksamkeit. So fällt es außerordentlich schwer, sprachliche Äußerungen nicht zu beachten, also einfach wegzuhören, wenn etwas gesagt wird (z. B. wenn man im Zug einem Gespräch der Mitreisenden zuhören „muss“). Aber die Aufmerksamkeit wird nicht wirklich an die Formelemente der Sprache gebunden, sondern sofort weitergeleitet. Die Formelemente werden in einem gewissen Sinne „überhört“. Wie ist das gemeint? Wenn wir Sprache hören, geht es uns in der Regel immer sofort um den Sinn, die Bedeutung, nicht um die Form, welche die Bedeutung transportiert. Nur in Ausnahmefällen (z. B. in einem für uns ungewöhnlichen Dialekt) wird die Aufmerksamkeit auf die Form selbst gelenkt und vom Inhalt abgezogen. Dies gilt nicht nur für gesprochene, sondern auch für geschriebene Sprache: Die Buchstaben in einem Text müssen so unauffällig sein, dass sie „übersehen“ bzw. „überlesen“ und schon in und mit der Wahrnehmung auf ihre diskursive Bedeutung hin überschritten werden. Präsentative Symbole und insbesondere Kunstwerke widersetzen sich nun diesem funktionalen Übersehenwerden. Ihre Formen besitzen oder behaupten einen Eigenwert, der beachtet werden will. Die Formelemente präsentativer Symbole binden die Aufmerksamkeit. Ein gutes Beispiel sind die Initialen mittelalterlicher Texte, die das diskursive Verstehen erschweren, indem sie die Wahrnehmung auf ihre Formen lenken.
11
Zu dieser Formel vgl. Oswald Schwemmer: Das Ereignis der Form. Zur Analyse des sprachlichen Denkens, München 2011.
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Man kann daher sagen, dass präsentative Symbole bzw. Kunstwerke schon rein quantitativ gesehen zu einer Verzögerung und Verlangsamung, einer Entschleunigung der Wahrnehmung führen. Ein ähnlicher Gedanke findet sich übrigens schon bei Kant. In einer oft zitierten Stelle aus dem § 12 der Kritik der Urteilskraft heißt es: „Wir verweilen bei der Betrachtung des Schönen, weil diese Betrachtung sich selbst stärkt und reproduziert.“12 Ein diskursiv-sprachliches Zeichen dagegen darf die Aufmerksamkeit gerade „nicht so auf sich ziehen, dass es bei sich verweilen lässt, denn es soll nur etwas gegenwärtig machen, das nicht gegenwärtig ist […]. Es darf also nicht durch seinen eigenen Bildgehalt zum Verweilen einladen.“13 Die kantische Erklärung für das „Verweilen“ ist allerdings keine symboltheoretische, sondern eine transzendentalphilosophische: Die Entschleunigung verdankt sich dem „freien Spiel“ der Erkenntnisvermögen. Ich dagegen würde sagen: Sie verdankt sich den präsentativen Symbolen. Da keine kontext-invarianten Bedeutungen vorliegen, zwingen sie zur Konzentration auf ihre individuellen und konkreten Formen. Als These ließe sich somit formulieren: Präsentative Wahrnehmung ist individualisierte und entautomatisierte Wahrnehmung. Diese These ließe sich mit Henri Bergson weiter ausformulieren. Dies kann ich hier aber nur andeuten. Mit Bergson können zwei Wahrnehmungstypen unterschieden werden: zum einen eine lebensweltlich-pragmatische bzw. alltägliche und zum anderen eine nicht-alltägliche bzw. ästhetische Wahrnehmung. Die alltägliche Wahrnehmung zielt auf die schnelle und sichere Identifizierung von Gegenständen, wie dies insbesondere in routinierten Handlungskontexten bedeutsam ist. Bei dieser weitgehend automatisierten Wahrnehmung verschwindet der Wahrnehmungsprozess gewissermaßen hinter seinem Resultat. Sie ist daher (im Sinne Bergsons) abstrakt und zeitlos. Die nicht-alltägliche, entautomatisierte Wahrnehmung dagegen zielt nicht auf die Identifizierung von Gegenständen (eigentlich: Klischees), sondern auf den Wahrnehmungsprozess selbst. Hier erfahren wir die Zeitlichkeit des Prozesses als konkrete und reine „Dauer“ bzw. durée. Während Bergson nun der Überzeugung ist, dass sich die Erfahrungen in der durée in erster Linie einer symbolfreien Intuition verdanken, ließe sich die überzeugendere (kulturphilosophische) These vertreten, dass es gerade die präsentativen Symbole sind, die uns in den ästhetischen Modus der durée versetzen, in dem sich dann individuelle und konkrete Erfahrungen artikulieren können.14 12 13 14
Kant: Kritik der Urteilskraft (wie Anm. 1), S. 138. So bei Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41975, S. 145. Vgl. Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg 1991. Vgl. dazu auch Mirjana Vrhunc: Bild und Wirklichkeit. Zur Philosophie Henri Bergsons, München 2002, S. 190 ff.
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4 . 2 E mo t ion a l it ät Spricht man über die Beziehungen von Kunst und Emotionalität, ist es zunächst wichtig zu betonen, dass ein Kunstwerk kein direkter Ausdruck von Gefühlen ist, sondern eine symbolische Artikulation. Ein direkter Ausdruck wäre z. B. ein Wutanfall. Ein Wutanfall ist aber kein Kunstwerk. Er ist noch nicht einmal ein Symbol, sondern ein Anzeichen (das anwesenden Interaktionspartnern u. a. nahe legt, sich jetzt besser nicht zu nähern). Symbolische Artikulation dagegen meint, dass man einem Gefühl eine in sich gegliederte Form des Ausdrucks gibt. Ohne symbolische Artikulationen wären wir – wie es etwa bei Kleinkindern der Fall ist – unseren Gefühlen mehr oder weniger hilflos ausgeliefert. Das bedeutet aber, dass symbolische Artikulationen immer auch eine gewisse Distanzierung vom emotionalen Erleben implizieren. Eine Artikulation mit stark diskursiven Anteilen – z. B. „ich bin wütend“ – ist weit entfernt von der emotionalen Erfahrung selbst. Wer diskursiv artikuliert, dass er wütend ist, ist schon sehr beherrscht, während zur Wut ja auch das Unbeherrschtsein mit dazu gehört. Natürlich sind auch präsentative Symbole vom emotionalen Erleben entfernt. Aber im Verhältnis zu den diskursiven Symbolen besitzen sie doch eine ungleich größere Nähe zum emotionalen Erleben. Diese „Nähe“ ergibt sich, weil zwischen präsentativen Artikulationen und emotionalem Erleben eine Formanalogie besteht. Was ist damit gemeint? Emotionales Erleben hat prozessualen Charakter und besitzt eine dynamische Form: Eine Wut schwillt langsam an, bis der Kragen plötzlich platzt; eine Trauer kann sich in regel- oder unregelmäßigen Wellen in uns ausbreiten oder sich in einem Akt des Weinens entladen und zur Ruhe kommen; eine Freude kann die Auflösung einer Spannung bedeuten usw. Diese dynamischen Prozessformen lassen sich diskursiv nur schwer oder gar nicht, präsentativ aber sehr gut artikulieren. Und zwar deswegen, weil die dynamischen Formen präsentativer Symbole mit den dynamischen Formen des emotionalen Erlebens korrespondieren können. Dies zeigt sich besonders deutlich in den präsentativen Symbolisierungen der Musik, deren Formen – Rhythmik, Tempo, Melodieverläufe usw. – eine besonders „nahe“ symbolische Artikulation unseres emotionalen Erlebens darstellen. Musik symbolisiert aber nicht die Gefühle selbst, sondern die musikalischen Verlaufsformen entsprechen den Verlaufsformen unseres emotionalen sowie zu einer direkten Anwendung auf den Bereich der Kunst die Untersuchungen von Deleuze über das Kino: Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/M. 1998 sowie Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M. 1990.
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Erlebens. Mit Susanne Langer kann man Musik daher als eine „Morphologie des Gefühls“ bezeichnen.15 Meine generelle These in diesem Zusammenhang wäre die, dass im Unterschied zu den schematisierenden diskursiven Symbolen präsentative Symbole eine ungleich genauere und individuellere Artikulation unserer Emotionalität ermöglichen. Ein differenziertes Verständnis eines Gefühls wird weder durch den rein expressiven Ausdruck (dem Wutanfall) noch durch eine diskursive Symbolisierung („ich bin wütend“), sondern durch eine individualisierende präsentative Symbolisierung (z. B. die narrative Geschichte der Wut) erreicht.
4 . 3 Kom mu n i k at ion Kunstwerke individualisieren und entautomatisieren nicht nur Wahrnehmungen und Emotionen, sondern auch die Kommunikation. Schon Kant sah im Ästhetischen einen Auslöser für eine besondere Form der Kommunikation: „Über das Schöne lässt sich streiten, aber nicht disputieren“.16 Disputieren würde bedeuten, dass man den Streit mit den Mitteln der Wissenschaft oder der Logik entscheiden könnte. Das geht jedoch nur mit diskursiv symbolisierten Sachverhalten. Mir kommt es hier aber noch auf einen anderen Punkt an. Die konventionellen Klischees, mit denen wir pragmatisch über Gegenstände der Lebenswelt sprechen können, prallen gewissermaßen am Kunstwerk ab. Der Begriff des „Klischees“, so wie ich in hier verwende, spielt z. B. für den Psychoanalytiker Alfred Lorenzer eine zentrale Rolle. Lorenzer beschreibt den psychoanalytischen Kommunikationsprozess als einen Prozess der Befreiung von konventionellen und oft unbewussten Klischees der Selbst- und Weltverständigung.17 In Zusammenhang mit Fragen nach der ästhetischen Autonomie kann man z. B. an die berühmten Flaggenbilder von Jasper Johns denken (Bild 1). Das Interessante daran ist, dass Johns ein bestimmtes Bildklischee nimmt – die amerikanische Flagge – und es in ein individuelles präsentatives Symbol verwandelt. Die amerikanische Flagge selbst ist kein präsentatives, sondern ein emblematisches Symbol, das die Emotionalität zwar stark bindet, aber auf eine schematische Weise. Durch die Verwandlung in ein präsentatives Symbol unterbindet das Bild von Johns (wenn man sich darauf einlässt) die schematischen
15 16 17
Langer: Philosophie auf neuem Wege (wie Anm. 9), S. 234; vgl. hierzu ebenfalls Lachmann: Susanne K. Langer (wie Anm. 10), S. 94–99. Kant: Kritik der Urteilskraft (wie Anm. 1), § 56. Alfred Lorenzer: Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse, Frankfurt/M. 41995, S. 106–126.
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Bild 1 Jasper Johns: Flag on Orange Field, 1957, Enkaustik auf Leinwand, 167,6 × 124,5 cm, Museum Ludwig, Köln.
Rezeptionsklischees des emblematischen Symbols – z. B. patriotische Ja/Nein– Stellungnahmen. Bei jedem Kunstwerk muss ich mir also einen Reim auf seine individuelle Bedeutung machen. Ich kann mich dabei zwar der Hilfe professioneller Kommentare bedienen, aber auch mit Kommentar muss ich die Auseinandersetzung mit dem Werk führen. Kommunikation über Kunst erfordert, dass ich (selbst!) einen Standpunkt beziehe.
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Beteiligen sich mehrere an dieser Art von Fragen, bestehen gute Chancen, dass sie bei der Kommunikation über Kunst in ein „eigentliches Gespräch“ geraten, in dem sie nicht nur neue Informationen über sich und die Welt erfahren, sondern auch eine neue Perspektive entwickeln, sich und die Welt zu sehen.18 Präsentative Symbolisierungen schaffen dazu jedenfalls günstige Voraussetzungen. Ich will an dieser Stelle aber ausdrücklich betonen, dass ich diskursive und präsentative Symbolisierungen nicht gegeneinander ausspielen will. Konventionen sind nichts Schlimmes, im Gegenteil. Auch die Kommunikation über Kunst muss auf diskursive Bedeutungen zurückgreifen. Kommunikation über Kunst ist nicht Kunst! Das „eigentliche Gespräch“ ist kein dunkles Raunen.19 Aber: Soll die Kommunikation über Kunst ihrem Gegenstand gerecht werden, dann muss sie auch nach Beschreibungen jenseits diskursiver Schemata und Klischees suchen. Damit komme ich zum vierten und letzten Bereich: Identität.
4 .4 Ide nt it ät Kunstwerke können uns – anders als diskursive Symbolisierungen – emotional in unserem Selbstverständnis, in unserer Existenz berühren, sie können unser „Tiefenich“20 ansprechen. Dieses Phänomen des Angesprochen- oder Angeblicktwerdens durch Kunst hat Rilke in einem Gedicht über eine antike Statue im Louvre (Bild 2) auf eine oft zitierte Formel gebracht: „denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern“.21 Der Rekurs auf gerade diese Sentenz Rilkes ist sicher nicht unproblematisch,22 aber glücklicherweise kann ich dabei an einen Autor wie George Steiner anschließen: 18 19 20 21 22
Mit dem Begriff „eigentliches Gespräch“ verweise ich auf Gadamer; vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode (wie Anm 13), S. 361. Anders formuliert: Es bestehen wichtige Unterschiede zwischen Gadamer und Heidegger! Vgl. hierzu noch einmal Bergson, diesmal Henri Bergson: Zeit und Freiheit, Hamburg 2006. Rainer Maria Rilke: Die Gedichte, Frankfurt/M. 1986, S. 503. Sloterdijk hat zu Recht auf das „Eigenleben“ und die „fast selbständige Karriere“ von Rilkes „Befehl aus dem Stein“ hingewiesen. Vgl. Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt/M. 2009, S. 43. Die für mich schwierige Frage in diesem Zusammenhang ist, ob dieses Eigenleben – an dem ja jede weitere Rezeption mitstrickt – die Sentenz mit einem ihr ursprünglich fremden Kitsch überzogen oder einen in ihr doch schon angelegten Kitsch bloß hervorgeholt hat. Diese Frage ist deswegen von Bedeutung, weil Kitsch alles andere als harmlos ist. Vgl. dazu Saul Friedländer: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, Frankfurt/M. 2007. Ein weiteres, damit zusammenhängendes Problem liegt im Pathos der Formel: Es wird dazu aufgerufen, sein Leben insgesamt, d. h. in seiner Totalität zu ändern. Dabei sind es bereits offene Fragen, ob man sein Leben
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Bild 2 Torso aus Milet, Paris, Louvre.
„Der archaische Torso in Rilkes berühmtem Gedicht sagt zu uns: ‚Du mußt dein Leben ändern‘. Und das sagen alle Gedichte, Romane, Dramen, Gemälde, Musikstücke, denen es sich zu begegnen lohnt. Die Stimme nachvollziehbarer Form, des Bedürfnisses nach direkter Ansprache, dem eine solche Form entspringt, fragt: ‚was empfindest du, was hältst du von den Möglichkeiten des Lebens, von den alternativen Daseinsformen, die unserer Begegnung, die dem Moment, da du mich erfährst, innewohnen?‘“23
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überhaupt als eine Totalität auffassen kann oder sollte. Angemessener sind hier wohl Konzepte, die von Veränderungen in einem Leben ausgehen, die unterschiedliche Tiefenwirkungen aufweisen können. George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, München 1990, S. 189 f.
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Rilke spricht also – auf eine präsentative Weise! – aus, dass es sich bei der Bedeutung, die Kunst für uns hat (oder haben kann), nicht um irgendeine unwichtige Nebensache handelt. Es geht vielmehr um uns selbst, um unser Leben und um die Frage, wie wir dieses Leben führen. Kunstwerke sind in der Lage, die Selbstreflexion für eine existentielle Dimension zu öffnen. Ich würde allerdings einen etwas anderen Akzent setzen als derjenige, auf den der Imperativ Rilkes abzielt. Von Kunst geht noch etwas Grundlegenderes (und vielleicht auch etwas Humaneres) aus als der Befehl, sein Leben (oder besser: Teile bzw. Aspekte seines Lebens) ändern zu müssen. Man muss nicht immer und unbedingt sein Leben ändern, aber dass man es ändern kann, wenn man zu der Überzeugung gekommen ist, es tun zu müssen, ist eine wichtige Einsicht in Bezug auf die eigene Autonomie. Und genau diese Einsicht – Du kannst dein Leben ändern! – lässt sich formal aus der faktischen Existenz von Kunstwerken gewinnen. Das wäre jedenfalls die – vielleicht doch überraschende – These. Eine Begründung könnte folgendermaßen aussehen. Kunstwerke sind besondere Ordnungen in der Kontingenz. Der Bereich der Kunst zeichnet sich in bestimmter Hinsicht ja durch ein Höchstmaß an Freiheit aus. Es gibt – zumindest in der modernen Kunst – keine abstrakten Kriterien oder Regeln, die darüber entscheiden, ob etwas ein stimmiges Kunstwerk ist. Jedes Werk muss diese „ästhetische Stimmigkeit“ aus sich selbst heraus entwickeln und behaupten. Dass unter solchen Bedingungen überhaupt immer wieder neue und gelungene Werke entstehen, ist im Grunde erstaunlich. Die ästhetische Arbeit kann offenbar gelingen. Es gibt den „glücklichen Griff“.24 Kunstwerke zeigen demnach paradigmatisch, dass Kontingenz bzw. Freiheit handhabbar, bewältigbar ist. Und damit sind sie, wie man in Anlehnung an den § 59 der Kritik der Urteilskraft formulieren kann, „Symbole“ der Autonomie.25 Man kann sich auf das Experiment einer selbstbestimmten Veränderung einlassen – wenn man es für erforderlich hält. Wie gesagt: man muss sein Leben nicht ändern, aber man kann, wenn man will. Damit will ich die Explikation meiner These (1) abschließen. Der symboltheoretische Zugang zur Kunst hat zu einem Konzept ästhetischer Autonomiebildung geführt, das sich so zusammenfassen lässt. Ästhetische Autonomiebildung verdankt sich einer Schulung durch präsentative Symbolisierungen. Die Auseinandersetzung mit Kunst führt zu einer Individualisierung und Entauto24 25
Vgl. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, hg. v. Günter Dux/Odo Marquard/Elisabeth Ströker, Frankfurt/M. 1981, S. 397. Vgl. hierzu auch den vorzüglichen Aufsatz von Birgit Recki: Die Dialektik der ästhetischen Urteilskraft und die Methodenlehre des Geschmacks, in: Otfried Höffe (Hg.): Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft. Klassiker Auslegen, Berlin 2008, S. 189–210.
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matisierung von Wahrnehmung und Kommunikation. Nicht nur das, was wir wahrnehmen, sondern auch die Art und Weise, wie wir etwas wahrnehmen – und darüber kommunizieren – werden so der Klischeebildung entzogen und für eine grundlegende Reflexion geöffnet. Kunst ermöglicht aber auch einen anderen Zugang zu unserer Emotionalität und zu unserer Identität. Präsentative Symbole erlauben die eigene und individuelle Artikulation unseres emotionalen Erlebens und unserer existentiellen Selbst- und Weltverständnisse.
5. Ä st he t isc he u nd mora l isc he Autonom ie Ich will nun noch kurz auf die beiden weiteren eingangs formulierten Thesen eingehen, nach denen ästhetische Autonomie ein Modell (These 2) bzw. eine notwendige Bedingung (These 3) für moralische Autonomie darstellt. Zunächst zur These (2). Mit ihr ist gemeint, dass die Beschreibung ästhetischer Autonomiebildung es ermöglicht, auch moralische Autonomiebildung besser und/ oder anders zu verstehen. Dies ist eine sehr vorsichtige These, die weit entfernt ist von vorschnellen Analogien oder weitergehenden Identitätsbehauptungen: Kunst und Moral bzw. Ästhetik und Ethik sind natürlich nicht Eins.26 Eine ausführliche Analyse müsste nun aufzeigen, dass und wie sich moralische Autonomie ähnlich wie ästhetische Autonomie in jedem der vier Bereiche ausbildet. Dazu kann ich nur einige wenige Stichpunkte machen. Vor allem folgender Punkt ist mir wichtig: Moralische Normen und Werte begegnen mir nie abstrakt, sondern immer in Form von konkreten Situationen. Ein zentraler Aspekt moralischer Autonomiebildung besteht daher in der Fähigkeit, Situationen hinsichtlich ihrer individuellen moralischen Bedeutung beurteilen zu können. Eine Situation verlangt von mir, wenn es um ihre moralische Dimension geht, wie ein präsentatives Symbol, dass ich die Einzelheiten nicht „übersehe“. Auch bei der Moral muss ich sozusagen in den Modus der durée wechseln. Ebenso wie Kunstwerke muss ich moralische Situationen anders wahrnehmen: verzögert, verlangsamt, entschleunigt, genau. Und ich muss anders über sie kommunizieren – vor allem jenseits einfacher Ja/Nein-Stellungnahmen. Moralische Situationen fordern Wahrnehmung und Kommunikation wie Kunstwerke heraus. Dabei sprechen moralische Situationen ebenso wie Kunstwerke zunächst unsere Emotionalität an. Wir fühlen, dass „unsere Hilfe gefordert“ ist;
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Das hat vermutlich nicht einmal Wittgenstein selbst gedacht; vgl. hierzu die Beiträge in Wilhelm Lütterfelds/Stefan Majetschak (Hg.): Ethik und Ästhetik sind Eins. Beiträge zu Wittgensteins Ästhetik und Kunstphilosophie, Frankfurt/M. 2007.
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empfinden, dass „ein Unrecht geschieht“ usw. Moralische Autonomiebildung setzt demnach voraus, die emotionale Empfindungsfähigkeit zu entwickeln. Dabei geht es mir auch hier nicht um eine Frontstellung gegenüber diskursiven Zugangsweisen. Ein erster emotionaler Eindruck kann z. B. täuschen; ich kann mich irren: „es lag überhaupt kein Unrecht vor“. Ich muss mir also darüber klar werden, was denn eigentlich ein „Unrecht“ ist und wodurch es sich von anderen Dingen – z. B. einem „Unglück“ – unterscheidet. Und dies ist eine diskursiv-begriffliche Arbeit. Allerdings – und das ist eine direkte Implikation des ästhetischen Konzepts der Autonomiebildung – muss jede ethische Theorie berücksichtigen, dass die individuellen Aspekte einer moralischen Situation nie ganz in diskursiven Analysen aufgehen. Ethiken müssen demnach versuchen, ihre Abstraktionen möglichst auszugleichen – z. B. durch phänomenologisch genaue Beschreibungen. Eine Ethik, die sich am Modell der Ästhetik orientiert, kann daher keine reine Prinzipienethik sein.27 Zudem muss ich, wie in der Kunst auch, in der Moral bereit sein, mich mit Identitätsfragen zu beschäftigen, mit Fragen nach dem „Guten Leben“. Moralische Autonomie verlangt dabei auch, dass ich bereit bin, mich evtl. zu verändern – wenn ich z. B. feststelle, dass ich die Werte und Normen, die ich bisher unthematisiert geteilt habe, nicht mehr vertreten kann, weil sie bei einer Reflexion über das Gute Leben ihre Gültigkeit verloren haben. Auch eine moralische Reflexion kann also in den Imperativ Rilkes münden. Abschließend nun noch eine Anmerkung zu der These (3): Ästhetische Autonomie ist eine notwendige Bedingung für moralische Autonomie. Wie ich eingangs schon gesagt habe, halte ich diese These für weitgehend falsch. Damit soll nicht das praktische Projekt einer Schulung der moralischen Autonomie durch ästhetische bzw. kulturelle Bildung diskreditiert werden.28 Ein solches Projekt ist und bleibt höchst sinnvoll, ich glaube jedoch nicht, dass sich die in der These behauptete Notwendigkeit wirklich begründen lässt. Es gibt jedenfalls Beispiele, die auf anderes verweisen – nämlich Personen mit einer hoch entwickelten ästhetischen Kompetenz, die in moralischen Kontexten in erschreckender Weise versagen. Auch hier kann ich mich auf Georg Steiner berufen, der sich (mit Blick auf den Holocaust) immer wieder jener „paradoxen Tatsache“ gestellt hat, dass „die moderne Barbarei auf eine intime, vielleicht unvermeidliche Weise dem
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Otfried Höffe weist aber immer wieder und zu Recht auf die Gefahr einer klischeehaften Alternative Aristoteles vs. Kant hin; vgl. etwa Otfried Höffe: Lebenskunst und Moral – oder macht Tugend glücklich?, München 2007. Zu diesem Projekt vgl. u. a. die zahlreichen Arbeiten von Max Fuchs: www.akademieremscheid.de (8. 12. 2011).
