Between the worlds contexts, sources, and analogues of Scandinavian otherworld journeys [[1. Auflage]] 9783110618815, 3110618818

The rich corpus of literary otherworld journeys that has survived from the Scandinavian - and especially the Icelandic -

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Die altnordische und altsächsisch-altenglische literarische Überlieferung
1 Introduction
2 Various kinds of Other Worlds in Old Norse Mythology
3 Different Worlds and their inhabitants, the protagonists, and the purposes of travelling
4 Conclusions
Bibliography
Literaturverzeichnis
1 Grenze in Mythologie und Ritual
2 Sonnenlied und Traumlied
3 Der Ausgangspunkt: altnordische Welten und die außerweltliche Position
4 Homo viator
5 Wandern und Erkennen
6 Die ‚Welten‘ im Sonnenlied und Traumlied
7 Fremdheit des Jenseits
8 Einsamkeit
9 Freiheit
10 Schluss
Literaturverzeichnis
Sekundärliteratur
1 Herkunft und Überblick der
2 Mögliche Quellentexte
3 Der kleinere Teufel und Loki
4 Adam und Þórr
5 Eva und Iðunn
6 Satan und Óðinn
7 Alte Götter in neuer Gestaltung
Literaturverzeichnis
Archäologie
1 Einführung
2 Grundlagen der Bilddeutung
3 Der Reiterempfang
4 Ornithomorphe Psychopompoi
5 Das Boot
6 Numinose Schiffsbegleitung – Ein ‚Neufund‘ mit Schlüsselcharakter
7 Die Schlussphase – Einfluss christlicher Jenseitsvorstellungen?
8 Fazit
Literaturverzeichnis
1 Introduction
2 The last journey
3 The eternal voyage of the sun. Right and left, up and down, light and darkness
4 Left-and-right logic and language
5 An afterlife with the sun – on the sun-ship
6 Wider perspectives
Bibliography
1 Slavic eschatological beliefs – introductory remarks
2 Otherworldly destinations for the dead
3 Iconographic representations of the Slavic cosmos?
3.2 Knife sheaths with zoomorphic and anthropomorphic decorations
4 Early medieval funerary archaeology in Poland. An overview
5 Slavic funerals: performance and meaning
6 The meaning of grave goods
7 Journey to the Otherworld… and back. Final conclusions
Bibliography
Secondary Literature
Mittellateinische und keltische Überlieferungen
1 Allgemeines
2 Charakteristika der Todund Jenseits-Exempla
3 Nigromantie in Antike, Mittelalter und Neuzeit
4 Nigromantische Literatur im Mittelalter
5 Nigromantie und Inquisition
Kleriker, Literatur, Rituale
6 Nigromantie im
7 Zwei Beispiele: Teufelspakt und Dämonenkonzil in der Unterwelt
8 Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
1 Introduction
2 Medieval Irish/Hiberno-Latin voyage literature
and the Irish texts
3 Old Norse
4 The voyages of Thorkillus in
5 Irish/Hiberno-Latin and Classical parallels
6 The Christian elements
7 Conclusion
Bibliography
Literaturverzeichnis
Die antike Mittelmeerwelt und der Alte Orient
1 Die Inseln der Seligen in heutiger Internet-Lexikographie
2 Die Insel(n) der Seligen von Hesiod bis Platon
3 Die Inseln der Seligen und das Elysium
4 ‚Reale‘ Inseln der Seligen?
5 Eine parodistische Summa: Lukians Beschreibung der Insel der Seligen in den
(II 4–29)
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
2 Kirke-Episode und Hadesfahrt im Kontext der
3 Das ‚Märchen‘ von Kirke: Es war einmal eine böse Hexe …?
4 Wie alles geschah: Abläufe im Detail
5 Wie geschah nun alles? Interpretationsprobleme und Lösungsansatz
6 Kirke und Kult
7 Folgerungen und Deutung: Mythische Verankerung kultischer Praxis im epischen Gewand
Literaturverzeichnis
Bibliography
Vorbemerkung und Gliederung
1 Lebendig ins Totenreich: Innana in
2 Quellenlage
3 Der Weg der Toten ins Totenreich
4 Lebendig ins Totenreich: Geheimnisse in Mythen
5 Lebendig ins Totenreich: Die kultische Dimension
6 Das Problem der Rückkehr in Mythos und Ritual
7 Eine Perspektive für alle: Die Rückkehr der Toten
8 Faszination Anderswelten. Ein Ausblick
Literaturverzeichnis
Finno-ugrische Perspektiven
1 Introduction
2 Scandinavia: Óðinn’s booty
3 Finland-Karelia: The chest of words
4 Siberia: Shamanism
5 Greece: The cattle raid
6 Wales: The cauldron of poetry
7 Ireland: The spring of knowledge
8 Anglo-Saxon England: The poet Cædmon
9 Conclusion
Bibliography
Epos und in der finnisch-karelischen Überlieferung
1 Jenseitsreisen im
2 Väinämöinens Jenseitsfahrten und die drei fehlenden Zauberworte
3 Typische Merkmale der finnischen Überlieferung
Literaturverzeichnis
1 Introduction
2 Movement between worlds in kalevalaic epic
3 Movement between worlds in the
incantations
4 The mythic world of Karelian lamenters
5 The ritual construction of space
6 Perspectives on variation
Bibliography
Register
Namen und Begriffe
Wissenschaftliche Autoren
Orte
Texte
Bilddenkmäler
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Between the worlds contexts, sources, and analogues of Scandinavian otherworld journeys [[1. Auflage]]
 9783110618815, 3110618818

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Between the Worlds

Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde

Herausgegeben von Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

Band 118

Between the Worlds Contexts, Sources, and Analogues of Scandinavian Otherworld Journeys Edited by Matthias Egeler and Wilhelm Heizmann

ISBN 978-3-11-061881-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-062466-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-062510-3 ISSN 1866-7678 Library of Congress Control Number: 2019955260 Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available on the Internet at http://dnb.dnb.de. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Typesetting: Integra Software Services Pvt. Ltd Printing and binding: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Matthias Egeler und Wilhelm Heizmann Zwischen den Welten: Kontexte, Quellen und Analogien zu skandinavischen Jenseits- und Andersweltreisen   1

1 Die altnordische und altsächsisch-altenglische literarische Überlieferung Jens Peter Schjødt Journeys to Other Worlds in pre-Christian Scandinavian Mythology: Different Worlds – Different Purposes   15 Matthias Teichert Quest in die Unterwelt. Narrative Metamorphosen von Jenseitsreisen und anderen phantastischen Fahrten in Sagaliteratur und Eddischer Dichtung   31 Jiří Starý Zwischen Diesseits und Jenseits. Die skandinavischen Gedichte Draumkvæði und Sólarljóð   43 Richard North Der Teufel im sächsischen Garten: Loki und eine Jenseitsreise in der altsächsisch-altenglischen Genesis B   76

2 Archäologie Sigmund Oehrl Die Jenseitsreise auf den Bildsteinen Gotlands 

 117

Flemming Kaul The Possibilities for an Afterlife. Souls and Cosmology in the Nordic Bronze Age   185 Leszek Gardeła The Slavic Way of Death. Archaeological Perspectives on Otherworld Journeys in Early Medieval Poland   203

VI 

 Inhaltsverzeichnis

3 Mittellateinische und keltische Überlieferungen Horst Schneider Nigromantie in den Tod- und Jenseits-Exempla des Dialogus miraculorum des Caesarius von Heisterbach   251 Séamus Mac Mathúna The Question of Irish Analogues in Old Norse-Icelandic Voyage Tales in the fornaldarsögur and the Gesta Danorum of Saxo Grammaticus   283 Andreas Hofeneder Andersweltreisen der Kelten in der antiken Literatur: ein kurzer Baedeker 

 346

4 Die antike Mittelmeerwelt und der Alte Orient Heinz-Günther Nesselrath Die Reise zu den Inseln der Seligen von Hesiod bis Lukian 

 373

Christian Zgoll Märchenhexe oder göttliche Ritualexpertin? Kirke und Kult im Kontext der homerischen Nekyia   389 Christopher Metcalf Calypso and the Underworld: The Limits of Comparison 

 417

Annette Zgoll Wege der Lebenden ins ‚Land ohne Wiederkehr‘ in Mythen und Ritualen der mesopotamischen Antike. Der Unterweltstraum eines assyrischen Kronprinzen und Innanas Gang zur Unterwelt   432

5 Finno-ugrische Perspektiven Clive Tolley “Hard it is to stir my tongue”: Raiding the Otherworld for Poetic Inspiration 

 461

Sabine Schmalzer uupui kolmea sanoa (‚es fehlten ihm drei Zauberworte‘) – Die Jenseitsreisen der Kalevala-Helden   554

Inhaltsverzeichnis 

 VII

Frog Practice-Bound Variation in Cosmology? A Case Study of Movement between Worlds in Finno-Karelian Traditions   566

Register Namen und Begriffe 

 693

Wissenschaftliche Autoren  Orte  Texte 

 707  713

Bilddenkmäler 

 721

 703

Matthias Egeler und Wilhelm Heizmann

Zwischen den Welten: Kontexte, Quellen und Analogien zu skandinavischen Jenseits- und Andersweltreisen Die reiche Überlieferung literarischer Jenseitsreisen, die aus dem skandinavi­ schen – und hier insbesondere dem isländischen – Mittelalter auf uns gekommen ist, ist in vieler Hinsicht einem Raum ‚zwischen den Welten‘ verhaftet. Nicht nur behandelt jede Jenseitsreise schon in dem banalen Sinne einen Raum ‚zwischen den Welten‘, dass sie sich zwischen einem ‚Diesseits‘ und einem ‚Jenseits‘ abspielt und die Reise vom einen in das andere (und den Aufenthalt im Letzteren) behan­ delt, sondern auch kulturell steht dieser Zweig der literarischen Überlieferung des Nordens in einem weiten Spannungsfeld. Dies verdeutlicht schon eines der bekanntesten Beispiele einer Jenseitsreise in der mythologischen Literatur. Snorri Sturluson behandelt in seiner Gylfaginning den wohl berühmtesten Mord der alt­ nordischen Mythologie: die Tötung des Gottes Balder durch den blinden Hǫðr. Angestachelt von Loki schießt Hǫðr einen Mistelzweig auf Balder – und der ver­ meintlich harmlose kleine Zweig wird zum schicksalhaften Geschoss und verwun­ det Balder tödlich. Nachdem die versammelten Götter sich von ihrem sprachlosen Schrecken erholt haben, fragt die Göttin Frigg in die Runde, wer sich dazu bereit­ erklären würde, ins Totenreich der Hel zu reiten, um Balder dort auszulösen. Die Wahl fällt auf Hermóðr, der nun für diese Reise Odins Pferd Sleipnir erhält und sich damit auf den Weg von der Welt der Götter in die Unterwelt macht. Die zurückge­ bliebenen Götter bereiten derweil Balders Bestattung vor (Gylfaginning 49): En Æsirnir tóku lík Baldrs ok fluttu til sævar. Hringhorni hét skip Baldrs. Hann var allra skipa mestr. Hann vildu goðin fram setja ok gera þar á bálfǫr Baldrs. En skipit gekk hvergi fram. Þá var sent í Jǫtunheima eptir gýgi þeiri er Hyrrokkin hét. En er hon kom ok reið vargi ok hafði hǫggorm at taumum þá hljóp hon af hestinum, en Óðinn kallaði til berserki fjóra at gæta hestsins, ok fengu þeir eigi haldit nema þeir feldi hann. Þá gekk Hyrrokkin á framstafn nǫkkvans ok hratt fram í fyrsta viðbragði svá at eldr hraut ór hlunnunum ok lǫnd ǫll skulfu. Þá varð Þórr reiðr ok greip hamarinn ok myndi þá brjóta hǫfuð hennar áðr en goðin ǫll báðu henni friðar. […] Þá stóð Þórr at ok vígði bálit með Mjǫllni.1 (Die Asen aber nahmen Balders Leiche und schafften sie ans Meer. Hringhorni hieß Balders Schiff, es war das größte aller Schiffe; die Götter wollten es zu Wasser bringen und darauf Balders Einäscherung vornehmen. Aber das Schiff rührte sich nicht vom Fleck. Da wurde zu der Riesin Hyrrokkin in Jǫtunheimar geschickt, und als sie auf einem Wolf geritten kam und Giftschlangen als Zaum hatte, da stieg sie vom Pferd, und Óðinn rief vier Berserker heran, das Pferd zu bewa­

1 Faulkes (Hg.) 2005, S. 46. Zu dieser Szene vgl. etwa Egeler 2015, S. 113–180; Lindow 1997, S. 69–100; Schjødt 1995, S. 23. https://doi.org/10.1515/9783110624663-001

2 

 Matthias Egeler und Wilhelm Heizmann

chen, aber sie konnten es nicht halten, außer daß sie es niederwarfen. Da ging Hyrrokkin zum Vordersteven des Schiffs und stieß es mit der ersten schnellen Bewegung weg, so daß Feuer aus den Schiffsrollen sprang und das ganze Land erbebte. Da wurde Þórr zornig und ergriff den Hammer und hätte ihren Kopf zerschmettert, wenn nicht zuvor alle Götter gebeten hätten, sie zu schonen. […] Þórr stand dabei und weihte den Scheiterhaufen mit Mjǫllnir.)2

Was in dieser Szene geschildert wird, kann ikonisch für das Motto ‚zwischen den Welten‘ stehen: Vom christlichen Schriftsteller Snorri wird hier eine Geschichte über die alten, vorchristlichen Götter des Nordens erzählt, in der ein Gott zu Schiff aus der Welt der Götter in das Jenseits der Toten gesandt wird; und dies berührt nicht nur die Welten der Götter und der Toten, sondern auch die Welt der Riesen, denn nur eine Riesin kann das Schiff zu Wasser lassen, das Balder zu Hel bringen wird. Die Episode überspannt so den Raum zwischen der Welt des christlichen Mittelalters und der des paganen Mythos; zwischen der Welt der Unsterblichen und derjenigen der Dahingeschiedenen; zwischen der Welt der Götter und der Welt der Riesen. Zwischen den Welten steht die Episode auch insofern, als hier von der Forschung Reflexe ganz unterschiedlicher Kulturen gesehen worden sind. Oberflächlich präsentiert sich Snorris Erzählung als die Zusammenfassung eines vorchristlichen Mythos. Doch wirkt es in einem solchen vorgeblich oder wirklich vorchristlichen Kontext in den Augen mancher wissenschaftlicher Interpreten etwas fehl am Platz, wenn Thor den Scheiter­ haufen mit seinem Hammer weiht, wie man das von einem christlichen Priester mit seinem Kreuz erwarten würde; so ist vermutet worden, dass in der Hammerweihung eine Adaption einer christlichen Aussegnung vorliegt und hier somit ein Motiv aus der Welt des Christentums in die Welt des ‚paganen‘ Mythos hineinragt.3 Ausgesprochen wahr­ scheinlich ist eine solche christliche Herkunft für zumindest noch ein weiteres Motiv der Erzählung: die Jenseitsbrücke. Während Balder zu Schiff ins Jenseits reist, reitet Hermóðr auf Sleipnir offenbar auf einer Art Parallelstraße zum Seeweg. Diese Route führt ihn an den Fluß Gjǫll, der von der „Gjǫll­Brücke“ Gjallarbrú überspannt wird (Gylfaginning 49). Das Motiv der ins Jenseits führenden Brücke erinnert so stark an die vielen Jen­ seitsbrücken der zeitgenössischen christlichen Visionsliteratur,4 dass sich eine hiervon unabhängige Herkunft des Motivs aus der paganen Vorzeit kaum vertreten lässt.5 Die Erzählung von Hermóðrs Reise ins Jenseits steckt so irgendwo zwischen der Welt des hochmittelalterlichen Christentums und derjenigen der nordischen Religion der vorange­ gangenen Epochen fest: Ein Christ erzählt hier eine Geschichte über eine vorchristliche Vergangenheit, in der Christliches und Vorchristliches sich unentwirrbar vermischen. In noch viel größere Zusammenhänge wurde der Mythos von Gustav Neckel gestellt.6 Neckel verglich die Reise, die Hermóðr ins Reich der Hel unternahm, um den 2 Lorenz (Hg./Übers.) 1984, S. 552. 3 Marold 1974, S. 213 ff. 4 Zu diesem Motiv der Visionsliteratur siehe ausführlich Dinzelbacher 1973. 5 Maier 2003, S. 108; Simek 1993, S. 110; pace Dinzelbacher 1973, S. 88 f. 6 Neckel 1920.

Zwischen den Welten 

 3

toten Gott Balder von dort zurückzuholen, mit der Unterweltsreise der mesopotami­ schen Göttin Ištar. Beide reisen in eine von einer Totengöttin beherrschte Unterwelt und scheitern an ihrem Ziel: Am Ende des Mythos bleibt Balder im Land der Toten, und auch Ištars Geliebter Tammuz ist dem Totenreich verfallen. Unter Heranzie­ hung einer Vielzahl verschiedenster Parallelen – unter anderem aus den Mythen um Attis und Adonis –, und unter Konstruktion vielfältiger Zwischenschritte postulierte Neckel in seiner klassischen Monographie über Die Überlieferungen vom Gotte Balder (1920) eine letztlich vorderorientalische Herkunft des Mythos von Hermóðrs Ritt ins Reich der Hel. Damit wurde er zu einem zentralen Wegbereiter einer phasenweise ausgesprochen lebhaften Diskussion zu vermeintlich oder wirklich vorderasiatischen Elementen in der nordischen Mythologie, die bis heute immer wieder vermutet, aber auch immer wieder zurückgewiesen werden.7 Herleitungen nordischer Motive aus letztlich vorderasiatischen Erzähl­ und Bildkonventionen wurden im Rahmen dieser Diskussion mitunter, und mit teilweise überraschender Zuversicht, bis in kleinste Details hinein postuliert. Snorris Schilderung der Bestattung Balders liefert auch hier ein gutes Beispiel. In unmittelbarem Anschluss an das oben gegebene Zitat, in dem Snorri beschreibt, wie eine Riesin herbeigeholt werden muss, um Balders Totenschiff zu Wasser zu lassen, werden die vielen Teilnehmer der Bestattungsfeier geschildert: Odin, Frigg, Freyr, Heimdall, Freyja und sogar mehrere Riesen. Dabei treten die Götter in einer ausgesprochen bildartig anmutenden Szene mitsamt ihrer Attribute auf: Odin wird von seinen Raben und seinen Walküren begleitet, während Freyr auf seinem Eber reitet und Freyja ihre Katzen bei sich hat. Als ein enges Gegenstück zu dieser Art der prozessionshaften Schilderung haben Gustav Neckel und Heinrich Hempel auf das Götterrelief des hethitischen Heiligtums von Yazılıkaya nahe der hethitischen Hauptstadt Ḫattuša verwiesen (Abb.  1): Verschiedene, in den anstehenden Stein geschlagene Reliefs dieses bronzezeitlichen Felsenheiligtums zeigen ganz ähnlich strukturierte Götterprozessionen, in denen die einzelnen Gottheiten gleichfalls durch ihre Ikonographie und ihre Attribute unterschieden sind.8 Eine solche Zugangsweise zum altnordischen Text, wie Neckel und Hempel sie wählen, lässt diesen Text nicht nur von einer Reise zwischen den Welten handeln, sondern legt auch ganze Welten zwischen ihn und seine vermeintliche letztendliche Quelle. 7 Etwa Neckel 1921, S. 226–229; Much 1924, S. 115–126; Reitzenstein 1924; Schröder 1924; Schröder 1927; Hempel 1928; Helm 1929; Schröder 1919a; Schröder 1929b; Schröder 1931; Almgren 1934, S.  289 ff.; Masing 1944; Kroes 1951; Philippson 1953, S. 27; Ström 1954, S. 7 ff.; Schröder 1958; Schröder 1960; Ström 1961, S.  102 f.; Schröder 1962; Chadwick 1967, S.  32 ff.; Littleton 1970; Motz 1982–1983; Boyer 1992, S. 625; Polomé 1995, S. 587; Simek 2003, S. 136 f.; Kaliff und Sundqvist 2004; Vennemann 2004; Kaliff und Sundqvist 2006. Vor Neckel vgl.  schon Arne 1909. Vgl.  auch Liungmann 1937–1938 mit Fokus auf Volksbräuchen und die vorsichtige Behandlung von Schier 1995, wo Schier auf enge Par­ allelen zwischen Balder und verschiedenen vorderorientalischen ‚sterbenden Göttern‘ hinweist, diese aber nicht historisch deuten, sondern rein für typologische Vergleiche nutzen will. 8 Neckel 1920, S. 50; Hempel 1928, S. 195. Zum Heiligtum von Yazılıkaya vgl. Haas 1994, S. 632–639; Seeher 2002.

4 

 Matthias Egeler und Wilhelm Heizmann

Abb. 1: Ein Götterrelief in der Kammer A des hethitischen Heiligtums von Yazılıkaya. © Deutsches Archäologisches Institut (http://arachne.uni-koeln.de/item/marbilder/3183064).

Der vorliegende Band will nicht unbedingt nach solchen letzten Quellen für nordische Motive suchen. Die alte Suche nach den letzten, fernen Ursprüngen isländi­ scher Erzählinhalte ist längst – und völlig zu Recht – auf vielen Ebenen problematisch geworden. Nicht nur ist die Suche nach dem letzten Ursprung oftmals mehr Reflex einer romantischen Sehnsucht nach einer (besseren) Vergangenheit als dass sie einen genuinen Beitrag zum Verständnis der überlieferten Zeugnisse darstellen würde,9 sondern seit Neckels Tagen sind auch die extremen Quellenprobleme deutlicher denn je geworden, denen sich eine solche Suche nach fernen Ursprüngen gegenübergestellt sieht. So ist die älteste, sumerische Fassung der Unterweltsreise der Innana­Ištar, auf die auch Annette Zgoll in ihrem Beitrag zu diesem Band eingehen wird, heute weit besser bekannt als vor einem Jahrhundert, als Neckel seine Behandlung des Themas verfasste. In der sumerischen Erzählung von Innanas Unterweltsreise scheint die Göttin heute nicht mehr zu versuchen, ihren Geliebten aus der Unterwelt zu retten, sondern vielmehr liefert sie diesen Geliebten selbst den Mächten der Unterwelt aus: Nach einem gescheiterten Versuch, die Herrschaft über die Unterwelt zu usurpieren, endet sie als eine Gefangene des Totenreichs und verwendet daraufhin skrupellos ihren Geliebten, um sich – gänzlich auf seine Kosten – selbst aus der Unterwelt wieder 9 Heizmann 1998, S. 95.

Zwischen den Welten 

 5

freizukaufen.10 Zu Hermóðrs Unterweltsreise zeigt der mesopotamische Mythos in dieser Form nun praktisch keinerlei Parallelen mehr. Nach Ursprüngen zu suchen, soll also nicht im Kern dieses Bandes stehen. Zugleich will dieser Band jedoch die lange Tradition altskandinavistischer Komparatistik beibe­ halten, die in Neckel einen so monumentalen Ausdruck fand – freilich ohne dabei auch ihren Irrwegen zu folgen. Der vorliegende Band versammelt eine Reihe von Beiträgen zu Jenseitsreisen – verstanden in einem möglichst breiten Sinne – , die zum Gespräch und zur Diskussion anregen wollen. Skandinavisches soll nicht unbedingt von anders­ wo ‚hergeleitet‘ werden, aber Skandinavisches soll mit anderem ins Gespräch gebracht werden. Die Spannweite des hier versammelten Materials reich dabei von Finnland und dem gälischen Westeuropa bis in den Alten Orient. In dieser Spannweite knüpft der Band an die verschiedenen Referenzrahmen an, in denen die altnordische literar­ ische Mythologie in der bisherigen Geschichte der altskandinavistischen Forschung kontextualisiert worden ist; denn der Blick der Forschung war nicht immer nur auf den Alten Orient gerichtet. So ist das Motiv einer Anderwelt jenseits des Meeres, das sich in Balders Schiffsreise ins Totenreich spiegelt, auch aus den keltischen und keltisch be­ einflussten Literaturen des europäischen Mittelalters gut bekannt. Spezifisch Balders Reise im Totenschiff hat etwa Jakob Grimm in seiner epochalen Deutschen Mythologie mit der demoiselle d’Escalot der Artusliteratur verglichen, die Alfred Tennyson die Vorlage für seine „Lady of Shalott“ geliefert hat.11 Dieser frühe Vergleich ging zwar über eine letztlich impressionistische Assoziation nicht hinaus, doch der Beitrag von Séamus Mac Mathúna in diesem Band macht deutlich, dass eine methodisch sinnvolle Auseinandersetzung mit den keltischen Parallelen zu den literarischen maritimen Andersweltreisen des Nordens durchaus möglich ist. Auch die finnische Tradition ist von derjenigen der nordgermanischen Skandinavier nicht hermetisch getrennt. Frog hat hier – um weiterhin beim Beispiel des Baldermythos zu bleiben – etwa postu­ liert, dass eines der Abenteuer des kalevalaischen Helden Lemminkäinen eine direkte Adaption einer Version des Baldermythos darstellt.12 Die Darstellung von Anderswelt­ reisen (und anderen mythischen und religiösen Motiven) in der finnischen Über­ lieferung scheint so für die skandinavistische Mediävistik grundsätzlich zumindest eine potentielle Relevanz zu haben. Im vorliegenden Band sind daher auch mehrere Beiträge enthalten – die Aufsätze von Clive Tolley, Sabine Schmalzer und Frog – die (u. a. auch) finnisches Material in den Blick nehmen. Der Band will aber nicht nur in die geographische Ferne, sondern auch in die chronologische Tiefe ausgreifen, um seine Intention zu erfüllen, eine Perspektive auf skandinavische Jenseits­ und Andersweltreisen in einem möglichst breiten Kontext zu eröffnen. So haben die Herausgeber sich entschieden, mit Flemming Kaul auch

10 Siehe ETCSL, Text 1.4.1 („Inana’s descent to the nether world“). 11 Grimm 1875–1878, Bd. 2, S. 693. 12 Fromm 1963; Fromm 1967, S. 104 f.; Frog 2010.

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 Matthias Egeler und Wilhelm Heizmann

Abb. 2: Das „Sonnenpferd“ in einem der bronzezeitlichen Felsbildpanele von Fossum, Tanumshede, Schweden. © M. Egeler, 2011.

einen Experten für die bronzezeitliche Bildüberlieferung Skandinaviens zu einem Beitrag einzuladen. Dies scheint umso mehr gerechtfertigt, als auch in der neueren Diskussion zur skandinavischen mythologischen Literatur des Mittelalters noch die Möglichkeit von Kontinuitäten zwischen bronzezeitlichen Bildformeln und mit­ telalterlichen Mythen erwogen wird. So hat jüngst etwa Klaus Böldl die bei Snorri (Gyfaginning 11) überlieferte Vorstellung, dass die Sonne von zwei Pferden gezogen wird, mit Motiven der bronzezeitlichen Ikonographie verbunden (vgl. Abb. 2 ).13 Kauls Beitrag leistet für den Themenbereich der Anderweltsreisen nun eine sachkundige Zusammenfassung des Wissensstands zu maritimen ‚Andersweltreisen‘ in der Bild­ lichkeit der Bronzezeit, von dem ausgehend von der skandinavistischen Mediävistik überdacht werden kann, wie und ob solche Überlieferungen zumindest als typologi­ sches Vergleichsmaterial zum Verständnis des Phänomens der Jenseitsreiseliteratur beitragen können. In diesem Sinne schien es auch sinnvoll, dem kargen archäolo­ gischen Material der Wikingerzeit und des Frühmittelalters im Band Raum zu geben. So greift Sigmund Oehrl mit seinem Beitrag zu gotländischen Bildsteinen in den 13 Böldl 2013, S. 15. Weiter vgl. einschlägig etwa Almgren 1934, S. 311–330; de Vries 1956–1957, §§ 359– 360, 373, 403, 418, 425, 446, 464, 471, 473, 499 u. ö.; Simek 1995, S. 175 (s. v. Heorot), S. 296 (s. v. Njörðr), S. 307 f. (s. v. Odin), S. 410 f. (s. v. Thor), S. 473 f. (s. v. Wanen) (skeptischer allerdings Simek 2003, S. 39); Andrén 2011, S. 856. Grundsätzlich zu den methodischen Problemen jedes Versuchs, die skandinavische Mythologie des Mittelalters mit der Bildüberlieferung der Bronzezeit zu verbinden, vgl. Schier 1992.

