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German Pages [379] Year 2019
2017
Jahrbuch für Biblische Theologie
Beten
32
Band
Jahrbuch für Biblische Theologie (JBTh) Herausgegeben von Irmtraud Fischer, Jörg Frey, Ottmar Fuchs, Katharina Greschat, Alexandra Grund-Wittenberg, Bernd Janowski, Ralf Koerrenz, Volker Leppin, Tobias Nicklas, Gabrielle Oberhänsli-Widmer, Uta Poplutz, Dorothea Sattler, Konrad Schmid, Andreas Schüle, Günter Thomas, Samuel Vollenweider und Michael Welker
Band 32 (2017) Beten
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Wissenschaftlicher Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9392 ISBN 978-3-7887-3258-5
Vorwort
Was christliches Beten ist, lässt sich nicht »erfinden«, sondern kann nur an der Praxis abgelesen werden, wie jüdische und christliche Gläubige gebetet haben und beten. Das Gebet spricht den Gott an, dessen Gesinnung aus der Erinnerung dieser Geschichten »bekannt« ist, einschließlich der Geschichten, in denen er seine Bekanntheit verliert. Unter »bekannt« sei also nicht ein undialektisch-lineares Erfassungswissen verstanden, sondern die Artikulation des Glaubens: Das Geheimnis Gottes ist für die Menschen nicht eine totale Unbekannte, sonst wäre es ausdrucks- und auskunftslos. Vielmehr gibt es nicht verdinglichende, aber entdeckbare Spuren seiner Identität (und Nicht-Identiät). Mit Menschen, die gefangen sind in der Spannung zwischen Gut und Böse, zwischen Gelingen und Scheitern, zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen Widerstand und Ergebung hat Gott eine, in der biblischen Botschaft zum Ausdruck gebrachte Begegnungsgeschichte angefangen, in der er in ständigen Anläufen versucht, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, sein Wort bei Ihnen ankommen zu lassen. Und zwar ein Wort, das inhaltlich in Verbindung mit Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, mit Versöhnung und Erlösung, aber auch mit Sühne und Leid erfahren wird. Indem Gott sich so den Menschen erfahrbar macht, hat er selbst den Menschen dieses sprachliche Niveau der Kommunikation zu sich eröffnet: auch als Kraftquelle und Halt für inhaltlich analoge zwischenmenschliche Solidarität. Biblisches Beten geht also davon aus, dass Gott mit Du angesprochen werden kann. Die kommunikative »Grammatik«, in der dies geschieht, ist durch die Gebetstradition der Bibel und der Kirchen gegeben. Jedenfalls zeigt sich darin eine generative Grundstruktur, die je nach Person, Situation und Kultur durchaus unterschiedliche Variationen auszubilden vermag. Was derart vorgängig ist, kann allerdings genauer angeschaut und geklärt werden, nicht zuletzt um von daher wieder für die Praxis des Betens neue Impulse und Einsichten zu geben. Dies ist schon deshalb möglich, weil sich das Beten in der Sprache ereignet und darin bis zu einem gewissen Grade auch lernbar ist. Dies zeigen die Frage der Jünger »Herr, lehre uns beten!« und die Antwort Jesu mit dem Text des Vater unser (vgl. Lk 11,2; Mt 6,9 – 13). Indem Beten in diesem Sinn eine Sprachhandlung ist, be-
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Vorwort
deutet es ein Tun. Gerade weil das Beten immer noch einmal umfangen ist von der das Beten ermöglichenden Gnade Gottes, ereignet es sich als ein Akt der Freiheit. Jede sprachliche Kommunikation ist von Grund auf gebrochen, denn das Zeichen vermag selten einen gewünschten Inhalt oder eine bestimmte Einstellung restlos authentisch und in der Fülle erfahrbar zu machen. Diese Spannung wird in schlimmen Situationen bis zum Zerreißen erlebt: wenn die Sprache versagt. Die Gebetstexte dürfen über diese Brüche und Leerstellen nicht hinweggelesen werden. Auch die Sprechakte der Gottespreisung können ins Schweigen des Staunens und der Anbetung münden. Derart gilt auch für das im Gebet erfasste sprachliche Gegenüber Gottes die Einsicht der analogen und negativen Theologie, insofern auch in diesem Gegenüber noch einmal das Geheimnis Gottes als radikale Andersheit zu gewärtigen ist. Dabei lassen besonders die Psalmen dem Menschen viel Raum, die eigene Situation detailliert und eindrücklich zu schildern, bis in die extremsten Ausdrucksformen hinein. Eine Verdrängung der Höhen und Tiefen menschlichen Lebens findet in der biblischen Spiritualität nicht statt. Die auffallende Länge der Passagen in den Psalmen, in denen der Mensch die eigenen Situationen und Projektionen vor Gott hinträgt, zeigt, wieviel Zeit man sich dafür im Gebet nimmt, die eigenen Erlebnisse und die damit verbundenen Gefühle und Fragen vor Gott zu bringen, und zwar in der eigenen Sprache. Danken nimmt schon in den Psalmen unseren Erfahrungen die Flüchtigkeit und den Schein, sie seien zufällig, verdient oder gekauft. Danken hält inne, blickt auf eine Begegnung, auf eine eigene Fähigkeit und Leistung zurück, bringt das alles noch einmal ins Blickfeld, um es als Geschenk zu erleben. In diesem Sinn danken wir auch den Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und wünschen intensive und bereichernde Leseerfahrungen auf diesen vielfältigen und spannenden Spuren des Betens. Tübingen
Ottmar Fuchs / Bernd Janowski
Inhalt
Altes Testament Bernd Janowski Die »Kleine Biblia«. Der Psalter als Gebetbuch Israels und der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alexandra Grund-Wittenberg »Gut ist’s, zu danken!« (Ps 92,2). Zum Danken als Grund und Ziel des Betens in den Psalmen am Beispiel von Ps 118
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.....
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Martin Leuenberger Fürbitte und Interzession im Alten Testament. Mit einer Konkretion: Erhörte Fürbitte – Jhwhs Reue in Am 7,1 – 6 und Ex 32,7 – 14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Neues Testament Lena Lütticke und Uta Poplutz Vom Beten im Matthäusevangelium
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Jörg Frey Vom Sinn-Raum der Schrift zur erfüllten Prophetie. Zur Psalmenrezeption in den Passionserzählungen der Evangelien . . . . 101 Michael Theobald Vom Unvermögen, richtig zu beten (Röm 8,26 f ). Beten »im Geist« nach Röm 8 und weiteren neutestamentlichen Zeugnissen . 129
Kirchengeschichte Michaela Puzicha OSB Gebet und Lebensführung. Die ›Frömmigkeit‹ der Benediktusregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
VIII
Inhalt
Matthias Mikoteit Beten mit dem Katechismus und der Bibel nach Martin Luther
. . 187
Systematische Theologie Matthias D. Wüthrich Klage und Ehre. Zur Verdrängung der Klage und ihrer Bedeutung für spätmoderne Formen der Ehre . . . . . . . . . . . . . . . 221 Günter Thomas Warum Psalmen beten? Dietrich Bonhoeffers christologische Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Christoph Sigrist Gebet und Zivilreligion
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
Praktische Theologie Ottmar Fuchs Doxologie: Anerkennung Gottes in der Differenz Reinhold Boschki Gebet und Schweigen
. . . . . . . . . . . . 291
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
Ulrike Bechmann Gemeinsam Beten? Auf der Suche nach ökumenischen und interreligiösen Feiern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
Register Bibelstellen (Auswahl)
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
Namen und Sachen (Auswahl) JBTh 1 (1986) – 34 (2019)
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
Altes Testament
Bernd Janowski
Die »Kleine Biblia« Der Psalter als Gebetbuch Israels und der Kirche Michael Welker zum 70. Geburtstag
1.
Ein Tempel aus Worten
Seit den Anfängen des Christentums ist der Psalter immer wieder durch Metaphern und Vergleiche charakterisiert worden, die seine besondere spirituelle Qualität hervorheben. So begegnet bei Athanasius (295 – 373 n. Chr.) in seinem berühmten Brief an Marcellinus die Auffassung, dass der Psalter ein »Spiegel« unserer Seelenregungen sei. »In der Tat«, so schreibt der Verfasser, »zusätzlich zu dem, was er (sc. der Psalter) mit den übrigen Büchern der Heiligen Schrift teilt und gemeinsam hat, besitzt er auch noch diese erstaunliche Eigenschaft, daß er die Regungen der Seele, ihre jeweilige Veränderung und ihre Hinwendung zu Gott in sich eingeschrieben und eingeprägt enthält, so daß, wer immer sie aus ihm wie aus einem Spiegel entnehmen und erkennen will, sich selbst so gestaltet, wie es in ihm beschrieben steht.« 1
Ähnliche Vorstellungen finden sich bei Augustin in Buch IX und X seiner Konfessionen oder bei Luther in seiner Zweiten Vorrede zum Psalter von 1528. In ihr hat er den Psalter als »kleine Biblia« bezeichnet, »darin alles aufs schönste und kürzeste, wie in der ganzen Bibel stehet, gefasset, und zu einem feinen Enchiridion oder Handbuch gemacht und bereitet ist« 2. Der Grund für diese Hochschätzung der Psalmen liegt nach Luther darin, dass er ein Spiegel der menschlichen Existenz und zugleich ein Zeugnis der »Gemeinschaft der Heiligen« ist. Daher kommt es, dass »ein jeglicher, in welcherlei Sache er ist, Psalmen und Wort drinnen findet, die sich auf seine Sache reimen und ihm so eben sind, als wären sie allein um 1 Athanasius, Brief an Marcellinus, Abschn. 10, zitiert nach H.J. Sieben, Ausgestreckt nach dem, was vor mir ist. Geistliche Texte von Origenes bis Johannes Climacus, Trier 1998, 155. An einer anderen Stelle nennt Athanasius den Psalter einen »Fruchtgarten«, aus dem der Mensch »Nutzen ziehen (sollte), wo immer er meint, etwas gebrauchen zu können« (175), vgl. Chr. Reemts, Schriftauslegung. Die Psalmen bei den Kirchenvätern (NSKAT 33/6), Stuttgart 2000, 29 f. 2 M. Luther, Zweite Vorrede auf den Psalter (1528), in: H. Bornkamm (Hg.), Luthers Vorreden zur Bibel, Frankfurt a. M. 64 – 69, hier: 65.
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Bernd Janowski
seinetwillen also gesetzt, daß er sie auch selbst nicht besser setzen noch finden kann noch wünschen mag« 3.
»Summa«, so fasst Luther seine Vorrede zusammen, ». . . willst du die heilige christliche Kirche gemalet sehen in lebendiger Farbe und Gestalt, in einem kleinem Bilde gefasset, so nimmt den Psalter vor dich, so hast du einen feinen, hellen, reinen Spiegel, der dir zeigen wird, was die Christenheit sei. Ja, du wirst auch dich selbst drinnen und das rechte Gnothi seauton finden, dazu Gott selbst und alle Kreaturen.« 4
Von vergleichbarer Bedeutung wie die Spiegelmetapher ist auch die Hausmetapher, d. h. die Vorstellung, dass der Psalter ein »großes Haus« (magna domus) mit Ps 1 und 2 als Eingangsportal und den Psalmen 3 – 150 als den »inneren Räumen« sei. Auch sie begegnet schon früh, nämlich bei Hieronymus (ca. 347 – 419 / 420), der in der Einleitung zu seinem Psalmenkommentar Ps 1 die »Haupttür« (grandis porta) nennt, die in das »große Haus« (magna domus) des Psalters hineinführt: »Der Psalter ist gewissermaßen ein großes Haus, das zwar einen Schlüssel für die Außentür hat, aber eigene Schlüssel für die verschiedenen inneren Räume. Mag auch der Schlüssel der Haupttür, der Heilige Geist, größer sein, so hat doch auch jeder Raum sein eigenes Schlüsselchen. Wenn also jemand die Schlüssel des Hauses durcheinander wirft, so kann er, wenn er einen Raum öffnen will, es nicht tun, außer er findet den Schlüssel. So sind die einzelnen Psalmen gewissermaßen einzelne Räume, die ihre eigenen Schlüssel haben. Die Haupttür dieses Hauses ist der erste Psalm.« 5
Das »große Haus« des Psalters ist aber ein Haus oder Tempel nicht aus Steinen, sondern aus Worten (templum spirituale), mit Ps 1 – 2 als weitem »Eingangsportal« (Hieronymus: grandis porta) und mit Ps 146 – 150 als klangvollem »Schlussstein«. Wer diesen »sprachlichen Tempel« 6 betritt, legt die 150 Einzelpsalmen und die in ihnen aufgereihten Stationen der Geschichte Israels meditierend den langen und beschwerlichen Weg von
3 Ebd., 68. 4 Ebd., 69. Auch J. Calvin nennt in seiner »Vorrede zum Psalmenkommentar« von 1557 den Psalter einen »Spiegel« (speculum): »Mit gutem Grund nenne ich das [Psalm]Buch eine Aufgliederung aller Teile der Seele. Denn jede Regung, die jemand in sich empfindet, begegnet als Abbild in diesem Spiegel«, zitiert nach E. Busch u. a. (Hg.), Calvin-Studienausgabe, Bd. 6: Der Psalmenkommentar. Eine Auswahl, Neukirchen-Vluyn 2008, 21. 5 Vgl. Reemts, Schriftauslegung, 23.34. 6 Zu diesem Ausdruck s. bereits R.G. Kratz, Die Tora Davids. Psalm 1 und die doxologische Fünfteilung des Psalters, ZThK 93 (1996) 1 – 34, hier: 34; E. Zenger, Der Psalter als Buch. Beobachtungen zu seiner Entstehung, Komposition und Funktion, in: ders. (Hg.), Der Psalter in Judentum und Christentum (HBS 18), Freiburg / Basel / Wien 1998, 1 – 57, hier: 47 f und ders., Psalmenforschung nach H. Gunkel und S. Mowinckel (VT.S 80), Leiden / Boston / Köln 2000, 399 – 435, hier: 434 f.
