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German Pages 390 [297] Year 1971
HARRY
HARRIS
Biochemische Grundlagen der Humangenetik
Biochemische Grundlagen der Humangenetik von Prof. Dr. H A R R Y H A R R I S Galton Laboratory, University College, London In deutscher Sprache herausgegeben von Dr. sc. Falko F. Herrmann, Halle/Saale und Dr. rer. nat. habil. Regine Witkowski, Berlin
Mit 90 Abbildungen und 38 Tabellen
AKADEMIE-VERLAG • B E R L I N 1974
Titel der Originalausgabe: Harry Harris, "The Principles of H u m a n Biochemical Genetics" Copyright 1970 by North-Holland Publishing Company Übersetzt von Josephine Bauer, Berlin
Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Copyright der deutschen Ausgabe 1974 by Akademie-Verlag, Berlin Lizenznummer: 202 • 100/514/74 Gesamtherstellung: V E B Druckhaus „Maxim Gorki", 74 Altenburg Bestellnummer: 761 710 4 (6000) • LSV 1325 Printed in GDR EVP 3 8 , -
Vorwort zur englischen Ausgabe Dieses Buch entstand aus einer am Galton-Laboratorium gehaltenen Vorlesungsreihe, die für Studenten und Wissenschaftler nicht nur des Faches Humangenetik, sondern auch der Biochemie, der Biologie und der Medizin und für Interessierte verwandter Gebiete gedacht war. Ich habe mich bemüht, die prinzipiellen Grundlagen der modernen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Humangenetik zu erklären und einen Eindruck von der biochemischen Vielgestaltigkeit zu geben, die nach den neuesten Forschungsergebnissen die menschliche Population charakterisiert. Außerdem wollte ich zeigen, welche Auswirkungen derartige Analysen genetisch determinierter biochemischer Unterschiede innerhalb unserer Spezies auf grundlegende Probleme nicht nur der Genetik, sondern auch der Medizin und allgemeiner, der Humanbiologie, hatten. Vor etwas mehr als 10 Jahren schrieb ich eine Abhandlung zu diesem Thema (Human Biochemical Genetics, Cambridge University Press 1959), die den größten Teil des damaligen Wissens in einer logisch erscheinenden Ordnung enthielt. Seitdem hat sich jedoch die Forschung auf diesem Gebiet beinahe explosionsartig entwickelt, und bei der Vorbereitung dieses Buches stellte sich heraus, daß es nicht genügte, einfach den früheren Text auf den neuesten Stand zu bringen. Die vielen neuen Ergebnisse erforderten jetzt eine völlig andere Darstellung, wenn sie dem gegenwärtigen Wissensstand und den heutigen Vorstellungen gerecht werden sollte. Das liegt nicht nur an dem großen Informationszuwachs, sondern auch daran, daß ganz neue Gebiete in einer Weise erschlossen wurden, die auch noch vor wenigen Jahren kaum vorauszusehen war. Eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Entwicklung ist die größere Geschlossenheit, unter der das Thema als Ganzes jetzt erscheint. Einst sehr verschieden und unzusammenhängend anmutende Gebiete, wie das der angeborenen Stoffwechselkrankheiten, des Blutgruppenpolymorphismus, der Hämoglobinopathien und der Enzymund Proteinpolymorphismen, können jetzt innerhalb eines einheitlichen theoretischen Rahmens und in neuen Zusammenhängen betrachtet werden. Damit ergibt sich natürlich die Möglichkeit, den Stoff in systematischerer und mehr analytischer Weise darzustellen. So unterscheidet sich das vorliegende Buch, abgesehen von den neu aufgenommenen Daten im Herangehen und im Aufbau, wesentlich von dem früheren.
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Eine der Schwierigkeiten der Darstellung eines solchen Stoffes liegt in der Auswahl der Beispiele für die einzelnen aufgeführten Gesetzmäßigkeiten und im Grad der Details, bis zu denen sie ausgeführt werden sollen. Wenn der Umfang handlich bleiben und die Argumentation nicht von einer übermäßigen Menge von Erläuterungen erdrückt werden soll, muß vieles ausgelassen werden. Da ein Buch dieser Art jedoch auch als Nachschlagewerk benutzt werden soll, gerät man oft beim Schreiben in eine widersprüchliche Situation. Ich habe diesen Schwierigkeiten zu begegnen versucht, indem ich über den Text hinaus Literaturhinweise, z. T. in Tabellen und Anhängen, beigefügt habe, an Hand derer dann leicht weitere Informationen zu erhalten sind. Trotzdem liegen eine so große Stoffülle und so umfangreiche Literatur über eine große Anzahl von Fachzeitschriften verteilt vor, daß Quellenhinweise unvermeidlich vielfach weggelassen werden mußten. Ich hoffe dennoch, daß das Aufgenommene nicht nur für eine Einführung in die Grundprobleme, sondern auch für eine Anleitung zu weiteren Studien spezieller Themen dienen kann. HARRY HARRIS,
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M. D., F. R. S.
Juli 1969
Vorwort zur deutseben Ausgabe
Die Humangenetik ist heute keine nur deskriptive Wissenschaft mehr wie noch vor 30 Jahren. Die wesentlichsten Impulse für den Übergang zum experimentellen Arbeiten kamen von der Zytogenetik und der Biochemie. Während die Human-Zytogenetik im wesentlichen erst seit dem Jahre 1956 datiert, als die Darstellung der Chromosomen des Menschen in Zahl und Morphologie zum ersten Mal gelang, liegt der Beginn einer biochemischen Genetik des Menschen weit früher. Bereits im Jahre 1909 erschien das Buch „Inborn errors of metabolism", in dem der englische Arzt A. F. GARROD einige Erbkrankheiten unter noch heute gültigen biochemischen Aspekten behandelt. Eine grundlegende Erweiterung des genetischen Wissens und ganz neue, weitreichende Gesichtspunkte brachten während der letzten zwei Jahrzehnte biochemisch-molekularbiologische Forschungen über Struktur, Funktion und Regulationsmechanismen des genetischen Materials und die genetische Determination der Proteine bzw. des Stoffwechsels. Es zeigte sich bald, daß die dabei gefundenen Gesetzmäßigkeiten über das klassische Objekt dieser Untersuchungen, die Prokaryoten, hinausreichend eine Universalität besaßen, die die Eukaryoten bis hin zu den Säugetieren und den Menschen einschloß. Das vorliegende Buch gibt einen Eindruck davon, welche Bedeutung diese neuen Erkenntnisse für die Weiterentwicklung der Humangenetik besaßen und welche fruchtbare Synthese sich zwischen ihnen und dem reichen, in Jahrzehnten angesammelten Faktenwissen über das Objekt Mensch vollzogen hat. Es zeigt die Möglichkeiten und die Notwendigkeit auf, im Rahmen einer biochemischen Genetik des Menschen allgemein bekannte genetische Gesetzmäßigkeiten mit den Besonderheiten des menschlichen Stoffwechsels und genetisch bedingter Krankheiten in Verbindung zu sehen, zu erklären und den großen Zusammenhang zu verdeutlichen. Dabei kommt es dem Autor weniger auf die vollständige Darstellung aller bekannten, auf der Grundlage einer Mutation beruhenden Stoffwechseldefekte, sondern auf Zusammenhänge und Prinzipien an. In diesem Sinne wird in vorliegender Darstellung nicht monographisch Faktenwissen vermittelt, sondern es werden Einsichten in Denkweisen, Probleme und Methoden der biochemischen Humangenetik vermittelt. Die von der Mikroben7
genetik jedem Biologen und Mediziner geläufigen Gesetzmäßigkeiten erscheinen in ihrer Anwendbarkeit und in ihren Besonderheiten für den Menschen. Dadurch eignet sich das Buch in seiner Geschlossenheit und dem geschickten didaktischen Aufbau für Lernende, insbesondere Studenten der Medizin, Biologie und Biochemie, Spezialisten und interessierte Laien in gleicher Weise. Von diesem Gesichtspunkt ausgehend fiel die Entscheidung für eine deutsche Ausgabe. Sie entspricht weitgehend dem englischen Text. Für den deutschen Leser haben wir zur weiteren Orientierung über Einzelheiten und allgemeine genetische Fragen ein Verzeichnis verfügbarer und leicht beschaffbarer genetischer Fachliteratur am Ende des Buches beigefügt. Frau Josephine B A U E E danken wir für die exakte Übersetzung und Herrn Eberhard Göschel für die graphischen Arbeiten. F . H . HERRMANN REGINE WITKOWSKI
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1. Gen- und Punktmutation 1.1. 1.2. 1.3. 1.4 1.5. 1.5.1. 1.5.2. 1.5.3.
Einführung: Gene, DNA und Proteine Hämoglobinvarianten Struktur der Hämoglobinvarianten Aminosäuresubstitutionen und genetischer Code Auswirkungen von Substitutionen einzelner Aminosäuren Sichelzellanämie Erbliche Methämoglobinämien Instabile Hämoglobine .
13 16 19 21 27 27 30 33
Kapitel 2. Ein Gen — eine Polypeptidkette 2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.1.3. 2.1.4. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5 2.6 2.6.1. 2.6.2. 2.6.3. 2.6.4.
„Hybrid"-Proteine bei Heterozygoten 35 Hämoglobin 35 Peptidase A 36 Alkalische Phosphatase der Plazenta 40 Andere Enzyme 41 Globinpolypeptidketten und ihre Genorte 43 Lactatdehydrogenase (LDH) 46 Phosphoglucomutase 51 Gene und Isozyme 58 Position von Genorten für multiple Molekülformen eines bestimmten Proteins auf den Chromosomen 61 Kopplung und Rekombination 61 Die a- und ß-Hämoglobin-Loci 65 Die ß- und 8-Hämoglobin-Loci 66 Die Phosphoglucomutase-Loci PGM 1( PGM2 und PGM3 67
Kapitel 3. Duplikationen und Deletionen, ihre Auswirkungen auf die Proteinstruktur 3.1. 3.2. 3.3. 3.3.1. 3.3.2.
Die Haptoglobinvarianten Genduplikation und Evolution der Proteine Ungleiches Crossing-over Die Lepore-Hämoglobine Ungleiches Crossing-over als Ausgangspunkt für weitere Haptoglobinvarianten
69 77 80 81 83
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3.4. 3.5.
Deletionen Zwei unterschiedliche Aminosäuresubstitutionen in einer Polypeptidkette
86 88
Kapitel 4. Genmutationen, die die Proteinsyntheseraten beeinflussen 4.1. Genetische Regulation der Enzym- und Proteinsynthese 4.2. „Struktur"-Gene und „Regulator"-Gene 4.3. Beziehungen zwischen Struktur und Reaktionsgeschwindigkeiten . . . . 4.4. Vererbte Defekte in der Proteinsyntheserate — die Thalassämien . . . 4.4.1. ß-Thalassämie 4.4.2. Erbliche Persistenz von fötalem Hämoglobin 4.4.3. Andere Gene, die die ß- und S-Kettensynthese beeinträchtigen 4.4.4. Gly
C A G
Abb. 1.5. Der genetische Code (nach Cold Spring Harbor Symp. Quant. Biol 31, 1 9 6 6 ; Crick 1 9 6 7 ; Woese 1967 und Ycas 1969). Basen: U : Uracil, C: Cytosin, A: Adenin, G: Guanin Aminosäuren: Leu: Leucin Ala: Alanin Lys: Lysin Arg: Arginin Met: Methionin Asn: Asparagin Phe: Phenylalanin Asp: Asparaginsäure Pro: Prolin Oys: Cystein Ser: Serin Gin: Glutamin Thr: Threonin Glu: Glutaminsäure Try: Tryptophan Gly: Glycin Tyr: Tyrosin His: Histidin Val: Valin Ile: Isoleucin amber, ochre, opal: Nonsense-Tripletts (Kettenabbruch)
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sich in gleicher Weise erklären. Zu analogen Ergebnissen gelangt man auch hinsichtlich anderer Mutationen, die zu einer Aminosäuresubstitution in anderen Spezies führen. Insgesamt gesehen dürften die meisten Genmutationen einfach auf dem Austausch einer einzigen B a s e in der D N A eines bestimmten Gens beruhen. D e r normalen ß-Polypeptidkette des menschlichen Hämoglobins mit 146 Aminosäureresten entspricht ein Gen mit 438 Basenpaaren (146 X 3). D a die Mutation sowohl beim Sichelzellmerkmal als auch bei der Hb-C-Anämie die sechste Aminosäure betrifft, handelt es sich bei beiden um den Austausch benachbarter B a s e n desselben Tripletts (GAA G U A oder GAG - » GUG). Ähnlich präzise Angaben können für die meisten anderen Hämoglobinvarianten mit bekannter Aminosäuresubstitution gemacht werden. Nach Cbick (1967) stellt man die verschiedenen Aminosäuresubstitutionen von Proteinmutanten im Schema durch einen Pfeil dar, wie in Abb. 1.6. bei den Hämoglobinvarianten. B e i Austausch U
C
A
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denen a- und ß-Ketten-Hämoglobin Varianten (nach Crick 1967). Jeder Pfeil stellt eine Aminosäuresubstitution dar, die Zahl gibt die Anzahl der verschiedenen Varianten mit der entsprechenden Aminosäuresubstitution an. Der schraffierte Bereich markiert die geladene Aminosäure (d. h. die basische Aminosäure Lysin und Arginin und die sauren Aminosäuren Asparaginsäure und Glutaminsäure). Zusammenstellung der entsprechenden Hämoglobinvarianten s. Lehmann and C a r r e l l (1969).
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der ersten Base des Tripletts steht der Pfeil senkrecht und zeigt auf die entsprechende Position innerhalb des Quadrates; handelt es sich um die zweite Base, liegt er waagerecht und bei der dritten wieder senkrecht mit Richtung auf diese Base. Ein diagonaler Pfeil kennzeichnet den Austausch von mindestens zwei Basen. In dem Schema konzentriert sich die Mehrzahl der Pfeile auf bestimmte Bereiche in Abhängigkeit von der Auffindbarkeit der Hämoglobinvarianten. Diese zeigen elektrophoretische Unterschiede zum Hämoglobin A, wenn mit dem Basenaustausch eine Ladungsveränderung verbunden ist. Die Abschnitte, die geladene Aminosäuren codieren, sind im Schema schraffiert gezeichnet. Wie nach dem oben Gesagten zu erwarten, befindet sich ein großer Teil der Pfeile in diesen Feldern. Man kann annehmen, daß außerdem noch viele andere Hämoglobin-Varianten existieren, sich jedoch nicht durch elektrophoretische Besonderheiten auszeichnen. Zweifellos werden sie nach und nach mit anderen Methoden erfaßt werden können. Außerdem bedingen in Folge der Degeneration des genetischen Codes nicht alle Mutationen in Form eines einzigen Basenaustauschs ein verändertes Protein. Basenveränderungen können also zu neuen Tripletts führen, die ebenfalls die ursprüngliche Aminosäure codieren, und die Primärstruktur des betreffenden Proteins bleibt erhalten. Es ist allerdings möglich, wie später noch gezeigt werden wird, daß solche Mutationen zu Veränderungen in der Syntheserate des Proteins führen. Weiterhin kann ein Basenaustausch zur Entstehung eines Nonsense-Codons und damit zur Synthese eines verkürzten Polypeptids führen, dem die Aminosäuren vom Mutationsort an bis zum Carboxylende des normalen Polypeptids fehlen. Solch ein Polypeptid bildet in den meisten Fällen keine stabile Tertiärstruktur aus und unterscheidet sich damit auch qualitativ sehr stark von seinem normalen Gegenstück. Derartige unter speziellen Bedingungen bei Mikroorganismen nachgewiesenen Mutationen lassen sich wahrscheinlich sehr schwer mit Sicherheit beim Menschen identifizieren und erscheinen hier wohl in den meisten Fällen nur als Protein- oder Enzymmangel. Die Anzahl verschiedener möglicher Basenveränderungen innerhalb eines Gens ist natürlich sehr groß. Die Auswirkungen auf die Struktur des Polypeptids wird entsprechend der Position und der Art der Veränderung variieren. Ein Bild der relativen Häufigkeit der einzelnen sich ergebenden Möglichkeit kann man sich an Hand der Sequenz der 438 Basen bzw. 146 Aminosäuren der ß-Polypeptidkette im Hämoglobin machen. Von sämtlichen denkbaren Veränderungen einzelner Basen würden etwa 25% keine Änderung in der Aminosäuresequenz verursachen, etwa 2—3% würden zu einer Verkürzung des Polypeptids durch Kettenabbruch, und etwa 73% zu einer Aminosäuresubstitution im Polypeptid führen. Man rechnet damit, daß von letzterem nur etwa ein Drittel eine Veränderung im elektrophoretischen Verhalten mit sich bringt und damit eine Identifikation ermöglicht. 26
1.5.
Auswirkungen von Substitutionen einzelner
Aminosäuren
Wir haben gesehen, daß in jedem einzelnen Protein separate Mutationen zu einer beträchtlichen Anzahl verschiedener Möglichkeiten einer Aminosäuresubstitution führen können. Einige davon mögen geringe oder keine Veränderungen in der strukturellen Integrität des Proteinmoleküls oder in deren anderen Eigenschaften verursachen, so daß die Auswirkungen der Mutation auf die Funktion sehr gering und vielleicht nicht feststellbar bleiben. I n anderen Fällen jedoch kann in Abhängigkeit vom chemischen Charakter der substituierten Aminosäure das Protein in einer Weise verändert werden, die zu einer Reihe sekundärer pathologischer und klinischer Konsequenzen führt. Zum Beispiel kann es zu einem Wechsel von einer hydrophoben zu einer hydrophilen Gruppe, zu einer Veränderung in der Ladung oder in den physikalischen Dimensionen der Seitenkette kommen. Außerdem spielt der Ort für die räumliche Struktur eine Rolle. Beim Hämoglobin wirken sich Substitutionen von Aminosäuren auf der äußeren Oberfläche des Moleküls offenbar am wenigsten aus, während sich die Kontaktbereiche zwischen den verschiedenen Polypeptidketten in den Tetrameren oder zwischen den Polypeptidketten und den Hämgruppen und auch andere Stellen im Innern des Moleküls für die Integrität des Moleküls ( P E K U T Z und L E H M A N N 1968), als besonders kritische Punkte erweisen. Eine derartige biochemische Veränderung der Proteinstruktur liegt wahrscheinlich vielen verschiedenen Formen von Erbkrankheiten zugrunde. Die charakteristischen Symptome einer solchen Krankheit ergeben sich aus der Art und der Funktion des betroffenen Proteins und dem Charakter seiner Veränderungen. Unter diesen Umständen sollte es deshalb am Ende möglich sein, den genauen Weg von der Veränderung in der Primärstruktur des Proteins zum funktionellen Defekt des Moleküls und schließlich zu den pathologischen Störungen aufzuklären. Bisher jedoch wurde eine befriedigende Einsicht in diese kausalen Zusammenhänge erst in relativ wenigen Fällen erreicht. Die mutativen Veränderungen am Hämoglobin können dabei als Modell für die Betrachtung anderer Protein- bzw. Enzymsysteme dienen. 1.5.1.
Sichelzellanämie
Hb S wurde zuerst an Hand der Unterschiede in der elektrophoretischen Wanderungsgeschwindigkeit vom Hb A unterschieden. Wenig später ergaben sich jedoch noch weitere Unterschiede. Das desoxygenierte Sichelzellhämoglobin erwies sich z. B. als weit weniger löslich als desoxygeniertes normales Hämoglobin ( P E R U T Z and M I T C H I S O N 1 9 5 0 ) , während im oxygenierten Zustand diese Unterschiede nicht bestehen (Abb. 1 . 7 . ) . Diese Entdeckung brachte eine einfache Erklärung für das Sichelphänomen, das in Hb S-haltigen Erythrozyten bei niedrigem Sauerstoffdruck auftritt. 27
Das desoxygenierte Hb S fällt dann leicht aus und bewirkt die charakteristische Zell-Deformation. Konzentrierte, von Zellstroma freie SichelzellHämoglobinlösungen nehmen mit Verringerung des Sauerstoffdruckes immer mehr an Viskosität zu und gehen schließlich in einen halbfesten gelartigen Zustand über, wobei sich spindelförmige, doppelbrechende Körper von 1 —15 (jt Länge mikroskopisch nachweisen lassen ( H A R R I S 1950). Sie gleichen in ihrer länglich-sichelförmigen Gestalt bemerkenswert der Form, die intakte Hb S-haltige Erythrozyten bei niedrigem Sauerstoffdruck annehmen.
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§ I
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5.5
6.0
Abb. 1.7. Löslichkeit des normalen Sichelzellhämoglobins in Abhängigkeit v o n d e r I o n e n s t ä r k e d e r L ö s u n g ( n a c h PEKUTZ a n d MITCHISON 1 9 5 0 ) .
O 9 e • • B
28
Sichelzellhämoglobin (Desoxyform) Sichelzellhämoglobin (Oxyform) Sichelzell-Methämoglobin normales Hämoglobin (Desoxyform) normales Hämoglobin (Oxyform) normales Methämoglobin
Die Aminosäuresubstitution im Sichelzellhämoglobin besteht in einem Austausch einer Glutaminsäure im Hämoglobin A durch Valin, das bedeutet Substitution eines polaren durch einen nichtpolaren Rest. Die entsprechende Stelle in der ß-Polypeptidkette liegt an der Oberfläche des Moleküls. Nach P E R U T Z und LEHMANN vermag sich der nichtpolare Valinrest im desoxygenierten Zustand in dieser Position an eine komplementäre Stelle im benachbarten Hämoglobinmolekül anzuheften. Da das substituierte Valin und damit entsprechende Aggregationspunkte im Sichelzellhämoglobinmolekül jeweils doppelt, und zwar in jeder der beiden symmetrisch angeordneten ß-Ketten, vertreten sind, kommt es in konzentrierten Lösungen von Hb S zur Bildung langer linearer Aggregate von Hämoglobinmolekülen und damit zu einer geringen Löslichkeit. Aggregate dieser Art lassen sich in desoxygeniertem Hb S tatsächlich elektronenoptisch erkennen ( S T E T S O N 1 9 6 6 , MTTRAYAMA 1 9 6 6 ) . Der Unterschied in der Löslichkeit zwischen oxygeniertemund desoxygeniertem Hb S (PERUTZ und LEHMANN 1 9 6 8 ) setzt für die postulierten komplementären Stellen zur Anheftung des Valinrestes eine Lage an der Oberfläche des Moleküls und eine Konformationsänderung im tetrameren Molekül voraus, wie sie bei der Desoxygenierung von Oxyhämoglobin vorkommt. Die Natur des komplementären Ortes ist noch unbekannt, er existiert aber wahrscheinlich sowohl im desoxygenierten Hb A als auch im Hb S. Bei hoher intrazellulären Hb S-Konzentration besteht vor allem im venösen Blut eine Neigung der Erythrozyten zur Sichelbildung, da hier der Sauerstoffdruck am niedrigsten liegt. Das führt zu einer erhöhten Viskosität des Blutes, die mit hoher Wahrscheinlichkeit den Kreislauf in den dünneren Venen und den venösen Kapillaren behindert. Daraus folgt eine weitere Deoxygenierung und verstärkte Sichelbildung, und so entsteht ein die Wirkung verstärkender circulus vitiosus. Die Sichelzellen können auch kleinere Blutgefäße durch Thrombenbildung blockieren und damit wahrscheinlich die vielen verstreuten Herde von Gewebszerfall, ein charakteristisches Merkmal der Krankheit, das zu einer Vielzahl verschiedener Symptome führt, verursachen. Auch die deformierten Zellen selbst neigen zum Zerfall. So läßt sich erkennen, wie sowohl die hämolytische Anämie als auch die diversen anderen pathologischen Erscheinungen der Krankheit auf einer Veränderung in der Löslichkeit des Hämoglobins beruhen, der letztendlich eine einzige Aminosäuresubstitution zugrunde liegt. Es ist interessant, wie sich die Sichelzellanämie im Vergleich zur Hämoglobin-C-Krankheit klinisch auswirkt. Erstere bedeutet eine schwere Störung, die in der Kindheit oder Jugend oft zum Tode führt, während letztere vergleichsweise mild verläuft mit einer relativ leichten Anämie und in vielen Fällen normalen Lebenschancen. Und doch beruhen beide auf der Substitution desselben Aminosäurerestes im Hämoglobinmolekül, die im Hb S durch Valin und im Hb C durch Lysin ersetzt ist. Während dabei die Valinsubstitution zum Sichelphänomen mit den entsprechenden 29
klinischen Folgen führt, bleiben diese Erscheinungen bei der Lysinsubstitution aus. Tatsächlich ist noch unklar, wie die Lysinsubstitution in H b C den milden Verlauf der Krankheit verursacht. 1.5.2.
Erbliche
Methämoglobinämien
Ein weiteres Beispiel f ü r die Bedeutung der sites bei Aminosäuresubstitutionen f ü r die Veränderung der Eigenschaften eines Proteins liefern die Hämoglobin-Varianten bei erblichen Methämoglobinämien. Methämoglobin ist oxidiertes Hämoglobin, in dem das Eisen im H ä m nicht in der gewöhnlichen Ferri-, sondern der Ferro-Form vorliegt. Es kann sich nicht reversibel an Sauerstoff binden und entfällt somit für den normalen Sauerstofftransport. Bei Normalpersonen existiert nur ein sehr kleiner Teil (weniger als 0,5%) des in den peripheren Erythrozyten vorkommenden Gesamt-Hämoglobins als Methämoglobin, weil das ständig durch Oxidation aus Hämoglobin gebildete Methämoglobin durch reduzierende Enzymsysteme der roten Blutkörperchen in den zweiwertigen Zustand zurückgeführt wird. Es besteht also folgende Gleichgewichtsreaktion: Hb(Fe 4 ++)^Hb(Fe 3 ++Fe+++HHb(Fe 2 ++Fe 2 +++)^Hb(Fe++Fe 3 +++)^Hb(Fe 4 +++) Hämoglobin Methämoglobin Dabei ist das Gleichgewicht sehr weit nach links verschoben. Bei einigen genetisch bedingten Anomalien liegt jedoch ein deutlich vergrößerter Teil des Hämeisens in der Ferri-Form vor. Bei diesen erblichen Methämoglobinämien besteht eine erhebliche Cyanose, bedingt durch den hohen Anteil von Hämoglobin in den zirkulierenden Erythrozyten, das keinen Sauerstoff bindet. Ein Typ der erblichen Methämoglobinämie läßt sich auf einen genetisch bedingten Defekt eines Enzyms (Methämoglobin-Reduktase) zurückführen, das normalerweise das Hämeisen im zweiwertigen Zustand erhält. Bei einem anderen Typ liegt ein abnormes Hämoglobin vor, in dem das Häm mit dem dreiwertigen Eisen ungewöhnlich stabil und daher f ü r normale Enzymsysteme schwer angreifbar ist. Mehrere solcher Hämoglobinvarianten mit jeweils einer Aminosäuresubstitution in einer Polypeptidkette in unmittelbarer Nachbarschaft des entsprechenden H ä m s sind bekannt. Die vier Hämgruppen liegen in verschiedenen Sektoren auf der Oberfläche des Hämoglobinmoleküls, die von den vier gefalteten Polypeptidketten gebildet werden. Jedes H ä m ist mit der Polypeptidkette durch eine koordinative Bindung zwischen dem Eisen und einem Histidinrest verbunden (Abb. 1.8.). Das Histidin befindet sich in Position 87 in der a-Kette und 92 in der ß-Kette. Zwischen dem Eisen und einem weiteren Histidinrest besteht außerdem noch eine Bindung über ein Sauerstoffatom im oxydierten oder ein Wasserstoffatom im reduzierten Hämoglobin (Position 58 in der a-Kette und Position 63 in der ß-Kette). 30
Abb. 1.8. Sohematische Darstellung der Auswirkungen von Aminosäuresubstitutionen in verschiedenen Hb M-Varianten. Bei der Substitution wird jeweils eine Aminosäure in Nachbarschaft zum Häm-Eisen durch Tyrosin oder Glutaminsäure ersetzt, wodurch ein stabiler Komplex zwischen dem dreiwertigen Eisen und der phenolischen Seitenkette des Tyrosins bzw. der negativ geladenen Seitenkette der Glutaminsäure g e b i l d e t w i r d (TÖNZ 1968).
Bei einer der Methämoglobinämie-Varianten, dem Hb M Boston, hat eine Substitution des Histidins in Position 58 der normalen Kette durch Tyrosin stattgefunden ( G E R A L D and E F R O N 1961). Durch die räumliche Nähe zum Hämeisen der a-Kette gerät die phenolische Seitenkette des Tyrosinrestes in Position 58 genau an die richtige Stelle, um mit dem Fe+++ 31
einen sehr stabilen Komplex zu bilden, den das normale MethämoglobinReduktase-System der roten Blutkörperchen kaum reduziert. Folglich bleiben die Eisen-Atome der Hämgruppen der beiden a-Ketten in der Ferro-Form und unfähig, Sauerstoff zu binden und zu transportieren. Das Häm der beiden ß-Ketten des Moleküls ist jedoch nicht direkt betroffen. Interessanterweise liegt bei einer weiteren Hämoglobinvariante, dem Hb Norfolk ( A G E R et al. 1958), eine Substitution von Glycin durch Asparaginsäure in Position 57 der a-Kette ( B A G L I O N I 1962b) vor, also unmittelbar neben der bei Hb M Boston. Dabei entsteht jedoch keine Methämoglobinämie, weil wahrscheinlich die Carboxyl-Seitenkette der Asparaginsäure, obwohl sehr nahe am Häm, räumlich nicht so orientiert ist, daß sich eine stabile Verbindung mit dem Fe +++ bilden kann. Diese Erscheinung verdeutlicht abermals die hohe Spezifität funktioneller Anomalien. Tabelle 1.1. Hämoglobinvarianten, die zu Methämoglobinämie führen Hämoglobin
Aminosäuresubstitution a-Kette
M M M M M
58 His -i• Tyr Boston Iwate 87 His -• T y r Saskatoon — Hyde Park — Milwaukee —
Literatur
ß-Kette
—
63 His - » Tyr 92 His -> Tyr Glu 67 Val
GERALD a n d EFRON ( 1 9 6 1 ) MIYAJI e t al. ( 1 9 6 3 ) GERALD a n d EFRON ( 1 9 6 1 ) SHIBATA e t al. ( 1 9 6 7 ) GERALD a n d EFRON ( 1 9 6 1 )
Tabelle 1.2. „Instabile" Hämoglobine Hämoglobin
Aminosäuresubstitution a-Kette
Torino 43 Phe ^ Val Bibba 136 Leu -s- Pro — Genova Hammersmith — Zürich — Sydney — — Santa Ana — Boras Köln -
32
Literatur
ß-Kette
—
28 42 63 67 88 88 98
Leu Pro Phe ->•Ser Arg His Val -> Ala Leu > Pro Leu •Arg Val Met
BERETTA e t al. ( 1 9 6 8 ) KLEIHATTER e t al. ( 1 9 6 8 ) SANSONE e t al. ( 1 9 6 7 ) DACIE e t al. ( 1 9 6 7 ) MULLER a n d KINGMA ( 1 9 6 1 ) OABRELL e t al. ( 1 9 6 6 ) OPFELL e t al. ( 1 9 6 8 )
HOLLENDER et al. (1969) CARRELL e t al. ( 1 9 6 6 )
Weitere Hämoglobinvarianten, die zu Methämoglobinämie führen, enthalten Tab. 1.1. bzw. Abb. 1.8. In jedem Falle bewirkt die Substitution eine stabile und schwer reduzierbare Verbindung mit dem angrenzenden Hämeisen, sofern sich dieses im dreiwertigen Zustand befindet. Bei vier Typen liegen Substitutionen eines der hämbindenden Histidine durch Tyrosin vor. Diese verschiedenen Methämoglobinämie-Varianten sind alle sehr selten und bisher nur bei Heterozygoten beobachtet worden. Die betroffenen Personen weisen in den Erythrozyten sowohl das normale als auch das anomale Hämoglobin auf. Letzteres hat den Defekt nur entweder in den Hämen der a-Ketten oder in denen der ß-Ketten; trotzdem besteht eine deutliche Methämoglobinämie und Cyanose. Als Ausdruck intramolekularer Veränderungen in diesen abnormen Methämoglobinen läßt sich eine charakteristische Veränderung der Absorptionsspektren ( G e r a l d and S c o t t 1966) in Form einer Verschiebung des normalen Absorptionsmaximums von 632 m[x zu niedrigeren Wellenlängen E Hb M met
0.1
ni I I 650
I I I I I 1' I I I I I 600
550
500
I I I II
450m(i
Abb. 1.9. Spektren des Methämoglobins verschiedener Hb M-Varianten (TÖNZ 1 9 6 8 ) .
(etwa 600 m^) hin erkennen. Das Ausmaß dieser Verschiebung variiert bei den verschiedenen Methämoglobinen (Abb. 1.9.) und hängt wahrscheinlich von der jeweiligen Veränderung der räumlichen Struktur ab, die sich aus den verschiedenen Aminosäuresubstitutionen ergibt. 1.5.3.