Zwischen den Welten 

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ostskandinavischen Raum der Wikingerzeit aus. Mit einem dritten archäologischen Beitrag zum Band erweitert Leszek Gardeła den Blick ferner auf das frühmittelalterli­ che Polen und damit die slawische Welt. Über dem Blick auf solche, für manche Leserinnen und Leser in einem skandinavistisch­mediävistischen Kontext vielleicht exotisch anmutende Zeiten und Regionen wie den Alten Orient, Finnland oder die Bronze­ und Wikingerzeit sollen in diesem Band jedoch auch die ‚klassischen‘ Kontexte der mittelalterlichen Literatur Skandinaviens nicht vernachlässigt werden. So lassen die Beiträge von Richard North und Horst Schneider die altsächsisch­altenglische bzw. die mittellateinische Literatur als zentrale Kontexte der altwestnordischen Überlieferung zur Geltung kommen, und Heinz­Günther Nesselrath, Christian Zgoll und Christopher Metcalf vermitteln einen Eindruck von prominenten Behandlungen des Motivs der Jenseitsreise im klassischen Mittelmeerraum. Dabei wird, wie im Fall des von Séamus Mac Mathúna und Andreas Hofeneder vorgestellten keltischen Materials, gerade das Motiv der Reise in ein Jenseits jenseits des Meeres im Mittelpunkt stehen. Auch dieses Material evoziert in gewisser Weise die berühmteste Jenseitsreise der nordischen Mythologie, Balders Schiffsreise ins Totenreich. Dennoch soll es nicht um Postulate konkreter Kontinuitäten gehen, sondern um ein offenes Nebeneinanderstellen in vieler Hinsicht sehr unterschiedli­ cher, in mancher Hinsicht aber auch sehr ähnlicher Phänomene, die durch ihre Par­ allelen und Kontraste Denkanstöße liefern und den Blick schärfen können für das Verständnis des altwestnordischen Materials. Der vorliegende Band versammelt siebzehn Beiträge, die sich an altwestnordi­ sche Jenseits­ und Andersweltreisen teils direkt annähern, und die teils an histori­ sches oder typologisches Vergleichsmaterial heranführen sollen, das als Ideengeber und Kontrastfolie zum Verständnis der fragmentarischen altnordischen Überlie­ ferung beitragen kann. Der Band wird eröffnet von einem ersten Block von Beiträ­ gen, die sich spezifisch mit der altnordischen Überlieferung auseinandersetzen. Jens Peter Schjødts Aufsatz diskutiert zunächst Journeys to Other Worlds in pre-Christian Scandinavian Mythology: Different Worlds – Different Purposes. Hier problematisi­ ert er den Begriff der ‚Anderwelt‘ (other world) in einem altnordischen Kontext und weist darauf hin, dass in diesem kulturellen Kontext verschiedene Anderwelten in verschiedenen Lokalitäten und mit verschiedenen Charakteristika nebeneinander­ stehen – mit entsprechenden Folgen für die Reisen zu diesen Anderwelten. Nach dieser primär religionshistorischen Perspektive auf die altnordische mythologische Literatur wählt Matthias Teichert einen primär literaturwissenschaftlichen Zugang. In Quest in die Unterwelt. Narrative Metamorphosen von Jenseitsreisen und anderen phantastischen Fahrten in Sagaliteratur und Eddischer Dichtung zeigt er, dass insbe­ sondere die in den Vorzeit­ und Abenteuersagas geschilderten Fahrten in die Unter­ welt/Jenseitswelt als Varianten eines Erzähltypus aufzufassen sind, der u. a. auch den Aventiure­/Quest­Erzählungen der Rittersagas oder den exotischen Indien­Reisen in den Märchensagas zugrunde liegt. Jiri Stary wendet sich darauf der spezifisch christlichen Jenseitsreiseliteratur des Nordens zu: Zwischen Diesseits und Jenseits. Die

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skandinavischen Gedichte Draumkvæði und Sólarljóð. Er zeichnet darin den Begriff ‚Welt‘ und die Situation des ‚zwischen den Welten‘ Seins in beiden Gedichten nach. Mit ‚Welten‘ wird dabei nur selten auf genau definierte Bereiche im religiösen Univer­ sum Bezug genommen. Sie bilden vielmehr den mentalen Zustand des Reisenden und seine Haltung zu den ihn umgebenden Realitäten ab. Über den Norden hinaus blickt Richard North in seinem Der Teufel im sächsischen Garten: Loki und eine Jenseitsreise in der altsächsisch-altenglischen Genesis B. Hier versucht er, die ganz eigene Art, wie die Genesis B in MS Bodleian Junius 11 den Sündenfall beschreibt, aus einer Adaption vorchristlicher Volkserzählungen über einen altsächsischen Loki zu erklären. Mit Sigmund Oehrls Beitrag Die Jenseitsreise auf den Bildsteinen Gotlands wendet der Band sich archäologischen Zeugnissen zu. Oehrl eröffnet diesen Abschnitt mit einer ausführlichen Diskussion zentraler Motive der gotländischen Bildsteine, in der er zeigt, dass die Jenseitsreise im Bildprogramm dieser Denkmälergruppe das zentrale Motiv schlechthin darstellt, und dies im gesamten Zeitraum von der Völ­ kerwanderungs­ bis in die Spätwikingerzeit, in dem Monumente dieses Typs errichtet wurden. Deutlich weiter zurück in die Vergangenheit greift daraufhin Flemming Kaul aus, wenn er The Possibilities for an Afterlife: Souls and Cosmology in the Nordic Bronze Age bespricht. Aufbauend auf einer Interpretation der Ikonographie der skandinavi­ schen Bronzezeit deutet Kaul einen rekonstruierten Mythos von einer ewigen Reise der Sonne mit Hinblick auf seine Beziehung zum Schicksal der Seelen der Verstor­ benen. Leszek Gardeła schließt die Sequenz archäologischer Beiträge hierauf ab mit einer Diskussion zu The Slavic Way of Death: Archaeological Perspectives on Otherworld Journeys in Early Medieval Poland. Dabei entwickelt Gardeła eine Reihe von Hypothesen, wie die vorchristlichen Slaven des Frühmittelalters sich ihren Kosmos und verschiedene Anderwelten vorgestellt haben könnten; so schlägt er ein drei­ teiliges Weltbild vor und interpretiert Grabbefunde des 10. bis 13. Jahrhunderts mit Hinsicht auf ihre Aussagekraft über das Totenreich und die Reise ins Totenreich. Horst Schneider lenkt die Aufmerksamkeit auf die lateinische Literatur Mit­ teleuropas: Der mittellateinische Aspekt: Tod und Jenseits im Dialogus miraculorum des Caesarius von Heisterbach. Dabei legt er einen besonderen Fokus auf die Darstel­ lung von nigromantia durch diesen Autor des 12./13. Jahrhunderts. Die keltische Welt tritt in den Blick durch die Beiträge von Séamus Mac Mathúna und Andreas Hofeneder. Mac Mathúna schlägt eine Antwort vor für The Question of Irish Analogues in Old Norse-Icelandic Voyage Tales in the fornaldarsögur and the Gesta Danorum of Saxo Grammaticus: Sowohl die Autoren der altisländischen Vorzeitsagas als auch Saxo in seiner Schilderung der Seereise des Thorkillus verwendeten Motive und Erzählmuster, die mit entsprechendem Material in hiberno­lateinischen und volkssprachlichen Texten der irischen Literatur verwandt sind. Hofeneder geht noch einen Schritt weiter in der Zeit zurück und gibt einen Überblick über Andersweltreisen der Kelten in der antiken Literatur: ein kurzer Baedeker. Dabei legt er den Fokus auf zentrale Stellen bei den antiken bzw. spätantiken Autoren Plutarch und Prokopios, die er ausführlich auf ihren religionshistorischen Quellenwert hin analysiert.

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Mit seiner Behandlung antiker und spätantiker Andersweltreisen leitet Hofeneder zugleich zu einem Block von Beiträgen über, die sich mit Andersweltreisen in der klassischen Mittelmeerwelt befassen. Heinz­Günther Nesselrath gibt zunächst einen Überblick über Die Reise zu den Inseln der Seligen von Hesiod bis Lukian, wo er zen­ trale Eckpunkte der Entwicklung des Mythos von den Inseln der Seligen umreißt. Christian Zgoll und Christopher Metcalf wenden sich daraufhin zwei mythologischen Frauengestalten zu, die schon die Odyssee Homers zwar nicht auf den Inseln der Seligen, aber doch in deren Nähe lokalisiert: Kirke und Kalypso. Christian Zgoll dis­ kutiert hier Kirke als Märchenhexe oder Ritualexpertin? Kirke und Kult im Kontext der homerischen Nekyia. In seiner Analyse wendet er sich gegen eine Deutung Kirkes als „Märchenhexe“ und betont die zentrale Rolle, die sie für die homerische Schilderung der Unterweltsreise des Odysseus spielt. Christopher Metcalf nähert sich darauf an die Figur der Kalypso an: Calypso and the Underworld: Comparative Approaches. Dabei argumentiert er gegen eine weithin etablierte Deutung, die die Insel der Kalypso als eine Variante des Totenreichs sieht, und stellt u. a. die Sinnhaftigkeit eines Vergleichs zwischen Kalypso und der babylonischen Göttin Ištar in Frage. Metcalfs Diskussion der Beziehung zwischen Kalypso und Ištar schlägt eine Brücke in den Alten Orient, und genau hier hat der Beitrag von Annette Zgoll seinen Fokus: Wege der Lebenden ins „Land ohne Wiederkehr“ in Mythen und Ritualen der mesopotamischen Antike: Der Unterweltstraum eines assyrischen Kronprinzen und Innana(k)s Gang zur Unterwelt. Hier führt Annette Zgoll die (mesopotamische) Möglichkeit ein, das Totenreich in einem rituellen Rahmen durch eine Trauminkubation zu erreichen. Der Band wird von einem letzten Block von Beiträgen abgerundet, die nach den vorangegangenen Ausblicken nach Südwesten in die keltische Welt und nach Südosten in den Mittelmeerraum und den Alten Orient nun noch nach Nordosten blicken: nach Finnland und Karelien. Finnisches Material spielt eine zentrale Rolle schon für Clive Tolleys “Hard it is to stir my tongue”: Raiding the Otherworld for Poetic Inspiration. Hier legt Tolley einen Vergleich altnordischer, finnischer, sibirischer, griechischer und kelti­ scher Traditionen vor, in denen eine Reise in die Anderwelt der Erwerbung dichterischer Inspiration dient. Ganz dem finnischen Material gewidmet ist darauf Sabine Schmalzers ‚uupui kolmea sanoa‘ (es fehlten ihm drei Zauberworte) – Die Jenseitsreisen der KalevalaHelden. Schmalzer widmet ihre Diskussion dem Motiv der ‚drei fehlenden (magischen) Worte‘ in der finnischen Kalevala­Dichtung, das sie insbesondere am Beispiel der Andersweltreisen des mythischen Helden Väinämöinen verfolgt. Das Buch schließt mit einem Beitrag, in dem Frog anhand finno­karelischen Materials die Möglichkeit verfolgt, dass kosmologische Vorstellungen nichts absolut Gegebenes sind, sondern vielmehr fest mit bestimmten Erzähltraditionen und bestimmten Arten kultureller Praxis verbunden sein und zwischen diesen verschiedenen ‚Genres‘ schwanken können: Practice-Bound Variation in Cosmology? Movement between Worlds in Finno-Karelian Traditions as a Case Study. Ganz im Sinne des diesem Band zugrundeliegenden Gedankens entwickelt Frog seine Überlegungen dabei am spezifischen Fall finno­karelischer Traditionen, sieht die Analyse dieser Traditionen jedoch nicht als Selbstzweck; vielmehr macht er es sich zum

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Programm, mit diesem konkreten Fallbeispiel und den daraus entwickelten Schlussfol­ gerungen Material zur Verfügung zu stellen, das als Analogie zum besseren Verständnis anderer historischer Situationen herangezogen werden kann. Der vorliegende Band ist aus einem Symposium hervorgegangen, das am 25.–27.  Februar 2015 in den Räumen der Siemens­Stiftung in München abgehalten wurde; die Herausgeber möchten der Siemens­Stiftung für ihre außerordentliche Gastfreundschaft ihren verbindlichen Dank aussprechen. Die Veranstaltung wäre ferner nicht möglich gewesen ohne die Mittel, die den Herausgebern durch das Marie Skłodowska­Curie Intra­European Fellowship innerhalb des siebten Forschungsrah­ menprogramms der Europäischen Gemeinschaft zur Verfügung standen, das einer der Herausgeber zu diesem Zeitpunkt innehatte. Weiterer Dank gebührt Daniela Hahn für ihre vielfältige Unterstützung bei administrativen und organisatorischen Aufgaben, Sophie Fendel für ihre Mithilfe bei der Herstellung des Bands, Johann Levin für die sprachliche Korrektur eines Teils der englischsprachigen Beiträge sowie nicht zuletzt den Teilnehmern des Symposiums, ohne die das vorliegende Buch nicht hätte ent­ stehen können. Die Herausgeber hoffen, dass die hier versammelten Beiträge in ihrer bunten Breite den Leserinnen und Lesern die lebhaften und anregenden Diskussionen evozieren können, die die Tagung prägten, aus der dieser Band hervorgegangen ist. München, im Herbst 2019  Matthias Egeler und Wilhelm Heizmann

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1 Die altnordische und altsächsisch-altenglische literarische Überlieferung

Jens Peter Schjødt

Journeys to Other Worlds in pre-Christian Scandinavian Mythology: Different Worlds – Different Purposes Abstract: The aim of this article is to argue for a certain kind of ‘system’ in various ‘Other World’ journeys in Scandinavian mythology after having stated that ‘journey’ is one of the chief metaphors for communication between different worlds that we meet in mythologies all over. It is the purpose here to show that there are different kinds of journeys in this mythology. Thus, there are different destinations, different protagonists who are travelling, and different purposes for the travel. In focusing on the two cosmological axes, the horizontal and the vertical, it is proposed that jour­ neys along the horizontal axis are most often going to giant land, that the protagonist is Þórr, and that the purpose is the killing of hostile beings, i.e. the giants. On the vertical axis, on the other hand, the destination is the underworld, the protagonist is Óðinn, and the purpose is the acquisition of numinous powers. Thus, there seems to be a clear systematization when it comes to destination, protagonist and purpose, although, as is also stated, there are no rules without exception, especially when it comes to world views in orally transmitted religions.

1 Introduction This article will aim at discussing ‘Other World journeys’ in Scandinavian mythol­ ogy, starting from the hypothesis that there are some stable relations between certain aspects that can be found in all journeys, which differ, however, widely from one individual journey to the next concerning who is travelling, to where do they travel, and which purpose do they have. We can immediately state that a journey is when someone moves from one place to another, almost always with a certain purpose. Journeys are, naturally, carried out in the real world, but they are also one of the favourite themes within many different narrative genres, sometimes describing real­ world journeys, sometimes deliberately taking on a symbolic value. Within the history of religions, travels can be observed very often, not only in narrative contexts but also frequently in ritual contexts, most often as a means of communicating between ‘This’ and the ‘Other World’. Thus, for instance, shamans are more or less defined by their travelling abilities. They leave the world of humans for a certain purpose and approach that of the spirits in order to manipulate some condition in the human

https://doi.org/10.1515/9783110624663-002

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world with help from the spirits. I have argued earlier1 that this relation between This World on the one hand and one or several Other Worlds on the other hand, and the communication between them constitutes the very prerequisite for speaking about religion at all. And, of course, not only shamans travel to Other Worlds, but all sorts of religious specialists and even some ordinary persons can be seen to have this ability at special occasions, for instance in ritual settings, generating some sort of ecstatic psychic condition. Travelling, however, is not the only way to communicate with the Other World: humans may send gifts in the form of sacrifice, or prayers may be the object which mediates between the worlds. Another way of manipulating the ‘normal’ course of events is by using ‘magic’, which is seen by some as distinct from religion, whereas others would view it as just another technique within the realm of religion. But journeys remain one of the important metaphors when contact between worlds is at stake, no doubt because the difference between humans and gods is most often expressed as a difference in space: gods live at another place than humans do, and contact will thus often involve actors from one of the worlds travelling to the other. In short, journeys between This World and the Other World can be seen as one of the very basic elements in all religions, although journeys may have very different roles and purposes in various religions, or in different types of religion.2 This can be illus­ trated as in the following figure:

The Other World

This World

Fig. 1

Thus, from a human religious perspective, there is an Other World that has some char­ acteristics, some of them universal and some culturally determined, which are seen as completely different from the characteristics of the one in which we are living here and now. “Completely different”, however, should not be taken too literally, since, in order to make itself relevant, it must also have common features with the world in 1 E.g. Schjødt 2008, pp. 17 ff. 2 For instance, they are much more prominent in the so­called Primary Religions than is usually the case in Secondary Religions, to use the terminology of Jan Assmann (2006).

Journeys to Other Worlds in pre-Christian Scandinavian Mythology 

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which humans are living. Thus, the beings inhabiting the Other World will most often look somewhat human, but with differences in perhaps size, colour, and physical peculiarities of all sorts;3 they will have some counterintuitive characteristics, to use a notion from Pascal Boyer.4 In most cultures this ‘Other World’, however, is in reality not only one but several ‘Other Worlds’ with varying degrees of ‘otherness’. Some may be behind the stars, whereas others can be inside the nearby mountain. Just to mention a few, we often see a world of the gods, a world of the demons, a world of the dead, and worlds inhabited by various groups of other supernatural beings. These worlds will typically have some loose relation to each other, thematized in mythical narratives, but are thought of and relevant in different social situations. I shall return to some of these Other Worlds in a moment. In dealing with the religions of pre­Christian Scandinavia, the situation is no dif­ ferent. We have examples of what we may call supernatural journeys in connection with the so­called seiðr­rituals, although a clear characterization of the destination as an Other World is not frequent and often remains implicit in ritual descriptions. In narrative sources such as myths and pseudo­historical narratives, we often meet some hero going to a world that is different and in some way opposite to the one in which his ordinary life plays out. Even though the mythology proper (the Eddas) as we know it from the North shows a remarkable absence of human beings in comparison to most other mythologies, there are a few instances of humans going from This World to the Other (Ϸjálfi). Other narrative genres, most notably the fornaldarsögur and Saxo’s Gesta Danorum, have a huge amount of such descriptions in which a person (almost always a male) goes to various kinds of Other Worlds, although very seldom to the world of the gods (which is quite intriguing, since that is what we often see in other mythologies) but rather to some kind of wilderness, where they meet various kinds of more or less anonymous supernatural beings. Furthermore, at least one god, namely Óðinn, frequently takes part in human affairs and travels to the world of humans,

3 The opposition between This and the Other World has, with good reason, played an immense role within the History of Religions, since it is somewhat overlapping (but certainly not identical with) the profane – sacred opposition which has been constitutive for such different scholars as Émile Durk­ heim and Mircea Eliade and many others, emphasizing different aspects of that opposition. Perhaps the most famous of the scholars that have been dealing with ‘the Other’ is the German theologian and historian of religion, Rudolf Otto, who in his book Das Heilige (1917) attempted to describe the experi­ ence of the ‘wholly Other’ (das ganz Andere). Although the book is a classic and certainly makes many brilliant observations, there is no doubt that the conception of the Other is, to a large extent, based on Christian ideas, projected onto religion in general. Within the Old Norse field, Kevin J. Wanner (2007) has been dealing with what he characterizes as a “Platonic­Augustinian” opposition between “spiritual” and “terrestrial modes of existence”, arguing that Óðinn does not fit in with this opposi­ tion (p. 350). In using the terms ‘spiritual’ and ‘terrestrial’, Wanner is probably right; however, speak­ ing about ‘This’ and the ‘Other World’, Óðinn, as we shall see below, is a perfect example of a mythic figure oscillating between these two entities. 4 Boyer 2001, p. 65 et passim.

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emphasizing the necessity for communication between the worlds. All this is highly interesting but not the main focus of this article. What I am going to deal with here are the journeys between the individual Other Worlds, when beings from one Other World travel to another. Thus, to summarize what has briefly been said so far: The very foundation of any religion is the collective knowledge that there is at least one but often many worlds that are different from, and in some respects opposite to, the one in which people live their everyday life. Between This World and the Other, a communication takes place, maintained by so­called religious specialists in particular, and this communication is often expressed as some kind of journey, where the ‘shaman’ leaves This World, travels to the Other and returns again, bringing with him some sort of information from the Other World, often suggesting a solution to a crisis. However, since we often find more than one Other World within the religious world view usually expressed in myths and mythology, figures from one Other World can also travel to other Other Worlds, and this is what we frequently see in Old Norse mythology as it is related in the Eddas. What I am going to deal with here are, as mentioned in the beginning, the struc­ tural relations between some important aspects of the phenomenon of the mythic ‘journey’, namely 1) the characteristics of the places involved (that from which the protagonists start out and that of the destination); 2) the identity of the protagonist who is travelling; and 3) the purpose of the journey. Before beginning this exposition, however, it is important to state that in dealing with myths and religion in general, we must always reckon with inconsistencies, i.e. that there is no such thing as a unified cosmology with stable and systematic relations between its individual parts. Instead, we rather ought to understand the mythology as several discourses that could be loosely connected but are basically used in various social situations (for instance in connection with rituals, in explaining some sort of disaster, in socially sanctioned tra­ ditions, or simply for entertainment). That indicates that what we may hope to observe are some tendencies. In religions and mythologies such as that of ancient Scandina­ via, there was no dogma and hardly any theological discourse.5 Therefore, the seman­ tic space covered by the individual gods should not be expected to have watertight borders towards semantic spaces covered by other gods; a certain amount of overlap is the rule rather than the exception. Nevertheless, as I have argued in earlier arti­ cles,6 it seems possible to find what I have called ‘semantic centers’ that we may apply to the individual gods, for instance physicality in connection with Ϸórr, intellectual abilities in connection with Óðinn, and sexuality in connection with Freyr. Since such centers will inevitably characterize the narrative contexts and the mythological roles 5 Although such a theological discourse can be seen in most of the big contemporary religions, it is certainly a phenomenon that is characteristic of the so­called ‘axial religions’, but it does not belong to the religions of a more archaic stage (cf. Bellah 2011, pp. 275–282). 6 E.g. Schjødt 2012a; Schjødt 2013.

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of these beings, it will therefore also be possible to find some tendencies in the way the gods are depicted throughout the mythology. Of course, the semantic center of each individual god will not be paramount every time his or her name is mentioned, partly because the functions of the various gods may overlap; but, analytically, these centers are not difficult to find.7 Before we can turn to the journeys between the worlds, it will first be necessary to take a look at the cosmology as it can be deduced from the sources – again, more in the form of tendencies than as 100% consistent – in order to position the most impor­ tant worlds, judged from the extant mythological sources.

2 Various kinds of Other Worlds in Old Norse Mythology As has been proposed by several scholars, such as Aron Ya. Gurevich, Eleazar Mele­ tinskij, Kirsten Hastrup, Margaret Clunies Ross, and myself,8 it is possible to depict two ‘axes’ in the Old Norse cosmology, namely a vertical and a horizontal one, the vertical axis mediating between the upper world and the underworld, whereas the horizontal axis mediates between center and periphery. If, as will be argued, these axes depict, on the one hand, a representation of ‘This World’ and, on the other hand, some ‘Other World’, it indicates logically that there must be at least two Other Worlds, namely one on each axis. Especially in earlier research, there have been many pro­ posals as to how the Old Norse cosmology could be figured,9 most of them taking as a prerequisite that in pre­Christian Scandinavia, there existed a coherent world view that can be outlined from the mythological information available in Snorra Edda and the Eddic poems. Most of these proposals did not take into consideration the charac­ ter of the culture and religion in pre­Christian times, one of the main characteristics of which was that it was very diversified: geographically, socially, and cognitively,10 at least in many details; this means that different people did not hold exactly the same world views and that the sources probably reflect this diversity. But in spite of all these diversities, there seem to be some clear tendencies structured in accordance with the axes just mentioned. This can be expressed as in figure 2. Now, this is certainly not to say that in pre­Christian Scandinavia there only existed two Other Worlds. Most likely, there were several worlds, both along the hori­ zontal axis and the vertical axis. For instance, on the vertical axis it seems that the 7 Cf. Schjødt 2012b. 8 Gurevich 1969; Meletinskij 1973; Hastrup 1981; Clunies Ross 1994; Schjødt 1990. 9 See for instance Steinsland 2005, p. 103 and Branston 1980, pp. 73–4, referring to some older de­ pictions. 10 Cf. Schjødt 2009.

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Periphery

Upper World

Center Periphery

Under World

Fig. 2

underworld can be divided into a world of the dead, a world of the dwarfs, and worlds containing all sorts of fertility powers. And, in accordance with this, along the hori­ zontal axis there seem to be worlds of different kinds of giants, different kinds of mon­ sters and so forth. Not least because of the diversity just mentioned, we can hardly hope to be able to systematize all these worlds and the relations between them in detail. The point, however, is that, in order to classify these worlds as Other Worlds, it is necessary that we also have the presentation of a ‘This World’, and since the Other Worlds are situated in the periphery in the horizontal model, and in the underworld in the vertical model, it follows that the representation of This World should be sought in the upper world and in the center. This, of course, is where the humans are situ­ ated. But, as mentioned, there are very few humans that are part of the mythic narra­ tives in the traditional mythic sources. There is another group of beings, however, that are situated there, namely the Æsir, one of the two main groups of gods in the Nordic pantheon, the other one being the Vanir, or – since it has been suggested in recent years that this group did not exist in pagan times11 – a family consisting of three gods, namely Njǫrðr, Freyr, and Freyja, not family­related to the Æsir. Although Snorri often maintains that the Æsir live somewhere in the sky, or in the treetop of Yggdrasill,12 it 11 Simek 2010. For criticisms of this theory, see Tolley 2011; Schjødt 2014; Gunnell 2017. 12 For instance in Gylfaginning, ch. 15, 22. According to Gísli Sigurðsson, Snorri tells us 82 times that the gods should be looked for in the sky (2014, p. 184).

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appears both from other parts of Snorri’s work and from the Eddic poems that they should rather be seen as living in the middle of the world, at the foot of Yggdrasill.13 This indicates that they should be seen as living in the upper world on the vertical axis, and in the center on the horizontal axis. I have earlier discussed the relationship between the two families of gods, Æsir and Vanir,14 and here I shall give a brief summary of the conclusions reached: The discussion between the historicists on the one hand and the structuralists on the other seems to have been concluded with the victory of the structuralists.15 The relation between the two groups is not only systematic with regard to their social affiliation, as was proposed by Georges Dumézil more than half a century ago, but also with regard to their cosmological position, the Æsir living in the upper world, whereas the Vanir – although never expressed directly – appear to have belonged to the underworld, not least because they are functionally attached to death and fertility. The Æsir are clearly attached to what is seen as typically male activities, to killing and war, whereas the Vanir are primarily characterized as peaceful and strongly connected to sexuality and fertility. As has been proposed by Terry Gunnell,16 they may even be seen as represen­ tatives of different times of the year, which was probably divided into a ‘male period’ and a ‘female period’, supporting the notion that there is also a semantic opposition relating to gender. Most important, perhaps, is a piece of information given in Ynglinga saga ch. 4, where it is said that it was customary that among the Vanir, marriages were of an incestuous kind, whereas this practice was forbidden among the Æsir. This indi­ cates that the norms of the Vanir were of another kind than those of the Æsir and that those of the Æsir were in accordance with the norms of the society in which all these gods were venerated.17 More oppositions of this kind can be named, but the idea here is that the Vanir, together with other groups and in relation to the Æsir, should be seen as representatives of an Other World, whereas the Æsir, in accordance with this, are to be seen as representatives of a kind of ‘This World’. In other words, we could say that the Æsir are mythological representatives of an ‘in­group’, whereas the Vanir can be seen as representatives of an ‘out­group’. These groups are thus related as ‘we’ in opposition to ‘they’. Another trait worth noticing is the connection of the Vanir to magic, primarily expressed in the statement by Snorri, in Ynglinga saga ch. 4, that Freyja knew the seiðr before she came to the Æsir and taught it to them. And seiðr, like other kinds of magic,

13 Cf. Schjødt 1990. 14 Schjødt 1991; Schjødt 2008. 15 The idea that the two divine groups should be representatives of two different cultures can, how­ ever, still be seen from time to time (see Schjødt 2014, pp. 25–30). 16 Gunnell 2000, p. 138; cf. Gunnell 2006. 17 It is also conspicuous that when the male hostages from the Vanir, Njǫrðr and Freyr, marry after the exchange, they marry women from the giant world. To deal with that in any detail, however, will take us too far from the subject of this article (see Clunies Ross 1994, pp. 93–102; Schjødt 2008, pp. 382–396).

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surely belongs to the Other World, which is where it has to be acquired, although certain skilled individuals of the in­group may learn and practice it. If all this is true, the structure here can be seen as a dislocation from the relation between humans and supernatural beings to a parallel one, dealing with the rela­ tion between Æsir and certain other supernatural groups (i.e. underworld beings and giants). These supernatural groups are thus ‘Other’ in a double sense: they are ‘Other’ from the human perspective, but they are also ‘Other’ from the perspective of the Æsir, who therefore come to constitute a human representation. It must be emphasized that the Æsir are certainly different from, and in certain respects a kind of opposite to humans, for instance when it comes to ritual relations. It is therefore important to distinguish between ritual and mythic aspects of the religious world view: at the ritual level, the Æsir certainly represent an Other World, whereas on the mythic level they represent a This World. What is aimed at here is the structural similarity in relation to ‘others’, but it is also worth noticing that in the cosmological setting constituted by Yggdrasill, humans and gods apparently were interchangeable, since in Grímnismál 31 we are told that humans live under one of the roots of the world tree, whereas in Gylfaginning ch. 15,18 we are told that the Æsir live there. So, on both the horizontal and the vertical axes, we have an ‘in­group’ consisting of the Æsir and, as suggested, humans by representation, as well as an ‘out­group’, mainly represented by the giants on the horizontal, and the Vanir and other chthonian groups on the vertical axis. This dislocation can be illustrated in the following way:

This World

The Other World

Ritually Human Beings

Mythically

Gods

Æsir

Vanir

Fig. 3

This being said, it should also be stated that, as mentioned earlier, as soon as we leave the Eddas, we do find several humans going to some Other World, particularly in the fornaldarsögur and in Saxo’s work. However, almost all these incidents take place in what may be termed legendary or semimythical settings. Famous examples are Hadingus

18 Faulkes (ed.) 2005.

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in Saxo, going to the underworld, and Sigmundr in Völsunga saga, whose stay in the forests, partly together with his son Sinfjǫtli, can be seen as a journey to an Other World. But even in the Eddic poem Hyndluljóð, we can see the human king­to­be Óttarr, dis­ guised as a boar, going to the underworld (this is how we must understand the rock cave with the dead seeress) and thus an Other World. It is noticeable that the protagonists in these narratives are not gods, but they are not ordinary human beings either. They thus exemplify another characteristic of these folk­ or ‘primary’ religions (as they are called by Assmann),19 namely that the borders between humans and gods are often blurred so that we do not know exactly into which category we should put certain individual figures. But, as mentioned, it is probably important that these individuals do not usually go to the world of the gods but to the underworld or some sort of wilderness. For lack of space, however, we shall in the following only deal with journeys carried out by the gods, in particular Óðinn and Ϸórr, although other gods too cross the borders between worlds.20

3 Different Worlds and their inhabitants, the protagonists, and the purposes of travelling Let us deal more analytically with the elements mentioned earlier in order to investi­ gate whether we can find some sort of structure in the journeys between these worlds. To begin with, we notice that the inhabitants of the Other Worlds situated on the two axes appear to be very different: A. The horizontal axis Starting with the horizontal axis, it seems as if the outer spaces of the world are inhab­ ited first and foremost by the giants. This is clearly the impression we get from Snorri in Gylfaginning (in particular ch. 8) where it is said that the giants live in Útgarðr at the outskirts of the inhabited world. We must be aware, of course, that the term Útgarðr is only found in Snorri, which is one of the criticisms that could be raised against the analyses of Meletinskij and Hastrup.21 Nevertheless, the descriptions of various habitations of giants indicate that they are living far from humans as well as gods, their habitations are characterized by cold temperatures and rocks and often located in mountainous areas north and east of the ‘civilized’ World, i.e. that of the Æsir;22

19 See above, note 2. 20 For instance Freyja in Hyndluljóð, Hermoðr in Gylfaginning (ch. 49) and Loki in Skáldskaparmál (ch. 35). 21 See above, note 8. 22 For reflections on ‘the East’ as a topos in the Eddic poems and in Snorri, we can refer to Rösli 2015, pp. 145–175.

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particularly in relation to the journeys, we often get the impression that they are at a large distance from those of the Æsir. And since humans and gods are living closer to the center of the world, by the world tree, the axis mundi, it follows that going to the giants means leaving the world in which we live. We therefore have to look a bit closer at the giants. The way in which they are mostly presented in the sources could well indicate that they may be of different kinds, probably with different his­ torical roots, and, accordingly, they are also mentioned by different names.23 This means that a thorough discussion of the giants would be a project on its own, and I shall therefore deal only with some general characteristics. Furthermore, it is important to state that the analysis in the following deals with the myths and not with the religious world view in general. The giants were often seen as beings who were threatening in various ways, living in different places in the natural landscape surrounding the cultural settings in a kind of ‘giant community’, and much less fre­ quently seen as part of some more or less well defined mythology. However, when religious notions are put in narrative form, such as myth, they must acquire some structural characteristic that can fit in with other religious notions present in the mythic universe. Even if there seem to be at least two different categories of giants, namely those that are hostile and those that are wise – not that these characteristics are mutually exclusive – they always seem to be in some kind of opposition to the Æsir. Thus, in the journeys of Ϸórr (and his human counterparts in Saxo), when he is going for instance to Geirrǫdr, Hrungnir, Hymir, or Útgardaloki, it is obvious that they are seen as fierce enemies to the god, who kills them or at least wants to do so. Although the giants appear in many situations as beings of chaos, not least in the myths surround­ ing Ragnarǫk, i.e. as a threat against ‘our’ world, they are seldom presented as being completely without civilization: they live in halls, they have attractive daughters,24 they have banquets, and so forth. They basically have the same norms and needs as the gods, i.e. security, women, desire for fame, power, and riches. They are therefore not characterized as uncivilized, but they clearly have another civilization which is different from that of the Æsir gods, and they are in general seen as more primitive. This is an important aspect, for even if the giants are hostile, they also possess some­ thing that is worth pursuing for the gods – mostly women but also riches,25 magical knowledge, and fame gained by fighting them, as is clearly expressed in the bragging of Ϸórr in Hárbarðsljóð. In that sense, the giants often appear to be similar to enemies in the real world: they are threatening, they try to steal our women and our weapons etc., just as we try to steal theirs, and therefore we have to defend ourselves and eventually kill them, thereby earning the highest honour and reputation. Therefore, 23 For instance jǫtunn, þurs, trǫll, to mention just a few. We can refer the reader to Katja Schulz’ very useful book Riesen from 2004, which discusses all the information related in the sources. 24 For instance, it is worth noticing that the male Vanir gods take their wives from the giant group. 25 For examples of the wealth of the giants, see Schulz 2004, pp. 83–4.