Die »Kleine Biblia«
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der Klage zum Lob zurück und begegnet auf ihm dem Königs- und Rettergott vom Zion, der sein Heil für den einzelnen, für Israel und die Völker, ja für die ganze Schöpfung wirkt. Ich will diese Metaphorik von »Haus« und »Weg« aufgreifen, um nach der spirituellen Qualität des Psalters zu fragen. 7 2.
Zur theologischen Architektur des Psalters
Um die theologische Architektur des Psalters zu beschreiben, gehe ich von dem bekannten Sachverhalt aus, dass Ps 1 und 2 das ›Tor‹ bilden, durch das der Beter oder Leser eintritt, um das »große Haus« des Psalters zu durchschreiten (1). Nach diesem Eingangsportal werden die ›inneren Räume‹ sichtbar, die sich – um im Bild zu bleiben – hinter den ›Türen‹ der einzelnen Psalmen, Psalmengruppen und Teilkompositionen auftun und dem Betrachter den Blick auf weitreichende Zusammenhänge – wie Lob und Klage, Leben und Tod, Scheol und Tempel, Kosmos und Chaos, David und Zion, Mythos und Geschichte oder Schöpfung und Erlösung – freigeben (2). Am Ende steht gleichsam als ›Schlussstein‹ das Finale Ps 146 – 50, in dem »aller Atem« (Ps 150,6) die Größe und Macht des Königsgottes vom Zion preist und so den Psalter pointiert und »klangvoll« abschließt (3). 2.1 2.1.1
Ps 1 – 2 als Tor zum Psalter Stichwort- und Motivverkettung
Wer den Psalter aufschlägt und bei Ps 1 8 zu lesen anfängt, stößt auf einen Text, der anders ist als die übrigen Psalmen. Denn er ist weder ein Gebet noch ein Hymnus, sondern eine Seligpreisung: »Glücklich der Mann« (V. 1). Setzt man die Lektüre mit Ps 2 9 fort, dann stößt man auch dort auf einen Text, der keine Überschrift, aber eine Unterschrift, nämlich eine Seligpreisung an alle enthält, die sich bei JHWH bergen (V. 12): 10
7 Mit der Wendung »Psalmistische Hängung« verwenden M. Oeming / J. Vette, Das Buch der Psalmen. Psalm 90 – 150 (NSK.AT 13/3), Stuttgart 2016, 274 ff (Oeming) demgegenüber eine optische Metapher. 8 S. dazu F. Hartenstein / B. Janowski, Psalmen (BK XV / 1,1), Neukirchen-Vluyn 2012, 7 ff (Janowski). 9 S. dazu ebd., 55 ff (Hartenstein). 10 Im Folgenden werden die Feindbegriffe durch Unterstreichung, das Tun / Ergehen des Gerechten / Frevlers durch Kursivierung und die Weg- / Bergmotivik durch Fettdruck hervorgehoben.
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Bernd Janowski
GLÜCKLICH DER MANN, der nicht gegangen ist nach dem Rat von Frevlern, und den Weg von Sündern nicht betreten hat, und am Sitz(platz) von Spöttern nicht gesessen hat, 2 sondern der an der Weisung JHWHs sein Gefallen hat und seine Weisung rezitiert bei Tag und bei Nacht. 3 Er wird sein wie ein Baum, gepflanzt an Wasserkanälen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit und dessen Laub nicht verwelkt. Und alles, was er tut, wird gelingen. 4 Nicht so die Frevler, sondern wie die Spreu (sind sie), die ein Wind verweht. 5 Darum stehen nicht auf Frevler im Gericht und Sünder in einer Versammlung von Gerechten. 6 Denn JHWH kennt den Weg von Gerechten, aber der Weg von Frevlern vergeht. (Ps 1) 1 Wozu sind Völker unruhig geworden, und Nationen sinnen (ha¯ ga¯ h) auf Nichtiges, 2 stellen sich auf die Könige der Erde, und haben Fürsten sich zusammengetan gegen JHWH und gegen seinen Gesalbten?: 3 »Wir wollen zerreißen ihre Fesseln und von uns werfen ihre Stricke!« 4 Der im Himmel thront, lacht, der Herr spottet über sie. 5 Dann wird er zu ihnen reden in seinem Zorn, und in seiner Glut wird er sie erschrecken: 6 »Ich habe meinen König eingesetzt auf Zion, meinem heiligen Berg.« 7 »Ich will erzählen von der Setzung JHWHs: Er hat zu mir gesprochen: ›Mein Sohn bist du! Ich habe dich heute geboren! 8 Erbitte von mir, dann will ich (dir) Völker als dein Erbland geben und als deinen Grundbesitz die Enden der Erde. 9 Du kannst sie zerschmettern mit eisernem Stab, wie Töpferware kannst du sie zerschlagen!‹« 10 Und jetzt, ihr Könige, kommt zur Einsicht, lasst euch belehren, ihr Richter der Erde! 11 Dient JHWH mit Furcht und preist (ihn) mit Beben! 12 Küsst den Sohn, damit er nicht zürnt, und ihr (nicht) auf dem Weg zugrunde geht, denn schnell entflammt sein Zorn! 1
→ 2,12b
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Die »Kleine Biblia«
GLÜCKLICH ALLE, DIE SICH IN IHM BERGEN!
(Ps 2) → 1,1
Ps 1 und 2 sind aber nicht nur durch die Seligpreisung (Ps 1,1/2,12), sondern auch durch mehrere Stichworte miteinander verbunden. Dazu einige Hinweise. Während Ps 1 mit der für den Psalter charakteristischen Wegmetapher schließt (»Weg von Gerechten« vs. »Weg von Frevlern« V. 6), werden in Ps 2 die Könige und Richter der Erde vor ihrem Weg in den Untergang gewarnt (V. 12). Und während die Tora nach Ps 1,2 vom Gerechten bei Tag und bei Nacht »rezitiert« wird (ha¯ ga¯ h), 11 machen die Nationen nach Ps 2,1 »vergebliche Pläne«, weil sie »auf Nichtiges sinnen« (ha¯ ga¯ h rîq). Das Motiv der »Feinde« verbindet Ps 1 und 2 mit Ps 3 12 (V. 2 f.7.8), der seinerseits die Teilkomposition Ps 3 – 14 mit ihrer Motivik des richtenden und rettenden Israelgottes (Ps 3,9/14,7) eröffnet. Und schließlich weist der Topos »heiliger Berg« (= Zion) in Ps 3,5 auf dieselbe Wendung in Ps 2,6 zurück: 1 2 3 4 5 6 7 8
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Ein Psalm Davids, als er vor Absalom, seinem Sohn, floh. JHWH, wie zahlreich sind meine Bedränger, wie viele sind es, die aufstehen gegen mich! Viele sagen über mich: »Es gibt keine Rettung für ihn durch Gott!« – Sela. Aber du, JHWH, bist ein Schild um mich, meine Ehre und der, der mein Haupt erhebt. Meine Stimme – ich rief (immer wieder) zu JHWH, da antwortet er mir von seinem heiligen Berg her. – Sela Ich, ich legte mich nieder und schlief (ein). Ich erwachte, denn JHWH stützte mich. Nicht fürchte ich mich vor Zehntausenden an (Kriegs-)Volk, die ringsum Stellung bezogen haben gegen mich. Erhebe dich, JHWH, rette mich, mein Gott, denn geschlagen hast du alle meine Feinde auf die Backe, die Zähne der Frevler hast du zerbrochen! Bei JHWH ist die Rettung! Auf deinem Volk (sei) dein Segen. – Sela
Auf diese Weise werden die Leitbegriffe und Grundmotive dieser Texte »übereinandergelegt oder ineinandergeschoben« 13, so dass man von einer Bedeutungsebene auf die andere wechseln kann. Die neuere Psalmenforschung hat dieses Phänomen als Stichwort- und Motivverkettung (concatenatio) bezeichnet. 14 Der durch sie hervorgerufene 11 Zu ha¯ ga¯ h »murmeln, sinnen, nachdenken« s. unten S. 17. 12 S. dazu F. Hartenstein / B. Janowski, Psalmen (BK XV / 1,2), Neukirchen-Vluyn 2015, 135 ff (Janowski). 13 N. Lohfink, Psalmengebet und Psalterredaktion, ALW 34 (1992), 1 – 22, hier: 12. 14 S. dazu Lohfink, Psalmengebet, 7 ff; Zenger, Psalmenforschung (s. Anm. 6), 419 ff u. a.
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Bernd Janowski
Effekt ist ein doppelter: Zum einen wird die Konkretion der Einzelaussage gesteigert, d. h. das, was Ps 1 anhand des Kontrastes zwischen »Gerechtem« und »Frevler« beschreibt, konkretisiert Ps 3 mit Hilfe der Antithese von »(bedrängtem) Beter« und »(aggressivem) Feind«. Zum anderen geschieht eine Aufsprengung der Einzelaussage, d. h. was in dem einen Fall der Gesalbte tut (Ps 2,9) – er »zerschmettert« die Feindvölker mit eisernem Stab und »zerschlägt« sie wie Töpferware –, das tut in dem anderen Fall Gott selbst (Ps 3,8): er »schlägt« die Feinde auf die Backe und »zerbricht« die Zähne der Frevler. Die Stichwortverkettung befördert, ohne die eine durch die andere Aussage zu ›löschen‹, eine Überlagerung der Bilder und Motive und legt damit größere Sinnzusammenhänge frei. »Alles«, so schreibt N. Lohfink, »ist offen auf Durchblicke und weitergreifende Einsichten hin. Aus der Fläche wird Raum. Das Verstehen kann sich in ihm hin und her bewegen.« 15 Für die Spiritualität der Psalmen ist dieses Phänomen, wie die folgenden Beispiele zeigen, von grundlegender Bedeutung. 2.1.2
Zwei Beispiele
Der beschriebene Sachverhalt lässt sich anhand der Frage nach dem Tun der Frevler verdeutlichen, zu dem – abgesehen von den entsprechenden Bezeichnungen (»Frevler«, »Sünder«, »Spötter«) – in Ps 1 nichts Konkretes gesagt wird. Ein weiterführender Hinweis lässt sich aber auf der Ebene des Buchkontextes des 1. Davidpsalters (Ps 3 – 41) finden. Zu beachten ist nämlich außer dem intertextuellen Bezug zwischen Ps 1 und Ps 37,30 f 16 der Sachverhalt, dass der ʿašrê-Formel in Ps 1 – 2 und im 1. Davidpsalter strukturelle Bedeutung zukommt, wie bereits F. Delitzsch 17 gesehen hat, schematisch: Proömium Ps 1 –2
1. Davidpsalter Ps 3 – 41 (= Buch I)
Ps 1,1
Ps 40,5
Ps 2,12
Ps 41,2
15 Lohfink, Psalmengebet, 12; vgl. ders., Der Psalter und die christliche Meditation. Die Bedeutung der Endredaktion für das Verständnis der Psalmen, BiKi 47 (1992), 195 – 200, hier: 199. 16 »Der Mund des Gerechten wird Weisheit rezitieren, und seine Zunge wird Recht / Gerechtigkeit sprechen. / Die Weisung seines Gottes ist in seinem Herzen, nicht werden wanken seine Schritte« (Ps 37,30 f, mit Hervorhebung der Ps 1 entsprechenden Lexeme und Wendungen), s. dazu B. Weber, Der Beitrag von Psalm 1 zu einer »Theologie der Schrift«, JET 20 (2006), 83 – 113, hier: 100 f. 17 F. Delitzsch, Die Psalmen, Leipzig, 51894, Nachdruck Gießen 2005, 66: »Mit zwei ʿašrê 1,1.2,12 beginnt und mit zwei ʿašrê 40,5.41,2 schließt das erste Psalmbuch«, s. dazu auch Hartenstein / Janowski, Psalmen (s. Anm. 8), 23 (Janowski).
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Glücklich der Mann, der nicht gegangen ist im Rat von Frevlern, und nicht den Weg von Sündern betreten hat, und am Sitz(platz) von Spöttern nicht gesessen hat. (Ps 1,1) Glücklich alle, die sich in ihm (sc. JHWH) bergen. (Ps 2,12) Glücklich der Mann, der auf JHWH sein Vertrauen gesetzt hat und sich nicht gewandt hat zu den Stolzen und treulosen Lügnern. (Ps 40,5) Glücklich, wer auf den Geringen achtet: am Tag des Unheils wird JHWH ihn retten. (Ps 41,2)
2.1.2.1 Psalm 1 und Psalm 40 Wie die obige Synopse zeigt, ist die Beziehung von Ps 1,1 zu Ps 40,5 besonders deutlich. In beiden Psalmen kommt, unbeschadet mehrerer Unterschiede, durch die Abgrenzung des Gerechten von den Frevlern »das Gruppenbewusstsein einer Minderheit« 18 zum Ausdruck. Darüber hinaus ist das singuläre Motiv der von JHWH gegrabenen Ohren zu beachten. Denn dieses Motiv erklärt, wie es kommt, dass sich die Tora, von der auch Ps 1,2 spricht, »inmitten der Eingeweide« des Beters befindet – nämlich durch die Ohren, denen neben der Funktion des Hörens auch die Funktion des Erkennens und Verstehens zukommt: 7
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An Schlachtopfer und Speisopfer hast du (sc. JHWH) kein Gefallen – Ohren hast du mir gegraben, Brandopfer und Sündopfer hast du nicht verlangt. Einst sprach ich: »Siehe, ich bin gekommen, in der Buchrolle ist über mich geschrieben!« Dein Wohlgefallen zu tun, 19 mein Gott, habe ich Gefallen (h. a¯ pa.s), und deine Tora (ist) inmitten meiner Eingeweide (meʿîm).
