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German Pages 255 [256] Year 2011
Benutzerorientierte Bibliotheken im Web
Bibliotheks- und Informationspraxis 45
De Gruyter Saur
Benutzerorientierte Bibliotheken im Web Usability-Methoden, Umsetzung und Trends
Herausgegeben von Bernard Bekavac, René Schneider und Werner Schweibenz
De Gruyter Saur
Bibliotheks- und Informationspraxis ab Band 42: Herausgegeben von Klaus Gantert und Ulrike Junger Das moderne Bibliotheks- und Informationswesen setzt sich mit vielfältigen Anforderungen auseinander und entwickelt sich ständig weiter. Die Reihe Bibliotheks- und Informationspraxis greift neue Themen und Fragestellungen auf und will mit Informationen und Erfahrungen aus der Praxis dazu beitragen, Betriebsabläufe und Dienstleistungen von Bibliotheken und vergleichbaren Einrichtungen optimal zu gestalten. Die Reihe richtet sich an alle, die in Bibliotheken oder auf anderen Gebieten der Informationsvermittlung tätig sind.
ISBN 978-3-11-025882-0 e-ISBN 978-3-11-025883-7 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Benutzerorientierte Bibliotheken im Web : Usability-Methoden, Umsetzung und Trends / herausgegeben von Bernard Bekavac, René Schneider und Werner Schweibenz. SFP%LEOLRWKHNVXQG,QIRUPDWLRQVSUD[LV Includes bibliographical references. ,6%1DONSDSHU ,6%1H,6%1 1. Internet access for library users. 2. Electronic information resource searching. 3. Digital libraries. I. Bekavac, Bernard. II. Schneider, René Martin. III. Schweibenz, Werner. Z674.75.W67B46 2011 025.04‘2--dc23 2011031599
%LEOLRJUD¿VFKH,QIRUPDWLRQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRWKHN Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation LQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRJUD¿HGHWDLOOLHUWHELEOLRJUD¿VFKH'DWHQ sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen f Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt
Einleitung Bernard Bekavac, René Schneider und Werner Schweibenz. . . . . . . . . . .
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Teil I: Usability-Methoden 1. Grundlagen des Usability-Engineerings Aspekte der Evaluation von Benutzerfreundlichkeit von Bibliothekswebsites Werner Schweibenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Usability-Evaluation von Bibliothekswebsites Thomas Weinhold, Sonja Hamann und Bernard Bekavac . . . . . . . . . .
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3. „Sieht gut aus, aber was bringt es mir?“ – Zur Evaluation der Nützlichkeit digitaler Inhalte Rahel Birri Blezon, Jasmin Hügi und René Schneider . . . . . . . . . . . .
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4. Einführung in die Online-Benutzerforschung zu Digitalen Bibliotheken Elke Greifeneder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil II: Umsetzung 5. Usability und User-Centered Design im Kontext einer wissenschaftlichen Bibliothek Steffen Weichert und Margret Plank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6. Das Wissensportal der ETH-Bibliothek – ein Fallbeispiel für UserCentered-Design Arlette Piguet. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 7. Recherche- und Leseverhalten von Studierenden: Ergebnisse einer Think-Aloud-Studie Kathy Heintz und Sebastian Mundt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
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Inhalt
Teil III: Trends 8. Barrierefreiheit in digitalen Bibliotheken Brigitte Bornemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 9. Bibliotheken im Future Internet Stephanie B. Linek und Klaus Tochtermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 10. Die Usability bibliothekarischer Apps Hans-Bodo Pohla . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 11. Die Blended Library: Benutzerorientierte Verschmelzung von virtuellen und realen Bibliotheksdiensten Mathias Heilig, Roman Rädle und Harald Reiterer . . . . . . . . . . . . . 217
Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
Einleitung Bernard Bekavac, René Schneider und Werner Schweibenz Bibliotheken sind seit jeher Orte, die der Erhaltung und der Vermittlung von Wissen dienen. Im Mittelpunkt stand dabei lange Zeit die Sammlung und Erschließung gedruckter Werke. Doch moderne Bibliotheken müssen sich mittlerweile nicht mehr nur an ihren physischen Beständen messen lassen. Mit der Verbreitung des Internets und der zunehmenden Digitalisierung von Wissen hat sich nicht zuletzt auch die Rolle der Bibliotheken stark verändert. Klassische Bibliotheksdienstleistungen rücken in den Hintergrund und online-basierte Angebote gewinnen immer stärker an Relevanz. In diesem Zusammenhang sind Bibliotheken mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert. Einerseits haben Internetsuchmaschinen, vor allem diejenigen mit wissenschaftlicher Ausrichtung wie z.B. Google Scholar, BASE oder Scirus, die Abhängigkeit der Nutzer von Bibliotheken bei der Erfüllung ihrer Informationsbedürfnisse reduziert. Andererseits ermöglicht die technologische Weiterentwicklung des Webs immer professionellere Benutzeroberflächen, die dazu beitragen, dass Anwender mittlerweile höhere Anforderungen an die Gestaltung bzw. den Funktionsumfang und insbesondere auch die Benutzerfreundlichkeit von Internetauftritten und webbasierten Diensten stellen. Auch wenn Anwender Bibliotheksangebote weitestgehend immer noch als vertrauenswürdiger einstufen als Suchmaschinenresultate, Online-Enzyklopädien oder sonstige frei verwendbare Webdienste, werden die typischen Informationssuchenden nichtsdestotrotz von der Einfachheit solcher Angebote und der unmittelbaren Verfügbarkeit der jeweiligen Inhalte angezogen. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in den Nutzungszahlen unterschiedlicher Informationsdienste wider. So hat die 2010 von OCLC (Online Computer Library Center) durchgeführte Umfrage unter Bibliotheksbenutzern aus Australien, Kanada, Indien, Singapur, Großbritannien und den USA ergeben, dass der Prozentsatz der Befragten, die ihre Suche nach Informationen auf Bibliothekswebsites beginnen, gegen null tendiert.1 Es ist zu vermuten, dass für den deutschsprachigen Raum ähnliche Werte anzusetzen sind. Wenngleich die Online-Angebote von Bibliotheken auch nicht die erste Anlaufstelle für Recherchen sind, so werden sie dennoch relativ konstant genutzt. Gemäß der genannten Studie von OCLC ist in den USA von 2005 bis 2010 die Nutzung von Bibliothekswebsites sogar leicht gestiegen, von 31 Prozent auf 33 Prozent. 1
http://www.oclc.org/reports/2010perceptions.htm (14.07.2011) .
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Bernard Bekavac, René Schneider und Werner Schweibenz
Angesichts des intensiven Wettbewerbs in einer früher ausschließlich den Bibliotheken vorbehaltenen Domäne ist es für diese unabdingbar, ihre Dienste für die heutigen Informationssuchenden relevant zu halten bzw. möglichst attraktiv zu gestalten. Für Bibliotheken ist es in diesem Kontext essentiell, ihre Webauftritte und insbesondere die vorhandenen Suchfunktionen den Ansprüchen der Nutzer und deren Arbeitsabläufen anzupassen. Dabei sollte die gleiche einfache Handhabung, Robustheit und Leistungsfähigkeit, wie sie von Internetsuchmaschinen und ähnlichen Diensten geleistet wird, mit der Relevanz und bewährten Qualität der Inhalte, wie sie traditionell durch Bibliotheken zur Verfügung gestellt werden, angestrebt werden. Wenn Anwender einen Online-Dienst nicht intuitiv bedienen können, besteht die Gefahr, dass sie diesen als nutzlos einstufen und dessen Verwendung künftig meiden. Ein wesentliches Kriterium für den Erfolg bibliothekarischer Online-Angebote ist folglich deren Usability bzw. Gebrauchstauglichkeit. Nur wenn es gelingt, die Anwenderfreundlichkeit bibliotheksspezifischer Angebote an jene von Internetsuchmaschinen und ähnlichen Diensten anzugleichen, können sich Bibliothekswebsites wieder zu einem häufiger genutzten Rechercheinstrument entwickeln. Neben der reinen Usability wird von den heutigen Benutzern aber auch erwartet, dass der Umgang mit einer Website möglichst attraktiv sein bzw. auch Spaß bereiten sollte (Joy-of-Use). Für all diese Anforderungen gilt es entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, indem insbesondere Instrumente in den Institutionen verankert werden, die eine regelmäßige Überprüfung und kontinuierliche Weiterentwicklung der Angebote auf der eigenen Website ermöglichen. Bibliotheken stehen dabei in einer besonderen Tradition und vor einer ebenso besonderen Herausforderung: einerseits ist die Wichtigkeit des guten Umgangs mit Benutzern für sie nichts Neues, hier können sie ohne Zweifel aus einem jahrhundertealten Schatz an Erfahrung schöpfen, andererseits geht der direkte Kontakt mit dem Benutzer immer weiter verloren und verlagert sich ins Web. Es drängt sich die Frage auf, ob die althergebrachten Erfahrungen weiterhin von Bedeutung sein werden oder sich eine Lücke zwischen Benutzer und Informationsanbieter auftut, die die Bibliotheken nur mit großer Mühe und externer Hilfe schließen können. Dieser Sammelband hat es sich zur Aufgabe gemacht, Wege für die Erschließung bzw. Schließung dieser Lücke aufzuzeigen, indem er „Benutzerfreundlichkeit im Web“ als Sammelbegriff für diese Problematik und essentielle Aufgabe für die Zukunft der Bibliotheken in den Vordergrund rückt. Dazu gliedert er sich in drei Teile: Usability-Methoden, Umsetzung und Trends.
Einleitung
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Teil I: Usability-Methoden Im ersten Teil erfolgt ein Methodenüberblick. Dieser beginnt mit einer Einführung in die Grundlagen des Usability Engineerings von Werner Schweibenz, in dem verschiedene Aspekte der Benutzerfreundlichkeit sowie eine Reihe von Methoden und Verfahren zu deren Evaluation dargestellt werden, die in einen entwicklungsbegleitenden Prozess des Usability Engineerings münden. Der Beitrag von Thomas Weinhold, Sonja Hamann und Bernard Bekavac befasst sich speziell mit der Usability-Evaluation von bibliothekarischen OnlineAngeboten. Der von den Autoren entwickelte webbasierte Kriterienkatalog „BibEval“ ist zugeschnitten auf die in bibliothekarischen Angeboten üblicherweise integrierten Komponenten wie zum Beispiel Angebote und Dienstleistungen, Recherchefunktionen, Personalisierung und Nutzerpartizipation, d.h. auch Funktionen, die in Bezug zum Begriff Web 2.0 stehen. Der Beitrag von Rahel Birri Blezon, Jasmin Hügi und René Schneider beleuchtet ein Themenfeld, das noch wenig bearbeitet ist, obwohl es in direktem Zusammenhang mit der Usability von digitalen Bibliotheken steht, nämlich die Usefulness bzw. Nützlichkeit digitaler Inhalte. Während sich die genannten Beiträge mit der Gestaltung und den Inhalten digitaler Bibliotheken befassen, beschäftigt sich der letzte Aufsatz im Teil I mit der Online-Benutzerforschung bei Digitalen Bibliotheken. Der Beitrag von Elke Greifeneder setzt sich mit den Besonderheiten der Forschung über ein Online-Medium auseinander und zeigt die Probleme auf, die sich daraus ergeben. Das besondere Augenmerk gilt unter anderem dem Design von Fragebögen, der Auswertung von Logfiles, dem Mouse- und Clicktracking, dem RemoteUsability-Testing sowie Online-Interviews und -Fokusgruppen.
Teil II: Umsetzung Der zweite Teil dieses Sammelbands widmet sich der Umsetzung der UsabilityMethoden. Es wird deutlich, wie sinnvoll und nutzungswirksam es für Bibliotheken ist, der Benutzerfreundlichkeit einen festen Platz während der Entwicklung neuer Bibliotheksangebote einzuräumen. Vorreiter sind dabei bislang die großen und eher finanzstarken Institutionen, die bereits über ein ausgeprägtes Innovationsmanagement verfügen und bereit sind, Neuerungen im Bereich des Service Design mit Unternehmen der Usability-Branche konsequent umzusetzen. Einen guten Überblick über diese Zusammenarbeit geben die Artikel von Steffen Weichert, Margret Plank sowie von Arlette Piguet, die jeweils auf ähnlichen Wegen die Entwicklung neuer Informationsangebote durch einen benutzerzentrierten Prozess begleiten lassen. Anhand der Entwicklung eines wissenschaftlichen Portals erläutern Steffen Weichert und Margret Plank die
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Bernard Bekavac, René Schneider und Werner Schweibenz
angewandten Methoden und analysieren deren Eignung für den Bibliothekskontext. Arlette Piguet beschreibt in ihrem Beitrag die Umsetzung eines „SinglePoint-of-Access“ für heterogene, online angebotene Informationsressourcen in ein Wissensportal, wobei identifizierte Benutzergruppen in den Entwicklungsprozess miteinbezogen wurden. Die vergleichende Lektüre dieser beiden Artikel mag dem interessierten Leser Aufschluss darüber geben, welche Evaluationsmethoden im eigenen Kontext beim Abbau interaktiver Defizite hilfreich sein können. Wie wichtig eine genaue Kenntnis dieser Interaktionshindernisse ist, zeigt der Beitrag von Kathy Heintz und Sebastian Mundt, der einen guten Einblick „in die Köpfe“ der Bibliotheksbenutzer vermittelt. Der Beitrag dieser Autoren rückt darüber hinaus auch die Problematik des Umgangs mit neuen elektronischen Volltextformaten und E-Books in den Vordergrund, die für Bibliotheken, denen auch hier eine führende Rolle bei der Bereitstellung und Vermittlung zukommt, von besonderer Wichtigkeit ist.
Teil III: Trends Der letzte Teil des Sammelbandes befasst sich mit gegenwärtigen Trends hinsichtlich der Benutzerorientierung bibliothekarischer Online-Angebote, wagt aber auch einen Blick in (mögliche) künftige Ausprägungen. Brigitte Bornemann verweist zunächst in ihrem Beitrag auf die zunehmende Bedeutung der Barrierefreiheit von Web-Auftritten, die heutzutage von vielen Entwicklern eher noch vernachlässigt wird. Barrierefreiheit ist zum einen ein sehr wichtiger Aspekt für die Gleichstellung behinderter Menschen. Zum anderen deutet der demografische Wandel aber darauf hin, dass die Anzahl älterer Menschen als Online-Benutzer stetig zunimmt. Mit zunehmendem Alter steigt auch die Wahrscheinlichkeit körperlicher Beeinträchtigungen und somit die Bedeutung der Barrierefreiheit als notwendige Voraussetzung, um dieser Altersgruppe möglichst lange ein selbständiges Leben zu ermöglichen. Wenn die kritischen Punkte der Barrierefreiheit im Bereich der digitalen Bibliotheken gelöst werden könnten, würde damit auch das produktive Arbeiten in der immer weiter steigenden Lebensarbeitszeit unterstützt. Am Beispiel der Deutschen Digitalen Bibliothek wird in dem Artikel die Einbeziehung der Barrierefreiheit in den verschiedenen Phasen des zugehörigen Entwicklungsprojekts dargestellt. Im Beitrag von Stephanie B. Linek und Klaus Tochtermann werden Bibliotheken angesichts der Herausforderungen des Future Internet thematisiert. Das Future Internet stellt die nächste gravierende Entwicklung nach dem Web 2.0 dar und damit auch eine Herausforderung für die Bibliotheken der Zukunft. Die Erörterungen dieses Kapitels beschreiben dabei beispielhaft die Chancen neuerer spezifischer Ansätze, wie Serious Games, und thematisieren die Besonderheiten der Usability Evaluation von Bibliotheken im Future Internet.
Einleitung
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Mit der Markteinführung des iPhone im Jahre 2007 revolutionierte die Firma Apple die Mobilfunkkommunikation. Dabei setzten nicht nur die Form dieses „Mobiltelefons“ in Verbindung mit der innovativen graphischen Benutzungsoberfläche die künftigen Maßstäbe, auch die als Apps bezeichneten mobilen Anwendungen sowie das zugehörige Business- und Bezugsmodell (App Store) haben sich durchgesetzt. Zusammen mit dem kurze Zeit später eingeführten Google-Betriebssystem Android und dessen App-Shop namens Market bestimmen die zwei Betriebssysteme den stark wachsenden Markt für Anwendungen im Smartphone- und Tablet PC-Bereich. Zum Zeitpunkt der Herausgabe dieses Sammelbandes stehen schon weit über einhundert bibliothekarische Apps auf den genannten Plattformen zum Download bereit. Zu erwarten ist ein exponentieller Anstieg, da sehr viele Bibliotheken das Potential der Apps erkannt haben und entsprechende Anwendungen entwickeln. Hans-Bodo Pohla setzt sich in seinem Beitrag mit der Usability solcher mobilen Applikationen auseinander und benennt Kriterien, die Entwicklern dabei helfen sollen, sich an den Bedürfnissen der Nutzer ihrer Apps zu orientieren. Die konkrete Umsetzung wird dabei exemplarisch anhand von diversen Fallbeispielen einzelner bibliothekarischer Apps untersucht und bewertet. Mathias Heilig, Roman Rädle und Harald Reiterer demonstrieren schließlich im letzten Beitrag mit der „Blended Library“ die Zukunft von Bibliotheken. Bei dem Konzept geht es weg von der Entwicklung rein virtueller Welten hin zur Einbettung von Informationstechnologien in die soziale und physische Welt einer Bibliothek. In der Blended Library werden Benutzern somit völlig neue Formen der Recherche und der Wissensvermittlung geboten. Dies soll durch den umfassenden Einsatz von neuen interaktiven Endgeräten und zukunftsweisenden Visualisierungen geschehen und somit reale und virtuelle Angebote bzw. Funktionen der Bibliothek zusammenführen. Die Herausgeber erhoffen sich mit der Zusammenstellung dieser Beiträge den Lesern ein Stück weit die Bedeutung und Umsetzungsmöglichkeiten der Usability für benutzerorientierte Bibliotheken im Web näherzubringen. Bernard Bekavac René Schneider Werner Schweibenz
Teil I: Usability-Methoden
1. Grundlagen des Usability-Engineerings Aspekte der Evaluation von Benutzerfreundlichkeit von Bibliothekswebsites Werner Schweibenz Einleitung In der Bibliothekswelt findet seit einigen Jahren eine umfassende Veränderung statt, die durch neue elektronische Angebote und Dienste verursacht wird1. Neben den traditionellen Online Public Access Catalog (OPAC) der Bibliotheken traten verschiedene neue Informationsangebote in den Vordergrund, wie zum Beispiel: – – – –
Server für Volltexte und Digitalisate, webbasierte Fachinformationsdatenbanken, elektronische Zeitschriften sowie von der Bibliothek erschlossene Linksammlungen von Quellen im Internet.
Gleichzeitig erfahren die Bibliotheken seit Jahren eine starke Konkurrenz in der wissenschaftlichen Informationsversorgung durch populäre Suchmaschinen wie Google mit seinen Ablegern Google Scholar und Google Books, aber auch durch Verlage und Online-Buchhändler. Diese Konkurrenten setzen seit geraumer Zeit Maßstäbe in Design, Benutzungsfreundlichkeit und Benutzerorientierung2, während die OPACs der Bibliotheken nach wie vor im Ruf stehen, ihren Benutzern häufig nur dann erfolgreiche Recherchen zu ermöglichen, wenn die Suchenden genau wissen, was sie benötigen, und auch in der Lage sind, ihr Anliegen in der Sprache des Anfragesystems auszudrücken.3 Dabei wäre es wichtig, stärker auf die Bedürfnisse der Benutzer einzugehen, um Bibliotheksangebote einfacher nutzbar zu machen.4 Insgesamt zeigt sich, dass die Benutzerorientierung immer mehr zu einer Kernaufgabe für erfolgreiche Bibliotheksangebote im Web wird. Denn um die Recherche im webbasierten OPAC als zentrales Element der Informationsversorgung entwickelt sich ein vielfältiges, ständig wachsendes Portfolio von Zusatz1 2 3 4
Vgl. Mönnich, 2008. Norlin; Winters, 2002; Dougan; Fulton, 2009. Borgman, 1996. Baker, 2008; Jeng, 2009.
10 Werner Schweibenz angeboten mit den unterschiedlichsten Funktionalitäten, die einfach zu bedienen sein sollen und den potentiellen Benutzern verschiedene Mehrwertfunktionen bieten sollen. Hinzu kommen neue Anwendungen wie Social Media5 und Linked Data6, deren Mehrwertpotenziale für die Anwender im Bibliotheksumfeld erst noch eingehender analysiert werden müssen.7
Benutzerorientierung als Kernaufgabe Benutzerorientierung spielt eine zentrale Rolle, weil im Bereich der Informationstechnik immer abgewogen werden muss zwischen dem, was technisch möglich ist und dem, was aus der Perspektive der Benutzer sinnvoll und notwendig ist. Dabei behält die Technik meist die Oberhand, weil es einen Trend gibt, der von Kritikern wie Donald Norman8 und Thomas Landauer9 als „creeping featurism“ bezeichnet wird. Die Idee, die dieser Entwicklung zu Grunde liegt, lautet: „Je mehr Features, desto besser!“ Deshalb steigt mit jeder neuen Version scheinbar unaufhaltsam die Zahl der Funktionen, auch weil es aus Gründen des Produktimages und des Produktmarketings wichtig zu sein scheint, diese anzubieten und damit die eigene Fähigkeit zu technischer Innovation herauszustellen, um sich von der Konkurrenz abzuheben. Mit den ständig neu hinzukommenden Funktionen erhöht sich aber nicht zwingend die Nützlichkeit des Produkts, vielmehr steigt häufig nur seine Komplexität, was die Nutzung behindern oder gar verhindern kann. Denn hier zeigt sich das bekannte Paradoxon der Funktionalität: „The functionality exists. But building functionality into a product, however, doesn’t guarantee that people will be able to use it.“10 Dabei ist gerade die Benutzbarkeit einer Funktionalität aus Benutzersicht der entscheidende Punkt, denn nach wie vor gilt: „A product by itself has no value; it has value only insofar as it is used. Use implies users.“11 Ob die Funktionalität eines Produkts tatsächlich nutzbar bzw. benutzerfreundlich ist, darf nicht einfach von Entwicklern, Produktmanagement oder Produktmarketing behauptet werden, sondern muss evaluiert werden. Denn ohne eine Evaluation ist es nicht möglich, zu wissen, ob ein Produkt tatsächlich die Bedürfnisse der Benutzer erfüllt und wie gut das Produkt in seinen Nutzungskontext passt.12 Für diese Evaluation gibt es eine Reihe von Methoden und Verfahren, die gemeinhin 5 6 7 8 9 10 11 12
Danowski & Heller, 2006, 2007. Hannemann; Kett, 2010. Vgl. Weinhold; Öttl; Bekavac, 2011; Goddard; Byrne, 2010. Norman, 1988. Landauer, 1995. Dumas; Redish, 1993. Dumas; Redish, 1993. Schweibenz; Thissen, 2003.
Grundlagen des Usability-Engineerings
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unter den Begriffen Usability-Evaluation und Usability-Engineering zusammengefasst werden.
Usability-Evaluation Im Zusammenhang mit Usability gibt es eine Reihe von Normen, die von Florian Sarodnick und Henning Brau13 ausführlich beschrieben werden. Für Usability selbst, auf Deutsch als Benutzungsfreundlichkeit oder Gebrauchstauglichkeit bezeichnet, gibt es eine normierte Begriffsbestimmung, die in der DIN EN ISO 9241 Ergonomie der Mensch-System-Interaktion (1997) der Internationalen Organisation für Standardisierung festgelegt ist. Im Teil 11 Anforderungen an die Gebrauchstauglichkeit14 der Norm wird Usability definiert als „das Ausmaß, in dem ein Produkt durch bestimmte Benutzer in einem bestimmten Nutzungskontext genutzt werden kann, um bestimmte Ziele effektiv, effizient und zufriedenstellend zu erreichen.“ Diese Norm selbst enthält bereits Maßstäbe für die Usability, indem sie die Auslegungen von Effektivität, Effizienz und Zufriedenheit bestimmt.15 Dennoch ist die praktische Umsetzung der Messgrößen für Usability schwieriger als der erste Anschein vermuten lässt. Denn es fehlt eine allgemein gültige Definition dafür, was unter einem Usability-Problem zu verstehen ist. Deshalb muss für jeden Nutzungskontext festgelegt werden, was in diesem spezifischen Zusammenhang darunter zu verstehen ist (für Digitale Bibliotheken siehe z. B. Jeng16); dies geschieht in der Regel durch Experten. Als gängige Faustregel gilt: Jeder Aspekt einer Benutzerschnittstelle, der den Benutzern voraussichtlich Schwierigkeiten bereiten könnte, ist ein mögliches Usability-Problem.17 Aber erst eine Evaluation kann die notwendige Gewissheit verschaffen und zeigen wie schwerwiegend das mögliche Problem tatsächlich ist. Eine Usability-Evaluation kann auf verschiedene Arten durchgeführt werden. Wichtig ist dabei die Wahl des Zeitpunkts, wobei zwischen formativer und summativer Evaluation unterschieden wird.18 Die formative Evaluation findet während des Entwicklungsprozesses statt und bewertet das Produkt in einem bestimmten Entwicklungszustand. Die summative Evaluation dagegen erfolgt, nachdem die Produktentwicklung abgeschlossen ist und bewertet das fertige Produkt. Beide Methoden haben ihre Berechtigung, wobei aus der Sicht der Produktqualität und des Kosten-Nutzen-Verhältnisses der Evaluation in der 13 14 15 16 17 18
Sarodnick; Brau, 2011. DIN EN ISO 9241 1999. Vogt; Heinsen, 2003. Jeng, 2005. Vgl. Sarodnick; Brau, 2011; Schweibenz; Thissen, 2003. Sarodnick; Brau, 2011.