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eigentlichen Kern und Schauplatz der humanistischen Zivilisation entsprang“.29 Steiner muss fassungslos „das gleichzeitige Nebeneinander im selben Menschen von Bestialität und beflissener Bildung“ feststellen, dass also „Männer, die Auschwitz ersonnen und verwaltet haben, angehalten worden sind, Shakespeare und Goethe zu lesen – und es weiterhin tun“.30 Den naheliegenden Einwand, „solche Männer hätten die von ihnen gelesenen Gedichte, die von ihnen gehörte Musik eben nicht verstanden“, will er zu Recht nicht gelten lassen, und zwar, „weil es ganz einfach keine Beweise dafür gibt, dass sie von stumpferem, beschränkterem Empfinden gewesen sind als jeder beliebige andere“.31 Wie immer man auch an dieser Stelle weiter diskutieren wird, die These, dass die Auseinandersetzung mit Kunst notwendigerweise auch zur Moral führt, dürfte kaum noch Bestand haben.32
6. Nac hb emerk u ng Zeitgleich mit der Tagung zum Gedächtnis für John Krois, auf die die Beiträge dieses Bandes ja zurückgehen, fand im Berliner Bode-Museum die vielbeachtete Ausstellung „Gesichter der Renaissance“ statt, in der u. a. Leonardos Dame mit dem Hermelin (Bild 3) zu sehen war, die auch in den Diskussionen der Tagung eine gewisse Rolle spielte. Wie es ein glücklicher Zufall wollte, konnte man in der Neuen Nationalgalerie zur selben Zeit auch eine beeindruckende zeitgenössische Arbeit von Taryn Simon sehen – A Living Man Declared Dead and other Chapters –, in der die Dame mit dem Hermelin ebenfalls auftauchte, dieses Mal in Form einer kleinen fotografischen Reproduktion (Bild 4). Der Kontext war aber ein ganz anderer als im Bode-Museum. Wer es nicht wusste, konnte hier erfahren, dass das berühmte Gemälde Leonardos zwischen 1940 und 1944 in Hans Franks „Arbeitszimmer“ in der Krakauer Burg hing, nachdem der „Kunstkenner“ Frank es zusammen mit zahlreichen anderen Werken seinen polnischen Besitzern, der Familie Czartoryski, gestohlen hatte.33 Hans Frank ist eines der Beispiele, auf die auch Georg Steiner hinweist: Nationalsozialist der ersten Stunde, Hitlers persönlicher Rechtsberater und als General29 30 31 32
33
George Steiner: Sprache und Schweigen. Essays über Sprache, Literatur und das Unmenschliche, Frankfurt/M. 1973, S. 30. Ebd., S. 199, 41 f. George Steiner: In Blaubarts Burg. Anmerkungen zur Neudefinition der Kultur, Frankfurt/M. 1972. Aus soziologischer Perspektive ließe sich natürlich hier einwenden, dass auch der Nationalsozialismus eine Moral darstelle, nur eben keine prosoziale. Die philosophische Gegenfrage würde allerdings lauten, ob der Begriff einer antisozialen Moral überhaupt ein sinnhafter Begriff sein kann. Dieter Schenk: Hans Frank. Hitlers Kronjurist und Generalgouverneur, Frankfurt/M. 2006, S. 236–240.
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Bild 3 Leonardo Da Vinci: Bildnis der Cecilia Gallerani/ Dame mit dem Hermelin, um 1489–1490, Öl auf Holz, 54,8 × 40,3 cm, Krakau, Nationalmuseum.
gouverneur des besetzen Polens einer der Hauptverantwortlichen für die Vernichtung der Juden in Osteuropa. Zugleich kann jedoch kein Zweifel darüber bestehen, dass dieser Hans Frank, den Opfer „Schlächter von Polen“ nannten, in vielerlei Hinsicht ein kunstsinniger Mensch war: „Welch ein Gegensatz: Generalgouverneur Dr. Hans Frank – humanistisch gebildet, Reichsrechtsführer, Minister der Reichsregierung, Nietzsche-Kenner, versierter Schachspieler, Herrenreiter, Pianist, Organist, Opernliebhaber und persönlich bekannt mit Gerhart Hauptmann, Richard Strauss, Winifred Wagner und Hans Pfitzner – dieser Intellektuelle trug Mitverantwortung für den Völkermord.“34 Parallel und in räumlich unmittelbarer Nachbarschaft zu diesem Völkermord organisierte Frank in Krakau ein reichhaltiges „Kulturleben“ mit Auftritten namhaf34
Ebd., S. 191.
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Bild 4 Taryn Simon: A Living Man Declared Dead and Other Chapters. Chapter XI, 2011, 213,4 × 301,7 cm, (Ausstellungsansicht).
ter Ensembles wie der Mailänder Scala, der Dresdner Philharmonie oder des Leipziger Gewandhaus-Orchesters, die zu „Mozart-Wochen“ anreisten.35 Diese Tatsachen hinterlassen eine tiefe und vielleicht nicht auflösbare Irritation, die – wenn überhaupt – wohl eher präsentativ als diskursiv artikulierbar ist, wie dies z. B. in der Ausstellung von Taryn Simon geschah. Auch für diejenigen, die über die (diskursive) Information über die Verbindung zwischen Hans Frank und der Dame mit dem Hermelin schon verfügten, bedeutete ihre (präsentative) künstlerische Artikulation einen signifikanten Mehrwert. Die spätere Geschichte des Bildes legte sich gleichsam wie ein Schatten auf das Bild selbst und entzog es dadurch dem Blick einer rein ästhetischen Betrachtung, wie sie im Bode-Museum stattfand. Die bittere Notwendigkeit einer moralischen Perspektive wurde nicht als diskursive Forderung, sondern als ästhetische Form sichtbar. Es wäre schön gewesen, hätte ich über diese beiden Ausstellungen mit John M. Krois noch diskutieren können.
35
Ebd., S. 195.
I I I . KÖ R P E R
John M. Kennedy
W H AT I S A N O U T L I N E P IC T U R E I N V I S I O N A N D T O UC H? Blind and Paleolithic Artists
An edge of a surface is a limit of a polarized plane. Outline depiction of surface edges was discovered by paleolithic artists. Rather than having significance by fiat, it has a “biomedical” character1 – a mechanism in our body or “bauplan” which allows dotted lines, continuous lines and surface edges to have the same status in vision and touch.2 To make one represent the other requires extra principles, including a mathematical function. Six kinds of surface edges can be depicted in a line drawing, I demonstrate. Despite Diderot observing a blind man recognizing a profile drawn on his hand, today the suggestion that blind people might use outline drawings in a raised form3 comes as a surprise to many. Helpfully, figures 1 and 2 show line drawings, in the form of “raised” lines, sketched with skill by blind adults in a program run by artist and educator Heike Hamann at the Gemäldegalerie and Bode-Museum, Berlin. The lines in the sketches have meanings, which they concretely and immediately depict.4 The heads (figure 1) were drawn by R, a man (who had 5% vision in infancy, and is now only capable of detecting the presence of light) and the seated nudes (figure 2) by N, a woman (who has been totally blind since age 6, having had very low vision in infancy, meaning she has been capable of seeing objects held close to her eyes). R and N were largely blind from birth, and had little experience with outline drawings, especially raised-line drawings, but both have liked making pictures at times in their lives – R as an adult, using Braille dots, and N as a child of six and younger using 1 2 3 4
John M. Krois: Cassirer’s “Prototype and Model” of Symbolism, in: John M. Krois: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, ed. by Horst Bredekamp/Marion Lauschke, Berlin 2011, p. 49. Id.: Philosophical Anthropology and the Embodied Cognition Paradigm, ibid., p. 178. Id.: Für Bilder braucht man keine Augen, ibid., pp. 149–158. Id.: Cassirer’s “Prototype and Model” (as fn. 1), p. 50.
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paint. Hamann encourages her blind participants to draw but does not instruct them in the use of line or insist on any particular shape being drawn. She suggests targets such as “please draw this nude” and takes an interest in the result. R’s drawing uses continuous lines, and N’s often has dotted lines. One question I hope to answer here is why continuous and dotted lines both work well to show surface edges in vision and touch.5
Figure 1 Raised-line drawings of heads by a blind man, R (from Heike Hamann, Bode-Museum, Gemäldegalerie), R has some sensitivity to light. Figure 2 Raised-line drawings of seated nude figures by a blind woman, N (from Heike Hamann, Bode-Museum & Gemäldegalerie), Some of N’s lines are dotted. N is totally blind. 5
Id.: Tastbilder, ibid., pp. 215, 221. Id.: Experiencing Emotion in Depictions, ibid., pp. 239, 245.
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The lines for the heads include a profile, meaning a surface’s edge, the background for the profile empty. The seated-nude picture shows one surface in front of another, an edge of a foreground surface with a background surface to one side of the line. These are two options used widely in outline (and both use the observer’s vantage point, the core concept of perspective). Surfaces and their edges are tangible as well as visual. Therefore, the set of options for using outline can be understood by the blind as well as the sighted.6 The set, figure 3 reveals, has six options.
Figure 3
Six referents for a line in an outline drawing.
Foreg rou nd a nd bac k g rou nd: The si x op t ions Figure 3 is an outline drawing of a block with an H-shaped goalpost on the top. The block sits on top of a platform. Six arrows show six options for a line in an outline drawing. The top arrow on the left indicates a line showing a post. The post itself is the foreground, and on either side of the line is the background. Reading from left to right, this line could be said to be depicting “empty background/foreground/empty background” or b-/f/b-. The width of the post is suggested by the width of the line, so a thick line would suggest a massive post.7 In this case, each of the contours of the line would be showing the sides of the post. However, the post could also be shown by a line of fine dots, like ………, in which case the immaterial connections perceived between the dots represent the post and the connections need have no appreciable thickness. They are a geometrical line in that respect, having location, continuity in length and shape 6 7
John M. Kennedy: Outline, Mental States and Drawings by a Blind Woman, in: Perception 38 (2009), pp. 1481–1496. Bjørn Laursen: Blyertsteckning. En Introduktion i Kreativt Bildarbete [Pencil drawing: An Introduction to Creative Picture-Making], Stockholm 1990.
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but no width. The connections between the dots stand for a continuous surface edge. Three terms, b/f/b, are needed to define the 3D referent. A post is a slim object with two borders subtending a narrow angle at the observer’s vantage point. This kind of referent has been drawn as far back as the record goes. In a drawing 50,000 years old from Australia, each of a bird’s talons are shown by single lines, in the Chauvet cave in France, in a picture from 30,000 years ago a horse’s tail is drawn with a single line, and in other paleolithic pictures, such as in Lascaux, from 15,000 years ago, horns and antlers are commonly shown by single lines. Evidently, the use of a line for post-like objects was part of the internal combustion engine of cave art. The pictures are easily recognizable, though as Mats Rosengren points out, understanding in modern times that these pictures were ancient came long after they were first noticed on cave walls, and only after years of scepticism and indifference.8 The middle arrow on the left points to a line that divides an empty background on its left from a distinct foreground surface on its right. We could term this f/b-, the b- again meaning an empty or indeterminate background. Indeterminate cases occur in nature when an object is seen to one side of a border but the other side of the border has no distinctive surface. A nearby object illuminated at night may have darkness on one side. In daytime, a near object may be silhouetted against the sky or mist. The background at issue in figure 3 appears to be in depth compared to the foreground, and to go behind the foreground. In appearance, the line shows the termination of the foreground surface but the background only has a limit of visibility. The f/b- line has two contours but it stands for a single change between a single nearby surface and a far region. The leftmost contour is often taken as the edge of the cube, if the line is thick. If the line is thin, the fact that there are two contours is irrelevant, and the line itself depicts the edge (an observation that calls for a “biomedical” mechanism). As a dotted line, the stretches between the dots stand for a continuous surface edge. Like the edge itself, the stretches between the dots have no thickness. Paleolithic pictures regularly show animals against an empty background, e. g., the Australian bird has no background. The low arrow on the left indicates a line that depicts two surfaces – a foreground on the right with a background on the left with a distinct surface which appears to continue behind the figure. It could be labelled f/b+ with b+ being a surface in its own right, one that is relatively distant compared to the foreground on the right. Information about the b+ surface is provided by lines 8
Mats Rosengren: On Creation, Cave Art and Perception. A Doxological Approach. Thesis Eleven 90/1 (2007), pp. 79–96 (doi: 10.1177/0725513607079258).
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surrounding the region, defining the edges of the flat top of a platform. The f and b+ surfaces are different entities. One could pull them apart with no tearing, and an insect crawling left-to-right near the far edge of the platform would go behind the cube, and not meet an insect crawling right-to-left on the front face of the cube. Only two terms, f and b, are needed to describe the referent since the line’s thickness does not show the thickness of part of the foreground cube. Once again the line’s function could be served by a dotted line. The line not only shapes the cube, it shows the termination of a surface. Paleolithic art contains examples of one animal depicted as behind another, e. g., a foreground lion shown against a background of a larger lion in the Chauvet cave end-chamber. Using the f and b labels, the lion’s lines are f/b+. Now consider the 3 arrows in the lower part of the illustration, all to do with two surfaces meeting. The left arrow points to an especially instructive line. In appearance, the line divides a foreground vertical surface, the front of the cube, from a horizontal foreground surface, the top of the platform that supports the cube. In this instance, one foreground ends at the line and the other foreground appears to touch it and continue past it. At the line, both surfaces appear equally distant, and both are foregrounds, but one appears to go behind the other. The line limits one surface where the two meet, namely the vertical surface of the cube, but not the other, the horizontal surface of the platform, though the two surfaces touch. The line shows the shape of both surfaces, since it is the end of the square vertical surface, and it confirms the flatness of the support surface. The line shows where a spatula could be inserted – a space it could enter to pry the neighbouring surfaces apart. To reinforce the idea that a foreground surface can end while showing the shape of a contiguous surface notice that the shape of the arm of a sofa can be shown by a blanket draped over it and the flat shape of a floor can be shown by occasional rugs decorating it. Rings show shapes of fingers and watchstraps the shapes of wrists. Shape given by both sides of the line is f/f, with each side being foreground, even if only one f terminates. A border operates on the vertical surface of the cube in figure 3, but in addition it contributes to the appearance of flatness of the horizontal surface. Like the previous cases, the cube base/platform line could be a dotted line. Paleolithic art, to my knowledge, has no cases of a foreground object supported on a foreground base, and in general no f/f with one f terminating. Perhaps one should call this f/f(t). (A full technical analysis of support “ground” surfaces in pictures was first offered in the Renaissance.) Consider now the middle arrow of the lower three. Like the cube-base line, the vertical to which the arrow points divides two coplanar foreground surfaces, one to the left and one to the right. Unlike the horizontal cube base/
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platform line, the vertical does not depict a single termination of a surface. A spatula could be inserted along the referent’s length as the line is showing a recess or niche or crack. The line limits each of the two surfaces meeting at the crack. It depicts a recess and the line itself shows background. As in the goalpost case, the thickness of the line in figure 1 could define the width of the crack, but, replaced by a dotted line, the crack could be shown by widthless stretches between dots. The line demarks a thin region, unlike the case of an f/b line showing a surface edge. Lines can show ruts in the roadway, or grooves and scratches in a smooth tabletop. Cracks and ruts are in-depth compared to the surfaces flanking them. The case can be termed f/b-/f if the depth is indeterminate. It is the reverse of a goalpost line’s b-/f/b-. There are minor variations on f/b-/f. Rather than a crack, the line might be seen as mortar or glue holding two bricks together, and depicting a slim surface almost coplanar with the two on either side. This would be f/b+/f. But also the line could be picturing a thin flat ribbon on top of the platform and tied around. If so, it would be appearing as the foreground figure, and on either side would be well-defined ground (b+/f/b+). Minor adjustments to the picture’s features (e.g., a bow on the ribbon line) would tip the balance in favour of one or other option. In all of these cases, the line acts as a region, not as depicting an f/b single change at an edge. On the lower right of figure 1 a sixth arrow points to two surfaces joining. The line thickness is irrelevant since the two surfaces form a corner. Convex and concave corners can be shown by a line. Both surfaces of the depicted corner end at the line. Neither goes behind. This is f/f again but now both surfaces terminate – ft/ft one might say – and the line shows the shape of both. Like the thickness of the line, its number of contours is irrelevant. A single dotted line could replace the solid, continuous line in figure 1. At the corner, there is no crack or groove, no mortar or spatial separation. One surface cannot be pulled from the other. No spatula can be inserted leaving each surface intact. Insects crawling on one surface will bump heads on insects crawling on the other without crossing a barrier. Despite having two contours, the line shows a single join rather than space between two surface edges. The presence of two borders neighbouring and paralleling each other is a special feature of continuous-line drawings. Perception can treat the line as having two relevant contours, as in figure 3’s posts and cracks, only the line as relevant as in case of a thin line, one contour relevant as in the case of a thick line showing f/b, or no contour present as in the case of the apparent connections between dots. The options in figure 3 constitute a “wee six” set that includes all the possibilities for opaque surfaces meeting at borders. The line itself can depict f or b. There can be f on one side of the line (f/b), both sides (f/b/f), or neither
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(b/f/b). What cannot be depicted is b/b. A b requires an f, but an f can coexist with a b or an f. That is, for a surface to be in the background there has to be a foreground, so two backgrounds at a border are an ontological impossibility. Since there are six options, and all are common in our ecological environment, and all are readily seen, it is not likely that perception adopts what the great Danish contributor to Gestalt psychology, Edgar Rubin, inventively called figure-ground9 (an offspring of the present terms foreground-background) as its default, and it is surely so unlikely as to be eyebrow raising that it insist on one side as foreground and the other as background. Further, though Rubin described shaping effects as emerging from borders, many factors dictate whether adjoining fields are to be seen as f/b or f/f. Vertices with the shapes of L, T, Y and arrows can be highly significant, especially for unfamiliar block forms. Also, the texture of neighbouring surfaces can indicate whether two surfaces at a border are made of one material like concrete, or entirely distinct like a pot sitting on a wooden table. Indeed, the texture gradients on either side of the border can specify concave or convex corners. Further, the form of the lines joining the vertices is often important. Familiar forms such as Eiffel towers, hair-styles and goalposts can be influential very rapidly.10 In principle, a vocabulary of familiar forms could be laid down as traces in higher regions of the visual cortex, readily triggered by visual input. Surely these are sometimes as influential in perception as quickly as some Gestalt patterns or texture gradients. Indeed, traces of familiar forms can be present at low levels in the visual system. Which factor is influential faster may well be an apples and oranges problem. Line drawings are an artificial method to represent objects, a technique practiced among humans for over 50,000 years, and highly successful in perception, though the goal of visual systems during evolution over millennia was to see real objects, not to perceive what is drawn on stones, papers and other surfaces. The percept in which a line is used purely for its ability to stand for surface terminations, ignoring line colour, line thickness and the presence of two contours not one is extraordinary from an evolutionary point of view. Likewise, the use of dots to show continuous posts, cracks and edges is remarkably telling. Perception evolved to see surface edges, not lines standing for them. As a subset of figure 3’s options, consider transparency (a suggestion for which I thank Dejan Todorovic). In figure 3, if the cube was somewhat transpar9 10
Edgar Rubin: Synsoplevede figurer [Visually-experienced figures], Copenhagen 1915. [Partially translated as “figure and Ground” (1958), in: Steven Yantis (Ed.): Visual Perception. Essential Readings, Philadelphia 2001, pp. 225–229]. Mary A. Peterson/James T. Enns: The Edge Complex. Implicit Perceptual Memory for Cross-Edge Competition Leading to figure Assignment, in: Perception & Psychophysics 4 (2005), pp. 727–740.
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ent, the horizontal support surface would not only continue physically behind the lower edge of the cube implicitly, it would do so visibly. The platform surface and the horizontal base of the cube would be seen through the transparent front face of the cube and the thickness of the cube. Further, the left side of the cube on the far side of the cube face, away from the observer’s vantage point, would be visible. The f/b line would limit the foreground face and the side face that met it to form a corner. The concave rear corners of the cube would be depicted by lines, much like lines for a wire cube. If the platform was transparent, the crack line, which has three junctions in figure 3, would continue, and add an L junction to show a rear corner, one that is hidden in the case of an opaque platform. For convenience, I have deemed the six options for opaque surfaces as primary, and transparency a subset. In transparency the location of the material of the polarized plane is relatively near the observer. The left side and base surfaces seen through the front surface of a transparent cube are variations on the right surface and top surface of the opaque cube, with the material of the cube closer to the vantage point than either of the surfaces. A second transparent cube could be behind the front cube, touching its rear surface, and a third stacked still further behind etc., and the number of surfaces through which one is looking is arbitrary. The corollary in touch is feeling an object through a cover – palpating. In these cases of stacked transparent cubes only two surfaces can adjoin – the rear surface of the near object and the front surface of the far object. One rectangle of lines would depict two surfaces. In sum, figure 1 shows six options for outline depiction of surface edges.
Equ iva lenc e What enables both dotted and continuous lines to depict surface edges? In part this could be phrased: What makes dotted, continuous lines and surface edges equivalent? Here I will suggest a model answer. Centre-surround areas on the retina, for vision, and the skin, for touch, could make this occur. (A similar model works for dots perceived sequentially.) Some retinal receptors are in a roughly circular field and some in a ring shape around the circle, as suggested by the left rings in figure 4.
Figure 4 A pickup mechanism that reacts similarly to dots, lines and contours of regions: Two centre-surround organizations of cells on the retina (left) trigger two Ccells (middle) that trigger a C+ cell (right) deeper in the visual system.
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WHAT IS AN OUTLINE PICTURE IN VISION AND TOUCH?
The receptors in a central area and the receptors in its surrounding ring (a centre and a surround) feed to a cell deeper in the visual system. Call this a C- cell. Centre and surround receptors drive the C- cell in opposing ways. If the intensity of light on centre and surround receptors is equal the pushes cancel each other and C- remains at rest. The optic input – the optic array – is taken as uniform. If the intensity on central receptors is different than that on the surround, the influences are out of balance. C- departs from its rest. A dot in the centre with uniform light in the surround will cause imbalance, triggering C-. Two neighbouring centre-surround regions and their C- cells could be connected to a cell deeper in vision: call this a C+ cell. To fire a C+ cell requires two C- cells not at rest. Of special concern for outline, a C- cell sensitive to dots will also be triggered by a line that runs solidly through a field’s centre, covering it, if the line only covers a fraction of the surround. The line is as wide as the centre but thinner than the surround. Hence, besides dots, a continuous line can trigger two C- cells, and a C+ cell. Of further interest, a contour between regions of different luminance on a surface can lie on fully on the centre, covering it entirely, but missing a chunk of the surround, and if so the centre and surround will receive unequal amounts of light. The contour can stretch across to a second centre-surround field, again covering a centre 100% but only say 70% of the surround, and thereby trigger two C- cells and then a C+ cell. Finally, a surface edge often results in different luminance on either side of its optic array projection. Hence it too could trigger two C- cells and a C+ cell. Alternatively, a surface edge often corresponds to a set of texture elements in a line, just like dots in a line. Either way, the edge triggers C+. (A similar argument can be made for centre-surrounds dealing with spectral differences – “coloured” dots, lines and contours.)