Die Wendung »graben« + »Ohren« (V. 7), die sich im Alten Testament nur hier findet, dürfte schöpfungstheologisch zu verstehen sein: durch das »Graben« (ka¯ ra¯ h) der Ohren übereignet der Schöpfer dem Menschen die Fähigkeit, auf seine Tora zu hören und nach ihr zu handeln. Es ist deshalb nicht vordergründige Opferkritik, die sich in diesem Text niederschlägt, sondern die auf dem Boden der Dankopferfrömmigkeit gewachsene Einbeziehung des ganzen Menschen in das Wesen des Opfers. Die hörende und tätige Hinwendung des Menschen zu Gott (V. 7aα.9a), dessen Tora sein Inneres erfüllt (V. 9b), ist als solche das Opfer, mit dem der Beter für seine Rettung danken will.
18 G. Barbiero, Das erste Psalmenbuch. Eine synchrone Analyse von Psalm 1 – 41 (ÖBS 1), Frankfurt a. M. u. a. 1999, 53. 19 Oder: »Das, was dir wohl gefällt, zu tun, mein Gott, habe ich Gefallen«.
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Bernd Janowski
Von einer vergleichbaren Hinwendung des Menschen zu Gott spricht auch Ps 1, wenn der Gerechte glücklich gepriesen wird, »der nicht gegangen ist nach dem Rat von Frevlern, und den Weg von Sündern nicht betreten hat, und am Sitz(platz) von Spöttern nicht gesessen hat, sondern der an der Weisung (tôra¯ h) JHWHs sein Gefallen (h. epæ.s) hat und seine Weisung rezitiert (ha¯ ga¯ h) bei Tag und bei Nacht« (V. 1 f ).
Das Verb ha¯ ga¯ h »murmeln, sinnen, nachdenken« bedeutet, dass der Gerechte die Tora halblaut liest, das Gelesene hört und sich auf diese Weise regelrecht ›einverleibt‹. Im Unterschied zum stillen, nur im Kopf stattfindenden ist das halblaute Lesen ein identifizierendes Lesen, das den ganzen Menschen, also »Leib und Seele«, mit dem Text der Weisung JHWHs durchtränkt und sättigt: »Es ist das besinnliche Lesen gemeint, das sich das Wort mit leiser Unterstützung der Stimme einprägt, das laute Nachdenken, das nichts überhören möchte; in ein einziges Wort lässt sich sein innerer Sinn wohl nur fassen mit Hilfe des mittelalterlichen meditari. Wir sind zu schnell aus auf neue Gedanken, statt dass wir uns das Wort selber halblaut lesend so vorsagen, dass wir es in unser Herz beharrlich hineinbewegen . . . auf solches meditierende, halblaute Lesen, das nur dem eigenen Herzen das Wort zu Gehör bringen möchte, werden wir hier verwiesen. Es scheint das regelmäßige Kennzeichen eines hungrigen, fruchtbaren Umgangs mit der Heiligen Schrift zu sein.« 20
Ebenso wie der Gerechte von Ps 1,2 findet auch der Beter von Ps 40,9 »sein Gefallen (h. p.s) im Tun dessen, was Gott selbst gefällt (r.sn). Dadurch wird der ›persönliche‹ Aspekt der Tora unterstrichen. Die Beobachtung des Gesetzes wird als eine Sache des Herzens empfunden, als Ausdruck der liebenden Beziehung zweier Personen« 21.
Jetzt wird klar, was das Ziel der ›Einverleibung‹ der Tora (Ps 1,2) und ihrer ›Verinnerlichung‹ (Ps 40,9) ist: nämlich, die problematischen Situationen zu bewältigen, denen der Beter auf seinem Lebensweg begegnet und die er, wie der 1. Davidpsalter (Ps 3 – 41) so überaus eindrücklich zeigt, nur im Vertrauen auf JHWHs Tora bestehen kann.
20 H.W. Wolff, Wegweisung. Gottes Wirken im Alten Testament, München 1965, 143 f. Zu ha¯ ga¯ h s. Hartenstein / Janowski, Psalmen (s. Anm. 8), 10.26 f (Janowski). Aufschlussreich für diese Art des Lesens ist auch die Geschichte von Philippus und dem äthiopischen Hofbeamten in Apg 8,26 – 40, wo es heißt, dass Philippus hört, wie der Hofbeamte im Buch Jesaja liest (V. 30, er liest Jes 53,7f*), s. dazu B. Janowski, »Verstehst du auch, was du liest?« Reflexionen auf die Leserichtung der christlichen Bibel, in: ders., Der Gott des Lebens. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 3, Neukirchen-Vluyn 2003, 351 – 389. 21 Barbiero, Psalmenbuch, 53.
Die »Kleine Biblia«
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2.1.2.2 Psalm 1 und Psalm 41 Auch zwischen Ps 41 und Ps 1 gibt es, unbeschadet zahlreicher Unterschiede, auffällige Entsprechungen. Aufschlussreich dafür ist nach Ps 41,5 – 11, was dem »Geringen« von Seiten seiner Feinde, Nachbarn und treulosen Freunde widerfährt: 5
Ich selbst sprach: JHWH, sei mir gnädig! Heile mein Leben / mich (naepaeš), denn ich habe an dir gesündigt! 6 Meine Feinde reden Böses über mich: Feinde »Wann stirbt er und vergeht sein Name?« 7 Und wenn einer kommt, (mich) zu sehen, redet sein Herz Falsches, er sammelt sich Unheil zusammen, er geht hinaus, er redet. 8 Gemeinsam zischeln über mich alle, die mich hassen, gegen mich ersinnen sie Böses für mich: 9 »Eine Sache des Verderbens ist über ihn ausgegossen, und wer einmal liegt, steht nicht mehr auf!« 10 Sogar der Mann meines Friedens, dem ich vertraute, treuloser Freund der mein Brot aß, hat groß getan (= geprahlt) gegen mich. 11 Aber du, JHWH, sei mir gnädig und richte mich auf, damit ich ihnen vergelten kann!
Diese Anfeindungen hat der kranke Beter erfahren, durch JHWHs gnädige Zuwendung aber überstanden. »Glücklich« (ʿašrê), so Ps 41,2, wer sich nicht solchen Anfeindungen hingibt, sondern »wer auf den Geringen achtet«: 2 3
4
Glücklich, wer auf den Geringen achtet: Am Tag des Unheils wird JHWH ihn retten. JHWH wird ihn behüten und ihn am Leben erhalten, und er wird glücklich gepriesen im Land – ja, du wirst ihn nicht preisgeben der Gier seiner Feinde. JHWH wird ihn stützen auf dem Siechbett – sein ganzes Lager hast du gewendet in seiner Krankheit.
Im Blick auf unsere Frage nach der Spiritualität der Psalmen ergibt sich daraus eine wichtige Feststellung. Wenn man nämlich Ps 1,1 – 3 und Ps 41,2 – 4, also die jeweils erste Strophe beider Eckpsalmen, miteinander vergleicht, so wird als »Weg zum Glück in Ps 1 die liebevolle Annahme der Tora JHWHs vorgestellt (1,2), in Ps 41 die Achtung auf den Schwachen (ma´skîl ʿæl dal 41,2). Durch diese Parallelstellung wird die Tora auf ihren neuralgischen Punkt hin konzentriert. Die Sorge für die Schwachen ist nämlich ein, wenn nicht das zentrale Anliegen des alttestamentlichen Gesetzes; sie entspricht der grundlegenden Gotteserfahrung Israels« 22. 22
Ebd., 61.
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Diese Sorge für die Schwachen wird dann akut, wenn, wie die Klage Ps 41,5 – 11 konkret schildert, die Feinde, Nachbarn und treulosen Freunde die Oberhand gewinnen und dem »Geringen« mit ihrer Todesdeklaration den Garaus machen wollen (Ps 41,9!). Ihnen entsprechen in Ps 1 die Frevler, Sünder und Spötter, von deren Lebensmaximen sich der Seliggepriesene distanziert hat. Zwar sagt Ps 1 nicht, was die Frevler konkret tun – er sagt vielmehr, was sie nicht tun (vgl. Ps 1,4)! –, aufgrund seiner Spitzenstellung am Beginn des 1. Davidpsalters gibt er aber einen programmatischen Hinweis, der in den Feindschilderungen des 1. Davidpsalters (Ps 3 – 41) detailliert ausgestaltet und am Ende in Ps 41 konkretisiert wird. So bekommt man den »Eindruck, daß zwischen Anfang und Ende des 1. Psalmenbuches ein theologisches Itinerar dargestellt wird« 23, zu dem Ps 1 die Tür aufstößt. Alles Weitere ist in diesem Licht zu lesen. Anders gesagt: Innerhalb des Rahmens von Ps 1 – 2 und Ps 40 – 41 spielt das erste Psalmenbuch »verschiedene typische und theologisch ›problematische‹ Lebenslagen durch und führt . . . den Leser ein in die conditio humana in mundo coram deo in stereotypen Wechselfällen (›Grundsituationen‹) des Lebens« 24.
2.2
Ps 3 – 145 als theologisches Itinerar
Dass der Psalter ein theologisches Itinerar, also eine Art ›Stationenverzeichnis‹ für problematische Lebenslagen und die Möglichkeit ihrer Bewältigung ist, ist nicht auf den 1. Davidpsalter beschränkt. Es lässt sich auch an den übrigen Psalmenbüchern zeigen. Wir greifen wieder zwei Beispiele heraus, die zwar jeweils einen anderen Focus – Anthropologie (Klage / Lob) und Kosmologie (Scheol / Tempel) – haben, die sich in ihrer Semantik und Motivik aber immer wieder berühren.
2.2.1
Lob und Klage – anthropologische Aspekte
Beginnen wir mit den beiden Gebetsformen Lob und Klage und ihrem anthropologischen Profil. G. von Rad hat die Klage- und Danklieder des einzelnen als die »Antwort Israels« 25 bezeichnet, mit der das Gottesvolk auf die Worte und Taten JHWHs reagiert und darin zu sich selbst coram Deo findet: 23 Ebd., 62. 24 M. Leuenberger, Konzeptionen des Königtums Gottes im Psalter. Untersuchungen zu Komposition und Redaktion der theokratischen Bücher IV – V im Psalter (AThANT 83), Zürich 2004, 102. 25 S. dazu G. von Rad, Theologie des Alten Testaments 1, Gütersloh 101992, 366 ff.
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»Sie (sc. die Antwort Israels) zeigt uns, wie diese Taten auf Israel gewirkt haben, sie zeigt uns, wie Israel nun seinerseits diese Existenz in der Unmittelbarkeit und Nähe zu Jahwe bejaht und verstanden hat, welche Anstalten es getroffen hat, sich vor sich selbst und vor Jahwe in dieser Nähe Jahwes zu rechtfertigen oder zu schämen. Sie zeigt uns aber auch, wie Israel in diesem Verkehr mit Jahwe sich selber offenbar wurde und in welchem Bild es sich sah, wenn es redend vor Jahwe trat. Wenn irgendwo, dann ist zu hoffen, daß hier die Grundzüge einer theologischen Anthropologie deutlich werden . . . « 26
Dass der Psalter – wie die Buchbezeichnung »(Buch der) Lobpreisungen« ja auch nahelegt – trotz seiner zahlreichen Klagepsalmen ein ins Überdimensionale gesteigerter Lobpreis Gottes ist, hat seinen Grund darin, dass das Loben Gottes eine Grundform von Theologie und nach alttestamentlichem Verständnis »die dem Menschen eigentümlichste Form des Existierens« 27 ist. Denn im Lobpreis Gottes relativiert sich die Selbstverabsolutierung des Menschen und bringt zum Ausdruck, was der Kern der Gott / Mensch-Beziehung ist: die rettende Zuwendung Gottes, dessen Barmherzigkeit die ganze Schöpfung, Israel und die Völker umgreift (vgl. Ps 146 – 150). Selbst die individuellen Klagepsalmen, die die brennenden Warum- und Wie lange?-Fragen nach Gottes Gegenwart wach halten, zehren als ›Konfliktgespräche mit Gott‹ von dem Glauben, dass menschliches Leben nur als Leben coram Deo gelingen kann. Sie sind zwar in der Situation der Gottesferne gesprochen, widerstehen aber der Versuchung, Gott abzuschreiben. Mit ihrer kompositorischen Anlage machen sie vielmehr deutlich, dass die Klage auf das Gotteslob zuläuft und an den »appelliert . . . , der das Leid wenden kann« 28. In der Klage geht es darum »nicht um die Selbstdarstellung des Leids und die Selbstbemitleidung, sondern um die Wende des Leids« 29. Nehmen wir Ps 13, 30 das Musterbeispiel eines Klagelieds des einzelnen:
26 Ebd., 367. 27 Ebd., 381, vgl. auch die Fortsetzung des Zitats: »Loben und nicht mehr Loben stehen einander gegenüber wie Leben und Tod«, s. dazu auch H.W. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments. Mit zwei Anhängen neu herausgegeben von B. Janowski, Gütersloh 2010, 316 ff. 28 C. Westermann, Die Rolle der Klage in der Theologie des Alten Testaments, in: ders., Forschung am Alten Testament. Gesammelte Studien 2, München 1974, 250 – 268, hier: 255. Man kann das Klagelied des einzelnen deshalb mit Chr. Markschies, »Ich aber vertraue auf dich, Herr!«. Vertrauensäußerungen als Grundmotiv in den Klageliedern des Einzelnen, ZAW 103 (1991), 386 – 398 als ein »zielgerichtetes Vertrauensparadigma« bezeichnen und in ihm eines der stärksten Zeugnisse vom Rettungshandeln Gottes im Alten Testament sehen. 29 Westermann, Klage, 255 (Hervorhebung von mir). 30 S. dazu B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 42013, 56 ff.