12 Werner Schweibenz Regel die formative Evaluation vorzuziehen ist, weil sie in den Entwicklungsprozess integriert ist und entwicklungsbegleitend Rückmeldungen zur Usability liefert. Damit erlaubt sie es, mögliche Usability-Probleme zeitnah zu identifizieren und zu beseitigen, wodurch der Aufwand und die Kosten geringer ausfallen als bei einer Mängelbehebung am Ende der Produktentwicklung.19
Einige Usability-Methoden im Überblick Für die Usability-Evaluation stehen eine Vielzahl von Methoden und Verfahren zur Verfügung, mit denen untersucht, analysiert und bewertet werden kann, wie benutzungsfreundlich ein Produkt ist. Diese Methoden und Verfahren werden in der Literatur unterschiedlich bezeichnet, weil im Bereich der Usability Experten aus unterschiedlichen Disziplinen wie Arbeitswissenschaft, Design, Ergonomie, Informatik, Informationswissenschaft, Psychologie und Verständlichkeitsforschung arbeiten und es bislang nicht gelungen ist, eine gemeinsame und einheitliche Terminologie festzulegen.20 Für die praktische Durchführung der Evaluation erscheint es sinnvoll, sie in zwei Kategorien einzuteilen, die sich nach den teilnehmenden Personengruppen richten, nämlich in expertenorientierte Methoden und die benutzerorientierte Methoden.21 Im Folgenden werden einige ausgewählte Methoden vorgestellt, für weitere wird auf die unten genannten Websites, die folgenden Kapitel in diesem Band sowie die einschlägige Literatur verwiesen.
Expertenorientierte Evaluationsmethoden Bei den expertenorientierte Methoden und Verfahren fungieren Fach- oder Usability-Experten als Gutachter, manchmal auch sogenannte Doppelexperten, die sowohl im Fachgebiet als auch in der Usability-Evaluation über Expertise verfügen. Diese Experten begutachten das Produkt aus der Sicht der Benutzer, sind also Ersatz-User (engl. surrogate user), die ihre Erfahrung in den Evaluationsprozess einbringen und dabei die Benutzer simulieren. Der Vorteil dabei ist, dass sie als Experten über umfangreiche Erfahrung verfügen und so viele Fehler erkennen können. Der Nachteil ist jedoch, dass sie als Experten über einen höheren Wissensstand als gewöhnliche Benutzer verfügen und somit die Gefahr besteht, dass sie Mängel anders bewerten als Benutzer dies tun würden. Die Experten können sich verschiedener Werkzeuge für die Evaluation bedienen, 19 Vgl. Sarodnick; Brau, 2011. 20 Vgl. Vogt; Heinsen, 2003. 21 Vgl. Schweibenz; Thissen, 2003.
Grundlagen des Usability-Engineerings
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zwei Beispiele dafür sind die heuristische Evaluation und der Cognitive Walkthrough. Bei der heuristischen Evaluation überprüft eine Gruppe von Gutachtern, inwieweit die Benutzerschnittstelle eines Produktes mit bestimmten anerkannten Prinzipien der Usability, den sogenannten Heuristiken, übereinstimmt.22 Heuristiken sind Richtlinien (engl. guidelines) für die benutzerfreundliche Gestaltung von Bedienoberflächen, die auf der Grundlage empirischer Erkenntnisse von Experten entwickelt wurden. Diese Richtlinien können von unterschiedlichem Umfang und unterschiedlicher Qualität sein, sie können domänenspezifisch oder genereller Art sein, sie können designorientiert, aber auch evaluationsorientiert angewendet werden. Bei der evaluationsorientierten Anwendung bilden die Heuristiken die Grundlage für das Entdecken und Diagnostizieren von potentiellen Usability-Problemen, indem die einzelnen Punkte der Heuristik abgearbeitet werden. Diese Punkte können als Anweisungen oder Fragen formuliert sein, die mit einer Ja/Nein-Entscheidung als zutreffend oder nicht zutreffend bewertet werden, es können aber auch Bewertungsskalen verwendet, um den Grad anzugeben, inwieweit den Anweisungen oder Fragen der Heuristik entsprochen wird. Häufig wird die Auswertung der Antworten von einem Werkzeug unterstützt. Für Bibliothekswebsites wird in diesem Band ein spezielles heuristisches Verfahren vorgestellt.23 Der Cognitive Walkthrough ist eine Methode für die Evaluation einer Aufgabe bzw. einzelner Arbeitsschritte.24 Anhand von Leitfragen erfolgt ein strukturierter Durchgang durch die Aufgabe bzw. die Einzelschritte, die mit dem Produkt erledigt werden soll. Dabei wird begutachtet, wie leicht der Umgang mit dem Produkt ist und wie sich für die Benutzer das explorierende Lernen des Umgangs mit dem Produkt gestaltet, denn aufgrund von Studien weiß man, dass viele Benutzer eine Software durch Ausprobieren erlernen anstatt eine Schulung zu durchlaufen oder ein Handbuch oder eine Online-Hilfe zu lesen. Deshalb ist es die Aufgabe des Cognitive Walkthrough, das problemlösende Explorieren der Benutzer beim Umgang mit dem Produkt im Voraus zu vollziehen. Zu diesem Zweck gehen Experten das Produkt durch (engl. walkthrough), im Jargon spricht man davon, in den Schuhen des Benutzers durch die Website zu laufen, und untersuchen anhand von Leitfragen, ob das Produktdesign negative Auswirkungen auf die Interaktion mit den Benutzern hat und wenn ja, wo und warum Beeinträchtigungen auftreten. Auf diese Weise können die Experten feststellen, ob die vorgegebenen Handlungsabfolgen von den Benutzern nachvollzogen werden können oder wo die Benutzer voraussichtlich Probleme bei der Interaktion mit dem Produkt bekommen. Diese Stellen werden dann entsprechend modifiziert. 22 Schweibenz; Thissen, 2003. 23 Siehe Kapitel 2 Usability-Evaluation von Bibliothekswebsites. 24 Schweibenz; Thissen, 2003.
14 Werner Schweibenz Eine expertenorientierte Methode sollte im Rahmen einer Evaluation möglichst immer mit einer benutzerorientierten Methode kombiniert werden, um neben der Expertenperspektive auch die Benutzerperspektive auf das Produkt zu bekommen.
Benutzerorientierte Evaluationsmethoden Bei den benutzerorientierten Methoden werden Benutzer als Gutachter eingesetzt, indem sie mit dem Produkt arbeiten oder es bewerten. Dabei können Benutzer mit verschiedenen Methoden arbeiten wie beispielsweise mit Fragebögen, in Fokusgruppen-Interviews oder in Produkttests, in denen Benutzer direkt mit dem Produkt konfrontiert werden.25 Für die benutzerorientierten Methoden müssen repräsentative Nutzergruppen festgelegt, entsprechende Testbenutzer ausgewählt, rekrutiert, instruiert und während der Tests betreut werden. Dies ist mit einem hohen Aufwand verbunden, dafür liefern diese Methoden aber auch direkte Rückmeldungen von den Zielgruppen. Im Folgenden werden der ISONorm-Fragebogen sowie zwei Methoden des UsabilityTestings mit Benutzern vorgestellt, die unter Laborbedingungen durchgeführt werden, die Methode des Lauten Denkens (engl. thinking aloud) und die PlusMinus-Methode. Der ISONorm-Fragebogen26, der 1993 von Jochen Prümper und Michael Anft an der FHTW Berlin entwickelt wurde, basiert auf den sieben Grundsätzen der Dialoggestaltung, die in der ISO Norm 9241 Teil 10 festgelegt sind: – – – – – – –
Aufgabenangemessenheit, Selbstbeschreibungsfähigkeit, Steuerbarkeit, Erwartungskonformität, Fehlertoleranz, Individualisierbarkeit und Lernförderlichkeit.
Der Fragebogen operationalisiert diese sieben Grundsätze in jeweils fünf Items, also in insgesamt 35 Einzelfragen. Jede der Frage besteht aus einer positiven und negativen Aussage, die mit Hilfe einer Skala mit sieben Stufen von sehr negativ („---“) über unentschieden („-/+“) bis sehr positiv („+++“) bewertet wird. Für den Grundsatz der Aufgabenangemessenheit wird beispielsweise gefragt, ob die Software die Erledigung der Arbeitsaufgaben unterstützt, ohne
25 Schweibenz; Thissen, 2003. 26 Schweibenz; Thissen, 2003; ISONorm.
Grundlagen des Usability-Engineerings
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den Benutzer unnötig zu belasten. Für die Bewertung werden folgende Gegenpole angegeben: – –
Die Software ... ist kompliziert / unkompliziert zu bedienen. ... bietet nicht alle /alle Funktionen, um die anfallenden Aufgaben effizient zu bewältigen.
Die Bewertung wird mit Hilfe der Siebenerskala von --- über -/+ bis +++ vorgenommen. Der Fragebogen liegt in Papierform oder online vor und zwar in einer Kurzfassung und einer Langfassung, bei der die Testteilnehmer Beispiele für Verstöße gegen die Fragen aufführen können. Die Fragen des ISONormFragebogens sind relativ allgemein formuliert, so dass der Fragebogen eher erste Hinweise auf ergonomische Schwachstellen eines Produkts liefert als konkrete Anhaltspunkte, wo mögliche Mängel liegen und wie diese behoben werden können. Das Lauten Denken ist die klassische Methode der Usability-Evaluation. Sie wurde aus der psychologischen Forschung übernommen und bietet einen Einblick in die tatsächliche Handhabung des Produkts, weil die Benutzer direkt mit dem Produkt konfrontiert und dabei beobachtet werden, wie sie mit dem Produkt umgehen. Da das Gehirn der Benutzer eine „Black Box“ ist, in die man nicht hinein schauen kann, werden die Benutzer gebeten, während des Tests alles was sie denken und tun laut auszusprechen, daher der Name Lautes Denken. Das Laute Denken ist für die Testpersonen etwas gewöhnungsbedürftig und sollte deshalb vor dem Test eingeübt werden. Der Test besteht aus einer Reihe von Aufgaben, die so ausgelegt sind, dass sie mögliche Probleme identifizieren. Der Testverlauf wird von einem Testleiter geleitet und aufgezeichnet. Vor und nach dem Test füllen die Testteilnehmer Fragebögen aus. Im Rahmen der Auswertung werden die Fragebögen, die Beobachtungen der Testleiter und die Testaufzeichnungen ausgewertet und analysiert. Die Plus-Minus-Methode ist ebenfalls ein Produkttest, der jedoch nicht durch Testaufgaben geleitet und fixiert wird, sondern bei dem Benutzer frei von Vorgaben ihre Beurteilungen der Website abgeben und anschließend in einem Interview begründen.27 Zur Bewertung vergeben die Testteilnehmer Plus- und Minus-Zeichen, daher der Name der Methode. Ein Plus-Zeichen steht für eine positive Nutzungserfahrung und ein Minus-Zeichen für eine negative. Alle möglichen Kriterien der Website und der Interaktion können als positiv oder negativ markiert und bewertet werden, beispielsweise die Navigationsstruktur, der Seitenaufbau, Seitentitel und Überschriften, die Verständlichkeit von Sätzen und Begriffen, die besondere Relevanz von Aussagen im Text oder in multimedialen Informationsobjekten. Die Kennzeichnung der Nutzungserfahrungen erfolgt mit Hilfe einer Bildschirmaufzeichnungssoftware oder ganz 27 Schweibenz; Thissen, 2003; Schweibenz, 2010.
16 Werner Schweibenz traditionell auf einem Ausdruck der zu begutachtenden Websites. Die Verwendung von Ausdrucken mag als Medienbruch erscheinen, wird aber erfahrungsgemäß gut angenommen, weil sie es den Benutzern erlaubt, auf einfache und schnelle Weise persönliche Notizen zu ihren Bewertungen anzubringen, die sie im anschließenden Interview für die Begründung ihrer Einschätzungen heranziehen können. Die Trennung von Bewertung und Interview ist ein Vorteil der Plus-Minus-Methode, weil so die Testteilnehmer sich in der Evaluationsphase ungestört mit der Website auseinandersetzen können und dann anschließend im Interview ihre begründeten Bewertungen abgeben. Zusätzlich zu den Bewertungen können die Benutzer Verbesserungsvorschläge abgeben, die in das Re-Design der Website einfließen können.
Websites zu Evaluationsmethoden Einen guten Überblick über verschiedene Methoden der Usability-Evaluation liefern die Websites CHEVAL28 und Usability-Toolkit29 (siehe Abbildungen 1 und 2).
Abb. 1: CHEVAL, Internet,
CHEVAL steht für Chur Evaluation Laboratory und wurde vom Schweizerischen Institut für Informationswissenschaft an der Hochschule für Technik und 28 CHEVAL, Internet, . 29 Usability-Toolkit, Internet, .
Grundlagen des Usability-Engineerings
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Wirtschaft Chur entwickelt. Die CHEVAL Wissensbasis bietet eine Einführung in die Thematik des Usability-Engineerings und stellt dazu verschiedene Kategorien von Evaluationsmethoden vor, z. B. Befragungstechniken, Inspektionsmethoden und Usability-Tests. Innerhalb dieser Kategorien sind die einzelnen Methoden beschrieben, wobei es zu jeder Methode weiterführende Literaturangaben gibt. Die CHEVAL Online Beratungskomponente ist gedacht als erste Orientierung für interessierte Personen, die sich einen Überblick über mögliche Untersuchungsmethoden verschaffen wollen. Dazu können sie auswählen, welchen Status ihr Produkt hat, z. B. von der Idee bis zum fertigen Produkt, und was das Ziel der Evaluation ist, z. B. Marktumfelderkundung oder Entwicklungsunterstützung. Nach der Auswahl bekommen sie verschiedene Vorschläge zu möglichen Evaluationsmethoden angezeigt. Ein Glossar rundet das Angebot ab.
Abb. 2: Usability-Toolkit, Internet,
Das Usability-Toolkit ist ein gemeinschaftlich entwickeltes Angebot des Instituts für Informationswissenschaft und Sprachtechnologie der Universität Hildesheim und der Firma usability.de, einem Dienstleister für Usability und User-Experience aus Hannover. Das Toolkit bietet einen Überblick über verschiedene Methoden der Usability-Evaluation. Darüber hinaus gibt es Hinweise und Artikel zur Internationalisierung, eigene Werkzeuge sowie ein Praxisbeispiel mit zugehörigen Materialien wie Use-Cases und Personas30.
30 Siehe unten Abschnitt zu Personas.
18 Werner Schweibenz Für die Usability-Evaluation ist wichtig, dass nicht nur eine Methode oder ein Verfahren eingesetzt wird, sondern stets eine Kombination, in der Regel werden expertenorientierte und benutzerorientierte Methoden miteinander kombiniert. Dies geschieht in einem Prozess, der als Usability-Engineering bezeichnet wird.
Usability-Engineering Usability-Engineering ist eine praxisnahe Anwendung von Verfahren und Methoden der Usability-Evaluation, um Produkte benutzungsfreundlich zu gestalten. Deshalb definieren Florian Sarodnick und Henning Brau31 den Begriff wie folgt: „Das Usability-Engineering ist der methodische Weg zur Erzeugung der Eigenschaft Usability. Es ist ein Teilprozess der Entwicklung und Gestaltung technischer Systeme und ergänzt das klassische Engineering, beispielsweise Software-Engineering, um ergonomische Prinzipien. Dabei werden Ansätze, Methoden, Techniken und Aktivitäten für einen benutzerorientierten Entwicklungsprozess bereitgestellt.“
Beim Usability-Engineering liegt die Betonung auf folgenden Aspekten: Es handelt sich um eine methodische, ingenieurmäßige Herangehensweise an die Usability-Evaluation bei der üblicherweise verschiedene Methoden in Kombination eingesetzt werden. Denn jede Methode hat Stärken und Schwächen, so dass für fundierte Ergebnisse eine Kombination von Methoden zu empfehlen ist.32 Die kombinierte Anwendung dieser Methoden wird in den Entwicklungsprozess des Produkts einbezogen und begleitet die Entwicklung iterativ33, im Idealfall findet Usability-Engineering während des gesamten Lebenszykluses des Produktes statt, weshalb man auch von einem Usability Engineering Lifecycle spricht.34 Dabei ist wichtig, dass die Evaluation gut geplant, zügig umgesetzt und nahtlos in den Entwicklungsprozess integriert wird.35 Auf diese Weise muss der Entwicklungsprozess für die Usability-Evaluation nicht angehalten werden, vielmehr erfolgt die Evaluation entwicklungsbegleitend und die Ergebnisse können direkt in den Prozess eingebracht werden. Wie Usability-Engineering in die evolutionäre Arbeitsweise agiler Softwareentwicklung eingebracht werden kann, zeigen Thomas Memmel und Hartmut Obendorf.36 Bei der agilen Entwicklung wird das Produkt Teil für Teil in ein31 32 33 34 35 36
Sarodnick; Brau, 2011. Stoessel, 2002. Stoessel, 2002. Mayhew, 1999. Raijmakers, 2002. Memmel; Obendorf, 2010.
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zelnen Prozessschritten entwickelt, wobei jedes Teil für sich entworfen, umgesetzt und evaluiert wird, bevor es in das schrittweise entstehende Gesamtsystem integriert wird. In dieser Entwicklung verlaufen die Evaluationsprozesse des Usability-Engineerings parallel zu den Entwicklungsprozessen der Software, wobei der Prozessschritt der Evaluation jeweils in den nächsten Software-Entwicklungsschritt einfließt und die Rückmeldungen aus dem Entwicklungsprozess der Software wiederum in den nächsten Evaluationsschritt, der auf den Entwicklungsschritt folgt. Auf diese Weise können Evaluationsergebnisse schnell in den Software-Entwicklungsprozess einfließen. Voraussetzung dafür ist, dass sowohl die Evaluations- als auch die Software-Entwicklungsphasen synchron ablaufen und die Ergebnisse aus Evaluation und Software-Entwicklung an den jeweiligen Synchronisationspunkten zeitgenau übergeben werden, damit nicht der Gesamtprozess ins Stocken gerät. Am Ende wird noch das Gesamtsystem abschließend evaluiert. Solche Kombinationen aus agiler Entwicklung und Usability-Engineering werden beispielsweise bei Projekten wie der Deutschen Digitalen Bibliothek angewandt. Neben dem Usability-Engineering etablieren sich Methoden zur benutzerorientierten Produktentwicklung wie beispielsweise das Personas-Verfahren, das ebenfalls bei Portalen im Bibliotheksbereich zum Einsatz kommt.
Benutzerorientierte Produktentwicklung mit Personas Produkte und Dienstleistungen von Bibliotheken sollten eigentlich auf die Bedürfnisse der Benutzer ausgerichtet sein. Statt dessen sind sie häufig auf die Sichtweise der Institution ausgerichtet, weil sie von internen organisatorischen und technischen Rahmenbedingungen abhängen. Dies führt dazu, dass InternetAngebote oft aus der institutionellen Sicht heraus entwickelt werden anstatt aus der Sicht der potentiellen oder tatsächlichen Benutzergruppen, für die diese Angebote eigentlich gedacht sind. Statt die eigene Organisationsstruktur, Bestände und Informationsangebote in den Mittelpunkt zu stellen, schlagen Kritiker der institutionszentrierten Sichtweise vor, sich an den Benutzern und ihren Bedürfnissen zu orientieren: „This means in part that libraries and museums should identify what people want, not just what they have to offer them. Ask not what wonderful things you can do for others, ask what others want from you. In other words, institutions should plan to make an enterprise user-focused, not collection-focused.“37
Die benutzerorientierte Produktentwicklung ist von zentraler Bedeutung, denn die Benutzer interessiert es nicht, wie die Institution, ihre Bestände oder In37 Smith, 2003.
20 Werner Schweibenz formationsangebote organisiert sind, sie haben eine eigene Agenda bei der Informationssuche und erwarten schlicht und einfach, die Dinge zu finden, die sie suchen.
Das Personas-Verfahren Ein Werkzeug für die benutzerorientierte Entwicklung, das auch bei Projekten wie der Europäischen Digitalen Bibliothek Europeana38 und der Deutschen Digitalen Bibliothek eingesetzt wird, ist das Personas-Verfahren. Mit dieser Methode werden abstrakte Daten über Benutzer sowie ihre Bedürfnisse, Ziele, Interessen und Fähigkeiten anschaulich und praktisch umsetzbar gemacht, so dass diese im gesamten Produktentwicklungszyklus steuernd und begleitend eingesetzt werden können, um für das Produkt ein Maximum an Benutzerorientierung zu gewährleisten anstatt es auf Interessen und Bedürfnisse der Organisation oder der Projektmitarbeiter auszurichten, was häufig unbewusst geschieht. Grundlage für Personas sind Daten über Benutzer und Produktbenutzung, die auf unterschiedliche Weise erhoben werden können, beispielsweise durch strukturierte Interviews mit Mitarbeitern mit Kundenkontakt, durch die Analyse von Logdateien, durch Einzelinterviews oder Fokusgruppen-Interviews mit Benutzern, durch Usability-Tests mit Benutzern oder durch direkte Beobachtung von Benutzern bei der Arbeit mit dem Produkt.39 Die so gewonnenen Daten sind in der Regel sehr abstrakt und müssen nach der Analyse in eine Form gebracht werden, die praktisch handhabbar ist. Dazu werden die abstrakten Benutzerdaten in sogenannten Personas konkretisiert, indem bestimmte Verhaltensmuster, Eigenschaften oder Ziele künstlich geschaffenen Figuren, den sogenannten Personas, zugeordnet werden, die als Repräsentanten stellvertretend für tatsächliche oder potentielle Benutzergruppen und ihre Bedürfnisse stehen. Personas sind also nichts anderes als Platzhalter für bestimmte Benutzergruppen: „Personas are clearly defined, memorable representations of users that remain conspicuous in the minds of those who design and build products.“40 Um die Personas anschaulich zu machen, werden zu den Fakten noch fiktive Teile hinzugegeben, so werden die Personas beispielsweise mit Namen, persönlichen Eigenschaften und Kennzeichen sowie Fotos versehen. Dabei ist es wichtig zu beachten, dass die Personas nicht bis ins kleinste Detail ausgearbeitet werden müssen, sondern nur in so groben Zügen, dass sie die Grundlage für eine effektive Kommunikation im Entwicklungsteam bilden und damit die Entscheidungsfindung im gesamten Entwicklungsprozess wirksam unterstützen. Je nach 38 EuropeanaConnect Milestone M3.2.3 Personas Catalogue, o. J. 39 Schweibenz, 2004. 40 Pruitt; Adlin, 2006.
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Bedeutung für den Entwicklungsprozess werden die Personas in Hauptpersonas (primary personas) und Nebenpersonas (secondary personas) eingeteilt, manchmal können noch Nichtpersonas hinzukommen, für diejenige Zielgruppe für die das Produkt definitiv nicht gedacht ist. Für jede Persona wird eine Reihe von Szenarien geschaffen, die im Laufe des Entwicklungsprozesses durchgespielt werden. Diese Szenarien können zu kurzen Geschichten (sogenannten narratives) über den Benutzungskontext ausgebaut werden, was die Personas und ihre Bedürfnisse gut erinnerbar und kommunizierbar macht.41 Den Grund hierfür erklärt John Grudin42 aus psychologischer Sicht: Personas funktionieren, weil wir es im Alltag gewohnt sind, uns bewusst und unbewusst komplexe Modellvorstellungen von anderen Menschen zu machen, um diese zu verstehen und ihr Verhalten vorherzusehen.
Abb. 3: Easy-Persona-Creator, Internet,
Der Aufwand für den Aufbau einer Persona kann wenige Stunden bis einige Wochen in Anspruch nehmen und hängt davon ab, in welchem Umfang und wie lange die Personas verwendet werden sollen, wobei auch Personas, die in kurzer Zeit geschaffen wurden, durchaus nützlich sind.43 So können Personas auch als sogenannte Ad-hoc-Personas in einem Schnellverfahren aufgebaut
41 Pruitt; Adlin, 2006. 42 Grudin, 2006. 43 Pruitt; Adlin, 2006.
22 Werner Schweibenz werden, bei dem statt auf Daten ausschließlich auf die Erfahrungswerte der Mitglieder einer Projektgruppe über die Zielgruppen zurückgegriffen wird.44 Je nach Projekt kann die Zahl der Personas stark variieren, es gibt allerdings Grenzen für die praktische Umsetzung und Handhabbarkeit, die zwischen drei und fünf Personas liegt.45 Die praktische Arbeit mit Personas kann durch Online-Werkzeuge wie den Easy-Persona-Creator von Astrid Beck, Hochschule Esslingen, Fakultät Informationstechnik unterstützt werden (siehe Abbildung 3). Nach einer kostenlosen Registrierung kann man dort die Personas für sein Projekt erstellen und ablegen, bearbeiten und wieder löschen. In dieser passwortgeschützten OnlineUmgebung könnten für ein Bibliotheksprojekt Personas entwickelt und kommuniziert werden (vgl. EuropeanaConnect46). Der Einsatz von Personas ist allerdings nicht unumstritten. Eine Studie von Kari Rönkkö47 zeigt einige Schwächen dieses Verfahrens: – – –
–
–
So kommt es zu Problemen, wenn zwischen den Personas und den tatsächlichen Benutzern eine zu große kulturelle Distanz besteht. Es kann vorkommen, dass der Style-Guide des Produkts mit den Personas konkurriert oder ihnen widerspricht. Wenn Personas parallel zu frühen Produktspezifikationen entwickelt werden, kann es sein, dass sie nicht ausreichend ausgearbeitet sind, um sorgfältig mit ihnen arbeiten zu können. Wenn echte Benutzer zur Verfügung stehen, kann es sein, dass die Effektivität von Personas in Frage gestellt wird und Personas als zu generell empfunden werden. Der Einsatz von Personas kann durch die Projektorganisation eingeschränkt werden, ebenso durch den Kontext des Projekts.