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I will argue that many of the giants appear as representatives of the human ‘others’: they are like us, but then again not quite like us; they represent a culture which is different, which is ‘other’ in important ways; therefore it is natural that we have to defend our possessions, whereas it is quite legitimate that we try to steal theirs.26 In other words: the giants, like foreign cultures, represent a danger as well as a poten­ tial resource. Even though Ϸórr is frequently the main adversary of the giants, Freyr27 and Óðinn too are sometimes seen in situations of conflict. However, Óðinns way of approaching them is quite different from Ϸórr’s, and ‘his’ giants are not first and foremost charac­ terized by physical strength but by their intellectual skills. The most famous confron­ tation between Óðinn and a giant is no doubt the plot we see in Vafþrúðnismál, where Óðinn has a knowledge competition with Vafþrúðnir, the wise giant. Whereas Ϸórr is usually physically superior to his adversaries, Óðinn turns out to be intellectually superior, but the hostility between the god and the giant is just as clear as in the Ϸórr myths. The important thing, however, is that the amount of incidents when Ϸórr con­ fronts the giants is far bigger than that of any other god. Although we cannot rely on argumenta ex silentio, the tendency clearly seems to indicate that the main opponent of the giants is Ϸórr, the strong defender of cosmos in a literal sense: that is the right order, our order, which is constantly threatened by enemies from the periphery. On the horizontal axis, the opposition should therefore be seen as primarily one between gods, most often Ϸórr, and giants. Obviously, Jǫrmungandr, the Miðgarðr serpent, also belongs to this axis, and other monsters such as Fenrir should probably be seen as belonging here, too, since there don’t seem to be any chthonic qualities attached to it. The Miðgarðr serpent is certainly thematized as Þórr’s main adversary, since he is confronting it not only once but twice.28 So, although it is not a giant in the usual sense of the word, it is probably the main symbol of periphery in the whole of Old Norse cosmology and certainly situated on the horizontal axis. Fenrir, on the other hand, seems to be related rather to Óðinn and ends up killing him at Ragnarǫk, just to be killed himself by Viðarr immediately thereafter. B. The vertical axis The ‘Other’ is not just a hostile entity and may possess some valuables that ‘we’ need or would like to own. We have already seen this to be the case on the horizontal axis when women in particular but also other items are sought by the Æsir. We have seen

26 I thus disagree with Clunies Ross (1994) as she argues that the relationship between the various groups of supernatural beings reflects social tensions within the group. I am much more inclined to view the giants as a prototypical ‘outgroup’. 27 In an otherwise unknown myth, he fights against the giant Beli. 28 See Meulengracht Sørensen 1986 for the available sources on the relation between Þórr and the Miðgarðr serpent.

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that Óðinn makes contact with Vafþrúðnir, not in order to gain new knowledge, since it must be supposed that in a knowledge competition, the one who asks the questions already knows the answers, but rather to defeat him. But Óðinn does seek knowledge from giants – albeit always of the female sex – in order to learn more, something that is clearly not the case with Ϸórr. The classical cases are Óðinn’s meetings with the vǫlur in Baldrs draumar and in Vǫluspá, in both of which Óðinn travels to some Other World that should most likely be seen as below, since it is the place of the dead.29 But there are other instances, such as the Gunnlǫð myth (as related by Snorri), in which Óðinn approaches Gunnlǫð inside a mountain. In this way, there seems to be a tendency that Giant women have a role different from that of male giants: they can be seen as suppliers of numinous knowledge. Admittedly, this is not always their role, and particularly in the Ϸórr myths, the protagonist often fights giant women, but as we have just seen, these encounters always take place on the horizontal axis. This lack of consequence is probably due to the fact that giant women have a double character: On the one hand, they are semantically linked to the giant race, which, as we have just seen, is characterized as the hostile ‘other’, but on the other hand, their feminine character links them to the feminine as a semantic category, and this is not primarily hostile but, on the contrary, characterized as a supplier of numinous knowledge – and of course sexuality. Apart from these encounters with giant women, however, we also notice that Óðinn acquires knowledge from the chthonic world in the famous myth about the self­hanging in Hávamál 138–141 (he picks up the runes from below), although in this case the acquisition of knowledge is not thematized as a journey. In my 2008 book, Initiation between Two Worlds, I have argued thoroughly that an underworld location is one of several characteristics of the numinous knowledge that plays such a big role not only in the Óðinn myths, but also in many narrative settings in which the protagonists are human beings, i.e. legendary heroes. The inter­ esting part here is that these heroes are typically related to Óðinn as his ‘chosen’ men, indicating that they have been initiated to him. And, to return to the underworld, we can state that some of these heroes are actually going to the Underworld, stated most directly in the Hadingus myth by Saxo but also to be recognized in the long initiation sequence that Sigurðr undergoes before he is able to kill the dragon Fáfnir.30 In the initiations of other heroes, such as Sigmundr and Sinfjǫtli, however, the underworld scenario is clearly down­played, maybe because of the ‘realistic’ setting in the fornaldarsögur as compared to the mythic scenario of the Eddas. Also, if we imagine a ritual

29 In Baldrs draumar, it is quite clear that the vǫlva is dead, whereas there has been some discussion whether this is also the case in Vǫluspá. For instance, Judy Quinn (2002) has argued that this is not the case, while I myself have argued (Schjødt 2008, pp. 218–222) that, according to the semantic universe, she must belong to the underworld, and is thus most likely to be perceived as dead. 30 Schjødt 2008, pp. 282–298.

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setting,31 we should not expect any truly vertical movement. Whereas it is no problem to have the actors in myths travel to the underworld, in a ritual setting, the creation of an underworld scenario is more complicated, and ‘earth houses’, maybe caves of different kinds, and localities on the horizontal axis would probably often have to do. I shall not go any deeper into the ritual sphere, but it is worth noticing that when humans go to another world, it is mostly characterized along the same lines as the vertical Other World in the mythology: the Other World of the giants does not seem to have been ritualized, at least not to the same extent.32 The underworld scenario is also clearly seen in Hyndluljóð, where Freyja’s human protégé, Óttarr, together with his mistress, goes to the giant woman Hyndla in order to acquire knowledge. Again, we notice that journeys to the underworld, although some sort of hostility may be present, are mainly a means for receiving some kind of information. This is all well in accordance with the idea that the main purposes of going downwards along the vertical axis is to gain numinous knowledge or numinous skills. In this way, the underworld beings are just as ‘foreign’ as the giants, but their ‘foreignness’ is certainly of another kind: although they may be dangerous, as are all figures who have special access to another world, they are not per definition hostile if they are treated according to certain rules. To summarize this part, we can state the following: Along both of the two cos­ mological axes, we have an in­group and an out­group. In both cases the Æsir con­ stitute the in­group, and they are to a certain extent isomorphous with the human in­group. On the horizontal axis, the opposition is constituted by the giants, who live in the periphery and are usually represented as something hostile and foreign. The opposition on this axis is therefore of a confrontational kind. On the vertical axis, the opposition is constituted by a huge and non­homogenous group, consist­ ing of fertility beings, the dead, and other groups and individuals who live in the underworld and usually represent something that may contribute to a higher level of numinosity. The opposition on this axis is therefore of a complementary or sup­ plementary kind. So, while the giants are primarily hostile, although they may con­ tribute to the in­group with physical goods, the underworld beings are primarily knowledgeable, although they may be dangerous. The objects that can be gained from the giants are thus mainly material, whereas those from the underworld are mainly of a spiritual kind. The two axes thus represent various aspects of otherness, at least as a clear ten­ dency: on the one hand, the hostility towards ‘us’ and, on the other hand, the poten­ tial for ‘us’.

31 Cf. Schjødt 2008, pp. 443–450. 32 However, we cannot rule out that some sort of ’ritual drama’ may have taken place as has been proposed by many scholars from different perspectives (for instance Grønbech 1931; Stanley Martin 1972; Gunnell 1995), which could easily have involved presentations of giants.

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4 Conclusions The hypothesis presented in the beginning of this paper was that there is a certain, rather stable, relation between certain aspects of travelling, namely destination, pro­ tagonist, and purpose, when it comes to the basic structure of a ‘journey’ as this phe­ nomenon is presented in the Old Norse mythological texts, primarily the Eddas. The results we have reached show, in my opinion, quite convincingly that such a pattern actually does exist. We have seen that there are different destinations for the various Other World journeys and that these destinations are characterized in quite different ways. Therefore, the purposes of going there differ too, since what we can get if we travel along the horizontal axis are physical objects, a warrior reputation, and great fame. Therefore, the main protagonist going on these journeys is Ϸórr, who is primar­ ily known as a very physical figure with huge strength, which is why he is also the greatest of fighters in Ásgarðr. Going to the underworld, on the other hand, always has the purpose of gaining knowledge of a more ‘spiritual’ kind; here, the main pro­ tagonist is Óðinn or some of his human heroes who are related to him by descent or initiation. We can thus present the conclusion in the following figure: Horizontal

Vertical

Destination

Giant land

Underworld

Characteristics

Threats and hostility

Fertile Potential

Protagonist

Þórr

Óðinn

Purpose

Physical killing

Intellectual fertility

Fig. 4

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Matthias Teichert

Quest in die Unterwelt Narrative Metamorphosen von Jenseitsreisen und anderen phantastischen Fahrten in Sagaliteratur und Eddischer Dichtung Abstract: The present paper initially outlines the various species of underworlds and concepts of the Beyond prevailing in Norse­Icelandic sagas and Eddic poetry. It then sets out to a narratological analysis of the journeys to these phantastic realms as related in the texts. The main thesis put forward is that the underworld journeys (in particular those described in the adventurous mythical­heroic sagas) turn out as variations of a broader type of narration which is also the basis for narrating quests in Arthurian literature (riddarasögur) or travels to India in the romance­style lygisögur. The images conveyed of the sundry types of underworlds are as diverse as the pur­ poses and ways of conduct of the journey itself. The scope ranges from the mode of the Carnivalesque in the mundus­inversus­episode in Þorsteins saga bæjarmagns to the phantasmactic horror of the Arinnefja tale in Egils saga einhenda. A different notion is detectable in underworld journeys portrayed in heroic epic where a trip ‘down­ wards’ – in a rather concrete sense – counts among the significant stages of a model heroic biography as is the case in the Sigmund­Sinfjötli narrative from Völsunga saga (mind also Beowulf’s sojourn in the subaquatic lair). Als die Nibelungen – wie sich die Burgunden seit der 25. Aventiure des Nibelungenliedes nennen – auf ihrem verhängnisvollen Zug ins Hunnenland an die Donau kommen, wird Hagen, der dark hero des Epos,1 ausgesandt, um eine geeignete Stelle und ein Transportmittel zur Überfahrt ausfindig zu machen. Hagen stößt bald auf eine Furt und mit ihr auf zwei badende meerwîp, die ihm, nach einigem Getändel um die von Hagen entwendeten Kleidungsstücke, zur Umkehr raten, da, abgesehen von dem mitreisenden Kaplan, sonst keiner der Nibelungen lebend von der Reise zurück­ kehren werde. Mit einer Täuschung kann Hagen schließlich einen Fährmann zu sich locken und tötet ihn, um an die Fähre zu gelangen. In dem blutverschmierten Kahn transportiert Hagen nach und nach die Nibelungen an das andere Ufer der Donau, mit Ausnahme des Kaplans, den er über Bord wirft, um ihn ertrinken zu sehen und damit die Weissagung der meerwîp zu widerlegen, was bekanntlich nicht verfängt. Am gegenüberliegenden Ufer angekommen zerstört Hagen das Fährboot, im Bewusstsein der Tatsache, dass es nicht mehr für eine Rückfahrt gebraucht wird, weil es keine Rückkehr geben wird. 1 Haymes 1986, S. 75. – Der Terminus ‚dark hero‘ geht ursprünglich auf Campbells The Hero with a Thousand Faces zurück. https://doi.org/10.1515/9783110624663-003

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Diese Episode aus dem Nibelungenlied spielt nicht in einer mythischen, eschato­ logischen oder apokalyptischen Erzählwelt, in der Schilderungen von Jenseitswelten und von Reisen dorthin unmittelbar zu erwarten wären, sondern in der Sphäre des Heroischen, also Menschlichen bzw. Übermenschlichen. Sie darf jedoch mit einer gewissen Berechtigung als eine sozusagen säkularisierte Variante des Sujets ‚Jen­ seitsfahrten‘ in Anspruch genommen werden. Auch wenn nach der Überquerung der Donau noch heitere Stunden auf die Nibelungen zukommen, etwa am Hof Rüdigers, ist klar, dass mit der Überquerung der Donau mehr geschieht als das bloße Überset­ zen von einem Ufer eines Flusses an das andere. Die Zeichen, die das Land jenseits der Donau als ein Land des Todes ausweisen, sind deutlich genug und nehmen zu, je näher die Nibelungen an den Hunnenhof gelangen, an dem sich ihr blutiges Schicksal schließlich erfüllt. Verschiedene Wärter­Figuren tauchen auf, wie sie für die Eingänge zu Toten­ und Jenseitsreisen typisch sind: die erwähnten Meerweiber/Donaunixen (25. Aventiure), aber auch der schlafende Wächter, der die Nibelungen nach Bech­ elaren geleitet (26. Aventiure); der reale Fluss Donau wird, wie unter anderen Vorzei­ chen der Rhein, als phantastisches Gewässer chiffriert, das zwei Welten, also zwei intradiegetische Zeichensysteme, voneinander trennt. Die Donau des Nibelungenlie­ des wäre damit strukturell den Jenseitsflüssen der altnordischen Überlieferung oder dem Fluss von Tuonela aus der finnisch­kalevalischen Mythologie an die Seite zu stellen. Wie in anderen Literaturen des europäischen Mittelalters erscheinen Jenseits­ reisen und Unterweltsfahrten auch im Altwestnordischen als außergewöhnliche, phantastische Reisen par excellence. Dies umso mehr, als die mittelalterliche Litera­ tur mit der Hades­Fahrt der klassischen Mythologie, nachzulesen etwa in Vergils Georgica und Ovids Metamorphosen, sowie mit der Descensus Christi ad inferosThematik (‚Christi Höllenfahrt‘) der mittelalterlichen Christologie auf zwei kulturell prägende und wirkmächtige Paradigmen dieses Narrativs zurückgreifen kann. Orpheus’ erfolgloses Abenteuer in der Totenwelt hat in der altnordischen Mythologie ein Analogon im Helritt des Odinssohnes Hermóðr, der nach dem Tod des jugendli­ chen Gottes Baldr nach Hel aufbricht, letztlich aber scheitert wie Orpheus (episch stringent auserzählt in der um 1225 entstandenen Snorra Edda [Gylfaginning]).2 Diese intensiv erforschte Erzählung wie überhaupt Unterweltsfahrten mythischer Figuren sollen jedoch nicht im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen. Behandelt werden sollen vielmehr Reisen menschlicher Protagonisten – exorbitante Menschen zwar, aber eben eindeutig menschlich vorgestellte Gestalten aus Fleisch und Blut – in jene Schattenreiche, die als Jenseits, Totenwelt, Unterwelt bezeichnet werden, ohne dass sich diese Begrifflichkeiten eindeutig definieren oder sich exakt gegeneinander abgrenzen ließen.

2 Zu Snorris Version des Mythos von Baldrs Tod sowie zur Sagengeschichte und Überlieferung dieses Stoffkomplexes vgl. Neckel 1920 und Lorenz (Hg./Übers.) 1984, S. 554–580.

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Der eigentlichen Analyse und Auswertung sei eine Bestandsaufnahme voraus­ geschaltet, die ein Spezifikum der altnordischen Literatur auf den ersten Blick erken­ nen lässt: Jenseitsfahrten finden sich nahezu ausschließlich in vergleichsweise späten, ‚postklassischen‘ Texten. Das gilt zum Beispiel für die beiden Beispiele aus der Liedersammlung der Edda, in denen Jenseitsreisen vorkommen, darunter das Gedicht Helreið Brynhildar (‚Brynhilds Helritt‘), ein erst im 13. Jahrhundert entstan­ dener, etwas extravaganter Spross der wuchernden altisländischen Nibelungenepik: Es handelt davon, dass Brynhild nach Sigurds Tod aus Trauer Selbstmord begeht und post mortem an die Pforte zur Hel gelangt. Insgesamt erwähnt die altnordische Überlieferung eine ganze Reihe von Jenseits­ und Totenwelten, die in verschiedenen Textgattungen genannt und unterschiedlich ausgestaltet werden. Die bekannteste altnordische Unterwelt ist die schon erwähnte Hel, aus deren etymologischer Wurzel sich die germanischen Bezeichnungen für ‚Hölle‘ entwickelt haben, beginnend mit got. halja für grch. abyss, sodann ae. hell, as. hel.3 Eine mit Schrecken und Qualen verbundene Folterkammer ist die Hel aller­ dings erst unter dem Einfluss der christlichen Visionsliteratur seit dem 11. Jahrhun­ dert geworden; in älteren, wikingerzeitlichen (793–1066) Quellen ist Hel noch ein gleichsam neutraler „Aufenthaltsort von Toten“;4 das nur selten im 13. Jahrhundert belegte Kompositum Niflhel akzentuiert einen bestimmten Aspekt der Hel – den der Lichtlosigkeit, Dunkelheit – , ist ansonsten aber wohl mehr oder minder als synonym zu betrachten.5 Nur im apokalyptischen Kontext belegt sind die Náströnd (‚Ufer der Toten‘, Pl.).6 Die Meergöttin Rán herrscht über ein gleichnamiges submarines Toten­ reich, in das die Ertrunkenen gelangen.7 Alle diese Unterwelten werden in den beiden als Eddas bezeichneten Textsammlungen erwähnt und beschrieben: die sogenannte Ältere Edda oder Lieder-Edda, eine 1240/70 aufgezeichnete Sammlung von stabrei­ menden Götter­ und Heldenliedern, die älter als die schriftlich fixierte Textsammlung sind und in einigen Fällen bis in die vorchristliche Wikingerzeit zurückreichen, und die sogenannte Prosa-Edda oder Snorra Edda, ein um 1225 verfasstes Skaldenlehrbuch des Isländers Snorri Sturluson, das zugleich einen ausführlichen Abriss der nord­ germanischen Kosmogonie und Eschatologie bietet. Ausschließlich in Prosatexten des 13. bis 15. Jahrhunderts werden drei weitere mythisch aufgeladene ‚Gegenwelten‘ erwähnt. Es sind dies der Ódáinsakr (‚Unsterblichkeitsacker‘, ager immortalitum), die Glæsisvellir 8 sowie eine schlicht undirheimr (‚Unterwelt‘) genannte Lokalität mit den Nebenbezeichnungen niðr heimr (‚Niederwelt‘) und undirdjúp (‚Abgrund‘).

3 Vgl. Beck 1999, S. 259. 4 Simek 2006, S. 178, s. v. „Hel“. 5 Vgl. Simek 2006, S. 301, s. v. „Niflhel“ („ursprünglich wohl nur eine poetische Steigerung zu Hel“). 6 Vgl. Simek 2006, S. 295, s. v. „Náströnd“. 7 Vgl. Simek 2006, S. 342, s. v. „Rán“. 8 Zu Ódáinsakr und Glæsivellir vgl. Heizmann 2002 und Egeler 2015.

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Die Frage, bis zu welchem Maß in diesen Beschreibungen mehr oder minder ver­ witterte Substrate altgermanischer Jenseitsüberlieferungen erhalten sind und wie hoch der Grad der Überformung mit Vorstellungen aus der christlichen Visionslitera­ tur und Ikonographie veranschlagt werden kann, ist im Kern weniger ein literaturwis­ senschaftliches als ein religionsgeschichtliches Problem. Ich will es im vorliegenden Beitrag weitgehend beiseitelassen und mich statt auf die Schilderung der Jenseits­ und Totenwelten auf die narrative Gestaltung der phantastischen Reise dorthin kon­ zentrieren. Das Altnordische kennt – ebenso wie andere vormoderne Literaturen – eine ganze Reihe unterschiedlicher Subgattungen des Genres ‚phantastische Reise‘, die aus ver­ schiedenen außernordischen Quellen in die nordische Vorstellungswelt und Erzähl­ literatur geflossen sind. Hierzu zählen die aus der Artusepik stammenden Konzepte von Aventiure und Quest, aber auch die irische immram­Motivik (wundersame See­ fahrten), weiterhin abenteuerliche Reisen nach Osten, wo vor allem Indien als über­ zeichnetes, von unvorstellbar schönen Prinzessinnen, absurd reichen Königen und allerlei exotischem Getier bevölkertes Märchenwunderland ein häufig angesteuertes Ziel der reisefreudigen Sagahelden ist. Es ist daher, zumal in solch späten Texten wie den hier einschlägigen, mit Motivkombinationen, Synkretismen und Überblend­ ungen zu rechnen. Wilhelm Heizmann hat darauf hingewiesen, dass in der Etymologie der Unter­ weltsbezeichnung Glæsisvellir ein Anklang an den in der Volksüberlieferung häufigen Nexus zwischen Jenseits/Totenreich einerseits und dem Material ‚Glas‘ vorliegt, der u. a. auch in der Glasinsel (insula vitrea) der keltischen Mythologie und im paneu­ ropäisch bezeugten Glasberg des Zaubermärchens vorkommt.9 Insbesondere zeigten „die einzelnen Überlieferungen […] dabei unterschiedliche Formen der Selektion und Kombination“10 gemeinsamer Elemente, die Quellen seien als „ein integrierendes Zentrum divergenter Vorstellungsbereiche“11 zu verstehen. An diese Überlegungen anknüpfend, gehe ich im Folgenden von zwei Kernthesen aus: 1. Nicht nur die Jenseitswelten selbst, sondern auch die erzählten phantastischen Reisen dorthin weisen (z. T. gattungsspezifische) metamorphe „Formen der Selek­ tion und Kombination“ unterschiedlicher Elemente divergenter Herkunft auf. 2. Die Unterwelt (Jenseitswelt) als Chronotopos und der Weg dorthin bilden die Matrix für die Narration unterschiedlicher Typen (phantastischer) Reisen. Ausgehend von diesen Überlegungen sollen nachfolgend ausgewählte Unterwelts­ fahrten in den beiden epischen Hauptgattungen der altnordischen Literatur – der

9 Vgl. Heizmann 2002, S. 532. 10 Heizmann 2002, S. 532. 11 Heizmann 2002, S. 532.

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Eddischen Dichtung und der Sagaliteratur – analytisch in den Blick genommen und daraufhin befragt werden, welchen Verwandlungen das Motiv der Unterweltsreise unterworfen ist. Der narratologische Schwerpunkt ergibt sich aus dem Interesse des Nachweises, dass es sich bei den als Unterweltsfahrten inszenierten und in den Texten auch als solche bezeichneten Reisen tatsächlich zu einem erheblichen Teil um Camouflagen handelt, die inhaltlich und erzähltechnisch nach den Verfahren anderer Erzähltypen um phantastische Reisen gestaltet sind. Der Ódáinsakr und die Glæsisvellir sowie die literarischen Reisen dorthin können aufgrund der vorliegenden, in Anm. 8 referenzierten Forschungsliteratur als in ihren wesentlichen Aspekten erforscht gelten, während das Konzept des undirheimr auch in forschungsgeschichtlicher Dimension eine terra incognita bildet. Ich werde mich daher im Folgenden auf diese Unterwelt konzentrieren. In den undirheimr verschlägt es den Titelhelden der Þorsteins saga bæjarmagns. Es handelt sich um eine Abenteuersaga, ein heterogenes Subgenre der Vorzeitsagas. Die Abenteuersagas zeichnen sich durch phantasievolle, handlungsreiche und epi­ sodisch gegliederte Plots aus, die meist biographisch strukturiert sind: Held besteht außerordentliche Taten und erhält dafür Belohnung. Þorsteinn ist ein schwieriger Charakter, zugleich aber ein kühner, verwegener Held, weswegen der König von Nor­ wegen ihn häufig zu besonders gefahrvollen Sendfahrten ausschickt, die sich kein anderer zutraut. Aufgrund dieser Eigenschaft ist er zur Reise in die Unterwelt prädes­ tiniert. Seine Fahrt dorthin wird in Kap. 2 der Saga wie folgt beschrieben: Gekk hann á land einn morgin ok er sól var í landsúðri, var Þorsteinn kominn í eitt rjóðr. Hóll fagr var í rjóðrinu. Hann sá einn kollóttann pilt upp á hólnum ok mælti: „Móðir mín“, sagði hann, „fá þú mér krókstaf minn [ok bandvetlinga, þvíat ek vil á gandreið fara. Er nú hátíð í heiminum neðra.“ Þá var snarat út úr hólnum einum krókstaf sem eldskara væri. Hann stígr á stafinn ok dregr á sik vetlingana ok keyrir sem bǫrn eru vǫn at gjǫra. Þorsteinn gengr á hólinn ok mælti slíkum orðrum sem piltinn. Ok var þegar út kastat staf ok vǫttum […]. Síðan stígr hann á stafinn ok ríðr eptir sem piltinn fór undan. Þeir kómu at einni móðu ok steyptu sér ofan í hana ok var því líkast sem þeir væði reyk. Því næst birti þeim fyrir augum. Ok kómu þar at sem á féll fram af hǫmrum. Sér Þorsteinn þá bygð mikla ok borg stóra. Þeir stefna til borgarinnar ok sitr þar fólk yfir borðum. Þeir gengu í hǫllina. Ok var hǫll skiput af fólki. Ok var þar af engu drukkit útan af silfrkerum. […] Allt sýndist þeim þar gulligt ok ekki drukkit nema vín. Þat þóttist Þorsteinn skilja at engi maðr sá þá.12 12 „Eines Morgens ging er an Land und als die Sonne im Südosten stand, war Þorsteinn auf eine Lichtung gekommen. Auf der Lichtung war ein prächtiger Hügel. Er sah einen kahlköpfigen Jun­ gen auf dem Hügel, der sprach: ‚Mutter‘, sagte er, ‚reiche mir meinen Krummstab und die Hand­ schuhe heraus, denn ich will auf Zauberritt gehen. In der Unterwelt ist jetzt Festzeit.‘ Da wurde ein Krummstab, der wie ein Schürhaken aussah, aus dem Hügel geworfen. Er steigt auf den Stab auf, zieht die Handschuhe an und treibt ihn an, wie Kinder es gewöhnlich tun. Þorsteinn steigt auf den Hügel und sprach ebensolche Worte wie der Junge und sogleich wurden ein Stab und Handschuhe geworfen […]. Dann steigt er auf den Stab und reitet dorthin, wo der Junge zuvor geritten war. Sie kamen zu einem breiten Fluss und stürzten sich in ihn hinein und es war, als würden sie durch Rauch waten. Als nächstes klarte es vor ihren Augen auf und sie kamen dorthin, wo der Fluss von einer hohen Klippe

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Diese Erzählung bietet eine ganze Fülle von Motiven und Erzählstrukturen, von denen hier aus Raumgründen nur die wichtigsten gesichtet werden sollen. Ausgangspunkt der Unterweltsreise ist eine in der Dämmerung liegende Waldlichtung, ein Chrono­ topos, an dem sich in den Vorzeit­ und Märchensagas sehr häufig Begegnungen von Menschen mit Wesen aus der Anderwelt, meist Riesen, zutragen. So auch in diesem Fall, denn die Kahlköpfigkeit des Jungen ist als äußeres Merkmal der Zugehörigkeit des Jungen zum Trollgeschlecht aufzufassen. Krummstäbe und besondere Hand­ schuhe begegnen häufiger als Instrumente phantastischer Fahrten, aber auch scha­ manistischer Seelenreisen, hier sind beide Artefakte als ‚Transportmittel in die Unter­ welt‘ zu kategorisieren. Als Begründung für die beabsichtigte Fahrt in den undirheimr nennt der kahlköpfige Bursche, dass dort Festzeit ist, die Unterwelt also zumindest temporär karnevaleske Qualitäten hat. Trotz ihres Namens, der eine im Vergleich zur Menschenwelt subterrestrische Lokalisierung, also eine vertikale Schichtung der beiden Welten, erwarten lässt, scheint sich der undirheimr mehr oder minder auf derselben horizontalen Ebene zu befinden wie die Menschenwelt, von der sie stan­ dardmäßig durch einen nebelverhangenen Fluss getrennt wird. Die Erreichbarkeit der Unterwelt ist in erster Linie an topographisches Wissen, nämlich Wegkenntnis, gebunden. Bei seiner Ankunft im undirheimr, wo in hypertrophem Luxus getafelt und getrunken wird, ist Þorsteinn unsichtbar, eine phantastische Eigenschaft, die aller­ dings in dem Augenblick aufgehoben wird, in dem er seinen Krummstab vergisst. Die Unterwelt selbst ist nicht als ein einheitliches Großreich vorzustellen, sondern analog zur Menschenwelt als in viele kleine aufgeteilt, die jeweils ein König regiert. Der Reise dorthin erscheint als phantastisch kodierte Abenteuerfahrt und Lustreise in eine karnevalisierte Parallel­ resp. Antiwelt zum Realitätssystem der ‚normalen Welt‘ mit Zügen des mundus inversus. Hier erfüllen sich menschliche Wünsche und Sehnsüchte: nach fürstlichen, überreichlich auf Gold­ und Silbergeschirr servier­ ten Speisen, nach materiellem Reichtum und nach der Utopie der Unsichtbarkeit. Ausgespart bleibt die erotisch­sexuelle Komponente, die dafür im nachfolgend zu behandelnden Text umso stärker akzentuiert ist. Eine außerordentlich bizarre Fahrt in die Unterwelt wird in der Egils saga einhenda erzählt. Die in der Forschung bislang relativ wenig beachtete Saga ist von der Warte der Erzählforschung her deshalb bemerkenswert, weil in ihr das Kompositionsmuster der Rahmenerzählung mit darin verschachtelten Binnenerzählungen auf recht raffinierte Weise angewandt wird. Die Rahmenhandlung kreist um den einhändigen Titelhelden Egill, der mit seinem Schwurbruder Asmund ausgezogen ist, um zwei von absonder­ lichen Monstren geraubte Königstöchter zu befreien – eine Motivik, die aus dem stürzte. Da sieht Þorsteinn eine große Siedlung und eine mächtige Burg. Sie steuern auf die Burg zu; dort sitzen Leute bei Tisch. Sie gingen in die Halle. Die Halle war voller Leute und es wurde dort aus nichts anderem als auch Silbergefäßen getrunken. […] Alles schien ihnen dort aus Gold zu sein und es wurde nichts anderes als Wein getrunken. Þorsteinn glaubte zu erkennen, dass niemand sie sah.“ (Text und Übersetzung Tietz 2012, S. 36–39).