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Für den Chormeister. Ein Psalm Davids.
1 I.
II.
III.
Klage (mit Invocatio) 2a Wie lange, JHWH, vergisst du mich auf Dauer? b Wie lange verbirgst du dein Gesicht vor mir? 3a Wie lange soll ich Sorgen tragen in meiner naepaeš Kummer in meinem Herzen Tag für Tag? b Wie lange erhebt sich mein Feind über mich? Bitte (mit Invocatio) 4a Blick doch her, erhöre mich, JHWH, mein Gott! b Lass meine Augen leuchten, damit ich nicht zum Tod entschlafe, 5a damit mein Feind nicht behauptet: »Ich habe ihn überwältigt!«, b meine Gegner nicht jubeln, dass ich wanke! Vertrauensbekenntnis und Lobversprechen 6aα.b Doch ich – auf deine Güte habe ich vertraut, mein Herz juble über deine Rettung: aγ.b »Singen will ich JHWH, dass er an mir gehandelt hat!«
Die Wende des Leids ist hier als eine aufsteigende Linie des Vertrauens gestaltet, die beim Aussprechen des JHWH-Namens von V. 2 ansetzt, sich in der Invocatio »JHWH, mein (!) Gott« von V. 4 verdichtet und schließlich in die Vertrauensäußerung »deine (!) Güte« // »deine (!) Rettung« von V. 6 mündet: 2
Bis wann, JHWH, vergisst du mich auf Dauer? Bis wann verbirgst du dein Gesicht vor mir?
4
Blick doch her, erhöre mich, JHWH, mein Gott! Lass meine Augen leuchten, damit ich nicht zum Tod entschlafe,
6
Doch ich – auf deine Güte habe ich vertraut, mein Herz juble über deine Rettung . . .
Dieser aufsteigenden Linie des Vertrauens entspricht gegenläufig eine abfallende Linie der Klage:
Zunehmendes Vertrauen
6
Abnehmende Klage
JHWH
2
Klage
2f
JHWH, mein Gott
4
Bitte
4f
Vertrauen / Lobgelübde
6
deine Güte // Rettung
6
Für die Frage nach der Spiritualität des Psalters hat dieser Sachverhalt fundamentale Bedeutung. Denn was Ps 13 und andere Klagelieder aufgrund ihrer individuellen Textstruktur und gleichsam en miniature als Prozess von der Klage zum Lob (V. 2f: »Wie lange?« → V. 6aγ.b: »Ich will singen . . . «) entfalten, das bestimmt im Großen auch das Gesamtgefälle des Psalters: er beginnt mit Klagen über Verfolgung (Ps 3; 18; 35,1 – 6 u.ö.), Rechtsnot (Ps 5; 7 u.ö.), Feindschaft (Ps 55 – 59 u.ö.), Krankheit
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(Ps 6; 38; 41 u.ö.), Todesnot (Ps 22; 88 u.ö.), Schuld (Ps 32; 51 u.ö.), Vergänglichkeit (Ps 39; 90 u.ö.) und endet – beginnend mit der Zäsur Ps 89 / Ps 90 – mit dem Gotteslob, »sei es im Zusammenhang der Rede von der Schöpfung, sei es in Bezug auf die Königsherrschaft Gottes und die Geschichte Gottes mit Israel« 31, schematisch: Buch I Buch II Buch III Buch IV Buch V
3–41 42– 72 73– 89 90– 106 107 – 150
" &
Klage
$ " & $
Lob
Zwischen jenem Anfang, für den vor allem der erste und zweite Davidpsalter (Ps 3 – 41 + 51 – 72) stehen, 32 und diesem Ende, das im Schlußhallel Ps 146 – 150 zu seinem »klangvollen« Ziel kommt, wird das gesamte Spektrum der conditio humana aufgespannt, aber schließlich in das universale Gotteslob überführt. Trotz seiner zahlreichen Klagen und Bitten ist der Psalter deshalb von einer »Architektur des Gotteslobes« 33 geprägt, was mit dessen besonderer Sprachform zusammenhängt: »Wer bittet, geht von sich und seiner Welt aus. Wer lobt, geht von Gott aus. Das Gotteslob bleibt offen, denn es spricht von dem her, was kommt. Auch das lobende Sprechen hat in seiner Pragmatik eine bittende Funktion, denn das Lob will die Veränderung der Welt, die dem Lob widerspricht. Aber es läßt Gott alles offen. Lob Gottes kommt von der Zukunft her, die die Zukunft Gottes ist.« 34
31 F.-L. Hossfeld, Von der Klage zum Lob – die Dynamik des Gebets in den Psalmen, BiKi 56 (2001), 16 – 20, hier: 18. 32 Allerdings gibt es »im Meer der Klage des 1. Davidpsalters . . . Inseln des Lobes« (ebd., 18). So ragt z. B. innerhalb der Teilsammlung Ps 3 – 14 als »Lobzentrum der Hymnus vom königlichen Menschen Ps 8 heraus – umgeben von Klagen des bedrängten Beters« (ebd., 18). Deshalb bildet Ps 8 als Mitte bzw. Höhepunkt der aus Klage- und Bittgebeten bestehenden Teilkomposition Ps 3 – 14 nicht einen abstrakten und kontexlosen Entwurf des biblischen Menschenbildes (vgl. die Grundfrage Ps 8,5), sondern er enthält eine konkrete Hoffnungsbotschaft, die gerade den in den Klage- und Bittgebeten Ps 3 – 7 (einzelne Beter als Leidende) und Ps 9 – 14 (»Arme« als soziale Gruppe) gemeinten Leidenden gilt, s. dazu F. Hartenstein / B. Janowski, Art. Psalmen / Psalter I – III, RGG4 6 (2003), 1761 – 1777, hier: 1771 und F. Hartenstein, »Schaffe mir Recht, JHWH!« (Psalm 7,9). Zum theologischen und anthropologischen Profil der Teilkomposition Psalm 3 – 14, in: E. Zenger (ed.), The Composition of the Book of Psalms (BEThL 238), 2010, 229 – 258. Ähnliches gilt für die Teilsammlung Ps 15 – 24 mit Ps 19 als Zentrum, s. dazu auch Leuenberger, Konzeptionen (s. Anm. 23), 97 f. Mit diesem Konstruktionsprinzip ist ein theologischer Kontrapunkt gesetzt, der den buchinternen Weg von der Klage zum Lob von Anfang an vorbereitet. Dieser Weg wird zum Buchende hin immer breiter und einladender. 33 H. Spieckermann, Der theologische Kosmos des Psalters, BThZ 21 (2004), 61 – 79, hier: 79. 34 E. Ballhorn, Das Telos des Psalters. Der Textzusammenhang des Vierten und Fünften Psalmenbuches (Ps 90 – 150) (BBB 138), Berlin / Wien 2004, 372, vgl. ders., Die gefährliche
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Bevor wir diese Spur weiterverfolgen, wollen wir kurz innehalten und genauer auf die sachlichen Implikationen des Gotteslobs achten. Dies führt uns zu den kosmologischen bzw. tempeltheologischen Aspekten des Psalters. 2.2.2
Scheol und Tempel – kosmologische Aspekte
Der Wechsel von der anthropologischen zur kosmologischen bzw. tempeltheologischen Ebene könnte zunächst wie eine metabis eis allo genos aussehen. Denn was, so ist zu fragen, hat das Geschick des Beters mit der Gegenwart Gottes im Tempel zu tun? Gehen wir zur Beantwortung dieser Frage von dem für die individuellen Danklieder charakteristischen Übergang vom Tod zum Leben aus. Dieser Übergang wird als räumlicher Vorgang vorgestellt, der das Jenseits (Tod) mit dem Diesseits (Leben) verbindet – und zwar durch einen rettenden Akt JHWHs, der, wie Ps 18,4 – 7 und Ps 30,2 – 4 deutlich macht, den ›Toten‹ 35 aus der Unterwelt »heraufführt« oder aus ihr »herauszieht«: Ps 18,4 – 7 4 »Hochgepriesener« will ich rufen, JHWH, und vor meinen Feinden werde ich gerettet. 5 Es umgaben mich Schlingen des Todes, Ströme des Verderbens erschrecken mich. 6 Stricke der Unterwelt umfingen mich, es näherten sich mir Fangnetze des Todes. 7 In meiner Not rufe ich JHWH, und zu meinem Gott schreie ich um Hilfe. Er hört aus seinem Tempel meine Stimme, Und mein Flehen wird vor ihn kommen, in seine Ohren.
Doxologie. Eine Theologie des Gotteslobs in den Psalmen, BiLi 77 (2004), 11 – 19; Hossfeld, Klage (s. Anm. 31), 19 und Spieckermann, Kosmos, 61 f. 35 Zur spezifischen Todesauffassung der Individualpsalmen s. außer der klassischen Darstellung von Chr. Barth, Die Errettung vom Tode. Leben und Tod in den Klage- und Dankliedern des Alten Testaments, herausgegeben von B. Janowski, Stuttgart / Berlin / Köln, 31997 noch K. Liess, Der Weg des Lebens. Psalm 16 und das Lebens- und Todesverständnis der Individualpsalmen (FAT II / 5), Tübingen, 2004; G.D. Eberhardt, JHWH und die Unterwelt. Spuren einer Kompetenzausweitung JHWHs im Alten Testament FAT II / 23), Tübingen 2007, 222 ff; B. Janowski, Der Gott Israels und die Toten. Eine religions- und theologiegeschichtliche Skizze, in ders., Die Welt als Schöpfung. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 4, Neukirchen-Vluyn 2008, 266 – 304, hier: 279 ff und M. Leuenberger, Ausformungen der Grundkonstellation von Leben und Tod, in: ders., Gott in Bewegung. Religions- und theologiegeschichtliche Beiträge zu Gottesvorstellungen im alten Israel FAT 76), Tübingen 2011, 76 – 147, hier: 87 ff.
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Ps 30,2 – 4 2 Ich will dich erheben, JHWH, denn du hast mich emporgezogen und hast nicht jubeln lassen meine Feinde über mich. 3 JHWH, mein Gott, ich flehte zu dir, und du hast mich geheilt. 4 JHWH, du hast heraufgeholt aus der Unterwelt mein Leben (naepaeš), du hast mich zum Leben gebracht aus ›denen, die‹ in die Zisterne ›hinabsteigen‹.
JHWH hat den Beter wie einen ledernen Schöpfeimer (d elî, vgl. Num 24,7; Jes 40,15 und Abb. 1) aus der Tiefe der Zisterne »emporgezogen« (dlh pi. V. 2) 36 und sein Leben aus der Unterwelt »heraufgeholt« (ʿlh hif. V. 4a, vgl. Jon 2,7b u.ö.). Damit hat er ihn wieder »zum Leben gebracht« (h. jh pi.) aus denen, die in die Zisterne »hinabsteigen« (jrd V. 4b). Ähnliche Bilder eines vertikal – von unten (Scheol) nach oben (Tempel) – verlaufenden Rettungsvorgangs wie in Ps 18,4 ff; 30,2 ff und anderen Texten 37 Abb. 1: Lederner Schöpfeimer finden sich auch in dem individuellen mit Mündungsholzkreuz Danklied Ps 116, 38 das in seinem zweiten Teil (V. 12 – 19) darüber hinaus noch ein an der Horizontalen orientiertes Raumkonzept enthält. Aus dem umfangreichen Text seien die Rettungserzählung und der Dankopferbericht zitiert: Rettungserzählung 3 Umgeben haben mich Schlingen des Todes, und Bedrängnisse der Unterwelt haben mich angetroffen, Bedrängnis und Kummer traf ich (immer wieder) an, 4 und ich rief den Namen JHWHs (unentwegt) an: »Ach JHWH, lass mein Leben (naepaeš) entkommen!«
36 Zum Vorgang s. Ex 2,16.19 und K. Seybold, Poetik der Psalmen, Stuttgart / Berlin / Köln 2003, 206. 37 S. dazu die Zusammenstellung der Texte und Termini bei Barth, Errettung (s. Anm. 34), 98 ff; K.-P. Adam, Der Königliche Held. Die Entsprechung von kämpfendem Gott und kämpfendem König in Psalm 18 (WMANT 91), Neukirchen-Vluyn 2000, 49.55 ff u. a. 38 Zu diesem Text s. B. Janowski, Dankbarkeit. Ein anthropologischer Grundbegriff im Spiegel der Toda-Psalmen, in ders., Der Gott des Lebens. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 3, Neukirchen-Vluyn 2003, 267 – 312, hier: 274 ff und F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalmen 51 – 100 (HTK.AT), Freiburg / Basel / Wien 2000, 291 ff (Hossfeld).
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5 6 7 8 9
Gnädig ist JHWH und gerecht, und unser Gott ist ein Erbarmer, ein Hüter der Einfältigen ist JHWH; ich war niedrig, und mich rettete er. Kehre zurück, mein Leben (naepaeš), zu deiner Ruhe, denn JHWH hat an dir gehandelt; ja, du hast (herausgezogen =) befreit mein Leben (naepaeš) vom Tod, meine Augen von Tränen, meinen Fuß vom Sturz. Ich werde umhergehen vor JHWH in den Ländern der Lebenden.