Instabile
Hämoglobine
Theoretisch müßte man auch bei einigen Aminosäuresubstitutionen Veränderungen der räumlichen Konfiguration des Proteins erwarten, die dessen Stabilität vermindert. Solche Varianten würden zu vorzeitiger Denaturierung und zur Verkürzung der Halbwertzeit in vivo neigen. Hämoglobinvarianten, für die das wahrscheinlich zutrifft, sind in Tab. 1.2. aufgeführt. 3
Harris
33
Charakteristischerweise zeigen für eine solche Variante heterozygote Personen eine chronisch hämolytische Anämie, die gewöhnlich bei Heterozygoten für andere bekannte Hämoglobinvarianten nicht auftritt. Die Heterozygoten synthetisieren normales Hb A und das abnorme Hämoglobin, das wegen seiner Instabilität relativ schnell zerfällt. Ein typisches Zeichen dafür sind die sogenannten Einschluß-Körperchen (HEINZ-Körper) in den Erythrozyten, die besonders bei splenektomierten Patienten auffallen. Sie dürften aus denaturiertem Hämoglobin bestehen und offenbar einen vorzeitigen Abbau roter Blutkörperchen in der Milz bewirken. Die „instabilen" Hämoglobinvarianten, die in Tab. 1.2. aufgeführt sind, enthalten hauptsächlich Substitutionen im Inneren des Moleküls, wo normalerweise nichtpolare Aminosäuren liegen. Die Substitution geschieht in den meisten Fällen durch eine andere nichtpolare Aminosäure mit anderen molekularen Dimensionen. Die offensichtlich geringe Anzahl von Beispielen für Substitutionen durch polare Aminosäuren mit ionisierten Seitenketten ist bezeichnend. Die Ursache dafür liegt wahrscheinlich in der noch weit größeren Instabilität derartiger Hämoglobine, die ihr Auffinden wegen der geringen Halbwertszeit unmöglich macht. Nach LEHMANN und C A K R E L L (1969) würde der Ersatz einer nichtpolaren Aminosäure im Molekül durch eine mit einer ionisierten Seitenkette gewöhnlich zu einem fast, wenn nicht sogar völlig unbeständigen Molekül führen, das mit den gegenwärtig verwendeten Methoden nicht erfaßt werden könnte. So stellen die auf die bekannten „instabilen" Hämoglobine zurückzuführenden, gewöhnlich schweren Anämien wahrscheinlich noch immer die relativ mildesten dieses Typs dar. Die Art und Weise, wie verschiedene dieser bekannten Mutationen die räumliche Struktur des Hämoglobins verändern und so zu molekularer Instabilität führen, haben P E R U T Z und L E H M A N N (1968) genauer aufgeklärt.
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KAPITEL 2
Ein Gen — ein© Polypeptidkette 2.1. 2.1.1.
„Hybrid" -Proteine bei Heterozygoten Hämoglobin
In Hämolysaten von Personen mit dem Sichelzellmerkmal lassen sich elektrophoretisch zwei charakteristische Hämoglobine Hb A, a 2 ß 2 , und Hb S, oc2ß2 Glu ~> V a l (kurz geschrieben a 2 ß 2 s ), erkennen. Eine andere denkbare Form des Hämoglobins, a 2 ßß s , bei Personen mit sowohl ß- als auch ß s Polypeptidketten trat offensichtlich nie auf. Diese merkwürdige und lange Zeit sehr unklare Erscheinung besteht auch bei Heterozygoten für andere Allele, die Hämoglobinvarianten determinieren. Zum Beispiel findet man im Hämoglobin-C einerseits Hb A, a 2 ß 2 , und andererseits Hb C, a 2 ß 2 c , aber nicht a 2 ßß c und in der Sichelzell-Hämoglobin-C-Krankheit Hb S, a 2 ß 2 s , und Hb C, a 2 ß 2 c , aber nicht a 2 ß s ß c . Tatsächlich ( G U I D O T T I et al. 1963) kommen jedoch solche Hybridmoleküle wie oc2ßßs beim Sichelzellmerkmal und a 2 ß s ß c bei der Sichelzell-Hämoglobin-C-Krankheit, wahrscheinlich sogar in größeren Mengen, in den roten Blutkörperchen solcher Heterozygoten vor. Sie bleiben nur gewöhnlich unentdeckt, weil die Identifizierung der einzelnen Proteinkomponenten in einem Gemisch von Hämoglobinen ihre physikalische Trennung mit Methoden wie Elektrophorese oder Säulenchromatographie erfordert, und weil Hämoglobin außerdem leicht in Dimere zerfällt. In einer Lösung dürfte das Hämoglobintetramer a 2 ß 2 teilweise in aß zerfallen und ein Dissoziationsgleichgewicht a 2 ß 2 ;= 2aß eintreten. Das gleiche gilt für Hb S a 2 ß 2 s ^ 2aß s . Eine Lösung mit
>
+ hp 2(SS)a
H p i s Hp 2 ft>
tí
CS TÍ S
W
stärkte y-Kettensynthese gleicht das ß-Kettendefizit mehr oder weniger aus. Ein wichtiger Unterschied zwischen dieser Anomalie und der oben erwähnten ßS-Thalassämie liegt darin, daß das H b F bei Heterozygoten gleichmäßig in den roten Blutkörperchen verteilt ist (Tab. 4.2.). Ähnliche Hypothesen, wie zur Erklärung der ß-Thalassämie und des sogenannten „Afrikanischen Typ" der „erblichen Persistenz des fötalen Hämoglobins", sind zur Erklärung dieser anscheinend verwandten Formen vorgeschlagen worden. Gegenwärtig läßt sich keine klar bestätigen. Fest steht jedoch, daß es eine Reihe unterschiedlicher Mutanten geben muß, die auf verschiedene Weise die Synthese von ß-, 8- und y-Ketten beeinträchtigen und so diese verschiedenen Anomalien hervorrufen. Auf ähnlich komplizierte Fälle wird man bei der Untersuchung von Defekten in den Syntheseraten anderer Proteine und Enzyme stoßen. 4.4.4.
a-Thalassämie
Da a-Ketten sowohl in fötalem Hämoglobin als auch im Hämoglobin Erwachsener vorkommen, müßte man die phänotypische Manifestierung einer Mutation, die eine starke Hemmung der a-Kettensynthese bedingt, bereits in der Fötalperiode erwarten. Tatsächlich ließen sich bei den betroffenen Föten Hydrops fötalis, Hepatomegalie und andere Anomalien erkennen ( L I E - I N J O et al. 1962, P O O T R A K U L et al. 1967a), die noch intrauterin gegen Ende der Schwangerschaft zum Tode führen. Fast das gesamte Hämoglobin der roten Blutkörperchen hat eine abnorme Struktur in Form eines Tetramers aus normalen y-Ketten (y4) ( H U N T and L E H M A N N 1959). Es wird gewöhnlich als H b Bart's bezeichnet ( A G E R and L E H M A N N 1958). Offenbar fehlt die Synthese der a-Ketten fast vollständig, die y-Ketten werden aber normal synthetisiert und verbinden sich zu y-Tetrameren. Die schweren pathologischen Erscheinungen sind auf das Hämoglobindefizit und auf die abnorme Sauerstoffdissoziationskurve des H b Bart's (y4) zurückzuführen. Bei der a-Thalassämie liegt Homozygotie für eine Mutation des Strukturgens der a-Polypeptidkette oder eines dessen Aktivität beeinflussenden Kontrollgens vor. Die Heterozygoten für dieses Gen zeigen meistens keine klinischen Symptome oder höchstens eine leichte Anämie ( P O O T R A K U L et al. 1967a). Bei neugeborenen Heterozygoten finden sich kleine Mengen von H b y4 (5—10% des gesamten Hämoglobins), die aber zusammen mit Hb F (
lo t. QJ a t. ai •Q
40
A
50
BO
4 70
C
80
Dibucainzahi
m
Cholinesterase
- Spiegel
-CP-
^c) norma!
-c
J ^ T L
!
Cf Ci*
Ol ö)
S5
: C 2 > C 3 > C 4 > C 5 und bei der Papierelektrophorese C2 > Ci = C 3 = C 4 > C 5 . Die Isozyme unterscheiden sich in Ladung und Molekulargröße, letztere nimmt in folgender Reihenfolge zu: C 4 ~ C 5 > C 3 > C 2 > Cj ( H A B R I S and ROBSON 1963).
114
5.3. 5.3.1.
Glukose-6-Phosphat-Dehydrogeim,se
(G-6-PD)
G-6-PD-Mangel
Bei einem großen Teil der amerikanischen Neger f ü h r t die Verabreichung des synthetischen Malariamedikaments Primachin zu einer akuten Hämolyse (HOCKWALD et al. 1952). Diese hämolytische Reaktion ließ sich auf eine Anomalie der roten Blutkörperchen zurückführen (DERN et al. 1954), die auf einem Mangel an Glucose-6-phosphat-Dehydrogenase beruht (CARSON e t a l . 1 9 5 6 ) .
Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase katalysiert die Oxidation von Glukose6-Phosphat zu 6-Phosphogluconat, bei gleichzeitiger Reduktion des Coenzyms N A D P zu NADPH 2 . Diese Reaktion bildet die erste Stufe der Oxydation von Glukose über den sogenannten „Pentose-Shunt" (siehe Abb. A I , S. 233). Unter normalen Bedingungen wird über diesen Pentoseweg ein kleiner Teil der Glukose von den roten Blutkörperchen zur Erhaltung der 40 r~ Männer
6-6-PD-Spiegel
50r Frauen
G-B-PD-Spiegel Abb. 5.6. Verteilung der G-6-PD-Aktivitäten der Erythrozyten bei 235 männlichen und 284 weiblichen Nigerianern (nach NANCE 1967). 8*
115
intrazellulären Konzentration des reduzierten Coenzyms NADPH 2 umgesetzt. Durch Blockierung dieses Reaktionsweges kann es möglicherweise über andere Reaktionen, besonders über die Erhaltung von Glutathion in reduzierter Form, zu den hämolytischen Krisen bei Personen mit G-6-PD-Mangel nach Einwirkung von Primachin und anderen Medikamenten kommen. Analysen des G-6-PD-Spiegels in roten Blutkörperchen bei Negern ergaben einen auffallenden Unterschied zwischen beiden Geschlechtern (Abb. 5.6.). Unter gesunden Männern lassen sich eindeutig zwei Gruppen erkennen: Normalpersonen und solche mit einem Enzymdefekt. Obwohl es innerhalb beider Gruppen starke Variationen gibt, bestehen kaum Überschneidungen. Beide differieren um 15% voneinander hinsichtlich ihres G-6-PDSpiegels. Eine ganz andere Situation besteht im weiblichen Geschlecht, in dem der Übergang zwischen den Varianten mehr oder weniger stetig ist. Alle Werte von den normalen bis zu den niedrigen bei den Männern mit dem Enzymdefekt können festgestellt werden. Dieser Geschlechtsunterschied gewann an Interesse, als an Hand von Familienuntersuchungen das entsprechende Gen auf dem X-Chromosom lokalisiert wurde (CHILDS et al. 1958). Männer besitzen nur ein X-Chromosom und somit entweder das normale Allel oder ein den Enzymmangel determinierendes Mutantenallel, nicht aber beide. Frauen mit zwei X-Chromosomen haben bei Homozygotie für das normale Allel einen normalen Männern vergleichbaren normalen Enzymspiegel; bei Homozygotie für das Mutantenallel einen deutlichen Enzymmangel wie die entsprechenden Männer und bei Heterozygotie einen beinahe genau dazwischenliegenden Enzymspiegel. Da dabei jedoch eine große Variationsbreite besteht, überschneiden sich an dem einen Extrem die Werte mit denen bei Homozygotie für das Normalallel und am anderen Extrem mit denen für das MutantenTabelle 5.5. Medikamente und andere Stoffe, die bei Personen mit G-6-PD-Mangel eine klinisch manifeste Hämolyse hervorrufen können Azetanilid Phenylhydrazin Sulfanilamid Sulfazetamid Sulfapyridin Sulfamethoxypyridazin (Kynex) Salizylazosulfapyridin (Azulfidin) Thiazosulfon Diaminodiphenylsulfon Trinitrotoluol
116
Nitrofurazon (Furacin) Nitrofurantoin (Puradantin) Furazolidon Puraltodon Chinidin Primachin Pamachin Pentachin Chinozid Naphthol Neosalvarsan Bohnen (Vicia faha)
allel. Dadurch lassen sich Frauen häufig nicht eindeutig an Hand des Enzymspiegels in den Erythrozyten einem dieser drei Genotypen zuordnen. Neben Primachin können auch andere Medikamente hämolytische Krisen bei G-6-PD-defizienten Personen hervorrufen (Tab. 5.5.). Dazu gehören Sulfonamide wie Sulfapyridin und Sulfanilamid, andere antibakterielle Wirkstoffe wie Nitrofurantoin, weitere Anti-Malariamittel wie Pentachin usw. Eine Form des G-6-PD-Mangels führte zu der als Fabismus bekannten Krankheit, die schon lange aus bestimmten Bevölkerungsgruppen des Vorderen Orients und einiger Mittelmeerländer bekannt ist (ZINKHAM et al. 1958, LARIZZA et al. 1958, SZEINBERG et al. 1958). Sie manifestiert sich als akute hämolytische Anämie nach dem Genuß von Saubohnen (Vicia faba), einem verbreiteten Nahrungsmittel in diesen Gebieten. 5.3.2.
Die negroiden und mediterranen G-6-PD- Varianten: Gd B, Gd A, Gd A- und Gd mediterran
Wie der bei Negern vorkommende Typ des G-6-PD-Defektes wird der der Völker des Mittelmeerraumes und des Vorderen Orients von einem X-chromosomalen Gen determiniert. Es liegt aber eine andere Mutation vor, die sich charakteristisch von den ersteren unterscheidet. Der Enzymspiegel in den Erythrozyten von Männern mit dem sogenannten „mediterranen" Typ des G-6-PD-Defektes liegt bei etwa 3 bis 4%, beim „negroiden" Typ durchschnittlich bei etwa 15% des Normalwertes. Auch in den weißen Blutkörperchen (RAMOT et al. 1959) und in anderen Geweben kann bei mediterranem Typ eine Reduktion des G-6-PD-Spiegels nachgewiesen werden, die beim negroiden Typ entweder fehlt oder sehr gering ist (MARKS et al. 1959). Hinsichtlich der Höhe der Enzymaktivität stellt damit der mediterrane Typ die schwerere Anomalie dar. Ein weiterer Unterschied kam durch elektrophoretische Untersuchungen zutage. Dabei zeigte sich eine neue Variante der G-6-PD, die bei Negern Männer
B
A
Frauen
A~
B BA A BA~ G-6-PD-Varianien bei Negern
©
AA~
A~
©
Abb. 5.7. Komponenten der G-6-PD verschiedener Phänotypen. 117
Tabelle 5.6. Varianten der Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase Variante
Normal (Gd B)
Aktivität in den Erythrozyten (in % des Normalwertes)
100
relative Km-Werte für elektroG-6-P phoretische (¡iM) Wanderungsgeschwindigkeit (pH 7,0 oder p H 8,6) —
Km-Werte für NADP (f*M)
50-78
2,9-4,4
1. Hektoen
400
schnell (pH 6,5)
n
n
2. Madison
100
langsam
?
?
3. A
90
schnell
n
n
4. BaltimoreAustin
75
langsam
n
n
70-80
langsam
erniedrigt (32)
n
72
langsam
n
n
5. Madrona 6. Ibadan-Austin 7. Barbieri 8. Kerala 9. Tel-Hashomer 10. Athen
schnell
erhöht
erhöht
50
langsam
erniedrigt (23)
erniedrigt (1,5)
25-40
langsam
erniedrigt (30-40)
?
25
langsam
erniedrigt (16-19)
n
40-60
11. Chicago*)
9-26
normal
n
n
12. Seattle
8-21
langsam
erniedrigt (15-25)
erniedrigt (2,4-2,8)
13. A "
8-20
schnell
n
n
14. K a n t o n
4-24
schnell
erniedrigt (20-36)
erniedrigt (2,0-2,4)
langsam
erniedrigt (31)
erhöht (6,6)
schnell
leicht erhöht
leicht erhöht
15. West Bengalen 16. Ohio*)
118
9 2-16
Umsatz des substratanalogen 2-dG-6-P im Vergleich zu G-6-P
relative Thermostabilität
Kurvenverlauf der pHabhängigen Aktivität
Verbreitung und Häufigkeit
Literatur
4%
—
flach
Verbreitetster Typ in allen Populationen
n
n
n
selten
DERN e t a l . ( 1 9 6 9 )
?
1
?
selten
NANCE U. CCHIDA ( 1 9 6 4 )
n
n
n
verbr. bei Negern BOYER et al. (1962)
n
n
n
selten
LONG e t a l . ( 1 9 6 5 )
n
1
n
selten
HOOK e t a l . ( 1 9 6 8 )
n
n
n
selten
LONG e t a l . ( 1 9 6 5 )
n
1
selten
MASKS e t a l . ( 1 9 6 2 )
erhöht (7,4)
n
biphasisch
selten
AZEVEDO e t a l . (1968)
n
n
leicht biphasisch
selten
RAMOT a n d BROK ( 1 9 6 4 )
erhöht
leicht verringert
leicht biphasisch
verbr. in Griechenland
STAMATOYANNOPOULOS
n
stark verringert
n
selten
KIRKMAN et al. (1964b)
erhöht (7-11)
n
leicht biphasisch
selten
KIRKMAN e t a l . ( 1 9 6 5 )
n
n
n
verbr. bei Negerni BOYER et al. (1962)
erhöht (4-15)
leicht verringert
biphasisch
verbr. in Südostasien
MCCURDY e t a l . ( 1 9 6 6 )
n
n
n
selten
AZEVEDO e t a l . (1968)
n
stark verringert
?
selten
PINTO e t a l . (1966)
1
(10-15)
et al. (1967)
n: innerhalb des normalen Bereichs 119
Tabelle 5.6 Variante
Aktivität in den Erythrozyten (in % des Normahvertes)
relative K m - W e r t e für G-6-P elektrophoretische (UM) Wanderungs geschwindigkeit (pH 7,0 oder pH 8,6)
K m - W e r t e für NADP (ixM)
4-10
normal
erhöht (127-200)
erhöht (20)
8,5
normal
n
n
0-7
normal
erniedrigt (18-20)
erniedrigt (1,2-1,6)
20. Alberquerque
1
normal
erhöht (115)
erhöht (11)
21. Eyssen*)
0
langsam
9
?
17. Oklahoma*) 18. Duarte*) 19. Mediterran
*) klinisch angeborene hämolytische Anämie.
relativ verbreitet ist, aber nicht mit einem merklichen Enzymmangel v e r b u n d e n i s t (BOYER e t a l . 1 9 6 2 , KIBKMAN a n d HENDRICKSON 1 9 6 3 ) .
Durch Elektrophorese lassen sich bei der G-6-PD von Negern zwei verschiedene Typen unterscheiden (Abb. 5.7.); der bei pH 8,6 langsamer wandernde B-Typ und der schnellere A-Typ. Ein Mann kann einen Typ B oder A, aber nicht beide besitzen. Beim G-6-PD-Defekt liegt fast immer ein A _ -Typ vor. Somit sind bei den männlichen Negern nach der G-6-PD-Aktivität und den elektrophoretischen Eigenschaften des Enzyms drei relativ häufige Gruppen zu unterscheiden. Diese drei Phänotypen werden mit Gd B, Gd A und Gd A— bezeichnet. Gd B und Gd A haben normale G-6-PDAktivitäten, unterscheiden sich aber elektrophoretisch. Gd A— zeigt verringerte Enzymaktivität (etwa 15% der normalen), wobei das Enzym die elektrophoretische Beweglichkeit der A-Form besitzt. Die relative Häufigkeit dieser drei Phänotypen variiert leicht in verschiedenen Populationen. Bei männlichen Nigerianern (Yoruba) sind etwa 5 6 % Gd B , 2 2 % Gd A und 2 2 % Gd A -
(PORTER e t a l . 1 9 6 4 ) , b e i i n d e n
USA lebenden männlichen Negern liegen folgende Verhältnisse vor: Gd B : 60-70%,
Gd A:
15-20%,
Gd A - :
10-15%.
Familienuntersuchungen
zufolge liegen diesen Phänotypen drei verschiedene Allele (GdB; Gd A ; GdA_) eines X-chromosomalen Genlocus zugrunde. Unter Negerinnen kommen somit sechs verschiedene Genotypen vor. Die entsprechenden Phänotypen 120
(Fortsetzung) Umsatz des substratanalogen 2-dG-6-P im Vergleich zu G-6-P
relative Thermostabilität
KurvenVerbreitung verlauf und der pHHäufigkeit abhängigen Aktivität
Literatur
n
verringert
schmaler
selten
KIRKMAN et al. (1964a)
erhöht (5,4)
stark verringert
schmaler
selten
BEUTLER e t al. (1968)
erhöht (23-27) verringert
biphasisch
verbr. in Mittel- KIRKMAN et al. (1964c) meerländern
n
stark verringert
schmaler
selten
BEUTLER et al. (1968)
?
stark verringert
•>
selten
BOYER e t al. (1962)
sind in Abb. 5.7. schematisch dargestellt. Die drei Homozygoten gleichen phänotypisch jeweils den männlichen Hemizygoten. Die anderen drei entsprechen den heterozygoten Genotypen Gd B Gd A , Gd B Gd A_ und Gd A GdA~. Beim sogenannten mediterranen Typ des G-6-PD-Defektes hat das Enzym die elektrophoretische Beweglichkeit wie das Enzym von Typ B normaler Individuen in diesen Populationen. Das Allel befindet sich mit großer Sicherheit am selben Locus wie die anderen Allele. Es wurde mit Gd Medlterran bezeichnet. Die vier Allele Gd B , Gd A , Gd A und Gd Medlterran dürften vier Strukturvarianten des G-6-PD-Enzymproteins codieren (s. Tab. 5.6., S. 118ff). Das B-Enzym muß als der Normaltyp angesehen werden, da es am häufigsten und in allen Populationen vorkommt. Die anderen unterscheiden sich von ihm möglicherweise nur in einer Aminosäure, wie sich bei Strukturuntersuchungen des A-Enzyms (determiniert vom GdA-Allel) ergab. Offensichtlich ist bei diesem Asparaginsäure des B-Enzyms durch Asparagin ersetzt ( Y O S H I D A 1967). Bisher war es noch nicht möglich, ähnliche Strukturuntersuchungen an den G d A — oder den GdMediterran-Typen des Enzyms durchzuführen, weil es schwer ist, ausreichende Mengen zu isolieren. Aber Vergleiche dieser verschiedenen Enzyme haben eine Reihe anderer interessanter Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten erbracht. 121
Obwohl sich die A- und B-Variante in ihren elektrophoretischen Eigenschaften unterscheiden, zeigen sie in anderer Hinsicht Ähnlichkeiten: Beide weisen denselben K m -Wert für G-6-PD und NADP, ähnliche pHOptima und ähnliches Verhalten bei thermischer Denaturierung auf. Die Strukturveränderung führt also nicht zu irgendwelchen merklichen Unterschieden in der Aktivität oder in der Stabilität, wobei allerdings kleinere mit heutigen Methoden nicht erkennbare Unterschiede vorhanden sein können, da Analysen der G-6-PD-Aktivität in roten Blutkörperchen bei einer großen Anzahl vonGdB- und Gd A-Individuen einen geringen Unterschied in der durchschnittlichen Aktivität ergaben. Die mittlere Aktivität bei Gd A-Individuen liegt mit allerdings großen Überschneidungen anscheinend etwa 10% niedriger als bei Gd B-Individuen. Die A—-Variante (determiniert vom GdA~-Allel) hat dieselbe elektrophoretische Wanderungsgeschwindigkeit wie die A-Variante und ist in einer Reihe von kinetischen und anderen Eigenschaften dieser wie auch der B-Variante sehr ähnlich (KIRKMAN 1959, MARKS et al. 1961). Sie unterscheidet sich
jedoch von dieser in ihrer Stabilität in vivo, wie sich aus Aktivitätsmessungen an jungen und älteren roten Blutkörperchen ergab (YOSHIDA et al. 1967, PIOMELLI et al. 1968). Die Zellen wurden entsprechend ihrem spezifischen Gewicht durch Zentrifugation in einem Dichtegradienten fraktioniert. In jüngeren Zellen (mit einem hohen Anteil an Retikulozyten) war die G-6-PD-Aktivität bei Gd A—- beinahe so hoch wie bei Gd B-Individuen. Bei älteren Zellen besteht jedoch ein sehr beträchtlicher Unterschied zwischen beiden, indem die Zellen von Gd B-Individuen eine größere G-6-PDAktivität als vergleichbare Zellen von Gd A—Individuen aufweisen. Nach diesen Untersuchungen schätzt man die Halbwertszeit des Enzyms in Erythrozyten normaler Gd B-Individuen auf etwa 62 Tage und in Gd A — Individuen auf nur etwa 13 Tage (PIONELLI et al. 1968). So läßt sich der Enzymmangel in afrikanischen Gd A—Individuen offensichtlich auf die schnellere Denaturierung des A—Enzymproteins in vivo zurückführen. Unter gewöhnlichen Analysenbedingungen arbeitet man natürlich mit einem Gemisch von Erythrozyten jeden Alters. So ergibt sich die Gesamtaktivität in normalen Gd B-Individuen oder inGdA—Individuen aus dem Durchschnitt der relativ höheren Werte in den jüngeren und der niedrigeren in den älteren Zellen. Diese Altersunterschiede erklären auch die kaum verminderte G-6-PDAktivität in den Leukozyten von Gd A—Individuen. Erythrozyten haben normalerweise eine Lebensdauer von mehr als 100 Tagen. Sie verlieren aber ihre Kerne und ihre Fähigkeit, Proteine zu synthetisieren, bereits in einem frühen Entwicklungsstadium. Folglich kann das denaturierte G-6PD-Enzymprotein nicht durch neugebildetes Enzym ersetzt werden. Weiße Blutkörperchen jedoch besitzen einen Kern und damit die Fähigkeit zu fortgesetzter Enzymsynthese. Das Gd Mediterran-Enzym unterscheidet sich trotz gleicher elektrophore122
tischer Beweglichkeit in einer Reihe anderer Eigenschaften von der B-Variante (KIRKMAN et al. 1964a). Die K m -Wertefür G-6-PD und NADP liegen bei ersterem beträchtlich niedriger. Andere Unterschiede bestehen in der Denaturierungsgeschwindigkeit bei erhöhten Temperaturen, die bei Gd Mediterran wesentlich erhöht ist, und in den pH-Optima. Auffälligerweise besitzt es die Fähigkeit, 2-Desoxyglukose-6-Phosphat mit einer um 25—30% erhöhten Umsatzrate gemessen an der von G-6-P zu verwerten. Diese spezifischen Eigenschaften des Enzyms weisen vermutlich auf eine veränderte Struktur hin. Sie müssen aber nicht direkt die Aktivitätsminderung des Gd Mediterran-Phänotyps bewirken. Diese ist offensichtlich, wie beim A—Enzym, auf eine verringerte Stabilität des Enzymproteins in vivo zurückzuführen. Die Wirkung ist dabei noch tiefgreifender, die Zerfallsrate liegt offenbar sehr hoch. Die Verminderung der Enzymaktivität ist in jungen Erythrozyten etwas weniger stark, betrifft aber auch die Retikulozyten (PIOMELLI et al. 1968) und läßt sich auch in Leukozyten bei Gd Mediterran-Individuen deutlich erkennen (RAMOT et al. 1959). Die Gd A—Variante des G-6-PD-Mangels ist, wie bereits betont, unter Negern und die Gd Mediterran-Variante in nichtnegroiden Populationen des Vorderen Orients und Südeuropas relativ verbreitet. Die meisten Merkmalsträger sind ganz gesund und zeigen nur dann klinische Erscheinungen, wenn sie der Einwirkung spezieller Substanzen, etwa bestimmter Medikamente oder bei der Gd Mediterran-Variante Saubohnen ausgesetzt sind. Unter diesen Bedingungen besteht die Gefahr einer akuten hämolytischen Krise, deren Heftigkeit sehr unterschiedlich sein kann. So können einige GdMediterran-Personen Saubohnen auch ohne ernste Folgen essen, während andere nach Genuß gleicher Menge eine schnelle und heftige Reaktion zeigen. Über die Ursache dieser Unterschiede liegen nur Vermutungen vor. Möglicherweise sind sie zum Teil ebenfalls genetisch determiniert (STAMATOYANNOPOULOS et al. 1966) und hängen mit unterschiedlichen Abbaumechanismen des betreffenden Wirkstoffs der Bohne im Organismus zusammen. 5.3.3.
Andere
G-6-PD-Varianten
Neben diesen beiden Standardtypen des G-6-PD-Defektes gibt es noch andere Varianten in verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Sie alle dürften auf Strukturanomalien des Enzyms zurückzuführen sein. Die meisten der entsprechenden Allele sind relativ selten. Einzelne Allele zeigen jedoch in bestimmten Bevölkerungsgruppen eine beachtlich hohe Frequenz; so ist z. B . das Allel für die Variante Gd Kanton in Populationen Südchinas und das Allel für Gd Athen in Griechenland relativ häufig. Diese G-6-PDVarianten unterscheiden sich untereinander und von den Gd B-, Gd A-, Gd A — und Gd Mediterran-Varianten in einem oder mehreren qualitativen Merkmalen (z. B . elektrophoretische Beweglichkeit, K m -Wert, Thermostabilität, Verwertung von 2-Desoxy-G-6-P, pH-Abhängigkeit usw.). 123
Einige dieser Charakteristika sind in Tab. 5.6. zusammengefaßt. Aus dieser Aufstellung geht hervor, daß für die Identifizierung und Charakterisierung einer bestimmten Variante eine große Anzahl verschiedener Eigenschaften untersucht werden muß. Viele dieser Enzymvarianten weisen eine Aktivitätsminderung wahrscheinlich jeweils unterschiedlicher Genese auf. Die Ursache dürfte meistens in einer verringerten Stabilität des Enzymproteins wie bei den Gd A — und Gd Mediterran-Varianten liegen. Es können aber auch Veränderungen der katalytischen Wirksamkeit oder eine verringerte Syntheserate des Enzyms (analog zu der verringerten Syntheserate von Hämoglobin bei den Thalassämien) vorliegen. Sicher besteht häufig auch eine Kombination dieser Möglichkeiten. Aus Tab. 5.6. ist zu ersehen, daß die Aktivitätsveränderung bei den einzelnen Varianten sehr unterschiedlich ist. Mindestens eine Variante (Gd Hektoen) weist eine deutliche Aktivitätserhöhung auf. Bei einigen Varianten besteht eine Neigung zu chronisch hämolytischer Anämie (nichtspherocytäre hämolytische Anämie), die auch unabhängig von den auslösenden Faktoren, wie bestimmten Medikamenten, Nahrungsbestandteilen (z. B. Saubohnen) oder Infektionen, eintritt. Andere Varianten (z. B. Gd Mediterran) führen, auch wenn die Höhe der Enzymaktivität in den roten Blutkörperchen anscheinend ebenso weit oder noch weiter reduziert ist, zu keiner Anämie. Diese Erscheinungen erklären sich wahrscheinlich durch besondere kinetische Eigenschaften der Enzyme und der Art, in der diese die Funktion der roten Blutkörperchen in vivo beeinflussen. So zeigen zum Beispiel Hämolysate von Gd Oklahoma-Personen eine höhere Aktivität als von Gd Mediterran-Personen (Tab. 5.6.), obwohl erstere eine
Abb. 5.8. Reaktionsgeschwindigkeiten der G-6-PD-Varianten. a) Gd Oklahoma ( K m = 140 (J.M) und b) Gd Mediterran (Km = 18 u.M) bei verschiedenen Glukose-6-Phosphat-Konzentrationen (KIRKMAN 1968). Der senkrechte Pfeil markiert die relative Aktivität unter Standardsubstratkonzentration, der waagerechte Strich die interzelluläre Glukose-6-PhosphatKonzentration.
124
chronische hämolytische Anämie aufweisen und letztere nicht. Eine mögliche Erklärung f ü r diesen Unterschied liegt in dem höheren K m -Wert von Gd Oklahoma f ü r Glukose-6-Phosphat. I n dem üblichen Analysesystem wird eine relativ hohe Konzentration von Glukose-6-Phosphat verwendet, um Sättigung und maximale Reaktionsgeschwindigkeiten zu sichern. I n den Erythrozyten ist aber dieGlukose-6-Phosphat-Konzentration viel niedriger und liegt wahrscheinlich nahe an oder unter den K m -Werten. Abb. 5.8. ( KTRKMAN 1968) zeigt, daß die Reaktionsgeschwindigkeit von Gd Oklahoma in den roten Blutkörperchen durchaus sehr viel niedriger sein kann als die von Gd Mediterran, obwohl die Werte für die relative Aktivität nach Analysen mit hoher Glukose-6-Phosphat-Konzentration entgegengesetzt sind. 5.3.4.