Die Studie weist aber auch positive Aspekte von Personas nach, weshalb weitergehende Studien notwendig sind, um herauszufinden, wann Personas erfolgreich eingesetzt werden können und wo die Grenzen dieser Methode sind.
44 45 46 47
Norman, 2004. Pruitt; Adlin, 2006. EuropeanaConnect Milestone M3.2.3 Personas Catalogue, o. J. Rönkkö, 2005.
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Ein Beispiel für eine Persona Die Grundlage einer Persona bildet ein sogenanntes Persona-Skelett (Tabelle 1). Persona-Kennzeichen
Eigenschaften
Name
Petra Müller
Alter
21 Jahre
Beruf
Studentin, Bachelor Informationswissenschaft
Interessen und Hobbies
Musik, Lesen und Sprachen
Computer- und Internetkenntnisse
Durchschnittliche Computerkenntnisse, erfahrene Internet-Benutzerin
Mediennutzung
Smartphone und Internet mit Schwerpunkt Social Media
Rechercheverhalten
Google, Wikipedia, Bibliothekskataloge, Fachdatenbanken
Bezug zum Webangebot der Bibliothek
Recherche nach Material für die Bachelorarbeit
Informationsbedürfnisse und -ziele
Informationen zu Rechtemanagement und Open Access in der Musikbranche
Tabelle 1: Persona-Skelett
Persönliche Information: Petra ist 21 Jahre alt und studiert an der HTW Chur Informationswissenschaft. Als Teilzeitstudentin arbeitet sie halbtags als Sachbearbeiterin bei einem kleinen Musikverlag in Zürich, wo sie auch wohnt. Interessen und Hobbies: Petra ist sehr an Musik interessiert und spielt Bassgitarre in einer Rockband. Sie geht gerne mit Freunden auf Konzerte, ins Kino und in Bars. Im Internet informiert sie sich regelmäßig über neue Musiktrends und Kinofilme. Sie liest auch gerne und nutzt regelmäßig öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken. Computer- und Internetkenntnisse: Petra besitzt zwar einen Laptop, interessiert sich aber nicht für technische Aspekte. Trotzdem macht sie regelmäßig und gewissenhaft Software-Updates für Betriebssystem, Virenscanner und Firewall, um auf der sicheren Seite zu sein, weil sie ihrem Laptop auch für Online-Banking nutzt. Sie ist viel im Inter-
24 Werner Schweibenz net unterwegs und kennt verschiedene Suchmaschinen, sie nutzt aber aus Gewohnheit vor allem Google. Bei der Installation von Software und Plug-Ins ist sie sehr zurückhaltend, weil sie Angst vor möglicher Schadsoftware hat. Mediennutzung: Petra ist eine begeisterte Internet-Nutzerin. Sie besitzt schon länger ein Smartphone mit Flatrate, damit sucht sie regelmäßig Musikvideos auf YouTube, kommuniziert über Facebook mit Freunden und mit Fans von einigen Bands, denen sie auch auf Twitter folgt. Seit sie eine Seminararbeit über Musikprojekte online geschrieben hat, besucht sie regelmäßig die Homepage des Experience Music Project eines Rock-Musik-Museums in Seattle. Dort ärgert sie sich oft über die diversen Plug-Ins, die sie installieren müsste, um alle Angebote nutzen zu können. Für die wissenschaftliche Recherche nutzt sie regelmäßig Swissbib, den Metakatalog der Schweizer Hochschulbibliotheken und der Schweizerischen Nationalbibliothek. Da sie wegen ihrer Arbeit nicht so viel Zeit in Bibliotheken verbringen kann, ist sie an elektronischen Publikationen interessiert, die sie zu Hause lesen kann. Rechercheverhalten: Petra beginnt ihre Recherchen üblicherweise auf Google und in der deutschsprachigen Wikipedia, um sich einen Überblick zu verschaffen. Weil sie gut Englisch kann, nutzt sie häufig auch die englischsprachige Wikipedia. Häufig verliert sie die Zeit aus dem Auge, wenn sie von einer interessanten Website zur nächsten surft oder von einem YouTube-Video zum anderen. Aus ihrem Studium kennt sie zahlreiche Bibliothekskataloge online sowie diverse Recherchetechniken, die sie für ihre wissenschaftliche Recherche auch regelmäßig anwendet. Fachdatenbanken kennt sie zwar, nutzt sie aber praktisch nicht, weil sie dort bisher kaum Informationen zu ihren Interessen gefunden hat. Bezug zum Webangebot der Bibliothek: Petra will in einen halben Jahr ihr Studium mit dem Bachelor abschließen. Weil sie in einer Musikbibliothek arbeiten möchte, plant sie ihre Abschlussarbeit über das Rechtemanagement und Open Access in der Musikbranche zu schreiben. Dazu sucht sie Informationen und Quellen. Informationsbedürfnisse und -ziele: Im Moment möchte sich Petra einen Überblick über die Quellen verschaffen, um einschätzen zu können, ob sie genug einschlägige Literatur über das Thema finden kann. Da sie gut Englisch spricht, möchte sie auch die Literatur in dieser Sprache einbeziehen, weil sie dort auch interessante Veröffentlichungen vermutet. Sie möchte interessante Titel für die Bibliographie ihrer Abschlussarbeit
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in das Literaturverwaltungsprogramm MyReference übernehmen. Interessante Videos und Websites will sie über Lesezeichen in MyReference verwalten. Später möchte sie einen möglichst umfassenden Zugang zu Quellen online, um diese orts- und zeitunabhängig nutzen zu können.
User-Experience und Joy-of-Use In den letzten Jahren tritt neben den Aspekt der Benutzungsfreundlichkeit die Frage, wie Benutzer den Umgang mit dem Produkt erleben, was sie dabei empfinden und welche Haltung sie gegenüber dem Produkt entwickeln. In diesem Zusammenhang wird Usability kritisiert, weil sie nur die Zufriedenheit als affektive Komponente messe48, aber nicht frage, wie das Produkt erfahren wird in Bezug auf Einstellungen, Emotionen und Stimmungen.49 Diese Aspekte der Produkterfahrung werden als User-Experience bezeichnet und in der UserExperience-Research untersucht.50 Ziel ist es, den Benutzern eine positive Produkterfahrung zu ermöglichen. Das Benutzen des Produkts soll Freude machen, weshalb in diesem Zusammenhang häufig auch von Joy-of-Use gesprochen wird: „Joy-of-Use bezeichnet das positive, subjektive Empfinden einer Person, das in Zusammenhang mit der Benutzung eines Softwareproduktes auftritt. Der Benutzer ist sich dessen rational nicht bewusst, er empfindet jedoch eine Art emotionaler Befriedigung. Diese entsteht unbewusst durch den wahrgenommenen Gesamteindruck aus der Interaktion mit dem System. Schönheit und Ästhetik des Interface sowie positive Benutzererfahrungen verstärken den positiven Eindruck.“51
Für die Messung der User-Experience gibt es eine Reihe von Methoden und Maßstäben, einen guten Überblick hierzu liefern Tom Tullis und Bill Albert.52 Ein weiteres Verfahren für die Messung der User-Experience ist der Fragebogen AttrakDiff.53 Mit diesem Fragebogen, der kostenlos im Internet verfügbar ist54, kann ein Produkt durch Benutzer auf seine Attraktivität im Hinblick auf seine Bedienbarkeit und sein Aussehen bewertet werden. Dabei schätzt jeder Benutzer für sich persönlich ein, ob das Produkt seine Bedürfnisse befriedigt. Dazu wählt er aus verschiedenen Sets von gegensätzlichen Adjektivpaaren (z. B. verwirrend – übersichtlich, gut – schlecht) seinen Eindruck aus und gibt damit ein Attraktivitätsurteil ab, das nach drei Teilgebieten gegliedert ist: 48 49 50 51 52 53 54
Burmester; Hassenzahl; Koller, 2002a. Jeng, 2009. Hynek, 2002. Reeps, 2006. Vgl. Tullis; Albert, 2008. Burmester; Hassenzahl; Koller, 2002b. AttrakDiff, .
26 Werner Schweibenz – – –
Pragmatische Qualität Hedonische Qualität Attraktivität
In Studien konnte nachgewiesen werden, dass die pragmatische und hedonische Qualität voneinander unabhängig sind. Wenn es gelingt, diese beiden Qualitäten in starken Ausprägungen in einem Produkt zu vereinen, sollte das Produkt die Benutzer nicht nur zufrieden stellen, sondern vielmehr Freude bei der Benutzung wachrufen. Sind bei einem Produkt beide Qualitäten nur schwach ausgeprägt, dann wird es die Benutzer weder zufrieden stellen noch erfreuen.
Zusammenfassung und Ausblick Usability-Evaluation und Usability-Engineering sind in den letzten Jahren im Bibliotheksbereich zu einem Thema geworden, das eine verstärkte Beachtung erfährt. Dies zeigen beispielsweise die Liste zu Usability-Studien über Digitale Bibliotheken von Judy Jeng55 oder groß angelegter Projekte zur Usability Digitaler Bibliotheken wie das des Joint Information Systems Committee (JISC) of the Higher Education Funding Councils56. Dennoch ist mehr empirische Forschung notwendig, wie Judy Jeng betont: „Usability evaluation of digital libraries has received more attention in the past few years. However, there are still more papers talking about usability than those reporting with data, and perhaps it will be always that way. We need more empirical studies analyzing usability, including the provision of benchmarks for comparison, and an understanding of how to balance rigor, appropriateness of techniques, and practical limitations. Other criteria of evaluation, in addition to usability, also need to be discussed.“ 57
Bezüglich der weiteren Evaluationskriterien bieten allgemeine Aspekte wie Usefulness in Bibliotheken58 oder spezifische Aspekte wie BibEval – ein webbasierter Kriterienkatalog zur Usability-Evaluation von Bibliothekswebsites Diskussionsgrundlage.59 Weiterhin besteht im Bereich neuer Anwendungen wie Social Media und Linked Data ein Bedarf an Usability-Evaluation, der teilweise mit bestehenden Methoden und Verfahren gedeckt werden kann, teilweise aber auch neue Methoden erfordert, zum Beispiel zur Bewertung von sozialen Aspekten der OnlineInteraktion oder des Verhaltens bei der Informationsentdeckung in komplexen 55 56 57 58 59
Jeng, 2009. Paterson; Low, 2010. Jeng, 2009. Siehe Kapitel 4 Usefulness. Siehe Kapitel 2 Usability-Evaluation von Bibliothekswebsites.
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Informationsumgebungen. Hinzu kommen neue technische Plattformen wie Smartphones oder Tablet-Computer, die in anderen als den bisher üblichen Nutzungskontexten eingesetzt werden und damit neue Nutzerbedürfnisse erzeugen. Darüber hinaus wird für die Anwendungsbereiche der Usability-Evaluation und des Usability-Engineerings die Frage interessant, wie sich künftig das Verhältnis von traditioneller und digitaler Bibliothek gestalten wird, die zu einer Hybrid-Bibliothek zusammenwachsen könnten60, in der gedruckte und elektronische Informationsquellen nebeneinander verwendet werden und so neue Interaktionsformen entstehen könnten, die ebenfalls auf ihre Usability hin untersucht werden müssen. Gleichzeitig trägt der Fortschritt auf dem Gebiet von Usability-Evaluation und Usability-Engineering dazu bei, dass die Methoden und Verfahren der Evaluation, die häufig als komplex oder schwierig umzusetzend wahrgenommen werden, anwenderfreundlicher werden und ihre Umsetzung technisch unterstützt und vereinfacht wird. Das trägt wesentlich dazu bei, bestehende Hemmnisse oder Ängste in der Anwendung der Methoden und Verfahren abzubauen. Dies ist von zentraler Bedeutung für die breite Akzeptanz und Verbreitung der Usability-Evaluation, denn hier gilt der Grundsatz „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!“ Deshalb ist es wichtig, anzufangen und mit einfachen Methoden und Verfahren zu beginnen, Erfahrungen zu sammeln und Ergebnisse zu erzielen, die das Produkt schrittweise benutzerfreundlicher machen.
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2. Usability-Evaluation von Bibliothekswebsites Thomas Weinhold, Sonja Hamann und Bernard Bekavac Einleitung Dieser Beitrag bietet eine Einführung in die benutzerorientierte Gestaltung bibliothekarischer Online-Angebote, wobei die Suchkomponenten als zentrales Element in den Fokus der Betrachtung gestellt werden. Hierbei werden die wesentlichen Qualitätsmerkmale bibliothekarischer Online-Angebote herausgearbeitet. Ein wichtiger Aspekt in diesem Kontext ist insbesondere die Usability, die generell ein wichtiges Qualitätsmerkmal interaktiver Produkte darstellt. Bereits seit längerem werden verschiedene, universell anwendbare UsabilityEvaluationsmethoden daher auch für die Bewertung bzw. die Analyse von Bibliotheksauftritten im Netz angewandt. Der vorliegende Beitrag liefert diesbezüglich eine Übersicht der im Bibliothekssektor für Usability-Evaluationen am häufigsten genutzten Untersuchungsmethoden bzw. es wird auf die hierfür relevante Literatur verwiesen. Die Anwendung dieser Methoden erfordert allerdings ein gewisses Maß an Vorwissen, so dass Usability-Evaluationen in der Regel nicht ohne weiteres von Bibliothekspersonal selbst durchgeführt werden können. Darüber hinaus beinhalten Bibliotheksauftritte einige charakteristische Bereiche, wobei in Bezug auf deren Evaluation eine spezifische Anpassung der angewandten Untersuchungsmethoden zu aussagekräftigeren Evaluationsergebnissen führen kann. Diese Probleme wurden von den Autoren im Rahmen des Innovations- und Kooperationsprojekts „e-lib.ch: Elektronische Bibliothek Schweiz“ aufgegriffen. Um ihnen entgegenzuwirken wurde unter der Bezeichnung „BibEval“ ein webbasierter Kriterienkatalog entwickelt, der speziell auf die Evaluation bibliothekarischer Online-Angebote ausgerichtet ist. Dieser steht auf der Website des Churer Evaluationslabors (CHEVAL)1 öffentlich zur Verfügung und kann unter Berücksichtigung einer Creative-Commons-Lizenz frei verwendet werden. Bei der Vorstellung dieses Tools wird eingangs die methodische Vorgehensweise bei der Konzeption des Kriterienkatalogs beschrieben. Im Anschluss daran werden der Aufbau und die Struktur des Kriterienkatalogs erläutert bevor auf die Funktionsweise der entsprechenden Webanwendung eingegangen wird. Darauf aufbauend werden im nächsten Abschnitt einige typische Problemfelder bibliothekarischer Online-Angebote bzw. entsprechende Usability-Mängel 1
www.cheval-lab.ch.
32 Thomas Weinhold, Sonja Hamann und Bernard Bekavac aufgezeigt. Die Ausführungen stützen sich dabei auf die Resultate diverser Evaluationen, die von den Autoren unter Verwendung von „BibEval“ durchgeführt wurden. Abgerundet wird der Beitrag durch ein kurzes Fazit und einen Ausblick auf die geplanten Entwicklungsschritte für den weiteren Ausbau des Kriterienkatalogs.
Benutzerorientierte Gestaltung bibliothekarischer Online-Angebote Eine besondere Herausforderung bei der nutzerzentrierten Gestaltung bibliothekarischer Websites ist der Umstand, dass die Dienstleistungen von Bibliotheken und insbesondere jene von öffentlichen Bibliotheken auf eine sehr heterogene Gruppe von Anwendern mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Kenntnissen ausgerichtet sind.2 Zudem variieren auch die Informationsbedürfnisse der verschiedenen Nutzer teils sehr deutlich. Je nach Informationsbedarf können dabei bei Recherchen grundsätzlich drei Strategien verfolgt werden: – – –
Gezielte Suche nach einem speziellen Objekt/einer speziellen Information Erkunden, was zu einem bestimmten Thema/Autor/Inhalt etc. vorhanden ist Weiterverwertung von Rechercheergebnissen (Objekt/Trefferliste), z.B. Speichern, Zitieren, Taggen, usw.
Um diese Ziele zu erreichen, legen sich die Anwender eine individuelle Strategie zurecht, mit dem Ziel, den eigenen Aufwand für die Recherche zu reduzieren (so genannte information-foraging-Theorie3). Dabei kommen Browsing und gezielte Suchen oftmals abwechselnd zum Einsatz, um dem sich im Verlauf des Rechercheprozesses wandelnden Erkenntnisstand gerecht zu werden.4 Gerade für Retrieval-Werkzeuge im Bibliotheksbereich ist es daher wichtig, diese unterschiedlichen Recherchestrategien zu unterstützen. In diesem Kontext gilt es für Bibliotheken Mittel und Wege zu finden, das Potenzial digitaler Technologien möglichst optimal auszuschöpfen, um ihren Anwendern einen einfachen und nahtlosen Zugang zu den vorhandenen Informationsressourcen zu bieten.5 Doch gerade die rasante Weiterentwicklung von Technologien und die daraus resultierende Vielzahl verfügbarer Komponenten
2 3 4 5
Battleson; Booth; Weintrop, 2001. Pirolli; Card, 1995. McKay et al., 2004. Norlin; Winters, 2002.
Usability-Evaluation von Bibliothekswebsites
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und Funktionalitäten führen in Bibliotheken in diesem Zusammenhang zu einer Reihe offener Fragestellungen. So ist oftmals unklar, welche Funktionalitäten wirklich einen Mehrwert für die Anwender generieren. Auch fehlt es an systematischen Untersuchungen und Richtlinien, wie gewisse Komponenten im Detail gestaltet werden sollten, um ein nutzerfreundliches Gesamtkonzept sicherzustellen. Bei der Konzeption anwenderfreundlicher Systeme sollte das Hauptaugenmerk darauf liegen, welche Funktionalitäten von den Nutzern auch tatsächlich benötigt werden, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Hierfür ist ein profundes Wissen über die eigenen Anwender und deren Bedürfnisse erforderlich. Klar definierte Prioritäten in Bezug auf das „Wer“ und „Was“ stellen die Basis für Systeme dar, die eine optimale Aufgabenunterstützung bieten.6
Gängige Praxis von Evaluationen im Bibliothekssektor Gemäß einem zur Evaluation von digitalen Bibliotheken entwickelten Modell sind für die Qualität von Informationsangeboten im Web drei Aspekte von besonderer Bedeutung. Die Komponenten dieses Interaktions-Triptychons sind in Abbildung 1 dargestellt.
Abb. 1: Interaktions-Triptychon (in Anlehnung an Tsakonas; Papatheodorou, 2006)
Die wesentlichen Qualitätsaspekte sind demnach die Usability, die Usefulness und die Performance. Über die Usability lässt sich die Qualität der Interaktion 6
Battleson; Booth; Weintrop, 2001.
34 Thomas Weinhold, Sonja Hamann und Bernard Bekavac zwischen Anwender und System ausdrücken. Anwenderfreundliche Systeme sind einfach zu bedienen und passen sich darüber hinaus flexibel den Vorlieben und Fertigkeiten ihrer Anwender an. Der Aspekt der Usefulness bezieht sich auf die bereitgestellten Inhalte und deren Relevanz für die Erfüllung der Informationsbedürfnisse der Anwender. Ein weiteres wesentliches Qualitätskriterium ist die Performance, die zwischen System und Inhalten angesiedelt ist. Die Leistungsfähigkeit eines Systems hängt dabei stark von den verwendeten Datenformaten, inhaltlichen Strukturen und der Informationsrepräsentation ab.7 Idealerweise sollten alle diese drei Ebenen bei der Evaluation von OnlineAngeboten gleichberechtigt berücksichtigt werden. Im vorliegenden Beitrag liegt der Fokus allerdings ausschließlich auf Usability-Evaluationen. Auf Aspekte der Usefulness wird in Kapitel 3 im Beitrag von Birri-Blezon, Hügi und Schneider näher eingegangen Beispiele zur Evaluation der Performance finden sich unter anderem bei Tsakonas & Papatheodorou (2006) sowie Klas et al. (2007). Gemäß der DIN EN ISO-Norm 9241-110 ist Usability definiert als „das Ausmaß, in dem ein Produkt von einem bestimmten Benutzer verwendet werden kann, um bestimmte Ziele in einem bestimmten Kontext effektiv, effizient und zufrieden stellend zu erreichen“.8 Nach Nielsen sind daneben in Bezug auf die Usability eines Systems vor allem die Erlernbarkeit, der Wiedererkennungswert bzw. die Einprägsamkeit der Benutzeroberfläche sowie dessen Fehlertoleranz von besonderer Bedeutung. In neueren Studien wird in diesem Zusammenhang teilweise noch die Berücksichtigung weitere Attribute vorgeschlagen. So spielt nach Abran et al. (2003) zusätzlich auch das Kriterium der Sicherheit eine wesentliche Rolle.9 Eine andere Studie schlägt als Usability-Kriterien die Erlernbarkeit, Einfachheit („ease of use“), ästhetisches Erscheinungsbild, Navigation und Terminologie vor.10 Unabhängig von der gewählten Definition bzw. der Interpretation des Begriffs der Usability steht mittlerweile ein breites Methodenspektrum für entsprechende Evaluationen zur Verfügung11, wobei jede Methode ihre spezifischen Stärken und Schwächen hat, die es zu berücksichtigen gilt. Für die Auswahl geeigneter Evaluationsmethoden sind daher eine gewisse Erfahrung und entsprechendes Know-How erforderlich, weshalb vor allem kleinere Institutionen diesbezüglich in der Regel auf eine gezielte Beratung seitens Usability Professionals angewiesen sind.12 Eine wichtige Rolle spielen dabei unter anderem auch betriebswirtschaftliche Überlegungen. Da jede Evaluation mit einem gewissen 7 8 9 10 11 12
Fuhr et al., 2007. ISO 9241-110, 2006. Abran et al., 2003. Tsakonas; Papatheodorou, 2006. Siehe Kapitel 1: Grundlagen des Usability-Engineerings. Schweibenz; Thissen, 2003.
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Aufwand verbunden ist, geht es darum, entsprechend dem Kosten-NutzenVerhältnis und den Untersuchungszielen die jeweils optimale Evaluationsmethode zu bestimmen. Die Ergebnisse verschiedener Studien zeigen jedoch, dass die Bewertung von Evaluationsmethoden und insbesondere deren Vergleich mit etlichen Problemen behaftet ist.13 Zur Bewertung von UsabilityEvaluationsmethoden (UEM) können beispielsweise folgende sechs Kriterien herangezogen werden:14 – – – – – –
Vollständigkeit Validität Effektivität Zuverlässigkeit Praktische Anwendbarkeit der Evaluationsergebnisse Kosteneffizienz
Basierend auf diesen Kriterien haben Hartson, Andre und Williges (2001) versucht eine Meta-Analyse von 18 Studien, die sich mit dem Vergleich von UEM beschäftigen, durchzuführen. Gemäß deren Untersuchungsergebnissen bleibt zusammenfassend festzuhalten, dass es per se die ideale UEM nicht gibt, da eine Vielzahl an Parametern Einfluss auf die Eignung einer Methode und die jeweiligen Evaluationsergebnisse hat. Kriterien wie die Validität, die Effektivität oder die Kosteneffizienz sind daher im Vorfeld einer Evaluation nicht a priori zu bestimmen, weshalb die in Vergleichsstudien ermittelten Kennzahlen keine zuverlässige Auswahl einer UEM zulassen.15 Daher muss vielmehr aufgrund bestimmter Charakteristika des Untersuchungsgegenstandes und der zu beachtenden Rahmenbedingungen die Auswahl einer geeigneten Untersuchungsmethode erfolgen. Grundsätzlich kann dabei zwischen benutzer- und expertenorientierten Methoden unterschieden werden.16 Eine gute Übersicht von im Bibliothekssektor durchgeführten Usability-Evaluationen findet sich z.B. bei Jeng (2005). Bezüglich Benutzerorientierten Methoden kommen demnach formative Usability-Tests, Fragebögen und Fokusgruppen am häufigsten zum Einsatz. Aus dem Bereich analytischer bzw. expertenorientierter Verfahren werden LogfileAnalysen, Walkthrough-Verfahren und heuristische Evaluationen am häufigsten genutzt.17 Die wertvollsten Erkenntnisse für die Optimierung einer Website können dabei in der Regel aus formativen Usability-Tests gezogen werden. Da bei dieser 13 14 15 16 17
Gray; Salzmann, 1998. Hartson; Andre; Williges, 2001. Hartson; Andre; Williges, 2001. Siehe Kapitel 1: Grundlagen des Usability-Engineerings. Jeng, 2005.