Dankopferbericht 13 Den Becher der Rettungstaten will ich erheben, und den Namen JHWHs will ich anrufen. 14 Meine Gelübde will ich JHWH erfüllen, ja, vor seinem ganzen Volk. Kostbar in den Augen JHWHs ist der Tod seiner Frommen. 16 Ach JHWH, ich bin dein Knecht, ich bin dein Knecht, der Sohn deiner Magd, du hast geöffnet meine Fesseln! 17 Dir will ich ein tôda¯ h-Opfer schlachten, und den Namen JHWHs will ich anrufen. 18 Meine Gelübde will ich JHWH erfüllen, ja, vor seinem ganzen Volk, 19*in den Vorhöfen des Hauses JHWHs, in deiner Mitte, Jerusalem!
Welt der Lebenden Haus Stadt Tempel Kulturland Gemeinschaft Kommunikation Reinheit
Diesseitsbereiche mit Jenseitsfunktion
Jenseits
›Unterwelt der Lebenden‹ (Situation des Bedrängten) Grab, Gefängnis, Grube, Zisterne, Wasserflut, Meer, Wüste / Steppe, Bergland, Finsternis, Nacht, ›die Tiefen‹
Welt der Toten
Diesseits
Unterwelt Scheol Abaddon Land ohne Wiederkehr Einsamkeit Schweigen Unreinheit
Abb. 2: Die Grenze zwischen Leben und Tod nach den Psalmen
Im Blick auf das Raumkonzept dieses Textes kann man von einer »sacred topography of contrast localities« 39 sprechen, weil der Psalm eine Ge39 M.R. Hauge, Between Sheol and Temple. Motif Structure and Function in the I-Psalms (JSOT.S 178), Sheffield 1995, 281 ff.
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samtbewegung von der Scheol (V. 3) über die Länder der Lebenden (V. 9) bis zu den Vorhöfen des Hauses JHWHs (V. 19) nachzeichnet und damit den Beter – gemäß der biblischen Diesseits- / Jenseits-Topographie (s. Abb. 2) – schrittweise den dramatischen Weg vom Unheil zum Heil, von der Scheol zum Tempel zurücklegen lässt. Die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits wird dabei so gezogen, dass der Tod ins Leben hineinragt und das Leben des Beters die Unterwelt berührt (vgl. Ps 88,4b) – obwohl die Unterwelt nach den kosmologischen Vorstellungen Israels in der äußersten, unerreichbaren Tiefe liegt (vgl. Hi 38,16 – 18). Die Rettungserzählung von Ps 30,3 – 9 konstruiert dabei eine Bewegungslinie, die tief unten im (Gefängnis-)Bereich der Scheol (V. 3 f ) ansetzt und in die Nähe des barmherzigen Gottes (V. 5) führt, der die Distanz zum »niedrigen« Beter (V. 6 bα) durch sein rettendes Eingreifen von oben (= Tempel) her überwindet (V. 6bβ, vgl. V. 8) und der diesem ermöglicht, vor ihm in den Ländern der Lebenden (V. 9) zu wandeln. 40 Die Rettungserzählung V. 3 – 6 versprachlicht diese Bewegung als vertikalen Vorgang mit der doppelten Sinnrichtung von unten (Scheol) nach oben (V. 3 f ) und von oben (Tempel) nach unten (V. 5 f ): Tempel (oben)
JHWH
4
Scheol (unten)
Beter
3
5
JHWH
6
Beter
Nach der erfolgten Rettung (V. 7 f ) verläuft der Weg des Beters in horizontaler Richtung vom Ort der »Ruhe« (V. 7) / von den »Ländern der Lebenden« (V. 9) zu den »Vorhöfen des Hauses JHWHs« (V. 19), wobei drei konzentrische Kreise: Länder der Lebenden → Jerusalem → Vorhöfe des Tempels die schrittweise Rückkehr des Geretteten in die Gemeinschaft mit JHWH räumlich abbilden. Am Ende des Psalms steht der errettete Beter, der den langen Weg von der Scheol zum Tempel zurückgelegt hat, wieder vor seinem Gott und preist ihn dankbar »vor seinem ganzen Volk« (V. 18b, vgl. V. 14a). Ziehen wir ein Zwischenfazit: Wie die Danklieder Ps 18,4 ff; 30,2 ff; 116,3 ff.13 ff u. a. zeigen, blickt der Beter auf seine vielschichtigen Erfahrungen mit der Scheol einerseits und mit dem Zionsgott andererseits zurück und vergegenwärtigt sich auf diese Weise den dramatischen Weg vom Tod zum Leben. Konstitutiv dafür ist die Verschränkung mehrerer Raum- und Zeitebenen, der zufolge der Beter an zwei Orten und in
40 Zum tempeltheologischen Ausdruck »Land / Länder der Lebenden« (Jes 38,11; 53,8; Jer 11,19; Ez 26,20; 32,23.24.25.27.32; Ps 52,7; 116,9; 142,6; Hi 28,13) s. besonders F. Hartenstein, Das Angesicht JHWHs. Studien zu seinem höfischen und kultischen Bedeutungshintergrund in den Psalmen und in Exodus 32 – 34 (FAT I / 55), Tübingen 2008, 92 ff.
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zwei Zeiten zugleich lebt: in der Vergangenheit seiner jetzt überstandenen, aber im Vollzug des Gebets erinnerten Todesnot und in der auf die heilvolle Zukunft ausgerichteten Gegenwart. Zustande kommt eine solche Verschränkung zweier konträrer Zeit- (Vergangenheit / Gegenwart) und Raumerfahrungen (Scheol / Tempel) nicht irgendwann und irgendwo, sondern in einer bestimmten Situation. Es ist die Situation der DankopferFeier, in der jene dramatische Tod / Leben-Erfahrung artikuliert und in der Öffentlichkeit der Gemeinde betend nachvollzogen wird. Beten, das machen die Danklieder deutlich, ist ein transitorischer Akt, der dem Bedrängten den Weg ins Leben weist – nicht nur gedanklich, sondern auch faktisch, nämlich im Aussprechen der verlorenen (Klage) und wieder gewonnenen (Lob) Gottesnähe. Die alttestamentliche Theologie der Dankbarkeit hat in diesen Texten zu einem gültigen Ausdruck gefunden, weil sie Zeugnis davon ablegen, was der unverfügbare Grund des Lebens ist: die rettende Zuwendung Gottes, der vom Tod zum Leben führt. 2.3
Ps 146 – 150 als Schlussstein des Psalters
Machen wir auf unserem Durchgang durch den Psalter noch einen letzten Schritt, indem wir uns dem ›Schlussstein‹ Ps 146 – 150 zuwenden. »Aller Atem lobe JH!« heißt es in Ps 150 (V. 6), der zusammen mit den Halleluja-Psalmen 146 – 149 den hinteren, doxologischen Rahmen des Psalters bildet. Dieser Text, der nach V. 1b – 2 den im irdischen (qodæš ) wie im himmlischen Heiligtum (ra¯ qîaʿ) erklingenden Lobpreis Gottes zusammenbindet und Gottes Machttaten und Größe in Schöpfung und Geschichte feiert, folgt nach V. 3 – 5 einer »räumlichen Bewegung von ›innen‹ nach ›außen‹, die wohl der symbolischen Topographie des zweiten Jerusalemer Tempels entspricht, also konzentrisch um den Mittelpunkt des Allerheiligsten angeordnete Bereiche abnehmender Heiligkeit voraussetzt« 41:
41 F. Hartenstein, »Wach auf, Harfe und Leier, ich will wecken das Morgenrot« (Psalm 57,9) – Musikinstrumente als Medien des Gotteskontakts im Alten Orient und im Alten Testament, in: M. Geiger / R. Kessler (Hg.), Musik, Tanz und Gott. Tonspuren durch das Alte Testament (SBS 207), Stuttgart 2007, 101 – 127, hier: 119 (Hervorhebung im Original), s. zur Interpretation von Ps 150 noch E. Zenger, »Aller Atem lobe JHWH!«. Anthropologische Perspektiven im Hallel Ps 146 – 150, in: M. Bauks / K. Liess / P. Riede (Hg.), Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? (Psalm 8,5). Aspekte einer theologischen Anthropologie (FS B. Janowski), Neukirchen-Vluyn 2008, 565 – 579 und Hossfeld / Zenger, Psalmen 101 – 150 (s. Anm. 38), 871 ff (Zenger).
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" Rahmen Lobt JH (hall elû Ja¯h)! Ird. und himml. Heiligtum als Lobt Gott in seinem Heiligtum, & Ort des Gotteslobs Machttaten lobt ihn in der Feste seiner Macht! und Größe Gottes in Lobt ihn wegen seiner Heldentaten, lobt ihn gemäß seiner gewaltigen Größe! $ Schöpfung und Geschichte Lobt ihn mit Schofarstößen, Tempelinneres " lobt ihn mit Harfe und Leier! Lobt ihn mit Handpauke und Tanz, Vorhöfe Festszenario mit & lobt ihn mit Saiten und Flöte! Musikinstrumenten jenseits des Lobt ihn mit klingenden Zimbeln, lobt ihn mit Zimbeln von Jubellärm! Tempelareals $ Aller Atem lobe JH! universales Gotteslob Lobt JH (hall elû Ja¯h)! Rahmen
Wie in einer großen Sinfonie – zwölf Mal erschallt hier das Hallelujah! – klingt am Ende des Psalters dessen von der Klage zum Lob reichende Gesamtbewegung mit einem universalen Gotteslob aus und bildet damit das klangvolle ›Echo‹ zu dem »bei Tag und bei Nacht« – d. h. allezeit: in der Zeit des Heils (Tag, Licht) wie in der Zeit des Unheils (Nacht, Finsternis) – die Tora JHWHs rezitierenden Gerechten von Ps 1,2. 42 Im universalen Lobpreis JHWHs vollendet sich so das Glück des Menschen, das der Psalter in seinem Eingangspsalm als »Weg des Gerechten« (vs. »Weg der Frevler«) präsentiert und zu dem Ps 146,1b – 2 als Auftakt des Schlußhallel Ps 146 – 150 auffordert: Lobe, meine næpæš, JHWH! Ich will JHWH loben durch mein Leben, ich will aufspielen meinem Gott, mein Leben lang.
Der die Tora JHWHs still vor sich hin rezitierende Gerechte von Ps 1,2 und der zusammen mit »allem Atem« Gott preisende Mensch von Ps 150,6 – beide Menschentypen sind Urbilder der unverfälschten Spiritualität. 43 Wer in dieser Weise das »große Haus« des Psalters und seine kleineren und größeren Psalmen-›Räume‹ durchschreitet, nimmt all das verstehend in sich auf, was ihm unterwegs begegnet und was den Psalter zu einem Buch des Lebens macht: »Hier kommen all die Themen des Psalters ins Spiel, die nun – nach Ps 1 – Tora werden: daß es viele ungerechte Menschen gibt, die die Gerechten bedrängen, daß im Leben neben der Freude auch viel Klage herrscht, daß das Leben als bedrängtes erlebt wird, daß Strukturen des Bösen und der Sünde das eigene Leben prägen; aber auch, daß Gott verzeiht, daß er rettet, daß es eine Gemeinschaft der Gerechten gibt, daß Gott in der Geschichte schon gehandelt hat – und daß letztlich das Lob obsiegen wird (Ps 150).« 44 42 Zum Text s. oben S. 12 f. 43 Zum Psalter als dem »Buch der unverfälschten Spiritualität« s. im Folgenden. 44 E. Ballhorn, »Glücklich der Mensch . . . «. Weisung und Gebrauchsanweisung für das Psalmenbuch, Pastoralblatt 2003, 12 – 16, hier: 16.
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All dies kommt im Psalter zur Sprache. Es kommt aber so zur Sprache, dass die grundlegende Perspektive, die Ps 1 mit dem Wort »Tora« auf den Begriff bringt, nicht verlorengeht, sondern transformiert wird. Damit verschiebt oder besser: weitet sich die Perspektive von der Tora- und David- / Königs-Thematik der Psalmenbücher I – III zur neuen Thematik der Psalmenbücher IV – V. Dieser neue Skopus ist die universale Königsherrschaft JHWHs, der als Retter der Armen das eschatologische Gericht durchführt (Ps 149,5 – 9) und damit den neuen Himmel und die neue Erde bringt (Ps 150).
3.