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Märchen (und aus dem höfischen Roman) hinlänglich bekannt ist. Auf ihrer Suche geraten Egill und Asmund in die Gesellschaft des Trollweibs Arinnefja (‚Adlernase‘). Da sich bereits die Schatten des Abends herabsenken, beschließt man, gemeinsam zu Abend zu essen. Während das “frugale” Mahl, eine Breispeise, vor sich hin köchelt, verkürzen sich die drei Wartenden die Zeit, indem sie sich gegenseitig ihre Lebensge­ schichte erzählen. Arinnefjas Vita umfasst eine Unterweltsfahrt, zu der sie einst ausgesandt wurde, nachdem sie, von Mannstollheit verwirrt, in Gefangenschaft geraten war, weil sie die Hochzeitsfeierlichkeiten des von ihr begehrten Königssohnes Hringr mit seiner Braut Ingibjörg sabotiert hatte. Als Haupteslösung bietet Arinnefja an, drei magische Arte­ fakte zu beschaffen. Ausgangspunkt für die Unterweltsfahrt ist also nicht der Tod des Reisenden oder das Bestreben, einen Verstorbenen aus dem Jenseits in die Welt der Lebenden zurückzuholen (wie im Baldr­ oder Orpheus­Mythos), sondern die Aussendung des Reisenden durch eine andere Person, die Macht über den/die Reisende/n hat und ihn/ sie nötigt, eine oder mehrere schwierige Aufgaben zu erfüllen, um sein/ihr Leben zu retten. Die Aufgabe besteht dabei entweder in der Herbeischaffung bestimmter Gegen­ stände, die für den Aussender entweder wegen ihres materiellen Wertes oder aufgr­ und ihrer magischen Qualitäten von Interesse sind, oder – im selteneren Fall – in der Lösung eines Rätsels bzw. der Auskundschaftung geheimen Wissens, insbesondere der Namen von übernatürlichen Gestalten (Rumpelstilzchen­Motivik). Die Märchenfor­ schung bezeichnet diese Konstellation auch als „gefährlicher Auftrag“13 und rechnet sie als einen von drei möglichen Gründen von Jenseitsbesuchen, die im Zaubermärchen vorkommen.14 Das bekannteste Märchenbeispiel ist sicherlich KHM 29 Der Teufel mit den drei goldenen Haaren, wo der Held neben der Beschaffung der titelgebenden Haare vom Kopf des Teufels auch die Lösungen von drei Rätseln recherchieren muss, was ihm mit Hilfe der freundlichen Großmutter des Teufels auch gelingt. Verwandt mit der Mär­ chenmotivik des gefährlichen Auftrags ist das aus der höfischen Epik des europäischen Hochmittelalters vertraute Erzählmuster der Aventiure oder Quest(e)/queste, d. h. eine aufwändige und langwierige Reise, zu der ein ritterlicher Held aufbricht, um Ruhm zu erwerben, eine vormalige Verfehlung zu kompensieren (wie Erec sein verligen in der Kemenate) oder, wie im Falle des Grals, ein mythisches oder eschatologisches Objekt aufzufinden. Die Episode um Arinnefjas Unterweltsfahrt liest sich wie folgt: Nú fór ek í undirheima, ok fann ek Snjá konung, ok gaf ek honum LX hafra ok pund gulls, ok keyp[t]a ek svá hornit. En dróttningu hans var búinn eitrdrykkr í tólf tunna bikar, ok drakk ek þat fyrir henar skyld, ok hefi ek síðan haft nǫkkrun lítinn brjóstsviða. […] þar fann ek III konur, ef svá skyldi kalla, þvíat ek var barn hjá þeim at vexti. Þær hǫfðu taflit at geyma. […] 13 Bauer 1993, Sp. 530. 14 Vgl. Bauer 1993, Sp. 530.

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Fór ek nú níðr í undirdjúp, at sœkja skikkjuna. Fann ek þá hǫfðingi myrkranna; en er hann sá mik, mælti hann til samfara við mik. Þótti mér, sem þat mundi Óðinn vera, þvíat hann var einsýnn. Bað hann mik eiga skikkjuna, ef ek vilda þat til vinna, at sœkja hana þangat, sem hon væri; var þangat at hlaupa yfir eitt mikit bál. Lá ek fyrst hjá Óðni, ok hljóp ok síðan yfir bálit, ok fekk ek skikkjuna, ok er ek síðan skinnlaus um allan kroppinn.15

Anders als in der Þorsteins saga werden hier weder Angaben zur topographischen Lage gemacht noch zur Art und Weise, wie die Reise zur und der Übertritt in die Unterwelt erfolgt. Der Säkularisierungsgrad ist insofern noch höher als in der Þorsteins saga, als hier sozusagen auf die üblichen Marker von Grenzen zwischen den Welten und das Auserzählen ihres Überschreitens verzichtet wird. Als besondere Auffälligkeiten sind zunächst die drei Objekte der Quest zu nennen: das Horn, das niemals leer wird, der feuerresistente Mantel und das selbstspielende Brettspiel. Diese Sammlung phantas­ tischer Artefakte korrespondiert in auffälliger Weise mit den drei nicht­phantastischen Kleinodien, die sich einst im Besitz von Arinnefjas Vater befunden haben: ein Horn, ein Brettspiel und ein Goldring. Auch weitere Motive aus Arinnefjas Vorleben haben Äquivalente in Erlebnissen und Personen ihrer Unterweltsfahrt: die Motivik der gewalttätigen Schwestern (17 Schwestern Arinnefjas, die sich untereinander töten – die drei aggressiven blutrünstigen Trollschwestern in der Unterwelt), das Element der starken sexuellen Gier (in der Vorgeschichte der Beischlaf der 18 Schwestern mit Thor – in der Unterweltepisode Arinnefjas Beischlaf mit dem Fürsten der Finsternis, den sie als Odin identifiziert). Vertraute Objekte und Gestalten aus Arinnefjas Vorle­ ben tauchen, so könnte man sagen, im Zerrbild grotesker und abjekter Potenzierung auf. Wie die Unterwelt in der Þorsteins saga ist auch die Unterwelt der Egils saga, wenngleich auf völlig andere Art, eine Spiegelung der Oberwelt, die hier aber ungleich skurriler, düsterer und bedrohlicher ist als die mondän schmausende Festgesellschaft. Vom Kampf mit den drei Trollschwestern schwer gezeichnet, trifft Arinnefja mit dem Fürsten der Finsternis alias Odin zusammen. Dessen Residenz wird nun nicht mehr í undirheima lokalisiert, sondern í undirdjup und die Bewegungsrichtung, die Arinnefja von den undirheimar einschlagen muss, um dorthin zu gelangen, wird mit

15 Drei lygisǫgur (Lagerholm [Hg.] 1927, S. 59–63). – ‚Nun begab ich mich in die Unterwelt(en) und ich traf König Snjár, und gab ihm 60 Böcke und ein Pfund Gold, und kaufte auf diese Weise das Horn. Aber seiner Königin war bereitet ein Gifttrank, in einem Becher, der 12 Fässer fasste und ich trank ihn für sie aus, und ich habe seither ein leichtes Brennen in der Brust. […] dort traf ich drei Frauen, falls man sie als Frauen bezeichnen kann, denn im Vergleich zu ihnen war ich ein Kind an Wuchs. Sie hatten das Brettspiel in Verwahrung. […] Nun begab ich mich hinab in den ‚Abgrund‘, um den Mantel zu suchen. Dort traf ich den Fürsten der Finsternis; und als er mich sah, sagte er, dass er mit mir schlafen wolle. Mir schien es, dass es Odin sein müsse, denn er war einäugig. Er bot mir an, den Mantel zu besitzen, wenn ich das zustande brin­ gen würde, ihn dort zu suchen, wo er sich befände und das war, über einen großen Scheiterhaufen zu springen. Erst lag ich bei Odin, dann sprang ich über den Scheiterhaufen und bekam den Mantel und seitdem bin ich am ganzen Körper ohne Haut.‘ (Übersetzung M. T.).

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dem Adverb niðr (‚hinab‘) angegeben, d. h. der singularische undirdjúp (‚Abgrund‘) ist entweder als ein besonders peripherer Ausläufer der pluralischen undirheima aufzufassen oder aber als eigenständige, subterrestrische, also auf vertikaler Ebene unterhalb der undirheima liegende phantastische Lokalität. Vorbild für diese aus­ schließlich in der Egils saga einhenda belegte Raumkonzeption ist möglicherweise das oben erwähnte, von Snorri Sturluson etablierte Nebeneinander von Hel und Niflhel. Im Vergleich zu den hinreichend ungastlichen undirheima ist der undirdjúp nochmals finsterer und dämonischer dargestellt, und die auch sonst in spätaltislän­ dischen Texten vorzufindende, teilweise der phantasie­ und bildgewaltigen Dämo­ nologie des christlichen Mittelalters geschuldete Satanisierung der Odinsgestalt erreicht hier in ihrer Explizitheit einen Höhepunkt. Die sexuelle Verbindung, die Odin mit der Trollin Arinnefja eingeht, ist wahrscheinlich „an die mittelalterlichen vorstellungen von der verbindung des teufels mit hexen“16 angelehnt. Arinnefjas Rückkehr aus undirheima und undirdjúp vollzieht sich ebenso umstandslos wie die Hinfahrt; sie kann die drei geforderten Artefakte ihrer Auftraggeberin überreichen und sich damit auslösen. An dieser Stelle ist die Binnenerzählung Arinnefjas zu Ende und der Brei ist auf essbare Temperatur abgekühlt. Die Rahmenhandlung um die Quest Egils und Asmunds (QI) geht nun weiter, wie in jeder intelligent konstruierten Rahmenges­ chichte gibt es jedoch Rückkopplungen zwischen Rahmen­ und Binnenerzählun­ gen. Nicht nur, dass Arinnefja sich als erstrangige Helferfigur erweist, die dem ver­ stümmelten Egill seine einst im Kampf verlorengegangene Hand zurückgibt und die beiden Recken mit dem besagten Zauberspiegel ausstattet, so dass die Zwischensta­ tion bei Arinnefja zur Basis für die Erfüllung von Egils und Asmunds Quest (QII) wird; es bestehen auch strukturelle Analogien zwischen QI und QII in der Binnenerzählung von Arinnefjas Lebenserzählung. Die Unterweltsfahrt ist hier ungleich stärker mit der Haupthandlung der Saga verzahnt als dies in der Þorsteins saga der Fall ist. Während dort der kurze Ausflug in die Unterwelt auf kompositorischer Ebene eine schillernde und kurzweilig erzählte Episode bleibt, bilden die zweiteilige Unterweltsreise und die metadiegetische Erzählung derselben durch Arinnefja so etwas wie den narrativen Kern der gesamten Saga, in der das gegenseitige Erzählen von twice-told-tales zur eigentlichen Haupthandlung wird, indem es bis dahin lose Fäden zusammenknüpft, verworrene Hintergründe rekonstruiert, Wissensteilung organisiert und Identitäten klärt. U. a. eröffnet Arinnefja ihren beiden Gästen, dass die beiden prinzessinnen­ raubenden Ungetüme in Wirklichkeit zwei Verwandte von ihr sind. Obwohl die Differenz zwischen Oberwelt und dämonisierter Unterwelt in der Egils saga einhenda ungleich größer ist als in der Þorsteins saga, ist die Reise in und aus der Unterwelt wesentlich barrierefrei, und die erwähnten Analogien zwischen Motiven aus Arinnefjas Oberwelt­Biographie und ihren Unterwelt­Erlebnissen lassen den

16 Lagerholm (Hg.) 1927, S. xxxvii.

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Schluss zu, dass mit Arinnefjas Fahrten nach undirheima und undirdjúp nicht (nur) die Kategorie des Phantastischen, sondern auch die des Phantasmatischen realisiert ist, also ein Beispiel einer äußeren, physischen Reise der Erzählenden vorliegt, in der zugleich Elemente einer Reise in die Unterwelten und Abgründe der eigenen Psyche chiffriert sind. Zugleich liegt ein Gegenentwurf zur schamanistischen Seelenreise vor, bei der sich der Geist des Reisenden von seiner körperlichen Hülle löst und in externe Zwischen­ und Antiwelten zur empirischen Realität aufbricht; hier hingegen führt die geistige Reise ins eigene Unterbewusstsein, das in einem Register morbider, greller und grausiger Phantasmagorien verbildlicht wird. Die introspektive Seelenreise der Unterweltsbesucherin trägt Züge des Alptraumhaften. Die spätaltisländischen Abenteuersagas, für die hier die Þorsteins saga und die Egils saga einhenda paradigmatisch stehen, variieren also keineswegs nur die bereits in den Eddas des 13.  Jahrhunderts kodifizierten subterrestrischen Unterwelten, sondern ‚erfinden‘ erstens eine eigene Unterwelt, die mangels einer älteren Tradi­ tion schlicht mit dem generischen Begriff undirheimr (‚Unterwelt‘) bezeichnet wird. Zweitens wird diese neu erfundene Unterwelt auch mit ‚neuen‘ Inhalten gefüllt, die in dieser Form von den ‚Wurzeltexten‘, d. h. den eddischen Unterweltsdarstellungen des 13. Jahrhunderts, nicht vorgegeben sind. Dies gilt zum einen für die bizarren und grausigen, gelegentlich psychedelisch wirkenden Erlebnisse und Begegnungen in der Unterwelt selbst, die z. T. durch die psychopathologische Vorgeschichte der Reisenden strukturiert sind und sich somit gegenüber den ‚objektiv­kollektiven‘ Bildregistern der eddischen Unterwelten, die für jeden Besucher unabhängig von dessen individueller Verfasstheit identisch sind, zu einer Art subjektiven Unterwelt mit Spiegelfunktion wandeln. Zum anderen gilt dies auch für die narrative Umsetzung, die die phantas­ tische Reise in die Unterwelt nach den Erzählkonventionen des gefährlichen Auftrags bzw. der Quest realisiert. Im Kern liegt somit eine camouflage­ bzw. palimpsestartige Struktur vor: Die Fahrt in die Unterwelt, die auch explizit als solche bezeichnet wird, entpuppt sich als eine ‚schwarze Quest‘, in der die Unterwelt statt Zielobjekt nur mehr temporäre Kulisse und phantasmatisches Imaginarium ist. Einen anderen Akzent haben die Jenseitsfahrten in der Heldendichtung. In dieser Erzählgattung zählt ein vorübergehender Aufenthalt in der Unter­ oder Totenwelt, die von den Verfechtern einer idealtypischen Heldenbiographie als substantielle Station einer heroischen Vita angenommen wird, u. a. von Jan de Vries (Heldenlied und Heldensage), zu den typischen Etappen.17 Bezüglich der germanischen Heldenepik ist davon auszugehen, dass, anders als im Griechischen oder Mesopotamischen, keine unmittelbare Verknüpfung von (Götter­)Mythologie und Heroenmythos besteht; die germanische Heldensage ist ‚amythisch‘ und erst ab dem 13. Jahrhundert ist, vielleicht unter klassischem Einfluss, mit einer Tendenz zur „nachträglichen Mythisierung“18

17 de Vries 1961, S. 282–289. 18 von See 1971, S. 35.

Quest in die Unterwelt 

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zu rechnen. Die Unterweltsfahrt als Station der Heldenbiographie wird – in Ermange­ lung eines direkten Zugangs der menschlichen Helden zur Unterwelt der Totengott­ heiten und Dämonen – verweltlicht und ins Physisch­Materiell­Geographische ‚übersetzt‘; erst in späten Quellen tauchen seit dem mittleren 13. Jahrhundert (unter klassischem und/oder keltischem Einfluss?) sporadisch ‚echte‘ Jenseitsfahrten von Helden auf. Eine solche säkularisierte Unterweltsfahrt unternimmt der Heros Sinfjötli aus dem Wälsungengeschlecht, der inzestuös gezeugte erstgeborene Sohn König Sig­ munds und seiner Zwillingsschwester Signý. Als Jüngling haust er zusammen mit seinem Vater in einer Hütte in der Wildnis, um eine Gelegenheit abzuwarten, den heimtückischen König Siggeir, Signýs Ehemann, anzugreifen. Der Plan schlägt zunächst fehl, Sigmund und Sinfjötli werden gefangengenommen und sollen in einem unterirdischen Kerker lebendig begraben werden. Diese Episode wird zwar nur in der Völsunga saga, einer um 1260 entstandenen großepischen Prosaversion der eddischen Nibelungendichtungen, erzählt, der Stoff muss aber wesentlich älter sein, denn die Saga zitiert zur Illustration des Erzählten ein Strophenfragment, das aus einer früheren Überlieferungsschicht stammt.19 Diese sehr konkretistisch angelegte Unterweltsfahrt­Episode, die den Begriff ‚Unterwelt‘ geradezu buchstäblich nimmt, hat eine klar erkennbare narrative Funktion, die sich mit van Genneps Konzept der rites de passage umschreiben lässt. Sie markiert die letzte Stufe in der ‚Mannwerdung‘ Sinfjötlis und kehrt die Hierarchie zwischen Vater und Sohn letztlich um: War bis dahin Sigmund die führende und schützende Figur des Gespanns, so ist es nach dem unfreiwilligen Aufenthalt in der materialis­ tisch vorgestellten Unterwelt Sinfjötli, der das Heft des Handelns übernimmt, äußer­ lich daran erkennbar, dass er den zweiten (und erfolgreichen) Racheversuch anführt. Selbst innerhalb der Fiktion der Saga wird Sinfjötlis leadership anerkannt, denn Signý übergibt ihm – und nicht etwa Sigmund – das Schwert, das zum rettenden Werkzeug wird. Obgleich die Unterwelt wie auch die Reise dorthin und von dort weg gänzlich anders dargestellt wird als in der Þorsteins saga und Egils saga einhenda, stimmt die zugrundeliegende Strategie zur Narrativierung des Topos ‚Unterweltsfahrt‘ überein: Die Fahrt in die Unterwelt ist inhaltlich­motivlich noch einwandfrei als solche erkenn­ bar, sie erfolgt jedoch nach dem narratologischen Code anderer phantastischer Reisen als die ‚echte‘ Jenseitsreise (hier: Initiationsthematik). Die altnordische Erzählkunst des Hochmittelalters bemächtigt sich sozusagen eines handlungsstarken, spek­ takulären etablierten Erzählthemas, überschreibt es aber mit Strukturen und Funk­ tionen, die aus divergenten Quellen deriviert und (re­)synthetisiert werden. Die Unterweltsfahrt, so lässt sich bilanzieren, tritt im Altnordischen zwar nicht gerade in ‚tausend Gestalten‘ entgegen, die metamorphen narrativen Realisierun­ gen dieses für Literatur, Mythologie und Religion gleichermaßen zentralen Topos

19 Zu diesem Strophenbruchstück vgl. von See / La Farge et al. 2009, S. 950 f.

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illustrieren jedoch eindrucksvoll Laborcharakter und Experimentierfreudigkeit der phantasiereichen und pittoresken spätaltisländischen Prosaliteratur, die in der For­ schungslandschaft nach wie vor zu häufig ein eher kärgliches Dasein im Schatten der ‚Klassiker‘ des 13. Jahrhunderts fristet.

Literaturverzeichnis Quellen Egils saga einhenda. In: Lagerholm, Åke (Hg.) 1927. Drei lygisǫgur. Egils saga einhenda ok Ásmundar berserkjabana. Ála flekks saga. Flóres saga konungs ok sona hans (Altnordische saga-bibliothek 17). Halle a. S. Snorri Sturluson: Gylfaginning. In: Lorenz, Gottfried (Hg./Übers.) 1984. Snorri Sturluson. Gylfaginning. Texte, Übersetzung, Kommentar (Texte zur Forschung 48). Darmstadt. Þorsteins saga bæjarmagns. In: Tietz, Andrea (Hg./Übers.) 2012. Die Saga von Þorsteinn bæjarmagn. Sagan af Þorsteini bæjarmagni. Übersetzung und Kommentar (Münchner Nordistische Studien 12). München.

Sekundärliteratur Bauer, Josef 1993: Jenseits. In: Brednich, Rolf Wilhelm et al. (Hg.). Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung 7. Berlin/New York. Sp. 524–533. Beck, Heinrich 1999: Hel. In: Beck, Heinrich et al. (Hg.). Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 14. 2., völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage. Berlin/New York. S. 257–260. Egeler, Matthias 2015: Avalon, 66° Nord. Zu Frühgeschichte und Rezeption eines Mythos (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 95). Berlin/Boston. Haymes, Edward 1986: The Nibelungenlied. History and Interpretation (Illinois Medieval Monographs 2). Urbana. Heizmann, Wilhelm 2002: Ódáinsakr und Glæsisvellir. In: Beck, Heinrich et al. (Hg.). Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 21. 2., völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage. Berlin/New York. S. 527–533. Neckel, Gustav 1920: Die Überlieferung vom Gotte Balder. Dortmund. von See, Klaus 1971: Germanische Heldensage. Stoffe, Probleme, Methoden. Eine Einführung. Frankfurt a. M. von See, Klaus / La Farge, Beatrice / Schulz, Katja / Picard, Eve / Teichert, Matthias 2009: Kommentar zu den Liedern der Edda 6: Heldenlieder. Heidelberg. Simek, Rudolf 2006: Lexikon der germanischen Mythologie. 3., völlig überarbeitete Auflage. Stuttgart. de Vries, Jan 1961: Heldenlied und Heldensage (Sammlung Dalp 78). Bern/München.

Jiří Starý

Zwischen Diesseits und Jenseits. Die skandinavischen Gedichte Draumkvæði und Sólarljóð Abstract: The article traces the concept of ‘world’ and the situation of being ‘between the worlds’ in two Scandinavian poems of the High Middle Ages. The Old Norwegian Lay of the Dream and the Old Icelandic Lay of the Sun are visionary poems depict­ ing human death and the related journeys through otherworld realms. In this sense, both poems follow the well­known pattern of the medieval visions of heaven and hell. However, the way the term ‘world’ is used in both poems is highly tantalizing. In the language of the poems, the ‘worlds’ only scarcely refer to well­defined areas in reli­ gious universe. Rather, they depict the mental states of the traveller and his attitudes to the realities surrounding him. The travelling outside is seen as a kind of process of initiation. This is well in accordance with another interesting trait of the poems: the stress is laid not only on the description of the shadowy realms beyond but rather on the fact of the journey itself. The worlds are seen as transitory stages on the way from life to death and the dwelling ‘inbetween’, loaded with uncertainty and terror, represent here rather a typical form of human and Christian being than a momentary change of position. The situation of being outside, standing on the edge between good and bad, life and death, light and darkness is seen as a characteristic trait of Christian existence, producing the high values of the poems’ world­view: wisdom, freedom and responsibility for one’s own deeds. The human identity does not emerge from encounters with the world of everyday experience and human society but rather from meeting and experiencing the supernatural residing behind their borders. Mein Beitrag hat als Thema zwei christliche Gedichte aus dem mittelalterlichen Skandinavien: Sólarljóð, das Sonnenlied, und Draumkvæði, das Traumlied.1 Um aber meinen Standpunkt anschaulicher darlegen zu können, erlaube ich mir ein paar Vorbemerkungen, die man vielleicht zu abstrakt und ‚philosophisch‘ finden kann. Aber die Vorstellung, dass der Mensch nicht nur ‚in der Welt‘, sondern auch ‚außer der Welt‘ oder sogar ‚zwischen‘ mehreren Welten existieren kann, ist ja an sich höchst philosophisch. Es ist vielleicht nicht ganz unangebracht, hier auf die große Figur Martin Heideggers, des Schöpfers des Begriffs In­der­Welt­Sein hinzuweisen, der wie kein anderer die schöpferische Macht, aber auch die existenzielle Not des modernen

1 Diese Studie entstand im Rahmen eines von der Philosophischen Fakultät der Karls­Universität Prag unterstützten Projekts: PROGRES Q12: Literatur und Performativität. https://doi.org/10.1515/9783110624663-004

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Europäers zum Ausdruck gebracht hat. Nach Heidegger ist der Mensch an seine Zeit und ihre materiellen, gesellschaftlichen und – leider – auch politischen und ideolo­ gischen Bedingungen gebunden, sein Geschick ist ein In­der­Welt­Sein. Zwar hat der Mensch das Vermögen, seine Gegenwart in einem ekstatischen Erlebnis zu transzend­ ieren, das gibt ihm aber noch nicht die Möglichkeit, sich über seinen geschichtlichen Kontext zu erheben und die Welt als Ganzes – sich selbst eingeschlossen – zu beo­ bachten und zu bewerten.2 Der Mensch bleibt in dem Innerweltlichen eingeschlossen. Das Leben Martin Heideggers – seine tiefen philosophischen Einsichten einerseits und sein unglückliches politisches Engagement andrerseits – bietet selbst das beste Beispiel für die menschliche Existenz, die dem Außerweltlichen absagt. Die Vorstel­ lung, dass der Mensch mit einem Fuß in der alltäglichen Welt steht, mit dem anderen aber in Gegenden, die weit jenseits der erforschbaren materiellen Weltlichkeit liegen, und die Empfindsamkeit für die Kraft, das Menschliche zu überschreiten, ist dabei an sich nichts Neues. Wenn wir also von dem archaischen Menschen sprechen wollen, müssen wir dem modernen In­der­Welt­Sein analogisch gebildete Außer­der­Welt­ Sein und Zwischen­den­Welten­Sein beiseite stellen. Den Begriff des Zwischen­den­Welten­Seins kann man durch die Geschichte des europäischen Denkens bis zu dem lateinischen Begriff intermundia (‚Zwischenwelten‘) zurückverfolgen, der selbst eine Übersetzung des älteren griechischen μετακόσμια ist. Die Schöpfung des Worts wird meistens dem griechischen Philosophen Epikur zuge­ schrieben, nach dessen Lehre die μετακόσμια eine Art Klüfte zwischen den Welten seien, in denen die Götter leben.3 Was war der Sinn des seltsamen Bildes? Soweit wir imstande sind, die epi­ kureische Lehre zu rekonstruieren, war eine der Absichten dieser Vorstellung die Abschaffung der Furcht vor den Göttern aus dem menschlichen Leben.4 Die Men­ schen sind nach Epikur mit ihrer Vernunft ausreichend ausgestattet, um allein das eigentliche Ziel des menschlichen Lebens – die Glückseligkeit – zu erlangen. Deshalb soll der Mensch selbst über seine Taten entscheiden und sorgfältig die Handlungen meiden, die er nur den Göttern zuliebe oder aus Furcht vor ihrem Zorn vollziehe. Nur

2 „Die ekstatische Einheit der Zeitlichkeit, das heißt die Einheit des ‘Außer­sich’ in den Entrückungen von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart, ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß ein Seiendes sein kann, das als sein ‘Da’ existiert […]. Und gründet vollends das Sein des Daseins in der Zeitlich­ keit, dann muß diese das In­der­Welt­sein und somit die Transzendenz des Daseins ermöglichen […]“ (Heidegger 1977, S. 463, 480). 3 Unsere Kenntnisse von den Intermundien sind bescheiden, die wichtigsten Kommentatoren sind Diogenes Laertios (X.89), Cicero (De divinatione II.17,40: inter duos mundos), Lucretius (De rerum natura III.16–23, V.146 f.) und Seneca (De beneficiis IV.19.2: in medio intervallo huius et alterius caeli). Siehe dazu Zeller 1923, S. 423 f., 448 f. 4 Seneca (De beneficiis IV.19,1) preist Epikur mit folgenden Worten (in Übersetzung John W. Basores): ‚you [Epikur] have thrust him [= Gott] beyond the range of fear‘ (proiectisti illum extra metum) usw.

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so kommt der Mensch zur vollen Entfaltung seiner Möglichkeiten und Kräfte, wie der römische Nachfolger Epikurs, der Dichter Titus Lucretius Carus, mit Stolz behauptet:5 [...] quare religio pedibus subiecta vicissim opteritur, nos exaequat victoria caelo. (Und so lieget die Religion nun wieder zur Erde, unter die Füße getreten; der Sieg erhebt uns zum Himmel.)

Die Götter, die in keiner Welt wohnen, sondern nur in den leeren, kluftigen ‚Zwischen­ welten‘, sind nicht mehr zu fürchten. Ihre Position als Machthaber und Lenker der Welt übernimmt der selbstbewusste, rationale Mensch. Es muss nicht erwähnt werden, dass dieser Siegesstolz ein wenig vorzeitig war und dass es in der ganzen Ideengeschichte der Menschheit kaum ein anderes Projekt gibt, das schlimmer fehlgeschlagen ist als die Idee, dass mit der Abschaffung der Götter in die geheimnisvollen Zwischenwelten auch die menschliche Furcht vor ihnen abgeschafft werde. Denn es waren gerade die schattenhaften Gegenden zwischen den fest umrissenen Welten, aus denen die Mythologie und Religion ihre Kraft schöpften und aus denen sie immer wieder mit neuer Wucht hervorbrachen.6 Was sich dagegen als eine fruchtbare Idee erwiesen hat (und bis heute erweist), war der Gedanke, dass erst die Möglichkeit des Außer­der­Welt­Seins die Freiheit von den Notwendigkeiten der Welt erlaubt: „[…] durch [Intermundien] ist stets eine Dimension von Transzendenz in [der Welt] selbst […] präsent. Der Hinweis auf die ‘Götter in den Intermundien’ ist der Hinweis auf die Freiheit von der Notwendigkeit, die selbst in der positiven Welt herrscht und der sich die instrumentelle Vernunft zur Ausnutzung ihrer Gesetzmäßigkeiten bemächtigen kann […]. In den Intermundien, so glaubten die Alten, herrschen die ‘Götter’. [Es geht aber nicht nur] um diese Gottes­ vorstellung selbst, sondern um die Transzendenz, um die zu rettende Freiheit von der total gewordenen Positivierung der instrumentellen Vernunft.“7 Das ist einerseits sicher richtig. Die Transzendenz bedeutet aber zugleich eine Reise ins rational Unfassbare, Unbekannte und Schauerliche. Transzendenz – das Vermögen, die umgebende Welt mit ihren festen Umrissen und wohl verwöhnenden Selbstverständlichkeiten zu verlassen – bringt Fürchte, zu deren Besiegung die men­ schliche Kraft allein nicht genügt. Das beste Beispiel ist sicher der menschliche Tod. Obwohl wir imstande sind, ihn rational zu beschreiben und zu ‚verstehen‘, und obwohl er uns in einem gewissen Sinne ‚befreit‘, erleben sogar wir, die modernen Europäer, bei der Begegnung mit ihm ein ernstes, erhabenes und zugleich geheimnisvolles

5 De rerum natura I.78 f. (Übersetzung Karl Ludwig von Knebel). 6 Es scheint, dass Epikur das schöpferische Potenzial seiner Zwischenwelten erkannt hat, seiner Meinung nach sollen aus ihnen die ‚Samen‘ (σπερμάτα) der neuen Welten kommen (Diogenes Laer­ tios X.89). 7 Greven 1994, S. 261.

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sowie ‚religiöses‘ Gefühl. Die Zwischenweltlichkeit ist der Modus der Existenz, in dem sich Furcht mit Freiheit und Menschliches mit dem Übermenschlichen treffen.

1 Grenze in Mythologie und Ritual Die philosophischen Fragen, die mit der Idee des Überschreitens der Grenzen der Welt zusammenhängen, sind überhaupt nicht so blass und abstrakt, wie sie auf den ersten Blick wirken mögen. Wenn ich zum Altnordischen, meinem eigenen Fachgebiet, übergehe, muss ich konstatieren, dass gerade die Grenzen, an denen sich verschie­ dene Welten in der menschlichen Vorstellungen kreuzten, oft als Stellen der Gefahr empfunden wurden. Und im Einklang damit wurden sie nicht selten als Orte verstan­ den, die für den Umgang mit dem Gefahrvollen oder Unmenschlichen besonders geeignet sind. Eine ganze Reihe von Beispielen liefern z. B. Orte, wo die Welten des Wassers und der trockenen Erde aufeinandertreffen bzw. wo sie sich mischen. Wir können die altnordische fjara erwähnen, also den Küstenstreifen, der mit Ebbe und Flut wechselweise dem Meer und dem Lande angehört. Nach den altnordischen Gesetzen diente diese Küste den Hinrichtungen und Begräbnissen von Übeltätern.8 In den isländischen Familiensagas wird sie als Stelle erwähnt, wo die Leichen der Wiedergänger, die nicht ruhig im Grab liegen und den Menschen schaden, endgültig vernichtet werden.9 Endlich wurde fjara, wo ‚kein Mensch und kein Haustier gehen‘ (þar er hvárki gengr yfir menn né fénaðr), auch als Begräbnisplatz von Missgeburten benutzt, wie uns das Gesetzbuch des Things im norwegischen Borg (Borgarþingslǫg) mit einer seltsamen Schlussbemerkung informiert: Þat er forvé hins illa (‚Das ist dem Bösen geweihte Stelle‘).10 Nicht weniger geachtet wurde der Bereich zwischen dem Wasser und der trock­ enen Erde in der Mythologie und Religion der Germanen. Die Sümpfe sind schon seit der nordischen Bronzezeit als eine beliebte Opferstätte bezeugt, zugleich aber leben sie in der menschlichen Vorstellungswelt als Geburts­ und Wohnstätten verschiedener

8 Siehe z. B. Frostaþingslǫg XIV § 12 (NGL I.253). 9 Siehe z. B. Eyrbyggja saga LXIII und auch Laxdœla saga XXIV, wo nicht direkt gesagt wird, dass die Leiche von Hrappr an der Küste verbrannt wurde, aber die Bemerkung, dass seine Asche ins Meer geworfen wurde, macht diese Annahme wahrscheinlich. 10 Borgarþingslǫg III § 1 (NGL I.363). Siehe auch Borgarþingslǫg I § 1 (NGL I.339), wo aber statt fjara forvé steht. Die Interpretation des Satzes ist nicht leicht, siehe dazu die Literatur bei Klaus von See (1964, S.  130 ff.). Von See will dem ganzen Satz jede religiöse Bedeutung absprechen, aber seine Argumente sind kaum überzeugend. Denn auch wenn man statt forvé (‚entweihte Stätte‘) die Kon­ jektur forvæð (‚der bei Ebbe trockenliegende Teil des Ufers‘) annehmen will, bleibt das Problem, was man mit hins illa anfangen soll. Der so gewonnene ‚trockenliegende Uferteil des Bösen‘ klingt weder sinnvoll noch besonders irreligiös. Für weitere Belege siehe Falk 1913, S.  7 f. und Starý  / Kozák 2010, S. 50.