Cont i nu it y The result of the centre-surround, 2 C- cells and C+ cell structure is dots, continuous lines, luminance contours at edges of surfaces and texture-elements at surface edges would trigger one and the same deep C+ cells. This is a mechanism for grouping separated elements, the phenomenon described by the early Twentieth-century Berlin Gestalt psychologists and philosophers. Proximity and similarity of dots, for example, allow them to be grouped in perception. But how? By what in the body? Structures feeding C+ cells allow one result from different optic arrays – a dotted line has the same effect in vision as a continuous surface edge. Presto, outline depiction. In touch, a similar cell structure could be triggered by differences in pressure. Whether the input is pressure or
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light, intensity or colour, the cell model shows helpfully that outline could depend in principle on several inputs triggering one deep cell. Dots and continuous edges have the same effect, but why would the perceptual result of the bodily mechanism be that a dotted line depicts a continuous edge but a continuous edge does not depict a dotted line? Why the asymmetry? I am grateful to graduate student Peter Coppin for the question, and to Peter Gärdenfors for pointing out the need to develop the principle I’ll offer here. Both a continuous border and a line of dots fit a continuous function much like y = ax + b in the perceptual system. The function specifies what is between dots. Hence the asymmetry – there is no information in a continuous border to specify a particular set of dots (or any other texture). A similar asymmetry holds between a line and a surface edge. A line stands for a surface edge although a surface edge does not stand for a line. The reason for this asymmetry is obscure as yet. Likely, the surface cannot specify the width of the line, so it cannot be perceived as a line. An actual line has a width, from zero in the case of a dotted line to an appreciable width as in figure 3, which perception can treat as irrelevant when depicting a surface edge. The width is perceived but held in abeyance. There are eight ways to create visual borders given by combinations of luminance and spectral inputs, monocular and binocular effects, and static and purely kinetic divisions. In touch, pressure and motion give rise to perceived borders. In principle, the centre-surround pickup model can be applied to all the ways visual borders can define dots. But likely this is a toy model, meaning useful for demonstrating a problem to be solved, but not quite the same as the material the body uses, and simpler. Dotted lines stand for continuous edges because of the way the body is, one might accept. But why is the body the way it is? One cannot start from the body, as if the body was a given without a cause. The body is not an uncaused cause. Rather its perceptual abilities are shaped by the information for the universal of perception – surfaces. It is because surfaces on earth and Mars have continuous edges at a human scale that we have the capacity to perceive their continuity trouble free. It is because perception has developed to respond to surfaces with individual texture units scattered across continuous regions that separated units such as dots can be grouped as continuous areas. It is because surface edges involve separated texture units that are aligned and fit a shape function that perception has come to respond to dots as lines, and in particular as lines representing surface edges. The information for continuous regions of surfaces, and continuous edges, in the form of disparate units, groomed perception systems in our body over aeons to respond to dots and the like as grouped. The grouping involves continuity and particular spatial distributions, ax + b and the like. Perceptual grouping involves continuous functions for good rea-
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son. Functions characterize edges, areas and volumes that are present in the environment we have come to occupy. Surfaces are flat or positively or negatively curved, or both (saddle shaped). This is our niche. It pulled our body and its senses into existence. We are invited to fit it, and to fit it in ever better ways. In living, we are to be sensitive to and to get to know our environment, and our body is the result of our work in this direction thus far.
Per sp e c t ive, i l lusion a nd me t aphor Figure 1 shows a head face-front and in profile. Skill in using the observer’s vantage point is obvious in these pictures. Where we observe from – where our body is – this is vital in describing how we acquire knowledge through perception. Like the heads, the Matisse-like seated subjects in figure 2 reveal the observation place of the onlooker by showing limbs overlapping from a vantage point. These sketches imply perspective and are evidence that blind people appreciate perspective. With Marta Wnuczko I have been investigating the kind of perspective at issue. Linear perspective shrinks the angle subtended by the target object at the observer’s vantage point. Width shrinks in subtense – this is the azimuth dimension. The location of the foot of an object, standing on the ground, elevates in direction, a geometry the Renaissance made explicit. These two dimensions – azimuth and elevation – are orthogonal to each other. Together, they define the two-dimensional projection of the three-dimensional world in linear perspective. Wnuczko has tested blind and sighted-blindfolded observers pointing to the centres of small flat circular targets distributed in two paths on the ground stretching away from the observer’s vantage point. The circles were in pairs, one to the left of the observer, one to the right, and the pairs were equally spaced on the ground, 1 metre apart in azimuth. The observers were allowed to use sticks to walk between the circles and tap them, before returning to the origin of the paths to begin pointing. A key reason for using targets flat on the ground is that late-Renaissance pictures typically displayed prowess in linear perspective by portraying tiled piazzas, a ground plane. Wnuzcko’s results are that blind and blindfolded observers point higher in elevation to point to more distant circles, and point with smaller azimuths to more distant pairs of circles. We were fascinated to find that the blind and the blindfolded observers pointed with equal skill, and their results were largely indistinguishable. We conclude that blind and blindfolded-sighted observers have a sense of direction from the observer that is in the form of linear perspective. In drawing, aspects of direction begin to be used spontaneously in making pictures. Our hypothesis is that the drawing-development sequence is the same in the blind and the sighted, so far as use of outline and perspective is concerned.
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Azimuth-elevation relations deal with distant objects. We portray these in pictures. In effect, pictures for the sighted and the blind show the directions to parts of objects in the pictured world. Of interest, with pictures came illusions. On the picture surface features such as V, T, Y and X intersections show parts of objects as corners, dividing into limbs, overlapping and re-connecting. The advent of pictures allowed us to see features on the picture surface and features of the pictured world, simultaneously. The two intermix in perception. The pictured world looks flatter if the picture surface’s flatness is highly evident. With Sherief Hammad, I have been investigating the reverse – the picture surface’s features are misperceived if the information for picture-world planes slanting into depth is unmistakeable. Given V junctions offering acute and obtuse angles on the picture surface, as parts of the tops of depicted cubes for example, differences between the angles as large as 40 degrees simply vanish. Acute and obtuse angles on the picture surface often look equal if they are part of a quadrilateral portraying a square top of a cube, tilted in depth. The more impressive the information for tilt, arranged for example by adding texture or motion to an outline drawing of a cube, the larger the illusion. Evidently, besides the physical properties of features on the picture surface, the sensitivity of the observer to different kinds of information matters in dealing with pictures. What is perceived is a matter of what is physically true, what is represented and the observer’s built-in sensitivity “blueprint”. With line and perspective, pictures can be accurate about the world, and can be intended to be so, granting biases from “blueprints”. But humans are creatures of intention. We can violate realism intentionally. We may realize two referents share a common feature, like Pinocchio and our treasured Premier, and we can portray the Premier with Pinocchio’s nose. Of interest, blind people drawing pictures invent such metaphoric devices. EW, for example, began drawing a few years ago, in her 30s. She drew a raised-line drawing she entitled “Advent wreath” (figure 5). The candles are drawn up the page (top two) and sideways (bottom two). This is “foldout” geometry, common in drawings by 7-year-old sighted children. Within a few years of practice drawing, she drew “Thuringer Wald” (figure 6). The trees and ground are realistic, in the sense that they are copies of shapes in a literal fashion. In addition, horizontal wavy lines show the wind. About streams comparable to the wind EW commented that these might be metaphoric for the sighted but they are perfectly literal for the blind. Indeed, one can feel edges of streams of water in the ocean, or of air in air, but not see them. About the V shapes between the trees, which one might have deemed to be “birds on the wing”, she said “No. These are bird calls.” The calls are drawn in a fashion as metaphoric as a Premier’s nose. Another drawing, thoroughly sensuous, EW entitled “Re-entry shock”. It shows a cup of coffee so heavily put down on its base that its contents spill like fireworks
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up and out of the cup. One thinks of the burst in this picture in many ways, but in particular “Coming back from vacation can be like that”, EW commented. You are so full of feelings and memories you cannot quite contain it all. EW’s metaphoric devices in her pictures remind one of Frederik Stjernfelt’s comments on mental Arithmetic. Doing sums on paper – embodying them – is much easier than doing them in one’s head, he said. Similarly, pictorial devices work well on paper, not in mental imagery. Our mind is not full of outline drawings. The wind is not a thin line in our mind. Our mental imagery of bird calls is not Vs. The lesson is that the media for our representations enforces its own characteristics. Translations of metaphors from one medium to another require new bottles for the old wine. Philipp Stoellger prompted me to consider the Dove in religious paintings in this vein. Pictures of the Trinity present an older man, a young man and a dove – two people and a bird. Why the bird, one asks. It should be a person, if the Trinity is three persons in one. But men are older and younger, Fathers and Sons, and a third man age unknown is a spare at best, a cousin at worst and a stipulation of age could make the Spirit co-equal with only the Father or the Son. Or a grandfather or grandson. In these, something is too concrete. The creedal metaphor would be revealed for just what it is – a metaphor, nothing more, nothing less. The paradox would be clumsy. To show a Spirit and retain a sense of mystery, an implication of power flowing from the Father, a possibility of freedom for the Son, and an image of an observer on high requires a new embodiment of the metaphor of three persons in one. As a bird, the image is successful, but the person has become a feathered creature not mentioned in any Creed, an odd result.
Figure 5 Advent wreath with 4 vertical candles by EW, in foldout style, two candles are drawn with lines up the page and two with lines sideways. Raised-line drawing. EW has been totally blind since infancy. Figure 6
Thuringer Wald by EW, raised-line drawing.
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Conc lusion With some hope of being realistic, we can hold that line, perspective and direction, realism and rhetoric are part of the development and use of pictures in the sighted and the blind. The evidence from the blind helps tell us how to understand picture perception and use in the sighted. Let me return to the foundations of theory of outline and condense the key argument. A plane that is polarized, different on its two sides, is seen as a surface. Surfaces are as universal as gravity, and they structure the visible and tangible environment. Hence pictures taken on the moon or Mars, showing surfaces, are perfectly intelligible. One reason why paleolithic pictures were often mischaracterized as recent is that they use the same means as all outline drawings, modern or not. Surface edges are limits to polarized planes. They combine in only a few ways – six can depicted in a line drawing. The equivalence of dotted lines and continuous lines in showing surface edges is not a matter of fiat. Instead, it is a matter of “embodied” characteristics.11 Two principles are at work. One involves receptor regions in the body that are triggered equivalently by the three different physical objects – dotted lines, continuous lines and surface edges. The second requires the three to trigger mathematical functions in our embodied perceptual systems. The functions are continuous, notably between dots. Given this plan for the body’s visual and haptic systems, they depict continuous edges.12
Ac k nowle d g me nt s Thanks to Sherief Hammad and Marta Wnuczko.
11 12
Krois: Cassirer’s “Prototype and Model” (as fn. 1). Id.: Philosophical Anthropology (as fn. 2).
Peter Gärdenfors
B O D I LY F ORC E S , AC T I O NS A N D T H E S E M A N T IC S O F V E R B S 1
Br i ng i n t he forc es! How can we talk about what we see? This is basically a question of translation between two different types of information – the visual and the linguistic.2 Signals from the retina are processed in several stages as they spread through the brain and are transformed into a visual representation that we do not fully understand, even though there has been much progress during the last decades. Similarly, language is represented on several levels by the brain. Somehow these types of representation must be intertranslatable since we effortlessly can talk about what we see, and conversely, when we hear somebody tell a story we immediately form a vivid inner image of the narrative (and we can, more or less successfully, transform this image into a drawing or a sketch). The world is dynamic, full of actions and events, and not static as in a picture. To talk about what we see is therefore largely a matter of describing who does what and what happens. Understanding and communicating about human action is perhaps our most fundamental mental task. As a cognitive scientist, my concern is how we mentally represent actions and events. There are many theories about actions and events in the philosophical and psychological literature. I will model them with the aid of conceptual spaces to show that actions and events can be seen as generalizations of other cognitive representa1
2
This article was written during my time as a fellow at the Kolleg-Forschergruppe Bildakt und Verkörperung, Humboldt-Universität. I wish to thank the Kolleg for providing me with excellent working conditions and its members for valuable discussions. I also gratefully acknowledge support from the Swedish Research Council for the Linnaeus environment “Thinking in Time: Cognition, Communication and Learning”. Ray Jackendoff: On Beyond Zebra. The Relation of Linguistic and Visual Information, in: Cognition 26/2 (1987), pp. 89–114.
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tions.3 My main argument is that our understanding of actions and events depends on mental representations of forces, in particular bodily forces. As a background, I will first present the general approach of cognitive semantics and the (limited) role of forces within this tradition. Next I will give a brief introduction to my modelling tool: conceptual spaces. I will outline how they can be used to model properties and concepts (which form the semantic references of adjectives and nouns). Then I will turn to the main task of extending the conceptual space model by forces, which allow the representation of actions and events. The basic idea is that when we perceive an action, our brains automatically extract the forces that generate the action.4 Actions will thus be represented as patterns of forces. Borrowing an idea from my work with Massimo Warglien, events shall be represented by two vectors: one force vector modelling an action and one vector modelling the resulting changes of properties.5 The two vectors can be seen as the cause and the effect of an event. As an application of the models of actions and events, I will indicate how they can be used to develop a semantics of verbs. The semantics can explain several of the fundamental aspects of how verbs are used.
Cog n it ive sema nt ic s Partly as a reaction to the model-theoretic tradition in analytic philosophy and partly as a reaction to the earlier focus on syntax in linguistics, a new semantic theory called cognitive semantics has been developed.6 The prime slogan for cognitive semantics is: meanings are in the head. More precisely, a semantics for a language is seen as a mapping from the expressions of the language to some cognitive structures. An important tenet of cognitive semantics is that the meanings in our heads are of the same nature as those that are created when we perceive – when we see, hear, touch, etc., different things. If I see Fido, I see him as a dog since the perception I have fits with the cognitive structure in my head that is the 3 4 5 6
Peter Gärdenfors: Conceptual Spaces. The Geometry of Thought, Cambridge, MA 2000. Peter Gärdenfors: Representing Actions and Functional Properties in Conceptual Spaces, in: Tom Ziemke/Jordan Zlatev/Roslyn M. Frank (Eds.): Body, Language and Mind, vol. 1: Embodiment, Berlin/Leipzig 2007, pp. 167–195. Peter Gärdenfors/Massimo Warglien: Using Conceptual Spaces to Model Actions and Events [to appear in Journal of Semantics]. See e. g. Ronald Langacker: Foundations of Cognitive Grammar, vol. 1: Theoretical Prerequisites, Stanford, CA 1987; George Lakoff: Women, Fire, and Dangerous Things, Chicago, IL 1987; and William Croft/Alan Cruse: Cognitive Linguistics, Cambridge 2004.
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concept of a dog. In my mental classification of different animals, there is a “schema” for what a dog looks like (and sounds and smells and feels like): This image schema is, according to cognitive semantics, the very meaning of the word dog. Because image schemas are hence thought to be connected to our perceptual mechanisms, directly or indirectly, it follows that meanings are, at least partly, embodied. Ray Jackendoff formulates this as “the cognitive constraint”: “There must be levels of mental representation at which information conveyed by language is compatible with information from other peripheral systems such as vision, nonverbal audition, smell, kinesthesia, and so forth. If there were no such levels, it would be impossible to use language to report sensory input. We couldn’t talk about what we see and hear. Likewise, there must be a level at which linguistic information is compatible with information eventually conveyed to the motor system, in order to account for our ability to carry out orders and instructions.”7 I shall argue that not only must linguistic information be compatible with information from the perceptual system concerning spatial relations, but our actions should also be considered. One distinguishing feature of actions is that they involve forces exerted by agents. Consequently, forces should be among the building blocks of cognitive semantics – not only spatial relations or other perceptual primitives. Every word is supposed to correspond to an image schema. Ronald Langacker proposes that a verb corresponds to a process in time. In a simplified way, such a process can be described as three stages: one schema part for the beginning, one part for the middle and one part for the end of the process. The image schema for climb can resemble figure 1.
Figure 1 Image schema for climb. 7
Ray Jackendoff: Semantics and Cognition, Cambridge, MA 1983, p. 16.
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In this diagram, two dimensions are relevant: the vertical and the temporal. The axis representing the temporal dimension is drawn below the three stages and it is marked as a thick line since the temporal aspect of climb is in focus. The landmark is supposed to be vertically extended and the trajector (the small circle) is assumed to be in physical contact with the landmark. There is a close connection between the image schemas of early cognitive semantics and visual processes: The distinction between “trajector” and “landmark” is the same as the distinction between “figure” and “background” in visual perception.
The role of forc es i n sema nt ic s In the tradition of Annette Herskovits, George Lakoff and Ronald Langacker, the focus has lain on the spatial structure of the image schema (the very name image schema indicates this). Lakoff goes as far as putting forward what he calls the “spatialisation of form hypothesis” which says that the meanings of linguistic expressions should be analysed in terms of spatial image schemas plus metaphorical mappings.8 For example, many uses of prepositions, which primarily have a spatial meaning, are seen as metaphorical when applied to other domains. Words like in, at, on, under, etc., primarily express spatial relations and when combined with non-locational words they create a “spatially structured” mental representation of the expression.9 These representations are, naturally, also used when we interpret visual information. Herskovits presents an elaborated study of the fundamental spatial meanings of prepositions and she shows how the spatial structure is transferred in a metaphoric manner to other contexts.10 However, Joost Zwarts has argued that in many uses of prepositions, also elements of meaning related to forces are involved.11 Also, Langacker’s analysis of actions is done mainly in spatial terms. For example, his description of climb involves only the vertical dimension together with the time dimension, as the latter is an obligatory dimension for verbs. No forces are involved in his analysis. Thus the schema does not differentiate between pull up, push up, and climb. What is missing is that the meaning of climb involves the fact that the trajector exerts a vertically directed force. More recently, a more dynamic and embodied view of image schemas (which thus no longer are mere “images”) has been developed. However, in my 8 9 10 11
Lakoff: Women, Fire, and Dangerous Things (as fn. 6), p. 283. Annette Herskovits: Language and Spatial Cognition. An Interdisciplinary Study of the Prepositions in English, Cambridge 1986. Ibid. Joost Zwarts: Forceful Prepositions, in: Proceeding of 9th International Cognitive Linguistics Conference, Seoul 2005.
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opinion, the role of forces has been underrated within cognitive semantics. In Jean Piaget’s sensory-motor schemas, which were developed for modelling cognitive development and not semantics, motor patterns are central. These can be seen as a special case of the dynamic patterns that form our fundamental understanding of the world. I believe that many ideas from the schemas of developmental psychologists can fruitfully be incorporated in the constructions used by cognitive semanticists. Schemas based on forces, embodied or not, should also be elements in the toolbox used for describing semantic structures. The upshot is that by adding force dimensions to an image schema, we may obtain the basic tools for analyzing dynamic properties. The forces involved need not only be physical forces, but can also be social or emotional forces. One who emphasized the role of forces in image schemas early on was Mark Johnson, who in his book The Body in the Mind argues that forces form perceptual gestalts that serve as image schemas (even though the word image may be misleading here). He writes: “Because force is everywhere, we tend to take it for granted and to overlook the nature of its operation. We easily forget that our bodies are clusters of forces and that every event of which we are part consists, minimally, of forces in interaction. […] We do notice such forces when they are extraordinarily strong, or when they are not balanced off by other forces.”12 Johnson presents a number of “preconceptual gestalts” for force. These gestalts function as the correspondence to image schemas but with forces as basic organizing features rather than spatial relations. The force gestalts he presents are “compulsion”, “blockage”, “counterforce”, “diversion”, “removal of restraint”, “enablement” and “attraction”.13 Another exception is Leonard Talmy, who emphasizes the role of forces and dynamic patterns in image schemas in what he calls “force dynamics”.14 He recognizes the concept of force in expressions such as The ball kept (on) rolling along the green and John can’t go out of the house. He also notices the possibility in language to choose between what he calls force-dynamically neutral expressions and ones that do exhibit force-dynamic patterns, like in He didn’t close the door and He refrained from closing the door.15 Forces are furthermore taken as governing the linguistic causative, extending to notions like letting, hindering, helping, etc. He develops a schematic formalism that, for example, allows him to represent the difference in force patterns between expressions 12 13 14 15
Mark Johnson: The Body in the Mind. The Bodily Basis of Cognition, Chicago, IL 1987, p. 42. Ibid., pp. 45–48. Leonard Talmy: Force Dynamics in Language and Cognition, in: Cognitive Science 12/1 (1988), pp. 49–100. Ibid., p. 52.
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like The ball kept rolling because of the wind blowing on it and The ball kept rolling despite the stiff grass. Talmy’s dynamic ontology consists of two directed forces of unequal strength, of which the focal one is called “Agonist” and the opposing one “Antagonist”, each having an intrinsic tendency towards either action or rest, and a resultant of the force interaction, which is also either action or rest: “All of the interrelated factors in any force-dynamic pattern are necessarily copresent wherever that pattern is involved. But a sentence expressing that pattern can pick out different subsets of the factors for explicit reference – leaving the remainder unmentioned – and to these factors it can assign different syntactic roles within alternative constructions.”16 A limitation of Talmy’s analysis is that it only involves situations with two participants. However, forces are ubiquitous and basically any description of an event will have to refer to forces. It is my purpose to outline such a model of events.
Forc es i n pic t u res Our visual-perceptual mechanisms have evolved for a dynamic world, but we also use them to look at static pictures. The mechanisms spill over to picture viewing so that we also imbue pictures with a dynamics. This is in line with Henri Lefebvre’s aphorism “L’image est acte”. There are many meanings for “picture act” in the theory of arts, but here I will focus on the psychological aspects.17 Some interesting evidence for the dynamic mental representation of static pictures comes from the literature on representational momentum. In one of the first experiments dealing with this phenomenon, Jennifer Freyd and Ronald Finke showed subjects three rectangles, one at a time, too slow for them to perceive a direct movement of a single rectangle.18 The rectangles were placed at three positions in a possible path of orientation. Subjects were told to remember the third orientation and were then presented with a rectangle at a fourth position that was either rotated slightly less, exactly the same, or slightly more than the remembered triangle (see figure 2A). The subjects had a tendency to identify a rectangle rotated slightly more as identical with the third. This suggests that their mental representations of the rectangles induced a certain “mo16 17 18
Ibid., p. 61. For a comprehensive presentation, see Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010. Jennifer Freyd/Ronald Finke: Representational Momentum, in: Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition 10/1 (1984), pp. 126–132. Each picture was presented for 250 ms with a pause of 500 ms on average between each presentation.
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mentum” that influenced their memory of the third triangle. In contrast, this effect disappeared when the ordering of the two first rectangles was reversed so that there was no longer a path of motion (see figure 2B).
Figure 2
Test picture for representational momentum.
When it comes to the visual arts, Rudolf Arnheim has highlighted the role of forces in our experience of static pictures. According to Arnheim, the key to expression in visual art is how dynamic forces are rendered in static pictures. He argues that we do not perceive the world as made up of things, but as consisting of dynamic forces.19 Much of his theorizing originates within Gestalt psychology. In the books Art and Visual Perception and The Power of the Center, Arnheim emphasized a holistic interpretation of an entire image or space, in which there are interacting, often balancing sets of forces.20 He regards the visual forces as psychologically real, not merely figures of speech.21 The forces in a picture exist in the experience of any person who looks at it – they meet the perceptual criteria for physical forces.
19
20 21
John M. Krois: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, ed. by Horst Bredekamp/Marion Lauschke Berlin 2011, p. 207, notes that similar ideas can be found in Peirce’s writings: “By considering imagery from the standpoint of its embodiment, Peirce underlines the process character of even still images. […] There is no ‘pure visibility’, and that means that we need to understand more than vision to understand imagery.” Rudolf Arnheim: Art and Visual Perception. A Psychology of the Creative Eye, Berkeley/Los Angeles, CA 1954; Rudolf Arnheim: The Power of the Center, Berkeley/Los Angeles, CA 1982. Arnheim: Art and Visual Perception (as fn. 20), p. 16.
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For example, in figure 3 we perceive the two objects as seen from the side and, consequently, the gravitational force as acting upon them. The left object is seen as lying flat while the other as hanging vertically. The perceived force patterns acting upon them thus differ. If the picture is turned 90° clockwise, the two figures change roles. This illustrates how we cannot help perceiving gravitation in static pictures.
Figure 3 The role of gravitation in picture interpretation.
One of Arnheim’s stepping-stones is that the human mind strives for homeostatic equilibrium. Stimulating an organism from the outside will upset the balance and lead directly to a countermove. Visual balancing of forces works in the same way. In figure 4, Arnheim illustrates how different parts of a square surface, such as in a painting, generate a field of visual forces, where the centre represents the equilibrium point.
Figure 4 Forces in a square surface.
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One illustration that Arnheim uses is Jacques-Louis David’s picture of Bonaparte (figure 5). This painting is overloaded with forces: Gravitation as emphasized by the slope of the mountain, the horse’s movement, the strong wind, and even the coloring of the sky present a turmoil of forces – an allegory of the political turbulence – in the midst of which Bonaparte sits calmly and in full control.
Figure 5 Jacques-Louis David: Bonaparte Crossing the Alpes, 1800, oil on canvas, Musée de Versailles.