G-6-PD und die Lyon-Hypothese
Da der G-6-PD-Locus auf dem X-Chromosom liegt, ist er in weiblichen Zellen doppelt (XX), in männlichen Zellen aber nur einfach (XY) vertreten. Trotzdem entspricht die durchschnittliche Aktivität der G-6-PD normaler Frauen fast der normaler Männer (MARKS 1958). Dieselbe Aktivität ist auch bei Personen mit einer abnormen Anzahl von X-Chromosomen zu beobachten, zum Beispiel bei Männern mit dem KLINEFELTER-Syndrom (47, X X Y ) und bei Frauen mit dem Triple-X-Syndrom (47, X X X ) , vorausgesetzt es ist kein Allel f ü r eine Enzymmangel-Variante beteiligt (GRUMBACH et al. 1962, H A R R I S et al. 1963b). Damit beeinflußt offenbar die Anzahl der G-6-PD-Allele in einem Individuum nicht den Aktivitätsgrad. Diese Erscheinung des Ausgleichs einer X-chromosomalen Genwirkung zwischen den beiden Geschlechtern wird als Dosiskompensation bezeichnet. Sie läßt sich f ü r die meisten Loci auf dem X-Chromosom nachweisen, sofern sie nicht an der Geschlechtsdifferenzierung und -entwicklung beteiligt sind. Eine Hypothese zur Erklärung dieses Phänomens zumindest f ü r Säugetiere haben LYON (1962) und B E U T L E R (1962) aufgestellt. Danach bleibt in jeder Zelle des weiblichen Organismus nur eines der beiden X-Chromosomen funktionell aktiv. E s kann sich dabei von Zelle zu Zelle unterschiedlich und wahrscheinlich zufallsgemäß um das vom Vater oder von der Mutter ererbte X-Chromosom handeln. Beim Mann bleibt vermutlich das einzige vorhandene X-Chromosom in allen Zellen funktionsfähig. Folglich ist in jeder somatischen Zelle beim Mann wie auch bei der Frau nur eines der X-chromosomalen Gene funktionell aktiv. Es wird angenommen, daß die Inaktivierung eines der beiden X-Chromosomen im weiblichen Geschlecht mehr oder weniger zufällig zu einem frühen Zeitpunkt der Embryonalentwicklung irreversibel stattfindet, wodurch dasselbe X-Chromosom im gesamten Klon der entsprechenden Zelle inaktiviert bleibt. Nach dieser Hypothese stellt der weibliche Organismus ein Mosaik aus zwei Zelltypen dar, die sich in dem vom Vater oder der Mutter stammenden aktiven X-Chromosom unterscheiden. 125
Die Richtigkeit der LYON-Hypothese kann bei Frauen, die heterozygot f ü r ein X-chromosomales, ein Enzym- oder Strukturprotein codierendes Gen sind, direkt nachgeprüft werden. I n einem Teil der Zellen sollte dann das eine X-Chromosom und damit das eine Allel und in den anderen das andere Allel genetisch aktiv sein; so daß die entsprechenden Zellen die verschiedenen Formen des Enzyms oder Proteins bilden. Eine einzelne Zelle dürfte nicht beide Enzym- oder Proteintypen enthalten. Die Ergebnisse an Heterozygoten f ü r G-6-PD-Allele bestätigen tatsächlich diese Vermutungen. Als besonders überzeugend erwiesen sich Experimente an in-vitro-Zellen aus kleinen Hautexplantaten von heterozygoten Negerfrauen des Genotyps Gd B Gd A (DAVIDSON et al. 1963). I n Ein-Zell-Kulturen waren in den verschiedenen Klonen entweder nur das A- oder das B-Enzym, nie aber beide gleichzeitig elektrophoretisch nachweisbar (Abb. 5.9.).
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4 Ausgangszellkulfur
Klone
5
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Abb. 5.9. G-6-PD-Varianten in verschiedenen Klonen, die auf Ein-Zell-Kulturen von Hautexplantaten einer heterozygoten Frau des Genotyps Gd A Gd B zurückgehen (nach DAVIDSON et al. 1963). In der Ausgangszellkultur wurden die beiden G-6-PD-Varianten Gd A und Gd B nachgewiesen, nach Ein-Zell-Kultur waren in den verschiedenen Klonen entweder nur das A- oder B-Enzym, aber nie beide gleichzeitig nachweisbar.
Außerdem konnten in Zellkulturen aus der H a u t einer Heterozygoten sowohl A- als auch B-Klone, also zwei verschiedene Zellpopulationen, von denen eine nur das A-Enzym und die andere nur das B-Enzym synthetisiert, nachgewiesen werden. Zu ähnlichen Ergebnissen führten Untersuchungen bei Frauen mit dem Genotyp Gd B Gd M e d l t e r r a n (Heterozygotie f ü r den mediterranen Typ des G-6-PD-Mangels). Die beiden Klone unterschieden sich deutlich in der Höhe der Enzymaktivität, die in einem der normaler Männer des 126
Genotyps Gd B , im anderen der stark verringerten Enzymaktivität von Männern des Genotyps Gd M e d i t e r r a n entsprach. Rote Blutkörperchen heterozygoter Negerfrauen (Gd B GdA~) bestehen ebenfalls aus zwei biochemisch unterschiedlichen Populationen ( B E U T L E R and B A L U D A 1964). Zu ähnlichen Ergebnissen führten elektrophoretische Untersuchungen der Enzyme kleiner Hautbiopsien und einzelner Tumoren (Leiomyomata) bei Heterozygoten des Genotyps Gd B Gd A ( L I N D E R and G A R T L E R 1965a, b). Damit h a t t e sich f ü r den G-6-PD-Locus die Annahme, daß in jeder Zelle der Frau nur eines der beiden vorhandenen X-chromosomalen Allele funktionell aktiv ist, bestätigen lassen. Ähnliche Resultate sind auch bei dem X-chromosomalen Enzym Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyltransferase erzielt worden ( R O S E N B L O O M etal. 1 9 6 7 , M I G E O N etal. 1968, SALZMANN et al. 1968). Auch andere, weniger direkte Beweise zeigen, daß das Phänomen allgemein auftritt. Der genaue Mechanismus dieser Geninaktivierung auf einem der beiden X-Chromosomen der Frau ist ebenso unklar wie der Modus der Übertragung von einer Zellengeneration zur nächsten. 5.4.
Saure Phosphatase der Erythrozyten
Die quantitativen und qualitativen Varianten der Serum-Cholinesterase und der Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase wurden durch die Untersuchung besonderer klinischer Anomalien, wie der Überempfindlichkeit gegenüber dem Muskelrelaxans Suxamethonium, der medikamentös bedingten hämolytischen Anämie bzw. des Fabismus entdeckt. Dabei wurden Enzymdefekte erkannt, die später auf die Existenz qualitativ unterschiedlicher Varianten des entsprechenden Enzyms zurückzuführen waren. Bei der sauren Erythrozytenphosphatase dagegen fanden sich die erblichen quantitativen Varianten bei einer zielgerichteten Suche nach häufig vorkommenden und strukturell unterschiedlichen Enzymtypen unter beliebig ausgewählten gesunden Individuen (s. S. 204). Das Enzym ist eine Phosphohydrolase und Phosphotransferase mit einem niedrigen pH-Optimum. E s ist offensichtlich charakteristisch für rote Blutkörperchen, da es sich in vieler Hinsicht von den sauren Phosphatasen anderer Gewebe unterscheidet. Seine genaue Stoffwechselfunktion in roten Blutkörperchen ist nicht bekannt. Klinische Erscheinungen in Verbindung mit einem spezifischen Defekt des Enzyms treten nicht auf. 5.4.1.
Die elektrophoretischen
Varianten
Die saure Phosphatase roter Blutkörperchen von verschiedenen Individuen läßt sich elektrophoretisch regelmäßig in zwei oder mehr Komponenten oder Isozyme auftrennen, wobei das Isozymmuster von Person zu Person deutlich variiert ( H O P K I N S O N et al. 1 9 6 3 , 1 9 6 4 ) . Sechs verschiedene Phänotypen kommen in europäischen Populationen vor: A, BA, B, CA, CB und C (Abb. 5 . 1 0 . ) . Von den Europäern gehören etwa 1 3 % zum Typ A, 4 3 % zum 127
Typ BA, 36% zum Typ B, 3% zum Typ CA, 5% zum Typ CB und einer von 600 Menschen zum Typ C. Familienuntersuchungen zeigen, daß die verschiedenen Typen genetisch determiniert sind, und zwar von drei autosomalen Allelen P 3 , P b und P°. Die Phänotypen A, B und C entsprechen den homozygoten Genotypen P a P 3 , P b P b bzw. P° P° und die Typen BA, CA und CB den heterozygoten Genotypen P a P b , P a P° und P b P c dar. Tab. 5.7. zeigt einige typische Ergebnisse von Familienuntersuchungen. Es ergibt sich daraus eine gute Übereinstimmung mit den Mendelschen Gesetzen. Die verschiedenen Phänotypen unterscheiden sich voneinander in der elektrophoretischen Beweglichkeit, den relativen Aktivitäten und in der Zahl der vorhandenen Isozyme. Die Homozygoten A, B und C zeigen jeweils zwei charakteristische Isozymkomponenten. Die beiden Isozyme von A unterscheiden sich elektrophoretisch von denen der Typen B und C. Sie haben etwa gleiche Aktivität, während innerhalb von B und C deutliche a)
A
BA
B
CA
©
CB
C
©
b)
A
BA
B
CA
Start
CB
C
Start
Abb. 5.10. Isozymmuster der sauren Phosphatase der Erythrozyten von verschiedenen Phänotypen nach Stärkegelelektrophorese bei pH 6,0 in a) Citrat-Phosphat-Puffer und b) Phosphatpuffer (HOPKINSON and H A B R I S 1969). Die beiden Isozyme von A zeigen in den verschiedenen Puffersystemen unterschiedliche Wanderungsgeschwindigkeiten im Vergleich zu der Isozymkomponente B und C.
128
Tabelle 5.7. Phänotyp - Häufigkeiten für die Varianten der sauren Erythrozytenphosphatase in 440 englischen Familien (HARRIS et al. 1968) Paarung
Anzahl der Kinder Paarungen A
A X A A x BA A X B A x CA A x CB BA x BA BA x B BA x CA B A X CB B x B B x CA B x CB CA x CB CB x CB
13 50 27 6 10 94 109 16 16 55 12 24 5 3
Gesamt
440
Gesamt BA
22 65 —
4
B
CA
CB
C
—
—
—
—
—
—
—
—
—
5 14
—
7 141
—
—
—
—
—
—
—
33
—
—
925
—
—
14
2
—
—
—
1 1
—
5 91 106 9 10
—
40
22 113 65 9 19 185 202 33 33 141 32 58 8 5
48 65
2
—
—
145
348
—
54 96
—
—
—
—
—
—
—
6 6
—
—
0 331
4 10 —
—
20 25 3 4
33
66
2
— — — — — —
Unterschiede in der relativen Aktivität der beiden Isozyme bestehen. So zeigt bei B das schnell zur Anode wandernde Isozym eine höhere Aktivität als das langsamere, während bei C gerade umgekehrte Verhältnisse vorliegen. Die Isozymmuster in den heterozygoten Typen BA, CA und CB sind komplexer und ergeben sich offenbar aus der Kombination der in den zwei entsprechenden Homozygoten vorhandenen Isozyme. Anhaltspunkte für eine Hybrid-Isozymbildung in den Heterozygoten existieren nicht. Untersuchungen der Substratspezifität und der Kinetik der sauren Phosphatasen haben keine auffallenden Unterschiede ergeben (SCOTT 1 9 6 6 , LUFFMAN and HARRIS 1967). Die zahlreichen Isozyme in den verschiedenen Typen dürften auch alle die gleiche Molekülgröße haben (LUFFMAN and HARRIS 1 9 6 7 ) . Wesentliche Unterschiede bestehen aber in der Thermostabilität (Abb. 5.11). Im allgemeinen nimmt die relative Thermostabilität der Isozyme der verschiedenen Typen in der Reihenfolge C > B > A zu, und innerhalb jeden Typs erweist sich das schnellere Isozym als etwas weniger stabil als das langsamere (LUFFMAN and HARRIS 1 9 6 7 , FISHER a n d HARRIS 1969).
Die Art der strukturellen Unterschiede zwischen den von den einzelnen Allelen determinierten sauren Phosphatasen ist nicht bekannt. Man kann 9
Harris
129
annehmen, daß die verschiedenen Allele durch einzelne Mutationen auseinander hervorgingen. Jedes codiert offensichtlich eine spezifische Polypeptidkette. Vermutlich enthalten auch die beiden Isozyme, die jedes Allel determiniert, dieselbe Polypeptidkette, da sie beide spezifisch durch Mutationen modifiziert sind. Die molekulare Struktur der beiden Isozyme ist noch vollkommen unklar. Sie haben offenbar dieselbe Molekülgröße und 10
°r
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50oC
+
•
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A A x BA uB • CA + CB
+
•
*
A
•
+ X A
X
k
20-
u
, +
10
v
*A
X A
20 30 Zeit (min)
X A 40
50
Abb. 5.11. Vergleich der Thermostabilität verschiedener PhosphatasePhänotypen (Relative Aktivität nach unterschiedlich langer Hitzebehandlung bei 50°C).
bestehen aus nicht mehr als einer Polypeptidkette. Letzteres kann allerdings noch nicht mit Sicherheit behauptet werden. Sie könnten Konformations-Isomere darstellen oder sekundär durch ein spezifisches Polypeptid modifiziert worden sein. Neben dem Unterschied in der molekularen Ladung, der für jeweils ein Isozympaar gleich sein dürfte, könnten auch die verschiedenen Allele die Differenzen in der relativen Aktivität bedingen. So zeigen die beiden von dem Allel P a codierten Isozyme ungefähr gleiche Aktivität, während die der Allele P b und P° sich diesbezüglich stark unterscheiden, wobei bei P b das schneller und bei P° das langsam wandernde das aktivere ist. Neben den oben diskutierten kommen noch weitere Phänotypen der sauren Erythrozytenphosphatase vor (GIBLETT and SCOTT 1965, K A B P and SUTTON 1967), offensichtlich heterozygote Kombinationen eines seltenen Allels mit einem der Allele P a , P13 oder P°. Auch hier führt das neue Allel zum Erscheinen zweier neuer und unterschiedlicher Isozyme. 130
5.4.2.
Quantitative Unterschiede
Jedes der Allele scheint also strukturell unterschiedliche Varianten des Enzyms zu determinieren. Diese Strukturunterschiede sind mit quantitativen Unterschieden in der Gesamtaktivität der sauren Phosphatase verbunden, wie sich beim Vergleich der Aktivität in Individuen verschiedener Phänotypen ergibt (Tab. 5.8.). Tabelle 5.8. Durchschnittliche Aktivität der sauren Erythrozytenphosphatase bei verschiedenen Phänotypen (SPENCER et al. 1964b) Typ
Anahl der untersuchten Personen
mittlere Aktivität
StandardAbweichung
A BA B CA CB
33 124 81 11 26
122,4 153,9 188,3 183,8 212,3
16,8 17,3 19,5 19,8 23,1
Aktivität in (xmol freigesetzten p-Nitrophenols aus p-Nitrophenylphosphat nach 30 Min. bei 37°C, pro Gramm Hämoglobin.
Obwohl die Variationsbreite der Enzymaktivität der jeweiligen Phänotypen sehr groß ist, lassen sich doch wesentliche Unterschiede in den Durchschnittswerten zwischen ihnen nachweisen. Erythrozyten mit der Variante B verfügen über eine etwa 50% höhere Aktivität als die mit der Variante A, während die Variante BA eine Zwischenstellung einnimmt. In ähnlicher Weise liegen die Werte für CB im Durchschnitt höher als die für CA oder B. Daraus läßt sich eine additive Wirkung der drei Allele hinsichtlich der Enzymaktivität vermuten. Es gelten dann folgende Beziehungen: ^ Ä + I B = BÄ
(a)
undCÄ-iÄ = C B - i B
(b)
wobei Ä, BA, B usw. die Mittelwerte der verschiedenen Typen darstellen. 9*
131
Die in Tab. 5.8. angegebenen Resultate bestätigen diese Erwartung: i - Ä + i - B = 155,35 Einheiten 2t
Z
BÄ = 155,9 CA ÜB -
Li
(a)
Einheiten
Ä = 122,6 Einheiten
(b)
i B = 118,15 Einheiten 2.'
Diese Resultate stimmen natürlich mit den elektrophoretischen Befunden überein, wonach die Isozymmuster bei Heterozygoten im wesentlichen ein einfaches Gemisch gleicher Enzymanteile der entsprechenden Homozygoten darstellen. Wenn man die Aktivität der sauren Erythrozytenphosphatase aus einem beliebig ausgewählten Kollektiv der Normalbevölkerung bestimmt, dann erhält man eine stetige unimodale Verteilungskurve. Sie ähnelt damit den Verteilungskurven anderer Enzyme einer auslesefreien Population. Doch in unserem Beispiel entsteht diese Kurve durch Summa-
Abb. 5.12. Verteilungskurve der Aktivität der sauren Erythrozytenphosphatase in der Normalbevölkerung (durchbrochene Linie) und bei verschiedenen Phänotypen. Die Darstellung beruht auf den in Tabelle 5.8. für die Häufigkeit der verschiedenen Phänotypen in der englischen Bevölkerung angegebenen Daten.
132
tion einer Reihe unterschiedlicher, sich aber nicht überschneidender Werte, die jeweils dem einzelnen Phänotyp entsprechen (Abb. 5.12.). Dies deutet darauf hin, daß andere Beispiele quantitativer Enzym Variation, die scheinbar stetig und unimodal verlaufen, ähnlich erklärt werden könnten. Darin zeigt sich, wie schwer die genetische Analyse solcher quantitativen Enzymvariation sein kann, wenn andere Methoden zur Unterscheidung der Phänotypen fehlen. Der genaue Zusammenhang zwischen den Strukturunterschieden der sauren Phosphatasen, die von den verschiedenen Allelen codiert werden, und den Aktivitätsunterschieden bleibt noch zu klären. Möglicherweise gehen zumindest teilweise die Aktivitätsunterschiede auf unterschiedliche Enzymstabilität zurück, da die relative Thermostabilität C > B > A jeweils mit der relativen Aktivität der verschiedenen Typen korreliert.
133
KAPITEL 6
Die angeborenen Stoffwechselstörungen 6.1.
Garrod und die Konzeption des ,,inborn error of metabolism"
Angeborene Stoffwechselkrankheiten sind schon länger bekannt. Ihre charakteristischen klinischen, pathologischen und biochemischen Anomalien beruhen auf einem angeborenen Mangel eines bestimmten Enzyms, dem ein mutiertes Gen zugrunde liegt. Den Begriff „angeborene Stoffwechselfehler" (inborn error of metabolism) prägte bereits vor mehr als sechzig Jahren A. E. GABROD. GARROD leitete seine Grundkonzeption von der Pathogenese dieser Krankheiten (GARROD 1909) hauptsächlich aus den Untersuchungen eines seltenen, als Alkaptonurie bezeichneten Krankheitsbildes ab. Seine klassische Arbeit über diese Anomalie lieferte ein elegantes und einfaches Modell für die Interpretation vieler erblicher Defekte, die später entdeckt wurden. Patienten mit Alkaptonurie scheiden im Urin große Mengen von Homogentisinsäure aus, die normalerweise nicht im Urin vorkommt. Obwohl der Urin zunächst eine normale Farbe hat, färbt er sich nach längerem Stehen infolge einer Oxydation der darin enthaltenen Homogentisinsäure schwarz. Auf Grund dieser auffälligen Erscheinung wird diese Krankheit tatsächlich oft zuerst bei Säuglingen an der charakteristischen Färbung der Windeln erkannt. Alkaptonuriker scheiden ihr ganzes Leben lang mehrere Gramm Homogentisinsäure täglich aus. Sie sind gewöhnlich gesund, obwohl sie im späteren Leben zu einer Form der Arthritis, bekannt als Ochronose, neigen, die anscheinend von der Ablagerung eines schwarzbraunen Metaboliten der Homogentisinsäure im Knorpel und anderen Bindegeweben herrührt. GARBOD beobachtete bereits, daß Patienten im Gegensatz zu Normalpersonen zugeführte Homogentisinsäure quantitativ im Urin wieder ausschieden. Er wies auch eine erhöhte Ausscheidung nach Eiweißgaben nach und erklärte diese Erscheinung mit dessen Gehalt an den aromatischen Aminosäuren Phenylalanin und Tyrosin, die allein verabreicht ebenso wie deren Kataboliten die Homogentisinsäureausscheidung der Patienten verstärkten. In der Homogentisinsäure sah GARROD deshalb ein normales Zwischenprodukt des Phenylalanin- und Tyrosin-Abbaus, das zwar im Gewebe von Normalpersonen nicht nachweisbar ist, aber bei Merkmalsträgern infolge eines Enzymdefektes und damit eines Stoffwechselblocks angereichert wird. Er nahm an, daß Homogentisinsäure normalerweise höchstens in 134
Spuren vorkommt, da sie sehr schnell umgesetzt wird. Bei Patienten mit Alkaptonurie sammelt sie sich zunächst in Leberzellen an, wo sie abgebaut wird, gelangt in den Blutkreislauf und schließlich in den Urin. Damals standen Möglichkeiten zum direkten Nachweis des Enzymdefektes noch nicht zur Verfügung. Erst etwa 50 Jahre später gelang es, in Leberbiopsien von Patienten die an der Oxidation von Tyrosin beteiligten Enzyme zu analysieren (Abb. 6.1.). Für alle Enzyme, außer der HomogentisinCOOH ^ ^ - C H
2
C H N H
2
C O O H
Phenylalanin
VCH
2
CHNH
c=o I
+
C - H
PhenyialaninHydroxyiase
H O - (
CH3
I II
H - C
2
CH2
COOH
COOH
Fumarsäure
Azefessigsäure
COOH
FumarylazetessigsäureHydroiase
Tyrosin
OH
Tyrosin— Transaminase WM -CH2C-COOH
HO
O p-Hydroxyphenylbrenzfraubensäure
HO
I
; c i c-cc, II O H OH o
Fumarylazetessigsäure
ß - Hydroxyphenyibrenztraubensäure —Oxydase
MaieyiazetessigsäureIsomerase
OH HO-F
V O H CH2COOH Homogentisinsäure
H
HHomogenf/sinsäureOxydase " ' HO^L
OH
OH
Maieyiazetessigsäure A b b . 6.1. D e r A b b a u v o n P h e n y l a l a n i n u n d T y r o s i n (nach L A D U
1966).
säureoxidase, die die Umwandlung der Homogentisinsäure zu Maleylacetessigsäure katalysiert ( L A D U et al. 1 9 5 8 ) , ergaben sich normale Werte (Tab. 6 . 1 . ) . Damit wurde G A H B O D ' S klassische biochemische Interpretation der Alkaptonurie voll bestätigt. Die andere Besonderheit der Alkaptonurie, auf die G A B R O D aufmerksam machte, war ihr familiäres Vorkommen. Obwohl allgemein sehr selten, trat sie gelegentlich bei mehr als einem Familienmitglied auf, vorwiegend bei zwei oder mehr von mehreren Geschwistern, wobei sich Eltern, andere Kinder und Verwandte als vollkommen normal erwiesen. Außerdem waren die Eltern von Alkaptonurikern oft blutsverwandt, gewöhnlich Vetter und Base ersten oder zweiten Grades. Aus den charakteristi135
sehen Stammbäumen schloß G A R R O D auf eine erbliche bzw. genetische Basis der Anomalie. Er befragte den Genetiker B A T E S O N , der die Erscheinung mit den damals wiederentdeckten Mendelschen Gesetzen für erklärbar hielt. Die Stammbäume entsprachen dem Bild, das man bei zugrunde liegendem seltenen Tabelle 6.1. Aktivität von Tyrosinoxidasen in Biopsien aus alkaptonurischer und nichtalkaptonurischer Leber (LA DU et al. 1958) Enzym
Enzymaktivität nichtalkapton. Leber
alkapton. Leber
1. Tyrosin-Transaminase 3,6 3,2 2. p-Hydroxyphenylbrenztraubensäure 6,7 4,6 -Oxidase 3. Homogentisinsäure-Oxidase 25,8 'S) M
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153
zurückgeht. Das anomale Glykogen ist wesentlich schlechter löslich als normales und präzipitiert dadurch leicht in den Geweben. I n der Leber ( A N D E R S E N 1 9 5 6 ) kommt es auf diese Weise zu einer Fremdkörperreaktion und zur Cirrhose, einem charakteristischen Symptom der Krankheit. 6.6.2.
Defekte
des
Qlykogenabbaus
Die Situation beim Abbau von Glykogen ist dadurch sehr kompliziert, daß sich die einzelnen Gewebe in den an der Glykolyse beteiligten Enzymen unterscheiden. Die Aufspaltung der a-l,4-Bindungenin denEndkettenerfolgt z. B. mit Hilfe der Phosphorylase, die in der Leber in einer anderen Form als in der Muskulatur existiert. Von einer Mutation wird jeweils nur die eine oder die andere betroffen. So besteht bei der Glukogenose Typ V, dem M C A R D L E Syndrom, ein Mangel an Muskelphosphorylase und demzufolge eine Glykogenspeicherung in der Muskulatur ( M C A R D L E 1 9 5 1 , S C H M I D et al. 1 9 5 9 ) . Anomalien der Leberphosphorylase liegen der Glukogenose Typ VI, dem HERS-Syndrom ( H E R S 1 9 5 9 ) zugrunde, das jedoch wahrscheinlich in sich nochmals heterogen ist, da mindestens in einem Fall offensichtlicher Mangel an Leberphosphorylase bei Mangel an Phosphorylase-Kinase gefunden wurde. Diese bewirkt eine Umwandlung der Phosphorylase aus der inaktiven b-Form in die aktive a-Form (HTJG et al. 1 9 6 6 ) . Phosphorylase spaltet die a-l,4-glykosidischen Bindungen des Glykogens, nicht aber die a-l,6-Bindungen an den Verzweigungspunkten. Dazu ist das sogenannte ,,debranching"-Enzym erforderlich, die Amylo-l,6-Glukosidase. Ein Mangel dieses Enzyms führt zur Speicherung eines strukturell anomalen Glykogens ( F O R B E S 1 9 5 3 , I L L I N G W O R T H et al. 1 9 5 6 ) mit sehr vielen Verzweigungspunkten (d. h. a-l,6-Bindungen) und kurzen Endketten. Die in normalen Mengen vorhandene Phosphorylase baut das Glykogen nur bis zu den Verzweigungspunkten ab. Andererseits können diese Ketten durch die Glykogensynthetase wieder verlängert werden und neue Verzweigungen durch das „branching"-Enzym entstehen. Beim Glykogenabbau entsteht zunächst vorwiegend Glukose-l-Phosphat, das durch Phosphoglukomutase in Glukose-6-Phosphat überführt wird. Letzteres kann über verschiedene Wege weiter abgebaut werden; in der Leber wird durch Glukose-6-Phosphatase Glukose zur Aufrechterhaltung des Blutzuckerspiegels freigesetzt. Glukose-6-Phosphatase kommt außer in der Leber auch in den Nieren, nicht aber im Muskel vor. Ein Mangel dieses Enzyms ( C O R I and C O R I 1 9 5 2 ) führt zu einer weiteren Speicherkrankheit, den Glykogenosen Typ I oder demvoN-GIERKE-Syndrom (VON G I E R K E 1 9 2 9 ) . Glykogen reichert sich dabei in Leber und Niere, nicht aber im Muskel an. Klinisch charakteristisch sind Hepatomegalie, Minderwuchs und Hypoglykämie. Im Muskel wird Glukose-6-Phosphat durch die Glykolyse abgebaut. Der größte Teil der Muskelenergie stammt dabei aus dem Abbau von Glykogen zu Milchsäure. Die Phosphorylierung von Fruktose-6-Phosphat 154
zu Fruktose-1,6-Diphosphat katalysiert die Phosphofruktokinase, bei deren Defekt wiederum eine Speicherkrankheit entsteht (TAKTJI et al. 1965, L A Y Z E R et al. 1967), die durch Anreicherung von Fruktose-6-Phosphat und Glukose-6-Phosphat als auch von Glykogen gekennzeichnet ist. Klinisch fällt eine Hypotonie und Lähmung der Muskulatur auf. Schließlich existiert noch eine weitere Glykogenose, die wegen des verursachenden Enzymdefektes besonderes Interesse gewonnen hat. Möglicherweise stellt sie den Prototyp einer ganzen Anzahl von Anomalien mit intrazellulärer Speicherung eines komplizierten Makromoleküls dar (siehe S. 158). Bei diesem sogenannten PoMPE-Syndrom (Glykogenose I I ) läßt sich vermehrt Glykogen in den meisten Geweben, vor allem aber in der hypertrophen Herzmuskulatur nachweisen (Di S A N T ' A G N E S E et al. 1950). Die Patienten erscheinen bei Geburt normal, entwickeln aber sehr bald eine Kardiomegalie und versterben meistens bereits im ersten Lebensjahr. Abgesehen von der Glykogenspeicherung weist der Kohlenhydratstoffwechsel keine Besonderheiten und keine quantitativen und qualitativen Enzymdefekte auf. Erst nach jahrelangem Suchen gelang es (HERS 1962), die Anomalie auf einen Mangel der oc-l,4-Glukosidase zurückzuführen, die normalerweise als hydrolytisches Enzym in den Lysosomen vorkommt. Diese Glukosidase hydrolysiert bei einem auch für andere lysosomale Enzyme charakteristischen niedrigen pH-Optimum (etwa pH 4,0) Maltose, unverzweigte Oligosaccharide und die Endketten von Glykogen zu Glukose. Beim PoMPE-Syndrom liegt das Glykogen der Leber zum größten Teil in elektronenmikroskopisch nachweisbaren großen Vakuolen vor, die bei anderen Glykogenosen nicht auftratsn (BAUDHUIN et al. 1964). Das Plasma selbst enthält vergleichsweise nur wenig Glykogen. Die Vakuolen dürften Lysosomen sein, die durch die Glykogenanreicherung stark vergrößert sind. Defekte anderer lysosomaler Enzyme lassen sich beim PoMPE-Syndrom nicht nachweisen, so daß der oc-l,4-Glukosidasemangel als spezifisch anzusehen ist. Wahrscheinlich werden Teilstücke des Glykogens ständig von den Lysosomen aufgenommen und abgebaut. Beim P O M P E Syndrom geht die Aufnahme von Glykogenfragmenten weiter, ihr Abbau sistiert jedoch infolge des Fehlens der Glukosidase, und die Lysosomen blähen sich durch die Glykogenanreicherung stark auf. Das wiederum führt zu fortschreitenden degenerativen Veränderungen in den Zellen. Warum sich diese Erscheinung vor allem im Herzmuskel auswirkt, ist noch unklar. 6.7.
Andere
Speicherkrankheiten
Neben den sogenannten Glukogenosen gibt es eine Vielzahl anderer erblicher Speicherkrankheiten, bedingt durch die Anreicherung bestimmter Substanzen in den Zellen verschiedener Gewebe. Solche Substanzen sind vielfach Zwischenprodukte des normalen Stoffwechsels und Bestandteile der normalen Zellen mit bestimmten Funktionen im Zellstoffwechsel. 155
Der zugrunde liegende Defekt besteht meistens in einem Block beim Abbau der entsprechenden Substanz auf Grund des Fehlens eines spezifischen hydrolytisch wirksamen Enzyms. Bei weiterlaufender Synthese kommt es so zu immer stärkerer Anreicherung der Speichersubstanz. In Tab. 6.4. sind einige solcher Speicherkrankheiten mit den jeweiligen bisher bekannten Enzymdefekten aufgeführt. CH3 (CH2),2 CH II CH I CHOH HCNH-C-(CH2)jeiCH3 O CH2OH
Abb. 6.10. Ceramid (N-Acylsphingosin).