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mythisch­legendärer Ungeheuer. Man denke nur an Grendel, das Ungeheuer des angelsächsischen Beowulfs, oder an den Wolf Fenrir, das Weltuntergangsmonster der nordischen Mythologie.11 Agneta Ney, die sich als eine der wenigen dem Thema der Grenzen in der nordischen Mythologie gewidmet hat, spricht sogar von dem „dritten Geschlecht“ der mythischen Wesen, für die der Ursprung in den Grenzgegenden der Welten typisch ist (Küsten, Sümpfe, Wälder) und dessen Mitglieder auch andere Eigenschaften gemeinsam haben: Bestialität, Fehlen eines Elternteils (single parent family), Unberechenbarkeit und Absenz der Kommunikationsmittel.12 Fasst man ins Auge, welche Bedeutung die poststrukturalistische Philosophie dem Phänomen der Grenze und seiner Rolle bei der Konstitution eines Denksys­ tems zugemessen hat, wirkt es geradezu befremdend, wie wenig Aufmerksamkeit die Forscher, die sich dem archaischen Weltbild widmen, den Grenzgebieten in der Mythologie geschenkt haben. Soweit ich sehe, kann man auf dem altnordischen Gebiet kaum mehr als zwei inspirierende, aber kurze Notizen der oben genannten Agneta Ney erwähnen und dazu eine Studie von Gro Steinsland über die sogenannte utmark.13 Die Wichtigkeit des Themas haben dagegen die Ritualisten erkannt, die auf die Verbindung zwischen den Grenzgebieten der mythischen Welten und den soge­ nannten ‚Übergangsriten‘ früh hingewiesen haben. Der Terminus ‚Übergangsriten‘ (rites de passage) wurde von dem französischen Ethnologen Arnold van Gennep eingeführt. Seiner Meinung nach kann jeder Übergang von einem Lebensstadium in ein anderes bzw. ein Wechsel des gesellschaftlichen Status in drei Phasen aufgeteilt werden. Die erste ist die sogenannte Ablösungsphase bzw. Trennungsphase, in der das Individuum seinen bisherigen Status verlässt, die zweite ist die Zwischen­ bzw. Liminalphase, in der das Individuum ohne Status ist, die dritte dann die Integrationsphase, in der der neue Status und damit oft auch eine neue Identität angenommen werden. Der ganze Prozess kann – so Arnold van Gennep – von verschiedenen Ritualen begleitet werden.14 Uns interessiert aber eher der Fall, wo der Übergang Thema

11 Grendel ist direkt mit Sümpfen verbunden (die Belege bei Ney 2006a, S. 728; Ney 2006b, S. 64), Fenrir kann zumindest durch die Etymologie seines Namens von fen (‚Sumpf‘) und -rir (ein Suffix Agentis) abgeleitet werden. Das Wort bezeichnet also einen ‚Sumpfer‘ oder noch besser ‚Versumpfer‘. Siehe dazu de Vries 1977, s. v. „Fenrir“ und die dort angeführte Literatur. 12 Es handelt sich um eine allgemeine Charakterisierung, nicht alle diese Eigenschaften sind typisch für alle Repräsentanten des dritten Geschlechts. Siehe dazu Ney 2006a, S. 730 f. und Ney 2006b, S. 64. 13 Steinsland 2005, S. 137–146. Ich selber versuchte das Problem kurz in dem oben genannten Artikel zu skizzieren, der aber nur auf Tschechisch existiert. 14 Diese entsprechen dann den oben geschilderten Phasen. Die Trennungsphase begleiten die Tren­ nungsriten, die die Ablösung des bisherigen Status erleichtern, die Zwischenphase die Schwellen­ oder Umwandlungsriten und die Integrationsphase die Angliederungsriten, die bei der Akzeptanz der Position des Initianten in der neuen Status­ bzw. Altersgruppe helfen, nicht nur von Seiten der Gruppe, sondern auch des Initiierten selbst (siehe van Gennep 2005). Für die weitere Entwicklung der Thesen van Genneps siehe die Arbeiten Victor Turners (besonders Turner 2005). Victor Turner hat sich

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eines literarischen Werkes wird, wo also der Wechsel nicht in physischer Handlung durchgeführt, sondern durch literarischen Symbolismus ausgedrückt wird.15 Dieser Symbolismus wurde im Jahre 2008 Thema eines wichtigen Buches von Jens Peter Schjødt, das ganz klar aufzeigt, dass die Initiation im nordischen Raum sehr häufig als eine Reise in eine andere mythologische Welt symbolisiert wird.16 „Die andere Welt […] ist eine Bedingung des Rituals […]. Was die Initiation betrifft, ist die Funk­ tion des Rituals die Verwandlung des Subjekts durch eine Kommunikation mit einer anderen Welt. Die Funktion des Mythos ist, diese Verwandlung zu ermöglichen und zu bestimmen.“17 Und es ist kaum überraschend, dass dies auch für den wichtigsten Übergang des menschlichen Lebens und zugleich die äußerste Grenze der menschli­ chen Welt gilt – den Tod.

2 Sonnenlied und Traumlied Und hiermit komme ich endlich zu unserem Thema, denn die zwei Gedichte, von denen ich sprechen werde – Sonnenlied und Traumlied – , sind Beschreibungen des menschlichen Todes und zugleich Berichte über eine Reise ins Jenseits. Die Gedichte berichten ausführlich, was direkt vor und nach dem Tode geschieht, sie schildern die letzten Lebensphasen, das Altwerden, den Augenblick des Todes und das Liegen auf der Bahre, worauf eine ausführliche Beschreibung der Jenseitsreise erfolgt. Dabei müssen die Protagonisten der Gedichte verschiedene Grenzen zwischen dieser Welt auch mit den altnordischen Literaturwerken beschäftigt (Turner 1971, S.  349–374 und Turner 1985, S. 95–118), eine volle Bewertung seiner Thesen auf diesem Feld steht aber noch aus. 15 Beiseite lasse ich die alte These Otto Höflers, nach dem die literarischen Beschreibungen solcher Verwandlungen eigentlich Beschreibungen der alten und von den Verfassern missverstandenen Riten seien (Höfler 1974). Die These ist ohnehin kaum zu halten, denn es scheint inakzeptabel, die Inter­ pretation eines Texts mit der Voraussetzung zu beginnen, dass der angebliche Verfasser das, was er schildern wollte, nicht verstanden hat. Wir haben es hier eher mit sogenannten Initiationstexten zu tun, was aber wieder ein Begriff ist, der grundsätzlicher Klärung bedarf. Muss ein solcher Text in irgendwelcher Verbindung mit dem Ritus selbst stehen, damit er als Initiationstext bezeichnet werden kann? Oder wird ein Text einfach dadurch zum Initiationstext, dass er den Übergang (oder den begleitenden Ritus?) beschreibt? Genügt dazu die ‚initiatorische Struktur‘ des Textes? Ich weiß leider auch hier nur von einem einzigen umfangreicheren Text, der sich mit diesen Fragen beschäftigt (Hodrová 2014). 16 Ich benutze das Wort ‚Symbol‘ im Sinne von Ferdinand de Saussure, also nicht als ein arbiträres Zeichen, das frei gewählt und bei der Deutung durch ‚die Sache selbst‘ ersetzt werden kann, sondern als selbstständig existierendes Phänomen, das zum Hinweis auf die Sache benutzt wird und das also ihre Bedeutung erheblich bereichert. Die symbolische Deutung der Jenseitsreise bedeutet also nicht, dass die alten Skandinavier nicht an eine reale Reise in eine andere Welt nach dem Tode glaubten, sondern dass diese Reise für sie auch geistigen, symbolischen Gehalt hatte. In Hinsicht auf unsere Gedichte siehe dazu Fidjestøl 1979, S. 46. 17 Schjødt 2008, S. 69 f.

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und dem Jenseits überqueren und sie begegnen allerlei jenseitigen Wesen. Endlich erreichen sie die Totenwelt, wo sie eine Fülle von symbolischen Belohnungen der Rechtschaffenen und Strafen der Sünder besichtigen. Beide Gedichte gipfeln in einer Mahnung an die Zuhörer, die christlichen Werte einzuhalten und die Sünde zu meiden. Obwohl die beiden Gedichte große Ähnlichkeiten in Struktur und Handlung auf­ weisen, ist ihre Überlieferungsgeschichte grundverschieden. Das Sonnenlied ist eines der bestüberlieferten altnordischen Gedichte überhaupt. Es wird in 71 Handschriften übermittelt, zwei von ihnen enthalten das Gedicht noch dazu zweimal, es ist also insgesamt 73 Mal überliefert. Die reiche handschriftliche Überlieferung bezeugt ein­ erseits eine enorme Beliebtheit des Gedichts, andrerseits auch den ungewöhnlichen Konservativismus ihrer Transmission: Änderungen der Strophenreihe, Verlust einiger Strophen oder die Hinzudichtung von neuen – diese typischen Begleitphänomene der mündlichen Tradierung, denen wir z. B. im Fall von eddischen Gedichten bege­ gnen – suchen wir hier vergebens. Es scheint also, dass das Gedicht nie mündlich überliefert wurde, sondern von seinem Autor direkt aufs Pergament gesetzt worden ist.18 Deshalb gab es nur eine geringe Diskussion über die Datierung und die meisten Forscher haben sich relativ unproblematisch auf das dreizehnte Jahrhundert als wahrscheinlichste Verfassungszeit des Gedichtes geeinigt. Ganz anders steht es mit dem Traumlied, das nicht auf Island, sondern in Norwe­ gen entstanden ist und deshalb keinen Anteil an der hochentwickelten isländischen Schreibkultur hatte. Im Kontrast zum Handschriftenreichtum des Sonnenliedes ist das Traumlied in keiner einzigen Handschrift überliefert, und seine Existenz verdankt es ausschließlich mündlicher Überlieferung.19 Die ersten, die das Gedicht aus dem Mund des Volkes niedergeschrieben haben, waren der norwegische Priester Magnus Brostrup Landstad und Bischof Jørgen Engebretsen Moe, die verschiedene Varianten des Gedichts in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts im norwegischen Telemark, Sætesdal, Vest Agder und Rogaland entdeckt haben. Auch später wurden mehrere Varianten von anderen Volkskundlern niedergeschrieben und so haben wir heute mehr als 59 Versionen und viele andere Fragmente des Gedichts. Und – wieder im Kontrast zum Sonnenlied – teilen alle diese Varianten die wohlbekannten Unsit­ ten der langen mündlichen Überlieferung. Wir finden nicht zwei identische Nieder­ schriften, und einige Varianten sind so unterschiedlich, dass nicht ganz klar ist, ob wir es noch mit einer Variante des Traumlieds zu tun haben oder schon mit einem anderen Gedicht. Fast alle Niederschriften sind noch dazu sehr kurz – die längste

18 Jón Helgason 1953, S. 99 f. Eine seltsame Ausnahme bildet die letzte Strophe, die sich nur in 32, also in der Hälfte der Handschriften findet. 19 Obwohl nach der Mitteilung von Landstad Handschriften des Traumlieds existiert hatten (Liestøl 1946, S. 19), die nach der Schätzung Dinzelbachers bereits aus dem 15. oder 16. Jahrhundert stammen sollten (Dinzelbacher 1980, S. 93).

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hat zwar 74 Strophen, die meisten aber nur um die zehn Strophen.20 Jeder, der sich mit dem Traumlied beschäftigen möchte, muss also die Wahl treffen, welchen Text er benutzen soll. Die meisten Forscher wählen die Rekonstruktion, die wir dem nor­ wegischen Volkskundler Moltke Moe verdanken, die aber nur einen kleinen Teil der gesammelten Überlieferung benutzt (52 Strophen). Den Gegenpol bildet die Rekon­ struktion von Ivar Mortensson­Egnund aus dem Jahr 1927. Egnunds Versuch, einen möglichst großen Teil der Überlieferung in seinen Text einzuarbeiten, führte zur Edition von 119 Strophen, wobei aber Teile anderer Gedichte als Verbindungsglieder benutzt wurden und im Fall einer Strophe sogar Egnunds eigene Zudichtung.21 Ein anderes Problem stellt die Datierung des Traumlieds dar. Abgesehen davon, dass ein mündlich überlieferter Text strictu senso kein ‚Entstehungsdatum‘ haben kann, sind die einzelnen Varianten an Gestalt und Wortwahl so verschie­ den, dass jeder Versuch einer genaueren Datierung der Urgestalt zu einem sehr hypothetischen Unternehmen wird. Deshalb wurde das Traumlied einigen sehr mutigen Datierungsversuchen unterworfen: Als Beispiel darf ich nur die These Brynjulf Alvers erwähnen, der das Traumlied für ein gelehrtes Barockkompendium aus dem achtzehnten Jahrhundert hielt. Seine Datierung wurde von den meisten Forschern zurückgewiesen,22 und die communis opinio blieb bei der Annahme des dreizehnten oder vierzehnten Jahrhunderts als der wahrscheinlichsten Entste­ hungszeit des Gedichtes  – also ungefähr die gleiche Zeit, die für das Sonnenlied angenommen wird.23 Eine solche Datierung ergibt schon deswegen Sinn, weil die beiden Gedichte in Gestalt und Inhalt sehr ähnlich sind, bleibt aber selbstver­ ständlich auch hypothetisch. Sonnenlied und Traumlied sind dunkle Gedichte, und die Tatsache, dass sie ‚die Nachtseite des Lebens‘ – Traum, fantastische Visionsbilder und Tod – beschreiben, ist daran nur teilweise schuld. Sie enthalten viele undurchsichtige, unverständliche und fast surrealistisch anmutende Bilder, bei deren symbolischer Deutung die Forscher bis heute entzweit oder ganz ratlos bleiben. Schon deshalb sollen die folgenden Aus­ führungen nicht als ein Versuch einer Neudeutung und als konsequente Interpreta­ tion der beiden Gedichte verstanden werden. Es handelt sich eigentlich nur um ein paar Punkte, die meiner Meinung nach für das Thema dieses Bandes von Bedeutung sind: das Zwischen­den­Welten­Sein.

20 Siehe Liestøl 1946, S. 26 ff. 21 Im Weiteren zitiere ich nach der Ausgabe Egnunds (Egnund [Hg.] 1927) – nicht aus Bewunderung für seine philologische Methode (die schwere Mängel aufweist), sondern aus rein praktischen Grün­ den: Sie bietet als einzige Edition eine einheitliche Nummerierung fast aller von mir zitierten Stro­ phen. 22 Dag Strömbäck hat sie als „en utmanande idé“ bezeichnet (1976, S. 28). 23 Siehe z. B. Moe 1927, S. 307; Liestøl 1946, S. 128 ff.; Dinzelbacher 1980, S. 93. Vgl. Bø / Myhren 2002, S. 68.

Zwischen Diesseits und Jenseits 

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3 Der Ausgangspunkt: altnordische Welten und die außerweltliche Position Für Traumlied und Sonnenlied waren zwei Traditionen von Bedeutung: die heidnisch­nordgermanische Mythologie und die mittelalterliche Visionsliteratur, besonders die des englisch­norddeutschen Kreises.24 Die entsprechenden christli­ chen Ideen sind relativ gut bekannt, die altnordischen möchte ich hier aber kurz beschreiben. Die Vorstellung, dass es mehrere Welten gibt, war schon den vorchristlichen Skandinaviern eigen. Aus der altnordischen Überlieferung kennen wir útgarðr, ‚die äußere Welt‘, die von Riesen und anderen Chaoswesen bewohnt und deshalb auch als jǫtunheimar, ‚die Welten der Riesen‘, bezeichnet wird. Im Gegensatz dazu steht miðgarðr, ‚die Mittelwelt‘ (bzw. manheimar, ‚Menschenwelten‘), als das von Göttern geordnete und von Menschen bewohnte Gebiet. Die Götter selbst leben in einem davon abgesonderten Zentralgebiet, das gewöhnlich den Namen Ásgarðr, ‚die Welt der Asen (= Götter)‘, oder goðheimr, ‚die Welt der Götter‘, trägt. Das Hauptbild des alt­ nordischen mythischen Weltbildes besteht also aus einer Triade der Welten, die durch sechs paarweise Begriffe mit ihrer Position im All und den typischen Bewohnern charakterisiert werden.25 Bewohner

Position

jǫtunheimar (Chaoswesen)

=

útgarðr (draußen, am Rande)

manheimar (Menschen)

=

miðgarðr (in der Mitte)

goðheimr (Götter)

=

Ásgarðr (in der den Asen [= Göttern] gehörenden Mitte von miðgarðr)

In unserem Kontext verdienen aber noch zwei weitere Welten Erwähnung, die nicht der altnordischen Kosmologie, sondern der Eschatologie angehören: Valhǫll, das kriegerische Paradies, wo die tüchtigen Männer in der Gesellschaft der Götter und Helden bis zum Fall der Welt, ragnarǫk, leben sollen, und hel, die düstere Unterwelt mit ihrer gleichnamigen Herrscherin.

24 Vor allem Visio Alberici, Visio Tnugdali, Visio Gunthelmi, Visio Oeni militis, Visio Godescalci und Visio Thurkilli (Strömbäck 1976, S. 24). Ob der Einfluss direkt war (also durch die Kenntnis der Texte vermittelt), bleibt aber unklar (Strömbäck 1946, S. 48 und Steinsland 2000, S. 463). 25 Für einen kurzen Überblick siehe Vikstrand 2006, S. 354–357. Es ist nicht notwendig zu sagen, dass das Bild eigentlich viel komplizierter war (in Quellen erscheinen auch andere Bezeichnungen wie Álfheimr, Uppheimr, Vanaheimr, Múspellsheimr, Niflheimr, Svartálfaheimr usw.) und im Laufe der Zeit Modifizierungen unterlag. Dass aber dahinter keine komplexe Idee des Weltbaus lag, wie Hans Kuhn vermutet (Kuhn 1978, S. 302), halte ich eher für unwahrscheinlich.

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Die Welten der altnordischen Kosmologie waren nicht geschlossene Einheiten. In der Älteren Edda, einer Sammlung der altnordischen Götter­ und Heldenlieder, in der Jüngeren Edda des isländischen Gelehrten Snorri Sturluson (1179–1241), einer prosaischen Nacherzählung der altnordischen Mythen und Heldengeschichten, ebenso wie in den Preisliedern der Skalden (altnordische Hofdichter) wird relativ viel von dem Reisen zwischen diesen Welten gesprochen. Die Götter und Riesen treffen sich wechselseitig in Götter­ oder Riesenwelten mit friedlichen oder (öfter) feindli­ chen Absichten, die Götter besuchen die Welt der Menschen, die toten Menschen kommen nach Valhǫll, die Götter und toten Menschen fahren nach Hel, die Unter­ welt. Die Häufigkeit des zwischenweltlichen Verkehrs deutet schon die Mehrheit der mythologischen Namen mit dem Element -grind, ‚Tor‘, an. Da die altnordischen Welten mit Wällen (garðr) abgesondert vorgestellt wurden (wie die Namen Ásgarðr, miðgarðr und útgarðr bezeugen), waren die Tore von grundsätzlicher Bedeutung für die Idee der Bewegung zwischen den Welten, und wir kennen nicht wenige solcher ‚Durchgänge‘: die nágrindr, ‚Totentore‘,26 bzw. helgrind, ‚Unterweltstor‘27 zwischen der Welt der Lebendigen und der Toten, weiter aber auch ásgrind, ‚Göttertor‘, das die Götterwohnstätten mit dem Rest der Welt verbindet,28 und valgrind, ‚Tor der Gefal­ lenen‘, bzw. forn grind, ‚Altes Tor‘, durch das der Weg der gefallenen Menschen nach Valhǫll führt.29 Obwohl die Bewegung von einer Welt in eine andere als relativ häufige Erscheinung angesehen wurde, galten die Augenblicke des Zwischen­den­Welten­ Seins als nicht glücklich. Das schlagendste Beispiel dafür bringt das sogenannte Hervǫrlied (Hervararkviða), ein Heldenlied, das den gefährlichen Weg der jungen Heldin Hervǫr in den Grabhügel beschreibt, wo sie das Schwert ihres Vaters zu finden glaubt.30 Nachdem Hervǫr die Flammen, die den Grabhügel umringen, durchschritten hat, öffnet sich vor ihr helgrind, das ‚Unterweltstor‘, und aus der Position am Rande der Welten kann sie, eine Lebendige, mit den Toten verkehren. Nach einem längeren Gespräch mit ihrem Vater, erlangt die Heldin endlich die gewünschte Waffe, eilt aber gleich schnell aus dem Hügel, ihren Verwandten zurufend:31

26 Skírnismál 35, Lokasenna 63, Fjǫlsvinnsmál 26. 27 Hervararkviða 14. 28 Snorri Sturluson: Skáldskaparmál III. 29 Grímnismál 22. Man dürfte weiter noch auf verschiedene Brückenvorstellungen der altnordischen Mythologie hinweisen (ásbrú, bifrǫst, Gjallabrú), die mit der Idee zusammenhängen, dass verschie­ dene Welten durch Flüsse bzw. Meere voneinander getrennt sind. 30 Das Hervǫrlied wird von einigen Forschern erst auf das 12. Jahrhundert datiert, und es kann wohl sein, dass es eher nachheidnische Reflexionen der heidnischen Vorstellungen enthält. Da uns jetzt aber die Vorstellungen interessieren, die die im 13.  Jahrhundert entstandenen Gedichte Traumlied und Sonnenlied beeinflussen konnten, ist diese Tatsache für uns nicht so wichtig. 31 Hervararkviða 29 (Übersetzung von Felix Genzmer). Die Autoren der Übersetzungen werden an den entsprechenden Stellen verzeichnet; in ihren Übersetzungen nehme ich gelegentlich notwendige Änderungen vor. Bei den deutschen Zitaten des Sonnenliedes benutze ich Baumgartners und Sim­

Zwischen Diesseits und Jenseits 

Búið ér allir – brott fýsir mik – heilir í haugi – heðan vil ek skjótla; helzt þóttumk nú heima í milli, er mik umhverfis eldar brunnu.

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(Ruhet alle – es reißt mich fort – heil im Hügel – von hinnen eil ich; zu weilen wähnt ich am Weltenrand, als mich umflammte des Feuers Glut.)

Die Überzeugung, dass der Mensch, der sich „am Weltenrand“ (genauer: ‚zwischen den Welten‘ – heima í millim) befindet, eigentlich in keine gehört und deshalb bisher unbekannten Gefahren und Schrecken ausgesetzt wird, kann man auch im Traumlied und Sonnenlied leicht spüren.32 Beide Gedichte zeichnen sich durch eine düstere, schauerliche Stimmung aus, die nur gelegentlich von vereinzelten Lichtstrahlen durchgedrungen wird:33 Á norna stóli sat ek níu daga, þaðan var ek á hest hafinn; gýgjar sól[ir][er] sk[inu] grimmliga ór skýdrúpnis skýjum.

(Auf der Nornen Stuhl saß ich neun Tage, ward dann auf den Hengst gehoben. Schauerlich schienen die Sonnen der Riesen aus Nacht und Nebel nieder.)

Und vor diesem nächtlichen Hintergrund erscheinen allmählich die einzelnen Bilder, die den eigentlichen Inhalt der beiden Visionen gestalten.

4 Homo viator Die beiden Gedichte beschreiben einen Traum, in beiden wird die Reise eines Toten in die andere Welt geschildert. Im Traumlied wird die Reise durch einen Lebendi­ gen berichtet, nämlich den ansonsten unbekannten Olav Aasteson,34 der in seinem Traum den Tod und die Reise ins Jenseits erlebt hat. Im Sonnenlied wird beides dem Sohn – wieder im Traum – von seinem verstorbenen Vater geschildert. Das rocks Übersetzung. Gelegentlich erlaubte ich mir auch dort kleine Änderungen. Die Übersetzungen des Traumlieds stammen grundsätzlich von mir, gelegentlich benutze ich Wendungen aus der Über­ setzung von Ingeborg Møller und Erich Trummler. 32 Die altnordische Kultur war in dieser Ansicht keine Ausnahme. Siehe z. B die Stelle in Homers Ilias, wo der tote Patroklos dem Achill im Traum erscheint und klagt, dass er nicht die Totenwelt be­ treten könne und weder in der Welt der Lebendigen noch in der Welt der Toten sei, weil seine Leiche nicht begraben wurde (Homer: Ilias XXIII.70–74). 33 Sonnenlied 52. Die Strophe beschreibt die visionäre Inspiration, nach der die eigentliche Vision des Himmels und der Hölle beginnt. Der ‚Stuhl der Nornen‘ ist der bei dem Stamm der Weltesche Yggdrasill gelegene Sitz der Schicksalsgöttinnen Urðr, Verðandi und Skuld, der schon in heidnischen Zeiten als Stelle der visionären Kräfte angesehen wurde (siehe z. B. Hávamál 111). Die Sonnen der Riesen (eigentlich der Hexen) sind die nächtlichen Sterne. 34 Der Name variiert in verschiedenen Niederschriften. Einige Forscher identifizierten Olav mit dem heiligen Óláfr Haraldsson von Norwegen. Eine allgemeine Anerkennung hat diese These aber nicht gefunden (siehe dazu Liestøl 1946, S. 24 f.).

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alles ist im Einklang mit der christlichen Visionsliteratur, besonders der des oben erwähnten englisch­norddeutschen Kreises, die als Vorbild für Sonnenlied und Traumlied dienen musste. Was dagegen auf den ersten Blick überraschen kann, ist die Tatsache, dass beide Gedichte nicht nur das In­einer­anderen­Welt­Sein beschreiben, sondern mehr Platz der Reise in die andere Welt widmen. Das Hauptgewicht liegt hier nicht auf der Beschreibung der Existenz in der anderen Welt, sondern auf der Fahrt in die andere Welt, auf der Bewegung zwischen Diesem und Anderem: „Es ist bedeutungsvoll, daß in einem Gedicht [sc. Sonnenlied], dessen zentrales Thema die Spannung zwischen Diesseits und Jenseits ist, der Übergang vom Leben zum Tode den zentralen Platz ein­ nimmt.“35 Es ist gerade die Reisebeschreibung samt all der dazugehörigen Strapazen, die den Hauptinhalt der beiden Gedichte bildet. Obwohl beide Protagonisten – eher in der Manier des nordischen Aristokraten als eines christlichen Pilgers – zu Pferd ins Jenseits aufbrechen (Olav Aasteson sogar mit seinem Jagdhund!), sind die Gedichte reich an greifbaren physischen Folgen des langen Weges: verwundete Füße, gerissene Nägel, tödliche Erschöpfung:36

Fyrst ek var i ut­exti eg for yvir tynner­mo. Sund’e gjekk mi skarlaks­kåpe og neglann av kvå min fot. Min frende og din ven! Månen skin’e og vegjine falle so vide.

Ein erstes Mal bin ich ausgefahren, fuhr über dornigen Sumpf; zerrissen ward mein Scharlachmantel, und die Nägel auf meinem Fuß. Mein Freund und dein Genosse! Der Mond scheint und die Wege dehnen sich so weit.

[…]

[…]

Det var meg den andre utreisa, eg for yvir dyre­trå. Sund’e gjekk mi skarlaks­kåpe og hui av kvor mi tå. Den som skal mitt fotspor fylle må trøa så hardt i mot.

Ein zweites Mal bin ich ausgefahren, fuhr durch des Tores Ring; zerrissen ward mein Scharlachmantel, und Haut von meinen Füßen hing. Wer in meiner Fußspur geht wird Hartem begegnen.

35 Fidjestøl 1979, S. 19. 36 Draumkvæði 21, 56, 12. Die letzte Strophe wird nach Moe 1927 zitiert (und nummeriert). Die Zusammensetzung dyre-trå sieht in verschiedenen Varianten des Traumlieds ganz anders aus und ihre Bedeutung ist unklar. Ich halte mich in meiner Übersetzung an die von Landstad benutzte Form dynne-ring, die (nach den Angaben seiner Informanten) den Ring an der äußeren Seite der Tür bezeichnen sollte (siehe Barnes [Hg.] 1974, S. 205–206).

Zwischen Diesseits und Jenseits 

[…]

[…]

Eg æ so trøytt å færemo, å inna so munne eg brenne; eg høyrer vatn, å fær de inkji, undi jori so mune de renne. For månen skin’e, å vegjine fadde so vie.

Wegmüde und erschöpft bin ich und drinnen brenne ich, höre Wasser, doch sehe es nicht unter der Erde es fließt. Der Mond scheint und die Wege dehnen sich so weit.

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Trotz des Realismus der Beschreibung sind die verzeichneten Leiden kaum rein phy­ sisch zu verstehen, und z. B. das ‚Brennen‘ des Protagonisten ist eher ein ‚innerer Durst‘ (inna so munne eg brenne) als der beim irdischen Wandern gewöhnliche. Auch die Personen, die dem Protagonisten auf seinem Wege helfen, weisen eher auf eine geistige Wanderung hin. Jungfrau Maria gibt Olav Aasteson Rat, wohin er gehen soll, Gott rät ihm vom falschen Weg ab – es sind eigentlich die einzigen Stellen, wo Gott und Maria in beiden Gedichten zum Menschen sprechen.37 Der Weg in die Welt der Toten ist zugleich ein Gang auf dem geistigen Pfad. Die Vision des Traumlieds (und für Sólarljóð gilt genau dasselbe) wurde mit Recht als eine ‚innere Vision‘ bezeichnet. „Bewegung und Richtung haben in Draumkvedet eine eminente Bedeutung“, sagt Christian Carlsen, „und sie deuten wie physischen so auch geistigen Fortschritt auf der Erde und auch in dem Traum vom Jenseits an.“38 Wenn er aber auf das Kreuz­Symbol des altenglischen Dream of the Rod hinweist, „durch den der Träumende […] zu der neuen Perspektive kommt“,39 kann man dem im Traumlied ein viel alltäglicheres, aber zu der mühsamen Wanderung viel passenderes Symbol entgegenstellen: die Schuhe. In bizarrer, symbolischer Weise betonen ihre Bedeutung die Strophen 60–62, in denen der Protagonist eine von Drachen verfolgte Hirschkuh trifft, die ‚mit mir spre­ chen wollte‘ (som vilde med meg svale).40 Da der Hirsch in den Gedichten Christus symbolisiert, und dank der jagenden Drachen, können wir die Hirschkuh entweder als Maria oder als die mit der Sonne bekleidete Frau der Offenbarung Johannis iden­ tifizieren (Offb 12,1–12,5). Der Protagonist reagiert aber ganz überraschend: Er nimmt (man erfährt nicht, wie genau) der mit der Sonne bekleideten Frau (oder – was noch schlimmer wäre – Maria) ihre Haut und windet sie um seine Füße (So fekk ek fat i den

37 Draumkvæði 90, 55. 38 Carlsen 2002, S. 36, vgl. S. 11–14 und S. 24–32. 39 Carlsen 2002, S. 36. 40 Die Strophen gehören einer weniger bekannten Version des Traumliedes an, neben der Ausgabe Egnunds (Egnund [Hg.] 1927) sind sie auch bei Michael Barnes verzeichnet (Barnes [Hg.] 1974, S. 162).