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Conc e p t ua l spac es a s a mo del l i ng to ol for sema nt ic s Conceptual spaces have been proposed as tools for modelling the meanings of natural language expressions. In my book Conceptual Spaces, I proposed the following criterion: Property criterion: A property is represented by a convex region of a dimensional space. For example, the property of being red is represented as a convex region of the three-dimensional color space. A concept in the most general sense can then be defined as a bundle of properties that also contains information about how the different properties are correlated.22 For example, the concept of an apple has properties that correspond to regions of color space, shape space, taste space, nutrition space, etc.23 The distinction between properties and concepts is useful when analyzing the cognitive role of different word classes. In Conceptual Spaces, I propose that the meaning of an adjective is typically a property, described as a convex region of a domain such as a color, shape or size. Correspondingly, the meaning of a noun is typically a concept represented as a complex of properties from a number of domains, that is, nouns typically denote bundles of properties.24 In this article, I want to outline how this analysis can be extended to the semantics of verbs. What distinguishes verbs from adjectives and nouns is that they typically denote a change in properties, i.e. the movement of an object’s representation through a conceptual space. For instance, as an apple ripens, its representation moves from green to red in color space and from sour to sweet in taste space. Thus, the representation of the object changes from one position (a start point) to another (the end point) in the underlying conceptual space. The ordered pair of two points (start, end) in the noun region can be viewed as a vector – consider it as an array of the initial and final snapshots of the object positions in such space. Such a vector represents a change of properties of the object – and thus introduces a form of kinematics. Thus, with the aid of vectors representing changes in the state of objects, one can very naturally define three important notions:
22 23 24
See Gärdenfors: Conceptual Spaces (as fn. 3), p. 105, for a more precise definition. See ibid., pp. 102f., for a more precise account of this example. Ibid., This is similar to the domain matrix proposed by Langacker: Foundations of Cognitive Grammar (as fn. 6). Information about the mereological structure of objects may also be part of a concept. See Peter Gärdenfors/Simone Löhndorf: What is a Domain? – Dimensional Structures vs. Meronomic Relations, MS, 2011.
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i ii iii
BODILY FORCES, ACTIONS AND THE SEMANTICS OF VERBS
A state is a point in a conceptual space A change of state is represented by a (non-zero) vector in such space A path is a concatenation of changes of states.
In the original meaning, a path is a series of changes in the domain of physical space, but the meaning of path can naturally be extended to changes in other domains (e. g. to describe how an apple ripens and then rottens).
Represent i ng ac t ions v ia forc es How do we structure actions in our minds? One idea comes from David Marr and Lucia Vaina, who extend cylinder models of objects to an analysis of actions.25 An action is, in Marr and Vaina’s model, described via differential inequalities for movements of the body parts of, say, a walking human (see figure 6). It is clear that these equations can be derived from the forces that are applied to the legs, arms, and other moving parts of the body.
Figure 6 Dynamical cylinder model representing walk. 25
See David Marr/Lucia Vaina: Representation and Recognition of the Movements of Shapes, in: Proceedings of the Royal Society in London. Series B, Biological Sciences 214/1197 (1982), pp. 501–524, who elaborate on David Marr/Keith Nishihara: Representation and Recognition of the Spatial Organization of Three-Dimensional Shapes, in: Proceedings of the Royal Society in London. Series B, Biological Sciences 200/1140 (1978), pp. 269–294.
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PETER GÄRDENFORS
In my earlier work with Warglien, the analysis in terms of conceptual spaces has been extended to representing actions.26 When we perceive an action we do not just see the movement but we also extract the forces that control different kinds of motion. The best empirical support for this claim comes from psychophysics. During the 1950s, Gunnar Johansson developed a patch-light technique for analyzing biological motion without any direct shape information.27 He attached light bulbs to the joints of actors who were dressed in black and moved in a black room. The actors were filmed performing actions such as walking, running, and dancing. Watching the films – in which only the dots of light could be seen – subjects recognized the actions within tenths of a second. Furthermore, the movement of the dots was immediately recognized as coming from the actions of a human being. Further experiments by Sverker Runesson and Gunilla Frykholm showed that subjects extract subtle details from the actions performed, such as the gender of people walking or the weight of objects lifted (where the objects themselves cannot be seen).28 One lesson to learn from the experiments by Johansson and his followers is that the kinematics of a movement contains sufficient information to identify the underlying dynamic force patterns. Runesson claims that people can directly perceive the forces that control different kinds of motion.29 His kinematic specification of dynamics-principle states that the kinematics of a movement contains sufficient information to identify the underlying dynamic force patterns. The process is automatic: we cannot help but see the forces. This capacity seems to develop early in infancy. My proposal is that by adding forces, one obtains the basic tools for analyzing the dynamic properties of actions. The language of vectors will be of great representational convenience. For many actions, for example moving and lifting, a single force vector may be sufficient, but for some, such as walking and swimming, a complex of forces is involved. More generally, I therefore define
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29
Gärdenfors: Representing Actions (as fn. 4); and Gärdenfors/Warglien: Using Conceptual Spaces (as fn. 5). See Gunnar Johansson: Visual Perception of Biological Motion and a Model for its Analysis, in: Perception and Psychophysics 14/2 (1973), pp, 201–211, for a survey of the research. Sverker Runesson/Gunilla Frykholm: Kinematic Specification of Dynamics as an Informational Basis for Person and Action Perception. Expectation, Gender Recognition, and Deceptive Intention, in: Journal of Experimental Psychology: General 112 (1983), pp. 585–615. For an illustration of the effects, see the simulations on: http://www.biomotionlab.ca/Demos/BMLwalker.html (27.03.2012). Sverker Runesson: Perception of Biological Motion: The KSD-Principle and the Implications of a Distal Versus Proximal Approach, in: Gunnar Jansson/Sten Sture Bergström/William Epstein (Eds.): Perceiving Events and Objects, Hillsdale, NJ 1994, pp. 383–405.
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BODILY FORCES, ACTIONS AND THE SEMANTICS OF VERBS
an action as a pattern of forces since several force vectors are interacting (in analogy with Marr and Vaina’s system of differential equations). The forces involved need not only be physical forces; they can also be extended metaphorically to emotional or social forces. Similarities between actions should be investigated in order to identify the structure of the action space. This can be done with basically the same methods used for investigating similarities between objects. In either case, the dynamic properties of actions can be judged with respect to similarities: e. g., “walking” is more similar to “running” than to “waving”. Very little is known about the geometric structure of action space.30 I make the assumption that the notion of betweenness is meaningful in the action space, allowing us to formulate the following criterion in analogy to the analysis of properties: Action criterion: An action category is represented as a convex region in action space. One may interpret “convexity” here as the assumption that, given two actions in an action category, the “morph” between those actions will be in the same category. One way to support the analogy between object concepts and actions is to establish that action categories share a similar structure with object categories.31 Indeed, there are strong reasons to believe that actions exhibit many of the prototype effects that Eleanor Rosch and her colleagues presented for object categories.32 In a series of experiments, Paul Hemeren has shown that action categories show a similar hierarchical structure and have similar typicality effects to object concepts.33 Force vectors will also be central ingredients in my model of events. The three concepts state, change, and path already provide some of the other ingredients. This way, events can be naturally constructed from the components of domains of conceptual spaces. Force space can also be extended metaphorically to represent psychosocial powers.
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For an example, see Martin Giese/Tomaso Poggio: Neural Mechanisms for the Recognition of Biological Movements, in: Nature Reviews Neuroscience 4/3 (2003), pp. 179–192. Paul Hemeren: Mind in Action, Lund 2008, p. 25. Eleanor Rosch: Cognitive Representations of Semantic Categories, in: Journal of Experimental Psychology: General 104/3 (1975), pp. 192–233. Paul Hemeren: Frequency, Ordinal Position and Semantic Distance as Measures of Cross-Cultural Stability and Hierarchies for Action Verbs, in: Acta Psychologica 91/1 (1996), pp. 39–66; Hemeren: Mind in Action (as fn. 31).
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PETER GÄRDENFORS
Represent i ng e vents With the analysis of paths and actions as a background, I now put forward my model of events.34 Both paths and actions are fundamentally relational concepts that focus on mappings within conceptual spaces (represented as change and force vectors). I claim that event representations are characterized by the mapping between the two types of vectors. This claim suggests the necessary requirement for an event representation: The two-vector condition: A representation of an event contains at least two vectors and one object: A result vector representing a change in properties of an object and a force vector that causes the change. The structure of the event is determined by the mapping from the force vector to the result vector. I will call the central object of an event the patient. A prototypical event is one in which the action of an agent generates a force vector that affects a patient by causing changes to its properties. As a simple example of the model, consider the event of Tom painting a fence. In this example, the force vector is generated by an agent – Tom. The result vector is a change in the color of the fence (and maybe a change of some other properties). I thus model causation by introducing the distinction between forces and changes of states. This model of events can be seen as a version of Immanuel Kant’s idea that causation is one of the Verstandesbegriffe of human thinking. The vectorial representation of forces provides a natural spatialisation of causation that unifies my model. Even though prototypical event representations contain an agent, there are event representations that need not involve agents, for example in events of falling, drowning, dying, growing and raining. In the limiting case when the result vector is the identity vector (having zero length), the event is a state. However, states can be maintained by balancing forces and counterforces, for example when a prop prevents a wall from falling. Agents and patients are modelled as objects – albeit sometimes nonmaterial ones – and can therefore be represented as points in conceptual spaces. The domains of the spaces determine the relevant properties of agent and patient. An agent is an animate or inanimate entity that generates the force vector. Even though I will not provide a full analysis of causation here, identifying causes with force vectors means that the agent is the one causing something to 34
This model has been developed in Gärdenfors: Representing Actions (as fn. 4); and Gärdenfors/Warglien: Using Conceptual Spaces (as fn. 5).
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happen. (The action can be null, in the case of an event that is a state.) An event is individuated on the assumption that the agent causes the event to happen independently of other events.35 An agent is modelled with the aid of an agent space that at least contains a force domain in which the action performed by the agent can be represented: this is the agency assumption. The force domain is primarily physical, but it can be extended metaphorically to social or mental “forces”: e. g., commands, threats, and persuasions. The agent space may also contain a physical space domain that assigns a location to the agent. A patient is, again, an animate or inanimate entity. The patient is modelled in a patient space that contains the domains needed to account for the properties of the patient relevant to the event that is being modelled. Those properties often include the location of the patient and sometimes its emotional state. A force vector can also be associated with the patient, representing the (counter-)force exerted by the patient in relation to the force vector of the event. This may be a physical force, as when a door does not open when pushed. It can also be an intentionally generated force, as when a person counteracts being pushed. In the representation of events, the patient force vector is often unknown and taken to be prototypical, entailing that the consequences of the force vector of the event are, to varying degrees, open. A special case of the event model, expressed linguistically by intransitive constructions such as Victoria is walking and Oscar is jumping, is when the patient is identical with the agent. In these cases, the agent exerts a force on him/her/itself. In other words, the agent modifies its position in agent space (= patient space). As we shall see, in many event schemas more vectors and objects may be involved. A two-vector model can be seen as a form of basic image schema that can be elaborated by specifying further components.36 To the minimal representation of an event required by the two-vector condition, a number of other entities (what linguists call “thematic roles”) can be added: agent, instrument, recipient, benefactive, etc.
35 36
This is congenial to the “force dynamic” model of how causes are described in Phillip Wolff: Representing Causation, in: Journal of Experimental Psychology: General 136/1 (2007), pp. 82–111. It should be noted that the schema is not visual but force dynamic.
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The sema nt ic s of verbs The model of an event can therefore become a complex structure, not only involving the two vectors, a patient and an agent with their properties, but also counterforces, instruments, recipients, intentions, etc. I want to distinguish between (a) mental models of events that contain representations of causes and effects and (b) construals that form the semantic basis for utterances. A construal is a mental model of an event with a particular focus of attention (topic) added to it.37 Even though the mental model of an event may be complex, a sentence normally only captures certain features of a construal generated from a particular focus on the event. In analogy with the visual process, where we can only focus our attention on some features of the visual field, a construal focuses on some parts of an event.38 Thus, the sentences Victoria hits Oscar and Oscar is hit by Victoria describe the same event with the aid of two different construals, where Victoria and Oscar, respectively, are put in focus.39 Consequently, there is no simple mapping between the role taken in an event and the designation of subject, object, or oblique. Following the idea that a sentence expresses a construal that represents a particular focus on an event, the most focused role is designated subject and the secondary focus is designated object. Tom Givon calls these primary and secondary topics. He writes that topicality “is fundamentally a cognitive dimension, having to do with the focus on one or two important event-or-state participants during the processing of multi-participant clauses.”40 In agreement with this, I see topicality not directly as part of event representation, but as a central element of the construal process. The central thesis of the proposed semantics of verbs is the following: Single vector constraint: A verb (root) expresses either the force vector or the result vector of an event (but not both).
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39 40
See e. g. section 3.3 in Langacker: Foundations of Cognitive Grammar (as fn. 6); and Tom Givon: Syntax, vol. 1, Philadelphia, PA 2001. This analogy between attentional focusing in visual perception and linguistics’ highlighting of a mental model carries further, as is shown in Peter Gärdenfors: Visualizing the Meanings of Words, in: Language and Visualization, Lund 2004, pp. 51–69. For example, the use of totum pro parte and pars pro toto metonymies are analogies of attentional zooming out and zooming in. William Croft: Verbs. Aspect and Causal Structure, Oxford [to appear], describes the passive as a “deprofiling” of the causal chain from the agent to the patient. This can be expressed by saying that the patient is made focus (topic) of the event. Givon: Syntax (as fn. 37), p. 198.
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BODILY FORCES, ACTIONS AND THE SEMANTICS OF VERBS
In the following, I will compare the theory of verb semantics to other accounts. However, I already here want to point to some new predictions deriving from the theory. First of all, it explains similarities of meanings of verbs by building on the distances between the underlying vectors. The fact that the meaning of walk is more similar to jog than to jump can be explained by the fact that the force patterns that represent walking are more similar to those for jogging than to those for jumping. Even though I have not presented the details of the similarities between the actions involved, this can be worked out in a systematic manner from the vectorial representation of actions.41 In a parallel way, the model can also explain the general pattern of subcategorizations of verbs: For example, the force patterns that correspond to the verbs march, stride, strut, saunter, tread, etc., can all be seen as subsets (more precisely sub-regions) of the force patterns that describe walk. The inference from “Oscar is marching” to “Oscar is walking”, etc., follows immediately from this inclusion of regions. The analysis extends to metaphorical uses of verbs. An important type of metaphors is based on similarities of force vectors in line with Lakoff’s “invariance hypothesis”.42 For example, when a football player “scythes down” another player, the metaphor builds on the similarity between the force patterns involved in scything crops and the movement of the first player’s legs in relation to the second player. A distinction is often made in linguistics between manner and result verbs. Manner verbs describe how an action is performed and result verbs what happens to the patient. On my account of the distinction, if the verb denotes the force vector of an agent – as for example in push or hit – then it is a manner verb; while if it denotes the change vector of a patient – as for example in move or stretch – then it is a result verb. A consequence of the single vector constraint is that no verb can express both the force domain and another type of domain at once. In the literature, there are several putative counterexamples, e. g. climb:43
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Martin Giese/Ian Thornton/Shimon Edelman: Metrics of the Perception of Body Movement, in: Journal of Vision 8/9 (2008), pp. 1–18, provide an example of how similarities of action can be systematically investigated. Georg Lakoff: The Invariance Hypothesis, in: Cognitive Linguistics 1/1 (1990), pp. 39–74. See Ray Jackendoff: Multiple Subcategorization and the Theta-Criterion: The Case of “Climb”, in: Natural Language and Linguistic Theory 3/3 (1985), pp. 271–295; Adele Goldberg: Verbs, Construction and Semantic Frames, in: Malka Rappaport Hovav/Edit Doron/Ivy Sichel (Eds.): Syntax, Lexical Semantics and Event Structure, Oxford 2011, pp. 39–58; and Malka Rappaport Hovav/Beth Levin: Reflections on Manner. Result Complementarity, in: ibid., pp. 21–38.
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Oscar climbed the mountain. Oscar climbed down the mountain. Oscar climbed along the rope.
It seems that, in its prototypical sense (1), climbing involves both upward motion and manner (clambering) but in other uses (2, 3) the motion has another direction. However, the single vector constraint is fulfilled by noting that the force vector of climb is required to have an upward direction.44 This constraint on the force vector typically generates an upward motion (the result vector), but as (2) and (3) show, exceptions can be marked by a preposition describing the direction of the result vector. 4 5
The train climbed the mountain. ? The train climbed down the mountain.
In (4) the force exerted by the train still has an upward direction (though very slanted – the best a train can do), but it is only metaphorically a case of clambering. However, in (5) the force of the train no longer has an upward direction, and so climb is less successfully applied for an event of this type.45 The examples indicate that the upward direction of the force vector is a prototypical ingredient of the meaning of climb. 6
The snail climbed up the side of the tank.
Malka Rappaport Hovav and Beth Levin consider examples like (6) counterexamples to the requirement of clambering as part of the meaning of climb.46 However, the snail’s suction to the tank can be seen as a metaphorical use of clambering – the force patterns involved are sufficiently similar.
44
45 46
Cf. Wilhelm Geuder/Matthias Weisgerber: Verbs in Conceptual Space, in: Sinn und Bedeutung VI: Proceeding of the 6th Annual Meeting of the Gesellschaft für Semantik, Osnabrück 2008, pp. 69–84; and Hovav/Levin: Reflections on Manner/ Result Complementarity (as fn. 43). However, as Hovav/Levin: Reflections on Manner. Result Complementarity (as fn. 43), pp. 11 f., note, there exist uses of climbing down for trains, buses and planes. Ibid.
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BODILY FORCES, ACTIONS AND THE SEMANTICS OF VERBS
Conc lusion: May t he forc e b e w it h you! Human beings are not passive receivers of information. We act so as to make our experiences better match our desires.47 This is what is called the enactive approach to perception. We also interact with others. I have argued that when we watch others act, our minds extract the forces that generate the actions. We can then map these forces onto our own actions and imitate the behaviour of others. However, we do not only perceive physical forces but also emotional or social forces in situations involving threats, promises, persuasions, seduction, etc. The role of forces shows up in my model of events. Their central parts are composed of one force vector (or pattern of vectors), representing what causes the event, and one result vector, representing what happens to the patient of the event. The forces in our representations of the world also play a role in our understanding of language. With some notable exceptions, the importance of forces for the meaning of words has been neglected in cognitive semantics. In this article, I have outlined a semantics of verbs. The main idea is that verbs express either the force vector generating the event or the result vector describing what happens, but a verb itself never describes both parts of an event. My ambition has been to highlight some of the roles forces play in humans’ understanding of the world around them. When you interpret the actions of other people or when you try to understand what they communicate – may the force be with you!
47
See e. g. William Powers: Behavior. The Control of Perception, Chicago, IL 1973; and Alva Noë: Action in Perception, Cambridge, MA 2004.
Shaun Gallagher
W H Y T H E B O DY I S N O T I N T H E BR A I N
As is well known, the western philosophical tradition is dominated by mindbody (or soul-body) dualism. One need only think of Plato and Neo-Platonism, and in more modern times, Descartes. According to dualism, mind and body are two different substances, and the body has nothing (or very little) to do with cognition. For Descartes, the brain (specifically, the pineal gland) is involved only as the place where mind operates to control bodily movement and receive sensory input. It is not clear that we have made much progress in this regard since the seventeenth century, despite great advances in brain science. If we ask about the status of the body in contemporary cognitive science, for example, we find a continued wrestling with Cartesian dualism reflected in the vocabulary of mind and body. The fact that science adopts a reductionist materialist philosophy, which treats cognition as based purely on physical processes, doesn’t necessarily escape a problematic denigration of the body. Although science has dismissed a certain rigorous form of behaviorism, where mental states and consciousness had been displaced by physical observable behaviors, it has turned to functionalism, where the mind is equated with computational, syntactical, representational operations that in the case of animals and humans are carried out by the biological brain, but also could be carried out by an artificial system. For functionalism, the physical nature of the system is relatively unimportant; the biological body is, in principle, unessential for cognition. This is consistent with a form of Cartesian materialism where the mind is entirely in the brain and the rest of the body is irrelevant. It supports a variety of internalistic philosophical positions. There is no denying that the brain plays an important role in cognition. But, is the brain the only player? According to neurologistic, neuro-centric, internalist views, one should think that free will is an illusion,1 that there are no 1
Daniel Wegner: The Illusion of Conscious Will, Cambridge, MA 2003.
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SHAUN GALLAGHER
selves, and never have been,2 and even that the world is a grand illusion.3 Even if there is no Cartesian evil demon, no matrix that determines all experience, the idea that all experience is generated by the brain is an equivalent thought. Perhaps the most telling of thought experiments in this regard is the brain in the vat. This image represents the idea that all experiences are generated in the brain, and only the brain is required for experience. It’s inspired by the direct brain stimulation experiments conducted by Wilder Penfield in which direct stimulation of neurons during open brain surgery generates specific experiences in the subject. Such evidence suggests that specific neural processes generate our experiences of the world, self, other people, etc. This point transitions into a principle: that the brain is where cognition and experience happens; cognition is a process that takes place fully in the head. A full and complete explanation of brain processes will be a full and complete explanation of cognition. This includes experience of one’s own body. Thus, for example, if we can think of phantom limbs after amputation as generated in neural processes in a plastic body map located in one or several places in the brain,4 then in principle it does not seem wrong to think that one’s whole body is somewhat phantom like. It seems close to paradoxical that while the cognitive sciences clearly treat the brain as the most important organ in the body, it standardly treats the body as if it were nothing but the product of brain processes. The body is something “in the brain,” as several recent publications with some variation of that title have suggested.5 What this means, the claim that is being made, is that whatever is important in regard to embodiment is reducible to the representation(s)
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Thomas Metzinger: Being No One. The Self-Model Theory of Subjectivity, Cambridge, MA 2004. Susan J. Blackmore/Gavin Brelstaff/Kay Nelson/Tom Troscianko: Is the Richness of Our Visual World an Illusion? Transsaccadic Memory for Complex Scences, in: Perception 24/9 (1995), pp. 1075–1081; see Alva Noë: Is the Visual World a Grand Illusion?, in: Journal of Consciousness Studies 9/5–6 (2002), pp. 1–12. For instance: Vilayanur S. Ramachandran/Sandra Blakeslee: Phantoms in the Brain. Probing the Mysteries of the Human Mind, New York 1999. See, for instance, Giovanni Berlucchi/Salvatore Aglioti: The Body in the Brain Revisited, in: Experimental Brain Research 200/1 (2010), pp. 25–35; Ray Dolan: The Body in the Brain, in: Daedalus 135/3 (2006), pp. 78–85; Stephen R. Jackson/Laurel Buxbaum/H. Branch Coslett (Eds.): The Body in the Brain. Body Representations, Processes and Neural Mechanisms. Special Issue. Cognitive Neuroscience 11/3–4 (2012), pp. 135–257. Marjolein P. Kammers: Bodies in the Brain. More than the Weighted Sum of their Parts, Enschede 2008; Manos Tsakiris: My Body in the Brain. A Neurocognitive Model of Body Ownership, in: Neuropsychologia 48/3 (2010), pp. 703–12.
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WHY THE BODY IS NOT IN THE BRAIN
of the body in the brain. For all practical and important purposes, embodiment is equivalent to a body-representation.6
E mb o d ied c og n it ion In the long philosophical tradition and in the standard cognitive science views, the role played by extra-neural aspects of embodiment has been ignored. Embodied cognition (EC) attempts to correct this by arguing that the body plays important and essential roles in cognitive experience. Here are a few examples that support the idea that the action-oriented body plays a role in cognition. The shape and size of objects, for example, are perceived not simply in phenomenal terms (phenomenal size of an object depending on distance from the perceiver), but in pragmatic terms (as something I can grasp or manipulate) – the perceived object is something I am capable of picking up or it is not,7 and this is the case because of the particular design of my body. So too, we organize the space around us not only in egocentric (i. e., body-centered) terms, but as peri-personal (reachable) vs. extra-personal (unreachable). These aspects of perceptual cognition are, of course, coded in the brain, but they also depend on how long my arm is, my current posture and my motor ability. The development of perceptual and cognitive abilities is enhanced in correlation to a greater amount of crawling and mobility in infancy.8 Body posture affects attention and certain kinds of perceptual judgments. For example, performance in cued recall is better when subjects listen to a sentence with head and eyes turned right, than with their head turned toward the left.9 Trunk orientation induces directional biases in the ability to shift attention. The rotation of a subject’s trunk to the left increases their response times
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Alvin Goldman/Frederique de Vignemont: Is Social Cognition Embodied?, in: Trends in Cognitive Sciences 13/4 (2009), pp. 154–59. Marc Jeannerod: The Representing Brain. Neural Correlates of Motor Intention and Imagery, in: Behavioral and Brain Sciences 17 (1994), pp. 187–245. Joseph J. Campos/Bennett I. Bertenthal/Rosanne Kermoian: Early Experience and Emotional Development. The Emergence of Wariness of Heights, in: Psychological Science 3/1 (1992), pp. 61–64; Ester Thelen: Time-Scale Dynamics and the Development of an Embodied Cognition, in: Robert F. Port/Tim van Gelder (Eds.): Mind as Motion. Explorations in the Dynamics of Cognition, Cambridge 1995, pp. 69–100. Marcel Kinsbourne: The Mechanisms of Hemispheric Control of the Lateral Gradient of Attention, in: Patrick Michael Anthony Rabbitt/Stanislav Dornic (Eds.): Attention and Performance, London 1975, pp. 81–97; Henrietta Lempert/Marcel Kinsbourne: Effect of Laterality of Orientation on Verbal Memory, in: Neuropsychologia 20/2 (1982), pp. 211–214.