36 Thomas Weinhold, Sonja Hamann und Bernard Bekavac Methode „echte“ Anwender Aufgaben aus ihrem realen Alltag bearbeiten, spiegelt diese Methode naturgemäß auch die potentiellen Probleme der Anwender mit einem Produkt am besten wieder. Allerdings ist die Durchführung solcher Tests zeit- und kostenaufwändig, wobei darüber hinaus auch ein großes Vorwissen für die korrekte Durchführung solcher Evaluationen erforderlich ist, das nicht in allen Institutionen vorhanden ist. Expertenbasierte Verfahren stellen eine kostengünstige Alternative zu Nutzertests dar, wobei insbesondere die heuristische Evaluation ein probates Mittel ist, um bereits in frühen Entwicklungsphasen eine Vielzahl (potentieller) Mängel aufzudecken.18 Im Rahmen einer heuristischen Evaluation erfolgt ein Abgleich der Elemente einer Benutzungsoberfläche mit allgemein anerkannten Gestaltungsprinzipien.19 Mittels Heuristiken können beispielsweise Schwachstellen bezüglich der verwendeten Terminologie, Probleme in Zusammenhang mit der konsistenten Gestaltung des Webauftritts bzw. der Umsetzung bestimmter Features, sowie der Kennzeichnung und Hervorhebung von Hyperlinks und anderen Navigationsmitteln aufgedeckt werden.20 Allerdings besteht bei dieser Methode die Gefahr, dass auch Bereiche bzw. Funktionalitäten als mangelhaft eingestuft werden, die für die echten Anwender im realen Betrieb überhaupt kein Problem darstellen. Ein weiteres Problem bei der Anwendung dieser Methode ist, dass einzelne Anwendungsbereiche oftmals isoliert betrachtet werden, wodurch das Risiko besteht, dass Mängel, die sich aus dem Zusammenspiel verschiedener Komponenten ergeben, übersehen werden können.21 Die Ergebnisse heuristischer Evaluationen sind daher eher auf die Mikroebene einzelner Features als auf die Makroebene des Gesamtproduktes ausgerichtet.22 Nichtsdestotrotz stellen Heuristiken ein wertvolles Mittel zur Usability-Evaluation von Websites dar, wenngleich sie auch idealerweise in Kombination mit anderen Evaluationsmethoden eingesetzt werden sollten.
„BibEval“ – ein webbasierter Kriterienkatalog zur UsabilityEvaluation von Bibliothekswebsites Ein Problem in Bezug auf die Durchführung heuristischer Evaluationen zur Bewertung bzw. Überprüfung bibliothekarischer Online-Angebote ist der Umstand, dass die üblicherweise verwendeten Heuristiken, wie bspw. jene von Nielsen23, recht abstrakt gehalten sind. Dadurch ist auch für solche Evaluationen 18 19 20 21 22 23
George, 2008. Nielsen, 1994. McMullen, 2001. Blandford et al., 2004. Warren, 2001. Nielsen, 1994.
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ein gewisses Vorwissen erforderlich, um entsprechende Richtlinien und Normen zielgerichtet und adäquat nutzen zu können, wenngleich auch die formalen Anforderungen nicht ganz so hoch sind wie bei der Durchführung von formativen Usability-Tests. Aus diesem Grund scheint die Entwicklung bibliotheksspezifischer Heuristiken bzw. spezieller Kriterienkataloge, welche auf die in Bibliothekswebsites üblicherweise integrierten Komponenten zugeschnitten sind, mit einem großen Potential verbunden zu sein. So könnten durch konkrete Richtlinien und detaillierte Beschreibungen auch Personen ohne tiefergehende Kenntnisse in den Bereichen Usability Engineering, Web Design und Interaction Design in die Lage versetzt werden, in einem gewissen Umfang selbstständig Evaluationen durchzuführen. Für Bibliotheken würde dies bedeuten, dass sie bezüglich der Bewertung ihrer Website deutlich autonomer agieren und somit gezielter sowie kostengünstiger bei der Optimierung des eigenen Webauftritts vorgehen könnten. Betrachtet man allerdings die Literatur zu den im Bibliothekssektor durchgeführten heuristischen Evaluationen, so fällt auf, dass sich die Mehrzahl der Studien24 auf die Anwendung der zehn generellen Heuristiken von Nielsen beschränkt. Die Entwicklung angepasster Bewertungskriterien spielte hingegen bislang nur eine untergeordnete Rolle. Zwar gibt es einige wenige Studien, in denen entsprechende Heuristiken oder spezielle Kriterienlisten entwickelt wurden, diese wurden allerdings bislang kaum in der Praxis angewandt. So hat z.B. Clyde (1996) eine Liste mit zehn konkreten Empfehlungen für das Web Design von Bibliotheksseiten entwickelt.25 Auch Clausen (1999) hat versucht neue Kriterien für die Evaluation der Websites von Bibliotheken und anderen Informationseinrichtungen zu entwickeln.26 Raward (2001) hat basierend auf einer Best-Practice-Analyse eine 100 Fragen umfassende Checkliste mit Designprinzipien für die Websites akademischer Bibliotheken erstellt.27 Basierend auf den ursprünglichen zehn Heuristiken von Nielsen haben Aitta, Kaleva und Kortelainen (2008) eine auf Bibliotheken zugeschnittene Version dieser Richtlinien entwickelt.28 Die größte Schwachstelle dieser Kriterienlisten ist, dass einerseits deren Entwicklung größtenteils bereits recht lange zurück liegt. So sind bspw. viele technologieorientierte Empfehlungen mittlerweile überholt. Andererseits sind diese Heuristiken überwiegend recht generisch gehalten und können daher kaum für detaillierte Analysen herangezogen werden. Diese Heuristiken sind daher für umfassende Evaluationen moderner Websites nur noch bedingt geeignet.
24 25 26 27 28
Vgl. z.B. Yushiana; Rani, 2007 sowie Manzari; Trinidad-Christensen, 2006. Clyde, 1996. Clausen, 1999. Raward, 2001. Aitta; Kaleva; Kortelainen, 2008.
38 Thomas Weinhold, Sonja Hamann und Bernard Bekavac Im Rahmen des Innovations- und Kooperationsprojekts „e-lib.ch: Elektronische Bibliothek Schweiz“ wurde diese Problemstellung aufgegriffen und unter dem Titel „BibEval“ ein umfassender Kriterienkatalog zur Evaluation bibliothekarischer Online-Angebote entwickelt. Dieser sollte einerseits dazu dienen, die im Rahmen von e-lib.ch entwickelten Online-Angebote systematisch zu evaluieren. Andererseits sollen durch diesen Leitfaden Bibliotheken in der Durchführung von Evaluationen der eigenen Angebote unterstützt werden.29
Methodische Vorgehensweise und Konzeption des Kriterienkatalogs Der Leitfaden „BibEval“ wurde iterativ in mehreren Phasen entwickelt. In einem ersten Schritt wurden hierbei zunächst mittels einer umfangreichen Literaturrecherche bezüglich des State-Of-The-Art von Usability-Evaluationen im Bibliotheksbereich und einer Best-Practice-Analyse gängige Bestandteile von Bibliothekswebsites sowie Kriterien für deren Bewertung identifiziert. Bei der Ausarbeitung der Bewertungskriterien wurden zusätzlich diverse allgemeine Normen, Richtlinien und Heuristiken herangezogen.30 Auf Basis dieser Ergebnisse und Materialien wurde eine erste Version des Kriterienkatalogs erstellt. Diese wurde anschließend im Rahmen einer Fokusgruppe, an der Experten aus den Bereichen Bibliothek, Web Design und Usability Engineering teilnahmen, diskutiert und auf Basis der dadurch gewonnenen Erkenntnisse weiter verfeinert. Daraus resultierte eine modular verwendbare, hierarchisch strukturierte Liste von Evaluationskriterien. Die hierarchische Strukturierung und der modulare Aufbau wurden von den Teilnehmern der Fokusgruppe als zwingend notwendig erachtet, da somit die Adaptierbarkeit des Kriterienkatalogs an die spezifischen Bedürfnisse und Rahmenbedingungen unterschiedlicher Institutionen sichergestellt werden kann. So haben bspw. kleine Institutionen mit geringen Ressourcen die Möglichkeit, sich bei einer Evaluation auf die wesentlichen Bereiche ihres Webauftritts zu konzentrieren, während große Bibliotheken anhand des Kriterienkatalogs trotzdem die Möglichkeit haben, umfassende und detaillierte Analysen ihres gesamten Online-Angebotes vornehmen zu können. Ebenso werden durch die Aufteilung im Kriterienkatalog sowohl die Aspekte von Webauftritten rein digitaler Bibliotheken als auch von realen Bibliotheken abgedeckt.
29 Weinhold; Öttl; Bekavac, 2011. 30 ISO 9241-110, 2006; ISO 9241-12, 1998; ISO 9241-151, 2008; Nielsen, 1994; Farkas; Farkas, 2000; Williams, 2000; Spyridakis, 2000.
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Struktur und Aufbau des Kriterienkatalogs Um die gewünschte Anpassbarkeit und Flexibilität des Kriterienkatalogs sicherzustellen, wurde für diesen, wie im vorigen Abschnitt bereits erwähnt, eine hierarchische Grundstruktur gewählt. Diese basiert auf einer Unterteilung des Kriterienkatalogs in die drei Ebenen Sektionen, Subsektionen und Komponenten. Bei den Sektionen als oberste Hierarchieebene wird zwischen vier Bereichen unterschieden (vgl. Abbildung 2). Dabei deckt die Sektion „Information & Kommunikation“ alle Aspekte bezüglich der Bereitstellung von Informationen und dem Support von Anwendern ab. Diese Sektion beinhaltet also z.B. alle generellen Informationen über eine Bibliothek und deren Dienstleistungen. Hierzu zählen unter anderem die Öffnungszeiten der Bibliothek, Lagepläne und ähnliches. Der Bereich „Recherchieren im Bestand“ umfasst sämtliche Funktionalitäten, die für die Recherche nach Bibliotheksobjekten und die Auswertung bzw. Weiterverarbeitung der Rechercheresultate relevant sind. Die Sektion „Personalisierung“ umfasst all jene Funktionalitäten, die es den Anwendern ermöglichen, die Website bzw. deren Dienste und Einstellungen an ihre eigenen Vorlieben und Gewohnheiten anzupassen. In der vierten Sektion „Nutzerpartizipation“ sind schließlich alle Funktionen zusammengefasst, die in Bezug zum Begriff Web 2.0 bzw. Social Media stehen. Diese Sektion umfasst also alle Funktionen, die es dem Nutzer ermöglichen, Inhalte zu bewerten, selbst zu erfassen und mit anderen auszutauschen.31
Abb. 2: Struktur des Kriterienkatalogs „BibEval“
Um bei Evaluationen eine noch präzisere Auswahl der zu untersuchenden Bereiche bzw. Features vornehmen zu können, werden die zuvor beschriebenen Sektionen auf einer zweiten Ebene in Subsektionen untergegliedert. So werden beispielsweise bei der Sektion „Recherche im Bestand“ die beiden Subsektionen 31 Linh, 2008.
40 Thomas Weinhold, Sonja Hamann und Bernard Bekavac „Suchen & Erkunden“ sowie „Präsentation & Zugriff“ unterschieden. Auf der dritten Ebene sind schließlich die einzelnen Komponenten eines Webauftritts angesiedelt. Beispiele für solche Komponenten sind Kontaktformulare oder auch eine einfache Suche. Die Zuordnung von Komponenten zu übergeordneten Sektionen und Subsektionen wurde dabei auf Grund ihres primären Einsatzzwecks durchgeführt, wobei versucht wurde, die Einstufung basierend auf der Sichtweise von Endanwendern vorzunehmen. Mehrheitlich konnte diese Zuordnung recht einfach vorgenommen werden, wie bspw. bei der Zuordnung der einfachen Suche zur Subsektion „Suchen & Erkunden“ bzw. zur Sektion „Recherche im Bestand“. Es gab jedoch auch einige Komponenten, für die keine eindeutige Einstufung möglich war. So können bspw. Blogs oder Wikis, je nach bereitgestellten Inhalten, entweder als Instrumente, die ausschließlich Informations- und Kommunikationszwecken dienen interpretiert werden oder aber auch als Tools, die eine interaktive Beteiligung der Bibliotheksnutzer ermöglichen. In diesem Fall hängt die Einordnung von organisatorischen Kriterien und der Konfiguration dieser Systeme ab (können bspw. nur Bibliotheksangestellte neue Beiträge verfassen oder ist dies auch den Benutzern möglich). Neben dieser funktionalen Zuordnung erfolgte darüber hinaus auch eine Unterscheidung zwischen obligatorischen und optionalen Komponenten. Die Einteilung wurde dabei auf Basis der Ergebnisse der Best-Practice-Analyse vorgenommen, wobei unterschieden wird, welche Bestandteile bzw. Funktionalitäten einer Website für die Nutzer unerlässlich sind und welche einen eher optionalen Charakter haben (eingestuft als „obligatorisch“ bzw. „optional“). So wurde beispielsweise im Rahmen der Sektion „Information & Kommunikation“ die Bereitstellung der Öffnungszeiten der Bibliothek als verpflichtend eingestuft, während die Verfügbarkeit von sozialen Netzwerken oder MicrobloggingDiensten als optional bewertet wurden. Für alle drei Ebenen wurden anschließend Bewertungskriterien bzw. konkrete Fragen erarbeitet, wobei der Detaillierungsgrad dieser Fragen von der Sektions-Ebene zur Ebene der einzelnen Komponenten kontinuierlich zunimmt. Dadurch weisen die Fragen zu den Sektionen noch eine starke Ähnlichkeit zu herkömmlichen Heuristiken aus dem Bereich des Web Design auf (in diesem Kontext werden u.a. Konsistenzaspekte sowie die Einhaltung gängiger Gestaltungskonventionen untersucht), wohingegen die Fragen zu den Subsektionen bereits eine wesentlich bibliotheksspezifischere Ausrichtung aufweisen. Auf der Ebene der Komponenten werden schließlich detaillierte Fragen angeboten, die eine präzise Bewertung der entsprechenden Features einer Website bzw. die Identifikation konkreter Schwachstellen ermöglichen. So wird bspw. in der Sektion „Information & Kommunikation“ die eher allgemeine Frage „Sind die Inhalte in allen für das jeweilige Zielpublikum relevanten Sprachen vorhanden?“ gestellt. Die zugehörige Subsektion „Kontakt & Zugang“ enthält dann die schon spezifischere Frage „Ist klar ersichtlich, unter welchen
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Bedingungen die Ressourcen der Bibliothek nutzbar sind (z.B. nur für Studenten oder die gesamte Bevölkerung) und welche Gebühren (z.B. Mitgliedsbeiträge) gegebenenfalls anfallen?“. In der untergeordneten Komponente „Kontaktinformationen“ befinden sich dann mehrheitlich die bibliotheksspezifischen Fragestellungen wie z.B. „Sind die Öffnungs- und Ausleihzeiten der Bibliothek angegeben?“. Analog zur Unterteilung der Komponenten in die beiden Gruppen „obligatorisch“ und „optional“ wurde auch bei den Evaluationskriterien eine entsprechende Einstufung vorgenommen. Anzumerken ist, dass hierbei die Kategorisierung der entsprechenden Komponenten selbst nicht berücksichtigt wurde, da auch eine optionale Komponente, sofern sie auf einer Website angeboten wird, verpflichtende Kriterien aufweist, welche für eine angemessene Usability unverzichtbar sind. Um im Rahmen von Evaluationen eine Einschätzung der Auswirkungen der identifizierten Usability-Probleme vornehmen zu können, bietet es sich an, ein so genanntes Severity Rating durchzuführen. Ein solches Rating kann z.B. genutzt werden, um die Prioritäten für ein etwaiges Re-Design festlegen zu können. Hierfür wird bei „BibEval“ in Anlehnung an Nielsen die in Tabelle 1 dargestellt Bewertungsskala verwendet.32 Rating
Beschreibung
0
Nicht zutreffend
1
Kein Usability-Problem
2
Geringfügiges Usability-Problem
3
Mittelschweres Usability-Problem
4
Gravierendes Usability-Problem
5
Feature nicht umgesetzt, obwohl notwendig
Tabelle 1: Kategorien des Severity Ratings
Funktionsweise der Webanwendung Um die modulare Struktur des Kriterienkatalogs in der Praxis möglichst optimal nutzen zu können, wurde eine elektronische Version des Evaluationsleitfadens entwickelt. Hierfür wurde mittels MySQL, PHP und Java Script bzw. AJAX eine interaktive Webanwendung realisiert. Diese steht unter einer Creative-
32 Nielsen, 1994.
42 Thomas Weinhold, Sonja Hamann und Bernard Bekavac Commons-Lizenz auf der Website des Churer Evaluationslabors (CHEVAL)33 zur freien Nutzung zur Verfügung, wobei der Leitfaden sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch angeboten wird. Entsprechend der im vorangegangen Abschnitt beschriebenen Struktur lässt sich auch der Aufbau der Webanwendung in drei Bereiche unterteilen. Die einzelnen Dialogschritte werden hierbei – unabhängig von ihrer Reihenfolge – dynamisch angepasst, was es den Anwendern erlaubt, Einstellungen jederzeit zu modifizieren. Sie erhalten somit stets unmittelbares Feedback über die von ihnen getroffenen Auswahlentscheidungen. In einem ersten Dialogschritt ermöglicht „BibEval“ den Anwendern eine Auswahl zu treffen, welche Sektionen und Subsektionen für eine konkrete Evaluation herangezogen werden sollen. Sofern den Anwendern in diesem Kontext die Bezeichnungen der einzelnen Bereiche unklar sind, können sie über Tooltipps jederzeit zusätzliche Informationen abrufen. Bei der Selektion der zu untersuchenden Bereiche können die Anwender dabei entweder eine individuelle Zusammenstellung vornehmen oder alternativ können sie auch auf vorkonfigurierte Zusammenstellungen von Sektionen, Subsektionen sowie den entsprechenden Komponenten zurückgreifen. In Zusammenhang mit den vorgefertigten Evaluationsleitfäden sind zwei Perspektiven zu unterscheiden. Während die Nutzerinnen und Nutzer eine Website primär unter einer aufgaben- bzw. zielorientierten Sichtweise betrachten, ist die bibliotheksinterne Perspektive in der Regel durch die Unterscheidung zwischen spezifischen Einzelprodukten wie OPACs oder Fachdatenbanken geprägt. Dies resultiert aus dem Umstand, dass Bibliotheken teilweise Produkte und Inhalte von externen Anbietern nutzen. So werden einerseits in Bibliothekswebsites mitunter vorgefertigte Module eingebunden auf deren Gestaltung die Bibliothek in der Regel selbst nur wenig Einfluss hat und andererseits wird auf bestimmte Inhalte wie z.B. Fachdatenbanken nur verlinkt. Bei „BibEval“ stehen daher in Zusammenhang mit vorgefertigten Evaluationsleitfäden folgende Auswahloptionen zur Verfügung: – – – –
„alle“ (wobei alle im System hinterlegten Fragen für die Evaluation herangezogen werden) „Vorauswahl: nur Katalog“ (es werden nur diejenigen Fragen berücksichtigt, die sich auf den Bibliothekskatalog (OPAC) beziehen) „Vorauswahl: nur Webseite“ (evaluiert wird lediglich der eigentliche Webauftritt der Bibliothek) „Vorauswahl: nur Fachdatenbanken“ (nur die Funktionalitäten werden evaluiert, die sich auf die Nutzung von über die Seite zugreifbaren Datenbanken beziehen)
33 http://www.cheval-lab.ch/leitfaden-bibeval .
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–
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„benutzerdefinierte Auswahl“ (der Anwender kann selbst entscheiden, welche Bereiche und Subsektoren er in seiner Evaluation berücksichtigen möchte)
Entsprechend der Auswahl zu evaluierender Sektionen und Subsektionen kann ein Anwender in einem zweiten Bereich der Webanwendung diese Auswahl noch präzisieren. Hierfür wird ihm von der Anwendung zunächst eine Liste der seiner Bereichsauswahl entsprechenden individuellen Komponenten angeboten. In dieser Zusammenstellung sind dabei erst einmal sowohl die obligatorischen als auch die optionalen Komponenten einer Bibliothekswebsite enthalten. Der Anwender hat auf dieser Basis zwei Möglichkeiten seinen Evaluationsleitfaden weiter anzupassen. Einerseits kann eine Einschränkung auf ausschließlich obligatorische Komponenten vorgenommen werden. Andererseits ist auch eine individuelle Zusammenstellung der zu untersuchenden Komponenten möglich. Im dritten Bereich von „BibEval“ bekommt der Anwender schließlich entsprechend der von ihm bisher getroffenen Auswahl seinen individuellen Fragenkatalog inklusive der Anzahl der in diesem enthaltenen Fragen präsentiert. Hierbei werden die Erläuterungstexte zu den einzelnen Fragen im Gegensatz zu den ersten beiden Dialogschritten nicht in Form von Tooltipps eingeblendet, sondern dem Nutzer direkt präsentiert. Dadurch soll sichergestellt werden, dass keine Informationen übersehen werden und somit alle Anwender eine Evaluation unter den gleichen Bedingungen durchführen können. An dieser Stelle haben Anwender nochmals zwei Einschränkungsmöglichkeiten. Einerseits kann der Fragenkatalog auf die obligatorischen Fragen zu den zu untersuchenden Bereichen bzw. Komponenten reduziert werden. Anderseits hat der Nutzer die Wahl, ob in seinem individuellen Kriterienkatalog nur die detaillierten Fragen zu den spezifischen Komponenten aufgelistet werden sollen oder ob auch die allgemeinen Fragen zu den einzelnen Sektionen und Subsektionen berücksichtigt werden sollen. Anhand eines so erzeugten Kriterienkatalogs haben Anwender anschließend die Möglichkeit einen spezifischen Webauftritt zu evaluieren. Hierfür stellt die Webanwendung für jede Frage ein entsprechendes Auswahlfeld zur Verfügung, über das eine Bewertung gemäß den in Tabelle 1 dargestellten Kategorien des Severity Ratings vorgenommen werden kann. Zusätzlich kann bei Bedarf bei jeder Frage auch ein zusätzliches Kommentarfeld eingeblendet werden, über welches für die spätere Auswertung zusätzliche Informationen erfasst werden können. Auf diese Weise erzeugte Evaluationsberichte können am Ende einer Untersuchung in zwei unterschiedlichen Formaten exportiert werden, wobei alle getroffenen Einstellungen, Bewertungen und Kommentare übernommen werden. Ein Export ist entweder in Form eines PDF-Dokuments oder einer CSVDatei möglich. Der Export als CSV-Datei ermöglicht es bspw. die Evaluationsergebnisse später in einer Tabellenkalkulation weiter zu verarbeiten. Diese
44 Thomas Weinhold, Sonja Hamann und Bernard Bekavac Variante hat den Vorteil, dass dabei auch Zwischenstände gespeichert werden können, was bei einem Ausfüllen des Kriterienkatalogs über die Website (noch) nicht möglich ist. Daher eignet sich diese Vorgehensweise bspw. auch dann, wenn über die Webanwendung lediglich ein Kriterienkatalog zusammengestellt, die Evaluation selbst jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen soll.