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hinde-ham og sveipte den kringum min fot). Das fast blasphemisch wirkende Bild hat aber im Kontext der jenseitigen Wanderung einen durchaus ernsten Sinn: „Dies hat meine Schuhe geheilt“, bemerkt der Protagonist dazu (te lappe min sko). Gott und Heilige sind eigentlich nur Helfer bei der menschlichen Fahrt. In viel klarerer Weise spricht dasselbe Faktum die Strophe 85 des Traumliedes aus: Die Jungfrau Maria gibt dem Protagonisten neue Schuhe. Die Deutung der seltsamen Vorstellungen ist nicht schwer. Um Bjarne Fidjestøl zu zitieren: „Eines der Leitmotive [des Sonnenliedes] ist das Motiv der Reise und des Weges. Das Leben wird als eine Fahrt zwischen verschiedenen Welten verstanden.“41 Oder präziser: Der christliche Mensch ist kein beständiges Wesen, seine Existenz voll­ zieht sich in permanenter Wanderung. Gerade bei christlichen Visionsgedichten würden wir freilich erwarten, dass die Reise und ihre Umstände einen tieferen moralischen Sinn haben. Und tatsäch­ lich werden ab und zu die Mühen und die Länge des Weges mit vergangenem mor­ alischen Makel verknüpft, ihre Leichtigkeit bzw. Schnelligkeit mit moralischer Reinheit (Draumkvæði 101): Sæl er den i føes­heimen fatike gjev’e sko; han tarv ’kje berrføtt gange på kvasse hekle­mo. Tunga talar, og sanninng svarar fyr domen.

(Selig, wer in der Aufenthaltswelt dem Armen gab die Schuh’; er muss dann nicht barfuß gehen durch scharfen, dornigen Sumpf. Die Zunge spricht und Wahrheit sagt vor dem Gericht.)

Es gibt aber manche Strophen, denen kein moralischer Gedanke unterliegt und wo das Reisen eher die Bedeutung einer Initiation hat. Das Hirschfell wird als Mittel der Überquerung der Grenze von Leben und Tod begriffen, den moralischen Wert des Pro­ tagonisten erhöht es aber kaum. Und das gilt für viele andere Strophen der beiden Gedichte (Draumkvæði 48): Eg hev vassa Våsse­myrann, der hev inkje stai meg grunn; No hev eg fari Gjallar­brui med rapa mold i munn. Månen skin’e og vegjine falle so vide.

(Ich watete durch schwere Sümpfe, mein Fuß fand keinen Grund, ging über die Gjǫll­Brücke mit Grabeserde im Mund. Der Mond scheint und die Wege dehnen sich so weit.)

Die oben zitierte Strophe zeigt freilich, dass man sich mit guten Taten in dieser Welt den jenseitigen Weg erleichtern kann. Aber keinem – auch nicht dem besten – Men­ schen wird die Reise selbst und die Überquerung der Grenzen zwischen Welt und Jenseits erspart. Der Mensch wird sozusagen dazu verurteilt, nicht nur in dieser Welt

41 Fidjestøl 1979, S. 30.

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zu wohnen, sondern mit Grabeserde – Symbol seiner Sterblichkeit – im Munde die unheimlichen Gebiete zwischen den Welten zu durchwandern:42 Lútr ek sat, lengi ek hǫlluðumk, mjǫk var ek þá lystr at lifa; en sá réð er ríkr var – frammi eru feigs gǫtur.

(Krumm saß ich, knickten die Schultern, doch groß war die Lust zu leben; aber des Waltenden Willen entschied: nach vorn geht des Todgeweihten Weg.)

Und das ist auch der Sinn der beiden Gedichte: die Grausamkeit, zugleich aber die Notwendigkeit des Übergangs zwischen den Welten für die menschliche Exis­ tenz bildlich darzustellen. Der Tod ist ein untrennbarer Teil des menschlichen Lebens.

5 Wandern und Erkennen Das Hauptthema der Gedichte ist also nicht das Jenseits selbst, sondern die Reise ins Jenseits, das Reisen zwischen den Welten als ein initiatorischer Akt, dem der Übergang zwischen dem Leben und dem Tode entspricht. Und damit hängt zusam­ men, dass der Gang über die Grenze des Lebens und der Welt nicht nur Negatives bringt. Schon in den vorchristlichen altnordischen Werken finden wir die Idee, dass jede Übertretung einer Grenze trotz ihrer Gewagtheit auch etwas Positives liefert: Wissen.43 Nur wer die beiden Seiten der Grenze kennt, kann über sie etwas sagen. Ein schönes Beispiel finden wir in den Hávamál, ‚Sprüchen des Hohen‘, einem langen altnordischen Spruchgedicht, das dem höchsten Gott Óðinn in den Mund gelegt wird. Der Gott berichtet dort von der Männer­ und Frauenart und bemerkt dazu:44 Bert ek nú mæli, þvíat ek bæði veit: brigðr er karla hugr konum; þá vér fegrst mælom, er vér flást hyggjom: þat tælir horska hugi.

(Offen sprech ich nun, weil ich beides weiß: wankelmütig ist der Männer Sinn den Frauen; dann sprechen wir am schönsten, wenn wir am schlechtesten denken, das betört auch Klugen das Herz.)

42 Sólarljóð 36. Die abschließende Zeile frammi eru feigs gǫtur hat sprichwortartigen Charakter, und wir kennen einige ähnliche altnordische Sprichwörter, von denen sich aber unsere Stelle durch ihren Kontext klar distanziert. Die älteren Stellen sprechen von einem Kampf mit der umgebenden Welt und beruhen meistens noch auf dem heidnischen Schicksalsbegriff (Finnur Jónsson 1914, 104 [S. 82 f.]; Gering 1916, A ad 104a [S. 7], B 33 [S. 18]). Unsere Stelle weiß nichts von einem äußeren Kampf, sie spricht von der Begegnung mit der eigenen Sterblichkeit. 43 Die Vorstellung wird in diesem Band von Jens Peter Schjødt so vortrefflich dargestellt, dass ich auf eine breitere Behandlung ruhig verzichten kann und mich deshalb nur auf die zwei behandelten Gedichte konzentriere. 44 Hávamál 91 (Übersetzung von Arnulf Krause).

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Der Satz „ich weiß beides“, der auf Óðinns Geschlechtswechsel hinweist, funktioniert hier als Begründung und Legitimation der vorgetragenen Weisheit von den Liebes­ listen der Männer und Frauen. Für die viel ernstere Überquerung der Grenzen der Welt gilt aber genau dasselbe, und es ist kein Zufall, dass sowohl Sonnenlied als auch Traumlied diese Idee vor allem in Bezug auf die Grenze zwischen dem Leben und dem Tod applizieren. Die Reise ins Reich des Todes ist einerseits ein gefährliches und grausames Unternehmen, andrerseits ein mächtiges Mittel zur Wissenserlangung (Draumkvæði 13): Eg kann noko av kvorjom, difor tykkjest eg frod. Eg va longo i moldi moka, Hadd’ eg tott den dauden god. Den lange natt og den lange lei.

(Ich kenne etwas von Beidem, deshalb bin ich erfahren, den Tod kenne ich gut, war lang in Erde begraben. So lange Nacht und lange Fahrt.)

Nur der, der in seinem Innern den eigenen Tod erlebt hat und der sich der beiden Seiten des menschlichen Daseins bewusst ist, ist in eine Position geraten, von der aus er die ganze menschliche Existenz in ihrer Dichotomie von Leben und Sterben beobachten kann. Derselbe Gedanke taucht auch im Sonnenlied auf, wo der tote Vater sagt (Sólarljóð 33): Frá því er at segja, hvé sæll ek var ynðisheimi í; ok hinu ǫðru, hvé ýta synir verða nauðgir at nám.

(Erst will ich sagen wie wohlhabend ich war in dieser Welt der Freuden; und dann das andre: wie alle Menschen notwendig werden zu Leichen.)

Die Phrasen ‚es ist davon zu sagen‘ (frá því er at segja) und ‚auch von dem Anderen‘ (ok hinu ǫðru) beziehen sich wieder auf Lebensfreude und Todesnotwendigkeit als zwei Seiten des menschlichen Seins. Erst das Wissen von beidem erlaubt eine Aussage von dem Menschlichen, das beide Kategorien transzendiert. Die Position ‚zwischen den Welten‘ bedeutet zugleich auch ‚über den Welten‘. Durch seine Ster­ blichkeit und deren Bewusstsein überschreitet der Mensch seine natürliche Bes­ chränkung, seine eigene weltliche Natur: Er wird ein transzendentales Wesen. Ein solcher Mensch ist dann in gewissem Sinne der Lebendige und der Tote, gehört nicht nur dieser Welt, sondern mehreren Welten zugleich an.

6 Die ‚Welten‘ im Sonnenlied und Traumlied Wir haben schon gesagt, dass die vorchristlichen Skandinavier mehrere Welten kannten, von denen im Kontext der Totenreisen vor allem Valhǫll, das kriegerisch­ aristokratische Paradies, und Hel, die Unterwelt, von Bedeutung waren. Valhǫll fällt

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im christlichen Kontext selbstverständlich weg, um so reicher wird aber in beiden Gedichten Hel in ihren beiden Erscheinungsformen geschildert: einerseits als Loka­ lität in der Unterwelt, andrerseits als Herrscherin der Unterwelt, die mit eigenen Paraphernalien ausgestattet ist (Heljar reip, ‚Schlingen der Hel‘), mit unterweltlichen Dienerinnen (Heljar meyjar, ‚Mädchen der Hel‘) und mit Begleitern in Tiergestalt (Heljar hrafnar, ‚Die Raben der Hel‘). Als heidnisches Erbe können wir auch einige Grenzen zwischen den Welten der Lebendigen und der Toten bewerten, z. B. den Jenseitsfluss Gjǫll, den Jenseitswall sowie verschiedene Mittel, die erlauben, diese Grenzen zu über­ queren: die Gjǫll­Brücke (Gjallarbrú), dank der man den Jenseitsfluss überschreitet, und das Jenseitstor (Heljar grind, helgrindi), das den Durchgang in die Unterwelt ermöglicht.45 Eine wichtige Rolle spielen in beiden Gedichten selbstverständlich die drei Welten des christlichen Mittelalters – Erde, Himmel und Hölle. Die Sache ist aber viel komplizierter, wie schon die Zahl der Benennungen von verschiedenen Welten in beiden Gedichten andeutet. Die konkrete Zahl ist von der benutzten Ausgabe des Traumlieds abhängig, ich persönlich habe in mir zugänglichen Ausgaben und Vari­ anten nicht weniger als zweiundzwanzig Weltbezeichnungen gefunden:

Die Weltbezeichnungen des Traumliedes and-heim, andre heimen, anheimen, anen heimen, i auromheime: die ‚andere Welt‘ oder die ‚Geisterwelt‘ 46 denne heimen: ‚diese Welt‘ føesheimen: die ‚Welt des Aufenthaltes‘, ‚Welt des Lebens‘ oder ‚Geburtswelt‘47 fyrheimen: ‚Menschenwelt‘ 48 glaheimen: die ‚Welt der Glückseligkeit‘ oder die ‚Welt des Glanzes‘49 helheimen: ‚Unterwelt‘ 50 helvite: ‚Hölle‘ himmerike: ‚Himmelreich‘

45 Heljar grind (Sólarljóð) und helgrindi (Draumkvæði) entsprechen der helgrind, die in dem oben zitierten Hervǫrlied vorkommt. 46 Die Zusammensetzung i auromheimi ist ein veralteter Dativ aus dem Altnordischen í ǫðrum heimi (‚in der anderen Welt‘). Die Bedeutung ‚Geisterwelt‘ setzen die Forscher voraus, die von der ursprünglichen Form andar-heimen oder ande-heimen (aus altn. anda-heimr) ausgehen (siehe Barnes [Hg.] 1974, Draumkvædet, S. 203). 47 Für die Erklärung des Worts siehe Moe 1927, S. 334. Barnes (1974, S. 207) entscheidet sich für die Übersetzung „Nahrungswelt“. 48 Als v.l. bei Sophus Bugge (1854/55, S. 106). Barnes belegt die Variante fyriheimen, die er als fyrreheimen liest und als „diese Welt“ erklärt (1974, S. 207). 49 Soweit ich sehe, ist das Wort nur in der Rekonstruktion Egnunds (Egnund [Hg.] 1927) zu finden. 50 Das Wort findet sich nur als Egnunds Teiltitel (Egnund [Hg.] 1927, S. 17, siehe dazu Egnund [Hg.] 1927, S. 30) und es ist daher fraglich, ob es in Niederschriften wirklich zu finden ist.

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paradis: ‚Paradies‘ skommeheimen: die ‚dunkle Welt‘51

Die Weltbezeichnungen des Sonnenliedes aldaheimr: ‚Menschenwelt‘ oder die ‚Welt der Zeiten‘ dynheimr: ‚Geräuschwelt‘ dvalarheimr: die ‚Welt des Aufenthaltes‘ hrollaheimr: die ‚Welt der Schrecken‘ 52 kvǫlheimr: ‚Qualenwelt‘ sigrheimr: ‚Siegeswelt‘ ynðisheimr: die ‚Welt der Freuden‘ œgisheimr: ‚Schreckenswelt‘ þessi heimr, heimr: ‚diese Welt‘ Wir haben hier eine repräsentative Liste der Welten, zwischen denen die Vorstel­ lungskraft der Dichter hin­ und herschwingt. Wir können selbstverständlich die Bezeichnungen nach dem gewöhnlichen Muster ordnen, und die Sache sieht dann so aus:

Diese Welt føesheimen, ynðisheimr, œgisheimr, dvalarheimr, aldaheimr, dynheimr, fyrheimen, þessi heimr, denne heimen, heimr

Die ‚Andere Welt‘ im Allgemeinen and-heim, andre heimen, anheimen, anenheimen, i auromheime

Himmel glaheimen, sigrheimr, paradis, himmerike

Hölle skommeheimen, helheimen, kvǫlheimr, hrollaheimr, helvite

51 Ist wieder nur in der Rekonstruktion Egnunds (Egnund [Hg.] 1927) zu finden. 52 Das Wort ist nur als v.l. belegt, siehe Ólsen 1915, ad 38,6 und Njarðvík 1993, ad 38,6.

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Die Frage aber ist, ob wir gerade mit dieser Klassifizierung nicht etwas verpassen und ob sie nicht mehr Probleme als Lösungen birgt: ‚Welt der Schrecken‘ kann die menschliche Welt und zugleich die Hölle bezeichnen. Noch dazu bezeichnet fast die Hälfte der Begriffe ein und dieselbe Welt – nämlich die ganz normale irdische. Die übliche ‚Weltenklassifikation‘ bringt keine guten Ergebnisse und es scheint, dass die Gedichte mit ihren Weltbezeichnungen etwas anderes beabsichtigen. Wir können mit der Beobachtung beginnen, dass die meisten Bezeichnungen nur einmal (oder in einem eng begrenzten Textabschnitt) vorkommen. Ist es daher nicht möglich, dass es sich eher um die auf den unmittelbaren Kontext bezogenen Bezeich­ nungen als um Hinweise auf fest umrissene geographische Vorstellungen handelt? Und vielleicht ist bei den einzelnen Bezeichnungen eigentlich nicht so wichtig, was sie bezeichnen, sondern wie sie das machen. Es ist zum Beispiel kein Zufall, dass die Bezeichnungen ‚diese Welt‘ und ‚andere Welt‘ meistens paarweise auftreten und so die grundsätzliche Opposition (zugleich aber fast spiegelbildliche Parallelität) von Diesseits und Jenseits ausdrücken. Bei der Ansicht des Sünders, der brennende Erde in seinen Händen trägt, bemerkt das Traumlied (Draumkvæði 71): So er det i denne heimen, du snakar jord av andre. So må du i andre heimen lie so stor en vande. Der er so lite gaman.

(So ist’s, wenn du stiehlst die Erde in dieser Welt von andren; in andrer Welt betreffe dich dafür so großer Schaden. Dort ist nur wenig Freude.)

Die einzelnen Weltbezeichnungen treten nicht zufällig und nur durch Alliteration bedingt auf. Ihre Reihenfolge versinnbildlicht die sich langsam vertiefende Erken­ ntnis der Weltennatur. Und wir haben beobachtet, dass beide Gedichte eigentlich ‚innere Visionen‘ sind, so dass die äußerliche Beschreibung hauptsächlich als Mani­ festation der mentalen Verwandlung und Wissenserhaltung dient. Wie gesagt, dient von den aufgezählten Weltenbezeichnungen nur die Hälfte zur Bezeichnung von Himmel, Hölle und Jenseits, wobei die anderen auf keine mythischen oder religiösen Lokalitäten hinweisen, sondern auf die ganz normale Menschenwelt. Und beim näheren Blick z. B. auf die prädikativen Bezeichnungen dieser menschlichen Welt im Sonnenlied (die kaum zufällig in knapp elf Strophen angehäuft sind) entdecken wir gleich, dass sie kein Reiseitinerar, sondern gerade die sich vertiefende Erkenntnis und deshalb auch die sich wandelnde Wahrnehmung der Menschenwelt dokumen­ tieren. Der Reihe nach folgen die Bezeichnungen einer gewissen Richtung: ‚Schreckenswelt‘ (œgisheimr 30,4) ‚Welt der Freuden‘ (ynðisheimr 33,3) ‚Welt des Aufenthaltes‘ (dvalarheimr 35,4) ‚Geräuschwelt‘ (dynheimr 39,3) ‚Welt der Zeiten‘ oder ‚Welt der Menschen‘ (aldaheimr 41,6)

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Von den unmittelbaren Empfindungen der Welt (Schrecken vs. Genuss) kommt das Gedicht zur Auffassung der menschlichen Existenz als eines Aufenthaltes, dann zur ganz abstrakten Wahrnehmung des ‚Geräusches‘ der Welt im Kontrast zu der Stille der Ewigkeit53 und endlich zu einer höheren Erkenntnis der Zeitlichkeit des menschli­ chen Daseins. Die Reise führt in diesem Fall nicht in eine andere Welt, sondern zu einer anderen Vorstellung ein und derselben Welt. Die Welt „wird im wechselnden Licht angeschaut und auf beiden Seiten der Todesgrenze treffen wir gute und schlechte Welten“.54 Und das Vorkommen von so grundverschiedenen Menschenweltbezeichnungen wie ynðisheimr (‚Welt der Freuden‘) und dvalarheimr (‚Welt des Aufenthaltes‘) weist darauf hin, dass hier nicht eine erstarrte, steife christliche Dogmatik spricht, sondern eine dynamische Welt­ auffassung. Die beiden Bezeichnungen beschreiben ein und dieselbe irdische Welt, sie stehen in einem Text (Sonnenlied) innerhalb von drei aufeinanderfolgenden Stro­ phen. Die beobachtete Welt hat sich nicht geändert, ihr Beobachter aber schon. Die Dichter waren sich dessen wohl bewusst, dass die Welt so ist, wie wir sie sehen, dass also die Eigenschaften unserer Welt durch die Optik bedingt sind, durch die wir sie wahrnehmen:55 Frá því er at segja, hvé sæll ek var ynðisheimi í; ok hinu ǫðru, hvé ýta synir verða nauðgir at nám. [...] Glaðr at mǫrgu þótta ek gumnum vera þvíat ek vissa fátt fyrir; dvalarheim hefir dróttinn skapat munafullan mjǫk.

(Erst will ich sagen wie selig ich war in dieser Welt der Freuden; und dann das andre: wie alle Menschen notwendig werden zu Leichen. [...] Fröhlich meist erschien ich den Menschen, denn wenig wusst’ ich voraus; wollustreiche Aufenthaltswelt hat der Schöpfer den Menschen geschaffen.)

Die Strophen stellen eine Änderung der Optik dar, eine geistige Umwandlung, die die Welt in einem anderen Licht erscheinen lässt.56 In der ersten Strophe sehen wir die Welt der Freuden (ynðisheimr) und das dazu gehörende Adjektiv sæll, das so viel wie

53 In Traumlied nähert sich der himmlische Zug mit Christus und heiligem Michael ‚so still‘ und ‚langsam‘ (so tvist, trå) im Kontrast zu der Höllenschar, die ‚so rasch‘ (so kvast) zur Gerichtsstelle kommt (Draumkvæði 91, 93–94). 54 Fidjestøl 1979, S. 30. 55 Sólarljóð 33, 35. 56 Vgl. die Definition des oben erwähnten Martin Heidegger: „Was wir […] mit dem Titel Befindlich­ keit anzeigen, ist […] die Stimmung, das Gestimmtsein […]. Die Stimmung macht offenbar, ‘wie einem ist und wird’. In diesem ‘wie einem ist’ bringt das Gestimmtsein das Sein in sein ‘Da’“ (Heidegger 1977, S. 178–179). Vgl. dazu die Bemerkung über Visionsdichtung, die Carlsen zitiert: „Die fiktionalen Plätze dienen als Metapher für die mentalen Zustände des geistigen Pilgers“ (Carlsen 2008, S. 32).

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‚selig‘, ‚mit Glück gesegnet‘, also glücklich im objektiven Sinn des Wortes bedeutet.57 In der zweiten Strophe sieht die Sache schon anders aus. Der Sprecher wohnt weiter in einer Welt, die munafullr, also ‚wollustreich‘ ist, und die ihn glaðr, ‚fröhlich‘ (also glücklich im subjektiven Sinne), macht.58 Aber die Welt ist anders geworden, sie ist jetzt dvalarheimr, die ‚Aufenthaltswelt‘, und Freude daran wird nur durch Unwissen ermöglicht. Die Erkenntnis, dass die Menschenwelt zwar anziehend, aber schnell vergänglich ist, wird durch das Erlebnis der menschlichen Sterblichkeit ermittelt, durch die Anerkennung, dass ýta synir verða nauðgir at nám, ‚Söhne der Menschen notwendig zu Leichen werden‘. Wir haben es hier mit einer Verinnerlichung des Welt­ begriffs zu tun: Für einen, der die vergängliche Natur der Dinge und seiner selbst sieht, sieht auch die bisher vertraute Welt anders aus. Und für einen, der die Welt der Lebendigen aus der Welt der Toten beobachtet, nimmt sie noch ganz andere Konturen an. Der Mensch, der seine eigene Sterblichkeit akzeptiert, kann nicht gleich bleiben.59 Die Existenz zwischen den Welten bedeutet also eine geistige Erweckung des Men­ schen, die selbstverständlich seine Weltanschauung erheblich ändert – und ebenso die Anschauung seiner selbst. Wenn ich richtig sehe, stellt nämlich die Jenseitsbeschrei­ bung des Sonnenliedes und des Traumliedes nicht nur eine neue, christliche Welt­ und Jenseitsvorstellung, sondern auch eine ganz neue Eschatologie dar, die sich von der Todesauffassung der heidnischen Nordleute – insofern wir imstande sind, sie zu ver­ stehen – schroff unterscheidet. Ich möchte hier besonders auf drei markante Merkmale hinweisen: Fremdheit des Jenseits, Einsamkeit des Toten und die menschliche Freiheit.

7 Fremdheit des Jenseits Der heidnische Skandinavier wusste sehr wohl, wohin er nach seinem Tode geht. Der Tod war freilich auch für ihn eine dunkle, schwer verständliche und kaum vorstell­ bare Erfahrung, wovon schon die Menge der oft widersprüchlichen Vorstellungen 57 Baetke 2006, s. v. sæll. 58 Baetke 2006, s. v. glaðr. 59 Ansätze zu dieser ‚Verinnerlichung‘ des Weltbegriffs finden wir schon in der älteren skandi­ navischen Überlieferung, z. B. in der oben erwähnten Stelle des Hervǫrliedes, wo sich die Heldin ‚zwischen den Welten‘ befindet, obwohl sie beim Betreten des Grabhügels eigentlich in dieser Welt bleibt. Auch den erweckenden Symbolismus der Weltgrenzen kann man dort gut beobachten, z. B. wenn vor der in den Grabhügel eintretenden Heldin ‚das Unterweltstor sinkt‘ (helgrind er hnigin). Wir haben keinen Beleg dafür, dass in den Grabhügeln Tore präsent seien, der Ausdruck wird hier also offensichtlich symbolisch benutzt, als Bezeichnung für die Stelle, wo sich die Welten der Lebendigen und der Toten kreuzen. Und schon Hans Kuhn, der – wie oben gesagt – glaubte, dass es hinter der Weltenmenge der heidnischen Nordgermanen keine Idee des Weltbaus gibt, ist zu der Gedanke ge­ kommen, dass diese Welten vielleicht nicht „irgendwie geographisch geordnet vorgestellt wurden“ (Kuhn 1978, S. 303). Die durchkomponierte Weltenvorstellung des Sonnenliedes und des Traumliedes steht aber auf einem ganz anderen Niveau.

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von dem Leben nach dem Tode Zeugnis ablegt. Der altnordische Heide konnte nach seinem Tode in seinem Grabhügel leben, in einem Ahnenberg, in Hel (der Unterwelt), in Valhǫll (dem kriegerischen Paradies) oder an einem nicht näher bestimmten Ort. Alle diese Vorstellungen haben aber (trotz ihrer Verschiedenheit) ganz klare Umrisse und bildliche Anschaulichkeit. Und noch mehr: Trotz ihrer Verschiedenheit können sie alle mit dem Terminus ‚nicht­dualistische Eschatologie‘ bezeichnet werden:60 Sie sehen das Leben nach dem Tode als eine Weiterführung der bisherigen Existenz. Der tote Häuptling oder Held verfügt im Grabhügel oder Hel weiter über die mit ihm begrabenen Sklaven und Sklavinnen. Der Tote im Berge trinkt und unterhält sich weiter mit seinen Freunden und Verwandten. Der tote Krieger in Valhǫll verbringt sein jenseitiges Leben mit Trinken und Kämpfen, genauso wie er es während seines Lebens tat. Und sogar in Hel, in der Unterwelt, wird gegessen, getrunken, geschlafen, und die neu angekommenen Toten werden mit aller Pracht als Gäste empfangen. Das Jenseits ist eine Erweiterung, Verherrlichung und Preis des Diesseits. Der tote Heide bewegt sich auf der anderen Seite der Existenz in einer wohlvertrauten Welt. Wie sieht es mit dem Bild der anderen Welt in Sonnenlied und Traumlied aus? Die beiden Gedichte folgen im Großen und Ganzen dem allbekannten Muster der christli­ chen Visionsliteratur, was an sich kaum überraschend ist. Ganz anders sieht es aber in dem Augenblick aus, wenn wir uns die in den Gedichten auftauchenden Vorstel­ lungen, Bilder, symbolischen Personen und Handlungen näher anschauen. Diese sind oft so dunkel, unverständlich, seltsam und schwer deutbar, dass sie von ver­ schiedenen Forschern meist ganz unterschiedlich interpretiert werden (Sólarljóð 76): Bjúgvǫr ok Listvǫr sitja i Herðis dyrum organs stóli á; járna dreyri fellr ór nǫsum þeim, sá vekr fjón með fyrðum.

(Bjúgvǫr und Listvǫr sitzen zu des Harten Türen auf dem Stuhl der Orgel; eisernes Blut entfließt ihren Nasen weckt Hass und Wut bei den Menschen.)

Das Bild der zwei auf dem Orgelstuhl sitzenden, aus der Nase blutenden Frauen ist an sich seltsam genug. Dazu kommt, dass wir keinen von den drei Namen mit existier­ enden heidnischen oder christlichen Wesen identifizieren können.61 Warum die zwei

60 Ich lasse hier von dem Terminus ‚prädualistisch‘ ab, der von der älteren Forschung geprägt wurde. Matthias Egeler hat mich freundlich darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Ausdruck ein festes historisches Entwicklungsschema voraussetzt und deshalb unerwünschte Werturteile evoziert, die eine wertfreie Beschreibung kaum ermöglichen. 61 Die existierenden Erklärungen gehen weit auseinander, nicht nur weil die Namen unbelegt und unklar sind, sondern auch weil sie in verschiedenen Handschriften mit variierender Orthographie angeführt werden. Bjúgvǫr wird als ‚Gekrümmte‘ (Bergmann [Hg./Übers.] 1858), ‚Zermalmende‘ (Larrington / Robinson [Hg./Übers.] 2007), Listvǫr als ‚Kunstvolle‘ (Bergmann [Hg./Übers.] 1858) oder auch ‚Listige‘ (Falk 1914) gedeutet. Baumgartner interpretiert die beiden Gestalten als Walküren (altnordische weibliche Kriegsgottheiten), andere als ‚trollartige Weiber‘ (Larrington / Robinson [Hg./Übers.] 2007), noch andere geben einfach zu, dass sie nicht imstande sind, sie irgendwie zu

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albernen Frauengestalten ‚auf dem Orgelstuhl‘ (am Sitz des Spielenden? Oder bei der Tastatur? Oder auf dem Orgelschrank?) sitzen sollen, bleibt auch ganz undurchsichtig. Sogar die Tatsache, dass es sich um eine Orgel handelt, bleibt nicht unbestritten.62 Der Ausdruck ‚Blut des Eisens‘ (járna dreyri) wird von einigen als ‚Waffenblut‘ oder als ‚Flüssigkeit der Waffen‘ gedeutet, was aber zur Klarheit des Gesamtbildes kaum beiträgt.63 Eine befriedigende Interpretation dieser Strophe wurde bis jetzt noch nicht vorge­ legt und man muss zweifeln, ob sie je vorgelegt wird. Und sie ist kein Einzelfall, viele andere Strophen teilen dasselbe Los. Die seltsame Neigung zum Sonderbaren und die daraus entstehende Unklarheit dieser (und vieler anderer) Strophen hat einige Kommentare der Philologen und Kommentatoren provoziert. Schon Finnur Jónsson bemerkte mit Recht, dass die Unfähigkeit, zu einer befriedigenden Interpretation zu kommen, nicht notwendigerweise einen Mangel von unserer Seite bedeuten muss und dass viele Strophen undeutbar sein können, weil sie einfach keinen Sinn haben. Und als Vertreter der rationalistischen Philologie kam er zu einem schnellen und logischen Schluss: Weil solche Strophen keinen erkennbaren Sinn haben, sind sie sinnlos und wir können uns die Arbeit mit ihrer Deutung sparen: „Es handelt sich um unverständliche und dunkle Vorstellungen, deren Sinn nicht gefunden werden konnte und sicher nicht gefunden werden kann“ und deren Deutung deshalb verge­ bliche Mühe ist.64 Aber muss Sinnlosigkeit notwendigerweise mit Bedeutungslo­ sigkeit in eins fallen? Bjarne Fidjestøl, der die Meinung teilte, dass einige Strophen prinzipiell sinnlos sind, bemerkte dazu mit Recht, dass ein solcher Schluss überhaupt nicht notwen­ dig ist. Unsere Unfähigkeit, die Strophen zu deuten, kann seiner Meinung nach auch davon zeugen, dass sie von Anfang an als unverständlich beabsichtigt waren. Er weist darauf hin, dass in solchem Fall unsere Interpretationsversuche „eigentlich eine Art ‘Anti­Deutungen’ sind, weil sie uns von dem echten Sinn des Gedichtes ablenken“.65 Was ist aber in diesem Fall die Bedeutung der Beschreibung? Meiner Meinung nach kann die Antwort kaum anders lauten als: die Undurchdringbarkeit des geschilderten Jenseitsbildes.

interpretieren. Herðir wird als ‚der Gewaltige‘ (Bergmann [Hg./Übers.] 1858) oder ‚der Erhärtende‘ (Ólsen 1915) übersetzt und gelegentlich mit Óðinn (Baumgartner 1888) oder Loki (Bugge [Hg.] 1867; Falk 1914; Boucher [Hg./Übers.] 1985) identifiziert, von einigen aber auch mit dem Teufel (Ólsen 1915) – seine Pforte ist dann die Höllenpforte. 62 Das Wort organ ist ein hapax legomenon, und einige Forscher deuten es als Personenname – un­ nötig zu sagen, dass es jeder ganz unterschiedlich deutet. Die Versuche gehen so weit auseinander wie ‚Schreck‘ (Bergmann [Hg./Übers.] 1858) und ‚Ehrgeiz‘ oder ‚Goldgier‘ (Baumgartner 1888). Vgl. auch Kock 1923/1944, § 2564. 63 Kock 1923/1944, § 1273; Fidjestøl 1979, S. 70. 64 Finnur Jónsson 1916, S. 161. 65 Fidjestøl 1979, S. 17.