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SHAUN GALLAGHER
to cued targets on the right and decreases their response times to cued targets on the left.10 Purely legal/rational conceptions of judgment do not sufficiently explain the decisions of judges. Whether the judge is hungry or satiated matters: “The percentage of favorable rulings drops gradually from ≈ 65% to nearly zero within each decision session [e. g., between breakfast and lunch] and returns abruptly to ≈ 65% after a [food] break. […] [J]udicial rulings can be swayed by extraneous variables that should have no bearing on legal decisions.”11 There is much more we could add to this list. The shape, structure, and posture of the body contribute to the pre-processing of incoming signals prior to their arrival in the brain; likewise efferent signals from the brain are post-processed by bodily factors that involve muscle structure, flexibility, fatigue, etc. These aspects, plus the overall state of the body – hunger, satiation, blood pressure, respiratory state, hormonal circumstances, whether we have a cold, feel sick or healthy, etc. etc. – all of these factors not only regulate brain function, but define the kind of affordances the perceiving and thinking agent can find in the environment. Although the brain-in-the-vat thought experiment was originally designed to suggest that the body has very little role, and certainly no more than a causal role to play in cognition, the experiment easily demonstrates the very opposite. That is, it actually demonstrates the essential engineering role of embodiment in the practical details of cognition. To deliver all necessary stimulations and keep the brain alive one would have to replicate all details of the body at a precision level – neurotransmitters, hormone levels, recalibrated signals, etc.12 That is, the brain in the vat would require the creation of a body surrogate
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Jefferson D. Grubb/Catherine L. Reed: Trunk Orientation Induces Neglect-Like Lateral Biases in Covert Attention, in: Psychological Science 13/6 (2002), pp. 554– 557. Shai Danziger/Jonathan Levav/Liora Avnaim-Pesso: Extraneous Factors in Judicial Decisions, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 108/17 (2011), pp. 6889–6892. Shaun Gallagher: Metzinger’s Matrix. Living the Virtual Life with a Real Body, in: Psyche 11/5 (2005), at: http://www.theassc.org/files/assc/2614.pdf (30.04.2012); Diego Cosmelli/Evan Thompson: Embodiment or Envatment? Reflections on the Bodily Basis of Consciousness, in: John Robert Stewart/Olivier Gapenne/Ezequiel di Paolo (Eds.): Enaction. Towards a New Paradigm for Cognitive Science, Cambridge, MA 2007, pp. 361–385.
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WHY THE BODY IS NOT IN THE BRAIN
“and thus confirm that ‘body-type inputs’ are required for a normally minded brain after all”.13
The b o dy i n t he bra i n? As mentioned above, several recent publications have employed the phrase ‘the body in the brain’ to suggest that whatever is important in regard to embodiment is reducible to the representation(s) of the body in the brain. One can find a clear example of this strategy pursued by Goldman and de Vignemont.14 With reference to social cognition, they start by assuming that almost everything of importance for human cognition happens in the brain, “the seat of most, if not all, mental events”.15 They then make the concept of EC problematic by defining the body as not including the brain: “Embodiment theorists want to elevate the importance of the body in explaining cognitive activities. What is meant by ‘body’ here? It ought to mean: the whole physical body minus the brain. Letting the brain qualify as part of the body would trivialize the claim that the body is crucial to mental life.”16 In addition to removing the brain from the body, Goldman and de Vignemont remove the body from the environment, suggesting that this is necessary to understand the contribution of “the body (understood literally), not [as it is related] to the situation or environment in which the body is embedded”.17 A core claim made by EC theorists, however, is that the body cannot be uncoupled from its environment.18 Accordingly it would be difficult to find any EC theory that defines the body in this “literal” way, i. e., as a literally dead, brainless thing. Goldman and de Vignemont go further, however, and rule out any contribution from anatomy and body activity (actions and postures). Such things are, they suggest, trivial rather than important or constitutive contributors to cognitive processes. They are thus left with, as they put it, “sanitized” body representations. They regard the concept of body-formatted representations 13 14 15 16 17 18
Antonio Damasio: Descartes Error. Emotion, Reason, and the Human Brain, New York 1994, p. 228. Goldman/de Vignemont: Social Cognition Embodied? (as fn. 6). Ibid. p. 154. Ibid. Ibid. E. g., “Given that bodies and nervous systems co-evolve with their environments, and only the behavior of complete animals is subjected to selection, the need for […] a tightly coupled perspective should not be surprising.” Randall Beer: Dynamical Approaches to Cognitive Science, in: Trends in Cognitive Sciences 4/3 (2000), pp. 91–99, 97.
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(“B-formats”) as “the most promising” concept for promoting an EC approach.19 Unfortunately, as they explain, there is no consensus about what B-formats are and their role in cognition is still under debate. B-formatted representations are clearly brain states (in the context of social cognition they involve mirror neuron activation).20 Goldman and de Vignemont thus defend the reduction of embodiment to a set of neuronal processes. Although it’s not clear how the reduction of the body to a set of brain processes remains consistent with their elimination of the brain as part of what embodiment means, this strategy really brings us back to an internalist model consistent with the bodiless brain-in-a-vat conception of cognition. Goldman and de Vignemont are not alone. Halligan, for example, refers to a third Copernican revolution (after Copernicus and Kant)21 – the idea that the brain generates the body and the body has nothing to do with it. He attributes this Copernican insight to Melzack who writes: “you do not need the body to feel the body […] since the body is built into the brain.”22 Likewise, Berlucchi and Aglioti revisit their widely cited 1997 article, “The body in the brain: neural bases of corporeal awareness”, to continue a reductionist strategy.23 They begin with a distinction between body image and body schema. As I’ve explicated this distinction,24 the body image consists of a system of perceptions, attitudes, and beliefs pertaining to one’s own body. The body schema is a system of sensory-motor capacities that function without awareness or the necessity of perceptual monitoring. The difference is one between having a perception of (or belief about) something and having a capacity to move (or an ability to do something). Body image is not limited to occurrent perceptions. It includes beliefs and emotional attitudes which take the body as an intentional object. Body schema involves motor control processes, motor capacities, abilities, and habits that both enable and constrain movement and the maintenance of posture. The body schema continues to operate, and in many cases operates best, when the intentional object of perception is something other than one’s own body. Body image and body schema are, for the most part, integrated in our normal everyday behavior and action – difficult to distinguish, both phe-
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Goldman/de Vignemont: Social Cognition Embodied? (as fn. 6), p. 155. Ibid. p. 156. Peter W. Halligan: Phantom Limbs. The Body in Mind, in: Cognitive Neuropsychology 7/3 (2002), pp. 251–68. Ronald Melzack: Phantom Limbs and the Concept of a Neuromatrix, in: Trends in Neurosciences 13/3 (1990), pp. 88–92. Berlucchi/Aglioti: Body in the Brain Revisited (as fn. 5). Shaun Gallagher: How the Body Shapes the Mind, Oxford 2005; Shaun Gallagher/ Jonathan Cole: Body Schema and Body Image in a Deafferented Subject, in: Journal of Mind and Behavior 16 (1995), pp. 369–390.
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nomenologically and neurologically. But they can be distinguished in some experimental settings and in certain pathologies. Empirical and clinical evidence points to a double dissociation between body image and body schema.25 For example, in some cases of unilateral neglect following stroke, where a patient will simply ignore or fail to perceive the left side of their body, a deficiency in body image, the same patients will use their left hand to dress or to put a glove on their right hand. This suggests that, despite the problem with body image, there is an intact body schema. The second dissociation can be found in cases of deafferentation. The case of IW26 involves a subject who lost proprioception and tactile sense from the neck down. He is unable to control his movement except by means of visual perception and cognitive effort. In effect, he uses an enhanced body image to make up for a loss in body schematic control. IW not only provides evidence of the body-schema/ body-image distinction, but also shows how important the body schema, and the peripheral systems of proprioception and kinaesthesia are. Accepting these characterizations of body image and body schema, Berlucchi and Aglioti are still bothered by historical/terminological/conceptual imprecision – a serious lack of clarity associated with these concepts (often criticized in the literature),27 and the very real ambiguity involved in the concepts.28 Even with the conceptual clarification just outlined, they are worried about continued ambiguities that seem to be involved at both phenomenological and neurological levels in regard to these concepts. Accordingly they offer an alternative explanatory strategy. Specifically they propose to frame the discussion of bodily experience in terms of the neural correlates of the various aspects of bodily self-awareness, sense of agency, sense of ownership, self-identity, etc. For example, the sense of agency we have for our actions may be tied in some 25
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Jacques Paillard: Body Schema and Body Image. A Double Dissociation in Deafferented Patients, in: Gantcho N. Gantchev/Shigeki Mori/Jean Massion (Eds.): Motor Control. Today and Tomorrow, Sofia 1999, pp. 197–214. Shaun Gallagher: Body Image and Body Schema. A Conceptual Clarification, in: Journal of Mind and Behavior 7 (1986), pp. 541–554. Gallagher: Metzinger’s Matrix (as fn. 12); Gallagher: How the Body (as fn. 24). Gallagher/Cole: Body Schema (as fn. 24). E. g., Erwin Straus: On Anosognosia, in: idem/Richard M. Griffith (Eds.): Phenomenology of Will and Action, Pittsburgh 1967, pp. 103–125; K. Poeck/B. Orgass: The Concept of the Body Schema: A Critical Review and Some Experimental Results, in: Cortex 7 (1971), pp. 254–277; Stuart F. Spicker: The Lived Body as Catalytic Agent: Reaction at the Interface of Medicine and Philosophy, in: Hugo T. Engelhardt/Stuart F. Spicker (Eds.): Evaluation and Explanation in the Biomedical Sciences, Dordrecht 1975, pp. 181–204; M. Critchley: Corporeal Awareness: Body Image; Body Scheme, in: idem (Ed.): The Divine Banquet of the Brain, New York 1979, pp. 92–105. Berlucchi/Aglioti: Body in the Brain Revisited (as fn. 5).
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way to body-schematic processes; and the sense of ownership that we have for our own body may be tied to the body image29 – but, they argue, it would be better and less ambiguous to identify specific neuronal processes responsible for the senses of agency and ownership. This strategy of looking for “the body in the brain”, however, ignores how the body shapes our perceptual and cognitive experiences. Even if we set that aside, this body-in-the-brain strategy also has its own problems: 1. we still run into complex ambiguities when it comes to mapping out brain function, and 2. even if such ambiguities could be resolved, embodied cognition suggests that the systems that are involved are not just in the brain since proprioception, kinaesthesia, the possibility of action, one’s relation to the environment, etc. involve a more holistic view of embodiment. Consider the question of how to explain the sense of body ownership (e. g., the idea that this hand is my hand). Should we say simply that it depends on the body image, or should we look in the brain to find the neural correlates? The Rubber Hand Illusion (RHI) has been used as a way to experiment with the sense of ownership. The RHI involves hiding one of the subject’s hands from view and placing a rubber arm-hand on a table in front of the subject. The hidden hand is then given tactile stimulation at the same time that the subject sees the rubber hand being stroked. This synchronous stroking leads the subject to feel the stimulus on her hidden hand as if it were in the rubber hand, and in short order she starts to feel as if the rubber hand was her own hand.30 The RHI also involves proprioceptive drift. When, during the illusion, the subject is asked to indicate on a table-top ruler the location of her hidden hand she indicates a location that is closer to the rubber hand. Her proprioceptive sense of her hand’s (or the stimulated fingers’) location has been shifted closer to the rubber hand.31
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For this distinction, see Shaun Gallagher: Philosophical Conceptions of the Self. Implications for Cognitive Science, in: Trends in Cognitive Sciences 4/1 (2000), pp. 14–21. For recent evidence of a double dissociation between sense of ownership and sense of agency, see Andreas Kalckert/H. Henrik Ehrsson: Moving a Rubber Hand that Feels Like Your Own. A Dissociation of Ownership and Agency, in: Frontiers in Human Neuroscience 6/40 (2012), pp. 1–14, doi: 10.3389/fnhum.2012.00040, at: http://130.237.111.254/ehrsson/pdfs/Kalckert.2012.Frontiers.pdf (30.04.2012). Matthew Botvinick/Jonathan Cohen: Rubber Hands ‘Feel’ Touch that Eyes See, in: Nature 391/6669 (1998), p. 756. Manos Tsakiris/Patrick Haggard: The Rubber Hand Illusion Revisited. Visuotactile Integration and Self-Attribution, in: Journal of Experimental Psychology. Human Perception and Performance 31/1 (2005), pp. 80–91.
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Kammers et al. have used the RHI to show a dissociation between body image and body schema: specifically the proprioceptive drift toward the rubber hand happens in the perceptual response just described, which they associate with the perceptual aspect of the body image;32 but there is no proprioceptive drift for body schema involved motor responses when, while the illusion is still occurent, one is asked to reach to touch one’s hand without vision. In a subsequent study, Kammers et al., however, using a rubber hand shaped in a grasping posture, the body schema was also shown to be susceptible to the illusion, making this dissociation somewhat ambiguous.33 They conclude that although there are still good reasons to distinguish between body image and body schema, the findings suggest that “the motoric body representation is not intrinsically robust to bodily illusion”.34 To avoid such ambiguity, Berlucchi and Aglioti look for an explanation in the brain, focusing on two partly divided anatomical and functional neural systems: one responsible for the immediate and automatic guidance of action, centered in the posterior parietal cortex, and the other responsible for conscious body perception centered in the insula.35 They admit, however, this is not an absolutely clean neurological independence. Similar to Milner and Goodale’s two visual pathways36, there are various ways in which these systems integrate. For instance, processes in the posterior parietal cortex, different from those that guide action, may also be involved in high-level visuo-spatial and semantic consciousness of the body. In addition, from other studies we know that the insula is involved in sensory integration and motor control processes.37 Add to this the recent study by Rohde et al. that shows dissociation between proprioceptive
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Marjolein P. Kammers/Frederique de Vignemont/Lennart Verhagen/H. Chris Dijkerman: The Rubber Hand Illusion in Action, in: Neuropsychologia 47/1 (2009), pp. 204–11. Marjolein P. Kammers/Joyce A. Kootker/Hinze Hogendoorn/H. Chris Dijkerman: How Many Motoric Body Representations Can We Grasp?, in: Experimental Brain Research 202/1 (2010), pp. 203–212. See also Kalckert/Ehrsson: Moving a Rubber Hand (as fn. 29). Kammers et al.: How Many Motoric Body Representations (as fn. 33), p. 211. H. Chris Dijkerman/Edward H. de Haan: Somatosensory Processes Subserving Perception and Action, in: Behavioral and Brain Science 30/2 (2007), pp. 189–201. Discussion, ibid. pp. 201–239. David Milner/Melvyn A. Goodale: The Visual Brain in Action, Oxford 1995. Chloe Farrer/Chris D. Frith: Experiencing Oneself vs. Another Person as Being the Cause of an Action. The Neural Correlates of the Experience of Agency, in: Neuroimage 15/3 (2002), pp. 596–603. Chloe Farrer/Nicolas Franck/Nicolas Georgieff/ Chris D. Frith/Jean Decety/Marc Jeannerod: Modulating the Experience of Agency. A Positron Emission Tomography Study, in: Neuroimage 18/2 (2003), pp. 324– 333.
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drift in the case of the RHI, and the sense of ownership for the rubber hand.38 Proprioceptive drift occurs not only in the synchronous stroking condition but also in the two control conditions (asynchronous stroking, and vision alone); but the feeling of ownership for the rubber hand requires synchronous stroking. Accordingly, the activation of the insula in cases of proprioceptive drift is not necessarily correlated with the sense of ownership. Therefore, we cannot simply point to the insula as the brain area responsible for the sense of ownership, since some experiments show that it is responsible for the distinguishable sense of agency, and RHI experiments associate it with proprioceptive drift but not sense of ownership.39 Note that Rohde et al. rely on the body image/body schema distinction to explain why there may be this dissociation between proprioceptive drift and sense of ownership, and they suggest that the ambiguity is not just between body image and body schema, but pertains to the attempt to locate the sense of bodily ownership in a precise brain location.40 The point is simply this: we cannot sort out the ambiguities by simply looking in the brain for body-related processes – we find just as many ambiguities on the body-in-the-brain strategy which sends us back to concepts of embodied cognition to make sense of these ambiguities.
More a mbig u it ies Berlucchi and Aglioti further argue that the body image/body schema distinction does not adequately account for a certain category of body-directed actions, namely those associated with itch, pain, temperature sensations based on smallfibre afferent systems. Head and Holmes, one of the early sources for the concept of body schema, however, discussed two body schema systems – one for posture and the other for the localization of sensations on the body surface.41 Berlucchi and Aglioti again think it would be better to focus on the neuronal mechanisms – the afferent mechanisms that deliver information to the brain, namely the small fiber afferents for itch, pain, and temperature. As Berlucchi and Aglioti point out, these small-fibre systems are still intact in IW, the 38
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Marieke Rohde/Massimiliano Di Luca/Marc O. Ernst: The Rubber Hand Illusion. Feeling of Ownership and Proprioceptive Drift Do Not Go Hand in Hand, PLoS ONE 6/6 (2011), e21659, doi:10.1371/journal.pone.0021659 at: http://www.plosone. org/article/info:doi/10.1371/journal.pone.0021659 (30.04.2012). For further qualifications see Kalckert/Ehrsson: Moving a Rubber Hand (as fn. 29), and Manos Tsakiris/Simone Bosbach/Shaun Gallagher: On Agency and Body-Ownership. Phenomenological and Neuroscientific Reflections, in: Consciousness and Cognition 16/3 (2007), pp. 645–60. Rohde/Di Luca/Ernst. The Rubber Hand Illusion (as fn. 38). Henry Head/Gordon Holmes: Sensory Disturbances from Cerebral Lesion, in: Brain 34/2–3 (1911/12), pp. 102–254.
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deafferented subject mentioned above. His neuropathy affected only the largefibres of the peripheral nervous system. Berlucchi and Aglioti, however, go on to suggest, citing an unpublished study by Olausson, that this aspect of the body schema allows IW to find and scratch an itch, and thus has “the potential to guide motor actions, more specifically actions aimed at the body itself in absence of proprioception and fine touch.”42 They fail to mention, however, that this is the case only if IW already knows where his limbs are by some other means, for example by vision. IW still lacks a proprioceptive body map. In some cases he has to first locate his leg using vision; only then would he be able to go to the itch in a normal fashion, assuming he also knew the starting posture for the hand he needs to do the scratching. Moreover, this intact aspect of the sensory body schema does not assist IW in guiding motor actions more generally than just, for example, finding the itch within a framework established by other means. IW also sometimes uses body temperature as a cue for position sense, for example, the warmth of his hand on his lap allows him to know where his hand is, and he can use this knowledge in preparation for action. The point is that normally these body schemas do not operate in an isolated fashion, or in isolation from the body image; rather they are normally quite integrated. Even in IW, we find some integration of a limited sensory body schema and an enhanced body image. Berlucci and Aglioti also discuss the case of Schneider, the patient of Gelb and Goldstein made famous in phenomenological circles by Merleau-Ponty.43 They suggest that Schneider suffered from the lack of the “classic body schema” – i. e., the postural body schema – but, like IW, was still able to scratch an itch when necessary. This association of IW with Schneider, however, is unjustified. Schneider suffered complicated brain damage from a war wound; IW does not suffer from brain damage at all; his problem is peripheral damage. Moreover, Schneider had trouble moving to order, or making “abstract” movements. He had no trouble with “concrete” or habitual movements – walking, sitting, maintaining posture or more generally with the automatic aspects of controlling movement. His trouble occurred when reflective consciousness of his own body parts were involved in the action. In other words, and in complete distinction from IW, his problem was with body image rather than the body schema. The ambiguities that one finds in the analyses of body image and body schema seem to be carried over into the alternative strategy of looking for the body in the brain. After spending most of their review going from one brain region to another, summarizing what we know about their different roles, Ber42 43
Berlucchi/Aglioti: The Body in the Brain Revisited (as fn. 5), p. 28. Maurice Merleau-Ponty: Phenomenology of Perception, New York 1962.
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lucchi and Aglioti go on to note the complexity and distributed nature of brain processes, and therefore the oversimplification involved in looking at the isolated functions of brain parts. They suggest that we should not expect to find an isomorphism between brain processes representing the body and the body itself. This is clearly correct. There is not, for example, simply one body map in the brain. Penfield’s homunculus in the somatosensory cortex (S1) is probably the best known; but there are others in motor cortex and in subcortical areas; and likely partial maps in a variety of brain areas that iterate and reciprocally project to one another and to a vast number of other areas that are not explicitly body areas.44 More generally, although it is certainly a good thing to clarify concepts and, when possible, to find clear dissociations and identifiable brain functions, it is also the case that some conceptual distinctions do not map directly onto clearcut distinctions in experience or behavior or brain. Even when conceptual confusions about body image and body schema are eliminated, and even when double dissociations provide good evidence of their real distinction, in most everyday action contexts, these phenomena may not only be integrated in various and varying ways, but may be themselves ambiguous in their function. That is, we should not expect to find a dissolution of ambiguity in phenomena which may function precisely in an ambiguous fashion. Accordingly, looking to the brain, or looking for what Goldman and de Vignemont called “sanitized” body representations, to disambiguate such phenomena is bound to fail. At the very least, these considerations suggest that one may require a more integrated strategy of using the embodied concepts (body image and body schema) and a neuroscientific explanation to work out some of the ambiguities and to provide a fuller account. Moreover, since the body schema involves both central and peripheral nervous systems, there is certainly no hope in pointing to one or even a combination of brain areas to identify a body schema that is simply in the brain. Neither body schema nor body image can be reduced to representations in the brain. The body is not in the brain. 44
Body schematic processes reiterate up, down, and across the brain in a complex dynamics. Just as recent reviews of the ‘self in the brain’ make clear that the self is seemingly everywhere and nowhere specific in the brain (see Seth J. Gillihan/Martha J. Farah: Is Self Special? A Critical Review of Evidence from Experimental Psychology and Cognitive Neuroscience, in: Psychological Bulletin 131/1 (2005), pp. 76–97; Dorothée Legrand/P. Ruby: What Is Self Specific? A Theoretical Investigation and a Critical Review of Neuroimaging Results, in: Psychological Review 116/1 (2009), pp. 252–282; and Kai Vogeley/Shaun Gallagher: The Self in the Brain, in: Shaun Gallagher (Ed.): The Oxford Handbook of the Self, Oxford 2011), something similar can be said of the body in the brain, which itself is not unrelated to various iterated self processes.