Bei einigen davon (1—4, Tab. 6.4.) handelt es sich bei den gespeicherten Stoffen um Glykolipide, die als gemeinsame Bausteine Ceramid besitzen (Abb. 6.10.). Dieses besteht aus dem Aminodialkohol Sphingosin, der durch eine Amidbindung mit einer Fettsäure verbunden ist. Die verschiedenen Sphingolipidosen unterscheiden sich in den Substituenten am C-Atom 1 der Sphingosingruppe des Ceramids ihrer Speichersubstanzen. Beim GAUCHER-Syndrom z. B., einer Cerebrosid-Lipidose, handelt es sich dabei um Glukose und bei der Speichersubstanz um Glukocerebrosid; bei dem NiEMANN-PiCK-Syndrom, einer Sphingomyelinlipidose um Phosphorylcholin bzw. Sphingomyelin. Die Symptomatik dieser Krankheitsbilder hängt von der Verteilung der entsprechenden Verbindungen im Organismus ab und vom Grad des Enzymmangels sowie von der normalen Lokalisation des Enzyms in verschiedenen Geweben. Vom GAUCHER-Syndrom lassen sich mindestens zwei Typen unterscheiden, die wahrscheinlich auf Mutationen verschiedener Gene und damit Defekten unterschiedlicher Enzyme beruhen. Bei dem „juvenilen" oder „adulten" Typ bestehen klinisch Hepatosplenomegalie sowie Knochenveränderungen mit Neigung zu Spontanfrakturen, aber nur selten zentralnervöse Erscheinungen. Der „infantile" Typ dagegen weist neben einer verstärkten Symptomatik des „juvenilen" Typs schwere Zeichen einer Beteiligung des ZNS auf. Die Patienten leiden an progredienten neurologischen Ausfallserscheinungen und sterben innerhalb der ersten Lebensjahre, wohingegen der andere Typ ein längeres Überleben und eine unterschiedlich hohe Lebenserwartung ermöglicht. Das gespeicherte Glukocerebrosid findet sich bei beiden Typen in den reticuloendothelialen Zellen der Milz, der Leber und des Knochenmarks und beim „infantilen" Typ 156
C cä =3
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012 ¡H cä n —oY
NHCOCH3
NHCOCH3
OH oc-GalNAc-(7-~3)-l)-Gal-V~3)-GMc-
cc-Ga!NAc-(l*3)-¡)-Gah(l~i)-GNAc \2 cc-Fuc
cc-Fuc
HCOCH3
HCOCH3
(7*3}- GNA c -
cc-Gah( 1-~3)-ß -Gah( 7-*4) -GNAc-
B-Eigenschaft
f
tx-Gal- (1*3)-p-Gal-
\u
7.2
cc-Fuc
cc-Fuc
OfeOH
H- Eigenschaft
^
CHPH
NHCOCH3
q
NHCOCH3;
OH ß-Gah (1*3)-GNAc-
t
§-6al-(T*4)~0NAc-
oc-Fuc cc-Fuc Abb. 7.2. Terminale Zuckersequenzen der A-, B- u n d H - d e t e r m i n a t i v e n Oligosaccharide. Gal: D-Galaktopyranosyl; P u c : L-Fucopyanosyl; GNAc: N-Azetyl-DGlukoseaminopyranosyl; GalNAc: N-Azetyl-D-Galaktosaminopyranosyl. 12*
179
D-Glukosamin und N-Azetyl-D-Galaktosamin und häufig auch N-AzetylNeuraminsäure (Sialinsäure). Der Polypeptidanteil der Makromoleküle besteht aus fünfzehn verschiedenen Aminosäuren, und zwar zu zwei Dritteln aus Threonin, Serin, Prolin und Alanin (PUSZTAI and MOEGAN 1963). Schwefelhaltige Aminosäuren fehlen praktisch vollkommen. Eine maximale serologische Reaktionsfähigkeit setzt die Integrität des vollständigen Makromoleküls voraus. Das Polypeptidrückgrat dürfte dabei eine Rolle bei der Erhaltung der räumlichen Struktur und Orientierung der Kohlenhydratketten spielen, die mit ihren terminalen Gruppen die AntigenSpezifität bestimmen. Die terminalen Kohlenhydrate für die A und B spezifischen Antigeneigenschaften sind in Abb. 7.2. schematisch dargestellt (WATKINS 1966). Entscheidend ist, daß die A-spezifischen Ketten mit einem N-Azetyl-Galaktosaminrest und die B-spezifischen mit einem Galaktoserest enden. In anderer Hinsicht sind die Ketten gleich. Bei beiden Kettentypen können ß-1,3- (Ketten von Typ I) oder ß-1,4- (Ketten von Typ II) Bindungen an der Position 2 zwischen Galaktose und N-Azetylgalaktosamin vorkommen. Außerdem zeigt Abb. 7.2. Oligosaccharide, die in vielen dieser gruppenspezifischen Substanzen vorkommen und die sogenannte H-Spezifität bedingen. E s läßt sich erkennen, daß die H-spezifischen Ketten den A- und B-Ketten gleichen, mit Ausnahme der terminalen spezifischen N-Azetylgalaktosamin- oder Galaktosereste. Das H-Antigen wurde dadurch entdeckt, daß bestimmte Tierseren selektiv menschliche Erythrozyten der Blutgruppe 0 agglutinieren (SCHIFF 1927). Ein hoher Prozentsatz von Personen der Blutgruppe 0 besitzen im Speichel und anderen Sekreten auch einen diese Agglutination neutralisierenden Faktor. Es gibt noch eine Anzahl anderer Antikörper verschiedener Herkunft mit ähnlichen Eigenschaften. Dazu gehören Seren von mit Shigella shiga immunisierten Ziegen und Kücken, Seren vom Aal, Anguilla anguilla, sowie Seren von Kaninchen, die mit Ovarialcystenflüssigkeit von O-Personen immunisiert worden waren, und außerdem Extrakte aus Samen verschiedener Pflanzen (sogenannte Lectine). Sehr selten kommt ein solcher Antikörper auch im menschlichen Serum vor. Zuerst vermutete man eine Reaktion dieser Antikörper mit einem spezifischen Antigen, das von dem Blutgruppengen 0 determiniert wird. Diese Vorstellung wurde jedoch später fallengelassen, da H-Substanzen auch in Individuen ohne O-Allel auftreten (MOBGAN and WATKINS 1948), besonders im Speichel von Personen der Gruppe AB. Auf Grund dieser Erscheinung vermutete man in der H-Substanz eine Vorstufe für die A- und B-Antigene. Die von den A- oder B-Allelen codierten Enzyme modifizieren diese Substanz, so daß A- oder B-Gruppen bei vollständiger oder teilweiser Eliminierung der H-Aktivität entstehen. Danach wäre die stärkste H-Reaktivität bei Personen mit der Blutgruppe 0 zu e r w a r t e n (WATKINS a n d MORGAN 1 9 5 5 b ) .
Die Struktur der die A-, B - und H-Eigenschaften bedingenden Oligosaccharidketten (Abb. 7.2.) läßt sich aus verschiedenen experimentellen Daten 180
ableiten. Die ersten Hinweise kamen von der klassischen Arbeit L A N D S T E I der eine kompetitive Hemmung der immunologisch relevanten Gruppierung des Antigens durch eine relativ unkomplizierte Substanz nachwies. Unter geeigneten Bedingungen kann z. B . die H-Anti-H-Reaktion durch L-Fucose gehemmt werden, nicht aber durch andere Zucker, die in den gruppenspezifischen Glykoproteinen vorkommen. In ähnlicher Weise läßt sich die A-Anti-A-Reaktion spezifisch durch N-Azetylgalaktosamin und die B-Anti-B-Reaktion durch D-Galaktose hemmen. Diese Erscheinungen ( W A T K I N S and MORGAN 1 9 5 2 , MORGAN and W A T K I N S 1 9 5 3 , K A B A T and L E S K O W I T Z 1 9 5 5 ) deuteten trotz der grundsätzlichen Ähnlichkeiten in der Zusammensetzung der A-, B - und H-gruppenspezifischen Substanzen auf Unterschiede hinsichtlich der Zucker in der immunologisch determinanten Gruppe hin. Die Methode erfuhr eine Weiterentwicklung durch Verwendung besonderer Di- und Trisaccharide als Inhibitoren, die u. a. aus Teilhydrolysaten unterschiedlicher Stoffe stammten. Eine andere Technik ergab sich aus der Entdeckung von mikrobiellen Enzymen, die den terminalen Zuckerrest der Kohlenhydratketten abspalten und damit zugleich die Antigen-Spezifität verändern ( I S E K I et al. 1 9 5 3 , 1 9 5 9 ; NERS
WATKINS
1 9 5 6 ; WATKINS e t a l . 1 9 6 2 ; HAKRAP a n d WATKINS
1964).
Be-
stimmte Enzyme z. B . setzen aus B-Blutgruppensubstanz vorwiegend D-Galaktose frei unter Verlust der B-Reaktivität und Auftreten oder Verstärkung vorher fehlender oder schwach nachweisbarer H-Reaktivität. Ebenso entsteht unter Einwirkung anderer Enzyme freies N-Azetyl-Galaktosamin aus A-reaktiven Glykoproteinen, wobei ebenfalls die A-Reaktivität verschwindet und H-Reaktivität erscheint oder verstärkt wird. Schließlich führen andere Enzyme zur Freisetzung von L-Fucose aus H-Substanzen und Verschwinden der entsprechenden Eigenschaft. Diese Zerstörung einer bestimmten Gruppenspezifität durch die verschiedenen Enzyme kann unter Zugabe entsprechender Zucker gehemmt werden ( W A T K I N S and MORGAN 1955a). Auf diese Weise ließ sich auf die Natur der spezifischen A-, B- und H-Determinanten schließen. Eine genaue Aufklärung der beteiligten Strukturen gelang aber letztlich erst durch die Isolierung und Charakterisierung der zahlreichen kurzkettigen Oligosaccharide durch partielle Säure- und Alkalihydrolyse der gereinigten Glykoproteine (COTE and MORGAN 1 9 5 6 , SCHIFFMAN et al. 1 9 6 2 , 1964; P A I N T E R et al. 1 9 6 2 , R E G E et al. 1964a). Die durch die Kombination der geschilderten Methoden ermittelten Oligosaccharidsequenzen zeigt Abb. 7.2. Die Natur der entsprechenden aus roten Blutkörperchen gewonnenen alkohollöslichen aktiven Glykolipide konnte noch nicht so weit aufgeklärt werden. Fest steht, daß der Kohlenhydratanteil der Moleküle die gleichen Zucker enthält wie die gruppenspezifischen Glykoproteine. Serologische und enzymische Hemmversuche weisen auch hier auf N-Azetylgalaktosamin und D-Galactose als hauptsächlich determinierende Gruppe in den A- bzw. B-spezifischen Substanzen hin ( W A T K I N S et al. 1 9 6 4 ) . Die gleichen 181
oder sehr ähnliche Oligosaccharide dürften also für die Gruppenspezifitäten sowohl der wasserlöslichen Glykoproteine der Sekrete als auch der alkohollöslichen Glykolipide in der Erythrozytenmembran verantwortlich sein. Diese Ergebnisse weisen darauf hin, daß die A- und B-Allele am ABOGenort spezifische Glykosyl transferierende Enzyme determinieren, die an die Enden der Kohlenhydratketten entweder N-Azetylgalaktosaminosyl- oder D-Galaktosyleinheiten heften. Offensichtlich läuft die Synthese des Makromoleküls zunächst unabhängig von den A-, B- oder O-Allelen in gleicher Weise ab und führt zur Bildung einer Substanz mit H-Spezifität (Abb. 7.2.). Schließlich kommt bei Personen mit dem A- bzw. B-Allel und damit dem entsprechenden Transferaseenzym N-Azetylgalaktosamin oder Galaktose als terminale Einheit der Oligosaccharidketten hinzu. Homozygote für das 0-Allel besitzen demnach kein entsprechendes Enzym, und die Kohlenhydratketten bleiben unverändert, aber ebenfalls serologisch nachweisbar. Diese Hypothese über die Wirkung der A-, B- und O-Allele erklärt auch, warum ein einzelnes Glykoproteinmolekül mehr als eine Blutgruppenspezifität aufweisen kann. Wenn z. B. ein gereinigtes gruppenspezifisches Präparat von einer AB-Person mit einem Anti-A-Serum präzipitiert wird, enthält das Präzipitat sowohl A- als auch B-Aktivitäten (MORGAN and W A T K I N S 1956). Vermutlich besteht bei der Synthese der Glykoproteinmoleküle in AB-Personen eine Konkurrenz um den Abschluß der Oligosaccharidketten. Jede Kette kann entweder durch N-Azetylgalaktosamin als A-aktive oder durch D-Galaktose als B-aktive Struktur vervollständigt werden. Da ein Makromolekül jedoch viele Ketten besitzt, können beide Möglichkeiten realisiert werden. Außerdem kann am selben Glykoproteinmakromolekül noch H-Reaktivität nachgewiesen werden ( W A T K I N S and M O R G A N 1957b). Offenbar erhalten nicht alle vorhandenen Ketten eine A- oder B-determinante Gruppe. Ein direkter Beweis für das Vorkommen spezifischer Glykosyltransferaseenzyme als Produkte der A- und B-Allele des ABO-Locus gelang vor kurzem. Eine a-D-Galaktosyltransferase ließ sich in den submandibularen Speicheldrüsen und auch im Magenschleim von Personen mit der Blutgruppe B oder AB nachweisen, nicht aber in Geweben von A- oder O-Personen. Das Enzym transferiert D-Galaktose von Uridindiphosphatgalaktose auf die Oligosaccharide, die am terminalen nicht-reduzierenden Ende die H-aktive Gruppierung 2)-Galaktose enthalten ( Z I D E R M A N et al. 1 9 6 7 , R A G E et al. 1 9 6 8 ) . Entsprechend kommt eine a-N-Azetyl-D-Galaktosaminyltransferase, die N-Azetyl-D-Galaktosamin von UridindiphosphatN-Azetyl-D-Galaktosamin auf diese Oligosaccharide transferiert, in Speicheldrüsen bei Personen mit dem Blut A oder AB, nicht aber mit B oder 0 vor ( H E A R N et al. 1 9 6 8 ) . Auch in der Muttermilch lassen sich diese Enzyme bei entsprechenden Personen feststellen ( K O B A T A et al. 1 9 6 8 a, b). Bisher ist wenig über die von den A- und B-Allelen determinierten Glyko182
syltransferaseenzyme bekannt. Man müßte erwarten, daß die verschiedenen Enzymproteine einander in der Struktur sehr ähnlich sind und sich vielleicht nur in einer einzigen Aminosäure unterscheiden. Dieser Unterschied bedingt dann die Substratspezifität. Das A-Enzym ist vermutlich spezifisch für eine Nukleotid-Diphosphatverbindung, die eine N-Azetyl-D-Galaktosamingruppierung enthält. Das B-Enzym verfügt analog dazu über eine Spezifität für ein Substrat mit einer D-Galaktosegruppe. N-Azetyl-DGalaktosamin und D-Galaktose stimmen bis auf die N-Azetylaminogruppe am Kohlenstoff-2-Atom, die bei letzterem durch eine Hydroxylgruppe ersetzt ist, überein. Ein relativ kleiner Unterschied im Enzymprotein vermag durchaus, wenn er die aktive Stelle betrifft, eine verschiedene Substratspezifität zu erklären. Die „Inaktivität" des O-Allels könnte auf die Bildung eines Enzymproteins mit einer leicht veränderten, einen Aktivitätsverlust bedingenden Struktur zurückzuführen sein. Möglicherweise liegt aber auch ein Defekt bei der Synthese des Enzymproteins vor, oder es entsteht ein äußerst instabiles Protein. 7.2.
Die ,,Secretor" und die ,,H"-Loci
Der Speichel und andere Sekrete enthalten bei den meisten Menschen entsprechend der Blutgruppe wasserlösliche Glykoproteine mit A-, B oder H-Eigenschaften, die bei anderen jedoch fehlen, obwohl Glykoproteine vorhanden sind. Danach unterscheidet man „Sekretoren" und „NichtSekretoren" ( L E H E S 1930, PUTKONEN 1930). Von den Europäern sind etwa 8 0 % Sekretoren und etwa 2 0 % Nicht-Sekretoren. Die Sekretor- oder Nicht-Sekretor-Eigenschaft ist konstant und genetisch durch ein Allelenpaar Se und se determiniert ( S C H I F F and SASAKI 1932). Ein Sekretor ist homozygot (SeSe) oder heterozygot (Sese) für das Allel Se, ein Nicht-Sekretor homozygot für das andere Allel (se). Der Genort ist vom O-Locus verschieden und nicht mit diesem gekoppelt. E r liegt entweder weit von diesem entfernt auf dem selben oder auf einem anderen Chromosom. Das Se-Allel codiert offensichtlich die Bildung der H-spezifischen Gruppe in der Kohlenhydratkette der wasserlöslichen Glykoproteine, die in Homozygoten se se fehlt. Da sie aber eine Voraussetzung für die Bildung der Aoder B-terminalen Gruppen an den Ketten darstellen, fehlen die A- oder B-Eigenschaften in Nicht-Sekretoren ebenfalls, auch wenn die Personen die entsprechenden A- oder B-Allele besitzen. Diese Allele des Sekretor-Locus beeinflussen natürlich nur die Synthese der wasserlöslichen gruppenspezifischen Substanzen; die Blutgruppeneigenschaften der Erythrozyten zeigen dagegen keine Abweichungen. Der Block in der Synthese der charakteristischen Kohlenhydratketten der Glykoproteine liegt bei den Nicht-Sekretoren offenbar nur in den letzten Stufen; denn die tatsächlich in den Sekreten von Nicht-Sekretoren vorhandenen Glykoproteine sind qualitativ denen der Sekretoren sehr 183
ähnlich. Ihnen fehlt anscheinend der H-spezifische terminale L-Fucosylrest und damit auch die A- und B-spezifischen terminalen N-Azetylgalaktosamin- oder D-Galaktosereste. Es gibt noch einen anderen Genort, der im engen Zusammenhang mit der Bildung der H-spezifischen Gruppierung und folglich auch der Bildung der A- und B-Eigenschaften steht. Bei den entsprechenden Personen waren im Serum nicht nur Anti-A und Anti-B, sondern auch Anti-H vorhanden ( B H E N D E et al. 1952). Dieser Typ wurde nach dem Ort seiner Entdeckung als „Bombay-Typ" bezeichnet (die Bezeichnung 0 h ist auch üblich). A-, B- oder H-Eigenschaften lassen sich im Speichel nicht nachweisen. Die genetische Grundlage dieser Erscheinung klärte sich bei der genauen Untersuchung einer Familie mit drei Trägern des „Bombay-Typs" auf ( L E V I N E et al. 1955). Im Stammbaum (Abb. 7.3.) sind die entsprechenden Personen
0 See.
B
B
See.
See.
B Nichf-Sec.
Oh °h Oft A Nichf-Sec. Nichf-Sec. NichhSec.Nichf-Sec.
B See.
m Ohh CHh
AB 0 Nichf-Sec. See.
QHHoderHh
Abb .7.3. Familie m i t der B l u t g r u p p e 0„ („Bombay-Typen"). D e r S t a m m b a u m läßt sieh durch Segregation des seltenen h-Allels interpretieren (nach LEVINE et al. 1955). I j u n d I 2 waren Cousin u n d Cousine. Dem Träger des „ B o m b a y - T y p s " fehlen die A-, B- u n d H-Antigene in den E r y t h r o c y t e n u n d im Speichel, das Serum enthält Anti-A, Anti-B u n d A n t i - H .
(0h) mit II 3 , II 4 und II 6 bezeichnet. Der entscheidende Punkt ist, daß eines der Kinder von II 6 eine B-Reaktivität der roten Blutkörperchen aufweist, obwohl dieses Antigen bei II 6 selbst und dem Ehepartner mit der Blutgruppe A anscheinend fehlt. Außerdem zeigte das andere Kind von II 6 mit der Blutgruppe 0 im Speichel H-Aktivität und erwies sich damit als Sekretor. Der Vater II 5 war jedoch Nicht-Sekretor, und die Mutter II 6 zeigte gleichfalls keine A-, B- oder H-Aktivität im Speichel und könnte deshalb auch als Nicht-Sekretor angesehen werden. So besitzt II 6 offenbar ein B-Allel 184
am ABO-Locus, und ein Se-Allel am Sekretor-Locus trägt, obwohl weder B- noch H-Aktivität nachweisbar sind. Die einfachste Erklärung dieser Erscheinung besteht in der Annahme eines seltenen Allels eines weiteren Genortes, das im homozygoten Zustand bei II 6 und auch II 3 und II 4 die Ausbildung der B- und H- (und potentiell wahrscheinlich auch A-) Eigenschaft der roten Blutkörperchen und Sekrete unterdrückt. Einen weiteren Hinweis auf die Rezessivität des seltenen Allels liefert die Tatsache der Konsanguinität (Cousin und Cousine) der Eltern. Seither hat noch eine Reihe anderer Erscheinungen dieser Art grundsätzlich diese Erklärung bestätigt. Das Allel des neuen Locus wird mit H bezeichnet. Die überwiegende Mehrzahl der Menschen besitzt das Wildtypallel, das offenbar für die Bildung der H-spezifischen und folglich auch der A- und B-spezifischen Gruppierungen der Glykolipide der roten Blutkörperchen als auch der Glykoproteine der Sekrete notwendig ist. Das seltene Allel h bleibt dagegen unwirksam, so daß Homozygote hh keine A-, B- oder H-Eigenschaften ausbilden, auch wenn sie die entsprechenden ABO-Allele und auch das Se-Allel besitzen. Bei Heterozygoten H h manifestieren sich die ABO-Allele und das Se-Allel normal. F ü r die Ausbildung der H-Eigenschaft in den Glykoproteinen dürften also sowohl das H-Allel als auch das Se-Allel notwendig sein, während für die Glykolipide der Erythrozyten nur das H-Allel, nicht aber Se eine Rolle spielt. Bei der Biosynthese der Blutgruppensubstanzen hängt die H-Eigenschaft offenbar von der L-Fucose in a-(l 2)-Bindung an einen terminalen Galaktoserest einer Oligosaccharidkette (Abb. 7.2.) ab. Dieser Syntheseschritt bildet eine notwendige Voraussetzung f ü r die Wirkung der vom ABO-Locus determinierten Glykosyltransferasen. Vermutlich bedarf es einer spezifischen L-Fucosyltransferase, die L-Fucose von einem geeigneten Substrat zu dem terminalen Galaktoserest der Oligosaccharidkette . transferiert. Man hat vermutet (WATKINS 1966), daß diese Fucosyltransferase das spezifische Genprodukt des H-Allels darstelle und vom h-Allel nicht gebildet werden kann. Damit aber das Enzym wirksam wird, und zwar auch bei den gruppenspezifischen Substanzen der Sekrete, muß f ü r letztere auch das Allel Se vorhanden sein. Deshalb entstehen wasserlösliche Antigene mit H-Spezifität nur bei Individuen mit der genetischen Konstitution H H oder H h und SeSe oder Sese, nicht aber in solchen mit hh und sese. Da der Sekretor-Locus keine Rolle bei der Biosynthese der alkohollöslichen Blutgruppensubstanzen spielt, erscheint die H-Eigenschaft in roten Blutkörperchen auch, wenn es sich um einen Nicht-Sekretor (sese) handelt. Sie kommt jedoch dann in den roten Blutkörperchen nicht vor, und auch die A- oder B-Spezifitäten nicht, wenn das Individuum vom seltenen ,,Bombay-Typ" hh ist. So wird also der Sekretor-Locus zum Regulator der Aktivität des H-Locus bei der Biosynthese der gruppenspezifischen wasserlöslichen Glykoproteine in Sekret, nicht aber der alkohollöslichen Glykolipide der Erythrozyten. 185
SHEN e t a l . (1968) h a b e n d i e F u c o s y l t r a n s f e r a s e n a u s d e r
Muttermilch
von Sekretoren und Nicht-Sekretoren untersucht. Sie fanden eines der Enzyme in Sekretoren, nicht aber in Nicht-Sekretoren. Dieses Enzym transferierte L-Fucose in a-(l -> 2)-Bindung an ß-Galaktosylreste von GDPL-Fusoce und besaß damit offenbar die für die Bildung von H-reaktiven Gruppierungen in den Blutgruppensubstanzen vorausgesagte Aktivität. 7.3.
Der „Lewis"-
oder
Le-Locus
Auch der „Lewis"-Locus beeinflußt die Biosynthese und folglich die Antigeneigenschaft der wasserlöslichen Glykoproteine im Speichel und anderen Schleimhautsekreten. Seine Identifizierung gelang nach der Entdeckung (MOURANT 1946) eines Serum-Antikörpers, der Agglutination bei etwa 18% der europäischen Bevölkerung verursacht. Später stellte man bei nahezu 90% der Bevölkerung Substanzen im Speichel und anderen Sekreten fest, die ebenfalls spezifisch mit diesem Antikörper reagierten (GRUBB 1951). Diese Antigenspezifität wird jetzt mit Lewis a oder Le a , Sekrete oder rote Blutkörperchen mit dieser Eigenschaft mit Le(a+) und ohne mit Le(a—) bezeichnet. Der zugrunde liegende Locus mit dem Allelenpaar Le und le (GRUBB 1951, CEPPELLINI 1955) liegt separat und ist anscheinend nicht eng mit den anderen an der Determinierung der Gruppeneigenschaften von Glykoproteinen in den Sekreten beteiligten Loci gekoppelt (z. B. dem ABO- oder Sekretor-Locus). Überraschenderweise ergab sich jedoch eine Abhängigkeit der Le a -Reaktivität in Sekreten von der Eigenschaft Sekretor — Nicht-Sekretor. NichtSekretoren verfügen über eine stärkere Le a -Aktivität als Sekretoren. Personen mit dem Le-Merkmal in roten Blutkörperchen erweisen sich als Nicht-Sekretoren (GRUBB 1948, 1951). Es besteht also ein Zusammenhang zwischen der Wirkung der Allele am Sekretor-Locus einerseits und den Allelen am Lewis-Locus andererseits. Die Le-abhängige charakteristische Sequenz in den Glykoproteinmolekülen (WATKINS a n d MORGAN 1 9 5 7 a , 1 9 6 2 ; R E G E e t a l . 1 9 6 4 b ) i s t i n A b b . 7 . 4 .
dargestellt. Der kritische Zucker erwies sich als L-Fucosylrest, der in a-1,4Bindung am vorletzten N-Azetylglukosaminylrest der Kette hängt. Das Grundgerüst der Kohlenhydratkette gleicht einem der beiden Kettentypen, die durch Anlagerung eines L-Fucosylrestes an die terminale Galaktosyleinheit die H-Eigenschaft und die durch weiteres Anfügen einer N-Azetylgalaktosamin- oder D-Galaktoseinheit die A- bzw. B-Eigenschaft bedingen können. Bei der Biosynthese der Glykoproteinmoleküle entstehen offenbar Kohlenhydratketten, auf die sowohl die H-, Se- und ABO-Gene als auch die Le-Gene einwirken. Bei Nicht-Sekretoren (se se) liegen H-reaktive Gruppierungen nicht vor, so daß bei Gegenwart des Le-Gens viele Kohlenhydratketten für die Bindung von L-Fucosylresten in entsprechender Position und damit f ü r die Ausbildung des Le a -Merkmals zur Verfügung stehen. 186
OH
ß-Gal-(l-+3)-ßNAc-
fw
ot-Fuc
CH,QH
a
Le -Eigenschaft
ÖH
CH2OH
X
O
NHCOCH3
-o? O'HN
CHjOH OH) O. „„
Le
CH2OH j—-O NHCOCH3
-Eigenschaft
OH ß-Gal-(l-*3)-GNAc-
f«
oe-Fuc
7,4 oc-Fuc
Abb. 7.4. Vergleich der terminalen Zucker der Oligosaccharidketten der Glykoproteine mit H, Le a und Le b -Eigenschaften (Abk. siehe Abb. 7.2.).
187
Bei Sekretoren (SeSe oder Sese) liegt offenbar eine Konkurrenz um die Ketten vor, wodurch schließlich am Ende ein viel geringerer Teil nur die spezifische Le a -Gruppierung aufweist. Andere werden die H- und eventuell die A- oder B-Gruppierungen in Abhängigkeit von den vorhandenen Genen zeigen. Einige Ketten können auch unter dem Einfluß des Le-Gens einen L-Fucosylrest an den vorletzten Zuckerrest (N-Azetylglukosamin) und unter dem Einfluß der H- und Se-Gene an den nächsten Zuckerresten (D-Galaktose) binden. Diese Konstitution zeigt weder Le a - noch H-Aktivität, stattdessen entsteht eine neue, als Le b bezeichnete Eigenschaft, die auf ein ganz anderes Antiserum reagiert (MAKE et al. 1967). Wahrscheinlich spielt das Le-Gen keine spezifische Rolle bei der Biosynthese der gruppenspezifischen Substanzen der Erythrozyten, da deren Le(a+)-Reaktivität normalerweise nur bei Nicht-Sekretoren (se se) besteht und zum großen Teil oder vollständig auf die Adsorption von Le a -aktiven Substanzen, die aber in relativ größeren Mengen in Nicht-Sektoren vorkommen, an die roten Blutkörperchen z u r ü c k z u f ü h r e n ist (SNEATH andSNEATH 1955, MARCUS andCASs 1969). Tabelle 7.2. Sechs hinsichtlich der Erythrozyten- und Sekretreaktion mit Anti-A, Anti-B, Anti-H, Anti-Le a und Anti-Le b unterschiedene Phänotypen (WATKINS 1966) Genkombination
H-Ort 1. H H oder Hh 2. H H oder Hh 3. H H oder Hh 4. H H oder Hh 5. hh
6. hh
auf den roten Blutin Sekreten körperchen feststellbare nachgewiesene Eigenschaft Eigenschaften
SE-Ort
Le-Ort
ABH
SeSe oder Sese sese
LeLe oder LeLe LeLe oder Lele lele
lele
SeSe oder Sese sese SeSe oder Sese sese (5. und 6.
Le»
ABH
+++ —
++
++ + +
+++
+++
—
+++
-
+++
-
LeLe oder Lele — lele „Bombay-Typen")
Le*
+++ —
—
+++
Le*
+++
Le b
+ -
—
—
—
—
—
—
—
—
+++ —
—
—
—
—
Starke spezifische Aktivität + + + ; schwache spezifische Aktivität - f ; keine Aktivität —.
188
Tabelle 7.3. Genetische Kontrolle der Biosynthese der die Blutgruppenmerkmale A, B, H, Le a und Le b bedingten Strukturen (MORGAN and WATKINS 1 9 6 9 ) . Abkürzungen wie in Abbildung 7.2. Die Ziffern in Klammern beziehen sich auf zwei verschiedene LFucosyltransferasen, die im Text erwähnt werden (S. 190) Gen
H
Genprodukt (Enzym)
a-L-Fucosyltransferase (1)
Kettenende der Vorstufe
Struktur
Typ 1 Typ 2
ß-Gal-(l ß-Gal-(l
Typ i
ß-Gal-(l 11,2 a-Fuc ß-GaI-(l 11,2 a-Fuc
Typ 2
Le
a-L-Fucosyltransferase (2)
Typ 1 Typ 2
H und a-L-FucosyltransLe ferasen(1)u. (2)
Typ i Typ 2
serologische Spezifität - 3)-GNAc- 4)-GNAc-
Typ
3)-GNAc—
H
4)-GNAc—
H
ß-Gal-(l -> 3)-GNAc— t 1,4 a-Fuc ß-Gal-(l - » 4)-GNAc— ß-Gal-(l 3)-GNAc— t 1,2 t 1,4 a-Fuc a-Fuc ß-Gal-(l - * 4)-GNAc— t 1,2 a-Fuc
XIV
Le» Typ
XIV
Le b H
H und a-L-Fucosyltrans- Typ 1 a-GalNAc-(l->3)-ß-Gal-(l->3)-GNAc— A A ferase (1) und 11,2 a-N-Azetylgalaktosa-Fuc aminyltransferase Typ 2 a-Gal-(l -> 3)-ß-Gal-(l -> 4)-GNAcA t 1,2 a-Fuc H und a-L-FucosyltransTyp 1 a-Gal-(l-*3)-ß-Gal-(l->-3)-GNAc— B B ferase (1) und a-Df 1,2 Galaktosyltransferase a-Fuc Typ 2 a-Gal-(l ->• 3)-ß-Gal-(l 4)-GNAc— B 11,2
a-Fuc
189
7.4.