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Falls dieser Schluss richtig ist, betonen die Beschreibungen des Jenseits in Sonnenlied und Traumlied das Anderssein der Zustände nach dem Tode und ihre Unlös­ barkeit für den menschlichen Verstand. Die Reise ins Jenseits ist eine Reise in die Fremde. Die Annahme kann damit unterstützt werden, dass die Entfremdung des Menschen im Jenseits nicht nur in den unverständlichen Strophen demonstriert, sondern an einigen Stellen auch direkt ausgedrückt wird (Draumkvæði 19): Inkje kneggja soten min, inge gøydde min hund’e. Inkje gol dei ottefuglann det tottest meg vera under. Der ingi soli skin.

(Es wieherte nicht mein schwarzes Pferd, es bellten nicht meine Hunde, es sang dort nicht der Morgenvogel, es war ein seltsames Wunder. Dort schien keine Sonne.)

Der tote Christ kommt in eine fremde Welt, und die Gedichte sparen keine Mühe, um die Besonderheit des Jenseits auszumalen.

8 Einsamkeit Wir können auch diesen Punkt wieder durch einen Vergleich mit den vorchristli­ chen Zuständen beleuchten. Der altnordische heidnische Germane war – soweit wir wissen – eigentlich nie allein. Er verbrachte sein ganzes Leben in einem dichten Netz von Verwandten, Freunden und Verbündeten, im Kreis der Familie, unter seinem König, Jarl oder Goden, und über seinen Dienern und Sklaven. Diese menschliche Umgebung definierte die Werte des Menschen und war die bestimmende Tatsache seines Lebens. Sogar der wichtigste gesellschaftliche Wert – die Ehre – hing nicht so sehr von der Individualität ihres Trägers ab als vielmehr von seiner Bewertung in den Augen seiner Umgebung. Von der Wichtigkeit der menschlichen Gebundenheit an die Gesellschaft zeugt aber auch die Tatsache, dass sie mit dem Tode nicht aufhörte. Der tote Heide kann in Valhǫll, in Hel, in seinem Grabhügel oder in einem Ahnenberg leben – gewöhn­ lich aber zusammen mit anderen, ihm verbündeten Toten: mit anderen Helden und historischen Königen in Valhǫll, mit seinen Verwandten in einem Ahnenberg, mit seinen Dienern in dem Grabhügel. Die Eyrbyggja saga, ‚Saga von den Leuten aus Eyr‘, berichtet, wie ein gewisser Þorsteinn Þórólfsson, vornehmer Isländer des zehnten Jahrhunderts, nach seinem Tode in den Ahnenberg eintritt:66 Þat var eitt kveld um haustit, at sauðamaðr Þorsteins fór at fé fyrir norðan Helgafell; hann sá, at fjallit laukz upp norðan; hann sá inn í fjallit elda stóra, ok heyrði þangat mikinn glaum ok

66 Eyrbyggja saga XI (Übersetzung Felix Niedner).

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hornaskvǫl, ok er hann hlýddi ef hann næmi nǫkkur orðaskil, heyrði hann, at þar var heilsat Þorsteini þorskabít ok fǫrunautum hans, ok mælt, at hann skal sitja í ǫndvegi gegnt feðr sínum. (An einem Herbstabend [an dem Þorsteinn ertrunken war] wollte der Schafhirt Þorsteins nördlich von Helgafell das Vieh nach Hause treiben. Da sah er den Hügel an der Nordseite offen. Er erblickte im Hügel große Feuer und hörte aus ihm fröhlichen Lärm und [Trink]hörnerklang. Und als er genau horchte, ob er einige Worte unterschieden könne, hörte er, wie man dort dem Þorsteinn und seinen Gefährten Gruß entbot und sagte, er werde bald auf dem Hochsitz gegenüber seinem [früher verstorbenen] Vater sitzen.)

Die Heiterkeit der Szene, das Wohlsein der trunkseligen Gemeinschaft kann uns bei einer Beschreibung der Ankunft im Jenseits überraschen. Im Kontext der altnor­ dischen Beschreibungen des Eintritts ins Jenseits bilden sie aber keine Ausnahme. Der norwegische Skalde Eyvindr Finnsson beschreibt in seinen Hákonarmál (‚Das Lied von Hákon‘), wie der neulich in der Schlacht bei Fitjar (961) gefallene norwe­ gische König Hákon der Gute in Valhǫll einzieht und dort von dem Dichtergott Bragi angesprochen und begrüßt wird:67 ‚Einhrja grið skalt þú allra hafa þigg þú at ǫ́sum ǫll; jarla bági, þú át inni hér átta brœðr‘ – kvað Bragi.

(‚Der Einherjar Frieden wirst du allen haben; trink bei den Asen Al [= Bier]; Fäller der Fürsten, hier findest du acht Brüder‘, sprach Bragi.)

Der Mensch bewegt sich im Jenseits in der Gesellschaft, in einer Gesellschaft, die dieselben Formen und Werte wie der Tote anerkennt (z. B die Gastlichkeit), oft in der Gesellschaft der Verwandten und Freunde.68 Und bei den Berichten von der Fahrt der Toten nach Hel oder von ihrer Existenz in dem Grabhügel sieht es ähnlich aus.69 Besonders auffällig ist bei diesen Beschreibungen die immer wiederkehrende Erwähnung des Trinkens. Sie bezeugt sicher die wohl dokumentierte Trinklust der 67 Eyvindr Finnsson: Hákonarmál 16 (Übersetzung Felix Genzmer). Die einherjar sind die vom höch­ sten Gott Óðinn versammelten erwählten Krieger. 68 In Gísla saga Súrssonar, der ‚Saga von Gísli Súrsson‘, sieht Gísli, ein Islandbesiedler des 10. Jahrhunderts, im Traum den Ort seiner zukünftigen jenseitigen Existenz und beschreibt ihn: ‚Jetzt träumte mir, ich ginge zu einer Art Haus oder Halle und ginge auch hinein und da erkannte ich viele Befreundete und Verwandten drinnen. Sie saßen an Feuern und tranken. Es waren sieben Feuer‘ (Üb­ ersetzung Friedrich Ranke; Gísla saga XXII: En þat dreymði mik nú, at ek þóttumzt ganga at húsi einu eðr skála, ok inn þóttumzt ek ganga í húsit ok þar kennda ek marga inni, frændr mína ok vini; þeir sátu við eld ok drukku, ok vóru vii. eldarnir). 69 Nach Landnámabók CXXII wird Ásmundr Atlason (ca. Mitte des 10. Jahrhunderts) in einem Grabhügel mit einem einzigen Sklaven begraben. Nachdem sich der Tote kritisch über diese ‚unehrliche Gefolgschaft‘ (ilt gengi) äußert, wird der Sklave aus dem Hügel wieder ausgegraben (SkjaldAnon x ii B 9. In: Finnur Jóns­ son [Hg./Übers.] 1912, 1A, S. 183; 1B, S. 173). In Baldrs draumar, den ‚Träumen Baldrs‘, wird beschrieben, wie in Hel für den toten Gott Baldr ‚klare Getränke‘ vorbereitet werden (Baldrs draumar 7,1–6). Die Entste­ hungszeit einiger dieser Geschichten wird gelegentlich auch in die christlichen Epochen verlegt, sie (und die in ihnen enthaltenen Vorstellungen) sind aber jedenfalls älter als unsere zwei Gedichte.

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alten Skandinavier, aber ihre Bedeutung endet nicht damit. Wie öfter bemerkt, war das Trinken für die Germanen (und für die Nordgermanen galt es nicht weniger) eine gemeinschaftsstiftende Aktivität.70 Das gemeinsame Trinken, das Angebot des Trankes, seine Annahme (oder gelegentlich dessen Verweigerung) strukturierte die trinkende Gesellschaft und demonstrierte ihre Zusammengehörigkeit. Und das gilt genauso für das Trinken im Jenseits. Es ist nicht notwendig zu erwähnen, dass im christlichen Jenseits Trinken keinen Platz hat. Der tote Christ gehört keiner Gesellschaft an, und was das Trinken betrifft, wird vor allem sein Durst betont.71 Das gemeinschaftliche Trinken gehört in den christlichen Vorstellungen nur zur irdischen Welt, und der Tote bleibt davon ausges­ chlossen (Draumkvæði 16): Det var no um joleaftan, dei bar inn øl i skål. Men ingen av mine venir kunne høyre mitt mål. Soli ho svortna, og helgrindi dunde.

(Und an dem Weihnachtsabend war Bier in Schalen gebracht, doch keiner meiner Freunde konnte hören was ich sagt’. Die Sonne ward schwarz und die Pforte der Hel dröhnte.)

Also: die Lebendigen unterhalten sich untereinander, der Tote bleibt allein. Der örtlichen Nähe steht hier die geistige Distanz gegenüber. Wir haben gesehen, dass die Welten der beiden Gedichte nicht so sehr eine lokale Bedeutung haben, es handelt sich eher um seelische als um geographische Einheiten. Und der Tote, der im eigenen Hof liegt, von Verwandten und Freunden umgeben, gehört schon zu einer anderen Welt. Traum- und Sonnenlied wissen nichts von dem ganzen geselligen Zusammensein im heidnischen Jenseits und für sie ist ein ganz anderes Motiv von Bedeutung: die Einsamkeit des Toten. Noch offener und dringlicher spricht es in schlichten Worten das Sonnenlied aus (Sólarljóð 48): Virði þat ok viti inn virki guð, sá er skóp hauðr ok himinn; hversi einmanna margir fara, þó við skylda skyli.

(Das wiss’ und erwäge der waltende Gott, der die Welt und den Himmel wirkte; wie einsam wir beim Abschied bleiben, obwohl die Verwandten herumstehen.)

In den wichtigsten Augenblicken seines Weges ist der christliche Mensch allein. Mit welcher Freude begrüßt der Protagonist des Traumlieds sogar den Verbrecher in der Hölle als ersten Menschen, dem er auf seinem Wege begegnet ist (Draumkvæði 63):

70 Siehe dazu Starý im Druck. 71 Siehe die oben zitierte Zeile å inna so munne eg brenne (‚ich brenne drinnen‘).

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Eg såg meg einom drengjen det fyrste eg vart ved. Han bar eit bån på armen sin og vassa i jord til knes. Der skin’e soli av aldri varm.

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(Ich konnte sehen jungen Mann, den ersten auf meinem Wege; in Armen trug er da ein Kind bis zu Knien watete er in Erde. Die Sonne, die dort scheint, die gibt keine Wärme.)

Der tote Christ begegnet freilich auf seiner Reise manchem Jenseitswesen, sieht die gequälten Toten in der Hölle und die belohnten Seligen im Himmel, im Grunde aber bleibt er im Jenseits ein Individuum, das sich auf niemanden als sich selbst verlassen kann.

9 Freiheit Die Einsamkeit, Folge der Transzendenz der Welt – der Welt als eines vertrauten Orts, aber auch der menschlichen Welt (also der menschlichen Gesellschaft) – , bedeutet zugleich eine Zuwendung zu sich selbst, eine Würdigung des individuellen Erlebnisses. Deshalb der seltsam persönliche Ton und die nahezu rührende Intimi­ tät bei den Beschreibungen der menschlichen Lebensbahn, zum Beispiel des Alt­ werdens. Schauen wir uns noch einmal die oben zitierte Strophe des Sonnenliedes an (Sólarljóð 36): Lútr ek sat, lengi ek hǫlluðumk, mjǫk var ek þá lystr at lifa; en sá réð er ríkr var – frammi eru feigs gǫtur.

(Krumm saß ich, knickten die Schultern, doch groß war die Lust zu leben; aber des Waltenden Willen entschied: nach vorn führt des Todgeweihten Weg.)

Und vergleichen wir sie mit der friedlichen, in sich ruhenden Beschreibung des armen alten Paars in dem Götterlied Rígsþula aus der Älteren Edda:72 Gekk hann meirr at þat miðrar brautar. Kom hann at húsi: hurð var á gætti; inn nam at ganga: eldr var á golfi; hjón sátu þar, hár, at árni, Ái ok Edda, aldinfalda.

(Er [= Gott Rígr] ging dann mitten auf dem Weg, er kam zu einem Haus, die Tür war am Türrahmen; er ging hinein, ein Feuer war auf dem Boden; Eheleute saßen dort, grauhaarig, an der Feuerstelle, Ai und Edda, mit Alter bedeckt.)

Im Gegensatz zu solchen fast idyllischen Bildern sieht es auf den ersten Blick so aus, als ob Sonnenlied und Traumlied keinen sehr positiven Blick auf die christliche

72 Rígsþula 2 (Übersetzung Arnulf Krause).

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Existenz geben.73 Sie bringen aber einen wichtigen Wert, der den heidnischen Bildern des Sterbens und des Todes fehlt – die Freiheit. Der Christ ist frei und kann – das ist der Grundtenor beider Gedichte – über sein Leben verfügen. Die Schlusspartien der beiden Gedichte zeugen klar von der menschlichen Verantwortung für eigene Taten und deshalb auch von der Freiheit, auf der diese Verantwortung beruht. Die langen Listen der Strafen und Belohnungen im Jenseits besagen, dass der Mensch sein Ges­ chick und Glück zumindest mitbestimmen kann, er ist frei vom Schicksal, wie es die alten Skandinavier kannten. Und durch die langen Beschreibungen der jenseitigen Straforte geht wie ein roter Faden eine Idee: Ich konnte anders, und was ich erleide, ist mein eigenes Werk (Draumkvæði 66 f.): Sutine og sorgjine det blandast alt til saman. Auga lær og hjarta græt’e. Det er so lite gaman. Det er so lite gaman.

(Traurigkeit und Kümmernis sich dort zusammen kreuzen; das Auge sieht und das Herz bricht, dort ist nur wenig Freude. Dort ist nur wenig Freude.

Sutine og sorgjine dei dreg eg under min sko. Di gla’are skal eg halde meg, di meir det gjeng meg imot. Der er so lite gaman.

Traurigkeit und Kümmernis zieh ich an meinen Schuhen; je glücklicher ich sollte sein, desto mehr ich sie treffe. Dort ist nur wenig Freude.)

Und für uns ist wichtig, dass dieses ‚ich konnte auch anders‘ erst beim Rückblick aus einer Welt erscheint, die von der unseren so weit wie möglich entfernt ist. Jede Reue setzt die Möglichkeit der freien moralischen Bewertung der eigenen Taten voraus. Und die Freiheit des Urteils ist eine Folge davon, dass der Mensch nicht nur in dieser Welt lebt, wo Pflichten gegenüber der Familie, den Verbündeten und den Herrschern walten. Die Beobachtung der Welt von einem außerweltlichen Standpunkt aus gibt dem Menschen die Macht, sich von dieser Welt zu befreien. Die zitierten Schilderungen der fremden und einsamen, zugleich aber freien Exis­ tenz im Jenseits sind selbstverständlich eschatologisch geprägt – sie beschreiben die Existenz nach dem Tode. Meiner Meinung nach enthalten sie aber doch eine vollwer­ tige Anthropologie, die nicht nur die Existenz im Jenseits betrifft. 73 Die Ansicht, dass die christliche Eschatologie im Vergleich mit der heidnischen nicht viel anbi­ etet, musste schon bei einem Teil der altnordischen Gesellschaft existieren. Das konnte Bernadine McCreesh in der Analyse der Eyrbyggja saga demonstrieren, wo man einen scharfen Bruch in dem Benehmen der Toten vor und nach der Christianisierung konstatieren kann: „The pagan dead are presumably happy with their lot, for they do not return to trouble the living. On the other hand […] the Christian ghosts do not seem to be at rest, for they return to the feasts and fires of their former dwell­ ing place […]. Christians cannot lie quietly in the embraces of the goddess of the sea, whereas pagans could.“ Obwohl dieses Urteil sicher keine allgemeine Geltung beanspruchen kann (man erinnere sich an Þórólfr bægifótr aus der gleichen Saga), erklärt es trotzdem recht gut einige in Isländersagas bes­ chriebene Totengeschichten (McCreesh 1978/79, S. 273 f.).

Zwischen Diesseits und Jenseits 

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Die Vorstellungen von Diesseits und Jenseits sind in keiner menschlichen Kultur getrennt und spiegeln sich gegenseitig wider. Die Eschatologie ist Anthropologie. Der heidnische Mensch lebt nach seinem Tode weiter in der Gesellschaft, genauso wie er vor seinem Tode in der Gesellschaft lebte, und so betrifft auch die christliche Entfrem­ dung und Einsamkeit nicht nur die toten Christen, sondern auch die lebendigen. Der Heide lebt vor und nach seinem Tode in einer Welt, die ihm irgendwie verwandt ist. Er beobachtet das Jenseits von der Seite des Lebens aus. Der Christ dagegen beobachtet die Menschenwelt von einem jenseitigen Standpunkt aus. Der tote Heide lebt weiter,74 der Christ ist in gewissem Sinne schon zur Zeit seines Lebens tot. Und auch die christliche Freiheit entsteht aus dem Sich­Auseinandersetzen mit der Welt des Todes, trotz dem, dass sie nicht erst im Augenblick des Todes erscheint. Und das ist offensichtlich der Grund (oder zumindest einer der Gründe) für die Entstehung der beiden Gedichte: den Tod (zumindest ‚literarisch‘) noch inmitten des Lebens zu erleben.

10 Schluss Gro Steinsland hat in ihrem Artikel über die eschatologische Dichtung im mittelalter­ lichen Skandinavien vortrefflich bemerkt, dass einer der wichtigsten Unterschiede zwischen den heidnischen und christlichen eschatologischen Gedichten auf der Polarisation an der Skala Individuum – Gesellschaft beruht.75 Während es in Vǫluspá, Vafþrúðnismál, Grímnismál und anderen älteren Gedichten um den Untergang der Welt und der Menschheit geht, sind die Protagonisten des Sonnenliedes und des Traumliedes vom Untergang des eigenen Ichs bedroht. Es ist klar, dass dieses Ich stell­ vertretend für jeden Einzelnen auftritt.76 Aber gerade nur für den Einzelnen, nicht für das Kollektiv der Menschheit. Die christliche eschatologische Dichtung Skandinavi­ ens ist stark individualisierend. In den Gedichten, von denen wir hier gesprochen haben, geschieht aber meiner Meinung nach viel mehr. Sie gehen nicht einfach vom Individuum statt der menschli­ chen Gesellschaft aus, sondern sie stellen ein neues Ideal der menschlichen Individu­ alität auf. Statt des heidnischen Menschen, der außerhalb der Gesellschaft eigentlich nicht existierte, sehen wir hier eine ganz neue Persönlichkeit, die frei und selbst­ ständig ist und die über ihre Taten und Werte Rechenschaft zu geben versucht. Die Veränderung der Vorstellung des Außer­der­Welt­Seins hat wichtige philosophische

74 Wolfgang Butt spricht von einem „hochgestimmten Lebensgefühl, in dessen Überschwang die [heid­ nischen] Nordleute auch den Bereich des Todes in ihren [Lebens­] Optimismus einbezogen“ (Butt 1967, S. 139). 75 Die anderen sind Zeit – Raum, Kosmologie – Soteriologie und Weiblich – Männlich (Steinsland 2000, S. 465–469). 76 Also etwas, das dem ‚Jedermann‘ der Mysterienspiele entspricht.

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Konsequenzen und betrifft das ganze Konzept des Menschen. Das christliche Wesen wird hier im vollen Sinne Mensch erst in dem Moment, als es seine Welt verlässt, also im Augenblick, wenn es – paradoxerweise – seine menschliche Existenz verliert. Das alles sollte uns erstens darüber belehren, dass das menschliche Individuum nicht nur aus der Auseinandersetzung mit der Welt und mit der Gesellschaft entsteht (wie es oft seit der Zeit der Romantik geschildert wird), sondern (und vielleicht sogar eher) aus der Auseinandersetzung mit dem, was ‚außerhalb‘ der Welt und menschli­ cher Gesellschaft liegt. Zweitens, dass die Vorstellungen des Jenseits und deshalb auch die Idee des menschlichen Individuums in hohem Maße kulturbedingt sind und sogar in zwei aufeinanderfolgenden Phasen einer Kultur (in unserem Fall der altnordischen) ganz andere Züge annehmen können.77 Und last but not least, dass der Begriff der menschlichen Individualität nichts Selbstverständliches ist. Sie entsteht in dem Augenblick, wo der Mensch versucht, seine eigene Welt und seine Gesellschaft zu überschreiten, was eine relativ hohe und abstrakte Leistung ist. Die im Sonnenlied und Traumlied präsente Idee, dass sich die menschliche Individualität und Moralität in der abgeschiedenen Wanderung in unverständlichen Hinterwelten und angesichts der brutal­surrealistischen Strafen im Jenseits konstituieren solle, wirkt auf uns sicher sehr befremdend. Das aber mindert – meiner Meinung nach – die Leistung des Sonnenliedes und des Traumliedes, zweier großer Gedichte des altnordischen Chris­ tentums, nicht im Geringsten. Dies umso mehr, als sie eigentlich nur das Unerklärli­ che auszudrücken versuchen, das auch der moderne Mensch tief in sich fühlt: „Das Erreichen der Gänze des Daseins im Tode ist zugleich Verlust des Daseins des Da. Der Übergang zum Nichtmehrdasein hebt das Dasein gerade aus der Möglichkeit, diesen Übergang zu erfahren und als erfahrenen zu verstehen.“78

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77 Siehe dazu Gurjewitsch (1995, besonders S. 14 ff., 19–88). Gurjewitsch widmet sich auf dem alt­ nordischen Gebiet leider nur den heidnischen Vorstufen der Individualität und lässt die nordisch­ christliche Literatur unbeachtet. 78 Heidegger 1977, S. 316.

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Richard North

Der Teufel im sächsischen Garten: Loki und eine Jenseitsreise in der altsächsisch-altenglischen Genesis B Abstract: Genesis B is a West Saxon poem on the Fall of the Angels and the tempta­ tion of Eve and Adam in the Garden of Eden. It is held to be translated from an Old Saxon original which was composed as early as the mid­ninth century. The poem is distinguished by oddities which appear to be almost without parallel. One of these is that not Satan but a lesser unnamed demon must bring about the Fall because Satan is chained up in hell. Another is that the demon first tries and fails with Adam and then uses this failure as a means of succeeding with Eve. Thus, in Genesis B, the Fall is accomplished by a lie rather than by the vanity or pride for which St Augustine and his followers blamed Eve. This essay seeks to root the poem’s divergence from doc­ trine in the pre­Christian folktales of Continental Saxony. First I focus on this devil’s otherworldly journey, arguing that this creature is modelled on an Old Saxon version of Loki. I go on to attribute his scene with Adam to a Saxon version of Loki’s dealings with Þórr. After that, I argue that his temptation of Eve is enabled by a Saxon version of Loki’s interaction with the goddess Iðunn. The type­scene for this demon’s vol­ unteering to help his chained master Satan is finally taken to be drawn from Loki’s former friendship with Óðinn. In conclusion, I suggest that the poet reconfigured old gods into good and bad biblical roles, humans versus demons, in order to recast bibli­ cal history in local form, the better to lead the Saxons of Germany from their old world into a new: in this way the real journey is theirs.

1 Herkunft und Überblick der Genesis B Die Genesis B stammt eindeutig aus Altsachsen, aber die altsächsische  Genesis­ Dichtung des 9. Jahrhunderts bereitet wegen ihrer komplizierten Überlieferung einige Schwierigkeiten. Die Genesis B oder ‚jüngere Genesis‘ ist im westsächsischen Dialekt der altenglischen Sprache verfasst und wurde ca. 975 gemeinsam mit vier weiteren Gedichten in die Handschrift MS Bodley Junius 11, Oxford, aufgenommen.1 ‚Genesis B‘ heißt dieses Gedicht, da es in die sogenannte ‚Genesis A‘ eingeschoben wurde und sich so von der größeren Genesis unterscheiden lässt. Diese größere Genesis wurde wohl im 8.  Jahrhundert und zweifellos zuerst auf Nordhumbrisch verfasst. Sie gibt

1 Genesis B (Doane [Hg.] 1991), S. 54. Deutsch auf der Übertragung von Felix Genzmer aufgebaut. https://doi.org/10.1515/9783110624663-005

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die Kapitel 1–22 der biblischen Genesis wieder und wurde an erster Stelle in die Hand­ schrift kopiert, vor drei altenglischen Gedichten, die man traditionellerweise Exodus, Daniel und Christ and Satan nennt. Aus der Genesis B hat ein Vorgänger des Schrei­ bers ohne besondere Ankündigung einen metrisch abweichenden Abschnitt, der den Versen 235–851 entspricht, in die Genesis A übernommen. Aufgrund des Metrums und Wortschatzes, die beide dem Altsächsischen ähnlicher als dem Westsächsischen sind, hat Sievers 1875 diese Verse als einen Abschnitt aus einer separaten Fassung interpretiert.2 Sievers’ Ergebnis wurde 1894 von Zangemeister bestätigt, als er in der Vatikanischen Bibliothek die Bruchstücke einer echten altsächsischen Genesis ent­ deckte. Dieses Gedicht mag damals dem großen, in zwei Handschriften und mehreren Bruchstücken erhaltenen Heliand beigegeben worden sein.3 Der Heliand feiert in ein­ geschränktem Heldenstil das Leben Christi und ist wohl ca. 830 verfasst worden, um die vermutlich noch heidnisch gesinnten Sachsen mit dem Christentum vertrauter zu machen.4 Eine der beiden Handschriften vom gesamten Heliand, BL MS Cotton Cali­ gula A.vii, stammt aus dem späten 10. Jahrhundert und ist in der British Library erhal­ ten. Anhand der neu entdeckten Genesis­Bruchstücke, insbesondere des ersten, das den Versen 790–817 der altenglischen Genesis B entspricht, konnten einige sprach­ liche Vergleiche gezogen werden, die Rückschlüsse auf die Übersetzungsweise aus dem Alt­ in das Westsächsische zulassen. Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, die These in allen Einzelheiten hier aufzuführen. Doch lässt sich daraus zumindest eine Schlussfolgerung ziehen, die zur Aufklärung der Verfassungsumstände der Genesis B beiträgt. Ihr neuester Herausgeber, Doane, geht, wie andere Forscher auch, davon aus, dass der altsäch­ sische Quellentext der Genesis B etwa aus dem Jahr 850 stammt.5 Es erscheint ihm wahrscheinlich, dass der westfränkische Kaiser Karl der Kahle (reg. 843–877), Sohn Ludwigs des Frommen (reg. 814–840), die altsächsische Genesis – „composed in a recently renewed Saxon poetic medium and combined with the Heliand in a royal edition“ – in Auftrag gegeben hat, um möglichst viele karolingische Höfe damit aus­ statten zu können. Raw hat bereits die These aufgestellt, dass sich die die Genesis B betreffenden Illustrationen in MS Bodley Junius 11 wohl aus dem Tours zu Zeiten Karls des Kahlen herleiten lassen; auch sie legen also die Vermutung nahe, dass viele von diesen Bibeln etwa 850 auf Anordnung Karls abgeschrieben worden sind.6 Einige Jahre später fiel ihm wohl eine dieser Bibeln als geeignetes Heiratsgeschenk für einen neuen Schwiegersohn ein. Beim Ehemann von Karls zwölfjähriger Tochter Judith han­ delte es sich um den grauen König Æthelwulf den Westsachsen (reg. 839–858), Vater des sechsjährigen Alfred, der auch in seinem Gefolge war. Æthelwulf und seine Leute 2 Sievers 1875. 3 Knight Bostock 1976, S. 183 f. Altsächsische Bibeldichtung (Zangemeister / Braune [Hg.] 1894). 4 Knight Bostock 1976, S. 169–178; Murphy 1989, S. 11–28, insbes. S. 13. 5 Genesis B (Doane [Hg.] 1991), S. 52 ff. 6 Raw 1976, S. 139 ff., 148.

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waren 855 aus Rom zurückgekommen, und der König beabsichtigte, mit Judith als karolingischer Ehefrau im Triumph nach England zurückzukehren.7 Doanes Meinung nach wurde damals auf Karls Anordnung hin die neue altsächsische Genesis dem langen und schon eine Generation zuvor verfassten Heliand­Gedicht vorangestellt, um diesem Westsachsenkönig eine herrliche und nahezu in Muttersprache verfasste Bibel schenken zu können. Im späteren Verlauf des 10. Jahrhunderts wurde infolge­ dessen in England ein neuer altsächsischer Heliand­Text, der heute BL MS Cotton Caligula A.vii genannt wird, von einem Schreiber von vielleicht niederfränkischer Herkunft abgeschrieben.8 Besonders in Bezug auf die Genesis B verraten uns der Wortschatz und die Morphologie des Textes von Junius 11, dass spätestens um etwa 900 ein Westsachse den erwünschten Abschnitt aus der altsächsischen Genesis über­ tragen hat, als er diesen in die ältere und echte altenglische Genesis miteinbezog.9 Die eingeschobene Genesis B beginnt mit zwei langen Versen, in denen Gott das erste Ehepaar Adam und Eva anweist, vom einzigen bösen Baum und dessen Frucht Abstand zu halten (V. 235–236). Das Gedicht fährt mit neun kürzeren Versen über deren unschuldigen Gehorsam und die Himmelfahrt Gottes fort (V. 237–245). Dann führt der Schreiber eine neue, von ihm mit der Nummer VI versehene Abteilung ein, in der sich der Erzähler zurückzieht, um uns von den zehn bereits von Gott erschaffe­ nen Engelschören zu berichten (ab V. 246). Seine Erzählung kehrt erst nach fast 200 Versen über den Teufel zum Ehepaar im Paradies zurück. Der lichttragende Erzengel erliegt zuerst der Versuchung, mit einer Rede, in der er sich zu einem neuen Gott erklärt und seinen Anhängern Neubauten im Nordwesten verspricht (V. 278–291). Daraufhin wirft Gott die Rebellen aus dem Himmel in die Hölle und benennt ihren Führer in ‚Satan‘ um. Nach einem umfangreichen Kommentar des Erzählers beginnt eine zweite Ansprache des Ex­Erzengels, in der sein Hochmut der Verzweiflung weicht. Er beschreibt die Landschaft und das Wetter in der Hölle, stellt sich unver­ mittelt als völlig gefesselt dar und beschreibt den neuen Wettstreit mit Adam. Dem aus Lehm geschaffenen Adam wird nämlich jetzt das Recht am ehemaligen Eigen­ tum Luzifers im Himmel übertragen. Der Ex­Erzengel sucht deswegen erbittert nach einem Freiwilligen, der seine Niederlage durch Adam und Eva rächen kann. Seine Rede wird unterbrochen (V. 356–441), da ein Blatt mit der ganzen Abteilung X aus der Handschrift herausgefallen ist. Im früher erhaltenen Text aber verspricht Satan jedem freiwilligen Rächer eine gleichberechtigte Stellung neben ihm in der Hölle. Die verschollenen Verse scheinen von einem Freiwilligen zu berichten, denn am Anfang der Abteilung XI setzt dieser zweite Teufel einen Helm auf und fliegt zum Paradies (V. 442 f.).

7 Enright 1979, S. 291–293; Nelson 1992, S. 182. 8 Genesis B (Doane [Hg.] 1991), S. 54. Die andere Haupthandschrift (Monacensis, Cgm. 25) ist in Mün­ chen erhalten. Vgl. Knight Bostock 1976, S. 168 f. 9 Genesis B (Doane [Hg.] 1991), S. 51, 56. Rauch 1993, S. 182.