Typische Problemfelder bibliothekarischer Online-Angebote Bevor im Folgenden auf gängige Probleme von Bibliothekswebsites genauer eingegangen wird, soll zunächst ein übergeordneter Blick auf die Ursachen dieser Schwachstellen geworfen werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in der Regel immer dann Probleme auftreten, wenn die Realisierung bestimmter Funktionalitäten auf einer bibliotheksinternen Perspektive beruht. Hierdurch kann es bei den Anwendern zu Irritationen kommen, da deren Wahrnehmung sich oftmals von der betriebsinternen Sichtweise unterscheidet. Dieses Dilemma lässt sich auch folgendermaßen ausdrücken: Bibliotheken berücksichtigen bei der Konzeption ihrer Angebote und Dienstleistungen vielfältige interne Zusammenhänge, welche jedoch für die Anwender nicht immer transparent und somit nur schwer nachvollziehbar sind. Sofern also bibliotheksinterne Strukturen und Daten ohne Anpassung an deren Bedürfnisse und Kenntnisse direkt an die Anwender weitergegeben werden, kann dies Usability-Probleme nach sich ziehen. Bibliotheken sind komplexe Gebilde, die unter anderem einen oder mehrere physische und digitale Bestände sowie gegebenenfalls weitere Zusatzinformationen erschließen, verwalten, archivieren und zur Nutzung zur Verfügung stellen müssen. Hinzu kommen bibliotheksübergreifende Angebote, wie bspw. die Recherche in Fachdatenbanken sowie weitere Dienstleistungen, welche die Bibliothek offeriert (z.B. kulturelle Veranstaltungen, Schulungen bzgl. Informationskompetenz, usw.). All diese Informationen werden auf der Bibliothekswebsite zusammengeführt. Da Bibliotheken, wie bereits in Zusammenhang mit dem Kriterienkatalog „BibEval“ erwähnt, für verschiedene Dienste teilweise auf Angebote externer Anbieter zurückgreifen, haben sie in gewissen Bereichen oftmals nur wenig Einfluss auf deren konkrete Gestaltung (z.B. bei OPACs). Eine Bibliothekswebsite ist somit ein modulares Gebilde, dem heterogene Datenbestände und Dienste zu Grunde liegen. Das mentale Modell eines durchschnittlichen Anwenders einer Bibliothekswebsite oder auch dessen Vorstellung der Bibliothek selbst ist jedoch deutlich einfacher und umfasst meist nur die für ihn erkennbaren und für seine Ziele relevanten Aspekte. Vereinfacht gesagt, ist das Nutzerbild teilweise auf die Räumlichkeiten der Bibliothek, die vorhandenen Bücher, Zeitschriften und sonstige Medien, sowie das in der Bibliothek präsente Personal, Equipment
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und die entsprechenden Dienstleistungen beschränkt. Hierbei dominiert eine eher vage Sichtweise ohne die Berücksichtigung der komplexen internen Zusammenhänge. Auch der Webauftritt der Bibliothek wird dabei mehr oder weniger als geschlossene Einheit wahrgenommen, weshalb vor allem Inkonsistenzen, welche durch die Zusammenführung unterschiedlicher Module entstehen, kaum nachvollzogen werden können. Diese Diskrepanz führt in Konsequenz zu einer Reihe von häufig auftretenden Usability-Schwachstellen, die im Folgenden genauer dargestellt werden. Hierbei beziehen sich die Autoren auf Erfahrungswerte, welche im Rahmen diverser Evaluationen von Bibliotheksangeboten unterschiedlicher Art gewonnen wurden. Die einzelnen Problemstellungen sind entsprechend ihrer Ursachen, die hauptsächlich in der Organisation der Metadaten und im Zusammenspiel einzelner Komponenten liegen, angeführt.
Metadatenbedingte Problemfelder Ein zentrales Problem von Bibliothekswebsites liegt in der Organisation der Metadaten. Ein gängiger Standard zur Verschlagwortung von Bibliotheksobjekten ist die Dewey-Dezimalklassifikation (DDC). In einigen Bibliotheken wird die DDC auch zur explorativen Analyse (Browsen im Bestand) eingesetzt. Wirft man einen genaueren Blick auf die DDC, so sind die zehn Hauptklassen zunächst gut voneinander zu unterscheiden und wirken auf den ersten Blick trennscharf. Betrachtet man nun jedoch die zweite und dritte Ebene der DDC, so fallen sofort Überschneidungen auf. Ein gutes Beispiel ist in diesem Kontext die Frage, wo ein Buch zu suchen wäre, welches von Hannibals Zug über die Alpen handelt: Unter 900 Geschichte, 910 Geografie, Reisen, 930 Geschichte des Altertums (bis ca. 499), Archäologie oder 940 Geschichte Europas? Der Nutzer muss sich an dieser Stelle entscheiden, welche Rubrik er wählt, um passende Werke zu finden. Da in der Regel nicht transparent ist, mit welcher Logik die Werke zugeordnet respektive verschlagwortet wurden, müsste er alle passenden Rubriken überprüfen, um keine relevanten Werke zu übersehen, selbst wenn die entsprechenden Werke jeder der Kategorien zugeordnet wären. Denn in der Praxis zeigt sich, dass bei der Verwendung hierarchischer Strukturen zur Realisierung von Browsing-Möglichkeiten meist Mehrfachzuordnungen vorgenommen werden. Dabei kann aber kein Anspruch auf Vollständigkeit gelegt werden, da die Erwartungen und somit auch Zuordnungen der Anwender und auch der erschließenden Personen subjektiv geprägt sind. Erschwert wird das Browsen zusätzlich durch den Umstand, dass an dieser Stelle keine Werkzeuge zur Verfügung stehen, um die Treffer in den unterschiedlichen Rubriken miteinander abzugleichen und zu einer aggregierten Trefferliste zusammenzuführen. Wie deutlich wird, ist dies kein DDC-spezifisches Problem, sondern eine grundlegende Schwachstelle, die auftreten kann, sobald (poly)hierarchische Schlagwortkataloge zum Browsen eingesetzt werden und der Anwender sich
46 Thomas Weinhold, Sonja Hamann und Bernard Bekavac für einen exklusiven Navigationspfad entscheiden muss. Bei der nutzerfreundlichen Gestaltung derartiger Komponenten sollte aus diesem Grund auf gewisse Details geachtet werden. Entscheidende Faktoren sind hierbei die Anzahl der Kategorien auf einer Hierarchieebene, deren Sortierung sowie die Interaktionsmöglichkeiten zur Auswahl von Kategorien. Bei der Auswahl, Benennung, Strukturierung und Sortierung von Kategorien sollte darauf geachtet werden, dass die einzelnen Bereiche die Interessen der Anwender widerspiegeln. So könnte es beispielsweise sinnvoll sein, in der Bibliothek einer Hochschule, an der ein Tourismusstudiengang angeboten wird, die Kategorie „Tourismus“ einzuführen, in welcher im Hintergrund die entsprechenden Schlagwortkategorien (z.B. „DDC-380 Handel, Kommunikation, Verkehr“ und „DDC-910 Geografie, Reisen“) zusammengefasst werden, ohne dass diese dem Anwender direkt präsentiert werden. Alternativ sollte zumindest darauf geachtet werden, dass artverwandte Kategorien in relativer Nähe zueinander platziert werden, um dem Anwender den Überblick über alle entsprechend seiner Interessen relevanten Kategorien zu erleichtern. Zudem könnte es für den Anwender hilfreich sein, eine Mehrfachauswahl von unterschiedlichen Kategorien nutzen zu können, so dass alle Themengebiete, welche aus seiner Sicht in Frage kommen, beim Browsen berücksichtigt werden. Diese Lösung erfordert in der Regel jedoch eine umfangreiche Umstrukturierung der Benutzeroberfläche, da dann Mechanismen geschaffen werden müssen, welche es dem Anwender erlauben, das aggregierte Ergebnis seiner Explorationen zu sichten oder unterschiedliche Teilmengen zusammenzuführen. Ein entsprechendes Konzept erinnert auf den ersten Blick sehr stark an eine „Faceted Search“, wobei letztere aktuell in der Praxis kaum als reines Browsing-Instrument eingesetzt wird, sondern in der Regel erst nach Absenden einer Suchanfrage zur Verfeinerung der Trefferliste genutzt werden kann. Auch bei einer „Faceted Search“ kann der Anwender jedoch in der Regel aus jeder Rubrik (z.B. Thema, Autor) nur eine Kategorie als Filter für seine Suchanfrage wählen, obwohl an vielen Stellen aus Effizienzgründen eine Mehrfachauswahl wünschenswert wäre. In diesem Zusammenhang muss allerdings darauf geachtet werden, dass die Anwender nicht durch zu viele Auswahloptionen überfordert werden. Ein weiteres Problem, welches häufig erst durch Werkzeuge wie eine „Faceted Search“ oder entsprechenden Browsing-Optionen deutlich wird, sind Inkonsistenzen in den Metadaten, wobei diese Problematik insbesondere in Zusammenhang mit Metakatalogen von Relevanz ist. In solchen finden sich zum einen häufig unterschiedliche Schreibweisen von Autoren (z.B. Müller, F.; Müller, Friedrich; Müller, Franz; Mueller, Franz; etc.), was es einem Anwender nahezu unmöglich macht, ohne signifikanten Mehraufwand zu entscheiden, ob es sich bspw. bei den Werken von Müller, F. um jene von Friedrich Müller oder Franz Müller handelt. Außerdem führen derartige Abweichungen dazu, dass eine Aufgabenstellung wie „Finde alle Werke eines Autors“ – wenn überhaupt – nur mit großem Aufwand lösbar ist. Zur Bewältigung dieses Problems
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der Distinguierung von Autoren werden aktuell unterschiedliche Ansätze (z.B. Einsatz von Technologien aus dem Semantic Web, Content Enrichment) verfolgt, wobei der Aufwand für und somit auch der Erfolg entsprechender Maßnahmen teils recht deutlich variiert. Weitaus gravierender sind aus Anwendersicht jedoch Inkonsistenzen und Lücken bei inhaltsbeschreibenden Metadatenfeldern. So lieferte beispielsweise die Suche nach dem Begriff „Design“ bei einem Metakatalog knapp 100.000 Resultate, wobei in der Facette „Thema“ die folgenden drei Auswahloptionen zuoberst angeführt waren: „Design“ mit rund 3.500 Treffern, „design“ mit knapp 2.000 Treffern und „design and construction“ mit rund 1.200 Treffern. Führt man bei solchen Angeboten einen generellen Vergleich durch, wie viele Treffer als Ergebnis für einen Suchbegriff gefunden werden, und wie viele Treffer die entsprechende inhaltliche Facette beinhaltet, so kommt man häufig auf eine Abdeckung, die im Promille-Bereich liegt, was bei Anwendern durchaus zu Irritationen führen kann. Dieser Effekt wird oftmals noch dadurch verstärkt, dass beispielsweise Schlagwortfelder zusammengeführt werden, ohne dass eine Bereinigung der Schreibweise oder auch des Vokabulars an sich erfolgt. So konnte umgekehrt auch der Fall beobachtet werden, dass eine Suchanfrage mit dem Begriff „Informationsvisualisierung“ nur sechs Treffer lieferte, wobei in der Facette „Thema“ jedoch 21 Optionen mit jeweils einem zugeordneten Objekt zurückgeliefert wurden. Im konkreten Fall hätten dabei etliche der Auswahloptionen zusammengefasst werden können, da sie praktisch deckungsgleich waren und lediglich andere Schreibweisen verwendet wurden. Ein weiteres Problem bezüglich der „Faceted Search“ betrifft die Berechnung der Mengenangaben und kann auftreten, sofern hierarchisch strukturierte Schlagwörter zur Erschließung verwendet werden. Dies soll an folgendem Beispiel illustriert werden: Eine Suchanfrage liefert vier Treffer zurück, von denen drei mit Mensch und Säugetier verschlagwortet wurden und ein Treffer mit Hund und Säugetier. In der Regel wird dies innerhalb der Facetten folgendermaßen dargestellt: Säugetier (4), Mensch (3), Hund (1). Zählt man die Mengenangaben zusammen, so wird zunächst der Eindruck erweckt, als ob acht Treffer vorhanden wären. Nimmt man dieses einfache Beispiel, so scheint die Problematik zunächst nicht sonderlich gravierend, da leicht geschlussfolgert werden kann, dass alle Treffer der Kategorie Säugetiere zugeordnet sind, wobei drei davon zusätzlich der Kategorie Mensch und einer der Kategorie Hund untergeordnet ist. In der Praxis ist dieses Problem jedoch nicht so leicht zu lösen: Zum einen wird bei einer „Faceted Search“ in der Regel nur ein Ausschnitt der Facetten präsentiert, wobei die inhaltlichen Zusammenhänge (Oberund Unterbegriffe) oft nur schwer erkennbar sind. Zum anderen folgt die Zuordnung zu Kategorien nicht immer diesem einfachen Schema. Hinzu kommt, dass Facetten in der Regel entsprechend der Anzahl der Treffer sortiert werden, wodurch Ober- und Unterbegriffe ebenfalls weit voneinander getrennt erscheinen können.
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Zusammenspiel einzelner Komponenten und Module Ein weiterer relevanter Faktor für die Benutzerfreundlichkeit von Bibliothekswebsites ist das Zusammenspiel unterschiedlicher Komponenten und Module. Vor allem beim Wechsel zwischen der erweiterten und einfachen Suche kann es hierbei zu Problemen kommen, da beide oft unabhängig voneinander implementiert werden. Beobachtet wurde an dieser Stelle, dass Filteroptionen, welche in der erweiterten Suche getroffen wurden, beim Wechsel auf die einfache Suche beibehalten wurden, ohne dass dies für den Anwender transparent gemacht wurde. Um diese Filtereinstellungen wieder zu entfernen, musste man in der Praxis nochmals auf die erweiterte Suche wechseln, um dort die entsprechenden Einstellungen wieder manuell zu entfernen. Erst danach konnte die einfache Suche wieder ohne Einschränkungen verwendet werden. Umgekehrt treten mitunter auch beim Wechsel von der einfachen zur erweiterten Suche Probleme auf. Gibt ein Anwender bspw. eine Suchanfrage in das Eingabefeld der einfachen Suche ein und beschließt dann, auf die erweiterte Suche zu wechseln, so wird nur selten der Suchbegriff in die entsprechende Maske übernommen. Dies kann dann positiv sein, wenn der Anwender eine neue Recherche starten oder seine Eingabe stark modifizieren möchte, kann aber auch negative Auswirkungen haben, wenn der Suchprozess hierdurch unterbrochen wird und der Nutzer seine Eingaben erneut vornehmen muss. Die meisten Bibliothekswebsites beinhalten mehrere Suchmasken, sei es für die einfache und erweiterte Suche, aber auch für die Recherche in Fachdatenbanken oder die Suche im Bestand (Indexsuche). Oftmals sind diese Eingabemasken jedoch nicht aufeinander abgestimmt – weder vom Layout und ihrem Interaktionsdesign, noch von ihrer Funktionsweise. Vergleicht man bei einigen Angeboten z.B. die Ergebnisse der einfachen Suche, die ja in der Regel eine feldübergreifende Suche repräsentiert, mit den Ergebnissen der erweiterten Suche unter Verwendung der Option „Suche in allen Feldern“, so kommt es teilweise zu Abweichungen bezüglich der Trefferanzahl und des Rankings, obwohl beide Suchanfragen theoretisch das gleiche Ergebnis liefern müssten. Desweiteren gab es auch Fälle, in denen dieselben Operatoren in den verschiedenen Suchmodi unterschiedlich interpretiert wurden. So wurde in einer Suchmaske für das Ersetzen beliebig vieler Zeichen das Symbol „?“ verwendet, während in einer anderen Suchmaske des selben Angebots „*“ für denselben Zweck verwendet werden musste. Für den Anwender ist dies nur schwer nachzuvollziehen, weshalb darauf geachtet werden sollte, dass alle angebotenen Suchmasken äquivalent gestaltet werden und Eingaben stets gleich verarbeitet werden, auch wenn dies gegebenenfalls im Hintergrund eine Vorverarbeitung der Suchanfragen erfordert. Hinzuzufügen ist an dieser Stelle, dass eine allgemeine Überprüfung unterschiedlicher Eingabeoptionen bei verschiedenen Angeboten gezeigt hat, dass
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sowohl Boolesche Operatoren als auch Trunkierungen oftmals bereits innerhalb eines einzelnen Suchmodus, also z.B. in der einfachen Suche, fehlerhaft interpretiert werden. Theoretisch müsste z.B. folgende Berechnung gelten: „Suchbegriff 1 OR Suchbegriff 2“ entspricht der Summe der Treffer zu „Suchbegriff 1“ und „Suchbegriff 2“ abzüglich der Treffer, in denen beide Suchbegriffe vorkommen („Suchbegriff 1 AND Suchbegriff 2“). Dies war jedoch bei keinem der überprüften Recherchewerkzeuge der Fall, sondern stattdessen lieferten sämtliche Angebote für die OR-Verknüpfung zu wenig Treffer zurück. Solche Fehler resultieren in der Regel aus einer fehlerhaften Konfiguration der den Angeboten zugrunde liegenden Suchmaschinen (z.B. Solr/Lucene oder FAST). Auffällig war außerdem, dass auch Trunkierungen (z.B. * für beliebig viele Zeichen) häufig fehlinterpretiert wurden. So ergab bei einem Angebot die Suche nach Johan* weniger Treffer, als aufgrund der Summe der Suchanfragen mit den Begriffen Johan, Johannes, Johanna und Johann zu erwarten gewesen wäre. Bei Doppelnamen wie Müller-Jacquier führte eine Suche des vollständigen Namens zwar zu Treffern, nicht aber eine Suche nach Müller-Jac*. Insgesamt zeigen die Erfahrungen, die bei unterschiedlichen Evaluationen gesammelt werden konnten, dass gewisse Fehler wiederholt über unterschiedliche Bibliothekswebsites hinweg auftreten. Dabei dürften allerdings einige der zuvor aufgezeigten Schwachstellen, wie die fehlerhafte Interpretation von Booleschen Operatoren, den meisten Anwendern in der Praxis kaum auffallen, da von diesen vermutlich eher selten eine systematische Überprüfung unterschiedlicher Treffermengen vorgenommen wird. Allerdings konnten entsprechende Mängel auch von den Bibliotheksangestellten selbst oftmals nicht identifiziert werden, da die Überprüfung derartiger Aspekte häufig vernachlässigt wurde. An dieser Stelle hat sich der in diesem Beitrag vorgestellte Kriterienkatalog als besonders hilfreich erwiesen, da eben für diesen solche Aspekte systematisch gesammelt und aufbereitet wurden, um somit Evaluationen zielgerichteter durchführen zu können. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass bei der Konzeption und der Realisierung jedes Online-Dienstes die Perspektive der Anwender nicht außer Acht gelassen werden darf. Die Gründe warum unterschiedliche Suchmasken desselben Webauftritts voneinander abweichen oder warum Inkonsistenzen in Metadaten auftreten, interessieren die Nutzer in der Regel nicht. Für sie ist lediglich von Bedeutung, dass sie ihre Aufgaben möglichst schnell und einfach erfüllen können. Bibliotheken stehen somit vor der Herausforderung heterogene Informationen und Module in einer Art und Weise zusammenzuführen, dass diese Heterogenität für den Anwender nicht wahrnehmbar ist, und sich der Webauftritt als geschlossene Einheit präsentiert.
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Fazit und Ausblick In den letzten Jahren ist der Trend zu beobachten, dass Bibliotheken für die Recherche nach Literatur an Bedeutung verloren haben. Hierfür gibt es mehrere Gründe. Zum einen haben Angebote wie Google Books oder speziell auf wissenschaftliche Inhalte ausgerichtete Suchmaschinen wie Scirus, BASE oder Google Scholar dazu beigetragen, dass die Anwender bei der Suche nach Literatur nicht mehr so stark auf Bibliotheken angewiesen sind. Andererseits stellen Anwender heute höhere Anforderungen an webbasierte Dienste, denen klassische OPACs kaum mehr gerecht werden können. Nutzer wollen bei ihren Recherchen möglichst schnell und einfach zum Ziel gelangen. Dementsprechend wählen sie auch ihre Suchinstrumente aus. Da sich gegenwärtig Bibliothekskataloge mehrheitlich kaum an gängigen (wissenschaftlichen) Internetsuchmaschinen messen lassen können, wenn es um Geschwindigkeit, Einfachheit und Bequemlichkeit geht, werden sie auch nicht mehr so häufig genutzt – zumindest nicht für die initiale Suche nach geeigneter Literatur. Wenn es den Bibliotheken jedoch gelingt die User Experience ihrer Angebote zu verbessern, dann sollten sie ihre Position als Anbieter von (wissenschaftlichen) Informationen wieder deutlich stärken können, da sie gegenüber Internetsuchdiensten eine Reihe von Vorteilen aufweisen. Bibliotheken stellen qualitativ hochwertige Ressourcen zur Verfügung, die sorgfältig ausgewählt wurden, um die Bedürfnisse ihrer Benutzer zu erfüllen. Dies ist ein nicht zu unterschätzender Aspekt, denn obwohl eine Suche im Internet in der Regel vielfältigere Ergebnisse liefert, kann diese ebenso leicht auch zu Frustrationen führen, da die Zuverlässigkeit der einzelnen Objekte und der Zugriff auf diese nicht gewährleistet sind.34 Hier haben die Suchkomponenten von bibliothekarischen Systemen den großen Vorteil, dass diese prinzipiell auf professionell erschlossenen Daten operieren können, wenngleich hier die im vorigen Abschnitt beschriebenen Problemfelder berücksichtigt werden müssen. Für Bibliotheken gilt es, das Potential dieser Daten noch besser auszuschöpfen. Gerade in Bezug auf Metakataloge, bietet sich in diesem Kontext für Bibliotheken die große Chance durch eine weitere Vereinheitlichung ihrer Metadaten, eine signifikante Qualitätsverbesserung zu erzielen. Sei es durch die verbesserte Aggregation von Suchresultaten, oder auch durch die Umsetzung innovativer GUI-Konzepte, die den Anwendern neue Explorationsmöglichkeiten der Bibliotheksbestände eröffnen. Gelingt es den Bibliotheken ihre Recherchewerkzeuge und die zugehörigen Benutzerschnittstellen genau so attraktiv bzw. benutzerfreundlich zu gestalten wie es Internetsuchmaschinen tun, dann dürfte eine signifikante Steigerung der Benutzerzahlen nicht ausbleiben. 34 Sadeh, 2007.
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Durch den im Rahmen der Projektinitiative e-lib.ch entwickelten Kriterienkatalog „BibEval“ sollen (digitale) Bibliotheken bei der Erreichung dieses Ziels unterstützt werden. Insbesondere soll durch den Leitfaden und die damit verbundene Möglichkeit selbstständig Evaluationen durchzuführen, die Autonomie der Bibliotheken in Bezug auf die Optimierung ihrer Online-Angebote gesteigert werden. Neben dem in diesem Beitrag vorgestellten Kriterienkatalog stellt das Churer Evaluationslabor (CHEVAL)35 hierfür zusätzlich auch eine Wissensbasis mit umfangreichen Hintergrundinformationen zum Thema Usability Engineering sowie eine Online-Beratungskomponente zur Verfügung, mittels derer entsprechend der jeweiligen Untersuchungsziele geeignete Evaluationsmethoden identifiziert werden können. In Bezug auf die Weiterentwicklung von „BibEval“ ist in einem nächsten Schritt die Realisierung einer Projektverwaltungskomponente angedacht. Diese soll Institutionen die Möglichkeit geben, die Evaluationsleitfäden mehrerer Gutachter zu verwalten bzw. zu administrieren und zusätzlich soll darüber auch die Unterstützung bei der elektronischen Auswertung der Fragebögen verbessert werden. Ferner sind auch die Vorarbeiten für einen benutzerorientierten Fragebogen abgeschlossen, mit dessen Hilfe Bibliotheken Evaluationen bestimmter Komponenten oder auch des ganzen Webauftrittes durch die eigenen Benutzer vornehmen lassen können. Der Benutzerleitfaden wird derzeit noch evaluiert und verfeinert, bevor auch dieser in elektronischer Form realisiert werden wird. Die Autoren hoffen, hiermit einen Beitrag für die künftige Wettbewerbsfähigkeit von (digitalen) Bibliotheken leisten zu können.
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3. „Sieht gut aus, aber was bringt es mir?“ – Zur Evaluation der Nützlichkeit digitaler Inhalte Rahel Birri Blezon, Jasmin Hügi und René Schneider „that property in any object, whereby it tends to produce benefit, advantage, pleasure, good, or happiness ... or ... to prevent the happening of mischief, pain, evil, or unhappiness“ Jeremy Bentham, Introduction to the Principles of Morals and Legislation, 1789
Das nachstehende Kapitel ist der Evaluation der Nützlichkeit1 gewidmet. Zuvorderst soll überprüft werden, inwieweit Usability & Usefulness voneinander abzugrenzen sind und ob sich hier ein gleichberechtigter Bereich „sui generis“ ableiten lässt. Zudem werden die Modelle und Methoden der UsefulnessForschung vorgestellt und anhand eigener Arbeiten erläutert. Das besondere Problem der Nützlichkeit digitaler Inhalte und ihre Evaluation sowie die herausragende Relevanz dieses Themas für die Welt der digitalen Bibliotheken ergibt sich aus einigen besonderen Gegebenheiten: zum einen sind es die Verleger und Bibliothekare, die a priori über die Beschaffung digitaler Angebote entscheiden, zum anderen sind die damit verbundenen Kosten alles andere als gering; sie überschreiten – im akademischen Bereich – mühelos die Millionengrenze. Über die eigentliche Nutzung entscheidet jedoch letztlich allein der Benutzer, wobei sich dieser Faktor und die daraus abzuleitende KostenNutzen-Relation nicht allein aus Logfile-Statistiken ablesen lassen, sondern letztlich auf einem qualitativen Urteil des Endnutzers beruhen. Das Prinzip der Nützlichkeit wurde bereits 1789 durch den Philosophen Jeremy Bentham beschrieben: „Unter Nützlichkeit ist jene Eigenschaft an einem Objekt zu verstehen, durch die es dazu neigt, Gewinn, Vorteil, Freude, Gutes oder Glück hervorzubringen“.2 Wenn man dieses Prinzip auf digitale Bibliotheken anwendet, ist eine digitale Bibliothek dann nützlich, wenn sie dem Benutzer das bietet, was er braucht. Das Angebot muss dem Informationsbedürfnis entsprechen, damit am Ende der Recherche Antworten auf die Fragen gefunden werden und diese „erfolgreich“ abgeschlossen werden kann. 1 2
Im Folgenden analog zum im Deutschen bereits geläufigen Begriff der Usability als Usefulness bezeichnet. Hörz, 2011.