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The b o dy i n t he so c ia l env i ron ment Clearly it is more accurate to say that the body is in-the-world rather than inthe-brain. In this regard we should resist Goldman and de Vignemont’s inclination to isolate the body literally from the environment. Given the dynamical nature of the body and body schematic processes involving interaction with the environment, a narrow neurological account, or one that attempts to treat the body as isolated from its environment will never provide the full story. Thus, body image and bodily self-awareness are also complicated by the fact that the body is always dynamically coupled with the environment and that the environment includes, not just physical factors, but also social factors. Social and cultural dimensions impinge upon the formation and maintenance of both body image and body-schematic processes. Processes related to embodiment are not simply interoceptive (including pain, temperature, itch, etc.), proprioceptive, and exteroceptive (including vision and haptic touch), but also alteroceptive or intersubjective. Accordingly, body image and body schema are not just an individual subject’s representations of his or her individual body, which may then come to be related to others that we encounter in the environment. Rather, they are constitutionally referenced to others and are implicitly intersubjective. Merleau-Ponty is well known as the phenomenologist of embodiment. On this point he references Paul Schilder. “I am of the opinion that the desire to be seen, to be looked at, is as inborn as the desire to see. There exists a deep community between one’s own body-image and the body-image of others. In the construction of the body-image there is a continual testing to discover what could be incorporated in[to] the body […]. The body-image is a social phenomenon.”45 We can see how the body is, as phenomenologists like to say, in-the-world and with others, by looking at pathologies that involve body image and body schema. Some pathological cases involve alterations in body consciousness and the sense of ownership. The body is felt to be more like an alien object than like the experiencing subject. In depersonalization disorder, for example, patients may report a feeling of detachment from their body. In the Cotard delusion subjects claim they have died and that their body is decomposing. An abnormal presence of the body alters the familiar sense of ownership for the body. We’ve already seen that the concept of ownership is not easily reducible to specific brain processes. Some theorists suggest that these kinds of experiential body disturbances may be due to disturbances in emotional affect, where partial or entire neural 45
Paul Schilder: The Image and Appearance of the Human Body. Studies in the Constructive Energies of the Psyche, London 1935, New York 1950, p. 217.
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networks of affective processing may be destroyed.46 Disorders in the affective aspect of the body image may also contribute to an account of disorders like anorexia nervosa. To say that anorexia, and related disorders, involve the subject’s body image, or an over-objectified bodily self-consciousness, is an incomplete story. Such disorders should be regarded as multidimensional47 insofar as they also involve cultural and socially determined ideals of acceptable body shape. Susan Bordo, for example, points to the importance of 1. religious and intellectual traditions that inform cultural attitudes about the body; 2. attitudes that involve gender and power in cultural expression and advertising; and 3. the issue of control in the life circumstances of the individual patient.48 In anorexia, the idea that others are affectively experienced as “a violation of [the subject’s] personal sphere”49 and that anorexic subjects use their bodies to mediate their relations with others, motivates Legrand to suggest that “the perturbation of such bodily intersubjectivity in anorexia reveals that, in normal cases too, the multidimensionality of one’s bodily self-consciousness is not a private solipsistic matter”.50 To understand a disorder like anorexia, all aspects – perceptual, affective, conceptual, cultural, and social – should be seen as mutually implicated. What gets expressed bodily is not just the outward expression of an emotion that is generated first in the brain. It may, in fact, run the other way: what happens in the brain may start as a reiteration of one’s action attitude keyed to certain emotion affordances in the environment, including, of course other people. Reiterations that reach the cortex may be the mid-point of emotion formation rather than its beginning point; and the formation is often not a private matter, but very much an intersubjective one. Whether body image and body schema are still productive concepts useful in sorting out some of these issues, as I have argued, I think it is clear that our understanding of cognition, and social cognition, as well as many related 46 47 48 49 50
Philip Gerrans: Delusional Misidentification as Subpersonal Disintegration, in: The Monist 82/4 (1999), pp. 590–608. Dorothée Legrand: Subjective and Physical Dimensions of Bodily Self-Consciousness, and Their Disintegration in Anorexia Nervosa, in: Neuropsychologia 48/3 (2010), pp. 726–737. Susan Bordo: Unbearable Weight. Feminism, Western Culture, and the Body, Berkeley, CA 1993. Simona Giordano: Qu’un souffle de vent. An Exploration of Anorexia Nervosa, in: Medical Humanities 28/1 (2002), pp. 3–8, 4. Legrand: Subjective and Physical Dimensions (as fn. 47), p. 734.
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pathologies, will be incomplete if we look only in the brain and ignore the phenomenology of embodied cognition and intersubjectivity. We need a more holistic and integrative approach, one that recognizes the importance of social function and engaged embodiment as well as brain function, and that accounts for how these various aspects can be integrated.
Hinderk Emrich
I N T R A- U N D I N T E R P E R S O N A L E S SE L B S T Resonanzen im Gehirn
1. E i n leit u ng Was heißt es, etwas zu verkörpern? Wie wird etwas Mentales körperlich gemacht? Wie wird damit die Kluft der wechselseitigen Ausschließlichkeit im cartesischen Dualismus übersprungen? Was heißt es, etwas wird beseelt? Und: was bedeutet: etwas vergeistigen (und damit entkörperlichen)? Philosophisch interessierte Psychiater sind über derartige Fragen nicht erstaunt, sondern eher davon begeistert, dass sie gestellt werden; denn dieser Fragenkatalog ist gewissermaßen unser täglich Brot; eine nie nachlassende Erfahrung der Gratwanderung zwischen Körper-Sein und seelischem Dasein, denn Psychiatrie als Verbindung zwischen Medizin und Psychä hat immer zu tun mit Geist und Gehirn (genauer: Geist, Körper und Gehirn), Kognition und Materie (molekularer Neurobiologie), Mentalität und physischem Dasein. Einer der großen Pioniere und Vorbilder in der Psychiatrie, Karl Jaspers, hat dazu in seiner Allgemeinen Psychopathologie geschrieben, es gehe bei den wechselseitigen Ausschließbarkeiten von seelisch/geistigen und körperlichen Perspektiven für die Psychiatrie um das Verhältnis zwischen einfühlendem Verstehen und kausalem Erklären, d. h. um Hermeneutik vs. Naturwissenschaft.1 Psychiater können versuchen, einfühlend zu verstehen, worum es bei einem Patienten oder einer Patientin in der psychischen Problematik geht, und müssen gleichwohl gleichzeitig die Frage stellen: Geht es hier um etwas Körperliches: eine Hirnverletzung, einen Hirntumor, eine Entzündung, eine Psychose oder sogar alles zugleich? Aber wir können dabei diese beiden Perspektiven nicht ineinander übersetzen. Wir können sie nicht auf einen Nenner bringen, zumindest nicht im Detail. In dem einen Fall halten wir unsere Erkenntnis1
Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, Berlin 1913.
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sonde quasi an das Mentale des Patienten, im anderen Falle an seine Körperlichkeit. In diesem Sinn interessiert uns die psychiatrische Kognitions- und Hirnforschung unter der Perspektive der Sorge in der m. E. berechtigten Frage: Welche Reduktionismen beherrschen unsere Theorieansätze, unsere Welt-, Wirklichkeits- sowie Forschungsbilder, und gibt es philosophische Verstehensweisen dieser Gratwanderung zwischen Verstehen und Erklären, die die Chance haben, Tragfähigkeit zu beanspruchen? Wie also sieht das Problem der Verkörperung und der damit verbundenen Entkörperung vom Standpunkt der Psychiatrie aus? Grundfragen der Psychiatrie sind: Wie funktioniert das? Wie hängen Körper und Seele – jenseits aller Dualismen – miteinander zusammen? Mein Vorschlag in dieser Richtung ist eine Art interpersonales Resonanzmodell.
2. Na iver Neu rore prä sent a l ismus Die Gegenwarts-Neurobiologie geht davon aus, dass funktionelle bildgebende Verfahren des menschlichen Gehirns zu Aktivitätsverteilungsmustern führen, die die den jeweiligen kognitiven und Wahrnehmungsfunktionen zuzuordnenden Aktivitätsverteilungen des Zentralnervensystems (ZNS) widerspiegeln. Dabei wird stillschweigend vorausgesetzt, dass die stoffwechselaktiveren Anteile auch die mentalen Funktionen repräsentieren. Diese Vorstellung möchte ich einen naiven Neuro-Repräsentalismus nennen, weil keineswegs erwiesen ist, dass lokale Stoffwechselsteigerungen auch bedeuten, dass an diesen Stellen im Gehirn die korrelierenden Funktionen wirklich lokalisiert sind. Da im ZNS ein funktioneller Holismus viel wahrscheinlicher ist als ein lokaler Repräsentalismus, geht beispielsweise Damasio davon aus, dass bestimmte neuronal aktive Areale nicht die Funktion von Repräsentationen haben, sondern die Funktion von Konvergenzzonen, die somit einen weichenstellenden aber keineswegs einen abbildenden oder repräsentierenden Charakter aufweisen.2 Die Metapher, dass bestimmte kognitive Repräsentanzen und bestimmte kognitive Funktionen in bestimmten Hirnarealen in lokalisierter Weise sind, scheint reichlich naiv.
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Antonio R. Damasio: The Brain Binds Entities and Events by Multiregional Activation of Convergence Zones, in: Neural Computation 1/1 (1989), S. 123−132.
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INTRA- UND INTERPERSONALES SELBST
3. Resona n zen i m Geh i r n u nd I nter p er sona l it ät 3.1 Re s on a n z Wolfgang Hogrebe hat in seinem Vortrag formuliert, dass die Architektur des Gehirns einer Konstruktion, wie wir sie von der Harmonielehre her kennen, ähnele.3 (Bei dieser internen Musikalität in der Konstitution von Menschsein geht es um nichts Geringeres als das Abhören im Sinne von Gadamer und die Konstitution der vernehmenden Vernunft im Sinne von F. H. Jacobi.) Dieser Satz ermutigt mich, anzudeuten, wie sich die Musikerfahrung in uns abspielt, durch das Zitieren eines Essays der philosophischen Dichterin Ingeborg Bachmann: Was aber ist Musik? „Was aber ist Musik? Was ist dieser Klang, der dir Heimweh macht? Wie kommt’s, daß du in deinen Todesstunden wieder nach der Nachtigall rufst und dein Fieber wild aus der Kurve springt, damit du sie noch einmal im Baume sehen kannst, auf dem einzigen hellen Zweig in der Finsternis? Und die Nachtigall sagt: ,Tränen haben deine Augen vergossen, als ich das erste Mal sang!‘ So dankt sie dir noch, der du zu danken hast, denn sie vergißt es dir nie. Du vernimmst ihr herrliches Wort und trägst ihr dein Herz an dafür. Sie legt es auf ihre Zunge, taucht es ins Naß und schickt es durch das dunkle Tor dem, der es öffnet, entgegen. Was aber ist diese Musik, die dich freundlich und stark macht an allen Tagen? Wie kommt’s, daß du wieder gerne ißt und trinkst wegen ihr und deinen Nächsten zum Freund gewinnst? Und was ist diese Musik, die dich zittern macht und dir den Atem nimmt, als wüßtest du deine Geliebte vor der Tür stehen und hörtest den Schlüssel schon sich drehen? Was ist sie, über der dein Geist zusammensinkt, ausgebrannt und verascht nach so vielen Feuern, die an ihn gelegt wurden? Was ist dieses Entzücken und dieses Erschrecken, das ihm noch einmal bereitet wird? Der Vorhang brennt, geht auf vor der Stille, und eine menschliche Stimme ertönt: O Freude! Was ist dieser Akkord, mit dem die wunderliche Musik Ernst macht und dich in die tragische Welt führt, und was ist seine Auflösung, mit der sie dich zurückholt in die Welt heiterer Genüsse? Was ist diese Kadenz, die ins Freie führt?! 3
Vgl. Wolfram Hogrebe: Kontrollierte Entkörperung. Von Boston nach Marburg, in diesem Band, S. 96.
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Wovon glänzt dein Wesen, wenn die Musik zu Ende geht, und warum rührst du dich nicht? Was hat dich so gebeugt und was hat dich so erhoben? Auf deinen Wangen stehen Rosen, aber dein Mund ist weiß geworden, als hätt´ er Dornen zerdrückt. Dein Aug schwimmt, aber du schwenkst deine Wimpern nicht. Was hörst du noch, weil du mich nicht hören kannst, wenn die Musik zu Ende ist? Was ist es? Gib Antwort! Still! Das vergesse ich dir nie.“4 Aus diesem Text wird deutlich: Bei dieser Musik-Erfahrung des Subjekts geht es um einen inneren Dialog. Es geht um ein Ich und Du zwischen mir und der „wunderlichen Musik“, den „Akkord, […] mit dem die Musik Ernst macht“.
3. 2 Zu r Kon st it ut ion der i nter p er s on a le n B e z iehu ng Die auf mögliche Naturalisierbarkeit von Subjekten bezogenen Fragen nach der Konstitution personaler Identität führen auf grundsätzliche philosophische Probleme der Verfasstheit von „Ich“ und „Selbst“ im Hinblick auf andere. Ein grundlegendes Werk hierzu stammt von dem Berliner Philosophen Theunissen. Unter dem Titel Der Andere (1965) setzt Theunissen sich mit der Entwicklung der Interpersonaltheorie als Sozialontologie auseinander. Ausgehend von der transzendentalen Intersubjektivität Husserls und deren weiterer Ausgestaltung durch Heidegger und Sartre, entwickelt Theunissen das Konzept der Philosophie der Dialogik. Buber nennt ein ähnliches Konzept Ontologie des Zwischen. Die philosophische Dimension des Verhältnisses zwischen Ich und Du lässt sich in diesem Sinne auf den grundlegenden oben angedeuteten Problemen der Subjektphilosophie aufbauen. In dem von Buber 1923 erstmals veröffentlichten Buch Ich und Du sind die Grundfragen der Theorien über die „Gegenseitige Beeinflussung von persönlichen Entwicklungen von Partnern, die langfristig zusammenleben“ entwickelt. Und so ist auch der weiterführende Satz zu verstehen: Buber sagt: „Beziehung ist Gegenseitigkeit. Mein Du wirkt an mir wie ich an ihm wirke. Unsere Schüler bilden uns, unsere Werke bauen uns auf. […] Das Du begegnet mir […] ich werde am Du; ichwerdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist 4
Ingeborg Bachmann: Die wunderliche Musik, in: Gesammelte Werke, Bd, 4, hg. v. Christine Koschel u. a., München 1993, S. 75.
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Begegnung. Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. […] Im Anfang ist die Beziehung“.5 Es geht um Bubers These der Interpersonalität als einer Realität des Zwischen. Beziehung geht nicht – was Neopsychoanalytiker häufig denken – darin auf, ein Wechselspiel gegenseitiger Introjekte von anderen zu sein; vielmehr ist Beziehung wirklich zwischen den Personen. Theunissen bemerkt in seinem Buch Der Andere: „Das Zwischen waltet eben wirklich ,zwischen‘ den Partnern und verhindert so, daß sie ineinander aufgehen. Freilich: es läßt sich nicht wie ein Ding zwischen den Partnern vorfinden. Wohl ist es ein Faktum, aber ein metaphysisches, ein Faktum jenseits alles physisch Seienden.“6 In diesem Sinne gibt es in dem Zwischen zwischen Gehirn und Körper eine Art intrapersonales Selbst, das sich eben gerade nicht auf neuronale Repräsentanzen reduzieren lässt, vielmehr ist es gewissermaßen immateriell, ist die Gesamtheit der Bezüge aller Aspekte des Aufeinanderbezogenseins von Gehirnanteilen und Körperanteilen, die dieses intrapersonale Selbst ausmacht, welches weder im Gehirn noch im Leib lokalisiert ist, sondern gewissermaßen ortlos im Zwischen – zwischen beiden – vorkommt.
4. D rei St u fen des „ Zw isc hen“ u nd d ie Welt des Ment a len – Zu r Neu robiolog ie des Zw isc hen u nd d ie Resona n z In der Leib-Philosophie und Leib-Psychologie wird immer wieder auch die Frage gestellt: Wo ist der Ort der Seele? Die Neurobiologen gehen in der Regel davon aus: Dies ist die Funktionalität des Gehirns. Aber: In welchem Sinne ist dies so? In seinem Buch Das Gehirn – ein Beziehungsorgan sagt der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs, dass das menschliche Gehirn nicht die Quelle des Geistes ist, sondern dasjenige System, innerhalb dessen sich die mentalen Wechselwirkungen zwischen Personen vollziehen. Das Gehirn sei „der Mediator, der uns den Zugang zur Welt ermöglicht, der Transformator, der Wahrnehmungen und Bewegungen miteinander verknüpft“. 7 Unter der Perspektive der obigen Frage: Wie funktioniert das eigentlich? wird untersucht: Wie erfolgen die Kopplungen zwischen den Geist- und Seelenwelten verschiedener Menschen? Wie kommt es, dass wir Menschen psychische Vorgänge untereinander austauschen, sie in Wechselwirkungen treten lassen können? Gibt es hier im Sinne von Buber und Theunissen ein Zwischen zwi5 6 7
Martin Buber: Ich und Du, in: Das Dialogische Prinzip, Gerlingen 1992, S. 15. Michael Theunissen: Der Andere, Berlin 1977, S. 266. Thomas Fuchs: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, Stuttgart 2010, S. 21.
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schen den Personen, wie Theunissen dies in seinem Buch Der Andere darstellt? Und wie funktioniert dieses Zwischen aus neurobiologischer Perspektive? Um diese interpersonalen, mentalen Kopplungen zu verstehen, lassen sich drei Stufen von mentalem Zwischen annehmen: Die erste Stufe ist diejenige der interneuronalen Wechselwirkung im Sinne der Kohärenzbildung durch transmodale Integration: Binding. Von diesem Vorgang wird angenommen, dass er im Sinne von J. Gray Consciousness, die Basis der Bildung von so etwas wie Bewusstsein darstellt. Nach Gray erfolgt dies dadurch, dass in bestimmten Situationen bei der transmodalen Integration, bei der Auswahl von Handlungsoptionen, letzte Fehlerkorrekturen zu ermöglichen sind, von denen Gray annimmt, dass der Hof dieser Fehler-Korrekturmöglichkeiten das Bewusstseinsphänomen konstituiert. Die zweite Stufe des Neuro-mentalen Zwischen ist die Erzeugung von Körper-Mentalität durch die Kopplung von Gehirn und Leib. Neuronale Strukturen haben eine sensomotorische Kopplung zwischen dem Gehirn und sensomotorischen Strukturen des Körpers, der dann, als mental durchdrungener Körper, als Leib erscheint. Naiverweise könnte man annehmen, menschliche Identität erschöpfe sich im Sosein – in der Identität – des Gehirns. Das ist unrichtig; denn die Identität von Menschen liegt im Zusammenspiel des ZNS mit der Psychomotorik und Psychosensorik der ganzen Lebendigkeit des Körpers (unter Einschluss der sozialen Gegebenheiten, Rollen, Erwartungen, dem gesellschaftlichen Status etc.). Auch naturwissenschaftlich gesehen, ist es keineswegs ausgemacht, dass menschlicher Geist tatsächlich im Gehirn ist. Vielmehr muss man sagen, dass der Geist genauso im Leib existiert, zu dem das Gehirn in Beziehung steht, sowie in der ganzen Umwelt, dem ganzen Leben in seinem Formen- und Lebendigkeitsreichtum, und insofern eher ein Zwischen ist. Eine solche Zwischenwelt ist die Natur des Mentalen, situiert zwischen Hirn und Leib, Zentralnervensystem und der lebendigen Gesamtheit aus Muskeln, Knochen, Drüsen, Augen und Ohren. Die dritte Stufe von Neuro-mentalem Zwischen stellt die interpersonale, mentale Kopplung dar im Sinne der von Buber entdeckten und von Theunissen beschriebenen Resonanzkopplung zwischen Personen, bei denen die Beziehung weder im Ich noch im Du, sondern im Interpersonalraum des Zwischen erscheint.
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5. Wa s si nd „E i nsc h reibu ngen i ns Geh i r n“? D ie Rol le der „Neu ropla st i z it ät“: „Autop oiesis“ Friedrich Schiller war Dichter, Philosoph und Arzt; und von ihm stammt der Satz „Es ist der Geist, der sich den Körper baut“.8 In welcher Weise ist dieser Satz heute anwendbar? Gehirne sind in ihrer strukturell-funktionellen Entwicklung genetisch nur andeterminiert, nicht durch-determiniert. Sie zeigen in ihrer Ontogenese das Phänomen der Selbstorganisation im Hinblick auf die soziale Umgebung. Sie sind im Sinne von Maturana und Varela im Prozess der Autopoiesis aktiv. Wie funktioniert das? Das ZNS zeigt, wie Martin Heisenberg formuliert, initiale Aktivität, d. h. es entstehen spontan Erregungsmuster, die sich als Anfragen auf das körperlich-situative, soziale Umfeld beziehen. Dabei scheint es, wie Wolf Singer formuliert, präkategoriale Funktionen zu geben, die Mustern von Perzeptivität (hell-dunkel, Akustik, Farbe, Form) und Motorik entsprechen. Im Sinne der nicht-linearen Dynamik (Chaostheorie der Neuen Physik) entsprechen diese Muster synaptischen Attraktoren, die entweder verstärkt oder abgeschwächt werden. Diese Attraktoren bilden sich unter der Wirkung der Prozesse der Neuroplastizität um. Im Sinne der evolutionären Erkenntnistheorie (Volmer) lässt sich mit Singer sagen, dass sich die Präkategorien im lebendigen Vollzug der Entwicklung weiter ausdifferenzieren, und zwar in der Selbstorganisation, in der Resonanz, mit den sozialen Mitteilungen aus dem Umfeld. In der weiteren Entwicklung des Menschen nach Embryogenese und Säuglingsphase bleiben die Prozesse der Neuroplastizität potentiell erhalten und prägen das geistig-seelische-physische Leben und erfüllen damit den Schillerschen Satz „Es ist der Geist, der sich den Körper baut“, allerdings nur unter der Berücksichtigung der Einschränkung: „Es ist der Körper, der sich seinen Geist baut“.
6. Subjek t ha f t ig keit i m t ra nshu ma nen Kör p er Für Überlegungen zur Subjektkonstitution im berührungshaften Selbstverhältnis und in der Interpersonalbeziehung eignet sich das Gedankenexperiment möglicher transhumaner Körper: Ist es wirklich so, dass das seelisch-geistige Selbstsein von Menschen vollständig darin aufgeht, durch die physikalischen Zustände von Gehirnen repräsentiert und damit beschreibbar zu sein? Geht man von dem Paradigma der Neurotransplantation aus, im Extremfall der Verpflanzung eines ganzen menschlichen Gehirns in einen ande8
Friedrich Schiller: Wallenstein. Ein dramatisches Gedicht, in: ders.: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Berliner Ausgabe, Bd. 4, hg. v. Hans-Günther Thalheim, Leipzig 1984, S. 208.
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ren Körper, einen anderen Kopf, zugehörig zu einem anderen Leib, so lässt sich mit dem Göttinger Philosophen Günther Patzig fragen: „Wäre Sophia Loren wirklich noch Sophia Loren, wenn ihr ZNS in meinen Körper eingepflanzt würde und wäre sie wirklich Günther Patzig, wenn sie mein Gehirn trüge?“ Diese Frage ist deshalb so tief, weil sie mit der Philosophie des Zwischen Bubers in der Interpretation von Michael Theunissen in seinem Buch (Der Andere) zu tun hat. Hier geht es um einen interpersonalen Raum, den ich einmal versuchsweise als das interpersonale Selbst bezeichnet habe: Unser seelisch-geistiges Selbstsein geht nicht darin auf, ZNS-Funktion zu sein und auch nicht in der damit verkoppelten Leiblichkeit, sondern es ist in merkwürdiger Weise beides zugleich bzw. eben dazwischen: Es spielt sich in dem rätselhaften Bereich des Zwischen ab, der dadurch entsteht, dass menschliche Gehirne vorgängig schon immer mit ihren zugehörigen Leibstrukturen und deren Lebenswelten in Verbindung stehen – ja, sich an ihnen, den Leiblichkeiten, in denen sie vorkommen, gebildet haben. Das Gehirn ist, was es ist, im Hinblick auf anderes: auf den Leib und die Lebenswirklichkeit, in der der Träger dieses Gehirns vorkommt. Oder mit anderen Worten: Das Gehirn ist als Lebendigkeit vorgängig intentional (im Sinne von Brentano) verfasst, auf anderes bezogen und nur aus dieser Bezogenheit verständlich und interpretierbar. Der transhumane Körper kann somit auch nur dann zum transhumanen Leib werden, wenn er Teil einer Lebenswelt wird, die aus einem lebendigen Zwischen, von lebendiger Interpersonalität aus, verstanden werden kann. Unter dem Konstrukt eines interpersonalen Selbst verstehe ich in diesem Sinne den von Buber angeregten Gedanken, dass unser Selbstsein vorgängig schon immer als In-Beziehung-Sein zu verstehen ist, d. h. bevor eine IchKonstitution sich bildet, steht das Bubersche Wir in dem Satz: „Im Anfang ist Beziehung“. Dieses In-Beziehung-Stehen bezieht sich nun aber nicht nur auf den Interpersonalbereich, sondern auch auf unser Innenverhältnis. Auch unser Geist, unser In-der-Bedeutungssprache-Stehen, steht im Verhältnis zu etwas in uns, nämlich im Verhältnis zum Leib, zur Konkretion des Körpers und damit zum Phänomen der Berührung. Diese Beziehung ist im Sinne Bubers und Theunissens auch als ein Zwischen zu denken. So kann man sagen: Das, was ich bin, ist weder das Gehirn noch mein Leib, mein Körper, sondern das, was ich bin, mein Ich, ist im Zwischen.