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Darauf folgt in den übrigen zwei Dritteln der erhaltenen Genesis B der Sünden­ fall. Diese Erzählung ist wieder im Paradies inszeniert und behandelt den namenlo­ sen Teufel sowie das erste Ehepaar (V. 454–851). Zwischen Adam und Eva stehen die zwei Bäume des Guten und des Bösen. Der eine trägt gute Früchte, der andere böse. Einerseits gibt es den schönen Lebensbaum, der einem ein langes Leben im Himmel beschert, andererseits den schwarzen Todesbaum, der einen in die Hölle bringt. Hier besetzt der Teufel für die Dauer seines Aufenthalts im Garten Eden rasch den Körper einer unschuldigen Schlange.10 Er wickelt sich um den Todesbaum herum und pflückt eine der bösen Früchte, die er dem ‚Handlanger des Himmelskönigs‘ sogleich anbietet. Damit bezeichnet der Dichter Adam, der zu einer Seite des Baumes steht. Der Lügner fragt ihn zuerst, ob er von Gott dort oben etwas mehr verlange. Er sei der Abgesandte Gottes, erst vor Kurzem habe er selbst beim Himmelsvater gesessen. Durch ihn befehle Gott Adam, den Apfel zu essen, um seine Kräfte zu steigern und Reichtümer zu erringen. Adam habe diese Ehre verdient, da er dem Himmelskönig immer gehorcht habe. Obwohl der Vater nicht persönlich hierhergekommen sei, sagt die Schlange, habe Er Seinen Boten nach unten gesandt, um Adam seine Belohnung zu gewähren. ‚Also genieße das Obst‘, sagt die Schlange. Die Aussage dieses Boten, der dem Gedicht zufolge und den Illustrationen von Junius 11 zum Trotz noch als Schlange fungiert, ist überdeutlich.11 Dennoch lehnt Adam das Angebot ab und ver­ weist darauf, Gott habe ihn persönlich vor dem Todesbaum gewarnt. Adam zufolge habe der Herr gesagt, es warte die Hölle auf denjenigen, der von der Frucht koste. Adam sagt, er wisse nicht, ob der Unbekannte lüge. Er sei anders als die Engel Gottes, die er zuvor gesehen habe. Weiter sagt Adam, der Fremde könne nichts zum Beweis der Wahrheit seiner Worte vorlegen. Deshalb wolle er den Boten nicht mehr länger anhören und empfehle ihm, sich sofort von dannen zu machen. Daraufhin dreht sich der Teufel wütend zu Eva um und sagt, Gott werde ihr und ihrem Mann zürnen, sobald Er höre, Er müsse Selbst aus dem Osten zu ihnen reisen. Eva habe nun die Chance, einen klugen Entschluss zu fassen, indem sie bedenke, wie sie sich und Adam vor Ungemach bewahren könne. Wenn sie nur das Obst esse, werden ihr sofort die Augen geöffnet, sodass sie weit über die Welt sehen könne, selbst den Thron ihres Herrn, und dass Seine Huld ihr fortan sicher sei. Wenn sie Adam von dem, was sie sehen werde, berichte, werde es ihr gelingen, ihren Mann zu lenken. Adam werde dann ihren Worten vertrauen und dem neuen Befehl gehorchen. So werden sie dem Zorn Gottes entgehen, und der Abgesandte werde darauf verzich­ ten, Ihn von den argen Worten ihres Mannes zu unterrichten. Obwohl Adam sie nicht als Engel erkenne, sagt die Schlange, sei sie einer und wirklich keinem Teufel gleich. So verführt der Teufel Eva mit Lügen, bis in ihrem Innern die Einflüsterung des Wurmes heranreift. Während Eva dann die verbotene Frucht vom Todesbaum nimmt

10 Genesis B (Doane [Hg.] 1991), S. 281, Anm. zu V. 491 f. Schottmann 1974, S. 4 f.; Kelly 1997, S. 123 f. 11 Deswegen wieder in Engelsgestalt, nach Schwab 1975, S. 42; Raw 1976, S. 141.

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und isst, beklagt der Dichter diesen schlimmen Irrtum, indem er sagt, es sei micel wundor (‚ein mächtiges Wunder‘, V. 595), dass Gott dulde, dass die Menschheit durch solche Lügen verleitet werde. Plötzlich scheinen in den Augen Evas die Welt und der Himmel viel heller. Der Teufel erinnert sie daran, wie sie diese neue Sicht erhalten hat. Sie soll auch Adam mitteilen, über welche neuen Kräfte sie verfügt, seit sie den Wunsch des Engels erfüllt hat. Ebenso viel des guten Lichtes wolle er ihm schenken, sobald er dem neuen Befehl Gottes gehorche. Und so tritt Eva mit zwei Äpfeln des Todesbaums zu Adam hin: Der eine liegt ihr am Herzen, der andere in der Hand. Eva sagt, der Bote müsse von Gott gesandt sein, da seine Kleider so schön seien. Es sei besser, die Huld dieses Abgesandten zu gewinnen als seinen Hass und seine Feind­ schaft. Auch sagt Eva, sie sehe durch ihre erweiterte Sicht den Schöpfer im Südosten, wo Er mit Seinen Engeln, die in Federkleidern um Ihn wandeln, im Himmel sitze. Obwohl dieses erste und allerschönste Weib Adam bittet, den Apfel zu essen, leistet er ihr einen ganzen Tag Widerstand. Dieser wird kaum schwächer, als der Teufel im Mann die fleischliche Lust entfacht. Endlich erreicht Eva ihr Ziel: Adam gibt nach, und seine Neigung wächst, sich ihrem Willen zu beugen und vom Obst zu essen, obwohl sowohl ihm als auch seinen Nachkommen Hölle und Tod drohen. Kaum hat Adam in den Apfel gebissen, ist das Spiel aus. Die vorübergehend erweiterte Sicht Evas verschwindet, der Teufel lacht höhnisch und überbringt seinem tief unten gefesselten Führer die Nachricht, er habe jetzt seinen Willen erfüllt und somit seine Gunst erwirkt. Von nun an seien die Men­ schen als Sklaven der Hölle zugedacht und dem kleineren Teufel sei dort neben Satan ein besonderer Platz sicher. Sodann verschwindet der Teufel, das bisher milde Wetter verschlechtert sich und die Stammeltern ergeben sich bußbereit dem Herrn, noch bevor Er von ihrer neuen Lage erfahren hat. Adam verstößt Eva, versöhnt sich jedoch wieder mit ihr, als sie ihm gegenüber ihr Leid zum Ausdruck bringt. Das erste Ehepaar bekleidet sich daraufhin notdürftig mit Blättern aus den Bäumen eines Waldes, in dem sie voller Angst vor dem zornigen Herrn und vor der drohenden Zukunft vonein­ ander getrennt sitzen.

2 Mögliche Quellentexte Dies ist der Verlauf der Erzählung in der Genesis B. Heutigen Forschern bleibt nicht verborgen, dass dieses Gedicht vor allem drei Hauptmotive aufweist, die es von der traditionellen, wenn auch fast komisch­lakonischen Genesis­Erzählung der Bibel stark unterscheiden: Erstens wird Satan sofort gefesselt und somit gezwungen, einen Stellvertreter nach oben zu schicken, um das erste Ehepaar zu verführen; zweitens kommt dieser kleinere Verführer im Garten Eden zuerst auf Adam zu, bevor er das gleiche Ziel bei Eva zu erreichen versucht; drittens werden die Menschen dem Herrn gegenüber gleich bußbereit, sobald die Illusion der erweiterten Sicht von ihnen

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weicht, der Teufel lacht und beide erkennen, dass sie getäuscht worden sind.12 Anhand der verfügbaren Quellentexte des frühen 9.  Jahrhunderts lassen sich diese drei Abweichungen im Verlauf des Narrativs kaum erklären. In der Forschung hat sich die Annahme durchgesetzt, die Textgrundlage der Genesis­Dichtungstradition stamme aus Jes. 14.12–15 sowie aus dem von Augustinus etwa 391 geschriebenen De Genesi ad Litteram, in das die Geschichte von den rebellierenden Engeln und vom Sündenfall zuerst eingeflossen ist.13 Auch wird allgemein angenommen, dass der Dichter mit der lateinisch­christlichen Literatur vertraut war. Die augustinische Erzählung wurde schon vor der Zeit des Dichters im von Beda Venerabilis verfassten Hexaemeron aus dem frühen 8. Jahrhundert, in den Interrogationes et Responsiones in Genesim von Alkuin (ca. 785) und im Commentariorum in Genesim Libri Quattuor von Alkuins Schüler Rabanus Maurus (ca. 810) in Fulda als weiterführender Teil der Exegese genutzt.14 Der große Einfluss dieser späteren Exegeten auf die frühe Kir­ chenkultur Deutschlands lässt sich ohne Schwierigkeiten erkennen. Dasselbe gilt für einen praktischen, nicht­theologischen Deutungsansatz der Sünde, der in diesen Texten bereits erkennbar ist. Doch fehlt nicht nur ein erhaltener Text mit einem Grundriss für die Gesamter­ zählung der Genesis B, sondern auch irgendeine Gewissheit darüber, dass sich der Dichter für seine lateinischen Quellen auf mehr als die Bibel selbst verlassen hat.15 Eine Gesamtquelle für das Gedicht gibt es auf jeden Fall nicht. Die Einzelheiten von Evas Verführung, nach der sie den gesamten Kosmos überschaut, hat Evans glaub­ haft auf die Heptateuchos des Dichters Cyprianus Gallus (bl. ca.  397–430) zurück­ verfolgt.16 Richtig ist auch die Annahme, der Dichter sei mit einem Genesis­Werk des Bischofs Alcimus Avitus von Vienne (ca.  450–518) vertraut gewesen, d. h. mit den ersten drei Büchern seiner fünfteiligen Carmina de Spiritalis Historiae Gestis.17 Obwohl diese Fragestellung bis zum heutigen Tag in der Forschung ausgiebig dis­ kutiert wird, besteht lediglich ein Konsens darüber, dass der sächsische Dichter sich für die Anordnung seiner Erzählung irgendwie auf den virgilianischen Avitus stützt, indem er den Sündenfall im Paradies einer (wenn auch kurzen) höllischen Rebel­ lenrede von Satan folgen lässt und indem er den Verführer anschließend enthüllt und diesen eine Siegesrede vortragen lässt.18 Die Eva der Genesis B weist außerdem eine gewisse Ähnlichkeit zur Beschreibung bei Avitus auf, da sie den wohl noch als Schlange verkleideten Boten für scīene (‚schön‘) hält (V. 656). Denn auch bei Avitus

12 Evans 1963, S. 120 ff. 13 Bibel (Colunga / Turrado [Hg.] 1985), S. 690. Hill 1976, S. 7; Bonner 1997, S. 22; Kelly 1997, S. 121 f. 14 Evans 1963, S. 4. 15 Berthold 1925. 16 Evans 1963, S. 10, 12. 17 Avitus (Nodes [Hg.] 1985; Shea [Übers.] 1997). Sievers 1875, S. 17–22; Evans 1963, S. 12–16; Schwab 1975, S. 21–77. Dagegen: Berthold 1925, S. 394–401. 18 Avitus (Nodes [Hg.] 1985), S. 5 f., 32 (II.42 ff.); Shea (Übers.) 1997, S. 81, 89.

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sieht die Schlange schön aus: profert terribilis metuendum forma decorem (‚seine grauenvolle Gestalt zeigt eine erschreckende Pracht‘, II.131).19 Ebenso auffällig als mögliches Quellenindiz ist der spätere Wunsch des gefallenen Adam, in Wasser sterben zu dürfen (V. 780–783, 828–835), was zum Teil mit einer ähnlichen Aussage Adams in Avitus’ Carmen (III.32–40, 66 f.) übereinstimmt.20 Was die weiteren Vergleiche betrifft, lässt sich weiterhin annehmen, dass die direkt nach seiner Rebellion erfolgte Fesselung Satans wohl auf zwei metaphorisch gedeutete Briefstellen des Neuen Testaments, 2 Petr. 2.4 und Jud. 6, zurückgeht. Letz­ tere fügt sich besser in den Kontext: angelos vero, qui non servaverunt suum principatum, sed delinquerunt suum domicilium, in iudicium magni diei, vinculis aeternis sub caligine reservavit.21 (die Engel aber, die ihrem Königreich nicht dienten, sondern ihre Heimat verließen, die hat Er im Gericht des großen Gottes in ewigen Ketten in der Finsternis bewahrt.)

Das Evangelium Nicodemi berichtet gemäß der frühmittelalterlichen Überlieferung für gewöhnlich, diese Fesselung fände erst statt, als Christus in seiner Höllenfahrt den Satan überrascht. Dies entspricht auch dem Verlauf der Geschichte in anderen Texten, wie Christ and Satan – einem Text, der sich am Ende der Handschrift Junius 11 befin­ det.22 Im Zusammenhang aber mit Genesis B, in der Satan sich direkt nach seinem Sturz als gefesselter Häftling wiederfindet, bereitet das Motiv einige Probleme. Daher wird dieser Erzteufel sowohl von Chaney als auch von Woolf eher mit dem nordischen Loki in Verbindung gebracht.23 Die Asen fesseln Loki bis zum Weltende in einer unter­ irdischen Höhle, weil er zumindest der Lokasenna und der Gylfaginning zufolge Anteil am Tod des schönen Baldr hat. Auf diese Gleichsetzung mit Loki wird später noch zurückgekommen. An dieser Stelle bleibt festzuhalten, dass es zwar schwierig, aber der Mühe wert sein könnte, gerade den Satan der Genesis B mit Loki zu vergleichen. Dass im Paradies ein zweiter Teufel die Verführung ausführen kann, ist darüber­ hinaus in der altenglischen Dichtung, in der Juliana von Cynewulf aus Mercien vom 9.  Jahrhundert, zu finden. Bei Cynewulf, der seine Erzählung von einer Heiligenle­ gende mit anderem Ausgang ableitet, gibt es einen weiteren Teufel, der sich im Kerker St. Julianas als ein als Engel verkleideter Teufelsbote erweist. Zuerst stellt er sich als Bote Gottes mit Kapitulationsbefehl vor, später jedoch gesteht er, dass er Adam und Eva gelǣrde / þæt hī lufan dryhtnes, ēce ēadgiefe ānforlēton (‚lehrte, dass sie des Herrn Liebe, die ewige Wohltatsgabe, zusammen verließen‘, V. 501 f.). 19 Avitus (Nodes [Hg.] 1985), S. 35; Shea (Übers.) 1997, S. 83: „his terrible shape bears a frightening beauty“. 20 Avitus (Nodes [Hg.] 1985), S.  48 f.; Shea (Übers.) 1997, S.  90. Dagegen bemerkt Berthold (1925, S. 397–401) die Parallele, hält sie aber für zufällig. 21 Bibel (Colunga / Turrado [Hg.] 1985), S. 1180 (vgl. 2 Petri 2.4 [S. 1174]). 22 Biggs 2007, S. 31. 23 Woolf 1953, S. 2; Chaney 1960, S. 205.

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Wenn später von der ersten Versuchung Adams durch den Teufel in der Genesis B die Rede ist, bezieht sich der Dichter möglicherweise auf eine Exegese des ersten Briefs Timotheus (1 Tim. 2.14), in dem der Apostel Paulus sagt: et Adam non est seductus: mulier autem seducta in praevaricatione fuit (‚Und Adam ward nicht verführt, das Weib aber ward durch ihre Ausflucht verführt‘).24 Auch als soziales Produkt der karo­ lingischen Gesellschaft hat sich die vorrangige Ansprache Adams in der Genesis B erklären lassen, obwohl hier zu beobachten ist, dass er als zuerst Angesprochener in den wohl aus Tours hergeleiteten Illustrationen in Junius 11 gar nicht erscheint.25 Man darf jedoch annehmen, dass die Einbeziehung Adams dem Verführer Evas zwei Argu­ mente gibt, die ihm früher gar nicht zur Verfügung standen: die Schadensbegrenzung und den Beweis seiner Macht als Engel Gottes durch die Gabe, mit der sie ihren Mann überzeugen können soll. Die Frage zielt demnach nicht auf Adams sozialen Anteil, sondern auf jenen von Eva ab. Die neue Konstellation entlastet schließlich die Frau von der Einzelschuld der Erbsünde, die ihr aufgrund der von Augustinus hergeleite­ ten Annahme eines sinnlichen und daher schwächeren Verstandes häufig angelastet wurde.26 Das dritte Hauptmotiv, in dem das Gedicht abweicht, betrifft die Bußbereitschaft der Stammeltern.27 Schottmann assoziiert sie mit den täglichen pastoralen Pfarrbe­ dingungen der neuchristlichen Gemeinden Norddeutschlands.28 Die konventionelle, d. h. augustinische Exegese, die auch im Carmen des Avitus deutlich wird, enthält ein Motiv, in dem der Irrtum von Adam und Eva im Garten den Hochmut Satans in der Hölle widerspiegelt.29 Im Gegensatz dazu geht es in der Genesis B um Unglück und begrenzte Kenntnis.30 Diese Lage lässt sich mit der weltlichen Situation der Sachsen vergleichen. Da die Heilslehre des frühen 9. Jahrhunderts Aberglauben und die Gefahr eines Rückfalls in die Sündhaftigkeit in den Mittelpunkt rückte, hatte der Dichter handfeste Gründe, den Hochmut der biblischen Stammeltern aus seiner Version zu tilgen. Seine Genesis hätte er keineswegs unpolitisch verfassen können. Es scheint in diesem Zusammenhang, d. h. im kirchlichen Milieu des frühen 9. Jahr­ hunderts, als ob die Geschichte von Adam und Eva eher eine Orientierungshilfe für schwankende Christen bieten sollte. Ebenso wird in der irgendwann zwischen 788 24 Bibel (Colunga/Torrado [Hg.] 1985), S. 1150. 25 Evans 1963, S. 120; Raw 1976, S. 141. 26 Vgl. Langeslag 2007. Hierzu auch Berthold 1925, S. 385, 392; Evans 1963; Hill 1975, S. 287 ff.; Bonner 1997, S. 27. Dagegen: Hentschel 1935, S. 61–64; Woolf 1963, S. 196 f.; Vickrey 1969, S. 96–99; Vickrey 2015, S. 4–23. Die Wörter hæfde hire wācran hige Metod gemearcod (V. 590–591) bedeuten erst ‚ihr hatte der maßbestimmende Herr einen schwächeren Entschluss erstellt‘; dasselbe gilt für hyge Euan, / wīfes wāc geþōht (‚Evas Entschluss, die schwache Absicht einer Frau‘, V. 648 f.). Eva sieht hier mindestens ebenso intelligent aus wie ihre schlimmere Hälfte; vgl. North 1991, S. 93–97. 27 Langeslag 2007, S. 117. Vgl. Evans 1963, S. 15. 28 Schottmann 1974, S. 10. 29 Kelly 1997, S. 123. 30 North 1991, S. 96 f.; Langeslag 2007, S. 115.

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und 811 geschriebenen Vita Vulframni berichtet, dass eine trügerische Erscheinung bzw. ein als Engel getarnter deceptor hominum diabolus (‚menschentäuschender Teufel‘), eigentlich sevissimus draco (‚ein höchst wilder Drache‘), den etwa 719 gestor­ benen Friesenherzog Radbod kurz vor seinem Tod davon abhielt, den christlichen Glauben anzunehmen.31 Auf diese Weise darf man das Motiv der Bußbereitschaft in der Genesis B mit einer ersten Versuchung Adams in Beziehung setzen. Mit beiden Motiven wird die Schwere der Erbsünde der Stammeltern vermindert, da Adam und Eva gleichermaßen als unschuldige Opfer des Engelsturzes zu betrachten sind. Sofern davon ausgegangen werden kann, dass das Original im altenglischen Text nachhallt, erzählt der Dichter die Geschichte mit besonderem Mitgefühl für Eva, und zwar mit einigen emotionalen Erläuterungen, die er wie ein tragischer Chor ab und zu wiederholt, als schreibe er seine Geschichte als Theaterstück für einfache Leute. Auch Bischof Avitus erlaubt sich persönliche Zwischenrufe, lässt Eva gegenüber aber keine Gnade walten.32 Hier darf man die Frage stellen, ob sich die Genesis B, wie Schott­ mann gefolgert hat, als Gedicht eines Geistlichen auffassen lässt, der hier ein stärker pastorales Anliegen zum Ausdruck bringt.33 Im Hinblick auf die Zeit der Abfassung (etwa 850) dürfte es sich bei den von den Franken und adligen Sachsen unterdrückten Zuhörern dieses Gedichts um Christen gehandelt haben, die vom Heidentum politisch nicht getrennt waren. Dafür lassen sich Beweise in Form von Textbelegen Utrech­ ter Ursprungs erbringen, die in Zusammenhang mit der angelsächsischen Mission stehen.34 Beim ersten Text handelt es sich um ein Taufgelöbnis in fol. 2–11 der Vati­ kanischen Handschrift Codex Paulatinus Latinus 577, die ca.  800 wohl in Hersfeld (möglicherweise auch Mainz oder Fulda) kompiliert wurde. Nach dem Taufgelöbnis gibt es in fol. 6v–7r einen zweiten Text, der Indiculus superstitionum et paganiarum (‚Tabelle der Aberglauben und zwar der heidnischen‘) heißt und genau darauf hin­ weist, dass die Priester die Altsachsen immer noch anwiesen, Thunaer ende Uuoden ende Saxnote ende allum them unholdum the hira genotas sint (‚Thunaer und Wôden und Saxnôt und all denjenigen bösen Geschöpfen, die deren Genossen sind‘) abzu­ schwören. Man darf davon ausgehen, dass schon als Kinder die ersten Zuhörer der as. Genesis einheimische Erzählungen sowohl von Þórr als auch von Óðinn und den übrigen Göttern gehört hatten.35 Man hält es auch immer noch für richtig, dass die von der römischen Kultur zuvor nie berührten Sachsen „in anderen politischen, religiösen und kulturellen Struktu­ ren organisiert waren als die Franken“.36 Letzteren blieb nicht verborgen, dass die

31 Vita Vulframni (Levison [Hg.] 1905), S.  699 f., (Kap.  10). Halbertsma 1982, S.  573 (Datierung), S. 599 ff. 32 Vgl. Avitus (Shea [Übers.] 1997), S. 21, 83. 33 Schottmann 1974, S. 10 f. 34 Mostert 2013, S. 94–99. 35 Mostert 2013, S. 96 f. Vgl. Sächsisches Taufgelöbnis (Boretius [Hg.] 1883), S. 222 f. 36 Ubl 2015, S. 44.

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nördlichen Untertanen ihre Eigenkultur immer hoch schätzten. Von 772–785 und dann um 793, 795, 797, 803–804 rebellierten die Sachsen fast jährlich.37 Als zweiten Beweis für ihre unsterbliche Göttertreue lassen sich die Wünsche der einfachen Leute selbst anführen: Drei Generationen nachdem ihr Freiheitskämpfer Widukind 785 vor Karl dem Großen kapituliert hatte, baten ca. 840 die in Sachsen rebellierenden Stellinga (frilingi und lazzi, d. h. die zwei Unterschichten) ihren fränkischen Herrn Ludwig den Frommen um das Recht, die alte Religion ausüben zu dürfen: ut Saxonibus qui Stellinga appellantur, quorum multiplicior numerus in eorum gente habetur, optionem cuiuscumque legis vel antiquorum Saxonum consuetudinis, utram earum mallent, concesserit; qui semper ad mala proclives magis ritum paganorum imitari, quam christianae fidei sacramenta tenere delegerunt.38 (dass er den Sachsen, die Stellinga heißen und in ihrem Volk recht zahlreich sind, die Möglich­ keit dazu einräumen sollte, zu wählen, welche Rechte oder Bräuche der Altsachsen sie lieber hätten; zum Bösen sind sie geneigt und haben immer lieber die Riten der Heiden nachgeahmt, als die Sakramente des christlichen Glaubens eingehalten.)

So schlimm erschien zumindest den Franken die Lage. Anders gesagt musste die Kirche zur Verfassungszeit der altsächsischen Genesis noch auf viele der sächsischen Bauerngemeinden ihren Einfluss geltend machen. Deshalb mögen die bekannten Eigentümlichkeiten dieser Genesis weniger hetero­ dox erscheinen. In der Genesis B, für die keine lateinisch­christliche Einzelquelle nachweisbar ist, befinden sich drei Abweichungen: der in der Hölle gefesselte Erzteu­ fel, der einen Stellvertreter sendet, Adam als zuerst Angesprochener und die spätere Bußbereitschaft der Stammeltern. Wenn man hierfür eine oder mehrere nicht lateini­ sche Quellen sucht, darf man mit Berthold folgern, die Eigenart des Dichters bestehe „nicht so sehr im Hineintragen persönlicher Züge wie im Anpassen des gegebenen Stoffs an Denkweise, Empfinden und Kulturstand seines Stammes“.39 Und geht man mit letzterer Behauptung ein Stück weiter, erkennt man unweigerlich sofort die Par­ allelen zu nordischen Quellen, die auf die Existenz von ähnlichen, aber heute verlo­ renen Mythen der Sachsen verweisen mögen. Altnordische Textbelege gibt es zwar genug, doch müssen sie einer Überprüfung standhalten, in der die ganze erhaltene sächsische Genesis mitberücksichtigt wird. Die Parallelen beschränken sich nicht allein auf die Loki­Figur, betrachtet man Loki als Schlüssel zu den Eigentümlichkei­ ten des Gedichts. Wenn hier ein weiterer nordischer Vergleich gewagt werden darf, müssen neben Loki auch Þórr, Iðunn und Óðinn näheren Betrachtungen unterzogen werden. 37 McKitterick 1983, S. 61 ff.; Murphy 1989, S. 16–26. Von Schwab (1974, S. 58 f.) wird das Gedicht mit den gleichzeitigen politischen Ereignissen verglichen. 38 Prudenti Trecensis Annales (Pertz [Hg.] 1826), S. 437 f. (siehe auch S. 841). Vgl. Reuter 1991, S. 66 f. Hierzu auch Goldberg 1995, S. 474 f. 39 Berthold 1925, S. 401.

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3 Der kleinere Teufel und Loki Loki, der nordische Gott oder Dämon, entspricht fast perfekt dem zweiten Teufel der Genesis B, wenn auch Loki wegen seines wechselhaften Wesens einige Schwierig­ keiten mit sich bringt. Wenn heute über die altnordische Figur in der Forschung ein Konsens besteht, dann der, dass Loki eine solche Vielfalt mythischer Funktionen hat, dass er als einzelne Figur kaum in Gänze erklärbar ist. Man hat ihn schon verschie­ dentlich als Feuerdämon, Wind­ oder Himmelsgott, Trickster, Kulturheros oder Welt­ verderber bezeichnet.40 Jedoch vermag keine dieser Bezeichnungen gänzlich zufrie­ denzustellen, sodass sich die übrigen weder ganz noch teilweise ausschließen lassen. Die Hauptdefinition verdanken wir dem isländischen Historiker und Mythenerzähler Snorri Sturluson (1179–1241), der etwa 1225 in seiner Gylfaginning (Kap. 33) über Loki schreibt: Sá er talðr með ásum, er sumir kalla rógbera ásanna ok frumkveða flærðanna ok vǫmm allra goða ok manna. Sá er nefndr Loki eða Loptr, sonr Fárbauta jǫtuns. […] Loki er fríðr ok fagr sýnum, illr í skaplyndi, mjǫk fjǫlbreytinn at háttum. Hann hafði þá speki um fram aðra menn, er slœgð heitir, ok vélar til allra hluta. Hann kom ásum jafnan í fullt vandræði, ok opt leysti hann þá með vélræðum.41 (Der ist noch zu den Asen gezählt, den einige Verleumder der Asen und Urheber von Betrug und einen Schandfleck aller Götter und Menschen nennen. Der wird Loki oder Loptr genannt, Sohn des Riesen Fárbauti. […] Loki ist fein und schön im Aussehen, schlecht im Charakter, sehr veränderlich im Verhalten. Er hatte die Kenntnis anderen voraus, die Verschlagenheit heißt, und täuscht in allen Angelegenheiten. Er brachte die Asen ständig in große Schwierigkeiten, und oft löste er sie mit List.)42

Was die Vielfalt der Rollen angeht, ist man sich in der Forschung überraschender­ weise einig. Auch wenn Loki nichts mit Feuer zu tun hat, was trotz der Formähn­ lichkeit zu aisl. logi (‚Flamme‘) vielfach angenommen wird, muss zugegeben werden, dass Loki durch den Himmel fliegt, mehrmals das Geschlecht wechselt, Riesen und Götter gleichermaßen betrügt, andererseits sowohl diesen als auch der Menschheit die Hölle, den kosmischen Wolf Fenrir, die Midgardschlange und das Pferd Sleipnir zur Verfügung stellt und sowohl häufig die Ordnung der Welt als auch schlussendlich die Welt selbst verdirbt, als er in den Ragnarǫk zu ihrer Zerstörung beiträgt.43 Beson­ ders diese letzte Rolle Lokis erscheint auch aufgrund der zweiten Ablautklasse seines Namens, nämlich aus lúka (‚schließen‘), bestätigt. Das Substantiv Loki ist Nomen

40 Vgl. Liberman 1992, S. 141–145; Bonnetain 2013, S. 97–107, 133–135, 140–154. 41 Gylfaginning (Faulkes [Hg.] 1982), S. 26–27. 42 Übersetzung: Bonnetain 2013, S. 114. 43 Bonnetain 2013, S. 160–215.

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Agentis und bezieht dabei die Bedeutung ‚Beschließer‘ oder ‚Beendiger‘ mit ein.44 In Anlehnung daran lässt sich Lokis Rolle anhand der Genesis B neu hinterfragen. Meiner Meinung nach hat der norddeutsche Dichter der altsächsischen Genesis in der Mitte des 9. Jahrhunderts eine Loki­Figur gekannt und sie in seinem Werk als ‚Been­ diger‘ eingesetzt. So kann ein sächsischer Loki das irdische Paradies der Menschheit beenden, indem er Eva und Adam dazu bewegt, vom falschen Apfel zu essen. Diese Rolle ist Loki auf den Leib geschnitten. Möchte man demgegenüber den gefesselten Teufel der Genesis B mit einer anderen Figur vergleichen, muss man sich fragen, warum Chaney und Woolf ihn mit Loki gleichsetzen wollten. Satan erinnert insofern an den gefesselten Loki, als er die ihn einschließenden Ketten mit eigenen Worten beschreibt. Das Motiv der Fesselung taucht ganz unvermittelt im Gedicht auf und erscheint vor der Höllenfahrt Christi etwas eigentümlich. Dennoch soll dieser Satan auch an das Carmen von Avitus erin­ nern, das die gelehrte Etymologie des Namens Adam (‚Schlamm‘) enthält, sobald er seinen neuen Besitzrivalen, þe wæs of eorðan geworht (‚der aus Erde geschaffen wurde‘, V. 364), benennt, wobei dieselbe Bezeichnung (aus Hebr. adamah) bei Hie­ ronymus zu finden ist.45 Selbst Satans Sprachvermögen scheint gefangen gehalten zu werden, denn die erste Äußerung seines Wunsches zur Flucht wird mitten im Satz durch die Erwähnung von Ketten unterbrochen. Wenn er und sein Gefolge draußen nur eine Winterstunde stehen dürften: þonne ic mid þȳs werode – Ac licgað mē ymbe īrenbenda, rīdeð rācentan sāl. (V. 368–372) (dann ich mit dieser Schar – Doch um mich liegen Eisenbande umher, mich reitet ein Kettenkabel.)

Ihn haben demnach helle clommas / fæste befangen (‚der Hölle Klammern fest umfan­ gen‘, V. 373–374). Ein drittes Mal bezieht sich Satan nachdrücklicher auf seinen Zustand: Mē habbað hringa gespong, slīðhearda sāl sīðes āmyrred, āfyrred mē mīn fēðe, fēt synt gebundene, handa gehæfte. (V. 377–380)

44 Liberman 1992, S. 141 (vgl. S. 137–141): boði ‚Bote‘ (