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Als „nützlich“ sollen von daher all jene digitalen Inhalte, die mit ihrer Recherche und Bearbeitung verbundenen Funktionalitäten und die um sie herum erbrachten Dienstleistungen verstanden werden, die dem einzelnen Benutzer oder einer Benutzergruppe für die Lösung eines Problems oder die Durchführung einer Aufgabe aufgrund einer eigenen Entscheidung oder aufgrund der Empfehlung einer erfahrenen Person als nützlich angesehen werden. (Darunter fallen beispielsweise der Volltextartikel, der von einem Professor im Kontext einer Vorlesung als relevanter Studieninhalt angegeben wird, eine fortgeschrittene Suche für eine Datenbank oder ein RSS-Feed für ein relevantes Recherchethema). Die inhaltsorientierte Analyse der Usefulness erhält damit für Bibliotheken – die sich als kundenorientierte Dienstleister verstehen und dabei gleichzeitig die Kosten nicht aus den Augen verlieren wollen – eine mindestens gleichwertige Relevanz wie die eher oberflächen- und funktionsorientierte Analyse der Usability. Dies alles unter den besonderen Bedingungen des modernen, digitalen Bibliotheksbetriebs, bei dem die herkömmliche – d.h. in physikalischen und nicht digitalen Räumen stattfindende – Bindung zwischen Personal und Kunden immer flüchtiger und indirekter wird und sich in einigen Fällen ganz in die virtuellen Räume des Webs verlagert.
Usability vs. Usefulness: Zwei Seiten der gleichen Münze? Auf dem Gebiet der Evaluation der Benutzerfreundlichkeit (Usability) hat sich methodologisch in den letzten Jahren eine Situation ergeben, bei der sich die Wahl der geeigneten Evaluationsmethode letztlich als deterministischer Prozess darstellen lässt. Anders ausgedrückt heißt dies, dass ein ausreichend erprobter und bewährter Kanon an Evaluationsverfahren zur Verfügung steht, der sich anhand gut definierter Parameter schrittweise so eingrenzen lässt, dass sich eine Reduktion der zur Verfügung stehenden Methoden quasi von alleine ergibt.3 Häufig führt allein der Zeitpunkt, zu dem die Evaluation durchgeführt werden soll, zu einer weitreichenden Minimierung der prinzipiell sehr zahlreichen und vielfältigen Evaluationsmethoden. Auch aus Gründen der Pragmatik beschränkt sich die Wahl der geeigneten Methoden häufig auf einen kleinen und festen Satz von Methoden, mit denen die Evaluatoren am besten vertraut sind. Ungewiss ist, ob sich dieser Umstand eins zu eins auf eine Evaluation der Usefulness übertragen lässt. Dabei lässt sich diese Frage unterschiedlich differenziert beantworten. Selbst für einige Usability-Experten sind die Begriffe Usability und Usefulness letztlich synonym. Diese Gleichsetzung geschieht jedoch häufig aus reiner Unkenntnis, zumal das Thema der Nützlichkeit digitaler Inhalte erst seit einigen Jahren ein gesondertes Interesse findet. 3
Siehe http://www.cheval-lab.ch/online-beratungskomponente/beschreibung-des-tools/.
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Mittlerweile gilt es jedoch als Konsens (siehe Modelle der UsefulnessEvaluation, insbesondere das Interaction Triptych Framework von Tsakonas & Papatheodorou4), dass sich die Usability eher den Fragen von Oberflächengestaltung, effizienter Navigation und Suche widmet, die Usefulness der Beurteilung der bereitgestellten Information aus Benutzerperspektive. Insofern sind beide Begriffe eher als zwei Seiten der gleichen Münze zu betrachten, auch weil Münzen in der Regel in eine eher ästhetisch aufwändig gestaltete sowie in eine funktional und den Nutzwert benennende Seite unterteilt sind. Der Vergleich mit den beiden Seiten einer Medaille hinkt jedoch, wenn das besondere Verhältnis von Usability und Usefulness betrachtet wird. Hier gilt der Grundsatz, dass ein Informationssystem bzw. die darin enthaltene Information nicht nützlich sein kann, wenn die Usability nicht stimmt, da eine fehlerbehaftete Usability den Zugang zur Information erschwert und schlimmstenfalls blockiert. Kurz: ohne (gute) Usability keine Usefulness. Dies lässt allerdings nicht den Umkehrschluss zu, dass eine gute Usability automatisch auf nützliche Inhalte schließen lässt. Im Gegenteil, Informationssysteme mit einer fehlerfreien Usability können völlig sinnfrei und nutzlos sein. In anderen Worten heißt dies, dass den Fragen der Usability ein Vorrang einzuräumen ist und die Fragen der Usefulness zumindest zeitlich nachgeordnet zu beantworten sind. Dieses besondere Verhältnis lässt auch den Schluss zu, dass sich die Evaluationsmethoden der Usability nicht eins zu eins auf eine Evaluation der Usefulness übertragen lassen. Denkbar ist, dass sich einige Verfahren auf die besonderen Fragestellungen nach der Nützlichkeit anpassen lassen, etwa in Form eines Benutzerakzeptanztests mit einem „nützlichkeitsorientierten“ Post-hoc-Interview. Von solchen hybriden Verfahren, so begrüssenswert sie sind, wird in der Praxis bislang allerdings wenig berichtet; das Hauptinteresse gilt der alleinigen Entwicklung von Verfahren zur Evaluation der Nützlichkeit. So ist bislang von einer methodologischen Armut zu berichten. Das Mittel der Wahl (siehe den Abschnitt Methoden in diesem Artikel) bleibt der Fragebogen, der entweder dem Experten, d.h. dem Bibliothekar, in Form von nützlichkeitsdefinierten Checklisten oder dem Benutzer in Form von StandardFragebögen vorgelegt werden. Beide Ausrichtungen bringen ihre grundsätzlichen Probleme mit sich: im Fall der expertenorientierten Evaluation ist dies zunächst die Voreingenommenheit (Bias) des Bibliothekars als Experten bzw. eine gewissen Vorbelastung, da er bereits in den Prozess des Erwerbs und der Bereitstellung eingebunden ist. Im Fall der benutzerorientierten Evaluation handelt es sich um die Schwierigkeit, ausreichend viele Benutzer zu gehaltvollen, validen Aussagen zu bewegen, die in ihrer Summe zu verlässlichen Ergebnissen führen. Allerdings lassen die bislang entwickelten Modelle wenige andere Methoden zu, wie es ein detaillierter Blick erkennen lässt. 4
Tsakonas; Papatheodorou, 2008.
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Modelle der Usefulness-Evaluation in digitalen Bibliotheken Das 1989 für Informationssysteme entwickelte Technology Acceptance Model (TAM) von Davis5 setzt Usability und Usefulness in Beziehung zueinander. Davis erstellte ein Model, um anhand von wahrgenommener Nützlichkeit (perceived usefulness) und wahrgenommener Benutzerfreundlichkeit (perceived ease of use) die tatsächliche Nutzungsabsicht des Benutzers vorherzusagen. TAM nutzt das Profil der Nutzer zur Erforschung des Einflusses von externen Faktoren auf Usability und Usefulness und zur Berechnung der Nutzung eines Systems. Dabei wird der Fokus voll und ganz auf den Nutzer gerichtet und keine weiteren Attribute sowie deren Auswirkungen auf die Mensch-MaschinenInteraktion werden untersucht.6 Ein weiteres Modell zur Nutzungsvorhersage von Informationssystemen wurde zehn Jahre später von Dillon und Morris erstellt: das P3-Model7. Dabei wird die einfache Feststellung, ob ein Benutzer ein System nutzen kann (was mit Usability-Tests bestimmt werden kann), um die Frage erweitert, ob er es auch tatsächlich nutzen wird. Folgende Faktoren werden dabei berücksichtigt: –
–
–
Nützlichkeit (utility): Die technische Möglichkeit des Systems, eine Aufgabe auszuführen, die der Benutzer erfüllen will. Dies kann durch das Prüfen von spezifischen Arbeiten objektiv festgestellt werden. Benutzerverhalten (user attitude): Die subjektive Benutzerevaluation eines Informationssystems. Obwohl zwei Systeme gleich nützlich sein können, kann ein Benutzer eine Vorliebe für das eine oder andere System haben (z.B. aufgrund des Aussehens, der Kosten oder früherer Erfahrungen). Usability: Die Benutzerfreundlichkeit. Dabei wird überprüft, inwiefern ein Benutzer die Nützlichkeit eines Systems ausschöpfen kann.
Aus diesen Faktoren wird das P3-Framework erstellt, welcher die Interdependenz zwischen Power, Perception und Performance beschreibt, die insgesamt die Nutzungsabsichten beeinflusst. Power steht dabei für die Leistungsfähigkeit des Systems, Perception dafür, wie der Benutzer Usability, Nützlichkeit usw. wahrnimmt und Performance dafür, welche Leistung der Benutzer mit dem System erbringen kann. Laut den Autoren bestimmen Leistungsfähigkeit, Wahrnehmung und Effizienz, ob ein Benutzer bereit ist, ein System zu nutzen, wobei die Leistungsfähigkeit – also die Fähigkeit des Systems, die Aufgabe überhaupt ausführen zu können – den stärksten Einfluss auf das tatsächliche Nutzen hat. 5 6 7
Davis, 1989. Panetsos, 2008. Dillon; Morris, 1999.
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Einer der ersten Ansätze, der direkt digitale Bibliotheken betrifft, wurde von Fuhr et al.8 entwickelt. Er besteht darin, digitale Bibliotheken nach Eigenschaften einzuteilen, welche auf alle Arten von Datenbanken zutreffen (und eine digitale Bibliothek ist im Grunde nichts anders als eine Datenbank). Sein Modell besitzt vier Dimensionen: Daten/Bestand, System/Technologie, Benutzer und Benutzung/Umgebung. Die Definition der Benutzergruppen bestimmt den geeigneten Inhalt des Bestandes. Der Bestand bestimmt wiederum die angebrachten Technologien, die verwendet werden können. Die Attraktivität des Bestandes für den Benutzer und die einfache Bedienung des Systems bestimmen schließlich das Ausmass der effektiven Systemnutzung. Jeder der vier Komponenten können spezifische Eigenschaften zugeordnet werden, wobei Benutzer und Nutzung zusammengefasst werden können: –
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–
Daten/Bestand können zum Beispiel in Inhalt (Volltext, Audio, Video, weiße/ graue Literatur etc.), Meta-Inhalt (bibliografische Angaben, Indexierung, Thesaurus…) und Management (Rechte, Benutzerverwaltung, Unterhalt etc.) eingeteilt werden. Der Aspekt der Technologie kann in Benutzertechnologie (Dokumentendarstellung, Browsing, Suche etc.), Informationszugang (Retrieval, Navigation, Filterfunktionen etc.), Systemstruktur (Repositorien etc.) und Dokumententechnologie (Dokumentenmodelle, Formate) unterteilt werden. Benutzer und Nutzung werden in Benutzer (wer: intern, allgemein, Bildung, Forschung etc.), Gebiet (was: Themenkreis), Informationssuche (wie: Suche nach Objekten, stöbern, surfen etc.) und Ziel (Konsum, Analyse, Synthese) aufgeteilt.
Tsakonas, Kapidakis und Papatheodorou9 definieren in ihrem „Interaction Triptych Framework“ ebenfalls die Interaktion zwischen Benutzer, Inhalt und System. Die Relation der Usefulness, die sich aus der Beziehung zwischen Benutzer und Inhalt ergibt, sei hier näher beschrieben. Sie kann anhand von verschiedenen Eigenschaften gemessen werden: – – – –
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die Relevanz der gefundenen Information, also die Angemessenheit in Bezug auf den geäußerten Informationsbedarf; die Brauchbarkeit, also die Wichtigkeit der Information für die zu lösende Aufgabe; das Format, in dem die Information zur Verfügung gestellt wird; die vom Benutzer wahrgenommene Glaubwürdigkeit in Bezug auf den bzw. die Informationsvermittler;
Fuhr et al., 2001. Tsakonas; Kapidakis; Papatheodorou, 2004; Tsakonas; Papatheodorou, 2006 und 2008.
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– –
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das sogenannte Level, d.h. die Ebene, auf der die Information zur Verfügung gestellt wird: als Abstract oder Volltext, mit bibliographischer Information und Metadaten u.ä.m.; der zeitliche Abdeckungsgrad, also die Aktualität der Quelle oder ihre diachrone Vollständigkeit; die Komplexität, d.h. die Anzahl der Unteraufgaben.
Anders ausgedrückt: Die Interaktion zwischen Benutzer und Inhalt betrifft die Informationsfähigkeiten und -vorlieben des Benutzers, die verfügbaren Inhalte und Funktionen sowie die Anforderungen bzw. Erwartungen des Benutzers an diese Funktionen. Daneben gibt es noch einige andere Ansätze, wie den Framework von Sandusky10 oder das Model von Saracevic und Covi11. Beide versuchen, digitale Bibliotheken anhand von Attributen, die sich auf alle Typen von digitalen Bibliotheken anwenden lassen, zu evaluieren. Sandusky definiert zum Beispiel sechs Ebenen: Publikum, Institution, Zugang, Inhalt, Dienstleistungen und Design/Entwicklung. Saracevic und Covi definieren sieben Attributlevels, die sich in nutzerorientiert und systemorientiert einteilen lassen. Es wird jedoch ersichtlich, dass es nicht einfach ist, Usefulness zu evaluieren. Die Herausforderung besteht darin, für das subjektive Prinzip der Nützlichkeit objektive Bewertungskriterien zu finden, die allgemein gültig sind für alle Arten von digitalen Bibliotheken. Ebenso, wie jeder Benutzer eine eigene Vorstellung davon hat, was für ihn nützlich ist, haben auch Evaluationsexperten ihre eigene Definition der Nützlichkeit und versuchen, diese mit unterschiedlichen Attributen und Ebenen zu definieren. Darüber hinaus wird noch zu selten darauf eingegangen, wie die Evaluation anhand dieser Modelle umgesetzt werden kann.
Konkrete Methoden der Usefulness-Forschung Zum gegenwärtigen Zeitpunkt überwiegt, wie bereits erwähnt, noch der Anteil theoretischer Literatur über die Entwicklung geeigneter Modelle, wenngleich in den vergangenen Jahren erste konkrete Evaluationen digitaler Bibliotheken durchgeführt wurden. Diese haben auch zur Weiterentwicklung der Modelle geführt und werden hier summarisch vorgestellt. Da die Usefulness meistens zusammen mit der Usability evaluiert wird, gibt es nur wenige explizit für die Usefulness-Analyse geeignete Methoden. Deshalb wurden in bisherigen Studien fast alle möglichen Usability-Methoden eingesetzt und unter anderem auf ihre Anwendbarkeit auf Usefulness getestet. Diese können gemäss Saracevic12 in sieben verschiedenen Ansätzen unterteilt werden: 10 Sandusky, 2002. 11 Saracevic; Covi, 2000. 12 Saracevic, 2004.
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– – – – – – –
der systemorientierte Ansatz überprüft Performance, Effektivität, Effizient etc.; der nutzerorientierte Ansatz beschäftigt sich mit dem Verhalten, der Informationssuche, der Aufgabenvollendung etc.; der Usability-orientierte Ansatz ist eine Mischung zwischen dem systemorientierten und dem nutzerorientierten Ansatz; der ethnographische Ansatz analysiert Lebensweise, Kultur und deren Einfluss; der anthropologische Ansatz studiert die verschiedenen Stakeholder oder Communities; der soziologische Ansatz beleuchtet kontextbezogene Aufgaben im sozialen Hintergrund von digitalen Bibliotheken; der wirtschaftliche Ansatz erforscht Kosten, Kostenvorteile und wirtschaftliche Werte.
Diese verschiedenen Ansätze dienen dazu, sowohl die Usability als auch die Usefulness zu analysieren. Wenn nur die Usefulness allein evaluiert werden soll, werden meistens nutzerorientiere, ethnographische und soziologische Methoden angewendet. Dazu zählen Fragebögen, strukturierte Interviews, Fokusgruppen, Beobachtungen, Tests mit Lautem Denken (Thinking Aloud Tests), Fallstudien und Logfile-Analysen. Anhand Saracevics Beschreibung ist es immer noch schwierig, eine konkrete Evaluation der Usefulness einer digitalen Bibliothek durchzuführen. Verschiedene Unklarheiten bleiben bestehen: – –
–
Welche Fragen sollen in einen Fragebogen integriert werden? Können die Aufgabenvollendung und das Thinking Aloud – typische Usability-Methoden – genau gleich eingesetzt werden wie bei einem UsabilityTest? Wie sollen Logfiles interpretiert werden, um auf für die Usefulness nützliche und umsetzbare Folgerungen zu gelangen?
Im Folgenden seien einige Evaluationen aus der Literatur kurz angeführt, um einen Einblick in konkrete Anwendungsbeispiele des oben erwähnten zu bekommen. Der wohl weitverbreitetste Ansatz zur Evaluation der Usefulness sind Fragebögen. So erfragen Khani-Zabihi, Ghinea und Chen13 die bevorzugten Interaktionen und Funktionalitäten der Benutzer. Dabei mussten die Benutzer zwei digitale Bibliotheken evaluieren: ScienceDirect und Classical Music Library. Die eine digitale Bibliothek enthält hauptsächlich Text-, die andere MultimediaDokumente. Die Teilnehmenden mussten für jede Bibliothek drei Aufgaben 13 Khani-Zabihi; Ghinea; Chen, 2006.
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erledigen. Zu Beginn jeder Evaluation wurde ihnen zehn Minuten gewährt, um sich mit dem jeweiligen Interface vertraut zu machen, es bestand jedoch kein Zeitlimit für das Erfüllen der Aufgaben. Außerdem mussten die Testpersonen einen Fragebogen ausfüllen: der erste Teil betraf diejenigen Funktionalitäten, die Benutzer sich von einer digitalen Bibliothek wünschen (z.B. möglichst viele Informationen zu den gesuchten Dokumenten zur Verfügung haben). Im zweiten mussten fünf wichtige Voraussetzungen einer digitalen Bibliothek der Wichtigkeit nach geordnet werden: – – – – –
Information sollen einfach und schnell in digitalen Bibliotheken gefunden werden; Datenbanken sollen Hilfefunktionen für die Suche bieten; Benutzer sollen sich leicht mit der Datenbank vertraut machen können; Datenbanken sollen die individuelle Arbeitsweise positiv beeinflussen; Datenbanken sollen kollaboratives Arbeiten unterstützen.
Als Abschluss der Studie mussten die Teilnehmenden 19 Vorschläge zur Zukunft digitaler Bibliotheken auf einer Skala von 1 bis 5 bewerten. Dazu gehörten: verlässliche Resultate; leichtes Erlernen; Einordnen der Dokumente nach Thema; eine Liste der wichtigsten Ressourcen; Möglichkeit der Kooperation und der Kommunikation; Vorhandensein eines Chat; Möglichkeit, die Autoren eines Buches oder Artikels zu kontaktieren; Online-Hilfe. Xie14 führte zwei Umfragen durch. Das Ziel bestand darin, digitale Bibliotheken aus der Sicht der Benutzer zu evaluieren. Die erste Umfrage sollte feststellen, welche Evaluationskriterien Benutzer anwenden würden, wenn sie eine digitale Bibliothek evaluieren müssten. Dazu mussten die Teilnehmer zuerst eine Liste mit Evaluationskriterien zusammenstellen, welche sie für die Nutzung einer digitalen Bibliothek wichtig fanden, und ihre Wahl rechtfertigen. Anschließend konnten sie eine digitale Bibliothek ihrer Wahl anhand der eigenen Kriterien evaluieren und die angetroffenen Probleme erörtern. 2008 wurde von Xie eine zweite ähnliche Umfrage durchgeführt. Es ging erneut um Evaluationskriterien von Benutzern, doch die Studie wurde um die tatsächliche Nutzung der digitalen Bibliotheken und die festgestellten positiven und negativen Elemente erweitert. Drei Tools wurden zum Sammeln von Daten verwendet: ein Tagebuch, ein Fragebogen und eine offene Befragung. Zuerst mussten die Teilnehmenden versuchen, sechs Recherchefragen zu beantworten, und dabei folgende Punkte in einem Tagebuch festhalten: aufgewendete Zeit (in Minuten), Recherchevorgehen (verwendete Anfragen, genutzte Navigationskategorien, verwendete Hilfe, angetroffene Probleme) sowie die Antwort für jede Aufgabe.
14 Xie, 2006 und 2008.
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Danach bewerteten die Testteilnehmer anhand eines Fragebogens die Wichtigkeit von vorgegebenen Evaluationskriterien auf einer Skala von 1 bis 5. Es handelte sich um die gleichen Kriterien wie bei der ersten Umfrage 2006. Die als die wichtigsten erachteten Kriterien wurden auf die digitalen Bibliotheken angewendet. Jedem Kriterium sollte eine Note gegeben, diese gerechtfertigt und die angetroffenen Probleme und Stärken diskutiert werden. Tsakonas und Papatheodorou15 führten eine Umfrage zur Evaluation von elektronischen Informationsdienstleistungen (digitale Bibliotheken, elektronische Zeitschriftenserver und Portale) durch. Es sollte festgestellt werden, welche Funktionalitäten und Inhalte am wichtigsten sind und den Erfolg der Aufgabe beeinflussen. Darüber hinaus sollte auch die Beziehung zwischen Usability und Usefulness aufgezeigt werden. Den Testpersonen wurde ein Fragebogen zu Usability- und Usefulness-Aspekten ausgehändigt, welcher verschiedene Aussagen und eine Evaluationsskala von 1 bis 4 beinhaltet. Als Beispiel: Eine Frage lautete: Wie wichtig ist Ihrer Ansicht nach die Verlässlichkeit einer Quelle? Als Antwort wurde vorgegeben: – – – –
Nicht sehr wichtig: Die Verlässlichkeit einer Quelle ist mir nicht wichtig, solange sie beschreibt, was ich suche. Kommt darauf an: Dies hängt von der Aufgabe ab. Auch wenn die Verlässlichkeit nicht die gewünschte ist, akzeptiere ich vielleicht, was ich finde. Wichtig: Sie ist wichtig. Ich suche hauptsächlich verlässliche Quellen. In einigen Fällen kann ich jedoch mit dem Vorhandenen zufrieden sein. Sehr wichtig: Sie ist sehr wichtig und ich suche nur nach spezifischen Quellen, bei denen ich mir über ihre Verlässlichkeit absolut sicher bin.
Es scheint so, dass die weiter oben beschriebenen theoretischen Modelle in der Regel in Fragebögen überführt werden, um sie konkret anzuwenden. Es handelt sich eindeutig um die am häufigsten verwendete Methode zur UsefulnessEvaluation. Es ist jedoch durchaus möglich, verschiedene Methoden zu kombinieren: anhand eines Fragebogens, der Attribute enthält, können Benutzerverhalten und -bedürfnisse festgestellt werden. Die Resultate können anschließend dazu verwendet werden, zukünftige Usefulness-Evaluationen einer digitalen Bibliothek von Informationsspezialisten durchführen zu lassen. Denn eine Benutzerbefragung ist immer zeit- und kostenaufwändig. Eine Experten-basierte Evaluation kann in der Regel schneller und mit geringerem Aufwand durchgeführt werden. Dazu müssen die Benutzerbedürfnisse jedoch im Voraus festgestellt werden. Die Ansprüche von Bibliothekaren und anderen Informationsprofis unterscheiden sich stark von denjenigen der Benutzer und es können nicht die gleichen Evaluationskriterien verwendet werden16. 15 Tsakonas; Papatheodorou, 2006. 16 Saracevic, 2004, S. 8-9.
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Im Folgenden soll der von den Verfassern entwickelte Evaluationsprozess vorgestellt werden.
Zwei Fallstudien Im Idealfall wird im Vorfeld der Einführung eines neuen Produkts, Systems oder Service eine Marktanalyse durchgeführt, um festzustellen, ob für das zu implementierende Produkt ein Bedürfnis bzw. ein Interesse besteht. Normalerweise werden daraufhin eine oder mehrere Zielgruppen definiert. Die Usefulness des neuen Produkts kann anhand einer Fokusgruppe bestehend aus Personen der Zielgruppe evaluiert werden. Aufgrund derselben Fokusgruppe oder einer anderen Methode, wie zum Beispiel einer Umfrage, können die individuellen Bedürfnisse identifiziert und in das neue Produkt eingebaut werden. Nun ist es häufig so, dass – vor allem bei Digitalisierungsprojekten – die Mentalität vorherrscht „Build it and they will come“17. Wird diese erste Phase der Bedürfnisanalyse versäumt, oder ist sie schon eine Weile her, entsteht der Bedarf, die Usefulness des angebotenen Produkts zu testen. In zwei Fallstudien an der Haute école de gestion HEG (Fachhochschule für Wirtschaft) in Genf wurde ein eigener Prozess entwickelt, um die Usefulness des jeweiligen Objekts zu evaluieren. Konkret handelte es sich dabei um zwei Online-Befragungen, welche für das Schweizer Portal für Geschichtswissenschaften infoclio.ch18 und für die Schweizer Nationalphonothek19 durchgeführt wurden. Die erste Fallstudie gehört zum Forschungsprojekt ACCEPT20 (Analyse du Comportement des Clients – Evaluation des Prestations de Téléchargement), welches im Rahmen der Elektronischen Bibliothek Schweiz E-lib.ch21 in Zusammenarbeit mit dem Projekt ElibEval22 (geleitet von der Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW Chur) die Teilprojekte von E-lib.ch auf Usability und Usefulness überprüft und Verbesserungsvorschläge liefert. In diesem Kontext wurde die Website von infoclio.ch evaluiert, wobei der Fokus auf den Aspekten der Usefulness lag. Infoclio.ch ist ein Service, der unter Schweizer Geschichts- und Informationswissenschaftler bekannt und verankert ist. Da das Angebot aber ausschließlich online zur Verfügung steht, hat das Team von infoclio.ch keinen direkten Kontakt zu seinem Publikum und weiß auch nicht, wer das Portal benutzt und warum. Das Ziel der Studie war es daher, das Publikum besser kennen zu lernen und herauszufinden, welche Dienstleistungen als nützlich empfunden werden. Die von Tsakonas und Papatheodorou im Interaction Triptych Framework definierten Attribute (Relevanz, Format, Niveau, Abdeckungsgrad, Vertrauens17 18 19 20 21 22
Harley et al., 2006. http://www.infoclio.ch . http://www.fonoteca.ch/index_de.htm . http://campus.hesge.ch/id_bilingue/projekte_partner/projekte/accept/kontext.asp . http://www.e-lib.ch . http://www.e-lib.ch/de/angebote/elibeval und http://www.cheval-lab.ch/.