Die Biosynthese der gruppenspezifischen
Glykoproteine
Nach dem Verhalten der Erythrozyten und der Sekrete mit den fünf spezifischen Antikörpern, Anti-A, Anti-B, Anti-H, Anti-Le a und Anti-Le b , lassen sich sechs Phänotypen (Tab. 7.2.) unterscheiden. Der vierte Typ in Tab. 7.2. interessiert besonders, weil die Sekrete mit keinem der Antikörper reagieren, obwohl die roten Blutkörperchen die Standardreaktionen mit Anti-A, Anti-B und Anti-H entsprechend dem Genotyp der Individuen zeigen. Solche Personen kommen zu etwa 2% in der europäischen Bevölkerung vor, sie sind homozygot für die „inaktiven" Allele sowohl im Sekretorals auch am Lewis-Locus, d. h. sie besitzen den Genotyp se se, le le. Ihre Sekrete enthalten jedoch noch Glykoproteine, die als Vorstufen der gruppenspezifischen Substanzen ohne die gruppenspezifischen Endgruppen an den Kohlenhydratketten angesehen werden können ( W A T K I N S 1966). Sie besitzen offenbar mindestens zwei verschiedene Kohlenhydratketten ( R E G E et al. 1964a), die gemeinsam am Polypeptidgerüst sitzen können ( L L O Y D et al. 1966, 1968). Beide Ketten haben wahrscheinlich einen terminalen Galaktoserest (Tab. 7.3.), der in ß-1,3-Bindung bei der einen Kette (Typ 1) und ß-l,4-Bindung bei der anderen (Typ 2) mit N-Azetylglukosamin verknüpft ist. Diese Substanz reagiert mit Antiseren gegen Pneumococcen vom Typ X I V ; was sich auf die Endgruppe der Kette vom Typ 2 zurückführen läßt. Wahrscheinlich beteiligen sich viele Genorte an der Biosynthese dieser Vorstufen, indem sie an der Synthese der Kohlenhydratketten beteiligte Enzyme determinieren. Zweifellos bestimmt außerdem mindestens ein weiterer Locus die Aminosäuresequenz des Polypeptidgerüstes, an dem die Kohlenhydratketten hängen. Es ist jedoch nichts über diese Loci bekannt, da wir bisher keine individuellen genetischen Unterschiede in den Vorstufen kennen. Die Tab. 7.3. ( M O R G A N and W A T K I N S 1969) faßt das Gesagte noch einmal zusammen. Man nimmt für Personen mit dem Le-Allel die Synthese einer spezifischen a-Fucosyltransferase an, die eine L-Fucoseeinheit im C-4-Atom des subterminalen N-Azetylglukosamin in Ketten vom Typ 2 der Vorstufen anfügen. 2 Ketten vom Typ 2 bleiben unverändert, weil in der entsprechenden N-Azetylglukosamin-Einheit das C-4-Atom bereits substituiert ist. Befindet sich ein H-Allel am H-Locus und ein Se-Allel am Sekretor-Locus, dann tritt eine andere Fucosyltransferase in Aktion, die einen L-Fucoserest an das C-2-Atom der terminalen Galaktose bei Typ 1 oder Typ 2 anfügt. Das ist Voraussetzung für die Wirksamkeit der vermutlich von den Aund B-Allelen des ABO-Locus determinierten spezifischen Transferasen. Die A-Transferase fügt an das Kohlenstoffatom 3 der terminalen Galaktose der H-Substanz eine N-Azetylgalaktosamin-Einheit in a-Bindung an; die B-Transferase eine D-Galaktose. Die anderen Allele der jeweiligen ver190
schiedenen Loci, wie zum Beispiel das h-Allel am H-Locus, das le-Allel am Lewis-Locus und das 0-Allel am ABO-Locus sind biochemisch unwirksam, da sie nicht die Bildung der geeigneten Transferasen bedingen. Die umfassenden serologischen, genetischen und biochemischen Untersuchungen konnten die Entstehung der Gruppeneigenschaften dieser komplizierten Glykoproteine aus der Wirkung einer Reihe von Glykosyltransferasen, die von verschiedenen Loci determiniert werden, erklären. Interessanterweise hebt ein bestimmtes Enzym im Verlauf der Biosynthese der Glykoproteine durch Bindung eines geeigneten Zuckerrestes an die Oligosaccharidkette die vorhandene Eigenschaft auf, während es eine A-Substanz A
B
-Enzym
N~A
B~ Enzym
zetylgalaktosamin + H-Substanz
Le -Substanz
Oaiaktose
+
H-Substanz
H-Enzym
H-Enzyme
Le
-Substanz
+ TypHZ reaktive Substanz
*Fucose
-Enzym Typ IE reaktive
Substanz
Abb. 7.5. Veränderung der Blut-Gruppeneigenschaften durch schrittweisen Abbau der A- und B-determinativen Substanzen (WATKINS 1966).
neue bewirkt. Zum Beispiel entsteht durch Bindung des N-Azetylgalaktoseamins an die H-reaktive Struktur A-Reaktivität bei Verlust der H-Eigenschaft. Die sukzessive Bildung der verschiedenen Gruppeneigenschaften kann experimentell durch den stufenweisen enzymatischen Abbau der Glykoproteine umgekehrt werden. Bei Einwirkung verschiedener Enzyme auf A- oder B-Substanzen lassen sich die charakteristischen Zucker abspalten und damit die A-, B-, H- und Le-Eigenschaften aufheben (Abb. 7.5. WATK I N S 1966). Die sogenannten ,,A"- und ,,B"-zerstörenden Enzyme führen unter Verlust der A- und B-Reaktivität zur H-Eigenschaft, die wiederum durch „H"-zerstörende Enzyme verloren geht, indem Le a -Eigenschaft und auch Reaktivität auf Pneumococcen vom Typ X I V erscheint. Schließlich beseitigt ein Le-zerstörendes Enzym auch die Le a -Reaktivität und 191
verstärkt die auf Pneumococcen vom Typ XIV. Als Ergebnis entsteht letztendlich das sogenannte ,,precursor"-Protein. Der ABO- und der H-Locus spielen wahrscheinlich bei der Biosynthese der alkohollöslichen gruppenspezifischen Glykolipide des Erythrozyten eine ähnliche Rolle wie bei der Biosynthese der wasserlöslichen Glykoproteine der Sekrete. Jedoch scheinen die Lewis- und Sekretor-Loci bei der Biosynthese der relevanten Glykolipide keine Rolle zu spielen. Die Ursache dafür ist bisher noch unklar, sie ergibt sich vielleicht später aus der Strukturanalyse dieser Stoffe. Eine Reihe anderer Genorte (Rh, MNS, Xg usw.) mit verschiedenen Allelen determinieren andere Antigene der roten Blutkörperchen, die ebenfalls mit serologischen Methoden identifiziert worden sind ( R A C E and S Ä N G E R 1968). Die Art der betreffenden Substanzen bzw. ihre Struktur konnten jedoch noch nicht aufgeklärt werden. Möglicherweise bestehen Ähnlichkeiten zum klassischen ABO-System.
192
KAPITEL 8 Die Enzym- bzw. Proteinvariabilität in menschlichen Populationen
8.1.
Häufige und seltene
Varianten
Die Aminosäuresequenz der Polypeptidketten verschiedener Enzyme und anderer Proteine im menschlichen Organismus wird jeweils von einem bestimmten Genort codiert. Demnach muß es eine große Anzahl sogenannter Strukturgene geben. Außerdem können — bedingt durch Mutationen — an jedem Genort verschiedene Allele existieren, die jeweils eine spezifische Strukturvariante der entsprechenden Polypeptidkette determinieren. Der Grad der Variabilität innerhalb einer Population hängt also von der Anzahl der verschiedenen Allele an den einzelnen Genorten und deren relativer Häufigkeit ab. Tatsächlich haben systematische Untersuchungen von Enzymen bzw. Proteinen in verschiedenen Populationen zur Entdeckung von vielen genetisch determinierten Strukturvarianten geführt. Viele der entsprechenden Allele sind selten. Bei einigen ermöglicht jedoch eine höhere Frequenz, eine Population in zwei oder mehr hinsichtlich bestimmter Enzym- bzw. Proteinvarianten relativ häufige Typen einzuteilen. Welche Schlußfolgerungen ergeben sich nun aus einem solchen Polymorphismus hinsichtlich der Verbreitung der einzelnen Varianten und der sie bedingenden Faktoren? Dieses Problem soll an einigen gut untersuchten Beispielen besprochen werden. 8.1.1. Hämoglobin Hämoglobin A stellt den Hauptanteil des Proteins normaler roter Blutkörperchen dar. Es ist gründlicher untersucht worden als irgendein anderes menschliches Protein. Das Tetramer besteht aus je zwei unterschiedlichen Polypeptidketten (a und ß). Die a-Kette mit einer Sequenz von 141 Aminosäuren wird wahrscheinlich von einem Gen mit einer DNA-Sequenz von mindestens 423 Basen, die ß-Kette mit 146 Aminosäuren von einer DNASequenz von 438 Basen codiert. Beide Loci zeigen keine enge Koppelung. Umfangreiche Untersuchungen von Patienten mit hämatologischen Krankheiten und zufällig ausgewählter Personen verschiedener Populationen führten zur Entdeckung zahlreicher erblicher HbA-Varianten, die meistens auch strukturell aufgeklärt worden sind. Die Mehrzahl dieser Varianten weicht nur in einer einzigen Aminosäure in den a- oder den ß-Polypeptidketten von der normalen Sequenz ab. Die zugrunde liegende Mutation besteht dabei wahrscheinlich im Austausch nur einer Base gegen eine 13
Harris
193
andere (S. 16ff.), seltener fehlt der aberranten Polypeptidkette eine Aminosäure oder mehrere aufeinanderfolgende Aminosäuren durch Verlust entsprechender DNA-Sequenzen im Allel (S. 86). Es gibt auch Varianten (z. B . Hb Lepore) mit einer umfassenderen Veränderung der DNA-Struktur, von der zwei benachbarte Gene betroffen sind (S. 81 f.). Einige solcher Hämoglobinvarianten verursachen auch bei Heterozygotie sehr heftige hämatologische Störungen. Viele führen aber zu relativ kleinen Defekten und sind deshalb noch nicht erkannt bzw. untersucht und statistisch erfaßt worden. Trotz der umfassenden Suche nach Hämoglobinvarianten konnte letztlich nur ein winziger Bruchteil der Weltbevölkerung untersucht werden. Außerdem erfassen die verwendeten elektrophoretischen Methoden nur etwa ein Drittel aller möglichen Varianten. So dürften die bereits identifizierten Varianten doch nur einen kleinen Teil aller tatsächlich auftretenden darstellen. Mit weiteren Entdeckungen auf diesem Gebiet ist sicher in nächster Zeit noch zu rechnen. Es existieren also beim Menschen sowohl am a- als auch am ß-Genort eine große Anzahl verschiedener durch Mutationen entstandener Allele. Sie unterscheiden sich untereinander sehr stark in der relativen Häufigkeit ihres Vorkommens, so daß sich diesbezüglich zwei Hauptgruppen erkennen lassen. Die eine, sehr kleine Gruppe besteht aus Allelen mit einer relativ hohen Frequenz in verschiedenen Populationen (Abb. 8.1.), wie z. B. das Allel für
Abb. 8.1. Verbreitung der häufigsten Hämoglobin-Anomalien (nach LEHMANN e t al. 1 9 6 6 ) .
194
H b S (oder Sichelzellhämoglobin) im ß-Locus, das besonders im tropischen Afrika vorkommt und in bestimmten Regionen eine Frequenz von 20% oder mehr erreicht; das Allel für H b C mit einer Verbreitung besonders in Westafrika; das Allel für H b E in Süd-Ost-Asien und das Allel für H b D Punjab mit einer erkennbaren Häufung in bestimmten Populationen Indiens (ausführlicher siehe L I V I N G S T O N E 1967). I n jeder dieser Populationen existiert also neben dem sogenannten Wildtypallel am ß-Genort mindestens ein relativ häufiges Allel für eine Strukturvariante der ß-Polypeptidkette, woraus ein genetisch bedingter Protein-Polymorphismus resultiert. Die zweite Gruppe umfaßt äußerst seltene Hämoglobinvarianten. Sie treten zufällig in verschiedenen Populationen bzw. nur bei Einzelpersonen oder innerhalb einer einzigen Familie auf. Eine Vorstellung von der Verbreitung dieser seltenen Allele vermitteln Untersuchungen aus England und Dänemark ( H U N T S M A N et al. 1 9 0 3 , L I D D E I A et al. 1 9 6 4 , S I C K et al. 1 9 6 7 und L E H M A N N , persönliche Mitteilungen). Eine große Anzahl im wesentlichen zufällig ausgewählter und nicht verwandter Personen wurde auf elektrophoretische Varianten hin geprüft. Insgesamt fand man unter fast Tabelle 8.1. Seltene elektrophoretisch ermittelte Hämoglobinvarianten in englischen und dänischen Populationen (Angaben von HUNTSMAN et al. 1963, LIDDELL et al. 1964, SICK e t al. 1967 u n d LEHMANN, p e r s ö n l i c h e M i t t . 1969)
Betroffene Polypeptidkette
« Asp tx 47 Asp -> His ß 16 Gly Asp ß 43 Glu -» Ala ß 47 Asp -»Asn ß 69 Gly -> Asp ß 6 Glu -> Lys ß 26 Glu -> Lys ß 121 Glu Gin Heterozygote insgesamt
Anzahl der Heterozygoten in der Stichprobe 2 1 1 2 1 1 2 1 1 2 14
Gesamtzahl der untersuchten Individuen: 10791 14 1 Anteil der Heterozygoten = = 10971 784 Anzahl verschiedener Varianten = 1 0 2 oder 1 d. h. < 0,0001 Genfrequenz = Jjeweilige 6 H 21942 21942, 13*
195
11000 untersuchten Individuen 14 Heterozygote für Struktur Varianten der a- oder ß-Kette, von denen 4 Varianten zweimal und 6 nur einmal auftraten (Tab. 8.1.). Die Frequenz jedes dieser verschiedenen Allele lag mehrere Größenordnungen unter der des Sichelzellallels in Afrika oder des HbE-Allels in Süd-OstAsien. Allele für seltene Hämoglobinvarianten dürften in den meisten menschlichen Populationen vorkommen. Obwohl jede Variante äußerst selten ist, sind nach LEHMANN und Mitarb. mehr als 1 von 1000 Individuen in Europa heterozygot für eine elektrophoretische Variante von HbA. Da wir mit elektrophoretischen Methoden schätzungsweise nur etwa ein Drittel der tatsächlich vorkommenden auf Aminosäuresubstitutionen zurückzuführende Strukturvarianten erfassen, können wir annehmen, daß in Nordeuropa etwa jeder Dreihundertste heterozygot für eine HbA-Variante ist. Die hohe Frequenz bestimmter Allele in manchen Regionen wird allgemein auf einen Vorteil entsprechender Heterozygoter gegenüber normalen Homozygoten unter speziellen Umweltbedingungen in diesen Gebieten erklärt. Die primäre aus Mutations- und Selektionsvorgängen resultierende Aminosäuresequenz eines Proteins wie Hämoglobin stellt das Optimum für die Spezies dar. Mutierte Allele, die eine veränderte Proteinstruktur bedingen, bringen ihrem Träger meistens keinerlei biologischen Vorteil, und viele wirken sich sogar nachteilig aus. Ganz selten aber führt eine Mutation zu einem Selektionsvorteil. Ihre Träger haben dann unter bestimmten Umweltbedingungen im Durchschnitt mehr Nachkommen als normale Homozygote. Ein solches Allel wird in nachfolgenden Generationen eine steigende Frequenz erreichen. Wenn also Heterozygote einen spezifischen Vorteil gegenüber den beiden Typen von Homozygoten haben, tritt schließlich ein Gleichgewicht ein, bei dem der relative Zuwachs des Allels durch den Heterozygotenvorteil durch die geringere effektive Fruchtbarkeit der Homozygoten ausgeglichen wird (balancierter Polymorphismus). Der Sichelzellpolymorphismus in Afrika ist ein Beispiel dafür (ALLISON 1954, 1964). Homozygote mit Sichelzellanämie versterben früh und erreichen selten das fortpflanzungsfähige Alter. Damit werden solche Allele aus der Population eliminiert. Trotzdem ist das Sichelzellallel bei vielen afrikanischen Völkern sehr häufig. Da eine außergewöhnlich hohe Mutationsrate ausgeschlossen ist (VANDEPITTE et al. 1955), kann die beachtliche Frequenz des Allels angesichts des starken Selektionsdruckes gegen die Homozygoten nur durch einen Vorteil der Heterozygoten gegenüber Normalpersonen erklärt werden. Ein solcher Selektionsvorteil für Heterozygote in Afrika besteht wahrscheinlich in Gebieten mit hoher Malaria-Morbidität und -Mortalität auf Grund einer größeren Widerstandsfähigkeit gegenüber Plasmodium falciparum. Tab. 8.2. faßt Angaben über den Anteil von Sichelzellheterozygoten an 196
Tabelle 8.2. Incidenz des Sichelzellmerkmals bei an Malaria verstorbenen afrikanischen Kindern (ALLISON 1 9 6 4 )
Ort
Tod durch Malaria
Sichelzellheterozygote
erwarteter Incidenz des Sichelzell- Anteil an SichelzellAllels in der Population heterozygoten
Literatur
Uganda (Kampala)
16
0
0,16
2,6
Kongo (Leopoldville)
23
0
0,235
5,4
Kongo (Luluaborg)
23
1
0,25
5,7
VANDEPITTE ( 1 9 5 9 )
Ghana (Accra)
13
0
0,18
2,3
EDINGTON a n d
Nigeria (Abadan)
29
RAPER ( 1 9 5 6 )
LAMBOTTE-LEGRAND
J. and C. (1958)
WATSON-WILLIAMS
(1964) 0
0,24
7,0
EDINGTON a n d WATSON-WILLIAMS
(1964) zusammen
104
1
23,0
an Malaria verstorbenen Kindern in verschiedenen Regionen zusammen. Unter den 104 Todesfällen befand sich nur ein Sichelzellheterozygoter gegenüber 23 nach der Bevölkerungszusammensetzung zu erwartenden. Angaben über die Krankheitshäufigkeit weisen in dieselbe Richtung. Tab. 8.3. zeigt die Ergebnisse einer Untersuchung in einem Kinderhospital in Kampala (Uganda) ( R A P E K 1956). Es fehlen vollkommen Sichelzellheterozygote unter den mit cerebraler Malaria eingelieferten Patienten. Bei Kranken mit komplikationslos bestehender Malaria ließ sich jedoch kaum ein verminderter Anteil solcher Heterozygoten erkennen. Entsprechende Angaben liegen auch aus anderen Gebieten vor. Sie sprechen dafür, daß Sichelzellheterozygote bedeutend weniger zur Entwicklung einer cerebralen Malaria neigen. Andere Beweise für eine erhöhte Resistenz der Heterozygoten, besonders in der Kindheit, stammen aus hämatologischen Vergleichsuntersuchungen zwischen Homo- und Heterozygoten in Gebieten mit endemischer Malaria (Übersicht siehe bei A L L I S O N 1964). Allgemein erreicht das Sichelzellallel nur in Populationen aus Gebieten mit endemischer Malaria eine auffällige Häufigkeit. Plasmodium fakiparum gedeiht offensichtlich in Heterozygo197
Tabelle 8.3. Vorkommen des Sichelzellmerkmals bei 818 Neuaufnahmen in eine Kinderstation im Kampala (31 Patienten mit Sichelzellanämie, die in diesem Zeitraum aufgenommen wurden, sind nicht inbegriffen) (nach RAPER 1956) Krankheitsfälle
insgesamt
darunter Kinder mit Sichelzellmerkmal
verschiedene Pneumonie Infektionen des oberen Respirationstraktes Diarrhoe und Erbrechen Poliomyelitis Tuberkulose Meningitis Unterernährung Haken wurm-Anämie Typhus Malaria (a) ohne Komplikationen (b) cerebral (c) Schwarzwasserfieber
186 118 59
25 18 13
0,13 0,15 0,22
106 26 37 26 77 30 17
25 4 8 5 11 2 6
0,24 0,15 0,22 0,19 0,14 0,07 0,35
83 47 6
13 —
0,16 0,00 0,00
Zusammen
818
130
0,16
—
Incidenz des Sichelzellmerkmals
Tabelle 8.4. Bevölkerungsmodell für einen balancierten Polymorphismus bei HeterozygotenVorteil (PENROSE 1954, 1963) Genotypen
AA Aa aa alle Typen 1 198
relative Häufigkeit bei den Zygoten (Genotypen der Zygoten)
relative Fitness
relative Häufigkeit unter den Eltern (Genotypen der Eltern)
(i)
(H)
(iii)
P2 2pq q2
1 -w 1 + k/pq 1 -W
p(l - k/p») 2pq(l + k/pq) q(l - k/q 2 ) 1
—
= (i) X (ii)
Beispiel bei Annahme von p = 0,9, q = 0,1 und Letalität für Genotyp aa
(i)
(ii)
(iii)
81 18 1 100
0,988 1,111 0,000
80 20 0 100
—
ten mit einem Gemisch von Hb A und Hb S in den Erythrozyten weniger gut als in Personen mit ausschließlich Hb A. Die daraus resultierende unterschiedliche Empfindlichkeit gegenüber Malaria macht sich im Kindesalter am deutlichsten bemerkbar. Später verwischt sich der Unterschied infolge der erworbenen Immunität. Die genauen biochemischen Ursachen für diese unterschiedlichen Reaktionen sind noch unklar. Es bereitet auch große Schwierigkeiten, den Selektionsvorteil der Sichelzellheterozygoten in einer Population quantitativ zu bestimmen. Man kann lediglich einige theoretische Berechnungen anstellen. Ein einfaches Modell (PENROSE 1954, 1963) für eine Population mit balanciertem Polymorphismus zeigt Tab. 8.4. Danach müssen Heterozygote (Aa) einen Selektionsvorteil von 11% gegenüber normalen Homozygoten (AA) besitzen, wenn die Genfrequenz in der Population 0,1 beträgt und das Allel homozygot (aa) letal wirkt. Unter dieser Voraussetzung sind 20% der Erwachsenen der Population heterozygot. Nach diesem Modell könnten größenordnungsmäßig die beobachteten Unterschiede in der Morbidität und Mortalität der Malaria zwischen Homo- und Heterozygoten in verschiedenen Teilen Afrikas eine Selektionswirkung ausgleichen. Der Polymorphismus anderer Hämoglobinvarianten, wie Hb C in Westafrika und Hb E in Südostasien, ist ebenfalls auf einen Selektionsvorteil der Heterozygoten im Zusammenhang mit der Malaria zurückgeführt worden. Obwohl die typische geographische Verteilung sehr dafür spricht, gibt es bisher nur wenige direkte Beweise für diese Hypothese. Dasselbe gilt für den Thalassämie-Polymorphismus. Die drei Genotypen AA, Aa und aa unterscheiden sich in ihrer relativen Fitness, das heißt ihren Chancen, Kinder zu haben. Die Frequenz p und q der beiden Allele A und a bleibt jedoch bei Panmixie von einer Generation zur nächsten gleich. Das Modell gibt die relative Fitness von Individuen der Genotypen AA und Aa an, die für einen balancierten Polymorphismus bei p = 0,9 und q = 0,1 vorausgesetzt werden müßte, wenn die Homozygoten aa alle im Kindesalter sterben (d. h. Fitness = 0). Heterozygotenfrequenz in der Elterngeneration ist 20%. In Italien (BIANCO et al. 1952) erreicht z. B. das ß-Thalassämie-Allel eine relativ hohe Frequenz (0,05—0,10), besonders im Gebiet von Ferrara, auf Sardinien und im Süden, in Landesteilen also mit einer hohen Malaria-Mortalität bis zur jüngsten Vergangenheit bzw. noch heute. Ähnliche Zusammenhänge zwischen der Verbreitung von Thalassämie und Malaria lassen sich auch in anderen Regionen erkennen. Dabei stellt die COOLEY-Anämie oder Thalassämia major bei Homozygotie dieser Allele im allgemeinen ein sehr schweres Krankheitsbild dar, das die Lebenserwartung der Patienten stark verringert. Um die große Häufigkeit dieser Allele in manchen Gebieten zu erklären, muß man einen Selektionsvorteil der Heterozygoten annehmen. 199
8.1.2.
Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase
(G-6-PD)
Etwa sechzig Varianten der G-6-PD sind bisher bekannt (S. 115ff.). Sie unterscheiden sich voneinander in verschiedenen Eigenschaften wie elektrophoretische Beweglichkeit, Michaeliskonstante, Thermostabilität und pH-Optimum. Wahrscheinlich lassen sich die meisten oder alle als durch eine einzige Aminosäuresubstitution im Protein entstanden denken, ähnlich wie die verschiedenen Hämoglobine. Ihnen liegen multiple Allele eines X-chromosomalen Locus zugrunde. Incidenz und Verbreitung dieser Allele in verschiedenen Populationen ähneln in vieler Hinsicht denen der besprochenen Hämoglobinallele. Die meisten sind offenbar sehr selten. Einige erreichen jedoch in bestimmten Populationen eine beachtliche Frequenz, so daß man wieder von charakteristischem Polymorphismus sprechen kann. Zum Beispiel treten neben dem Wildtypallel Gd B die zwei Allele Gd A_ und Gd A bei vielen afrikanischen Völkern mit Genfrequenzen um 0,2 auf, obwohl sie ansonsten selten sind oder ganz fehlen. Die von Gd A _ determinierte Proteinvariante bedingt die bekannte negroide Form des G-6-PD-Defektes, die zur Überempfindlichkeit gegenüber Primachin und anderen Medikamenten führt. Abgesehen von dieser Drogenidiosynkrasie sind entsprechende Personen jedoch völlig gesund. Die andere vom Allel Gd A determinierte Variante verursacht lediglich eine geringe und harmlose Senkung des Enzymspiegels. Bei vielen Völkern Südeuropas und des Vorderen Orients kommt eine andere Art des G-6-PD-Polymorphismus mit dem Allel Gd M c d i t e r r a n vor. Der entsprechende G-6-PD-Defekt bewirkt klinisch eine als Fabismus bekannte hämolytische Anämie, die bei Genuß von Saubohnen (Vicia faba), einem wichtigen Nahrungsmittel in diesen Gebieten, eintritt. Es gibt offensichtlich noch weitere G-6-PD-Allele mit regional begrenzter hoher Frequenz, wie zum Beispiel Gd K a n t o n in Südostasien und Gd A t h e n in Griechenland, deren allgemeine Verbreitung jedoch noch nicht im Detail bekannt ist. Da Populationen mit einer hohen Frequenz einer der G-6-PD-Varianten ebenfalls aus Gebieten mit hoher Malaria-Mortalität kommen, hat man (MOTULSKY 1964) auch hier, wie beim Sichelzellallel des ß-Locus Malaria als selektiven Faktor bei der Verbreitung bestimmter G-6-PDAllele (z. B . Gd A - bei Negern und Gd M e d l t e r r a n in Südeuropa und im Vorderen Orient) vermutet. Plasmodium, wäre dann in den Erythrozyten mit einem G-6-PD-Defekt weniger vital. Es gibt einiges, obwohl bisher nicht sehr umfangreiches Untersuchungsmaterial ( G I L L E S et al. 1967, LUZZATTO et al. 1969), das tatsächlich dafür spricht. Andererseits zeigt das GdAAllel in Afrika eine gleiche Verbreitung wie das Gd A_ -Allel und ist ansonsten ebenfalls selten oder fehlt, obwohl es nicht wie dieses den Stoffwechsel der roten Blutkörperchen beeinträchtigt.
200
8.1.3.
Die
Haptoglobinvarianten
Die verschiedenen Haptoglobinvarianten (Kapitel 3, S. 69—77) liefern ein weiteres Beispiel für einen gut untersuchten Proteinpolymorphismus. Die meisten beobachteten Varianten beruhen auf Allelen des a-Genortes. Im Gegensatz zu den Hämoglobin- und G-6-PD-Varianten gibt es hier mindestens drei allgemein verbreitete Allele: H p l s , Hp 1 F und Hp 2 ( K I E K 1 9 6 8 ) . In Europa und Afrika treten alle drei mit unterschiedlicher Häufigkeit auf. In Asien erreichen H p l s und Hp 2 weite Verbreitung, während Hp 1 F selten sein kann ( S H I M and B E A R N 1 9 6 4 ) . Wie beim Hämoglobin und G-6-PD sind noch eine Anzahl sehr seltener Allele beider HaptoglobinLoci nachgewiesen worden. Bei den Haptoglobinen ist es möglich, aus den Strukturunterschieden der Polypeptide Aussagen über die Entstehung der Allele zu machen lr ls ( S M I T H I E S et al. 1962b). Die von H p u n d H p determinierten Polypeptide bestehen jeweils aus 83 Aminosäuren und unterscheiden sich nur in einer einzigen davon ( B L A C K and D I X O N 1968). Das vom Hp 2 -Allel determi-
nierte a-Polypeptid ist fast doppelt so lang (142 Aminosäuren) und scheint eine Fusion der hp-l-Fa- und der hp-1-Sa-Polypeptide unter Verlust von 24 Aminosäuren am Ort der Verschmelzung darzustellen. Die Entstehung 201
läßt sich als Chromosomenmutation bei einem Heterozygoten für Hp l F und Hp l s deuten. Das neue Allel entstand damit offenbar in einer Population, die bereits polymorph für diese Allele war. Die eigenartige Struktur des Polypeptids erlaubt eine charakteristische Polymerisation des Haptoglobinmoleküls, die leicht durch Stärkegelelektrophorese nachweisbar ist und bei Haptoglobinen anderer Spezies einschließlich höherer Affen ( P A R K E R and B E A R N 1 9 6 1 ) nicht auftritt. Wahrscheinlich hat diese Mutation in der Phylogenese erst nach der Abzweigung der menschlichen Linie stattgefunden. Trotzdem ist das Allel in der gesamten Spezies verbreitet und stellt das häufigste der drei Allele in den meisten Populationen dar (Abb. 8.2.). Hier liegt also offensichtlich eine evolutionäre Veränderung eines spezifischen Proteins vor, aus der man einen Selektionsvorteil der neuen Struktur schlußfolgern könnte. Worin dieser allerdings liegen soll, läßt sich auf Grund der bisher bekannten Unterschiede in den Eigenschaften der Haptoglobinvarianten noch nicht sagen, insbesondere weil über die normale physiologische Funktion des Haptoglobins im Organismus noch große Unklarheiten bestehen. Haptoglobin bindet fest und spezifisch freies Hämoglobin, eine Reaktion, die von Bedeutung für die Erhaltung
Hb - Bindungskapazität
(mg/100ml)
Abb. 8.3. Hämoglobinbindungskapazität in Seren der Haptoglobintypen Hp 1 — 1, Hp 2—1 und Hp 2 - 2 (nach Werten von NYMAX 1959), m = Mittelwert, SA = Standardabweichung.
202
von Eisen im Körper sein könnte. Der Haptoglobingehalt des Serums, gemessen an der Hämoglobinbindungskapazität, bewegt sich bei den drei Typen Hp 1—1, Hp 2— 1 und Hp 2—2 ungefähr in einem Verhältnis 135:110:85
(NYMAN
1959),
wobei
allerdings
große
Überschneidungen
bestehen (Abb. 8.3.). Weiterhin spielt wahrscheinlich der HaptoglobinHämoglobinkomplex eine Rolle als Substrat für das Leberenzym a-Methenyloxygenase, das an der Gallenfarbstoffbildung beteiligt sein soll (NAKAJIMA e t
al.
1963). D e r
H p 2—2-Haptoglobintyp
erweist
sich in
dieser
Hinsicht als etwas wirkungsvoller als Hp 2—1 oder Hp 1 — 1 (NAKAJIMA 1963). Es gibt aber noch keinen Anhaltspunkt für irgendwelche sich daraus ergebende Auswirkungen auf den Stoffwechsel von Personen mit verschiedenen Haptoglobintypen; sie erweisen sich alle als gleichermaßen gesund. Bestimmte bisher noch schlecht definierte Haptoglobinallele bedingen eine starke Verringerung bzw. völliges Fehlen des Serumhaptoglobins. Zumindest eines dieser Allele kommt in Negerpopulationen, und n u r d a , r e c h t h ä u f i g v o r (GIBLETT a n d STEINBERG 1 9 6 0 ) . P e r s o n e n
mit
einem solchen genetisch determinierten Haptoglobinmangel zeigen jedoch offensichtlich keine phänotypischen Merkmale, die von Selektionswert sein könnten. Man muß also annehmen, daß die Unterschiede zwischen den verschiedenen Haptoglobintypen im Hinblick auf den Selektionsvorteil sehr gering sind oder aus irgendeinem unbekannten Grund nur in der Vergangenheit wichtig waren und durch Veränderungen der Umwelt bedeutungslos geworden sind. 8.1.4.
Phosphoglucomutase
Drei nicht gekoppelte Loci liegen dem komplizierten Muster der Phosphoglucomutase-Isozyme menschlicher Gewebe zugrunde (Kapitel 2, S. 51). Die von verschiedenen Allelen determinierten elektrophoretischen Varianten zeigen unterschiedliche Incidenz und Verbreitung. Zwei Allele des PGMj-Locus bedingen einen die ganze Spezies umfassenden Polymorphismus. Bei Europäern liegt die Frequenz der beiden Allele PGMa1 und PGM22 bei etwa 0,76 bzw. 0,24. Eine ähnliche Frequenz besteht auch in anderen ethnischen Gruppen, einschließlich einiger afrikanischer und orientalischer Populationen, was auf eine bemerkenswerte Stabilität des Polymorphismus hinweist. Eine Anzahl anderer Allele dieses Locus sind alle sehr selten. Ein entsprechender Polymorphismus mit zwei Allelen des PGM3-LOCUS ist ebenfalls weit verbreitet, wobei auch hier die Incidenz in verschiedenen Völkern unterschiedlich ist. In Europa ist PGM3 1 nahezu dreimal so häufig wie PGM32, unter Afrikanern liegen die Verhältnisse gerade umgekehrt, indem PGM32 etwa doppelt so häufig ist wie PGM3 1 . Hinsichtlich des PGM2-Locus zeigt die Mehrzahl der Menschen denselben elektrophoretischen Phänotyp und ist offenbar homozygot für das Allel 203
PGMj 1 . Außerdem ist eine Anzahl anderer, sehr seltener elektrophoretiseher Varianten nachgewiesen worden; nur eine erreicht in vielen Negerpopulationen eine Frequenz von etwa 0,005. Diese Phosphoglucomutasevarianten wurden bei elektrophoretischen Reihenuntersuchungen entdeckt, die speziell auf Polymorphismen gerichtet waren. Die Träger der Phosphoglucomutasevarianten erwiesen sich in der Mehrzahl als normal und gesund. Für funktionelle Unterschiede zwischen den Enzymvarianten gab es keine Anhaltspunkte. Die Differenzen dürften also, wenn sie auftreten, äußerst klein u;nd von relativ geringer selektiver Bedeutung sein.