Das »Buch der unverfälschten Spiritualität«
Ziehen wir ein Fazit. Durch die Geschichte des Christentums zieht sich wie ein roter Faden die Überzeugung, dass der Psalter eine »Spiegel« ist, in dem der Mensch sich selbst erkennt, »dazu Gott selbst und alle Kreaturen« 45. Das Organ, das diese Erkenntnis herbeiführt, ist das menschliche Herz, das Luther in einer berühmten Passage seiner »Zweiten Vorrede zum Psalter« von 1528 mit einem »Schiff auf einem wilden Meer« verglichen hat. Dieser Vergleich, der nichts weniger als eine »Daseinsmetapher« 46 ist, macht noch einmal deutlich, warum der Psalter, das Gebetbuch Israels, zum Gebet- und Lebensbuch der Kirche wurde und bis heute geblieben ist: »Denn ein menschlich Herz ist wie ein Schiff auf einem wilden Meer, welches die Sturmwinde von den vier Orten der Welt treiben. Hier stößt her Furcht und Sorge vor zukünftigem Unfall; dort fähret Grämen her und Traurigkeit von gegenwärtigem Übel. Hier weht Hoffnung und Vermessenheit von zukünftigem Glück; dort bläset her Sicherheit und Freude in gegenwärtigen Gütern. Solche Sturmwinde aber lehren mit Ernst reden und das Herz öffnen und den Grund herausschütten. Denn wer in Furcht und Not steckt, redet ganz anders von Unfall, als der in Freuden schwebt. Und wer in Freuden schwebt, redet und singet ganz anders von Freuden, als der in Furcht steckt. Es gehet nicht von Herzen (spricht man), wenn ein Trauriger lachen oder ein Fröhlicher weinen soll; das ist, seines Herzens Grund stehet nicht offen und ist nicht heraus.« 47
Im Psalter kommt das menschliche Leben zu sich selbst, weil er ein »Spiegel der Seele« und eine »Schatzkammer der Heiligen Schrift« ist. Und er ist dieser Spiegel und diese Schatzkammer, weil ihm buchstäblich
45 Luther, Vorrede (s. Anm. 2), 69. Zur Spiegelmetapher s. oben S. 10. 46 Zum Begriff »Daseinsmetapher« s. H. Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher (stw 289), Frankfurt a. M. 1979. 47 Luther, Vorrede (s. Anm. 2), 67, s. dazu B. Stolt, Martin Luthers Rhetorik des Herzens (UTB 2141), Tübingen 2000, 51 ff.
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»die rettende, schützende, tröstende und vergebende Gegenwart Gottes« 48 innewohnt. Keine andere Sprache führt tiefer hinein in die Finsternis des Todes und keine andere ist wie diese ein Weg zum Leben. Wer den Psalter liest, wird darum Dimensionen der Wirklichkeit kennenlernen, die nur dieses Buch der Bibel eröffnet: die Dimension der Weite, die alles mit einbezieht, was Atem hat (vgl. Ps 145,21; 150), die Dimension der Höhe, die von Gott und seiner Schöpfung in unvergleichlichen Bildern spricht (vgl. Ps 36; 104), und die Dimension der Tiefe, deren Abgründigkeit jedes erdenkliche Maß übersteigt (vgl. Ps 23,4aα; 88). 49 Was am Ende, nach Auslotung aller Weiten, Höhen und Tiefen der menschlichen Existenz wie der Glaubensgeschichte Israels bleibt, ist die Dimension der Nähe des lebendigen Gottes, der den Weg zum Leben weist (vgl. Ps 16) und der den bedrängten Menschen, wie es Ps 23 50 unübertroffen ausdrückt, zeit seines Lebens an seiner Gegenwart »im Haus JHWHs« (V. 6) teilhaben lässt: 1 2 3
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6
Ein Psalm Davids. JHWH ist mein Hirte, ich habe keinen Mangel, auf grünen Weiden lässt er mich lagern, an Wasser der Ruhe führt er mich, meine Lebenskraft erneuert er. Er führt mich auf Bahnen der Gerechtigkeit um seines Namens willen. Auch wenn ich im Tal der Finsternis gehe, fürchte ich nichts Böses, denn Du bist bei mir, Dein Stock und Dein Stab – sie trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch gegenüber meinen Bedrängern. Du hast mit Öl gesalbt mein Haupt, mein Becher ist Überfließen. Ja, Gutes und Huld verfolgen mich alle Tage meines Lebens, und ich werde (immer wieder) zurückkehren in das Haus JHWHs für die Länge der Tage.
48 Zenger, Psalmenforschung (s. Anm. 6), 435. 49 Mit den genannten Dimensionen ist die »architektonische Grundidee« des Psalters anvisiert, s. dazu auch Seybold, Poetik (s. Anm. 36), 371 ff. 50 Zu Ps 23 s. B. Janowski, Der gute Hirte. Psalm 23 und das biblische Gottesbild, in: ders., Der nahe und der ferne Gott. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 5, Neukirchen-Vluyn 2014, 147 – 171.
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Wenn wir als Christen die Psalmen lesen und beten, dann begeben wir uns darum in die »große Schule des Betens« 51, die uns immer wieder aufs neue lehrt, wer Gott ist und was er tut. Und die uns sagt, wer wir sind und wohin wir gehen. Der Psalter ist das »Buch der unverfälschten Spiritualität« (E. Lévinas), 52 das ein geringes Maß an Zeitgebundenheit mit einem Höchstmaß an Situations- und Existenzgebundenheit verbindet. Seine Sprache ist wahrhaftig, weil sie die dunklen Seiten Gottes und die Abgründe der menschlichen Existenz nicht beschönigt, sondern ungeschminkt und zuweilen schroff zum Ausdruck bringt (Realitätsgehalt); der Psalter ist poetisch, weil er in Bildern denkt und damit das Feste und Abgeschlossene aufbricht, um befreiende Gottes- und Selbsterfahrungen zu ermöglichen (Bildsprache); und er ist meditativ, weil er durch die Vieldimensionalität des Sinns, die durch die Überlagerung der Bilder und Motive zustande kommt, Sprach- und Lebensräume eröffnet, in denen sich das Verstehen hin und her bewegen kann (Stereometrie). Die Spiritualität des Psalters wirkt über die Zeiten und hilft in Worte zu fassen, was und wenn es dem Menschen die Sprache verschlägt. Theologie und Kirche sollten dieses Potential, das »viel beunruhigender, viel ungetrösteter, viel weniger harmonisch« 53 ist als die übliche Alltags- und Sonntagssprache, ausschöpfen und nicht brach liegen lassen.
Abstract The Book of Psalms has been called »mirror of the soul« by Athanasius, »great house« by Jerome, and »small bible« by M. Luther. It is a temple of words to be entered by the portal of Pss 1 – 2 and crowned by Pss 146 – 150 as its headstone. Whoever sets foot into this verbal temple will go the long and arduous way from lament to praise while meditating the 150 Psalms and passing the stations of Israelite history. In the temple one meets the divine king and saving god of Zion who bestows his salvation upon individuals, upon Israel, upon the nations, and even upon the whole creation. The article specifies the theological architecture of the Book of Psalms with the examples of two thematic fields: »lament and praise« – anthropological aspects, and »Sheol and temple« – cosmological aspects. Bernd Janowski, geb. 1943, Dr. theol., ist Professor emeritus für Altes Testament an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen.
51 D. Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, in: ders., Gemeinsames Leben. Das Gebetbuch der Bibel (DBW 5), München 1987, 13 – 102, hier: 40. 52 E. Lévinas, Saiten und Holz. Zur jüdischen Leseweise der Bibel, in: ders., Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie, München 1991, 172 – 182, hier: 178. 53 J.B. Metz, Gotteskrise. Versuch zur »geistigen Situation der Zeit«, in: ders. u. a., Diagnosen zur Zeit, Düsseldorf 1994, 76 – 92, hier: 79.
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Abbildungsnachweise 1. O. Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Göttingen 51996, 62 Abb. 80. 2. B. Janowski.
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»Gut ist’s, zu danken!« (Ps 92,2) Zum Danken als Grund und Ziel des Betens in den Psalmen am Beispiel von Ps 118*
1.
»Ich bin Atheist – Gott sei Dank!«
Menschen sind als »Mängelwesen« nur in menschlicher Gesellschaft überlebensfähig. Sie verdanken sich auf vielfältige und grundsätzliche Weise dem, was andere ihnen im Laufe des Lebens haben zugutekommen lassen und was andere vor ihnen errungen haben, 1 und sie werden sich dessen bei Gelegenheit auch immer wieder bewusst. Dankbarkeit gehört offenbar elementar zum Menschsein dazu. Die Erfahrung der Dankbarkeit für das Gute im Leben überhaupt weist über sich hinaus in religiöse Dimensionen. Wie Dieter Henrich aufgezeigt hat, kann Dankbarkeit sich nur sinnvoll an eine personale Größe richten; das führt, beim Beispiel eines Atheisten, der für die Rettung seiner Frau tiefe Dankbarkeit empfindet, in Paradoxien. 2 Doch nur mit einem Augenzwinkern kann einer behaupten: »Ich bin Atheist – Gott sei Dank!« 3 Bei der Nähe der Dankbarkeit zur Religion 4 überrascht es nicht, dass sie in der christlichen Theologie bereits ausführlich bedacht wurde. Der Dritte Teil des Heidelberger Katechismus etwa ist mit »Von der Dankbarkeit« überschrieben. Vor allem in der reformierten Tradition gilt Dankbarkeit gegenüber Gott als Haltung, die christliches Leben bestimmt und motiviert. 5 Bei Karl Barth wird sie geradezu zum Maßstab des Guten:
* Bernd Janowski zum 75. Geburtstag am 30. 04. 2018. 1 Zur Bedeutung der Dankbarkeit für das Netz persönlicher Beziehungen und den Zusammenhalt menschlicher Gesellschaft vgl. bereits G. Simmel, Exkurs über Treue und Dankbarkeit, in: ders., Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a. M. 1992, 652 – 670 [Leipzig 1908, 581 – 598]; vgl. ders., Dankbarkeit. Ein soziologischer Versuch [1907], in: ders., Schriften zur Soziologie, H.-J. Dahme / O. Rammstedt (Hg.), Frankfurt a. M. 1983, 210 – 220. 2 D. Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, in: ders., Bewußtes Leben und Metaphysik, Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik, Ditzingen 1999, 152 – 193, 154. 3 Dieser Ausspruch in seiner ursprünglichen Fassung wird dem Regisseur Luis Buñuel zugesprochen: »Die Welt wird immer absurder. Nur ich bin weiter Katholik und Atheist. Gott sei Dank!«. 4 Henrich, Gedanken, 152 f. 5 Auch nach Luther kommt der Dankbarkeit eine elementare Bedeutung für das christliche Leben zu: »Die Dankbarkeit hingegen bewahrt die Liebe zu Gott und so bleibt das
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»Gut ist dasjenige Tun des Menschen, in welchem der Mensch für Gottes Gnade dankbar ist. Nichts sonst? Nein, nichts sonst! Weil alles Gute, was man sonst nennen könnte, der Glaube, die Liebe, die Hoffnung, jede nur denkbare Tugend und Pflicht, in diesem einen enthalten ist: daß der Mensch dankbar sei für Gottes Gnade.« 6
Dankbarkeit kommt in einer Gegenleistung, somit in einem erwartbaren »Gabentausch« zum Ausdruck 7 – so möchte man jedenfalls meinen. Doch das Verhältnis von Dankbarkeit und Gabentausch ist komplexer, zumal der Gabentausch zwar auch ohne Dankbarkeit, Dankbarkeit aber nicht ohne Freiheit denkbar ist, die aber bei einigen Konstellationen des Gabentauschs durchaus in Zweifel steht. In der Antike wies bereits Cicero in »De officiis« darauf hin, dass gerade der inops, »also derjenige, der zu keiner Gegenleistung fähig ist, [. . . ] zu großer Dankbarkeit fähig ist« 8. Wer eine Dankverpflichtung nicht zu kompensieren vermag, verbleibt nach Cicero umso mehr im Gefühl der Dankbarkeit. Gegenleistungen konnten nach verbreiteter Auffassung der Antike aber nicht nur in materieller Form, sondern auch in Form ausgiebiger Dank-Sagung erbracht werden: »Da das Danksagen ein bloß verbaler Ersatz für eine materielle Gegenleistung ist, hat es ursprünglich rhetorischen Aufwand bedeutet. Man bezahlte durch gesteigerte Rhetorizität«. 9 Eine bloß dankbare Gesinnung hingegen galt in der Antike nicht viel gegenüber einer materiellen Gegenleistung, einer aufwändigen Danksagung oder – noch besser – beidem. 10 Erst bei Seneca kam der Gedanke auf, dass, wer auch zur kleinsten Dankbezeugung Herz auf ihn gerichtet. Daher wird es von hier auch erhellt, das Erhellte aber verehrt nur den wahrhaftigen Gott, und zu dieser Verehrung gesellt sich alsbald der ganze Chor der Tugenden«; M. Luther, Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516), in: Die Anfänge. Luther-Werke Bd. 1, Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, K. Aland (Hg.), Stuttgart 1969, 107 – 262, 116. 6 K. Barth, Christliche Ethik. Ein Vortrag, München 1946, 23. 7 Für einen Überblick über die gabetheoretische Diskussion der letzten Jahre s. V. Hoffmann, Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottesund Nächstenliebe, Freiburg 2013, 27 – 191; S. Moebius, Geben, nehmen, erwidern, opfern und anerkennen. Zur Soziologie und Diskussion von Marcel Mauss’ Essai sur le don, JBTh 27 (2013), 3 – 21; A. Grund, Bindekraft und Polyvalenz der Gabe. Zur Einführung in diesen Band, in: dies. (Hg.), Opfer, Geschenke, Almosen. »Die Gabe« in Religion und Gesellschaft, Stuttgart 2015, 3 – 16; dies., Kulturanthropologie und Altes Testament. Stand und Perspektiven der Forschung, ThLZ 141 (2016), 873 – 886, 877 f. 8 R. Bunia / T. Dembeck, Dank sagen, rhetorisch und idiomatisch. Zur Entstehung der Floskel ›Danke!‹, in: N. Binczek / D. Baecker (Hg.), Dank sagen. Politik, Semantik und Poetik der Verbindlichkeit, München u. a. 2013, 39 – 65, 45. 9 Bunia / Dembeck, Dank, 39. 10 Nach Cicero hat gegenüber dem gratiam referre das gratiam habere, »die bloße dankbare Gesinnung oder das stumme dankbare Annehmen, zurückzutreten«; J. Döring, »Danke für diesen guten Morgen«. Zur Rhetorik von Katalog und enumeratio im neuen geistlichen Lied, in: N. Binczek / D. Baecker (Hg.), Dank sagen. Politik, Semantik und Poetik der Verbindlichkeit, München u. a. 2013, 141 – 155, 143.