André L. Blum
D I E BI O L O G I E D E R V E R KÖR P E RU N G E N: AUC H E I N BI L DA K T
1. Der Kör p er ist i ntel l igent Biologische „Verkörperung“ im engsten Sinne bedeutet, dass der Körper ohne Einfluss des zentralen Prozessors, des Hirns, „Intelligentes“ zu leisten vermag. Von „Intelligenz“ soll bei zielgerichtetem, adaptivem Verhalten gesprochen werden.1 Der Verdauungsapparat ist als autonomes Organsystem zu solchem Verhalten befähigt. Eine der Basisfunktionen des Verdauungsapparats ist der peristaltische Reflex: Oberhalb eines Nahrungsballens ziehen sich die Darmmuskeln reflektorisch zusammen und unterhalb erschlaffen sie, sodass der Ballen nach unten transportiert wird, den ganzen Verdauungsapparat durchläuft und schließlich durch den Anus ausgeschieden wird. Intelligent ist das Verhalten des Darmes deshalb, weil dieser Reflex den Umständen angepasst wird. Eine Fülle von Rezeptoren der Darmzellen erfasst die sich ständig verändernden Eigenschaften des Darminhalts, nämlich Volumen, Zusammensetzung und Verdauungszustand.2 Die Verarbeitung der Information aus diesen Rezeptoren erfolgt im autonomen Nervensystem der Darmwand, das „intelligente“ Handlungssignale aussendet. Sogenannte cholinerge Reflexe (benannt nach der Überträgersubstanz Cholinesterase) regulieren und koordinieren Bewegungen der Muskelzellen, Sekretion von Verdauungsflüssigkeiten, Blutfluss und Funktion der immunologischen Abwehrzellen. Das zentrale Nervensystem greift nur bei ei1 2
Robert Jeffrey Sternberg: Beyond IQ. A Triarchic Theory of Human Intelligence, New York 1985. Takashi Kondoh/Hruda Nanda Mallick/Kunio Torii: Activation of the Gut-Brain Axis by Dietary Glutamate and Physiologic Significance in Energy Homeostasis, in: The American Journal of Clinical Nutrition 90/3 (2009), S. 832–837; Christopher P. Gayer/Marc D. Basson: The Effects of Mechanical Forces on Intestinal Physiology and Pathology, in: Cellular Signalling 21/8 (2009), S. 1237–1244.
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ner akuten Bedrohung von außen, beispielsweise beim Angriff durch einen Feind, ein. In einem solchen Fall wird eine neurale Notfallbremse gezogen und die Verdauungstätigkeit vorübergehend unterbrochen.3 Die Darmfunktion steht auch unter der Kontrolle von Hormonen und anderen Überträgersubstanzen, die von den Darmzellen und vom zentralen Nervensystem ausgeschieden werden; mehr davon in Abschnitt 3. Der Darm reguliert und überwacht seine eigene Funktion mithilfe von Schrittmachern und „Uhren“. Dazu steht unter anderem ein System von elektrischen Schrittmachern zur Verfügung, den sogenannten Cajal-Zellen.4 Diese Zellen sind deshalb von besonderem Interesse, weil sie nicht zum autonomen Nervensystem gehören; embryologisch stammen sie vom gleichen Keimblatt ab wie die Muskelzellen. Sie sind eines der vielen Beispiele dafür, dass Kontrollfunktionen keine ausschließliche Domäne des Nervensystems darstellen; der Übergang zwischen Prozessoren und ausführenden Strukturen ist in Wirklichkeit fließend. Das Darmlumen, diese innere „Welt“ des Darmes, wird von Mikroorganismen bevölkert – auf jede Körperzelle kommen mindestens zehn von diesen Mikroorganismen.5 Bis in die Neuzeit fürchtete sich die Menschheit vor den Fäulnisprodukten aus dem Darm und ihren Auswirkungen auf das Denken und Fühlen;6 über Jahrhunderte waren „reinigende“ Klistiere eine der wichtigsten medizinischen Maßnahmen. In neuerer Zeit wurde festgestellt, dass die Darmbakterien Vitamine herstellen, und das Pendel schwang zur Gegenseite, zur Akzeptanz, hinüber. Heute wissen wir, dass der Darm „seine“ Flora genau reguliert; das Darmlumen gleicht einem Landwirtschaftsbetrieb mit Nutztieren, die bei der Produktion zahlreicher lebensnotweniger Substanzen sowie der
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Alan E. Lomax/Keith A. Sharkey/John B. Furness: Participation of the Sympathetic Innervation of the Gastrointestinal Tract in Disease States, in: Neurogastroenterol and Motility 22/1 (2010), S. 7–18. Juan A. De Carlos/José Borrell: A Historical Reflection of the Contributions of Cajal and Golgi to the Foundations of Neuroscience, in: Brain Research Review 55/1 (2007), S. 8–16; Premysl Berˇc ík/Luc Bouley/Pierre Dutoit/André L. Blum/ Pavel Kuˇcera: Quantitative Analysis of Intestinal Motor Patterns. Spatiotemporal Organization of Nonneural Pacemaker Sites in the Rat Ileum, in: Gastroenterology 119/2 (2000), S. 386–394. Die Zahl der Viren ist um Logarithmeneinheiten größer; Asher Mullard: Microbiology. The Inside Story, in: Nature 453/7195 (2008), S. 578–580. Thomas S. N. Chen/Peter S. Y. Chen: Intestinal Autointoxication. A Medical Leitmotif, in: Journal of Clinical Gastroenterology 11/4 (1989), S. 434–441; Edzard Ernst: Colonic Irrigation and the Theory of Autointoxication. A Triumph of Ignorance over Science, in: Journal of Clinical Gastroenterology 24/4 (1997), S. 196– 198.
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Verwertung von Nahrung und von Medikamenten eingesetzt werden.7 Umgekehrt hat gerade diese Darmflora einen entscheidenden Einfluss auf Darm und andere Körperfunktionen. Einen Teil seiner Intelligenz hat der Darm wegen der Mikroflora; mehr davon in Abschnitt 2. Am Ende ein Caveat bei der Beurteilung intelligenten Verhaltens. Oft wird dazu der Labyrinth-Test verwendet. Wer seinen Weg durch das Labyrinth findet, ist intelligent. Ein solches Verhalten lässt sich aber nicht nur beim griechischen Held Theseus und trainierten Ratten, sondern auch bei unbelebten Öltröpfchen beobachten; auch sie finden ihren Weg durch ein Labyrinth.8 Dieses Intelligenz vortäuschende Verhalten der Öltröpfchen hat animistischen Fehlinterpretationen Auftrieb gegeben, kommt jedoch durch einfache physikalisch-chemische Kräfte zustande. Damit zeigt es sich, dass bei der Beurteilung von Intelligenz Fehlschlüsse möglich sind – Vorsicht und kritische Prüfung der Beobachtungen sind wichtig.
2. Der Kör p er ist ler n fä h ig Lernen bezeichnet den Erwerb von neuen Fähigkeiten oder Fertigkeiten, die anschließend nachhaltig ausgeübt werden können; ohne Lernen kein Gedächtnis. Für das absichtliche Lernen ist ein zentraler Prozessor notwendig. Auch beim unwillkürlichen Lernen kann der zentrale Prozessor eine Rolle spielen. Hier wird gezeigt, dass unwillkürliches Lernen durch den Körper auch möglich ist, wenn sich kein zentraler Prozessor daran beteiligt. Pionierarbeit wurde von Eric Kandel an der kalifornischen Meeresschnecke durchgeführt.9 Dieses Tier besitzt kein zentrales Nervensystem, sondern bloß 20.000 Nervenzellen (im Vergleich dazu: der Mensch besitzt 100 Milliarden), die in einigen Nervenknoten über den ganzen Körper verteilt sind. Jede einzelne Nervenzelle der Meeresschnecke ist lernfähig. Für ein „primitives“ Lernen spricht eine weitere Beobachtung: Frosch- und Salamandereier sind lernfähig, noch bevor sich ein Hirn entwickelt hat. Wenn die Eier einem Körperextrakt Lurche fressender Räuber ausgesetzt werden, und nur dann, sind
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Manimozhiyan Arumugam u. a.: Enterotypes of the Human Gut Microbiome, in: Nature 473/7346 (2011), S. 174–180. István Lagzi/Siowling Soh/Paul J. Wesson/Kevin P. Browne/Bartosz A. Grzybowski: Maze Solving by Chemotactic Droplets, in: Journal of the American Chemical. Society 132/4 (2010), S. 1198–1199. Eric R. Kandel: In Search of Memory, New York 2007, S. 135 ff.
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später die geschlüpften Lurche in der Lage, ihre Feinde zu erkennen und vor ihnen die Flucht zu ergreifen.10 Lernen ist auch durch Einschleusen von Genen in den Darm möglich. Japaner, die häufig Algen essen, können diese − im Gegensatz zu gelegentlichen Algenkonsumenten − verdauen. Dieses „Sushi-Phänomen“ lässt sich wie folgt erklären. Die Algen beherbergen Meeresbakterien, die mit ihren Enzymen Algen verdauen können; bei häufigem Algenkonsum geben diese Bakterien die Gene zur Herstellung der Verdauungsenzyme an die menschliche Darmflora weiter. Auf diese Weise lernt der Organismus, ein für ihn wichtiges Nahrungsmittel zu verdauen.11 Das „Sushi-Phänomen“ illustriert, dass ein intensiver Austausch von Genen zwischen der Darmflora und den Mikroorganismen der Außenwelt einerseits und den Körperzellen andererseits stattfindet. Mindestens ein Drittel aller unserer Gene stammt ursprünglich aus Mikroorganismen. Es ist also biologisch wesentlich schwieriger, zwischen „Körper“ und „Umwelt“ zu unterscheiden, als dies im Rahmen von theoretischen Überlegungen den Anschein hat. Der wohl bedeutsamste und zurzeit noch immer kontrovers diskutierte Lernmechanismus betrifft den Einfluss erworbener Eigenschaften auf die Gene und ihre Funktion, die Epigenetik.12 Es handelt sich um eine Serie von Mechanismen, die Genfunktionen nachhaltig beeinflussen, ohne die DNA-Struktur der Gene anzutasten. Oft werden Veränderungen an der Hülle eines Gens beobachtet, dessen Funktion dadurch abgeschwächt oder gar aufgehoben, gelegentlich auch verstärkt wird. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass es neben Veränderungen des internen Körpermilieus auch Umwelteinflüsse sind, die epigenetische Veränderungen bewirken: Dadurch passt sich der Körper an die Umwelt an. Da diese epigenetischen Mechanismen die DNA-Struktur nicht beeinflussen, handelt es sich nicht um Mutationen. Das bedeutet auch, dass epigenetische Veränderungen wieder rückgängig gemacht werden können.
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Maud C. Ferrari/Douglas P. Chivers: Latent Inhibition of Predator Recognition by Embryonic Amphibians, in: Biology Letters 5/2 (2009), S. 160–162; Alicia Mathis/ Maud C. Ferrari/Nathan Windel/François Messier/Douglas P. Chivers: Learning by Embryos and the Ghost of Predation Future, in: Proceedings in the Royal Society of London, Series B: Biological Sciences 275/1651 (2008), S. 2603–2607. Jan-Hendrik Hehemann/Gaëlle Correc/Tristan Barbeyron/William Helbert/Mirjam Czjzek/Gurvan Michel: Transfer of Carbohydrate-Active Enzymes from Marine Bacteria to Japanese Gut Microbiota, in: Nature 464/7290 (2010), S. 908–912. Die Epigenese ist nur einer der zahlreichen Umweltmechanismen, die Genfunktionen nachhaltig beeinflussen und individuelle Vielfalt erzeugen, ohne die Genstruktur anzutasten. Als weiteres Beispiel sei die RNA-Editierung genannt, auf die hier nicht eingegangen wird; vgl. Marion Horsch u. a.: Requirement of the RNAEditing Enzyme ADAR2 for Normal Physiology in Mice, in: The Journal of Biological Chemistry 286/21 (2011), S. 18614–18622.
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Sind epigenetische Veränderungen vererbbar? Da sie das Erbgut nicht verändern, würde man eine negative Antwort erwarten. Dazu kommt, dass die Behauptung, erworbene Eigenschaften könnten vererbt werden,13 schon einmal, vor mehr als 150 Jahren − in Bausch und Bogen, und wie es schien, definitiv und schlüssig − verworfen worden ist. Vor 10 Jahren wurde jedoch mitgeteilt, dass die Enkel von Männern, die in der frühen Adoleszenz Hunger leiden mussten, weniger häufig an Diabetes erkranken und länger leben als eine Gruppe, deren Großväter reichlich zu essen hatten. Seither sind zahlreiche weitere ähnliche Beispiele einer solchen „Vererbung“14 bekannt geworden. Im Folgenden wird beispielhaft ein Experiment beschrieben, weil es sich mit der „Vererbung“ psychischer Eigenschaften, einem besonders kontroversen Thema, befasst. Aufgrund ihrer Genstruktur zeugen gewisse unbegabte Mäuse ebensolche unbegabte Nachkommen. Werden jedoch unbegabte Mäuse vor der Schwangerschaft psychosozial, durch Geschicklichkeitsspiele und positive Kontakte, stimuliert, sind die Nachkommen bis ins dritte Glied lebhaft und aufnahmefähig. Spätere Generationen sind wieder unbegabt.15 Am Hirn dieser Mäuse lassen sich epigenetische Veränderungen der Hülle des Gens, das für den Mangel an Begabung verantwortlich ist, nachweisen. Dieses Experiment zeigt auch, dass die „Vererbung“ nur einige Generationen durchläuft und dann verschwindet, es sei denn, dass der Stimulus – im vorliegenden Beispiel die psychologische Stimulation – weiter anhält. Zu Recht wird vor einer Überbewertung der epigenetischen „Vererbung“ gewarnt:16 Ihre Bedeutung im Vergleich zu anderen Mechanismen der Übertragung erworbener Eigenschaften auf Kinder und Enkel liegt noch weitgehend im Dunkeln. Für unsere Überlegung spielt das jedoch keine Rolle. Daran, dass unser Körper auf die Umwelt nachhaltig reagiert und dass diese Reaktionen 13 14
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Jean Baptiste de Lamarck: Philosophie zoologique ou exposition des considérations relatives à l’histoire naturelles des animaux, Paris 1809. Lamarcks Lehre der Vererbung erworbener Eigenschaften geriet im 19. Jahrhundert in Misskredit. Manche Autoren vermeiden den Ausdruck „Vererbung“ und sprechen vorsichtiger von „transgenerationaler Epigenese“: Eva Jablonka/Gal Raz: Transgenerational Epigenetic Inheritance. Prevalence, Mechanisms, and Implications for the Study of Heredity and Evolution, in: The Quarterly Biological Review 84/2 (2009), S. 131– 176; Marcus Pembrey/Lars Olov Bygren/Gunnar Kaati/Sören Edvinsson/Kate Northstone/Michael Sjöström/Jean Golding and the ALSPAC Study Team: SexSpecific, Male-Line Transgenerational Responses in Humans, in: European Journal of Human Genetics 14/2 (2006), S. 159–166. Janko A. Arai/Shaomin Li/Dean M. Hartley/Larry A. Feig: Transgenerational Rescue of a Genetic Defect in Long Term Pontentiation and Memory Formation by Juvenile Enrichment, in: The Journal of Neuroscience 29/5 (2009), S. 1496–1502. Staffan Müller-Wille/Hans-Jörg Rheinberger: Das Gen im Zeitalter der Postgenomik. Eine wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme, Frankfurt/M. 2009, S. 118 ff.
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im Gegensatz zur Evolution und ihren „blinden“ Mutationen zielgerichtet sein können, also einem Lernprozess entsprechen, gibt es heute nichts mehr zu rütteln.
3. Der Kör p er b e ei n f lusst den Prozessor Wie schon erwähnt, bestehen das autonome und das zentrale Nervensystem aus den gleichen Bauelementen. Ein faszinierendes Beispiel für diese Ähnlichkeit der beiden Nervensysteme sind die Hormone, die entlang der Darm-Hirnachse zirkulieren. In der Darmschleimhaut und im autonomen Nervensystem werden ausnahmslos die gleichen Hormone und andere Überträgersubstanzen produziert wie im Zentralnervensystem. Was bedeutet es nun, dass sich die beiden Systeme mit den gleichen Signalstoffen begegnen? Dies soll am Beispiel des „Hungerhormons“ Ghrelin besprochen werden. Ghrelin wird vom leeren, „hungrigen“ Magen gebildet und ausgeschüttet. Im Magen selbst verursacht es Hungerkontraktionen; im Darm löst es Massenbewegungen aus, die den Restinhalt kräftig nach unten befördern und Platz für neue Nahrung schaffen. Es richtet die internen Uhren des Darmes neu und setzt damit ein Zeichen zur Bereitschaft, Nahrung aufzunehmen. Noch wichtiger aber sind die Wirkungen von Ghrelin auf das Hirn, wo es ebenfalls produziert wird. Im limbischen System, das unser Verhalten aus dem Unbewussten heraus steuert, werden die Belohnungskerne aktiviert. Dadurch entsteht das Gefühl, Essen stelle eine freudvolle Tätigkeit dar. Darüber hinaus stimuliert Ghrelin auch Hirnfunktionen, die scheinbar nicht – aber bei näherem Besehen eben doch – mit der Nahrungssuche in Zusammenhang stehen, nämlich eine positive Stimmungslage und eine Verbesserung der Gedächtnisfunktion.17 Und nicht genug damit: Ghrelin hat einen entzündungshemmenden Effekt; die negativen Auswirkungen von entzündlichen Herden – wo immer sie liegen mögen – werden zumindest vorübergehend gedämpft. Jetzt, so lautet die Losung, geht es ums Essen, nicht um das Lecken alter Wunden. Und als ob das alles noch nicht genügen würde: Auch der Urogenitaltrakt, die exokrinen Drüsen und das Herz-Kreislaufsystem werden durch Ghrelin beeinflusst, in der
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V. P. Carlini/A. C. Martini/H. B. Schiöth/R. D. Ruiz/M. Fiol de Cuneo/S. R. de Barioglio: Decreased Memory for Novel Object Recognition in Chronically FoodRestricted Mice Is Reversed by Acute Ghrelin Administration, in: Neuroscience 153/4 (2008), S. 929–934; Michael Lutter/Ichiro Sakata/Sherri Osborne-Lawrence/ Sherry A. Rovinsky/Jason G. Anderson/Saendy Jung/Shari Birnbaum/Masashi Yanagisawa/Joel K. Elmquist/Eric J. Nestler/Jeffrey M. Zigman: The Orexigenic Hormone Ghrelin Defends Against Depressive Symptoms of Chronic Stress, in: Nature Neuroscience 11/7 (2008), S. 752 f.
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Regel so, dass dem wichtigsten Ziel – der Suche und Aufnahme von Nahrung – dadurch Vorschub geleistet wird.18 Es könnte der Eindruck entstehen, Ghrelin sei die Schlüsselsubstanz, mit der sich der Darm das Hirn und den restlichen Körper gefügig macht. Dies trifft aber keineswegs zu. Die Überträgersubstanzen gehen in die Hunderte19 – alle paar Monate wird eine neue dazu entdeckt. Ghrelin ist bloß in letzter Zeit intensiv untersucht worden, weil es sich um einen relativ neuen Kandidaten handelt und weil es als Medikament bei Magersucht und Darmlähmung eingesetzt wird. Von den fünf Hormonen, die gegenwärtig bei der Regelung des Appetits als besonders wichtig angesehen werden,20 haben alle multiple Wirkungen auf das allgemeine Verhalten, insbesondere auf soziales Vertrauen oder Ängstlichkeit, fröhliche oder gedrückte Stimmungslage, und es finden sich feine Nuancen zwischen den fünf Kandidaten. Damit steht dem Darm eine fast unübersehbare Palette an Maßnahmen zur Verfügung, um den zentralen „Prozessor“ für das einzusetzen, wofür er ursprünglich entwickelt worden ist, nämlich für eine wirksame und sichere Nahrungssuche. Nicht nur der Darm, sondern auch die in der somatischen Peripherie gelegenen Sinnesorgane beeinflussen den zentralen Prozessor. Wer ein warmes Getränk in der Hand hält, empfindet mehr Wärme für sein Gegenüber als jemand, dessen Getränk eisgekühlt ist, und der gleiche Hirnabschnitt ist für physische und psychische Empfindung von „Wärme“ verantwortlich.21 Eine weitere Beobachtung befasst sich mit dem Einfluss von Gerüchen auf moralische Urteile (beispielsweise: „Ist es verwerflich, auf der Straße gefundenes Geld selbst zu behalten?“). Wenn die Versuchsperson üblen Gerüchen ausgesetzt wird, fallen ihre moralischen Urteile härter, „moralisierender“ aus als in einer
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Susan Rotzinger/David A. Lovejoy/Laura A. Tan: Behavioral Effects of Neuropeptides in Rodent Models of Depression and Anxiety, in: Peptides 31/4 (2010), S. 736– 756; Carine De Vriese/Jason Perret/Christine Delporte: Focus on the Short- and Long-Term Effects of Ghrelin on Energy Homeostasis, in: Nutrition 26/6 (2010), S. 579–584; Betty De Smet/Anna Mitselos/Inge Depoortere: Motilin and Ghrelin as Prokinetic Drug Targets, in: Pharmacology & Therapeutics 123/2 (2009), S. 207– 223. Rotzinger u. a.: Behavioral Effects of Neuropeptides (wie Anm. 18). Ghrelin, Anandamin und Orexin sind appetitsteigernd, Leptin und Cholecystokinin appetithemmend. Aus Platzgründen wird auf detaillierte Literaturzitate verzichtet. Eine Übersicht findet sich bei: Mathias Rask-Andersen/Pawel K. Olszewski/Allen S. Levine/Helgi B. Schiöth: Molecular Mechanisms Underlying Anorexia Nervosa. Focus on Human Gene Association Studies and Systems Controlling Food Intake, in: Brain Research Reviews 62/2 (2010), S. 147–164. Lawrence E. Williams/John A. Bargh: Experiencing Physical Warmth Promotes Interpersonal Warmth, in: Science 322/5901 (2008), S. 606 f.
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wohlriechenden Umgebung.22 Somit wird das Verhalten des Hirns durch Geruchsstoffe auch dann beeinflusst, wenn scheinbar neutrale, emotionslose, „objektive“ moralische Urteile gefällt werden. Diese Experimente illustrieren, in welch engem Bereich unser Bewusstsein die Handlungen und Entscheidungen bestimmt.23 Alle scheinbar objektiven und vernünftigen Entscheidungen werden von unten herauf, vom Körper, manipuliert. Der Verdauungsapparat spielt dabei die wichtigste Rolle, aber auch andere Systeme wie Tast- und Geruchsinn sind bedeutsam.