8.2.
Häufigkeit von Polymorphismen
8.2.1.
Populationsgenetik der Enzyme
Die oben besprochenen Beispiele vermitteln einen Eindruck von der Allelie verschiedener Genorte. An einigen Loci kann trotz multipler Allelie ein Allel als Wildtypallel mit großer Verbreitung angesehen werden, während die anderen äußerst selten auftreten. Andere Loci (z. B . ß-Hämoglobinlocus und G-6-PD-Locus) haben neben einem solchen Wildtypallel in einigen Populationen noch weitere Allele mit einer relativ hohen Frequenz, so daß es zu einem Polymorphismus kommt. Schließlich gibt es Loci (z. B . a-Haptoglobin-Locus, PGMj- und PGM 3 -Loci) mit einem ausgesprochen allgemeinen Polymorphismus. Zwei oder mehr Allele treten dabei in vielen verschiedenen Populationen relativ häufig auf. Dabei kann man keines davon als Wildtyp ansehen. E s entsteht die Frage, ob Polymorphismus ein Charakteristikum vieler Loci oder nur eine relativ seltene Erscheinung ist. Stellen also die Hämoglobin-, G-6-PD-, Haptoglobin- und Phosphoglucomutase-Polymorphismen besondere, vielleicht recht ungewöhnliche Ausnahmen dar, untypisch für Enzyme oder Proteine im allgemeinen, oder sind sie Beispiele einer Allgemeinerscheinung? Es wäre sicher sehr interessant zu wissen, wieviele der Proteine und Enzyme im menschlichen Organismus einen solchen Polymorphismus aufweisen. I m Prinzip sollte die genaue Untersuchung einer Reihe willkürlich ausgewählter Enzyme und Proteine bei auslesefrei ermittelten Personen aus mehreren verschiedenen Populationen ungefähr eine Antwort auf diese Frage ermöglichen. Die Ergebnisse einer solchen Erhebung (HARRIS 1966, 1969) faßt Tab. 8.5. zusammen. Die Stichproben erfaßten jeweils einige hundert bis einige tausend Personen, meist Europäer, aber auch kleinere Gruppen von Afrikanern. Die Auswahl der zu untersuchenden Enzyme richtete sich nach 204
dem erforderlichen Untersuchungsmaterial (Blut oder Placenta) und nach der Erfaßbarkeit mit elektrophoretischen Methoden. Die Enzyme Phosphohexoseisomerase, Malatdehydrogenase, Isocitratdehydrogenase, Hexokinase der Erythrozyten, Lactatdehydrogenase, Methämoglobinreductase, Pyrophosphatase der Erythrozyten, Pyruvatkinase, saure Phosphatase der Plazenta, Peptidasen B und C, NucleosidphosTabelle 8.5. Ergebnisse einer elektrophoretischen Untersuchung von zwanzig Enzymen in europäischen und Negerpopulationen. Nur häufige Allele (Frequenz 0,01) sind aufgeführt, seltene Allele wurden nicht berücksichtigt (Angaben vom R . R. C. Human Biochemical Genetics Unit, Galton Labortory, University College London) Enzyme
Saure Erythrozyten-Phosphatase Phosphoglucomutase Ort PGMX Ort PGM 3 Adenylatkinase Peptidase A Peptidase D (Prolidase) Adenosindesaminase
Neger
Europäer
Quellen
Allel
Allel
Allel
Allel
Allel
Allel
1
2
3
1
2
3
0,36
0,60
0,04
0,17
0,83
_
0,77 0,74
0,23 0,26
—
0,79 0,37
0,21 0,63
0,95 1,00 0,99
0,05
—
—
—
0,01
0,94
0,06
—
— —
HOPKINSON e t al. ( 1 9 6 4 )
SPENCER e t a l . ( 1 9 6 4 ) HOPKINSOÌT a n d HARRIS
—
—
—
1,00 0,90 0,95
0,10 0,03
0,02
(1968) F I L D E S a n d HARRIS ( 1 9 6 6 ) L E W I S a n d HARRIS ( 1 9 6 7 ) L E W I S a n d HARRIS ( 1 9 6 9 b )
—
0,97
0,03
—
SPENCER e t al. ( 1 9 6 8 )
—
phorylase, Triosephosphatisomerase und eine „Oxydase" der Erythrozyten zeigten elektrophoretisch keinen Polymorphismus, obwohl seltene Varianten identifiziert wurden. Für neu gefundene Varianten wurde in genealogischen Untersuchungen die genetische Grundlage ermittelt. Kommen zwei oder mehr Allele eines Locus in einer Population jeweils mit einer Frequenz von über 0,01 vor, so kommt es zu Polymorphismus. Von den 20 verschiedenen, mit unterschiedlicher Genauigkeit untersuchten Enzymen wiesen sieben einen derartigen Polymorphismus auf. Die jeweils festgestellte Allelenhäufigkeit gibt Tab. 8.5. wieder. Die auf diese Weise
205
zusammengestellten Enzyme können als repräsentativ angesehen werden. Danach besteht für fünf Enzyme Polymorphismus sowohl in den europäischen als auch in den afrikanischen Populationen, f ü r jeweils ein Enzym (Adenylatkinase bzw. Peptidase A) nur bei Europäern bzw. Afrikanern. Nach Untersuchungen anderer Enzyme ist es unwahrscheinlich, daß alle unterschiedlichen Polypeptide von mehr als 27 Loci bei der Untersuchung dieser 20 Enzyme elektrophoretisch erfaßt wurden. Fast ein Viertel der Enzyme ist also polymorph. Der Anteil liegt wahrscheinlich noch höher, da bei der Erhebung nur elektrophoretisch feststellbare Unterschiede erfaßt wurden. Außerdem ist die Trennschärfe dieser Technik nicht bei jedem Enzym gleich gut, so daß polymorphe Unterschiede eventuell noch übersehen worden sind. Die Anzahl der untersuchten Enzyme liegt zwar noch relativ niedrig, trotzdem läßt das Ergebnis auf häufiges Vorkommen von Polymorphismus schließen. Ähnliche Ergebnisse erbrachten analoge Untersuchungen an Populationen verschiedener Spezies v o n Droscvphila (HUBBY a n d LEWONTIN 1966, LEWONTIN a n d HUBBY 1 9 6 6 , JOHNSON e t a l . 1966, STONE e t a l . 1968). A u c h n a c h
Angaben von anderen Spezies kann Enzym- und Proteinpolymorphismus als Allgemeinerscheinung in vielen natürlich vorkommenden Tierpopulationen angesehen werden. Dafür sprechen auch die in den letzten Jahren zufällig im Rahmen anderer Untersuchungen aufgefundenen Polymorphismen. Insgesamt ließ sich bei fast dreißig verschiedenen menschlichen Enzymen und Proteinen Polymorphismus in einer oder mehreren größeren ethnischen Gruppen nachweisen (siehe Anhang 2, S. 247ff.). Dazu wurden neben Elektrophorese-Techniken auch andere Methoden benutzt. Bei einigen der Enzympolymorphismen unterscheiden sich die Varianten auch in der Enzymaktivität bzw. Proteinkonzentration, z. B. auffällig bei der G-6-PD (S. 115—123), der sauren Erythrozytenphosphatase (S. 127 bis 133) und der Serum-Cholinesterase (S. 105—110), aber auch bei der 6-Phosphogluconat-Dehydrogenase (PARR 1966) und dem OCJ-Antitrypsin (FAGERHOL 1969). Sehr wahrscheinlich werden viele andere Mutationen in ähnlicher Weise die Aktivität oder andere Eigenschaften der Enzyme bzw. Proteine beeinflussen, was sich auf den Stoffwechsel auswirken dürfte, wenn sie auch z. T. so unerheblich sind, daß ihr Nachweis ganz besondere Methoden erfordert oder noch gar nicht gelang. Viele der bisher bekannten Polymorphismen müssen diesbezüglich noch untersucht werden. Interessanterweise unterscheiden sich in einigen Fällen die polymorphen Varianten eines einzelnen Enzyms oder Proteins, bedingt durch die Strukturunterschiede, mehr rein qualitativ in ihrer biologischen Aktivität als quantitativ. Der ABO-Blutgruppenpolymorphismus bietet hierfür ein Beispiel (Kap. 7). Die A- und B-Allele determinieren Glykosyltransferaseenzyme mit qualitativ unterschiedlicher Substratspezifität, so daß letztlich verschiedene Antigene gebildet werden. Das A-Enzym transferiert 206
spezifisch N-Azetylgalaktosamin und das B-Enzym D-Galaktose an die entsprechende Oligosaccharidkette (s. S. 176ff.). 8.2.2.
Heterozygotie-Häufigkeit
Die Erscheinung von Enzym- bzw. Proteinpolymorphismen bedingt für einen großen Teil der Loci eines Individuums Heterozygotie. Eine grobe Schätzung des Anteils solcher Genorte mit zwei verschiedenen Allelen an der Gesamtzahl der Loci eines Individuums ermöglichen die in Tab. 8.5. zusammengestellten Daten über die Häufigkeit der Allele, die elektrophoretische Unterschiede bei einer Reihe von Enzymen in zwei verschiedenen Populationen — Europäern und Afrikanern — determinieren. Für jeden polymorphen Locus kann man den Anteil Heterozygoter in der Bevölkerung bestimmen. Diese Werte sind in Tab. 8.6. eingetragen. Aus dem weiter oben Gesagten geht bereits hervor, daß bei den Untersuchungen wahrscheinlich nicht alle tatsächlich existierenden Varianten erfaßt worden sind. Einen Schätzwert für Heterozygotie für Allele, die zu elektrophoretischen Unterschieden führen, erhält man, indem man die in Tab. 8.6. angegebenen Werte addiert und durch 27 teilt. Für die europäische Tabelle 8.6. Schätzungen der Heterozygoten pro Locus nach Untersuchung von 20 Enzymen bei Euroäpern und Afrikanern (Tab. 8.5). Es wurden nur Loci mit einer Heterozygotenhäufigkeit > 0,01 berücksichtigt. Vorkommen von Heterozygoten Europäer Afrikaner Saure Phosphatase der Erythrozyten Phosphoglucomutase Locus PGMi Locus PGM2 Adenylatkinase Peptidase A Peptidase D (Prolidase) Adenosindesaminase Durchschnittlicher Heterozygotenanteil (elektrophoretisch erfaßt) pro Locus bei einer Gesamtzahl von 27 Loci Durchschnittliche Heterozygotie pro Locus für alle Allele, die strukturelle Enzym- und Proteinvarianten determinieren (d. h. elektrophoretische Varianten x 3)
0,51
0,28
0,35 0,38 0,09
0,33 0,47 —
0,02 0,11
0,16 0,10 0,06
0,054
0,052
0,162
0,156
—
207
Bevölkerung ergibt sich dabei ein Durchschnittswert pro Locus von 0,054 und für Afrikaner von 0,052 Heterozygoter/Locus. Obwohl die Gesamtdurchschnittswerte für beide Bevölkerungsgruppen sehr ähnlich sind, differieren sie in einzelnen Loci erheblich. Da offensichtlich die meisten dieser elektrophoretischen Varianten auf einzelnen Aminosäuresubstitutionen im Enzymprotein beruhen, kann man nach dem, was über den genetischen Code und über die Aminosäurezusammensetzung von Proteinen bekannt ist, schlußfolgern, daß wahrscheinlich nur ein Drittel aller tatsächlich vorkommenden polymorphen Varianten erfaßt wurde, da Veränderungen der molekularen Ladung nicht unbedingt mit dem Phänomen des Enzympolymorphismus in Zusammenhang stehen müssen. Vermutlich liegt also der Anteil heterozygoter Loci an der Gesamtzahl noch etwa um das Dreifache höher als die Berechnungen auf Grund der elektrophoretischen Erhebungen ergeben, d. h. für Europäer bei 0,162 und für Afrikaner bei 0,156. Diese Feststellungen bedeuten, daß in jedem Individuum etwa 16% aller Loci für Enzym- und andere Proteinstrukturen heterozygot vorliegen. Zu ähnlichen Zahlen gelangt auch L E W O N T I N (1967) an Hand von Erhebungen über Blutgruppenantigene. Die Gesamtzahl der Strukturgene für Enzyme bzw. Proteine beim Menschen ist nicht bekannt. Sie liegt wahrscheinlich weit über 10000, eventuell sogar über 100000, wobei auch diese Zahl nur einige Prozent der nach dem DNA-Gehalt der Zellen geschätzten Gesamtanzahl der Gene darstellt. Nimmt man eine Mindestzahl von 50000 für die Strukturgene an und setzt den Anteil heterozygoter Loci mit 16% voraus, so ergeben sich pro Individuum ungefähr 8000 Loci mit zwei verschiedenen Allelen. Es existiert also eine erhebliche Verschiedenheit hinsichtlich der Enzyme bzw. Proteine in der menschlichen Population. Eine Vorstellung von deren Ausmaß erhält man bei Betrachtung einiger Enzym- und Proteinpolymorphismen in einer einzigen Population. Entsprechende Angaben von acht unter Europäern polymorphen Enzymen enthält Tab. 8.7. Da die einzelnen Phänotypen offenbar unabhängig voneinander vorkommen, muß die Anzahl von Typenkombinationen sehr groß sein. Bei Addition der in Spalte 3 der Tabelle angegebenen Zahlen ergibt sich für die häufigste Typenkombination eine Frequenz von nur etwa 1,8% in der Bevölkerung. Außerdem liegt nach Spalte 4 die Wahrscheinlichkeit für zwei willkürlich gewählte Individuen in der Population, die dieselbe Typenkombination aufweisen, nur ungefähr bei 1:200. Ein ganz hoher Grad der individuellen Verschiedenheit in der Enzym- bzw. Proteinzusammensetzung läßt sich also schon mit einer sehr begrenzten Serie von Beispielen nachweisen. Das kann aber nur ein Anhaltspunkt sein, der erkennen läßt, daß letzten Endes jedes Individuum seine eigene individuelle Enzym- bzw. Proteinstruktur besitzt. Von dieser Einmaligkeit des Individuums in seiner Enzym- und 208
Tabelle 8.7. Enzymindividualität in der englischen Bevölkerung. Angaben über acht Enzyme Enzyme
Anzahl von Allelen mit einer Frequenz > 0,01
Frequenz des häufigsten Phänotyps
Wahrschein- Literatur lichkeit für die Identität hinsichtlich der Allele zweier zufällig ausgewählter Individuen
S. Erythr.Phosphatase
3
0,43
0,34
HOPKINSON
Phosphoglucomutase PGMj-Locus
2
0,58
0,47
SPENCER
PGM3-L0CUS
2
0,54
0,45
Alk. Phosphatase d. Plaz.
3
0,42
0,30
ROBSON a n d
Azetyltransferase
2
0,50
0,50
EVANS a n d
Adenylatkinase
2
0,90
0,82
FILDES a n d
et al. (1964)
et al. (1964 a) HOPKINSON a n d HARRIS ( 1 9 6 8 ) HARRIS ( 1 9 6 7 ) WHITE (1964) HARRIS (1966)
Serum-Cholinesterase E^Locus
2
0,96
0,92
K ALOW a n d
E 2 -Locus
2
0,90
0,82
ROBSON a n d
STARON ( 1 9 5 7 ) HARRIS
6-Phosphogluconat-Dehydrogenase
2
0,96
0,92
PARR ( 1 9 6 6 )
AdenosinDesaminase
2
0,88
0,79
SPENCER e t a l .
—
0,018
Alle Loci zusammen
Harris
(1966)
(1968)
0,005
209
Proteinzusammensetzung kann man erwarten, daß sie sich auf mannigfaltige Weisein den physischen, physiologischen und anderen Eigenheiten ausdrückt. 8.3.
Seltene Varianten
Neben den relativ häufigen Allelen, die in sogenannten Polymorphismen vorkommen, kennt man aus Bevölkerungsuntersuchungen eine beträchtliche Anzahl von seltenen Allelen für verschiedene Enzym- bzw. Proteinvarianten, wie etwa die multiplen Allele der Loci f ü r die Enzyme Phosphoglucomutase (S. 51—58), Lactatdehydrogenase (S. 46—51), alkalische Phosphatase der Plazenta (S. 4 0 - 4 1 ) , Peptidase A (S. 3 6 - 4 0 ) , Phosphohexoseisomerase ( D E T T E R et al. 1968), Peptidase B ( L E W I S and H A R R I S 1967), 6-Phosphogluconatdehydrogenase ( P A R R 1966), Carbonanhydrase ( T A S H I A N et al. 1968) und Proteine wie Transferrin ( G I B L E T T 1969), Serum-Albumin ( W E I T K A M P et al. 1967) und A X -Antitrypsin ( F A G E R HOL 1968). Es könnten noch weitere bei Routineuntersuchungen anderer Enzym- bzw. Proteinsysteme gefundene seltene Variante aufgezählt werden. Wenn jedes Enzym oder Protein mit ausreichend leistungsfähigen Trennmethoden in einigen tausend Individuen untersucht würde, wie das z. B. bei den Hämoglobin- und G-6-PD-Varianten der Fall ist, dürften fast in jedem Genort seltene Allele nachweisbar sein. Offenbar stellt das Vorkommen einer Anzahl von seltenen Allelen an vielen Genorten ein charakteristisches Merkmal der menschlichen Populationen dar. Es besteht somit ein umfangreicher pool von erblichen Varianten, die jede f ü r sich äußerst selten sind, zusammen aber mannigfaltige Unterschiede zwischen den Individuen bedingen. Berücksichtigt man die Tatsache, daß die bisher angewandten Untersuchungsmethoden nur einen Teil aller Strukturvarianten eines bestimmten Proteins erfassen, so kann man etwa einen von 500 Menschen als heterozygot f ü r ein seltenes Allel ansehen. Das bedeutet, jeder Mensch besitzt eine nicht unbeträchtliche Anzahl seltener Allele verschiedener Loci (vielleicht 100 oder mehr). Auf Grund der Seltenheit dieser Allele treten die entsprechenden Enzymoder Protein-Varianten meistens nur heterozygot auf und bewirken keine Schädigung des Organismus und keine klinische Erscheinungen. Nur in wenigen Beispielen ergibt sich schon bei Heterozygoten ein chrakteristisches Krankheitsbild, wie etwa bei Personen mit instabilen Hämoglobintypen (S. 33—34). Ein Teil der Varianten f ü h r t bei Homozygoten klinisch zu Störungen. Viele der seltenen Stoffwechselkrankheiten können in diesem Zusammenhang genannt werden. 8.4.
Mutation, Selektion und Drift
Häufigkeit und Verbreitung der Enzym- bzw. Proteinvarianten in verschiedenen menschlichen Populationen lassen sich als Ergebnis von drei vorangegangenen Prozessen erklären: 210
a) Mutationen, im wesentlichen Zufallsereignisse, die zum Erscheinen neuer Allele führen, b) natürliche Auslese (Selektion), bei der gewöhnlich Allele, die die biologische „Fitness" entsprechender Individuen verringern, zugunsten solcher, die sie erhöhen, verschwinden. In diesem Sinne bedeutet „Fitness" effektive Fruchtbarkeit, d. h. relative Menge von Nachkommen der verschiedenen Genotypen. Sie liegt vergleichsweise niedrig bei Personen mit geringer Lebenserwartung, die oft vor Erreichen des fortpflanzungsfähigen Alters sterben, oder mit verminderten Heiratschancen. Im allgemeinen unterscheiden sich die Allele hinsichtlich ihrer Auswirkung auf die effektive Fruchtbarkeit im heterozygoten bzw. homozygoten Zustand. Seltene Allele kommen meist nur heterozygot vor. c) Zufallswirkungen (genetic drift) auf die Genfrequenz können einen unterschiedlichen Charakter tragen. Bei dem „meiotic drive" entstehen z. B. genetisch unterschiedliche Gameten, die zahlenmäßig nicht dem Spaltungsgesetz entsprechen. Es existiert eine Theorie, nach der eine Anzahl verschiedener Allele an einem einzigen Genort durch getrennte Mutationen entstehen. In einem typischen Gen aus einem DNA-Abschnitt von etwa 900 Nukleotidpaaren gibt es bereits 2700 verschiedene Möglichkeiten einer Basensubstitution, da jede Base durch eine von drei anderen ersetzt werden kann. Ungefähr 20—25% solcher Mutanten bedingen infolge der Degeneration des Codes keine Strukturveränderungen des entsprechenden Polypeptids. Zu vielleicht 2—4% führt der Basenaustausch zu einem Nonsense-Codon und damit zum Kettenabbruch bei der Polypeptidsynthese. Ein solches verkürztes Polypeptid, dem ein mehr oder weniger großes Stück der carboxylterminalen Aminosäuresequenz fehlt, erweist sich meistens als instabil. Schließlich kommt es in annähernd 70—75% derartiger Punktmutationen zum Austausch einer einzigen Aminosäure im Polypeptid. Die Folgen dieser Mutationen hängen von der Position im Protein und von den chemischen und physikalischen Eigenschaften der substituierten Aminosäure ab. Weitere Mutationstypen, die zu drastischeren Veränderungen in der DNA-Sequenz des Gens führen, bestehen in Deletionen, Duplikationen oder anderen Veränderungen. Obwohl dann kein stabiles Protein mehr entsteht, sind doch zumindest in einigen Fällen derartige Proteine mit stark veränderter Struktur nachgewiesen worden. So kann eine Vielzahl von Proteinvarianten mit unterschiedlichen Eigenschaften und Funktionsmerkmalen durch Mutationen an einem einzigen Genort auftreten. Durch die Aufklärung der genauen räumlichen Struktur einiger Proteine bzw. Enzyme, durch Untersuchungen der Aminosäuresequenzen etwa beim Cytochrom c und Hämoglobin in verschiedenen Spezies und durch Vergleich der Eigenschaften einzelner Varianten mit genau bekannter Struktur konnten in den letzten Jahren die Beziehungen zwischen Struktur und Funktion von Proteinen genauer 14*
211
charakterisiert werden. Danach hat ein beträchtlicher Teil aller möglichen Aminosäuresubstitutionen nur einen sehr kleinen oder überhaupt keinen Einfluß auf die Funktion eines Eiweißes. Damit läßt sich die Vielzahl von Strukturvarianten der Enzyme bzw. Proteine in natürlichen Populationen erklären. Sie wirken sich nur ganz gering oder gar nicht bei ihren Trägern aus, so daß sie keinen Selektionsvor- noch -nachteil bedeuten. (Diskussion s. K I N G and J U K E S 1969). Natürlich führen viele andere Mutationen zu einem partiellen oder sogar vollständigen Verlust der Funktionsfähigkeit des entsprechenden Enzyms bzw. Proteins. Im allgemeinen haben solche Mutanten einen Selektionsnachteil, besonders bei Homozygotie, weniger gut erkenn- und meßbar bei Heterozygoten. Es gibt aber auch einzelne Mutanten, die zumindest unter bestimmten Umweltbedingungen einen Selektionsvorteil besitzen. Das tritt sicher äußerst selten ein, schon deshalb, weil sich eine zufällige Veränderung in einer so komplizierten Struktur wie einem Protein mit großer Wahrscheinlichkeit nachteilig auf dessen Funktion auswirkt. Abgesehen davon, ob eine bestimmte Mutation durch Selektion begünstigt ist oder nicht, bleibt die Chance für ein neuentstandenes Allel, in einer Population über viele Generationen fortzubestehen, sehr gering. Es gelangt nämlich im Durchschnitt nur in die Hälfte der Kinder seines ersten Trägers. Mit der weiteren Generationenfolge nimmt die Wahrscheinlichkeit, daß es verlorengeht, noch zu. In einer einigermaßen großen stabilen Population mit vorwiegend Zwei-Kinder-Ehen liegt die Wahrscheinlichkeit für die Erhaltung des Allels nach 15 Generationen nur noch bei etwa 1 zu 9 ( F I S H E R 1930). Die Chancen für das Fortbestehen einer Neumutation sind in einer zahlenmäßig wachsenden Population größer als in einer sich verkleinernden. Im allgemeinen verschwindet die Mehrzahl neuauftretender Allele im Verlauf der folgenden 10 oder 20 Generationen mehr oder weniger zufällig wieder. Da neue Allele jedoch laufend durch Mutationen entstehen, existiert in jeder größeren Population ein Pool seltener Allele, in dem sie sich von anderen Populationen unterscheidet. W R I G H T ( 1 9 6 6 ) hat die Erscheinung „polyallelic random drift" genannt. Es besteht eine Art Gleichgewicht zwischen der Anzahl durch Mutation entstandener und wieder ausscheidender Allele. Bei der Diskussion der zahlreichen Enzym- bzw. Proteinvarianten in menschlichen Populationen haben wir zwei Hauptgruppen unterschieden, eine davon mit den relativ häufigen Varianten, die nur einen kleinen Bruchteil aller tatsächlich vorkommenden umfaßt, und die andere Gruppe mit einer großen Anzahl verschiedener Varianten, die einzeln äußerst selten sind und deren Frequenz meistens zwei oder mehr Größenordnungen unter der der ersten Gruppe liegt. Natürlich existieren auch Varianten mit mittleren Häufigkeiten. Im allgemeinen hat man jedoch den Eindruck, daß die getroffene Unterscheidung zwischen „häufigen" 212
und „seltenen" Varianten einer echten biologischen Dichotomie entspricht und nicht nur willkürlich zwei Extreme eines tatsächlich kontinuierlichen Spektrums erfaßt. Die Charakteristika der heterogenen Gruppe seltener Varianten, die anscheinend immer gefunden werden, wenn ein einzelnes Enzym bzw. Protein systematisch in einer ausreichend großen Population untersucht wird, lassen sich am einfachsten mit dem Begriff „polyallelic random d r i f t " umschreiben. Das besagt, sie stellen wahrscheinlich einen Bestand von Mutanten dar, die sich zufällig in einer Population erhalten haben und die unabhängig voneinander existieren. Wenn das zutrifft, wird die tatsächlich vorhandene Anzahl verschiedener seltener Varianten hauptsächlich von der durchschnittlichen Mutationsrate und dem Bevölkerungszuwachs abhängen ( W R I G H T 1966, K I M U R A 1968). Die Mehrzahl solcher Varianten verhält sich im heterozygoten Zustand wahrscheinlich hinsichtlich der Selektion neutral oder fast neutral, und daher wirkt sich die natürliche Auslese kaum auf die Frequenz und das Vorkommen der entsprechenden Allele aus. Nur wenige Mutationen dürften schon heterozygot eine Schädigung bzw. einen Selektionsnachteil mit sich bringen. Dieser Effekt ist von Allelen zu erwarten, die eine drastische Verringerung der „Fitness" der Heterozygoten hervorrufen. Diese Allele existieren gewöhnlich nur über eine oder wenige Generationen. Demgegenüber sind Varianten, die nur Homozygote schädigen, dem Selektionsdruck weit weniger ausgesetzt. Ihre Frequenz und Verbreitung werden größtenteils von Mutation und Drift bestimmt. Damit erklären sich die beträchtlichen Unterschiede im Vorkommen bestimmter seltener rezessiver Krankheiten zwischen einzelnen Populationen. 8.5.
Selektion und
Polymorphismus
Bei den Allelen, f ü r die gewöhnlich ein Polymorphismus besteht und die vor allem die individuellen Unterschiede in der Enzym- bzw. Proteinstruktur innerhalb der menschlichen Populationen bestimmen, ergibt sich eine ganz andere Situation. An jedem Locus existieren zwei oder wenig mehr Allele, die jeweils nur einen Bruchteil der tatsächlich existierenden, aber sehr seltenen Allele ausmachen. Allgemein sieht man in einem Selektionsvorteil Heterozygoter gegenüber den entsprechenden Homozygoten gegenwärtig oder in früheren Generationen die Ursache für derartige Polymorphismen. Sicher läßt sich damit ein großer Teil der biologischen Variabilität innerhalb der Spezies erklären. Es existieren jedoch bisher nur wenige direkte Beweise zur Unterstützung dieser Konzeption, wie z. B. der Sichelzellpolymorphismus in Afrika oder die G-6-PD-Varianten im Mittelmeergebiet. Bei fast allen der vielen anderen bekannten Polymorphismen haben wir kaum eine Vorstellung von eventuell selektiv wirkenden Faktoren. 213
I n Anbetracht der großen Selektionsnachteile Homozygoter mit Sichelzellanämie einerseits und der hohen Häufigkeit des Gens andererseits muß der Vorteil Heterozygoter, der zu dem Polymorphismus geführt hat, sehr groß gewesen sein (siehe S. 195—200). Zur Entstehung und Erhaltung anderer Polymorphismen dürfte jeweils, wenn überhaupt, ein viel schwächerer Selektionsdruck nötig sein. Möglicherweise entgeht er deshalb vielfach noch unseren Feststellungen. Tatsächlich gehört die Aufklärung solcher den Polymorphismen zugrunde liegenden Selektivkräfte gegenwärtig zu den schwierigsten allgemeinen Problemen in der Humangenetik. E i n möglicher Lösungsweg besteht in der genauen Untersuchung von Unterschieden in der Funktion polymorpher Enzyme bzw. Proteine, die unter bestimmten Umweltbedingungen von selektivem Wert sein könnten. Die Strukturvarianten einiger Enzyme haben tatsächlich deutliche Aktivitätsunterschiede gezeigt, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sein könnten, wie z. B . die verschiedenen G-6-PD-Varianten. Die Schwierigkeit liegt dabei darin, daß weniger die Besonderheiten eines einzigen Enzyms als vielmehr das komplexe Zusammenwirken mehrerer Enzyme bzw. Proteine eines Individuums diesbezüglich von Bedeutung sein dürften. E i n anderer Lösungsweg besteht im Vergleich der Anfälligkeit von Personen mit unterschiedlichen Allelen gegenüber bestimmten Krankheiten. Dabei wird die Frequenz des Allels unter den Kranken zu der in der Gesamtbevölkerung in Beziehung gesetzt. Als Beispiel soll die Korrelation der ABO-Blutgruppen mit bestimmten gastrointestinalen Krankheiten dienen (Literatur s. MCCONNELL 1966). Personen mit der Blutgruppe A haben sich als etwas anfälliger für Magenkrebs als die mit der Gruppe 0 erwiesen, die wiederum häufiger an Ulcera des Magendarmtraktes erkranken als die mit der Blutgruppe A. Die Auswirkungen müssen aber als sehr gering eingeschätzt werden, und die genannten Korrelationen erklären nicht zwingend den sehr verbreiteten Polymorphismus. E s ist nicht bekannt, wie die verschiedenen Blutgruppenantigene oder die zugrunde liegenden Enzymunterschiede die Anfälligkeit gegenüber diesen Krankheiten beeinflussen. Die Kausalzusammenhänge sind wahrscheinlich indirekter Natur, was die Suche nach anderen solchen Korrelationen noch erschwert. E s gibt eine Vielzahl von verschiedenen Krankheiten, einschließlich der akuten und chronischen Infektionen, die theoretisch für die E n t stehung verschiedener Polymorphismen von Bedeutung sein könnten, und es gibt noch mehr Polymorphismen, die auf einen Zusammenhang mit Krankheiten zu prüfen sind. Eine andere Möglichkeit, das Problem anzufassen, geht von demographischen Gesichtspunkten aus. Mehrere Populationen werden dabei auf Unterschiede einerseits hinsichtlich der Verteilung häufiger Allele und andererseits hinsichtlich der die Selektion bestimmenden Faktoren, wie Mortalität und Morbidität in verschiedenen Altersklassen sowie Fruchtbarkeit, unter-
214
sucht. Dazu gehören auch Familienuntersuchungen auf Störungen der Segregation usw. Obwohl die Ergebnisse in Beziehung auf spezifische selektive Faktoren nur indirekter Natur sein dürften, können sie doch Hinweise auf bestimmte Trends unter den jeweiligen Umweltverhältnissen liefern. Solche Untersuchungen erweisen sich jedoch insofern als schwer durchführbar, als sie einerseits einen großen Umfang haben müssen und andererseits einer exakten Erfassung vieler demographischer Parameter bedürfen. Obwohl bereits umfangreiche Daten auf diesem Gebiet gewonnen w u r d e n (z. B . MOETON 1 9 6 4 , N E E L a n d SALZANO 1 9 6 7 ) , u n t e r s t r i c h e n sie
doch meistens lediglich die Schwierigkeiten bei der Lösung der Probleme. Eine Fehlerquelle liegt in der veränderten Umwelt, in der menschliche Populationen heute im Vergleich zu früher leben. Insbesondere die Altersverteilung von Krankheiten und die Lebenserwartung haben sich verändert. In der Vergangenheit wichtige Selektivkräfte, die durchaus viele der heutigen Polymorphismen geformt haben könnten, besitzen vielleicht heute nur geringe oder gar keine Bedeutung mehr. Wir können Veränderungen nur innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums übersehen. Außerdem vermögen wir in der Regel nicht einzuschätzen, ob ein Polymorphismus, wie oft vermutet wird, auf Grund eines Heterozygotenvorteils bei stabilem Gleichgewicht oder durch stetige Zunahme eines bsstimmten Allels auf Kosten eines anderen oder durch seine fortschreitende Eliminierung besteht. Eine Alternative zur Wirkung von Selektivkräften als Ursache für Polymorphismen besteht im Zufall (genetic drift). Nur sehr selten kann sich aber ein einzelnes Allel in einer Population allein zufallsmäßig ausbreiten. Diese Erscheinung läßt sich höchstens in kleinen, isolierten Populationen beobachten. In derartigen Isolaten mit einer eigenartigen Häufung mancher Enzym- bzw. Proteinvarianten lassen sich bestimmte Polymorphismen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf genetic drift zurückführen. Zum Beispiel kommt eine Serumalbumin-Variante bei den nordamerikanischen NaskopiIndianern und mehreren nah verwandten Stämmen mit einer Frequenz v o n 1 : 4 vor (MELARTIN a n d BLUMBERG 1966). Diese V a r i a n t e ließ sich
trotz einfacher Nachweismöglichkeiten nirgendwo anders in der Welt feststellen. Ein weiteres Beispiel kennen wir in einem bei bestimmten Eskimos Alaskas relativ häufigen „silent" Serum-Cholinesterase-Allel (S. 110). Wandert eine kleine Gruppe einer unauffälligen Ausgangspopulation in ein anderes Gebiet und vermehrt sich dort später mehr oder weniger isoliert, dann kann ein zufällig vorhandenes seltenes Allel in der neu entstehenden Population eine beträchtliche Häufigkeit erreichen. Ein Beispiel für diesen sogenannten „Gründereffekt" (Founder-Effekt) sehen wir in der hohen Incidenz der erblichen Tyrosinämie (S. 237) in einem Isolat von Französisch-Kanadiern in Quebec (LABERGE 1969). Bei Homozygotie führt der Defekt allgemein im frühen Kindesalter zum Tode. Die Genfrequenz liegt in dieser Population bei 0,02, während das Allel ansonsten äußerst 215
selten auftritt. Stammbaumuntersuchungen weisen auf einen der Urväter der Population hin, der im 17. Jahrhundert einwanderte und wahrscheinlich heterozygot für das Allel war. Ohne Zweifel beruhen auch viele andere lokale Polymorphismen, die zur Unterschiedlichkeit verschiedener Populationen beitragen, auf einem solchen „Gründereffekt". Gen-Drift allein erklärt jedoch nicht die vielen der weiter verbreiteten Polymorphismen in den großen ethnischen Gruppen, auf ganzen Kontinenten und Subkontinenten und schließlich in der gesamten Menschheit. Trotzdem könnten frühere zufällige Veränderungen der Genfrequenzen innerhalb einer Population ebenso wie die großen Wanderungen von Individuen durchaus viele der heutigen Besonderheiten im Vorkommen bestimmter häufiger Allele bedingen. 8.6.