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würdigkeit) wurden als Ausgangslage für die Evaluation genutzt. Um den Auftraggebern von infoclio.ch das Konzept der Usefulness, so wie es im Forschungsprojekt ACCEPT verstanden wird, näherzubringen, wurde das Interaction Triptych Framework auf konkrete Fragen heruntergebrochen. Ein erstes Schema wurde erstellt, um die Aspekte der Usefulness visuell darzustellen. An eine Mindmap erinnernd steht in der Mitte das Konzept „Usefulness“; davon gehen die fünf von Tsakonas et al. beschriebenen Dimensionen aus. Die einzelnen Dimensionen bzw. Attribute sind wiederum in mehrere konkrete Fragen aufgegliedert, welche vage formuliert auf die meisten zu evaluierenden Systeme zutreffen sollten (siehe Abbildung 1). Als Beispiel sei der Aspekt des Abdeckungsgrades näher betrachtet. Der Abdeckungsgrad bezeichnet zum einen, ob ein Angebot eher breit gefächert oder spezialisiert ist, zum anderen beschreibt er auch die Aktualität des Angebots sowie die zeitliche Reichweite. Keine dieser Qualitäten ist an sich gut oder schlecht. Es kommt darauf an, was die Benutzer wollen, ob sie lieber ein hoch spezialisiertes Angebot haben oder doch eher eines, das breit gefächert ist. Diese Mindmap wurde den Mandanten vorgelegt, um eine Diskussion über die Auffassung von Usefulness anzuregen. Bei diesem Meinungsaustausch wurden auf Wunsch der Auftraggeber zwei weitere Dimensionen hinzugefügt: diejenige der Konkurrenz und diejenige der Zufriedenheit (siehe Abbildung 1). Beide Aspekte haben tatsächlich ihren berechtigten Platz für die UsefulnessAnalyse. Schreibt ein Benutzer einem bestimmten Angebot eine hohe Nützlichkeit zu, so spiegelt sich das unweigerlich in seiner Zufriedenheit wider. Die Zufriedenheit ist demnach eine indirekte Art, die Usefulness eines Systems festzustellen. Die Frage nach der Konkurrenz ermöglicht es, Rückschlüsse über die Usefulness anderer Anbieter auf demselben Gebiet zu ziehen und herauszufinden, welches Angebot bevorzugt wird. Dies gilt sowohl für das Angebot externer Websites, als auch für einzelne Teile des Informationsangebots, welche sich intern auf der zu analysierenden Website befinden (Blogs, Datenbanken, Multimedia-Angebote). Daraus ergibt sich zudem die Möglichkeit, die Nützlichkeit einzelner Aspekte einer Plattform differenziert darzustellen. Nach Überarbeitung des Schemas wurde ein erster Fragebogen entworfen. Dieser enthielt Fragen zum Profil der Teilnehmer, zu allen Aspekten der Usefulness sowie zu den vom Auftraggeber zusätzlich gewünschten Dimensionen. Da die Integration aller Blickwinkel den Rahmen eines Fragebogens sprengen würde, wurden die Mandanten dazu aufgefordert, für sie nicht relevante Fragen zu streichen. Um einen möglichst großen Rücklauf zu haben, konnten mit der Teilnahme an der Umfrage Preise gewonnen werden. Dies erlaubte auch, einen etwas längeren Fragebogen zu gestalten (ca. 10 Minuten), da Personen eher bereit sind, viele Fragen zu beantworten, wenn sie dabei etwas gewinnen können23. 23 Online Surveys Best Practices.
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Abb. 1: Mindmap der Usefulness
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Der Fragebogen wurde während drei Wochen auf der Website von infoclio.ch aufgeschaltet und über verschiedene Medien wurde darauf aufmerksam gemacht: in der Rubrik „News“ der Website, im Newsletter, auf der Facebook-Seite und via Twitter. Außerdem wurden eingeschriebene Personen direkt angeschrieben. Die Resultate wurden nach Beendigung der Umfrage grob ausgewertet. Die aufbereiteten Ergebnisse wurden daraufhin ein erstes Mal mit den Auftraggebern besprochen. Anhand dieser Diskussion wurde der Abschlussbericht ihren Bedürfnissen und Fragestellungen angepasst. Beispielsweise wurden für die Mandanten interessante Korrelationen herausgefiltert und zusätzlich in Personas gestaltet. Personas sind menschliche Stereotypen des Zielpublikums eines Produktes, die für reale Benutzer stehen. Sie dienen dazu, Systementwickler und Produktdesigner daran zu erinnern, dass sie selbst nicht typische Benutzer sind und es verschiedene Benutzerverhalten und -bedürfnisse im Umgang mit Systemen gibt.25 Spezifisch für diese Analyse wurden sogenannte Social Personas erstellt, bei welchen von Facebook stammende, „persönliche“ Informationen den Personas hinzugefügt wurden.26 Die zweite Fallstudie wurde im Rahmen des Forschungsprojektes PECI (Plateforme d’évaluation des centres d’information) durchgeführt. Das Projekt hat als Ziel die Erstellung einer Online-Plattform, anhand welcher Informationszentren (Bibliotheken, Archive etc.) die Usefulness ihres Online-Angebots evaluieren können. Schritt für Schritt wird die Vorgehensweise einer UsefulnessEvaluation erklärt und somit jedem Laien ermöglicht, diese selbst durchzuführen. Die Plattform soll Interessenten durch den Prozess leiten und konkrete Methoden anbieten. Insbesondere ist damit eine Auflistung von Fragen gemeint, welche nach Anpassung an den Kontext des jeweiligen Informationszentrums in einen Fragebogen integriert werden können. Für dieses Projekt wurde eine Fallstudie mit der Schweizer Nationalphonothek durchgeführt, deren Aufgabe das Sammeln, Archivieren und Verbreiten von Tonträgern im Zusammenhang mit der Schweiz ist. Dabei stellen aber besonders die Verbreitung und der Zugang zu den Tonträgern ein Problem dar, da viele urheberrechtlich geschützt sind. Selbstverständlich ist es möglich, die Tonträger physisch auszuleihen. Dadurch ist aber nur ein sehr lokales Publikum zu bedienen. Aus diesem Grund hat die Nationalphonothek sogenannte Abhörstationen eingeführt, welche in unterschiedlichen Institutionen in der ganzen Schweiz installiert wurden; ein Benutzer kann so auf bereits digitalisierte Tonträger der Phonothek zugreifen, sie anhören, aber nicht herunterladen. Dies führte dazu, dass das Team der Nationalphonothek anhand der Website-Statistiken zwar sieht, wie häufig das Online-Angebot genutzt wird, jedoch ihre Benutzer nicht kennt. Das Ziel der Studie war nun herauszufinden, wer die
25 Schweibenz, 2004; siehe Kapitel 1 Grundlagen des Usability-Engineerings. 26 Birri Blezon; Schneider, 2011.
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Benutzer sind, sowie zu erfragen, ob und inwiefern das Angebot der Abhörstationen als nützlich betrachtet wird. Um ein Profil der Benutzer der Phonothek zu erhalten und ihre Motivationen kennen zu lernen, wurden zunächst an drei verschiedenen Standorten mit einer Abhörstation semi-strukturierte ethnographische Interviews durchgeführt. Dies erlaubte mehr über den Kontext der Benutzung zu erfahren als auch den Bekanntheitsgrad des Angebotes zu überprüfen. Das bei infoclio.ch verwendete Schema kam auch bei dieser Studie zum Einsatz. Hierbei wurde aber die Dimension der Konkurrenz wieder gestrichen, da die Nationalphonothek einzigartige Inhalte anbietet. Aufgrund der gemeinsam festgelegten Mindmap wurde ein erster Fragebogen entworfen. Dieser Entwurf der Umfrage musste verstärkt überarbeitet werden, da einige aus der Mindmap entnommenen Fragen überhaupt nicht auf die Nationalphonothek zutrafen. Beispielsweise sind die Auswahlkriterien der zu sammelnden Tonträger vom Gesetz bezüglich der Nationalbibliothek vorgegeben. Alle Tonträger, deren Inhalt einen Bezug zur Schweizer Geschichte und Kultur haben, müssen gesammelt werden. In diesem Zusammenhang macht es nicht viel Sinn, die Teilnehmer der Umfrage nach ihrer Beurteilung der Breite und Tiefe der Inhalte zu fragen, da die Nationalphonothek keinen Einfluss darauf haben kann. Deshalb kann auf Kritik diesbezüglich, beispielsweise wegen zu wenig französischsprachigen Tonträgern, nicht eingegangen werden, weil die Phonothek die Produktion von französischsprachigen Tonträgern nicht beeinflussen kann. Stattdessen wurden Fragen integriert, welche sich intensiv mit der Benutzung auseinandersetzen. Die Umfrage war während vier Wochen auf der Website der Phonothek als Layer-Window aufgeschaltet. Es wurde zusätzlich über eine Schweizer Mailingliste für Informationsspezialisten Werbung für die Umfrage gemacht. Die Resultate der Umfrage wurden mit denjenigen der ethnographischen Interviews in Verbindung gebracht. Zusätzlich dazu wurden die WebsiteStatistiken analysiert, um diese mit den Resultaten zu vergleichen.
Modellierung eines Assessment-Prozesses Letztlich zeichnete sich während der Durchführung dieser Evaluationen ab, dass die eigentliche Befragung Teil eines mehrstufigen Assessment-Prozesses ist. Assessment bezeichnet den Prozess der Informationssammlung und – analyse, welche in Beziehung mit Entscheidungsfindung und Management stehen. Dabei werden Elemente wie eine Website, Dienstleistungen und Prozesse den Erwartungen der Benutzer, den strategischen Zielen und der Mission einer Organisation gegenübergestellt.27 Das Ziel eines Assessments ist es, die 27 Rutner et al., 2007.
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Qualität oder Effektivität eines Prozesses, Resultats oder Ziels kontinuierlich zu verbessern.28 Die Bedingung für ein erfolgreiches Assessment ist die Motivation und Verpflichtung, die erhaltenen Ergebnisse und daraus folgende Konsequenzen auch umzusetzen. Der Assessment-Prozess, welcher in den beiden beschriebenen Fallstudien modelliert werden kann, sieht wie folgt aus:
Abb. 2: Assessment-Prozess
In einem ersten Schritt wird die zu evaluierende Website ausführlich analysiert und getestet, um einen Überblick über ihre Inhalte, Funktionalitäten und Dienstleistungen zu erhalten. Bereits existierende Berichte über die zu evaluierende Website werden auch konsultiert. Vielleicht gab es schon früher Benutzerbefragungen, Fokusgruppen oder Usability-Tests. Diese Informationen sollten, falls vorhanden, in die aktuelle Studie einbezogen werden. Der nächste Schritt besteht darin, mit dem Mandanten zusammen den Umfang der Untersuchung zu definieren. Dies dient dazu, die Studie zeitlich besser eingrenzen zu können und einen klaren Fokus vor Augen zu haben. Auftrag28 Glossary of Assessment Terms.
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geber möchten meistens einfach alles über die Benutzer und die Benutzung wissen. Wichtig ist es an diesem Punkt, mit dem Mandanten abzuklären, welche Konsequenzen er aus den Resultaten zu ziehen bereit ist und welche Mittel ihm zur Verfügung stehen. Das geht einher mit einer Analyse der Institution, die die Inhalte der Website verantwortet. Darauffolgend müssen die Informationsbedürfnisse der Auftraggeber identifiziert werden: Möchten sie wissen, inwiefern die Benutzer mit dem aktuellen Angebot zufrieden sind, ob noch andere Angebote hinzugefügt werden sollen, in welchem Kontext auf ihr Angebot zugegriffen wird etc. Anhand dieser Information können Prioritäten festgelegt werden. Dies kann mit dem in Abbildung 1 dargestellten Schema erfolgen, indem die einzelnen Dimensionen erklärt werden. Der Auftraggeber wird danach dazu aufgefordert, unter den Dimensionen Prioritäten zu setzen. Da eine Online-Umfrage möglichst kurz gehalten werden muss, um eine hohe Anzahl vollständig ausgefüllter Fragebögen zu erhalten, müssen in den meisten Fällen die zu testenden Dimensionen eingeschränkt werden. Bevor nun mit der Ausarbeitung des Fragebogens begonnen werden kann, kann es sich als sehr nützlich erweisen, vorher eine Benutzeranalyse durchzuführen. Diese kann in Form von ethnographischen Interviews stattfinden. Das Ziel hierbei ist es, echte Benutzer kennen zu lernen und zu erfahren, in welchem Kontext die Website benutzt wird. Aus diesen Interviews ergeben sich schon erste Erkenntnisse, welche durch spezifisches Befragen anhand der Umfrage generalisiert oder als Einzelerscheinung abgetan werden können. Im nächsten Schritt wird das genaue Vorgehen ausgearbeitet. Dies bedeutet, dass der Fragebogen erstellt wird. Beides sollte vor Beendigung dem Mandanten noch einmal vorgelegt werden. Manche Auftraggeber wollen mehr oder weniger in die Erstellung des Fragebogens eingebunden sein. Somit gibt es entweder sehr wenige Veränderungen vorzunehmen oder es ergibt sich ein unter Umständen arbeitsintensiver E-Mail-Verkehr mit immer wieder neuen Versionen des Fragebogens, so dass für diese Phase auf jeden Fall genügend Zeit einzuplanen ist. Um möglichst viele Antworten bei der Umfrage zu erhalten, sollte der Fragebogen so kurz wie möglich gehalten werden. Besteht dennoch der Wunsch, den Fragebogen ein bisschen länger zu gestalten oder auf eine repräsentative Anzahl Antworten zu gelangen, ist es ratsam, den Fragebogen mit einer Gratifikation zu verbinden. In jedem Fall ist es unerlässlich, die möglichen Teilnehmenden über verschiedene Medien (etwa auf der Website, auf Facebook, Twitter, via einen Newsletter, auf Partner-Websites etc.) auf die Umfrage aufmerksam zu machen. Gleichzeitig mit der Umfrage empfiehlt es sich, die Website-Statistiken zu analysieren. Die dadurch gewonnenen Daten können mit den Resultaten der Umfrage verglichen und validiert werden oder eine differenziertere Interpretation hervorrufen.
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Falls für die Auswertung genügend Zeit zur Verfügung steht, können unterschiedliche Korrelationen herausgefiltert werden. Es können zum Beispiel nur die Antworten von einer bestimmten Berufsgruppe oder von Teilnehmern eines gewissen Alters analysiert werden. Diese Korrelationen können dabei helfen, Personas29 zu erstellen. Im vorletzten Schritt ist es wichtig, einen Wissenstransfer zu ermöglichen. Dem Auftraggeber soll am Ende klar sein, welches die Ergebnisse sind und weshalb sie auf diese oder jene Weise interpretiert wurden. Daraus abgeleitet sollen dem Mandanten klare Verbesserungsvorschläge unterbreitet werden, die auch mit ihm zusammen erarbeitet werden können. Nur so kann garantiert werden, dass der Auftraggeber bereit ist, die notwendigen Konsequenzen aus den enthaltenen Resultaten zu ziehen. Als letzte Etappe wird gemeinsam mit dem Mandanten entschieden, welches die wichtigsten Änderungen sind, die vorgenommen werden müssen. Dies kann auch in Anbetracht des zur Verfügung stehenden Budgets und sonstigen Kapazitäten entschieden werden. Bei diesem Prozess können die bei einer Usefulness-Evaluation entstehenden Resultate – und hier besteht der eigentliche Gegensatz zu Usability-Evaluationen – Bereiche betreffen, die über die eigentliche Gestaltung der Website hinausgehen, bspw. Fragen des Marketing oder der Lizenzierung. Gerade aus diesem Grund ist der Assessment-Prozess, der sich über einen viel weiteren Zeitraum als die eigentliche zentrale Evaluation erstreckt, von besonderer Bedeutung und bedingt, dass der Auftraggeber letztlich dazu bereit sein muss, nicht nur sein Angebot, sondern indirekt auch die dahinter befindliche Institution evaluieren zu lassen.
Schlussbemerkungen und Ausblick Qualitativ ausgerichtete Evaluationen zur Nützlichkeit digitaler Inhalte dienen sowohl dazu, den Benutzer und sein Verhältnis zu digitalen Angeboten genauer zu analysieren also auch quantitativ erhobene Nutzungsdaten zu validieren oder in Frage zu stellen. Sie sind hilfreich, digitales Wachstum in geeignete Bahnen zu lenken bzw. zu begrenzen. Als Konsequenz dessen sind sie ein geeignetes Instrument zur Verbesserung der Nutzungsdaten und der damit verbundenen Kosten-Nutzen-Relation, die letztlich auch zu einer Erhöhung des Return-on-Investment (ROI) führt. Die Verfasser betrachten Evaluationen zur Nützlichkeit digitaler Bibliotheken somit als selbstverständliche Ergänzung zu jeder Evaluation der Benutzerfreundlichkeit und als geeignetes Mittel, deren Ergebnisse zu bestätigen oder zu hinterfragen, zumal wirklich konvergente Methoden bislang nicht existieren. 29 Siehe Kapitel 1 Grundlagen des Usability-Engineerings.
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Für sich alleine betrachtet, stellt sich eine Usefulness-Evaluation letztlich als mehrstufiger Assessment-Prozess dar, dessen zentrales Element die direkte oder indirekte (d.h. Online-) Befragung ausgewählter oder allgemeiner Benutzer ausmacht. Anwendung können jedoch auch andere Methoden der Usability-Forschung mit einer hybriden Ausrichtung finden, in dem Sinne, dass sie den Fokus auf Fragen der Nützlichkeit der digitalen Inhalte, Funktionalitäten und Dienstleistungen richten. Dabei ist es von nachgeordneter Bedeutung, ob diese sequentiell, d.h. nach dem eigentlichen Usability-Testing oder parallel, d.h. währenddessen durchgeführt werden. Mehr als im Fall einer Usability-Evaluation, bei der heuristische Analysen, Eye-Tracking oder Aufgaben zum „freien Surfen“ schon zufriedenstellende Ergebnisse liefern, sind die sorgfältige Abstimmung und Definition der zu stellenden Fragen für den Erfolg der Evaluation von großer Bedeutung. Diese sollten in jedem Fall in mehreren Arbeitsschritten zwischen den Auftraggebern und der die Evaluation durchführenden Person oder den Benutzern selbst abgestimmt werden. Gleichzeitig sollten vorab die genauen Ziele der Evaluation besprochen sein. Es gilt in jedem Fall zu vermeiden, dass Evaluationen häufig als Feigenblatt für eine letztlich unkontrollierte und anmassende Ausgabenpolitik herhalten müssen und daraus resultierenden Veränderungen letztlich minimal, da unerwünscht, sind. Von daher gehören zu jeder Evaluation der Nützlichkeit auch Vereinbarungen über die Konsequenz der Evaluation. Denn ohne diese Vereinbarungen sind auch die Berichte von Usefulness-Evaluationen das Papier, auf dem sie gedruckt sind, nicht wert.
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4. Einführung in die Online-Benutzerforschung zu Digitalen Bibliotheken Elke Greifeneder „We were naive enough to think that it would be relatively straightforward to transfer research strategies developed for studying face-to-face contexts to life online“ Markham und Baym, 2009
Einleitung Digitale Angebote sind heute elementarer Bestandteil von Bibliotheken, eine benutzerfreundliche Gestaltung derselben ist daher unerlässlich. Aber wie schafft man Angebote, die den Bedürfnissen und Wünschen der Benutzer entsprechen? Trotz einer Vielzahl goldener Regeln1, Ratschlägen2 und Richtlinien3 gibt es nichts, was allgemein für alle Benutzer und alle Angebote zutrifft. Ein benutzerorientiertes digitales Angebot kann nur durch wiederkehrende (iterative) Studien zu und mit Benutzern erreicht werden.4 Doch wie untersucht man Benutzer, die zu jeder Zeit und von jedem beliebigen Ort aus die eigenen Angebote nutzen können? Dieser Beitrag stellt Methoden der Online-Benutzerforschung bei digitalen Angeboten vor und weist zugleich auf einige Tücken dieser Methoden hin. Als Online-Forschung werden Studien bezeichnet, die einen doppelten Bezug zum Internet haben: das Internet ist sowohl ihr Gegenstand als auch das Medium ihrer Methode. Der Forscher erhebt Daten mit dem Internet über das Internet. 5 Im angloamerikanischen Raum spricht man auch von „Internet Research“6 oder von „Virtual Research“7. Online-Forschung wird seit etwa 15 Jahren betrieben. Bis heute hat sie den Status einer eigenständigen Disziplin nicht erreicht. 1 2 3 4 5 6 7
Shneiderman; Plaisant, 2005. Krug; Dubau, 2006. U.a. Nielsen, 2000. Siehe die Kapitel im Methodenteil dieses Bandes. Welker; Wenzel, 2010. Markham; Baym; Nancy, 2009. Buchanan, 2004.
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Elke Greifeneder
Ein Charakteristikum von Online-Studien ist die räumliche Distanz zwischen Forscher und Teilnehmer; dies wird als „remote“ (engl. für „entfernt“) bezeichnet. Von synchronen Remote-Studien spricht man, wenn – wie beispielsweise bei Chat-Interviews – eine räumliche Distanz, aber keine zeitliche gegeben ist. Bei asynchronen Remote-Studien gibt es zusätzlich eine zeitliche Distanz. Ein Beispiel hierfür wäre eine Online-Umfrage, da Teilnehmer zu jeder Zeit an einem Ort ihrer Wahl daran teilnehmen können.
Grundlagen der Online-Benutzerforschung Der größte Reiz digitaler Angebote ist zugleich das größte Hindernis für Studien: das Fehlen jeglicher zeitlicher und räumlicher Einschränkungen. Wie soll man aber Benutzer aus China oder den USA zur Teilnahme an einer Fokusgruppe in Deutschland überzeugen? Wie soll man synchrone Chat-Interviews führen, wenn es in Seattle früher Nachmittag, in Berlin jedoch vier Uhr in der Früh ist? Der digitale Benutzer ist häufig ein gesichtsloses Wesen, von dem man selten mehr weiß, als dass es aus irgendeinem unbekannten Grund auf das Angebot klickt, dort eine bestimmte Aktion durchführt und dann – zufrieden oder nicht – das Angebot wieder verlässt. Das Problem des gesichtslosen Benutzers ist nicht neu und seit Jahren gibt es eine kaum endende Reihe von Publikationen, die sich mit Recherchegewohnheiten oder Design-Wünschen von Benutzern sowie möglichen zukünftigen Modellen wie einem OPAC 2.0 beschäftigen. Beispielhaft sei hier auf das Beluga-Projekt an der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg8, die Ermittlung möglicher Nutzerprofile einer digitalen Buchgeschichte9 und auf die dänische Studie „The hybrid library: from the users perspective“10 hingewiesen. Letztere untersuchte Verhaltensmuster von Benutzern, um Persona11 digitaler Angebote zu entwickeln. Eines hat sich bei allen Studien herauskristallisiert: die alten Unterscheidungen mittels demographischer Angaben (wie Alter, Geschlecht, Studiengang etc.) haben nur bedingt Gültigkeit im digitalen Raum. Ein 14-Jähriger hat möglicherweise eine höhere Computerkompetenz als ein 40-Jähriger. Gruppierungen von Benutzern in digitalen Umgebungen besitzen die meiste Aussagekraft, wenn bei der Erhebung nach Erfahrung und Wissen gefragt wird. Eine zweite Herausforderung für Online-Benutzerstudien ist der Kontext des Benutzers im Umgang mit digitalen Angeboten. Taylor12 schrieb bereits lange bevor der Computer Einzug in den Alltag hielt, über das Phänomen „the 8 9 10 11 12
Beluga, 2011. Greifeneder; Kuhn; Rühr, 2010. Akselbo, 2006. Siehe Kapitel 1 Grundlagen des Usability-Engineerings. Taylor, 1991.