»Gut ist’s, zu danken!« (Ps 92,2)
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verpflichtet sei, sich der Verpflichtung weder durch materielle noch durch rhetorische Leistung entledigen könne, sondern diese bleibend anzuerkennen habe. Dieses Motiv wurde in der antiken christlichen Theologie konsequent weitergedacht: »Allenfalls die Danksagung erlaubt dem Gläubigen [. . . ] Kompensation, wo Kompensation unmöglich ist« 11. Erst auf dem Hintergrund des Motivs der grundsätzlichen Inkommensurabilität der Dankverpflichtung wurde es überhaupt geläufig, als Dankbezeugung lediglich kurz »Danke« zu sagen und auf diese Weise den Dank schon im Alltag stets im Munde zu führen. Im alten Israel jedoch war die Dankesbekundung noch nicht wortkarg und alltäglich, sondern wurde in der Regel aufwändig zum Ausdruck gebracht, und zwar durch beides: Sowohl durch materielle Anerkennung in Form eines im rituellen Kontext an einem Heiligtum zu vollziehenden Dankopfers (ח־תּוָדה ֹ ֶב ַ ז: Lev 22,19; 2 Chr 29,31; 33,16; Ps 107,22; 116,17 oder ָמים ִ שׁל ְ תּוָדת ֹ ֶבח ַ ז: Lev 7,13.15) 12 als auch durch Rezitation eines Dankliedes (חוָדה: ֹ Neh 12,27; Ps 42,5; 69,31; 95,2; 100,4; 147,7; Jes 51,3). Beide wurden im Dankvollzug vor der Kultgemeinde miteinander verbunden. An manchen Stellen wird חוָדה ֹ auch im Sinne von ֶבח־ ַז תּוָדה ֹ ›Dankopfer‹, gebraucht, insbesondere in der Wendung תּוָדה ֹ זֶבח ›ein Dankopfer schlachten‹ (Ps 50,14.23; vgl. Jer 17,36; 33,11; Am 4,5). Nicht zufällig ist auch ידהhit. ›(Schuld) bekennen‹ (Lev 5,5; 16,21; 26,40; Num 5,7; 2 Chr 30,22; Ezr 10,1; Neh 1,6; 9:2.3; Dan 9,4.20; vgl. Jos 7,19; Esr 10,11) mit der öffentlichen Äußerung vor oder zusammen mit der Gemeinde verbunden – ein Gesamtbefund, der zur Annahme einer Grundbedeutung ›bekennen‹ der Wurzel ידהgeführt hat. Im Hebräischen ist das Danken in die Bewegung des Lobens eingefasst. Der deutsche Begriff des Dankens ist deutlicher selbstreflexiv als das hebräische Lexem, das die Wohltäter_innen ins Zentrum stellt. 13 Man kann daher durchaus fragen, ob ידהhi. sachgemäß mit ›danken‹ übersetzt ist, mithin ob beim Gebrauch dieses Verbs überhaupt an das Gefühl der Dankbarkeit gedacht wurde. Insbesondere C. Westermann hat betont, dass mit ידהhi. keine Entsprechung für dt. ›danken‹ vorliege, dass Danken hier vielmehr »noch vom Loben umfangen«, ja »eine Weise des Lobens« 14 ist. Der Befund im Hebräischen ist insofern vergleichbar 11 Bunia / Dembeck, Dank, 61. 12 Das דהG ָתּו-Opfer bestand nach »Lev 7,11 ff [. . . ] aus einem Schlacht- und Speiseopfer. Ein Teil des Schlachtopfers ging als Hebeopfer an das priesterliche Kultpersonal (Lev 7,14)«; U. Dahm, Art. Opfer (AT) (erstellt: Juli 2006), wibilex.de; permanenter Link zum Artikel: http://www . bibelwissenschaft . de / stichwort / 24240 / . 13 S. HAL 372, ידה, s.v. II. hi.: »preisen, Gott preisen, Sünde bekennen, Lobpreis und Dank . . . anstimmen«, vgl. G. Mayer / W. von Soden / J. Bergman, Art. ידה, ThWAT III (1982), 455 – 474, 457. 14 C. Westermann, Lob und Klage in den Psalmen, Göttingen 61983, 21; vgl. ders. Art. ידה, THAT I, 674 – 682.
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mit dem des Ägyptischen: 15 »Für etwas danken wird [. . . ] durch ›Re für etwas loben bzw. Gott für etwas preisen‹ ausgedrückt.« 16 Allerdings ist Westermanns Reduktion der Bedeutung von ידהhi. auf ›loben‹ und von דהG ָ תּוauf ›Lobopfer, Lobpreis, Loblied‹ kaum jemand gefolgt, 17 zumal bei den Belegstellen durchweg ein Rückblick auf empfangene Wohltaten und die Kompensation einer Dankesschuld erkennbar ist. 18 Daher ist nach wie vor dem expliziten Gebrauch von ידהhi. nachzugehen, wenn man Spuren der Dankbarkeit im Alten Testament verfolgt. Zugleich ist auf den erbrachten materiellen und rhetorischen Aufwand zu achten. Not lehrt Beten. Überwundene Not, derer man sich bewusst wird, lehrt dankbar zu beten. Es überrascht nicht, dass sich Dank im Alten Testament fast ausschließlich an Gott richtet, wenn man die Belege von ידהhi. ›loben, danken‹ geltend macht: Menschen sind fast nie Adressat von ידה hi. 19 Es überrascht also ferner nicht, dass weitaus die meisten Belege von hebr. ידהhi. »danken, loben« im Alten Testament sich im Psalter oder in Psalmen außerhalb des Psalters finden: »Kein Buch des Alten Testaments hat das Thema ›Dankbarkeit‹ eindrücklicher und umfassender entfaltet als der Psalter« 20. Das Verb ידהhi. begegnet dabei zum einen in den Lobgelübden der individuellen Klagelieder, die schon in der Situation der Not den künftigen Lobdank nach erfahrener Rettung antizipieren, aber genauso in vielen Dankliedern des Einzelnen, die auf eine schon erfahrene Hilfe zurückblicken und in denen die Lobgelübde der Klagesituation eingelöst werden. Die Hymnen wiederum rufen zum gemeinschaftlichen Lobdank auf und vollziehen ihn. Diese drei Gattungen thematisieren Dank somit im Rückblick auf die Vergangenheit, im aktuellen Vollzug und im Vorblick auf die Zukunft. Im Folgenden soll der Dankbezeugung in den Dankliedern des Einzelnen am Beispiel von Ps 118 nachgegangen werden.
15 Mayer / von Soden / Bergman, Art. ידה, 458 f; zum vergleichbaren Befund im Akkadischen s. a. a. O. 459 f. 16 Mayer / von Soden / Bergman, Art. ידה, 458. 17 Vgl. etwa F. Crüsemann, Studien zur Formgeschichte von Hymnus und Danklied in Israel (WMANT 32), Neukirchen-Vluyn 1969, 279 – 283; Mayer / von Soden / Bergman, ידה, 456 – 458.460; Mark, Meine Stärke, 124 – 126; Tita, Gelübde, 106 f.136 f. 18 Ohnehin ist zu beachten, dass Gefühle – somit auch das der Dankbarkeit – gerade auch ohne reflexive Aussagen wie »ich danke dir« oder »ich bin dankbar« ausgedrückt werden können, vgl. M. Kepper, Wie sagt man, was man fühlt?, in: A. Grund-Wittenberg / R. Poser (Hg.), Die verborgene Macht der Scham (BThSt 173), Neukirchen-Vluyn 2017 [im Druck]. 19 Mayer / von Soden / Bergman, Art. ידה, 465. Die einzigen nicht ironisch gemeinten Ausnahmen sind Gen 49,8 und Ps 45,18. 20 B. Janowski, Dankbarkeit. Ein anthropologischer Grundbegriff im Spiegel der TodaPsalmen, in: ders., Der Gott des Lebens, Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 3, Neukirchen-Vluyn 2003, 267 – 312, 301.
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»Gut ist’s, zu danken!« (Ps 92,2)
2. Lobdank ( ידהhi.) in den Dankliedern des Einzelnen: Das Beispiel von Ps 118 H. Gunkel hatte in seiner epochalen Einleitung in die Psalmen zwischen Dankliedern des Einzelnen (DE) und Dankliedern Israels, also Dankliedern des Volkes (DV) unterschieden. Er hatte gleichwohl einräumen müssen: »Die einzelnen erhaltenen Danklieder unterscheiden sich voneinander auf das mannigfaltigste« 21. Dass in einem weitgehend als DE zu identifizierenden Text auch Elemente des Hymnus wie Dankaufforderungen oder partizipiale Beschreibungen der Taten JHWHs treten können, wird sich auch am Beispiel von Ps 118 zeigen, wo sich neben der Ich-Rede (1. Ps. Sg.) viele weitere Stimmen zu Gehör bringen. Als Wochenpsalm zum Oster- und zum Pfingstfest 22 ist Ps 118 eines der bekanntesten Danklieder des Einzelnen. Zugleich stellt er die Forschung 23 vor eine ganze Reihe von Problemen. Der Text lautet: 1 2 3 4
a b a b a b a b
Danket JHWH: »Ja, er ist gut, ja, in fernste Zeit währt seine Güte!« Es spreche doch Israel: 24 »Ja, in fernste Zeit währt seine Güte!« Es spreche doch das Haus Aaron: »Ja, in fernste Zeit währt seine Güte!« Es sprechen doch, die JHWH fürchtena: »Ja, in fernste Zeit währt seine Güte!«
1–4
Aufforderung zur tôda¯ h ידהhi. / טוב ֹ ידהhi. ידהhi. ידהhi.
21 Gunkel / Begrich, Einleitung, 280. 22 Zur liturgischen Bedeutung von Ps 118 im Judentum und Christentum vgl. u. a. J.L. Mays, Psalm 118 in the Light of Canonical Analysis, in: G.M. Tucker (ed.), Canon, Theology, and Old Testament Interpretation (FS B.S. Childs), Philadelphia 1988, 299 – 311, 301. 23 Hier sind zum einen die folgenden Kommentare zu nennen, wie: L.C. Allen, Psalms Bd. 3: 101 – 150 (WBC 23), Waco überarb. Aufl. 2004; H. Gunkel, Die Psalmen (HK II / 2), Göttingen 61986; F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalmen 101 – 150 (HThK), Freiburg i. Br. / Basel / Wien 2008; H.-J. Kraus, Die Psalmen (BK XIV I / II), Neukirchen-Vluyn 61986; K. Seybold, Die Psalmen (HAT I / 15), Tübingen 1996; B. Weber, Werkbuch Psalmen II. Die Psalmen 73 – 150, Stuttgart u. a. 2003. Wichtige Studien stammen von P. Auffret, Merveilles à nos yeux. Etude structurelle de vingt psaumes dont celui de 1 Chr 16,8 – 36 (BZAW 235), Berlin / New York 1995; Mays, Psalm 118; E. Zenger, Das schöne Confitemini. Perspektiven christlicher Psalmenhermeneutik am Beispiel des 118. Psalms, in: Chr. Bultmann (Hg.), Vergegenwärtigung des Alten Testaments. Beiträge zur biblischen Hermeneutik (FS R. Smend), Göttingen 2002, 112 – 126. Besonders zu berücksichtigen sind schließlich die Monographien J. Schröten, Entstehung, Komposition und Wirkungsgeschichte des 118. Psalms (BBB 95), Weinheim 1995; M. Mark, Meine Stärke und mein Schutz ist der Herr. Poetologisch-theologische Studie zu Psalm 118, Würzburg 1999. 24 Der Überschuss von G ὅτι ἀγαθός an dieser Stelle ist offenbar eine Anpassung nicht nur an V. 1, sondern auch an die aus Ps 106,1; 107,1; 136,1; 1 Chr 16,34; 2 Chr 5,13; 7,3 bekannte Version dieser Formel.
32 5
6
7 8
Alexandra Grund-Wittenberg
a
Aus der Bedrängnis rief ich Jah,
5 – 18
b
es antwortete mir mit Weite Jah.b
a
JHWH ist für mich, ich fürchte mich nicht. Was kann mir ein Mensch tun? JHWH ist für mich, als mein Helfer 25 und ich schaue auf meine Hasser.c Besser ist, sich zu bergen bei JHWH
5 – 12 5 6f
b a b a
8f
allgemeines Vertrauensbekenntnis טוב ֹ טוב ֹ
10 – 12
Überwindung der Feindesnot
b a b 10 a
als auf einen Menschen zu vertrauen. Besser ist, sich zu bergen bei JHWH als auf Vornehme zu vertrauen.d Alle Völker umringten mich –
b 11 a
im Namen JHWHs: Ja, ich wehrte 26 sie ab! Sie umringten mich, um und um 27 umringten sie mich – im Namen JHWHs: Ja, ich wehrte sie ab! 28 Sie umringten mich wie Bienen, sie wurden ausgelöscht wie Dornenfeuerf im Namen JHWHs: Ja, ich wehrte sie ab! 29 Du stießest 30 mich hart, dass ich fiel, 13 – 18
9
b 12 a b 13 a b
aber JHWH half mir.