Zusammenfassung
Es existiert eine sehr große Anzahl von Strukturvarianten verschiedener Enzyme und Proteine innerhalb der menschlichen Population. Auf Grund der dadurch bestehenden individuellen Verschiedenheit gibt es praktisch außer eineiigen Mehrlingen keine hinsichtlich ihres Enzym- bzw. Proteinbestandes vollkommen identische Individuen. Die Heterogenität beruht auf der multiplen Allelie der meisten Strukturgen-Loci, die von unterschiedlichem Charakter ist. In einem Genort kann eine große Anzahl verschiedener meist sehr seltener Allele existieren, deren Vorkommen und Verbreitung zum großen Teil durch Mutation und Drift erklärt werden. Viele von ihnen beeinflussen wahrscheinlich die Lebensfähigkeit oder Fitness ihrer Träger, andere wirken sich entweder im heterozygoten oder im homozygoten Zustand nachteilig aus in Form seltener erblicher Krankheiten und Anomalien. Die Häufigkeit solcher schädlicher Allele wird durch die natürliche Selektion begrenzt. Ein Genort kann aber auch wenige, z. T. häufigere Allele haben. Diese liegen der Verschiedenartigkeit von Enzymsystemen und Polymorphismen in der Population und möglicherweise auch der Variabilität erblicher physischer und physiologischer Eigenschaften einschließlich der Anfälligkeit gegenüber einzelnen Krankheiten und anderen Störungen zugrunde. Bis auf sehr wenige Ausnahmen verfügen wir über keine genaue Vorstellung von den Ursachen und der Entstehungsweise der Polymorphismen.
216
KAPITEL 9
Genmutationen und Erbkrankheiten
Ein Katalog erblicher Anomalien des Menschen (MCKUSICK 1974) führt mehr als zweitausend unterschiedliche, wahrscheinlich monogen bedingte Syndrome auf, die sich untereinander in Art und Schwere der Symptomatik, klinischem Erstmanifestationsalter usw. unterscheiden. Bei dem gegenwärtigen schnellen Erkenntniszuwachs auf diesem Gebiet dürfte diese Zahl sehr schnell steigen. Nach dem Erbgang unterscheidet man „dominante" und „rezessive" und nach der Lage des entsprechenden Gens auf einem der 22 Autosomen oder den Geschlechtschromosomen autosomal oder X- bzw. Y-chromosomal vererbte Anomalien. Von den bisher bekannten Merkmalen haben sich etwas mehr als 50% als autosomal dominant, fast 40% als autosomal rezessiv und etwa 8% als X-chromosomal erwiesen. Eine Y-chromosomal bedingte Anomalie konnte bisher noch nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden. Autosomal dominante Leiden manifestieren sich schon bei Heterozygoten für das entsprechende Allel. Auf Grund der Seltenheit solcher Allele kommt es nur ganz vereinzelt zur Homozygotie, die sich dann in wesentlich heftigeren klinischen Störungen äußert und oft schon intrauterin letal wirkt (Homozygotieeffekt). Autosomal rezessive Allele manifestieren sich klinisch nur bei Homozygoten. Heterozygote für ein mutiertes und das Wildtypallel sind klinisch gesund. Besteht jedoch in einem Genort Heterozygotie für zwei Allele, die jedes für sich phänotypische Störungen bewirken können, treten ebenfalls klinische Erscheinungen auf, die qualitativ und quantitativ denen der jeweiligen Homozygoten entsprechen. Eine solche Erscheinung liegt der Sichelzell-Hämoglobin-C-Anämie zugrunde. X-chromosomal rezessive Allele manifestieren sich im männlichen Geschlecht oder sehr selten, nämlich bei Homozygotie, auch bei Frauen. Infolgedessen sind von vielen X-chromosomalen Leiden weibliche Merkmalsträger noch gar nicht bekannt. 9.1.
Molekularpathologie
der
Erbkrankheiten
Auf Grund der Kenntnis der molekularbiologischen Wirkungsweise der Gene sollte es theoretisch möglich sein, jede klinische Anomalie auf einen 217
spezifischen Enzym- bzw. Proteindefekt zurückzuführen. Die Pathologie eines Leidens u m f a ß t e d a n n eine vollständige Darstellung, beginnend mit der Mutation u n d der Veränderung in der Basensequenz der DNA, über die abnormale Synthese des entsprechenden Enzyms bzw. Proteins bis zu den dadurch entstehenden sekundären biochemischen Veränderungen u n d schließlich den klinischen Symptomen. Tatsächlich gelingt eine derartige vollständige Darstellung f ü r die meisten Erbleiden bisher noch nicht. Die charakteristischen Symptome eines solchen Krankheitsbildes entstehen häufig infolge sehr komplizierter Wechselwirkungen auf verschiedenen biochemischen u n d physiologischen Ebenen des Organismus. Die Details auch nur weniger Stufen einer solchen Kausalreihe aufzuklären, gelang bisher nur bei wenigen Syndromen. Es ist nicht möglich, den Basisdefekt irgendeiner bestimmten Erbkrankheit durch direkte Untersuchung der Basensequenz eines Gens zu definieren. Man k a n n lediglich auf ihn schließen, wenn es gelingt, das aberrante Protein zu isolieren und seinen Defekt zu analysieren, wie z. B. bei den Hämoglobinopathien (s. Kapitel 1). Die verschiedenen klinischen u n d pathologischen Symptome der Sichelzellanämie etwa entstehen infolge eines Hämoglobindefektes, der nur in einer einzigen Aminosäure der ß-Ketten besteht (Valin a n s t a t t Glutaminsäure in Position 6). Die normale ß-Kette mit 146 Aminosäuren wird von einem Gen aus 438 Basen codiert. Die Mutation betrifft das sechste Triplett der Sequenz, d. h. die 16., 17. u n d 18. Base. Gemäß dem Code f ü r Valin und Glutaminsäure m u ß dabei die 17. Base, Adenin, durch Thymin substituiert sein. Ähnliche Rückschlüsse auf den Primärdefekt innerhalb eines Gens gelingen auch bei einer Reihe anderer durch Aminosäuresubstitution im Protein bedingter Hämoglobinopathien. Teilweise liegen aber auch andere Proteinanomalien vor, die auf einen anderen Mutationstyp hindeuten. Zum Beispiel h a t das Hämoglobin Lepore eine Polypeptidkette, die in ihrem einen Teil der der 8-Kette des Hb-A 2 und im anderen der der normalen ß-Kette des H b A entspricht (S. 81). Bei den Hämoglobinen H b Freiburg und H b Gun Hill (S. 86) fehlen eine bzw. 5 Aminosäuren in den ß-Ketten, d. h. drei bzw. 15 Basen in der DNA-Sequenz. Über die Ursache und Entstehungsweise einzelner Basenveränderungen ist wenig bekannt. Deletionen entstehen wahrscheinlich entweder durch ungleiches Crossing-over zwischen homologen Chromosomen nach Fehlpaarung während der Meiose oder durch Chromosomenbrüche u n d falsche Reunion. Die Gefahr f ü r fehlerhaftes Crossing-over besteht vor allem da, wo infolge einer vorausgegangenen Duplikation des genetischen Materials ähnliche DNA-Sequenzen auf demselben Chromosom sehr eng hintereinander liegen. Mit der Länge der homologen Abschnitte wächst die Wahrscheinlichkeit der Fehlpaarung während der Meiose, so daß einige Gene besonders zu Mutationen neigen. Erfolgen zufällig zwei Chromosomenbrüche (oder Chromatidenbrüche) mehr oder weniger gleichzeitig und an218
schließend eine Verschmelzung der freien Bruchenden miteinander, aber nicht in der ursprünglichen Weise, k a n n entweder ein dazwischenliegendes Segment verlorengehen, wenn die Brüche in demselben Chromosom eintraten, oder durch Translokation ein Chromosom Materialzuwachs auf Kosten des anderen erfährt. Strukturuntersuchungen anomaler Hämoglobine haben gezeigt, daß Mutationen sowohl in Form eines Basenaustausches als auch durch Deletionen zu klinischer Anomalie f ü h r e n können. Wahrscheinlich t r i f f t das auch f ü r andere Proteine bzw. Enzyme zu. Bisher k a n n jedoch noch nicht eingeschätzt werden, welche Bedeutung jedem dieser Mutationstypen als Ursache f ü r die verschiedenen erblichen K r a n k heiten zukommt. Die vorliegenden Informationen stammen ausschließlich von Störungen, bei denen das anomale Protein isoliert u n d seiner S t r u k t u r nach aufgeklärt werden konnte. Diese stellen jedoch insgesamt gesehen nur ein sehr begrenztes Material dar, das noch keine Verallgemeinerung zuläßt. Sogar bei einigen der Hämoglobinopathien wie den Thalassämien (S. 94—102) erbrachten Untersuchungen der Proteinstruktur keine Information über die Art der zugrunde liegenden Mutation. Hier dürften Untersuchungen auf anderen Ebenen, etwa der Regulation oder der R N A , notwendig sein. Wenn die Isolation eines spezifischen anomalen Proteins bzw. E n z y m s gelingt, vermag dessen physiko-chemische Charakterisierung bereits viel zur Aufklärung der Pathogenese beizutragen. Beim Sichelzellhämoglobin zum Beispiel erklärt sich die klinische Symptomatik weitgehend aus dessen stark reduzierter Löslichkeit, die wiederum auf einer Veränderung einer sehr kleinen Oberflächenregion des Proteinmoleküls durch Substitution des hydrophoben Valins durch einen hydrophilen Glutaminsäurerest beruht (S. 29). Auffälligerweise f ü h r t nur dieser spezifische Aminosäureaustausch im Hämoglobinmolekül zu dieser typischen Veränderung der Löslichkeit, die auch die morphologischen Veränderungen der roten Blutkörperchen bei niedrigem Sauerstoffdruck, das sogenannte Sichelphänomen, bedingt. I n vivo t r i t t eine solche Deformation der roten Blutkörperchen bevorzugt im venösen Blut, besonders in den kleinen Venen und venösen Kapillaren, auf und bringt eine Erhöhung der Blutviskosität mit sich. Es k o m m t dadurch zu lokalen Thrombosen u n d Gewebenekrosen. Die deformierten Erythrozyten neigen mehr als normale zum Zerfall, das bedeutet ständige Gefahr einer chronischen Anämie, die zu weiteren sekundären pathologischen Veränderungen f ü h r t . Auf diese Weise läßt sich, wenn auch noch nicht bis zu den letzten Einzelheiten, die Pathogenese der SichelzellAnämie erklären. Ausgehend von einer kleinen Veränderung in der D N A über Veränderungen der Struktur und damit der Löslichkeit des Hämoglobins k o m m t es zu Alterationen der zirkulierenden roten Blutkörperchen und schließlich zu einem komplexen Muster pathologischer Veränderungen. Strukturanomalien eines Proteins können dessen Stabilität stark beein219
trächtigen. Als Folge einer daraus resultierenden erhöhten Abbaurate tritt ein Aktivitätsverlust ein. So lassen sich mehrere erbliche Formen von chronischer Anämie auf die Instabilität des anomalen Hämoglobins zurückführen (S. 33). Mehrere Enzymprotein-Varianten, zum Beispiel die der Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Variante Gd Mediterran (S. 117 bis 123), weisen ebenfalls eine verringerte Stabilität auf, die die paraklinischen und klinischen Störungen zum großen Teil erklärt. Wahrscheinlich beruhen viele andere erbliche Defekte auf einer ähnlichen Grundlage. Die Instabilität durch Veränderung der Primär- und damit der räumlichen Struktur der Proteine hängt von der substituierten Aminosäure und deren Position im Molekül ab. Andere Aminosäuresubstitutionen im gleichen Molekül können diesbezüglich durchaus im wesentlichen dieselben Folgen haben und die gleichen pathologischen Veränderungen hervorrufen. Verschiedene Mutationen vermögen also spezifische Defekte zu verursachen, die sich nur in der Primärstruktur des Proteins, nicht aber in anderen Symptomen voneinander unterscheiden. Auch kleine Deletionen innerhalb eines Gens, die den Verlust einer oder mehrerer Aminosäuren in der entsprechenden Polypeptidkette bedingen, können durch Veränderung der räumlichen Struktur die Stabilität des Proteins vermindern. Bei größeren Deletionen läßt sich häufig überhaupt kein Protein mehr nachweisen. Ahnliche Auswirkungen haben Mutationen, die zu einem Nonsense-Codon führen. Große Bedeutung muß der Untersuchung der Aktivitätsveränderungen anomaler Enzymproteine beigemessen werden. So spielen Veränderungen der Affinität eines Enzymproteins für Substrat oder Coenzym zweifellos eine wichtige Rolle bei der Entstehung klinischer Störungen. Die veränderte Kinetik der Argininosuccinatsynthetase führt z. B. zur Citrullinämie (S. 146—151), oder der atypischen Formen der Serum-Cholinesterase zur Suxamethonium-Überempfindlichkeit (S. 105—111) und der Glukose-6Phosphat-Dehydrogenase-Variante Gd Oklahoma (S. 123—125) zur chronischen hämolytischen Anämie. In jedem dieser Fälle waren die Michaeliskonstanten (K m ) für das Substrat bedeutend erhöht. Eine ganze Reihe verschiedener einzelner Aminosäuresubstitutionen in einem Enzymprotein dürfte über Veränderung entweder der Konformation oder der chemischen Struktur die kinetischen Parameter eines Enzyms wie auch dessen physiko-chemische Eigenschaften (Stabilität usw.) beeinflussen. In der Pathologie eines Syndroms verdienen deshalb diese Erscheinungen große Beachtung. Ein interessantes Beispiel liefert die Glukose-6-PhosphatDehydrogenase-Variante Gd Mediterran. Obwohl die Einzelheiten hinsichtlich der Struktur des anomalen Enzymproteins noch nicht bekannt sind, lassen sich mehrere wichtige Veränderungen seiner Eigenschaften erkennen. Es ist instabil, die Michaeliskonstanten für Glukose-6-Phosphat und das Coenzym NADP liegen niedriger als normal, und es besteht eine erhöhte Affinität zu dem substratanalogen 2-Deoxyglukose-6-Phosphat. Die klinische Störung (Favismus) dürfte durch die verminderte Enzym220
aktivität des anomalen Enzyms in den roten Blutkörperchen bedingt sein, die ihrerseits auf der Instabilität des Enzymproteins beruht. Die veränderte Kinetik spielt wahrscheinlich dabei nur eine geringere oder keine Rolle. Tatsächlich würde man bei niedrigeren Michaeliskonstanten für Substrat und Coenzym eine erhöhte Aktivität erwarten. Viele verschiedene Mutationen können einen Enzymdefekt bedingen, entweder durch Synthese eines anomalen Enzymproteins mit veränderter Kinetik oder Stabilität oder durch Veränderung der Syntheserate des Enzymproteins. Bei einer ganzen Reihe erblicher Krankheiten ist es gelungen, einen Enzymmangel als Basisdefekt zu identifizieren (S. 134, S. 132). Solche Syndrome werden aus historischen Gründen gewöhnlich als „angeborene Stoffwechselkrankheiten" bezeichnet, obwohl grundsätzlich beinahe jedes Erbleiden so genannt werden könnte. In der Regel lassen sich dabei ganz charakteristische biochemische Veränderungen feststellen mit Speicherung bestimmter Substanzen in den Zellen oder Anreicherung in den Körperflüssigkeiten. Art und Ausmaß dieser Anomalien hängen von der Rolle ab, die die einzelnen Enzyme im normalen Stoffwechsel spielen und von ihrer Gewebespezifität. Nicht immer lassen sich klare Kausalzusammenhänge zwischen klinischer Symptomatik und Enzymdefekt erkennen. Selbst bei der so gründlich untersuchten Phenylketonurie (S. 137—139) existiert noch keine eindeutige Erklärung für die starke geistige Retardation. Auf welche Weise die biochemischen Verschiebungen die Neuronen des sich entwickelnden Gehirns beeinflussen, bleibt in den Einzelheiten unklar. Auf welchen unerwarteten Stoffwechseldefekten klinische Syndrome beruhen können, soll das Beispiel der Homocystinurie erläutern (S. 237). Zu den Symptomen dieses Krankheitsbildes gehören geistige Retardation, Thromboseneignung und Skelettanomalien. Bei einem Screeningtest auf die Aminosäureausscheidung geistig retardierter Personen fand man bei solchen Patienten einen erhöhten Homocystinspiegel im Urin. Daraus ergab sich eine Störung des JVlethioninstoffwechsels infolge eines Mangels an Cystathioninsynthetase (L-Serindehydratase). Obwohl bereits vor der Entdeckung der Homocystinurie viel über die Umwandlung von Methionin zu Cystin bekannt war, hätten Biochemiker kaum die durch eine Blockierung dieses Stoffwechselweges entstehenden komplexen klinischen Anomalien voraussagen können. Auch heute ist noch nicht bekannt, wie die verschiedenen klinischen Symptome entstehen. Bei dem schon länger bekannten PoMPE-Syndrom (S. 155) besteht eine Anreicherung von Glykogen besonders im Herzmuskel. Da sich der Glykogenstoffwechsel offensichtlich als normal erwies, blieb der Basisdefekt lange Zeit unklar. Tatsächlich kam der Nachweis einer Defizienz der lysosomalen a-(l,4)-Glukosidase ganz unerwartet, weil man diesem mit vielen anderen Hydrolasen in den Lysosomen vorkommenden Enzym keine Bedeutung im Glykogenabbau zumaß. Diese Beispiele zeigen schon, wie schwer es ist, 221
von der Symptomatik ausgehend den Basisdefekt eines Erbleidens aufzuklären. Es überrascht deshalb nicht, daß wir bei vielen von ihnen noch keine Ahnung von dem zugrunde liegenden Enzym- bzw. Proteindefekt oder auch nur von dem betroffenen Stoffwechselweg haben. 9.2.
Dominanz und Rezessivität
Von der Aufklärung der Molekularpathologie einer Krankheit ist auch ein besseres Verständnis des jeweiligen Erbganges zu erwarten, indem erklärt werden könnte, warum ein Teil der Defekte schon heterozygot und andere homzygot klinisch manifest werden, d. h. warum sie dominant oder rezessiv sind. Die klinischen Anomalien bei der Sichelzellanämie z. B. entstehen auf Grund der verminderten Löslichkeit des desoxygenierten Hämoglobins und durch die daraus resultierende Deformation der roten Blutkörperchen in vivo (Sichelphänomen). Bei Heterozygoten für das Sichelzellgen haben die Erythrozyten zu 65% normales und 35% anomales Hämoglobin bei annähernd normaler Gesamtmenge. Im Vergleich zu normalem Hämoglobin besteht insgesamt eine verminderte Löslichkeit. Die Sichelbildung der Erythrozyten tritt in vitro leicht bei reduziertem Sauerstoffdruck ein. Dieser liegt dann jedoch noch unter dem normalen in vivo. Deshalb tritt die Schädigung gewöhnlich bei den Heterozygoten nicht auf. Sie sind gesund. Dieses Beispiel unterstreicht die wichtige Tatsache, daß die Begriffe „dominant" und „rezessiv" relativ sind. Sie gelten meistens nur in bezug auf eine spezifische Eigenschaft oder einen Phänotyp. Die Sichelzellanämie wird rezessiv vererbt, das Sichelzellmerkmal jedoch dominant, da es sowohl bei Heterozygotie als auch bei Homozygotie auftritt. Das Zustandekommen von Rezessivität und Dominanz kann man auch an der dominant erblichen, auf Instabilität eines Hämoglobins beruhenden chronischen Anämie studieren. Bei dieser bilden Heterozygote in den Erythrozyten sowohl das instabile als auch das normale Hämoglobin. Infolge des schnellen Zerfalls der instabilen Form nimmt die Gesamtmenge des funktionell aktiven Hämoglobins während der Reifung der roten Blutkörperchen laufend ab, es kommt zur chronischen Anämie, die weiter verstärkt wird durch den durch Präzipitation des denaturierten Hämoglobins bedingten schnellen Abbau der Erythrozyten. Im Gegensatz zu den Sichelzellheterozygoten kann also normales Hämoglobin eine schädliche Wirkung nicht kompensieren. Die Gene für die verschiedenen instabilen Hämoglobin-Typen sind alle äußerst selten, und Homozygote wurden bisher nicht bekannt. Vermutlich leiten sie unter einer sehr schweren, bereits im frühen Leben zum Tode führenden Anämie. Bei Stoffwechselkrankheiten, die auf dem Mangel eines Enzyms beruhen, hängt Rezessivität bzw. Dominanz weitgehend von der durchschnittlichen 222
Aktivität des Enzyms bei normalen Homozygoten und von der tatsächlich zur Erhaltung der normalen Funktion nötigen Mindestaktivität ab. Bei Heterozygoten liegt die spezifische Enzymaktivität allgemein zwischen der bei den entsprechenden Homozygoten. Führt also das mutierte Allel zu einem vollständigen Verlust der Enzymaktivität, so weisen Heterozygote gewöhnlich etwa 50% der Aktivität normaler Homozygoter auf (S. 159—164). Wenn dabei diese Homozygoten im Durchschnitt über funktionell aktives Enzym verfügen, das mengenmäßig das zur Erhaltung der normalen Stoffwechselfunktion erforderlichen Minimum, um ein Mehrfaches übersteigt, dann wirkt sich eine verminderte Aktivität bei Heterozygoten noch nicht schädlich aus. Klinische Anomalien sind deshalb nur bei den Homozygoten für das mutierte Allel zu erwarten, bei denen eine geringe Restaktivität für eine normale Funktion nicht mehr ausreicht. Tatsächlich zeigen die meisten der bisher identifizierten „angeborenen Stoffwechseldefekte" einen rezessiven Vererbungstyp, d. h. die normalerweise vorhandene Aktivität der entsprechenden Enzyme liegt weit über dem erforderlichen Minimum. Dominanz wird überall da auftreten, wo eine solche Sicherungsspanne nicht existiert und wo das betreffende Enzym zum begrenzenden Faktor eines Stoffwechselweges wird, weil seine Aktivität schon normalerweise näher am erforderlichen Minimum liegt. 9.3.
Heterogenität
von
Erbkrankheiten
Sehr oft hat sich ein zunächst einheitlich erscheinendes Syndrom, das durch Mutation eines Gens entsteht, als insofern uneinheitlich erwiesen als es bei genauer Analyse in mehrere klinisch ähnliche Krankheitsbilder mit jeweils anderen Basisdefekten zerfiel. Eine genetische Heterogenität stellt sich vielfach bei zunächst relativ homogen erscheinenden Anomalien heraus, so daß diese Erscheinung nicht als seltene Ausnahme angesehen werden kann. Theoretisch überrascht es nicht, wenn Mutationen an mehreren ganz verschiedenen Loci zu sehr ähnlichen oder sogar identischen klinischen Störungen führen. Einerseits kann der Ausfall des einen oder anderen Enzyms den gleichen Stoffwechselweg bzw. physiologischen Komplex treffen, und andererseits besteht ein Enzym häufig aus mehreren Peptidketten, die von unterschiedlichen Loci codiert werden. Schließlich vermag jedes Gen noch auf verschiedene Weise und in unterschiedlichen DNA-Abschnitten zu mutieren. Es kommt zu verschiedenartigen Strukturveränderungen der entsprechenden Polypeptidkette, die sich jedoch in gleicher Richtung auf deren Funktion und damit auf die klinische Manifestation auswirken. Das gleiche Krankheitsbild kann also sowohl von verschiedenen Loci als auch von verschiedenen Allelen eines einzigen Locus abhängen. Von der angeborenen Methämoglobinämie (S. 30—33) z. B. gibt es mindestens zwei genetische Typen. Klinisch 223
besteht eine typische graublaue Cyanose. Die Lebensfähigkeit ist nicht entscheidend beeinträchtigt. Ein Teil der Patienten ist schwachsinnig. Bei früheren genetischen Untersuchungen (BARCROFT et al. 1945, HÖRL E I N und W E B E R 1 9 4 8 ) erwies sich die Krankheit in einigen Fällen als autosomal-rezessiv und in anderen als autosomal-dominant erblich. Beim autosomal-rezessiven Typ stellte sich ein Mangel der Methämoglobinreductase in den Erythrozyten heraus ( G I B S O N 1 9 4 8 , SCOTT and G R I F F I T H 1 9 5 9 ) , wobei die Enzymaktivität bei Patienten im Bereich des gerade noch feststellbaren liegt, während bei deren Eltern, Kindern und einem Teil der anderen Verwandten eine geringere Aktivitätsminderung (Heterozygotie) noch nicht zu einer Methämoglobinämie bzw. Cyanose ausreicht (SCOTT 1 9 6 0 ) . Elektrophoretische Untersuchungen der Restaktivität bei Patienten deuten zumindest in einigen Fällen auf einen Strukturdefekt im Enzymprotein als Ursache des Enzymdefizits hin, der aber in verschiedenen Sippen unterschiedlich ist ( K A P L A N and B E U T L E R 1 9 6 7 , W E S T et al. 1 9 6 7 ) . Offenbar liegen dem Defekt der Methämoglobinreductase mehrere verschiedene Allele an einem oder mehreren Loci zugrunde. Bei der dominant erblichen angeborenen Methämoglobinämie besteht keine Anomalie der Methämoglobinreductase. In den meisten dieser Fälle liegt aber ein ebenfalls uneinheitlicher Strukturdefekt des Hämoglobins selbst vor. Es läßt sich jeweils eine Aminosäuresubstitution in der a- oder ß-Kette nahe an der Häm-Bindungsstelle erkennen. Ist die a-Kette betroffen, besteht die Cyanose bereits bei Geburt, da die a-Kette sowohl in fötalem (a2y2) als auch in Erwachsenen-Hämoglobin (HbA, a 2 ß 2 ) vorkommt. ß-Ketten-Mutationen manifestieren sich erst einige Wochen nach Geburt, wenn das Hb A an Bedeutung gewinnt. Eine angeborene Methämoglobinämie kann also durch Mutationen in mindestens drei Genorten entstehen, wobei offenbar jeweils mehrere verschiedene Allele vorkommen. Ein weiterer Typ der Methämoglobinämie — wahrscheinlich mit autosomal-dominanter Vererbung, aber ohne Hämoglobindefekt oder Methämoglobinreductase-Mangel (TOWNES and MORRISON 1962) — läßt auf Mutationen noch anderer Loci schließen. Die angeborene Methämoglobinämie als äußerst seltenes Krankheitsbild kommt in den meisten Populationen nur mit einer Incidenz von etwa 1:100000 vor. Mindestens acht verschiedene Mutationen können zugrunde liegen, die aber an Hand der klinischen Erscheinungen nur schwer oder gar nicht zu unterscheiden sind. Als ähnlich heterogen dürften sich andere Erbkrankheiten erweisen, die bisher nur nach der klinischen Symptomatik oder nach sekundären biochemischen oder physiologischen Störungen abgegrenzt worden sind. Bei der Phenylketonurie zum Beispiel entstehen die verschiedenen biochemischen Veränderungen im Blut, im Liquor und im Urin durch einen Block der Umwandlung von Phenylalanin zu Tyrosin auf Grund eines Phenylalanin-4-Hydroxylase-Mangels (S. 137—139). Es handelt sich um eine 224
autosomal rezessive Störung, wobei die Patienten bisher alle als homozygot für dasselbe Allel angesehen wurden. Zweifellos existieren jedoch mehrere Allele, die einen Aktivitätsverlust des Enzyms bedingen. Demnach können die Patienten homozygot für irgendeines oder heterozygot für zwei davon sein. Denkbar sind auch Mutationen an zwei oder mehr verschiedenen Genorten. Zur Zeit reichen die Informationen über die Struktur des Enzymproteins oder die Regulation seiner Synthese noch nicht für eine Einschätzung dieser Möglichkeiten aus. Auch eine Kopplung ließ sich noch nicht nachweisen, woraus Schlußfolgerungen über beteiligte Loci zu ziehen wären. Die verschiedenen, zu einem Defekt eines bestimmten Enzyms führenden Mutationen können sich natürlich quantitativ unterschiedlich auf dessen Aktivität und damit auf die klinische Symptomatik auswirken. Entweder es entsteht überhaupt kein funktionell aktives Enzym, dann lassen sich verschiedene zugrunde liegende Mutationen gar nicht voneinander unterscheiden, oder es existiert noch eine Restaktivität, deren je nach Mutation unterschiedliche Höhe sich im Schweregrad eines offensichtlich monogen bedingten Erbleidens auswirkt. Die Variabilität in der Symptomatik solcher Krankheitsbilder beruht sicherlich meist auf deren genetischer Heterogenität. Die große Unterschiedlichkeit in der EnzymAktivität und damit zusammenhängend der klinischen Erscheinungen verschiedener Mutanten läßt sich gut an der G-6-PD-erkennen. Etwa sechzig Varianten dieses Enzymproteins sind bisher nachgewiesen worden (S. 115—125). Sie unterscheiden sich voneinander und vom normalen Enzym z. B . in der elektrophoretischen Mobilität, den Michaeliskonstanten, der Thermostabilität und dem pH-Optimum. Da die zugrunde liegenden Allele einem X-chromosomalen Genort angehören, läßt sich im männlichen Geschlecht ihre Wirkung direkt an der entsprechenden Enzym-Aktivität untersuchen, in der sich die einzelnen Varianten sehr stark untereinander unterscheiden. Diese Unterschiede, die von kaum meßbaren Spuren bei einigen Varianten bis zur fast normalen Aktivität reichen, beruhen oft auf Veränderungen der Proteinstabilität, seltener der Kinetik oder anderer Eigenschaften. Die Aktivitätsminderung bei manchen Varianten führt zu einer Störung des Erythrozyten-Stoffwechels und damit zur chronisch hämolytischen Anämie. Bei anderen neigen die sonst gesunden Merkmalsträger nur unter Einwirkung bestimmter Substanzen zu hämolytischen Krisen, so z. B. Personen mit Gd Mediterran nach Kontakt mit Faba-Bohnen oder Afrikaner mit Gd A- bei Behandlung mit Primachin und bestimmten Sulfonamiden. Andere G-6-PD-Varianten bewirken keinerlei klinische Erscheinungen. Allgemein besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem Grad der Aktivitätsminderung und der Schwere des klinischen Bildes. Das gilt z. B. auch für den Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyltransferase-Mangel bei d e r H y p e r u r i c ä m i e ( A b b . A 7 , S . 2 4 5 ) . LESCH u n d NYHAN ( 1 9 6 4 ) b e s c h r i e 1 5 Harris
225
ben bei Kindern ein komplexes und sehr heftiges neurologisches Syndrom mit geistiger Retardation, spastischer Parese, Choreoathetose und autoaggressiven Verhaltensstörungen. Es bestanden eine Hyperuricämie und in einigen Fällen Uratsteine in der Niere sowie Gicht-Symptome. Als Basisdefekt ergab sich ein anscheinend vollständiger Mangel des X-chromosomal determinierten Enzyms Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyltransferase ( N Y H A N e t al. 1967, SEEGMILLER e t al. 1967).