4. Der Prozessor mac ht sic h ei n Bi ld vom Kör p er Um seine Funktion als Prozessor ausüben zu können, muss sich das Hirn „ein Bild vom Körper machen“. Dazu legt es sich Karten an, auf denen die verschiedenen Körperabschnitte abgebildet sind. Die Proportionen dieses „Homunculus“ entsprechen nicht den anatomischen Größen, sondern der Bedeutung der Organe – die Hände sind also auf der Karte viel größer dargestellt als etwa die Brust. Wenn nun eine Handlung ausgeführt wird, bestimmt das Hirn anhand dieser Karte, welche Körperteile daran beteiligt sein sollen, und von den bezeichneten Stellen auf der Karte gehen die Handlungssignale hinunter ins Soma. Zur Illustration der Arbeitsweise dieser Körperkarten werden im Folgenden Beobachtungen über den Werkzeuggebrauch japanischer Makaken beschrieben. Diese Affen benutzen in der freien Wildbahn keine Werkzeuge. Wenn sie nun im Labor lernen, mit einem Rechen Nahrung zu sich hinzuziehen, nimmt die Größe der Hand innerhalb der Körperkarte – entsprechend ihrer steigenden Bedeutung − zu, und wenn sich mit zunehmender Übung der Blick der Makaken nicht mehr auf die Hand, sondern auf die Spitze des Rechens richtet, erscheint neben der Hand ein neuer Abschnitt auf der Karte: Er entspricht dem Rechen, der dadurch einen Platz auf der Körperkarte erhält. Die Größe des Werkzeugs auf der Karte nimmt noch weiter zu, wenn die Tiere mit der Zeit auch lernen, einen mit Videokamera ausgerüsteten Roboterarm, also ein sensorielles Werkzeug, zu bedienen. Diese Experimente zeigen, dass die Proportionen auf der Karte nicht etwa fix sind. Sie ändern sich bei entsprechen22 23
Simone Schnall/Jonathan Haidt/Gerald L. Clore/Alexander H. Jordan: Disgust As Embodied Moral Judgement, in: Personality and Social Psychology Bulletin 34/8 (2008), S. 1096–1109. Patrick Haggard: Human Volition. Towards a Neuroscience of Will, in: Nature Review Neuroscience 9/12 (2008), S. 934–946; André L. Blum/David Poeppel: Intuition, in: Caroline Welsh/Stefan Willer (Hg.): Interesse für bedingtes Wissen. Wechselbeziehungen zwischen Wissenskulturen, Paderborn 2008, S. 379–404.
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dem Training.24 Wenn der Körper in eine enge Beziehung zu einem Teil der Umwelt tritt, etwa zu einem Rechen oder einem Musikinstrument, wird dieser Teil der Umwelt in die Körperkarte mit einbezogen. Die Makaken-Experimente erlauben es, eine Verkörperungs-Theorie der Evolution des Werkzeuggebrauchs zu formulieren. An dessen Anfang steht nicht ein Programm des Hirns, das dem Körper Befehle übermittelt; vielmehr ist die Entwicklung des Hirns bloß eine Voraussetzung, derer sich der Körper bei entsprechendem Umweltdruck bedienen kann – oder auch nicht. Wenn auf dieser frühen Entwicklungsstufe kein dringender Grund zum Einsatz von Werkzeugen besteht, wird darauf verzichtet. Dies ist wohl der Grund, weshalb die Makaken in freier Wildbahn, wo genügend Futter in Greifweite ist, keine Werkzeuge benutzen, obwohl sie aufgrund ihrer Hirnstruktur dazu in der Lage wären. Erst dann, wenn sie unter Laborbedingungen nur mittels eines Werkzeugs zur Banane gelangen können, „besinnen“ sie sich und setzen einen Rechen ein. In diesem Stadium steht der Werkzeuggebrauch noch ganz unter dem Einfluss von Meldungen aus dem Körper sowie des Bildes, das sich das Hirn von den Vorgängen im Körper macht. Im Verlauf der Evolution, wenn sich ansatzweise ein physikalisches Verständnis für die Werkzeugwirkung und die Fähigkeit zur Vorausplanung entwickeln, treten die zerebralen Leistungen in den Vordergrund. Wenn schließlich beim Menschen symbolisches Denken auftritt, die Gedächtnisspeicher für Wissen, Handlungsabläufe und Fertigkeiten vergrößert werden und zugleich erkannt wird, dass die Kollaboration mit anderen Menschen zu besseren Resultaten führt als der Alleingang, tritt der Werkzeuggebrauch in eine alle anderen Tätigkeiten überschattende Phase – er ist zu einer Sache des Hirns und der Gemeinschaft geworden.
5. Ic h bi n, wei l ic h d a bi n Im Hirn wird eine Vielzahl von „Körpern“ erfasst, abgebildet oder konstruiert: Keiner von ihnen ist ein getreuliches Abbild unseres Körpers, wie er etwa auf einer Fotografie zur Darstellung kommt.25 Zwei dieser „Körperschemata“ spie24
25
Thomas Elbert/Christo Pantev/Christian Wienbruch/Brigitte Rockstroh/Edward Taub: Increased Cortical Representation of the Fingers of the Left Hand in String Players, in: Science 270/5234 (1995), S. 305–307; Kentaro Inoue/Ryuta Kawashima/Motoaki Sugiura/Akira Ogawa/Torsten Schormann/Karl Zilles/Hiroshi Fukuda: Activation in the Ipsilateral Posterior Parietal Cortex During Tool Use. A PET Study, in: Neuroimage 14/6 (2001), S. 1469–1475; Michael Schaefer/Yvonne Rothemund/Hans-Jochen Heinze/Michael Rotte: Short-Term Plasticity of the Primary Somatosensory Cortex During Tool Use, in: Neuroreport 15/8 (2004), S. 1293–1297. Giovanni Berlucchi/Salvatore M. Aglioti: The Body in the Brain Revisited, in: Experimental Brain Research 200/1 (2010), S. 25–35.
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len in vielen Verkörperungstheorien eine wichtige Rolle: das Gefühl des „Körperbesitzes“ („Ich bin in meinem Körper, ich besitze ihn“) und der „Bewegungsautonomie“ („Ich kann diesen Körper bewegen“). Es wird oft postuliert, dass es sich um ein- und dasselbe handle,26 und im Alltag treten die Gefühle von Körperbesitz und Bewegungsautonomie gemeinsam auf, doch kann experimentell gezeigt werden, dass sich die beiden Schemata voneinander unterscheiden. Während das Gefühl des Körperbesitzes permanent – einmal bewusst und dann wieder unbewusst – vorhanden ist, benötigt das Gefühl der Bewegungsautonomie eine aktive und bewusst empfundene Bewegung.27 Eine „klassische“ Methode, mit der es gelingt, die beiden Schemata voneinander zu trennen, wird als Gummihandillusion bezeichnet. Dabei wird eine Hand der Versuchsperson verdeckt. Sichtbar ist für die Versuchsperson eine der eigenen Hand nachgebildete Gummihand. Wenn synchron die verdeckte eigene und eine sichtbare Gummihand berührt werden, „erkennt“ die Versuchsperson die Gummihand als „eigene“ Hand, während die wahre eigene Hand nicht verspürt wird. Diese Illusion kommt durch Zusammenwirken divergierender Informationen zustande, die einerseits aus dem Körper, aus Tast- und Sehorganen, andererseits aus den erwähnten Körpermodellen des Hirns stammen.28 Durch Modifikationen des Gummihand-Experiments ist es möglich, Bewegungsautonomie und Körperbesitz isoliert zu stimulieren und im Hirn zu verorten: Dabei ist das Gefühl des Körperbesitzes in jenen Hirnabschnitten lokalisiert, die auch das Selbstgefühl steuern, während das Gefühl für Bewegungsautonomie an jene Abschnitte gekoppelt ist, die für die Bewegungen verantwortlich sind und Rückmeldungen über erfolgte Bewegungen erhalten. Was zunächst nur mit einer Hand möglich war, ist neuerdings auch mit dem Gesamtkörper gelungen: Bei Gesunden lässt sich die Verortung des eigenen Körpers experimentell, durch divergierende Körpersignale, beeinflussen. Dabei zeigt sich, dass unser Selbstgefühl ganz entscheidend von der Fähigkeit abhängt, den Körper zu verorten:
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Häufig wird vom „Körperschema“ und „Körperbild“ gesprochen; ich möchte auf diese neurophysiologisch schlecht definierten Sammelbegriffe verzichten. Manos Tsakiris/Matthew R. Longo/Patrick Haggard: Having a Body versus Moving Your Body. Neural Signatures of Agency and Body-Ownership, in: Neuropsychologia 48/9 (2010), S. 2740–2749; Manos Tsakiris: My Body in the Brain. A Neurocognitive Model of Body-Ownership, in: Neuropsychologia 48/3 (2010), S. 703–712. Der Leser kann einfache Selbstversuche zu Körperillusionen durchführen. Schon Aristoteles spürte beim Betasten einer Erbse mit zwei Fingern zwei Erbsen, wenn er die tastenden Finger überkreuzte; vgl. Graham Lawton: That Freaky Feeling, in: New Scientist 201/2699 (2009), S. 33–37.
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Ich bin, weil ich weiß, wo mein Körper jetzt ist – ich bin, weil ich da bin.29 Das bedeutet, dass es kein vom Körper losgelöstes Ichgefühl geben kann. Die Meldungen aus dem Soma dienen somit dem Hirn beim Aufbau eines „Selbstgefühls“. Es handelt sich um eine wichtige, vitale Funktion des Körpers. Insbesondere das Gefühl des Körperbesitzes ist eng an das permanente Selbstwertgefühl gekoppelt. Diese Vorgänge werden oft als „Verkörperungen“ bezeichnet,30 weil sie die Körperschemata im Hirn und die Beteiligung der Körpersignale am Aufbau unserer Identität umschreiben.
6. Um kör p er u ngen Gemäß John M. Krois und Manfred Laubichler sind alle biologischen Verkörperungsphänomene letztlich Umkörperungen, das heißt Transformationen eines biologischen Zustands in einen anderen.31 Damit nähert sich die Biologie – wie schon in Abschnitt 5 angedeutet – der Bildakt-Theorie an, welche eine scharfe Unterscheidung zwischen einem Subjekt und einem Bild, eine Rangordnung vom sehenden Selbst hinunter zum gesehenen Bild, verwirft. Besonders eindrücklich sind die Umkörperungen dann, wenn scheinbar untergeordnete Bausteine ohne jede übergeordnete primäre Regieanweisung in der Lage sind, ein Ganzes zu bilden. Die Desoxyribonukleinsäureketten der Gene „verkörpern“ Informationen − man könnte von „Kochbuchanleitungen“ sprechen − zur Herstellung von Eiweißen. Darüber hinaus bilden sie autonom, ohne jede übergeordnete Regieanweisung, den gesamten Organismus. Man spricht vom bisher unerklärlichen Paradox der „Netze, die eine Spinne weben“.32 Zahlreiche weitere Beispiele aus der Evolutionsbiologie und Genetik könnten hier angeführt werden.
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Estelle Palluel/Jane Elizabeth Aspell/Olaf Blanke: Leg Muscle Vibration Modulates Bodily Self-Consciousness. Integration of Proprioceptive, Visual, and Tactile Signals, in: Journal of Neurophysiology 105/5 (2011); Silvio Ionta/Lukas Heydrich/ Bigna Lenggenhager/Michael Mouthon/Eleonora Fornari/Dominique Chapuis/ Roger Gassert/Olaf Blanke: Multisensory Mechanisms in Temporo-Parietal Cortex Support Self-Location and First-Person Perspective, in: Neuron 70/2 (2011), S. 363–374. Manos Tsakiris/Matthew R. Longo/Patrick Haggard: Having a Body versus Moving Your Body. Neural Signatures of Agency and Body-Ownership, in: Neuropsychologia 48/9 (2010), S. 2740–2749; Manos Tsakiris: My Body in the Brain. A Neurocognitive Model of Body-Ownership, in: Neuropsychologia 48/3 (2010), S. 703–712. John M. Krois, Manfred Laubichler, persönliche Mitteilungen. Stephen Strauss: Beyond the Double Helix, in: New Scientist (21. February 2009), S. 22.
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7. Sc h lussfolger u ngen In den ersten fünf Abschnitten werden autonome, „intelligente“ Körperfunktionen beschrieben, die ohne Kontrolle eines zentralen Prozessors ablaufen und sogar in der Lage sind, den Prozessor in ihrem Sinne zu beeinflussen, ihn für die Zwecke des Körpers einzusetzen. Wenn der Prozessor seinerseits regulierend eingreifen will, muss er sich zuerst ein Bild vom Körper machen und Körperkarten anlegen. Prozessoren, die ein Selbstgefühl entwickeln, sind dabei auf eine fortlaufende Verortung des Körpers angewiesen. Es kann kein vom Körper losgelöstes Ichgefühl geben; „Ich bin, weil ich da bin“. Menschliches Da-Sein ist mindestens zum Teil ein Verortungsgefühl. Abschnitt 6 zeigt, dass die Biologie der Verkörperungen weit über das Zwischenspiel von „Körpern“ und „Prozessoren“ hinausgeht; diese Vorgänge sind Sonderfälle einer weit gefassten Verkörperungstheorie. Mit dem Wort „Umkörperungen“ wird angedeutet, dass jede Transformation eines biologischen Zustands in einen anderen Zustand, unabhängig vom Gefälle, das dabei durchlaufen wird, unter den Begriff der „Ver“-Körperung fallen soll. Dadurch wären die Bildakt-Theorie und die Biologie der Verkörperungen letztlich Spielformen des gleichen Vorgangs – Bewegung ist der Schlüssel zu beiden Mechanismen; von der Biologie zum Bildakt ist es ein Katzensprung. Zugleich heißt das, dass die Materialisierung eines immateriellen Zustandes, das Einkörpern einer Idee, kein Bestandteil des biologischen Verkörperungskonzepts ist. Ideen ohne materielle Träger sind in der Biologie unbekannt. Information ist an Materie gebunden. Diese radikalen, von John M. Krois übernommenen Ansichten bedürfen weiterführender Überlegungen. John M. Krois verdanke ich die Anleitung bei der Bearbeitung dieser Thematik; auch Manfred Laubichler gab mir interessante Anregungen.
Bi ld nac hweise
Horizonte von „Bildakt und Verkörperung“
Bild 1: Emblem der Kolleg-Forschergruppe Bildakt und Verkörperung in Anlehnung an Hypnerotomachia Poliphili. Bild 2, 3: Francesco Colonna: Hypnerotomachia Poliphili, Reprint der Ausgabe von 1499, hg. v. Marco Ariani/Mino Gabriele, Mailand 1898, S. 1, S. 244 (Detail). Bild 4: Ulrich Wilmes (Hg.): Moderne Kunst. Die Kunst des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart im Überblick, Köln 2006, S. 207. Kontrollierte Entkörperung
Bild 1: Ausst.-Kat.: The Spectacular Art of Jean-Léon Gérôme (1824–1904), hg. v. Laurence des Cars, Paul Getty Museum Los Angeles/Musée d’Orsay Paris/Museo ThyssenBornemisza Madrid, Mailand 2010, S. 169. From Motion to Emotion
Figure 1, 7: © Musée du Louvre, Paris. Figure 2: Guntram Koch: Die antiken Sarkophagreliefs, vol. 12: Die mythologischen Sarkophage, part 6: Meleager [ASR 12.6], p.119, no. 112 Taf. 96 © Soprintendenza Speciale per i Beni Archeologici di Roma. Figure 3, 8: Photo published by kind permission of Elena Torno. Figure 4: Koch (ASR 12.6), pp.122f., no. 120 Taf. 96 © Soprintendenza Capitolina. Figure 5: Koch (ASR 12.6), pp. 123f., no. 122 Taf. 103 © Wilton House, Salisbury. Figure 6: Koch (ASR 12.6), p. 123, no. 121 Taf. 96 © Musei Vaticani. Figure 9: Erwin Panofsky: Tomb Sculpture, New York 1992, Fig. 315. Figure 10: © Photo LENSINI, Siena. Figure 11: http://www.the-athenaeum.org (11.07.2012). Figure 12: http://www.the-athenaeum.org (11.07.2012). Figure 13: © Soprintendenza Speciale per i Beni Archeologici di Roma. Figure 14a–d: Details of Figures 2, 5, 3, 1. Figure 15: Lucia Pirzio Biroli Stefanelli: L’argento dei Romani. Vasellame da tavola e d’apparato, Roma 1991, p. 159 no. 71. Figure 16: © Tampa Museum of Art. Figure 17: Barbara Philippaki/ Licia Collobi Ragghianti/Alan Leonard: Museo Archeologico Nazionale di Atene, Milano Mondadori 1979, p. 146. Figure 18 : http://www.cultorweb.com/ (11.07.2012).
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BILDNACHWEISE
Das tragische Bild Bild 1: Richard Green/Eric Handley: Bilder des griechischen Theaters, Stuttgart 1999, S. 43. Bild 2, 8, 9 : Jeffrey Spier (Hg.): Picturing the Bible. The Earliest Christian Art, New Haven 2007, S. 227, 243. Bild 3a : Repertorium der christlich-antiken Sarkophage, hg. v. Deutsches Archäologisches Institut Berlin, Bd. 1, Mainz 1967, Tafel 690. Bild 3b : Lucien de Bruyne: Importante copercio di sarcofago cristiano scoperto nelle Grotte Vaticane, in: Rivista di Archeologia Cristiana 21 (1944/45), S. 252. Bild 4 : Ludwig Wamser (Hg.): Die Welt von Byzanz. Europas östliches Erbe, Köln/München 2004, S. 263. Bild 5–7: Frauke Steenbock: Der kirchliche Prachteinband im frühen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Beginn der Gotik, Berlin 1965, Abb. 11, 17, 16, 15, 14. Theologie der Verkörperung Bild 1, 2 : Werner Bulst/Heinrich Pfeiffer: Das Turiner Grabtuch und das Christusbild, Band 2: Das echte Christusbild. Frankfurt/M. 1991, Abb. 25.26.100. Bild 3–6 : Wittenberg, Stadtkirche St. Marien, Foto: Philipp Stoellger. Bild 7: Halle/Saale, Marienkirche, Foto: Fritz Möller (1915). Bild 8–13 : Halle/Saale, Marienkirche Halle, Foto: Philipp Stoellger. Der Sinn der Sinnlichkeit Bild 1–4 : Das Goslarer Evangeliar, mit Erläuterungen von Renate Kroos und Frauke Steenbock, Graz 1991, Lizenzausgabe Darmstadt 21999, fol. 2v, fol. 69v, fol. 16r. Bild 5 : Ausst.Kat.: Ornament und Abstraktion. Kunst der Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog, hg. v. Markus Brüderlin, Fondation Beyeler, Köln 2001, S. 167. Körpergesten zwischen Bild und Schrift Bild 1, 3, 4, 5, 7: Ausst. Kat.: Du chaos dans le pinceau. Victor Hugo dessins, hg. v. JeanJacques Lebel/Marie-Laure Prévost, Museo Thyssen-Bornemisza Madrid, Maison de Victor Hugo Paris, Paris 2000, S. 291, 301, 295, 164, 259. Bild 2 : Kat.: Victor Hugo: Dessins visionnaires, Fondation de l’Hermitage, Lausanne 2008, S. 51. Bild 6 : Ausst. Kat.: Turner Hugo Moreau. Entdeckung der Abstraktion, hg. v. Raphael Rosenberg/Max Hollein, Schirn Kunsthalle Frankfurt, München 2007, S. 166. „Jeder Griff muß sitzen“ Bild 1, 2 : Ausst.-Kat.: Kunst im politischen Kampf, Kunstverein Hannover 1973, S. 5 u. 6. Bild 3, 4 : Ausst.-Kat.: Joseph Beuys. Jeder Griff muß sitzen/Just Hit the Mark. Works from the Speck Collection, Gagosian Gallery, London/New York 2003. Bild 6 : Ausst.-Kat.: ‚Wer nicht denken will fliegt raus‘. Joseph Beuys Postkarten, hg. v. Helmut Gold/Margret Baumann/Doris Hensch, Sammlung Neuhaus, Museum für Post und Telekommunikation Frankfurt/M., Heidelberg 1998, S. 18. Bild 5, 7–9 : Privatsammlung, Berlin. Bild 10 : © bpk, Kupferstichkabinett, SMB, Foto: Volker-H. Schneider. Bild 11: N24.de (s.v. Joseph Beuys). Bild 12 : unter: http://www.antiquariat-querido.de/(02.07.2012). Bild 13, 14 : Uwe M. Schneede: Joseph Beuys. Die Aktionen. Kommentiertes Werkverzeichnis mit fotografischen Do-
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BILDNACHWEISE
kumentationen, Ostfildern-Ruit 1994, S. 219, 221. Bild 15 : Ausst.-Kat.: Sprechende Hände, bearb. v. Bernd Evers, Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin 2006, S. 11. Bild 16 : Ausst.-Kat.: Joseph Beuys. Barraque D’Dull Odde, 1961–1967, Kaiser Wilhelm Museum Krefeld, 1991, S. 60 oben. Ästhetische Autonomie Bild 1: Kat.: Jasper Johns, hg. v. Michael Crichton, New York 1994, Plate 22. Bild 2 : Adolf Heinrich Borbein: Das Alte Griechenland. Geschichte und Kultur der Hellenen, München 1995, S. 434. Bild 3 : Ausst.-Kat.: Leonardo Da Vinci. Painter at the Court of Milan, hg. v. Luke Syson, The National Gallery, London 2011, S. 110, Kat. Nr. 10. Bild 4 : Ausst.-Kat.: A Living Man Declared Dead and Other Chapters. I–XVIII. Taryn Simon, Neue Nationalgalerie Berlin/Tate Modern London, London/Berlin 2011, S. 8, Foto: Robert McKeever. What Is an Outline Picture in Vision and Touch With kind permission of John M. Kennedy Bodily Forces, Actions, and the Semantics of Verbs Figure 1 Ronald Langacker: Foundations of Cognitive Grammar, vol. 1: Theoretical Prerequisites, Stanford, CA 1987, p. 311. Figure 2 Jennifer Freyd/Ronald Finke: Representational Momentum, in: Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition 10 (1984), p. 128. Figure 3 Rudolf Arnheim: Die Macht der Mitte. Eine Kompositionslehre für die bildenden Künste, Köln 1983, p. 21. Figure 4, 5 Rudolf Arnheim: The Power of the Center, Berkeley/Los Angeles, CA 1982, p. 11,108. Figure 6 David Marr/Lucia Vaina: Representation and Recognition of the Movements of Shapes, in: Proceedings of the Royal Society in London B 214 (1982).
ACTUS et I MAGO Berliner Schriften für Bildaktforschung und Verkörperungsphilosophie Herausgegeben von Horst Bredekamp und Jürgen Trabant Bilder sind keine Abbilder, sondern erzeugen im Bildakt, was sie darstellen. Sie verfügen über eine handlungsstiftende Kraft und wirken selbst lebendig. Bildkompetenz lässt sich keineswegs ausschließlich aus der traditionell überbewerteten Visualität des Menschen ableiten: Menschen reagieren auch deshalb auf Bilder, weil ihr unbewusstes neurologisches Körperschema, das aus der Integration taktiler, propriozeptiver, vestibulärer, visueller und akustischer Informationen entsteht, durch Bildschemata affiziert wird. Diese neuere Erkenntnis der Kognitionswissenschaften entspricht älteren Vorgaben der Verkörperungsphilosophie, die eine genuine Tradition im europäischen Sprachraum hat. In den Studien der Reihe „Actus et Imago“ wird eine Bild- und Verkörperungstheorie entwickelt, die in der Lage ist, Bildproduktion, Bildverstehen und Bildakte zu erklären. Im Ausgang vom belebten Leib leisten sie einen Beitrag zum Verständnis des menschlichen Reflexionsvermögens, das sich in ikonischen wie sprachlichen Formen und Interaktionen verkörpert.
In der Reihe sind bereits erschienen: BAND 1
Sehen und Handeln hrsg. von Horst Bredekamp und John M. Krois ISBN 978-3-05-005090-4
BAND II
John Michael Krois. Bildkörper und Körperschema hrsg. von Horst Bredekamp und Marion Lauschke ISBN 978-3-05-005208-3
BAND III
Thomas Gilbhard Vicos Denkbild. Studien zur „Dipintura“ der „Scienza Nuova“ und der Lehre vom Ingenium ISBN 978-3-05-005209-0
BAND IV
Stefan Trinks Antike und Avantgarde. Skulptur am Jakobsweg im 11. Jahrhundert: Jaca – León – Santiago ISBN 978-3-05-005695-1
BAND V
Das bildnerische Denken: Charles S. Peirce hrsg. von Franz Engel, Moritz Queisner und Tullio Viola ISBN 978-3-05-005696-8
BAND VI
Verkörperungen hrsg. von André L. Blum, John M. Krois und Hans-Jörg Rheinberger ISBN 978-3-05-005699-9
B A N D V I I Das haptische Bild. Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit hrsg. von Markus Rath, Jörg Trempler und Iris Wenderholm ISBN 978-3-05-006011-8