Rückblick auf Not und Rettung Feindesnot Summe persönliches Vertrauensbekenntnis עשׂה עזר
13 f
Todesnot als Erziehung JHWHs Rettung aus Todesnot עזר
25 G vereinfacht zu ἐμοὶ βονθός »ist mir Helfer«, M ist beizubehalten, dabei Beth essentiae und Pluralis majestatis anzunehmen, vgl. GK § 119 I 124 g – i. 26 Mit HALAT s.v. מולII hif. ›abwehren‹. G übersetzt die PK ֲא ִמילַםV. 10b; 11b und 12b, vermutlich treffend, mit Aorist. 27 Affirmativer Gebrauch von ( גַםGes 18. Aufl. s.v.). 28 Seybold, HAT I / 15, 256, vermutet, dass V. 11a als masoretisches »Notarikon«, V. 11b als Wiederholung von V. 10b nicht zum Textbestand zu zählen ist, verkennt dabei offenbar das den Psalm auch hier kennzeichnende Stilmittel von Repetition und Variation. 29 V. 12 gerät als zeilenüberschreitende long line in 4QPssb in Verdacht, Überschuss zu sein, doch inhaltlich ist gerade V. 12aβ als Konkretion der Überwindung der Feindesnot und als Klimax bei der dritten Wiederholung unverzichtbarer Zielpunkt. 30 G und S bezeugen eine passivische Lesart. Für diese spricht zwar, dass 2. Ps. Sg. m. mit ePP 1. Ps. Sg. c. von דחהin M sich scheinbar nicht gut in den Kontext fügt, da in V. 13b von JHWH nicht in 2., sondern 3. Ps. Sg. m. die Rede ist und sich das Verb דחה von seinen fünf Belegen sonst noch dreimal in passivischem Gebrauch (pu.: Ps 36,13; Ptz. pass.: Ps 62,14; ni.: Prov 14,32) ist. Bei einer Konjektur müsste allerdings nicht nicht nur die flektierte Form (vgl. etwa Kraus, BK.AT XIV, 801), sondern auch der Inf. abs. in der fig. etym. in Hi. geändert werden. Gegenüber so umfangreichen, inhaltlich harmonisierenden Eingriffen empfiehlt es sich, an der schwierigeren Lesart von M festzuhalten.
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»Gut ist’s, zu danken!« (Ps 92,2)
14 a b 15 a
Meine Stärke und mein Lied 31 ist Jah, und er wurde mir zur Rettung.h Klang von Jubel und Rettungi in den Zelten der Gerechten:
ְשׁוּעה ָ י 15 f
Siegesjubel ְשׁוּעה ָ י יק ִ ַצ ִדּ עשׂה רום עשׂה
b 16 a b 17 a
»Die Rechte JHWHs ist erhöht, die Rechte JHWHs tut Gewaltiges!« Ich sterbe nicht, sondern lebe
b 18 a b 19 a b
und erzähle die Taten JHWHs.j Erzog mich JHWH hart,k so gab er mich doch nicht dem Tode preis. Öffnet mir Tore der Gerechtigkeit 19 – 28 Ich werde durch sie einziehen, 19 f
17 f
ich werde Jah danken. 20 a b 21 a
Dies ist das Tor JHWHs: Gerechte ziehen durch es ein. Ich danke dir: Ja, du hast mir geantwortet, 21 – 23
b 22 a
und du wurdest mir zur Rettung. Ein Stein, den die Bauenden verachtet haben, wurde zum Hauptschlussstein!m Von JHWH ist dies geschehen,n ein Wunder war es in unseren Augen. Dies ist der Tag, den JHWH gemacht hat. 24 Wir wollen jauchzen und uns an ihm 32 freuen. Ach JHWH, rette doch! 25 Ach JHWH, gib doch Gelingen! Gesegnet, der einzieht im Namen JHWHs! 26 Wir segnen euch hiermit vom Haus JHWHs!
b 23 a b 24 a b 25 a b 26 a b
Überwindung der Todesnot
Einzug zur tôda¯ h Einzug in den Tempelbereich ֶצֶדק בוא ַצ ִדּיק בוא Bekenntnis wunderbarer Rettung ידהhi. / ִשׁוּעה ָ י
Zeit der Festfreude עשׂה Anrufung JHWHs ישׁע Segensvollzug בוא
31 Hier ist eine Haplographie des יanzunehmen, vgl. Ex 15,2; Jes 12,2. 32 Zum Rückbezug auf JHWH, nicht auf den Tag in V. 24a, s. Hossfeld / Zenger, HThK, 329 [Zenger].
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Alexandra Grund-Wittenberg
27 a
b 28 a b 29 a b
Gott ist JHWH, und er hat uns erleuchtet.o Bindet ein Festopfer 33 mit Stricken an die Hörner des Altars. Mein Gott bist du, und ich danke dir,
27
mein Gott, ich will dich erheben.p
28
Dankt JHWH: »Ja, er ist gut. ja, in fernste Zeit währt seine Güte!«
29
Wir-Bekenntnis / tôda¯ -Vollzug (Opferhandlung) Ich-Bekenntnis / tôda¯ -Vollzug (Sprachhandlung) ידהhi. Aufforderung zur tôda¯ h ידהhi. / טוב ֹ
Anmerkungen zur Auslegung a Die Trias Israel, Haus Aaron und JHWH-Fürchtende begegnet bereits in Ps 115,12 f. Dabei werden die JHWH-Fürchtenden gelegentlich als Charakterisierung der beiden vorher genannten Gruppen gedeutet, vgl. dagegen Hossfeld / Zenger, HThK, 322 [Zenger]. Seit A. Bertholet, Die Stellung der Israeliten und der Juden zu den Fremden, Freiburg i. Br. u. a. 1896, 181.330.332, wird dabei an Proselyten gedacht bzw. an »jene Menschen aus den Weltvölkern, die nicht mehr auf ihre Götter, sondern auf JHWH allein vertrauen« (Hossfeld / Zenger, HThK, 322 [Zenger]); nach Weber, Werkbuch II, 254 sind sie identisch mit Israel. Mays, Psalm 118, 303 f sieht in dem Terminus einen Bezug auf den in V. 15.20 begegnenden Begriff יקים ִ צ ִדּ, ַ ähnlich votieren H. Fuhs, Art. ָרא ֵי, ThWAT III 1, 869 – 893, 887; Mark, Stärke, 347 – 350. Tatsächlich sind die ִִי ְר ֵאי יְהוָהin Mal 3,16 die JHWH-Treuen innerhalb Israels, denen nach Mal 3,20 das Aufgehen der Sonne der Gerechtigkeit verheißen ist. Als JHWH-Fürchtende werden in Ex 18,21 unbestechliche, in Ps 15,4 ehrbare Menschen bezeichnet; zu ihnen zu gehören, ist nach Ps 61,6 ein besonderes Erbteil. In den Psalmen ist es vielfach die versammelte Gemeinde, die zum Lob JHWHs aufgefordert wird (Ps 22,24), die auf die Erzählung von der Errettung des betenden Ichs achtet (Ps 66,16) und die zum Vertrauen auf JHWH aufgerufen wird (Ps 115,13). b Aufschlussreich ist in V. 5, dass die Antwort JHWHs auf das Gebet in Bedrängnis hier gerade nicht in einer konkreten Sprachhandlung, etwa einer Orakelkundgabe im Sinne eines priesterlichen oder prophetischen Heilsorakels, sondern schlicht als Erfahrung von Weite bestimmt wird. Vgl. zur Metapher des »Antwortens Gottes« auch die weiterführende Studie von R. Kessler, Der antwortende Gott, in: ders., Gotteserdung. Beiträge zur Hermeneutik und Exegese der Hebräischen Bibel, Stuttgart 2006, 177 – 190.
33 Zu dieser Bedeutung von ַחגs. Ex 23,18. Die von manchen für Ps 118,27 angenommene Bedeutung ›Festreigen‹ wäre dagegen hier singulär. Damit ist ֹתים ִ ַבּ ֲעבauch eher als Pl. von ›Strick, Seil, Schnur‹ ֲעבֹתabzuleiten als eine substantivierte Neubildung des Adjektivs בות ֹ › ָעastreich‹ anzunehmen.
»Gut ist’s, zu danken!« (Ps 92,2)
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c Das Vertrauensbekenntnis V. 6 f zu dem Gott, der vor allem, was Menschen antun können, Schutz und Furchtlosigkeit verleiht, erinnert sowohl formal (doppelter synthetischer Parallelismus membrorum) als auch inhaltlich an Ps 27,1. Zum Motiv der Hilflosigkeit von Menschen im Verhältnis zu Gott vgl. ferner Jes 31,3; 51,7 f.11 f; Jer 17,5 – 8; Ps 56,12; 124,2; 146,3 u.ö. Die Überlegenheit über alle Hasser resultiert nach dem inneren Zusammenhang des Textes aus der Hilfe durch die siegreiche Rechte JHWHs (V. 16). d V. 8 f verallgemeinern in Form des weisheitlichen טוב ִמן-Spruchs ֹ das Bekenntnis zum Schutz durch JHWH, unter Rückbezug auf V. 6 (Ohnmacht von Menschen im Verhältnis zu JHWH) sowie durch das Stichwort טוב ֹ auf V. 1 – 4. Während man nach landläufigem Verständnis von den Vornehmen (יבים ִ ְד ִ )ג, der Elite eines Volkes, machtvollen Beistand erhoffen möchte, zweifelt das AT, wie hier in V. 9 sowie in Hi 12,21; Ps 107,40; 146,3 u. a., ihre Macht zu helfen vielfach an. e Mit der Metapher der Belagerung durch alle Völker (V. 10a) könnte die Notsituation kaum größer geschildert werden. V. 10a nimmt dabei mit dem Umringtwerden durch Feinde ( )סבבdas Motiv der Rettung aus Enge aus dem Summarium in V. 5 auf, und V. 10b bezieht sich bei der Überwindung der Feinde auf V. 7b zurück. Dass ihre Abwehr nur durch den wie einen Schild gebrauchten Namen JHWHs zustande kam, betont die Pendensstellung von שׁם ֵ ִבּ יִהוָהV. 10b.11b.12b). f Der Vergleich eines übermächtigen, von allen Seiten angreifenden Heeres mit einem Schwarm Bienen in V. 12a findet sich ähnlich auch in Dtn 1,44 und Jes 7,18. Wie die Gefahr auf wunderbare Weise doch abgewandt wurde, drückt der Vergleich mit einem Dornenfeuer aus, dessen leicht brennbares Material schnell verlöscht, vgl. explizit anders Ex 3,2. Zum Ganzen vgl. Mark, Stärke, 430 – 436. g V. 13a sieht hinter den das betende Ich zu Fall bringenden Angriffen das Wirken JHWHs, das nach dem inhaltlich und formal (fig. etym.) mit V. 13 verbundenen V. 18 als Erziehung verstanden wird. Dabei ist JHWH zugleich der Gott, der auch hilft (Rückbezug auf V. 7a durch )עזר. Zwar sind es in den Psalmen sonst meist die Feinde, die zu Fall kommen (Ps 5,11; 7,16; 18,39; 20,9; 27,2; 36,13; 73,18; 91,7; 141,10), aber dass JHWH Fallende stützt, wissen auch Ps 37,24; 145,14. h Die wörtlichen Entsprechungen von V. 14a (vgl. V. 18) zu Ex 15,2a markieren den Bezug von Ps 118, dem Abschluss des »ägyptischen Hallels«, zur Exodustradition. Diesen haben Mays in seiner kanonischen Auslegung des Psalms (Mays, Psalm 118, 304 f ) und in seinem Gefolge Hossfeld / Zenger, HThK, 318 f.325 f [Zenger] und Mark, Stärke, 202 – 211 unterstrichen, ebenso wie den Bezug zu Jes 12,2 im Jes 1 – 11 abschließenden Danklied. i ִרנָּהist auch oft der flehentliche Gebetsruf (1 Kön 8,28 par 2 Ch 20,22; Ps 17,1; 61,2; 88,3; 106,44; 119,169; 142,7), sonst aber der erlöste Jubelruf der Geretteten (Ps 30,6; 105,43; 126,2.5), der nach Ps 107,22 von Dankopfern begleitet wird. ל־רנָּה ִ קו ֹ bezieht sich somit weniger auf den Exodus aus Babylon oder Ägypten (vgl. Hossfeld / Zenger, HThK, 326 [Zenger]) als auf den Klang von Jubel und Dank (ְתוָדה ֹ ל־רנָּה ו ִ )קו ֹ der zum Tempel wallfahrenden Gemeinde (vgl Ps 47,1). Dass zuvor von Gesang die Rede war (V. 14), spricht dafür, dass auch bei dem Klang ()קול ֹ in V. 15a an Gesang und musikalische Begleitung zu denken
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Alexandra Grund-Wittenberg
ist. Die »Zelte« spielen vermutlich auf das nach dem Exodus in Zelten wohnende Israel an. Auch die gewaltige Tat JHWHs (V. 15b) erinnert an das Mirjamlied Ex 15,21b, die erhöhte Rechte (= Hand) an die Herausführung mit starker Hand (Ex 3,19; 6,1; 13,3.9.14 u.ö.) und mit ausgerecktem Arm (Ex 6,6; Dtn 4,34; 2K 17,36; Ps 136,12; Jer 32,21 vgl. Ez 20,34). Auch sonst steht die erhöhte Rechte für die obsiegende Übermacht (vgl. Ps 89,43) bzw. für die Handlungsweise Gottes (Ps 77,11). Seit der Narmerplakette aus dem ägyptischen Alten Reich ist der Gestus der über die Feinde erhobenen rechten Hand ein Emblem der königlichen Ordnungsmacht, die die Chaosmächte niederzwingt. j Die Rettung vor dem Tod und aus den Fängen der Scheol ist ein häufiges Motiv der DE (Ps 30,4; 116,8 f vgl. Ps 16,10); Ziel der Errettung ist oft die öffentliche Verkündigung der wirkmächtigen Taten (ש