Tabelle 9.1. Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyltransferase-Aktivität in Erythrozyten mit Hypoxanthin oder Guanin als Substrat bei Patienten aus unterschiedlichen Sippen mit verschiedenen klinischen Erscheinungen (KELLEY 1968)
Kontrollpersonen (18) Patienten mit LESCH-NYHANSyndrom (9) Patienten mit Gicht bei HarnsäureÜberproduktion (a) mit normalem Enzym (10) (b) mit defektem Enzym (10) J-Familie PJ RJ TJ L-Pamilie PL ML S 1 -Familie TS D-Familie AD G-Familie JG RG Sj-Familie GS
226
Phosphoribosyltransferase-Aktivität (mji. mol/mg Protein/h) Hypoxanthin Guanin
relative Hitzestabilitat, bezogen auf normale Kontrollwerte
103 ± 18
103 ± 2 1
—
< 0,01
< 0,004
—
99 ± 13
106 ± 21
-
1.3 1,5
0,6
1,8
0,8
11,8 8,7
0,5 0,5
9,9
9,5
12,2
17,3
9.4 9,2
8,8
0,03
0,009
0,8
verringert
erhöht
nicht getestet 7,5
Das Enzym wurde daraufhin auch bei anderen, erwachsenen Patienten mit der typischen Anamnese einer Gicht, Harnsäurenephrolithiasis oder Hyperuricämie untersucht (KELLEY et al. 1967, K E L L E Y 1968). Dabei fanden sich einige mit einem deutlichen Enzym-Mangel, wobei dieser allerdings nicht so stark wie beim LESCH-NYHAN-Syndrom war. Die Ergebnisse einiger der Enzymanalysen in Tab. 9.1. deuten auf mehrere ganz unterschiedliche Defekte bei Hyperuricämie hin, die sich aber jeweils als intrafamiliär konstant erwiesen. So erreichte bei Patienten aus einer Sippe (Tab. 9.1., Familie J ) die Enzymaktivität in den Erythrozyten nur etwa 1% des Normalwertes, wenn entweder Hypoxanthin oder Guanin als Substrat verwendet wurden. Das Enzymprotein erwies sich als bedeutend thermolabiler als das normale. In einer anderen Familie (Tab. 9.1., Familie L) zeigten die befallenen Individuen eine stark verringerte Enzymaktivität vor allem bei Guanin als Substrat, was auf eine veränderte Substratspezifität schließen läßt. Die Variante war thermostabiler als das normale Enzym. Diese Ergebnisse deuten auf die Existenz mehrerer unterschiedlicher, familienspezifischer Gene hin, von denen jedes eine Strukturvariante des Enzymproteins codiert. Da alle offenbar einen Enzymdefekt bedingen, kommt es zur Anreicherung von Harnsäure mit Hyperuricämie und entsprechenden klinischen Folgen (Gicht, Nephrolithiasis). Die Krankheitsbilder zeigen jedoch wenig Ubereinstimmung mit dem LESCH-NYHANSyndrom, bei dem schon im Kindesalter heftige neurologische Störungen auftreten. Die Variabilität von Erbkrankheiten beruht schließlich nicht nur auf der Heterogenität der verursachenden Mutationen, sondern auch auf der Verschiedenheit des genetischen Hintergrundes, in dem mit Ausnahme eineiiger Mehrlinge nie zwei Menschen vollkommen übereinstimmen (S. 204 bis 210). Wie im einzelnen dieses genetische Milieu über biochemische und physiologische Vorgänge und deren komplexe pathogenetische Folgen die Manifestation einer bestimmten Krankheit beeinflußt, läßt sich im allgemeinen schwer bestimmen. In diesem Zusammenhang muß im Hinblick auf die Wirkung einer Mutation zwischen Variabilität, bedingt durch Allele anderer Loci, und Variabilität auf Grund der Existenz verschiedener sogenannter „normaler" Allele desselben Locus unterschieden werden. Die zweite Möglichkeit spielt natürlich nur bei Heterozygoten (d. h. vor allem bei dominanter Vererbung) eine Rolle. Es können mehrere unterschiedliche Allele eines Locus das entsprechende Genprodukt verändern, ohne klinische Erscheinungen hervorzurufen. Diese z. T. recht häufigen „normalen" Allele können aber bei Heterozygotie mit einem anderen Allel dessen phänotypische Wirkung unterschiedlich beeinflussen. Dadurch ähneln sich Geschwister in der Ausprägung eines Erbleidens gelegentlich mehr als Eltern und Kinder. 15*
227
9.4.
Vererbung und Umwelt
Viele Eigenschaften eines Individuums, die genetisch bedingt sind, werden außerdem von Umweltfaktoren beeinflußt. Die komplizierten Wechselwirkungen zwischen „ N a t u r " (nature) und „Erziehung" (nurture), wie es Francis G A L T O N nannte, lassen sich oft nur schwer entwirren. I m folgenden soll einiges in dieser Hinsicht an H a n d von Stoffwechseldefekten und entsprechenden Umweltbedingungen dargestellt werden (Tab. 9.2.). Tabelle 9.2. Genetisch determinierte Enzymdefekte und die das Krankheitsbild auslösenden Umweltfaktoren Zustand
Enzymdefizienz
Umweltfaktor
Galaktosämie
Galaktose-1 -PhosphatUridyltransferase Leber-Aldolase Glukose-6-PhosphatDehydrogenase
Laktose, Galaktose
Fruktoseintoleranz Favismus Primachin-Überempfindlichkeit Suxamethonium-Apnoe Skorbut
Serum-Cholinesterase L-Gulonolactonoxidase
Fruktose, Saccharose Faba-Bohnen Primachin, Sulfonamide usw. Suxamethonium Vitamin-C-Mangel
Bei der Galaktosämie (S. 140—141) besteht der Basisdefekt in einem Mangel an Galaktose-l-Phosphat-Uridyltransferase, der zu einem Block im Galaktosestoffwechsel f ü h r t . Durch einen hohen Blutgalaktosespiegel und intrazelluläre Galaktose-1-Phosphat-Speicherung kommt es im Säuglingsalter zu Gedeihstörungen und später zu Leber- und Hirnschäden sowie zur Katarakt-Bildung. Der Zustand bessert sich jedoch sofort unter galaktosefreier Diät, und das Kind entwickelt sich normal, wenn diese Therapie vor Auftreten irreversibler Schäden einsetzt. I n gewissem Sinne kann also die Galaktosämie als umweit-, d. h. laktoseabhängig angesehen werden. Eine Veränderung der Umwelt verhindert die schädlichen Auswirkungen des genetischen Defektes. Dem Individuum wird zwar immer das bestimmte Enzym fehlen; es ist gleichsam prädisponiert, ohne klinisch jedoch beeinträchtigt zu sein. Bei der Fruktoseintoleranz (S. 142—145) kommt es infolge eines Mangels an Leberaldolase (Aldolase B) nach Aufnahme fruktose- oder saccharosehaltiger Nahrung zu einer Störung des Fruktose-Stoffwechsels und zu heftigen klinischen Erscheinungen, die bei fruktosefreier Diät nicht auftreten. I m Gegensatz zur Galaktose bildet Fruktose keinen obligaten Bestandteil normaler Kindernahrung, so daß das Krankheitsbild bei den einzelnen Patienten mit variabler Schwere auftritt, je nach Art der aufgenommenen 228
Kohlenhydrate. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Zeitpunkt, wobei der Übergang von der Muttermilch auf andere Milchnahrung mit Saccharosezusätzen entscheidend sein dürfte. Letztere können im frühen Säuglingsalter zu einer raschen Verschlechterung des Allgemeinzustandes und zu irreversiblen Schäden führen. Wird das Kind länger gestillt, vermag es dann bereits entsprechende Speisen durch eine ausgeprägte Aversion gegen Süßes zurückzuweisen. Es entgeht damit einer schwereren Schädigung. Die Schwere einer Erbkrankheit kann also von ganz zufälligen und äußeren Faktoren abhängen, wie in unserem Beispiel vom Termin des Abstillens. Beim Favismus treten heftige hämolytische Krisen nach Kontakt mit Faba-Bohnen auf. Aber keineswegs alle Menschen des Vorderen Orients oder Südeuropas, wo diese Bohnen ein Hauptnahrungsmittel darstellen, erkranken. Es muß nämlich ein G-6-PD-Defekt, gewöhnlich in Form der Variante Gd Mediterran, vorliegen. Nur wenn eine Person das entsprechende Allel besitzt und Kontakt mit Vicia faba hat, kommt es zur hämolytischen Anämie. Tatsächlich ist der Vorgang jedoch noch komplizierter, weil nicht alle Individuen, die diese beiden Voraussetzungen erfüllen, erkranken bzw. nicht mit gleicher Heftigkeit erkranken. Wahrscheinlich spielen dabei noch andere genetische und Umweltfaktoren (Art und Stärke des Kontaktes mit Vicia faba) eine Rolle. Wir zögern nicht, die Galaktosämie als eine Erbkrankheit anzusehen, weil sie sich bei allen Individuen mit entsprechender genetischer Konstitution manifestiert. Der auslösende Faktor ist ein Bestandteil der normalen Umwelt. Dasselbe gilt im wesentlichen für die Fruktoseintoleranz. Den Favismus kann man jedoch schon nicht mehr als rein genetisch und auch nicht als nur umweltbedingt ansehen, und dies trifft offensichtlich auch für viele andere in der klinischen Praxis vorkommende Krankheitsbilder zu. Ob eine Krankheit als vorwiegend genetisch oder umweltbedingt eingeschätzt wird, hängt von der erblichen Disposition einerseits und von den jeweiligen Umweltbedingungen andererseits ab. Wenn der genetische Defekt relativ selten auftritt, der entscheidende Umweltfaktor aber eine Allgemeinerscheinung darstellt, wie im Falle der Galaktosämie, dann spricht man von einem Erbleiden. Ist jedoch die genetische Komponente relativ verbreitet, während der spezielle Umweltfaktor eine Ausnahmesituation bildet, erscheint dieser als die wichtigste Ursache einer Krankheit. Als Beispiel sei in diesem Zusammenhang Skorbut erwähnt. So weit bekannt, können weder der Mensch noch andere Primaten L-Ascorbinsäure (Vitamin C) bilden. Fehlt sie in der Nahrung, entwickelt sich ein Skorbut. Viele andere Säugetiere synthetisieren dagegen L-Ascorbinsäure: D-Glukose -*• D-GIucuronolacton -» L-Gulonolacton -» L-Ascorbinsäure
229
Offenbar ist beim Menschen und anderen Primaten ein Enzym für die Umwandlung von L-Gulonolacton zu L-Ascorbinsäure (BTTRNS 1957) im Verlauf der Evolution verlorengegangen. So kann Skorbut mit gutem Grund als eine durch Umweltbedingungen, speziell durch Vitamin-CMangel in der Nahrung, ausgelöste Krankheit angesehen werden, aber auch als ein angeborener Stoffwechseldefekt, der die ganze Spezies betrifft (SNYDEB 1 9 5 9 ) .
Umweifbedingungen Abb. 9.1. Schematische Darstellung der Rolle von genetischer Disposition und Umweltfaktoren bei der Entstehung von Krankheiten (Erklärung s. Text).
Bei anderen Krankheitsbildern sind sowohl die genetische Anlage als auch die spezifischen auslösenden Umweltfaktoren relativ selten. Die Suxamethonium-Überempfindlichkeit z. B. (S. 105—111) tritt mit einer Frequenz von etwa 1:2000 auf. Entsprechende Personen besitzen eine atypische Form des Enzyms Serum-Cholinesterase und bauen deshalb Suxamethonium wesentlich langsamer ab als Normalpersonen. Die von dem Medikament hervorgerufene Muskel- und später Atemlähmung verläuft unter diesen Umständen .stark protrahiert. Solange die Merkmalsträger jedoch dieser ungewöhnlichen und artifiziellen Umweltkomponente nicht ausgesetzt werden, bestehen keinerlei Störungen. Es überrascht nicht, daß eine solche Krankheit auf den ersten Blick als nicht erblich erschien. 230
Wenn wir unter diesem Blickwinkel das Spektrum der Krankheiten und Anomalien überblicken, finden wir an dem einen Extrem Syndrome wie Sichelzellanämie, Phenylketonurie, Hämophilie, Muskeldystrophie usw., die wir als Erbkrankheiten ansehen, weil der genetische Defekt immer phänotypisch manifestiert wird. Das andere Extrem bilden die typischen umweltbedingten Krankheiten, wie Infektionskrankheiten (Pest, Anthrax, Typhus), von denen praktisch jeder Exponierte betroffen wird. Dazwischen aber liegen viele Krankheitsbilder, bei deren Zustandekommen anscheinend sowohl genetische als auch Umweltfaktoren eine Rolle spielen (z. B. Schizophrenie, Diabetes mellitus, Ulcéra usw.). Wir haben dabei jeweils Anhaltspunkte für die Existenz einer genetisch bedingten Disposition, wissen aber auch, daß sich nur bei einem Bruchteil entsprechender Personen die Krankheit wirklich entwickelt. Die Art des erblichen Basisdefektes sowie die speziellen auslösenden Umweltfaktoren sind zum großen Teil unbekannt. Abb. 9.1. stellt diese Situation in einem einfachen Diagramm dar. Von der durch den äußeren Kreis begrenzten Population besitzen die Individuen im inneren Kreis eine genetische Disposition für eine bestimmte Krankheit. Die beiden Radien bezeichnen eine ungünstigen Umweltfaktoren ausgesetzte Gruppe. Nur die Personen, die sowohl genetisch prädisponiert als auch entsprechenden Umweltbedingungen ausgesetzt sind, weisen tatsächlich die klinische Störung auf (schraffierter Sektor). Die praktische Konsequenz aus dieser Betrachtung für die genetische Forschung wird also sein, Methoden zur Auffindung solcher genetisch für ein bestimmtes Krankheitsbild disponierter Personen und der auslösenden Umweltfaktoren zu entwickeln. Der Teil einer Population, der einerseits eine bestimmte genetische Disposition aufweist und andererseits entsprechend ungünstigen Umweltsituationen ausgesetzt ist, kann größenmäßig stark variieren. Außerdem muß man damit rechnen, daß eine bestimmte Disposition eine heterogene bzw. polygene Grundlage hat und deshalb noch von variabler Ausprägung sein kann. Ähnlich quantitative Abstufungen existieren hinsichtlich der Umweltfaktoren. Man sollte sich also die Trennungslinien im Schema eher unscharf vorstellen. Trotzdem liefert diese einfache Betrachtungsweise eine brauchbare Möglichkeit, über die von den verschiedenen z. T. recht häufigen Krankheitsbildern gestellten Probleme nachzudenken. Es ergibt sich außerdem ein interessantes Paradoxon, indem die Untersuchung der Genetik vieler Erbkrankheiten zu therapeutischen Konsequenzen allein über Umweltbeeinflussung führt. Wahrscheinlich wird eine der wichtigsten praktischen, sozialen und medizinischen Anwendungsmöglichkeiten der genetischen Forschung in der Kontrolle der Umwelt liegen; denn je genauer man die genetische Konstitution eines Menschen kennt, desto besser vermag man auch die für ihn optimale Umwelt zu charakterisieren. 231
ANHANG 1
Angeborene Stoifwechseldefekte auf Grund von Enzymdefizienzen (inborn errors of metabolism) A 1.1.
Defekte des
Kohlenhydratstoffwechsels
Betroffenes Enzym (Enzymmangel)
Krankheitsbild
i . Hexokinase der Erythrozyten (ATP: D-hexose-6phosphotransferase) E. C. 2.7.1.1.
Chronisch hämolytische Anämie Defekte Phosphorylierung der Glukose (Abb. A.I.); verminderte Glykolyse f ü h r t zum vorzeitigen Zerfall der roten Blutkörperchen. Keine Hexokinasedefizienz in Leukozyten. Literatur: V A L E N T I N E et al. ( 1 9 6 7 )
2. Phosphohexoseisomerase (Glucosephosphatisomerase) (D-glucose-6-phosphateketol-isomerase) E. C. 5.3.1.9.
Hämolytische Anämie Störung der Umwandlung von Glukose-6-Phosphat zu Fruktose-6-Phosphat (Abb. A.l) in Erythrozyten, verminderte Glykolyse. Enzymdefekt in Leukozyten und Geweben offensichtlich ohne klinische Folgen. Multiple Allelie. Literatur: B A U G H A N et al. ( 1 9 6 8 ) , PAGLTA et al. (1969), DETTER e t al. (1968)
3. Phosphofruktokinase der Muskulatur (ATP: D-fruotose-6-phosphotransferase) E. C. 2.7.1.11.
Phosphofruktokinase-1 Verminderte Glykolyse im Muskel führt zur Glykogenanreicherung. Muskelschwäche und Steifheit nach Belastung. Partielle Aktivitätsminderung in roten Blutkörperchen f ü h r t zu milder chronischer Anämie. Restaktivität in Erythrozyten (etwa 50%) auf Grund eines anderen Enzyms. Literatur: TARTTI et al. (1965), L A Y Z E R et al. (1967), TAB tri et al. (1969)
4. Triosephosphatisomerase (D-glyceraldehyd-3-phosphate ketol-isomerase) E. C. 5.3.1.1.
Hämolytische Anämie Enzymdefekt in Erythrozyten, Leukozyten, Liquor, Muskulatur und anderen Geweben. Glykolysestörung erhöht Konzentration von Dihydroxyacetonphosphat (Abb. A.l.). Chronische hämolytische Anämie und in einigen Fällen progressive neurologische Ausfallserscheinungen, sowohl des peripheren als auch Zentralnervensystems vom 2. Lebensjahr an. Literatur: S C H N E I D E R et al. (1965, 1968a, b), V A L E N T I N E et al. (1966)
232
Glukose
\r ATP
Hexokinasel t*-ADP G-B-P
Glukose-B-PhosphatDehydrogenase ^
Phosphohexosef isomerase 1
N/Qp
*
T
Phosphofructokinase
[
^ \
/
Ö/MPC Triosephosphat Isomerase
\
V
'
t
nnum 'Olutathion. reduktase \ NADP
GS_,SG
NADPH-* \
/
PhasphogluconatDehydrogenase ,
\
/
Transaldo/ase
-Pentose-5-Phosphat
/
ß-3-P
Glycerinaldehyd-3-PhosphaW* NA° Dehydrogenase k . v, no l,o Urb Phosphogtyceratkinase
g_pg
m6pH
^ Diphosphoglyceratrnutase \
i^/lOP
[ b-ATP 3-PG-* i
>,
23-DPG J
Diphosphoglyceratphosphatase
Phosphoglycemtmutase T 2-Pß Phosphopyruvat- T Hydratase j PEP k^-ADP Pyruvat-Kinase [ b*~ATP Pyruvat Lactatdehydrogenase
[
N-MSD
Lactat
Abb. A.i. Glukosestoffwechsel der Erythrozyten (nach VALENTINE 1968).
233
5. Aldolase B (Leberisozym) (Ketose-l-pho8phate aldehyde-lyase) E . C. 2.7.2.3.
Fruktose-Intoleranz
6. Phosphoglyceratkinase ( A T P : 3-phospho-D-glycerate) 1-phosphotransferase) E . C. 2.7.2.3.
Chronische hämolytische Anämie Glykolyse-Störung der E r y t h r o z y t e n (Abb. A.I.). E n z y m d e f e k t in E r y t h r o z y t e n u n d Leukozyten. L i t e r a t u r : K R A U S et al. ( 1 9 6 8 ) , V A L E N T I N E ( 1 9 6 8 )
7. Pyruvatkinase (Erythrozytenisozym) (ATP: p y r u v a t e phosphotransferase) E. C. 2.7.1.40.
Hämolytische
8. Diphosphoglyceratmutase (1,3-diphospho-D-glycer a t e : 3 phospho-D-glycer a t e phosphotransferase) E . C. 2.7.5.4.
Hämolytische Anämie Literatur: SCHRÖTER
9. Glukose-6-Phosphat Dehydrogenase (D-glucose-6-phosphate : N A D P oxido reductase) E. C. 1.1.1.49.
Primachinsensitivität, Favismus X-chromosomaler E r b g a n g
10. Glutathionreduktase ( N A D P H 2 : glutathione oxido reductase) E . C. 1.6.4.2.
Anämie
(1965)
usw.
Chronische hämolytische Anämie unterschiedlicher Schwere, abhängig von Medikamenten. L i t e r a t u r : L O H R u n d W A L L E R ( 1 9 6 2 ) , W A L L E R et al. (1965), WALLER
(1968)
11. Galaktokinase (ATP: D-galactose ^phosphotransferase) E. C. 2.7.1.6.
Galaktosämie
II
12. Galaktose-l-PhosphatUridyltransferase ( U D P glucose :a-D-galactose phosphate uridyltransferase) E. C. 2.7.1.4.
Galaktosämie
I
13. Fruktokinase (ATP: D-fructose 6-phosphotransferase) E . C. 2.7.1.4.
Fruktosurie ohne klinische Erscheinung. Defekte Phosphorylierung von Fruktose, hoher Fruktosespiegel im Blut u n d im Urin nach A u f n a h m e fruktosehaltiger Nahrung. L i t e r a t u r : S A C H S et al. (1942), L A S K E R (1941), S C H A P I R A et al. (1961)
234
14. Glukose-6-Phosphatase (D-glucose 6-phosphate phosphohydrolase) E. C. 3.1.3.9.
von Gierke-Syndrom (Glykogenose Typ I)
15. 1,6)-Trans glukosidase
Andersen-Syndrom (Glykogenose Typ
18. Muskel-Phosphorylase (a-1,4-glucan : orthophosphate glucosyltransferase) E. C. 2.4.1.1.
McArdle-Syndrom (Glykogenose Typ V)
19. Phosphorylasekinase (ATP: phosphorylase phosphotransferase) E. C. 2.7.1.38.
Hers-Syndrom (Glykogenose Typ
20. Glykogensynthetase (UDP glucose : glycogen a-4-glucosyltransferase) E. C. 2.4.1.11.
Glykogenspeicherungsunfähigkeit
21. L-Xylulosereduktase (Xylitol: NADP oxidoreductase [L-Xylulose forming]) E. C. 1.1.1.10.
Pentosurie, Xylosurie Keine klinischen Erscheinungen, Störung des D-Glucuronsäure-Stoffwechsels (Abb. A.2.) mit Anreicherung von L-Xylulose und L-Arabitol im Urin, besonders bei Belastung mit Glucuronsäure und Medikamenten, die die Glucuronsäurebildung anregen bzw. selbst als Glucuronide ausgeschieden werden.
(Glykogenose Typ
II) III) IV)
VI)
L i t e r a t u r : ENKLEWITZ und LASKEB (1935), LASKER e t al. (1936), TOUSTER (1959), HIATT (1966).
22. Isomaltase (Maltase la) und Saccharase (Maltase l b )
Saccharose- und Isomaltoseintoleranz Keine Hydrolyse von Saccharose und aus Stärke stammender Isomaltose. Chronische Diarrhoe (niedriger pH-Wert durch Milchsäure und andere organische Säuren aus bakteriellem Abbau der Kohlenhydrate)
L i t e r a t u r : WEIJERS et al. (1960), PRADER AURICCHIO (1965), R E Y and FRÈZAL (1967)
23. Lactase
and
Angeborene Lactoseintoleranz Keine Hydrolyse der Lactose. Chronische' Diarrhoe. L i t e r a t u r : HOLZEL e t al. (1959), LIFSCHITZ (1966)
235
R— H2COH H 2 COH HCOH I HCOH HCOH HCOH I I O I ROCH HOCH HOCH I — I NAD NAOPHZ HCOH HCOH I I I HCOH HC HCOH I COOH COOH COOH D-Glucuronsäure L- Gulonsäure 3-Ketogulonsäure
c=o
Block bei congenitaler Pentosurie H2COH
HÜCOH
H2COH
c=o
c=o
T
H2COH
HCOH HCOH I I I -HOCH HOCH HOCH -HOCH NAQ NADPHz ATP I I ' I ¿=0 HCOH HCOH HCOH I I H2COH H2COH H2COH H2COPOJ ¡.-Xylulose Xylitol D-Xvlulose-5-Phosphat D-Xylulose H2COH HCOH I HOCH I HOCH A b b . A . 2 . B l o c k im Glucuronsäure-Stoffwechsel bei Pentosurie.
H 2 COH L-Arabitoi
HC=CCH2CHNH2COOH N: V
NH
HC=CCH=CHCOOH Histidase
H Histidin
HC=CCH2COCOOH N
N^/NH H Urocaninsäure
o=c
CHCH2CH2COOH
%C/NH
H Imidazolbrenzfraubensäure
H Imidazolonpropionsaure
Imidazolmilchsaure Imidazolazetessigsaure
H O O C CHCH2CH2COOH
Abb. A.3. Histidinstoffwechsel.
CH II NH Formiminog/utaminsäure
(JH
A. 1.2.
Störungen
des
Aminosäurestoffwechsels
1. Phenylalanine-4-Hydroxyläse E. C. 1.14.3.1.
(a) Phenylketonurie Keine oder verminderte Hydroxylierung von Phenylalanin zu Tyrosin (Abb. 6.2.). Blutphenylalaninspiegel im unbehandelten Zustand > 20 mg % . Gewöhnlich starke geistige Retardation. (b) „Hyperphenylalaninämie" Wahrscheinlich heterogen, partieller Defekt der Phenylalanin-Hydroxylierung. Blutphenylalaninspiegel 6—20 mg % . Gewöhnlich normale Intelligenz. L i t e r a t u r : BERMAN e t al. ( 1 9 6 9 ) , JUSTICE e t (1967), AUERBACH e t al. (1967)
2. p-Hydroxyphenyl-Brenztraubensäureoxidase (hydroxylase) E.C. 1.14.2.2.
al.
Tyrosinämie Umwandlung von p-Hydroxyphenylbrenztraubensäure zu Homogentisinsäure defekt (siehe Abb. 6.1). Hoher Tyrosinspiegel im Blut. Tyrosin, p-Hydroxyphenylbrenztraubensäure und andere Derivate im Urin vermehrt. Leberschäden im Kindesalter oft tödlich, bei Überleben Lebercirrhose, tubuläre Nierenschäden und Vitamin-D-resistente Rachitis. L i t e r a t u r : LA DU (1967), SCRIVER e t al. HALVORSEN e t al. (1966), GENTZ e t al. TANIGUCHI a n d GJESSING ( 1 9 6 5 ) .
(1967), (1965),
3. Homogentisinsäure-Oxydase (homogentisate oxygenase) E. C. 1.13.1.5.
Alkaptonurie (S. 134)
4. Histidase (histidine-adeaminase) (L-histidine ammonia-lyase) E. C. 4.3.1.3.
Histidinämie Keine Bildung von Urocaninsäure aus Histidin (Abb. A.3.). Erhöhter Histidinspiegel im Blut. Verstärkte Ausscheidung von Imidazolbrenztraubensäure im Urin. Fehlen von Formiminoglutaminsäure im Urin nach Histidinbelastung. Fehlen von Urocaninsäure im Schweiß. Sprachstörung. Bei 50% der Fälle geistige Retardation. Literatur: GHADIMI et al. (1961), LA DU et al. (1962),
AUERBACH
et
al.
(1962),
PARTINGTON (1967), LA DU (1967) 5. Cystathioninsynthetase (serine dehydratase) (L-serine hydro-lyase [deaminating]) E. C. 4.2.1.13.
GHADIMI
and
Homocystinurie Defekt der Cystathioninbildung aus Homocystein und Serin (Abb. A.4.) Homocystinausscheidung im Urin, erhöhter Homocystin- und Methioninspiegel im Serum. Vermin-
237
derter Cystathioningehalt im Gehirn. Geistige Retardation. Ectopia lentis, Skelettanomalien und Thrombose- und Embolieneigung. Literatur: G E R R I T S O N and W A I S M A N (1964a, b),
6. Cystathionase (homoserine dehydratase) (L-homoserine hydro-lyase [deaminating]) E. C. 4.2.1.15.
CARSON e t
al.
(1965),
UHLENDORF
and
MTTDD
BRENTON
et
al.
(1966),
(1968)
Cystathioninurie Defekt des Abbaus von Cystathionin in Cystin, a-Ketobuttersäure und Ammoniak (Abb. A.4.). Erhöhter Cystathioninspiegel in Geweben und Körperflüssigkeiten. Zusammenhang mit neurologisch-psychiatrischer Symptomatik noch unklar. Literatur: H A R R I S et al. ( 1 9 5 9 ) , F R I M P T E R et al. (1963), FRIMPTER (1965, 1967), FINKELSTEIN e t al. (1966)
7. Jodotyrosindejodinase
Kretinismus (Typ der Hypothyreose). Defekt der Dejodierung von Mono- und Dijodtyrosin während der Thyroidhormonsynthese. Jodverarmung der Schilddrüse und des Körpers führt zu Hypothyreose. Literatur: HTJTCHISON a n d M C G I R R ( 1 9 5 6 ) , Q U E R I D O e t a l . ( 1 9 5 6 ) , MURRAY e t a l . ( 1 9 6 5 ) , STANBURY ( 1 9 6 6 ) .
8. Branched chain ketoacid decarboxylase (s)
(a) Ahornsirupkrankheit Störung des Abbaus verzweigtkettiger Aminosäuren (Abb. A.5.). Hoher Leucin-, Isoleucin- u n d Valinspiegel im Serum und Harn. In letzterem außerdem verstärkte Ausscheidung von Isovaleriansäure, a-Methylbuttersäure und Isobuttersäure. Progrediente neurologische Symptomatik, bereits im Säuglingsalter zum Tode führend. Literatur: D A K C I S et al. (1959), M A C K E N Z I E and W O O L P (1959), D A N C I S et al. (1963), S N Y D E R M A N (1967), GOEDDE a n d KELLER (1967)
(b) Intermittierende Ahornsirupkrankheit Restaktivität des Enzyms (oder der Enzyme) vorhanden. Vorübergehend erhöhte Ausscheidung der verzweigtkettigen Amino- und Ketosäuren mit entsprechenden neurologischen Symptomen (toxische Encephalopathie) und lebensbedrohlichen Zuständen, offenbar durch Infektionen oder verstärkte Proteinaufnahme ausgelöst. Zwischen den Episoden keine biochemischen und klinischen Erscheinungen. Literatur: K I L L and R O K K E N E S (1964), M O R R I S et al. (1966), DANCIS et al. (1967).
238
CH3-S- CH2CH2CHNH2COOH Methionin
S-AdenosyI - Methionin S-Adenosyl-Homocystein CH2OH CHNH2COOH Serin
S-CH2CH2CHNH2COOH
HS-CH2CH|CHNH2COOHHomocystein
S-CH2CH2CHNH2COOH Homocystin
Cysia thioninsynthetase H2C-
-CH 2
CHNH2
CH2
COOH
CHNH2
COOH Cystathionin Cystathionase HSCH2CHNH2 COOH + [HOCH2CH2CHNH2COOH] Cystein
Homoserin
I
CH 3 CH 2 COCOOH + NH3 oc - Ketobuttersäure
Abb. A.4. Stoffwechselweg der Cysteinsynthese aus Methionin. Isoleucin
Leucin -NH 3 cc-Ketoisucapronsäure
TsovalerylCoA
-2H
azidämie
- NHj-^-Hypervalinamie
-NH 3 cc-Keto-ß-MethylVaieriansäure
Jp-COt Isova/erian-
Valin
cc-ketoIsovaleriansäure
-co2
3-CCV
. Ahornsirup Krankheit