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home as an information use environment“. Denn nicht nur die Kenntnisse des Benutzers haben Einfluss auf die Interaktion mit digitalen Angeboten. So nutzen manche Benutzer digitale Angebote von ihrem beruflichen Arbeitsplatz aus, haben an diesen Rechnern aber häufig nur eingeschränkte Rechte. Verwendet man Angebote, die eine Installation von Software erfordern, wird der Benutzer automatisch ausgeschlossen. Ein Beispiel ist der virtuelle Rundgang der Universitätsbibliothek Bielefeld, der nur mit dem Internet Explorer und nur nach Installation eines Plugins betretbar ist (Stand Mai 2011). Die Hinzunahme des Benutzungskontextes kann zudem wichtige Hinweise zur Dateninterpretation liefern. So bewerten Menschen Angebote anders, wenn sie schlecht gelaunt oder abgelenkt sind.13 Der vorliegende Aufsatz behandelt speziell die Methoden der OnlineBenutzerforschung und kann daher die allgemeinen Grundlagen der Benutzerforschung nicht in der gebotenen Ausführlichkeit darstellen. Ein grundlegendes Verständnis über Methoden der Benutzerforschung vermitteln beispielsweise die folgenden beiden, sehr empfehlenswerten Werke: Der Bericht der Digital Library Federation Usage and Usability Assessment14 erläutert in äußerst prägnanter Form die verschiedenen Methoden sowie deren jeweiligen Vor- und Nachteile. Als Grundlagenwerk zur Vorbereitung eigener Studien eignet sich das Buch Observing the User Experience von Kuniavsky15. Darin wird die Anwendung verschiedener Methoden detailliert vorgestellt. Beide Werke behandeln die neuen Methoden der Online-Forschung jedoch nur am Rande. Einige Methoden der Online-Forschung verwenden Werkzeuge („Tools“), die genuin für sie entwickelt wurden (wie der Web-Fragebogen oder die Remote-Usability-Tools); andere benutzen Werkzeuge, die für vielerlei Zwecke Verwendung finden (wie Chaträume oder virtuelle Videokonferenzräume). Die Methoden werden nach quantitativen und qualitativen Aspekten unterschieden.16 Qualitative Forschung erkundet einen noch unbekannten Sachverhalt. Wenn man etwas noch nicht kennt, kann man es nicht messen. Ein Beispiel: Eine Bibliothek will wissen, ob ihre Benutzer vier jüngst eingeführte Angebote kennen und schätzen. Mit einem Fragebogen kann die Bibliothek konkret abfragen, ob Angebot B bekannt ist und ob Angebot C gegenüber Angebot B bevorzugt wird. Will eine Bibliothek jedoch wissen, welche zusätzlichen Angebote im Internet sie künftig anbieten soll, muss sie zuerst herausfinden, welche Angebote von Interesse sein könnten. Man könnte in diesem Fall qualitativ erkunden, welche neuen Angebote gewünscht sind. Qualitative Forschung arbeitet mit sehr kleinen Teilnehmergruppen; Ziel ist eine hohe Inhaltsvalidität und ein tiefer Informationsgehalt der Ergebnisse. Dafür verzichtet qualitative 13 14 15 16
Greifeneder, 2011. Troll Covey, 2002. Kuniavsky, 2003. Vgl. folgend Norlin; Winter, 2000.
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Forschung auf den Anspruch, repräsentative Aussagen zu gewinnen. Sie bejaht bewusst die Subjektivität der Ergebnisse. Beispiele sind Interviews oder Beobachtungen. Quantitative Forschung hingegen dient zur objektiven Messung und Quantifizierung von Sachverhalten. Ein Forscher muss also bereits wissen, was er messen will. Quantitative Forschung verwendet standardisierte Verfahren und eignet sich zum Testen von Hypothesen und für wiederkehrende Untersuchungen. Für quantitative Studien verwendet man große Stichproben. Beispiele sind Fragebogen oder Logfile-Analysen. Nicht immer kann man eine Methode ausschließlich einer Kategorie zuordnen: Ein Fragebogen kann sowohl quantitativen als auch qualitativen Charakter haben. Bei der Methode des Lauten Denkens werden sowohl quantitative Daten erhoben (z.B. wie viele Teilnehmer eine Aufgabe in welcher Zeit erfolgreich gelöst haben) als auch qualitative Daten erfasst (wie etwa individuelle Rückmeldungen zu Problemen). Beispiele für qualitative und quantitative Daten gibt Tabelle 1. Beispiel für qualitative Daten
Beispiel für quantitative Daten
„Ich benutze das Webangebot eigentlich immer als erste Anlaufstelle für meine wissenschaftliche Arbeit. Neulich habe ich ein Buch gefunden, dass neu digitalisiert war und über die integrierte Volltextsuche habe ich entdeckt, dass in einer Fußnote zum ersten Mal der Begriff Ausländerfeindlichkeit verwendet wird. Das war für meine Forschung sehr wichtig. Was mich jedoch total nervt, ist die Unübersichtlichkeit der Suche. Ich glaube, dass in diesem Angebot total viele Schätze schlummern, aber ich muss immer erst einmal alle möglichen Tricks anwenden, um etwas zu finden.“ (Teilnehmer Peter Schmidt)
95 Prozent der Teilnehmer an der Umfrage gaben an, dass das Webangebot eine wichtige Informationsquelle ist.
56 Prozent benutzen das Angebot mehrmals in der Woche.
Nur 9 Prozent unserer Besucher fanden auf Anhieb, was sie suchten.
Tabelle 1: Beispiele für qualitative und quantitative Daten
Web-Fragebogen Web-Fragebogen (umgangssprachlich pauschal als Online-Umfragen bezeichnet) sind seit etwa 2002 die beliebteste Methode in der Online-Forschung, da sie verhältnismäßig leicht in der technischen Umsetzung sind. Fertige Produkt-
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lösungen wie LimeSurvey oder SurveyMonkey ermöglichen es, mit wenig Aufwand Fragen in ein Webformular einzugeben, den fertigen Fragebogen auf einer Website zu verlinken und dank guter Exportfunktionen nicht nur die Rohdaten, sondern eine Aufbereitung derselben in Diagrammen und Charts für Präsentationen herunterzuladen. Die technisch einfache Umsetzung ermöglicht es, kostengünstig und schnell einen Web-Fragebogen zu erstellen. Doch die technische Einfachheit täuscht über die Schwierigkeiten der Fragenerstellung und Einschränkungen in der Deutung der Daten hinweg. Die richtige und eindeutig formulierte Frage zu stellen, erfordert ein hohes Maß an Problembewusstsein. So dürfen Fragen keine Antworten suggerieren. Wenn man Teilnehmer einer Studie fragt: „Viele Benutzer wünschen sich eine FacebookGruppe ihrer Bibliothek. Soll die Bibliothek Ihrer Meinung nach eine solche Gruppe gründen?“, beeinflusst man bereits die Antwort durch den Verweis, dass viele andere Benutzer das auch so sehen. Fragen über die Zukunft sind ebenfalls sehr schwer zu konzipieren: Wenn man Benutzer fragt, ob diese sich vorstellen können, E-Books zu nutzen, dann ist die Qualität der gewonnen Daten sehr dünn. Denn man weiß nicht viel mehr, als dass die Benutzer es sich heute vorstellen oder eben nicht vorstellen können. Dies sagt nichts über den tatsächlichen Bedarf in einigen Jahren aus. Hätte Mark Zuckerberg im Jahr 2000 in einer Studie gefragt, ob die Teilnehmer sich vorstellen könnten, ihr Privatleben in sozialen Netzwerken auszubreiten, dann hätte er Facebook wahrscheinlich nie entwickelt. Man muss sich bei Fragebogen bewusst machen, dass sie immer nur ein von Benutzern selbst eingeschätztes Verhalten erfassen: das heißt, man fragt einen Benutzer, was er auf einer Website gemacht hat oder welches Angebot er gerne hätte. Dieses Verhalten muss aber nicht mit dem tatsächlichen Verhalten übereinstimmen. Die Gründe dafür sind vielfältig: der Benutzer möchte nicht über den wahren Sachverhalt Auskunft geben, er kann sich nicht mehr genau daran erinnern oder er glaubt tatsächlich, dass er wie angegeben handelte. Wirkliche Sicherheit, dass das vorgegebene Verhalten dem tatsächlichen entspricht, erlangt man mit einem Web-Fragebogen nie. Hier bietet sich eine Methodenkombination an, die parallel das tatsächliche Verhalten misst. Bei Fragebogen gibt es – grob eingeteilt – vier Formen der Fragestellung: Bei der ersten Form muss der Benutzer sich für eine aus mehreren vorgegebenen Antwortmöglichkeiten entscheiden. Bei der zweiten Form, der Mehrfachauswahl, können mehrere Antwortvorgaben ausgewählt werden. Bei der dritten Form, dem Rating, soll der Benutzer eine Wertung abgeben. Bei der letzten Form kann der Benutzer in ein freies Feld einen Kommentar schreiben. Die ersten drei Formen generieren quantitative Daten, die letzte Form generiert qualitative Daten. Abbildung 1 illustriert die vier Fragetypen. Nimmt man sich ausreichend Zeit für die Entwicklung der Fragen, ist der Web-Fragebogen eine sehr praktikable Methode für die Online-Forschung. Ein Web-Fragebogen kann problemlos auf einer Website als Link oder Pop-Up
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platziert werden, oder es wird die Einladung zur Teilnahme per E-Mail an einzelne Benutzer oder Mailinglisten verschickt. Es gibt bei Web-Fragebogen aus technischer Sicht weder räumliche noch zeitliche Einschränkungen.
Abb. 1: Vier Varianten der Frageform in Web-Fragebogen
Logfile-Analysen Im Gegensatz zu Web-Fragebogen messen Logfile-Analysen das tatsächliche Nutzerverhalten. Logfiles (oder richtigerweise im Deutschen als Logdateien übersetzt) geben Auskunft, an welcher Stelle ein Benutzer wann mit dem Webangebot interagiert. Etymologisch stammt der Ausdruck aus der Schifffahrt, bei der man in Logbüchern aktuelle Schiffspositionen eingetragen hat. Das Aufzeichnen (engl. Tracking) dieser Interaktionsdaten in Logfiles und die gezielte Auswertung derselben nennt man Logfile-Analyse. Die Methode eignet sich sehr gut, um Muster in der Benutzung zu erkennen: woher kommen die Benutzer, wann sind Stoßzeiten in der Benutzung oder welche Angebote erzeugen überdimensional viele Fehlermeldungen? Viele Studien verwenden Logfile-Analysen, um Aussagen über die Nutzung eines
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Angebots wie Seitenaufrufe, Downloads oder Nulltreffermeldungen zu erhalten. Diese Daten sind rein quantitativer Natur. Verfolgt man gezielt den Weg eines bestimmten Benutzers, spricht man von einer Transaction-Log-Analysis, kurz TLA, oder auch von Click-Stream-Analysis. Die Schwierigkeiten der Logfile-Analyse bestehen in der richtigen Interpretation der erhaltenen Daten. Was definiert einen Besuch eines OnlineAngebots? Ein Klick auf die Startseite oder Klicks auf jede beliebige Unterseite, über die ein Benutzer durch eine Suchmaschine gelangt sein könnte? Muss ein Besuch eine Mindestdauer haben – zählt ein Benutzer schon, wenn er eine Site nur aufgerufen und sofort wieder verlassen hat? Kann man immer genau zwischen menschlichem Besucher und Suchmaschinenroboter unterscheiden? Was definiert man als eine missglückte Suche? Ist das eine Nulltreffermeldung, oder sind auch zu viele Suchtreffer eine missglückte Suche? Logfiles haben einen weiteren Nachteil: die Daten sagen nur, welche Interaktionen stattgefunden haben, nicht aber warum. Der Forscher erfährt also nur, dass ein Benutzer immer wieder auf einen bestimmten Link geklickt hat. Die Frage nach den Gründen hierfür kann nicht durch die Logfiles beantwortet werden. Ähnlich wie der Web-Fragebogen ist die Logfile-Analyse in der technischen Umsetzung eine verhältnismäßig einfach anzuwendende Methode, da die meisten Systeme bereits Logfiles erfassen und man die Daten nur abrufen muss. Logfiles sind ebenso wie die Web-Fragebogen ohne räumliche und zeitliche Einschränkung nutzbar. Sie sind eine unaufdringliche Form der Datensammlung, da der Benutzer in der Regel nicht weiß, dass Daten über ihn erhoben werden. IP-Adressen dürfen aus datenschutzrechtlichen Gründen jedoch nie gesammelt werden.
Abb. 2: Beispiel von Logfile-Daten einer digitalen Bibliothek
Viele Datenbankanbieter offerieren die Bereitstellung von fertig ausgewerteten Logfiles. Allerdings basieren die daraus gebildeten Statistiken nicht alle auf den gleichen Algorithmen und gleichen Begriffsdefinitionen. So nützlich diese Daten sind, sie verlieren in der Anwendung mangels Vergleichbarkeit an Wert. Wenn zum Beispiel die Statistiken der Fachverlage Elsevier und Emerald den Besuch einer Website unterschiedlich definieren, dann kann man diese Statistiken nicht miteinander vergleichen.
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Mouse- und Clicktracking Zwei andere Methoden nutzen Logfiles, um eine visuelle Analyse der WebsiteBenutzung zu ermöglichen. Diese beiden Verfahren sind das Mousetracking (deutsch: das Verfolgen des Mauszeigers) und das Clicktracking (das Verfolgen von Klicks). Je nach Verfahren wird aufgezeichnet, wie ein Benutzer den Mauszeiger bewegt oder auf welche Stellen oder Links Benutzer klicken. Mit einer guten Mousetracking-Software kann man ähnlich hochwertige Ergebnisse wie mit einem konventionellen Eyetracking-Test erzielen (Eyetracking: das Verfolgen der Blickbewegungen von Probanden). Ziel beider Verfahren ist es herauszufinden, auf welche Bereiche einer Website Benutzer die meiste Aufmerksamkeit richten, damit man wichtige Informationen an diesen Stellen platzieren kann.
Abb. 3: Visualisierung der Benutzer-Aktivitäten durch Heatmaps (Abbildung der Software ClickHeat)
Häufigste Visualisierungsform von Mouse- und Clicktracking-Verfahren sind sogenannte Heatmaps, welche die Klicks oder Mausbewegungen in Form einer Warm-Kalt-Darstellung präsentieren (Abb. 3). Beide Methoden ermöglichen eine räumlich und zeitlich unabhängige Anwendung und sind somit für die Online-Forschung geeignet. Zur Verwendung der Technik ist die Installation einer Software nötig.
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Remote-Usability-Testing Nicht wegzudenken aus der Online-Forschung sind Usability-Studien (deutsch: Studien zur Benutzerfreundlichkeit oder Gebrauchstauglichkeit). Diese Studien untersuchen, inwieweit die Struktur und Gestaltung eines Angebots den Bedürfnissen der Benutzer entspricht. Detaillierte Informationen zum UsabilityEngineering und zu den verschiedenen Methoden zur Umsetzung von Usability finden sich in anderen Kapiteln dieses Buches. Die meisten Usability-Methoden haben den Nachteil, dass Sie ortsgebunden sind; das heißt, Teilnehmer müssen in der Regel in einem Testlabor vor Ort erscheinen. Doch gerade bei der Untersuchung digitaler Angebote ist es problematisch, wenn man ausschließlich lokal verfügbare Benutzer einbezieht. Eine gängige Online-Methode zur Evaluation von Usability sind standardisierte Web-Fragebogen, die in den letzten Jahren wieder besonders „stark in Mode gekommen“ sind.17 Benutzer werden darin gefragt, von wo sie auf eine Seite zugegriffen haben, wie häufig sie die Seite benutzen, nach was sie gerade recherchiert haben oder welche Probleme bei der Recherche aufgetreten sind. Der Nachteil an dieser Methode ist offensichtlich: Die erhaltenen Daten entsprechen ausschließlich dem Eindruck, die der Benutzer von seinem Verhaltens selbst hat („claimed behavior“). Wie der Nutzer tatsächlich vorgegangen ist, stimmt häufig nicht exakt mit seiner Selbstauskunft überein. Man erhält dadurch sehr ungenaue Daten. Seit etwa 2008 haben Remote-Usability-Tests stark an Bedeutung gewonnen. Bei dieser Form des Tests können Benutzer ortsungebunden und zum Teil sogar zeitungebunden an Studien teilnehmen. Bei synchronen RemoteUsability-Tests nutzt man gängige Internet-Tools, um mit den Teilnehmern in Kontakt zu treten. Besonders häufig werden Werkzeuge zur Bildschirmfreigabe (engl. screen sharing) verwendet. Der Teilnehmer erlaubt dabei dem Forscher, Zugriff auf den eigenen Bildschirm zu bekommen, und ruft dann die zu untersuchende Website auf. Über Chat oder besser noch via Internet-Telefonie („Voice over IP“, kurz: VoIP) stellt man Fragen und Aufgaben, die der Teilnehmer der Studie dann auf dem eigenen Rechner ausführt. Das Testdesign ähnelt dem laborbasierten Think-Aloud-Test (Methode des „Lauten Denkens“). Synchrone Remote-Usability-Test sind in diesem Sinn keine neue Methode, sondern nur eine technische Brücke, die es ermöglicht, Labor-Methoden auch Remote durchzuführen. Die Vorteile synchroner Remote-Usability-Tests sind ihre weltweite Anwendbarkeit und die geringen Kosten. Ein Vorteil gegenüber den asynchronen Tests ist die aktive Interaktion mit dem Teilnehmer, die Rückfragen erlaubt. Nachteilig wirken sich die Abhängigkeit von bestimmten Uhrzeiten aus, die 17 Beschnitt, 2009.
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Abb. 4: Beispiel eines asynchronen Remote-Usability-Tests mit der Software Loop11
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möglicherweise potentielle Teilnehmer ausschließt, sowie die starke Abhängigkeit von der funktionierenden Technik auf beiden Seiten. Der Forscher arbeitet zudem unter verschärften rechtlichen und ethischen Bedingungen: Bei einem synchronen Test mit Bildschirmfreigabe erhält er Vollzugriff auf einen fremden Rechner und kann dort die Maus steuern. Eingaben wie Login-Daten können mitverfolgt und ausgelesen werden. Es wird angeraten, vor dem Test per Email ausführliche Informationen zu den Rechten des Teilnehmers und dem verantwortlichen Handeln des Forschers zu verschicken. Asynchrone Remote-Usability-Tests sind orts- und zusätzlich zeitunabhängig. Je nach Anbieter sind die Tools zudem unabhängig vom Endgerät des Benutzers und können somit auch auf mobilen Geräten wie Smartphones Anwendung finden. Bei einem asynchronen Remote-Usability-Test greifen Benutzer auf das gewünschte Online-Angebot zu und bearbeiten dort wie bei einem Think-AloudTest konkrete Aufgaben. Diese erhält der Studienteilnehmer in Textform neben, über oder unter der angezeigten Website (Abb. 4). Nach Erledigung der Aufgabe klickt der Teilnehmer – je nach System – zum Beispiel auf „Aufgabe abgeschlossen“ bzw. „Aufgabe abbrechen“ oder gibt die Antwort in ein freies Feld ein oder wählt aus mehreren Antwortmöglichkeiten. Der Forscher kann zusätzlich durch Tracking den Weg des Benutzers nachverfolgen, sofern das getestete Angebot dies zulässt und es sich um permanente Links handelt. Zusätzlich zu den Aufgaben können durch Fragebogen-Elemente zum Beispiel die üblichen Daten wie demographische Angaben erfragt werden. Im Gegensatz zu Usability-Tests mit kleinem Teilnehmerkreis in Laboren und daraus resultierenden qualitativen Daten, haben solche Tests vorwiegend quantitativen Charakter. Man erfährt, wie viele Teilnehmer eine Aufgabe lösen konnten und wie viele abbrachen und man lernt, wie viel Zeit Teilnehmer für eine bestimmte Aufgabe benötigten und an welchen Stellen die meisten Teilnehmer aufgaben. Zusätzlich kann man bei asynchronen Remote-Usability-Tests mehrere digitale Angebote miteinander vergleichen.
Online-Interviews Die drei folgenden Methoden sind von qualitativer Natur; sie benutzen extern verfügbare Werkzeuge, um mit Benutzern im Internet in Kontakt zu treten. Dies sind die Online-Interviews, die Online-Fokusgruppen und die OnlineBeobachtungen. Da in der Online-Forschung über viele Jahre die zusätzlich benötigten Werkzeuge nicht verfügbar waren, dominierten Web-Fragebogen und Logfile-Analysen. Denn die Schwierigkeit qualitativer Online-Forschung ist leicht ersichtlich: Wie führt man im Internet mit jemandem ein Interview, der weder im gleichen Raum noch in derselben Zeitzone ist? Der Teilnehmer eines Online-Interviews muss neben der Software für VoiP (Voice over IP)
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auch die nötige Hardware wie Kopfhörer und Mikrofon besitzen. Viele OnlineForscher greifen daher immer noch auf die bewährte Methode des analogen Telefon-Interviews zurück. Neben unterschiedlichen Zeitzonen erschweren verschiedene Sprachen der Benutzer die Durchführung von Online-Interviews. Bei einem internationalen Angebot wie zum Beispiel der Europäischen Digitalen Bibliothek Europeana.eu kann man entweder alle Interviews in Englisch führen oder aber möglichst viele Sprachen zur Verfügung stellen. Das Interview in Englisch hat den Nachteil, dass im ungünstigsten Fall weder der Interviewer noch der Teilnehmer Englisch als Muttersprache sprechen und es leicht zu Verständnisschwierigkeiten kommen kann. Schwieriger als bei Web-Fragebogen ist auch die Rekrutierung von Teilnehmern. Man kann auf einem Online-Angebot einer Einrichtung einen Link zur Studie setzen, über den sich Teilnehmer für das Interview bewerben können. Teilnehmer und Interviewer vereinbaren dann gemeinsam einen Termin und klären die technischen Anforderungen. Eine zweite Variante ist die direkte Aufforderung, in ein Interview zu treten, sobald ein Benutzer auf das Angebot klickt. Dies funktioniert ähnlich wie ein Pop-Up. Zwei Nachteile ergeben sich aus letztgenannter Variante: Erstens erreicht man nur diejenigen Benutzer, die zufällig zu einer bestimmten Zeit online sind. Da man nachts sicherlich keine Interviews führen will, wird man bestimmte Benutzer niemals erreichen. Man hat also ein Problem mit der Stichprobe. Zweitens erfordern qualitative Interviews sehr viel Zeit: 30 Minuten Interviewzeit ist sehr kurz, eine Stunde die Regel und 90 Minuten die maximale Obergrenze. Die wenigsten Teilnehmer werden jedoch spontan 60 Minuten für ein Interview Zeit haben. Bei einem qualitativen Interview ist es deshalb wichtig, eine angemessene Aufwandsentschädigung zu bezahlen. Es gibt verschiedene Werkzeuge, um online Interviews durchzuführen. Die gängigste Variante ist das Chat-Interview. Hierbei tippt man die Fragen ein und die Teilnehmer geben sofort eine Antwort. Der Vorteil ist, dass man das Interviewmaterial nicht mehr abtippen muss, da es bereits als Text vorliegt. Die Textgebundenheit wirkt sich jedoch auch nachteilig für die Inhaltsdichte aus, da Teilnehmer generell mündlich mehr erzählen als sie aufschreiben. Eine Alternative sind asynchrone E-Mail-Interviews, bei denen es eine Zeitverzögerung zwischen Frage und Antwort gibt. Vielfach verliert man jedoch Teilnehmer bei dieser Interviewform, da einige auf die zweite oder dritte Frage nicht mehr antworten. Eine Studie von 200918 zeigt, dass E-Mail-Antworten in der Regel kürzer sind als im Chat; inhaltlich gibt es jedoch keine Differenz zwischen beiden Interviewformen.
18 Hussain & Griffiths, 2009.
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Online-Fokusgruppen Online-Fokusgruppen funktionieren ähnlich wie Online-Interviews, nur dass mehrere Teilnehmer anwesend sind und das Ziel der Studie nicht dasselbe ist. Untersucht man bei einem Online-Interview die Meinungen und das Verhalten einer Person, so interessiert man sich bei der Online-Fokusgruppe für Ergebnisse, die eine Gruppe hervorbringt. Ähnlich schwierige Bedingungen wie bei den Online-Interviews existieren bei den Werkzeugen für Online-Fokusgruppen. Die einfachste und bis jetzt immer noch gängigste Variante sind asynchrone Online-Fokusgruppen über Foren. Man eröffnet eine Diskussion mit einer Frage. Die Teilnehmer können nun antworten oder andere Antworten kommentieren. Die Vorteile dieser Form sind offensichtlich: Ein Forum ist einfach aufzusetzen und jeder kann zeit- und ortsunabhängig daran teilnehmen. Teilnehmer können gegebenenfalls sogar in ihrer eigenen Sprache antworten. Der Nachteil dieser Form: Fokusgruppen sind für den Moderator ohnehin nicht leicht zu steuern; in einem Forum ist es aber noch schwieriger, die stillen Teilnehmer zur aktiven Teilnahme zu überreden, zumal alles einmal Gesagte nachlesbar bleibt. Eine nicht ganz durchdachte Idee, die jemand mündlich äußert, ist schnell vergessen. Dieselbe Idee verschriftlicht ist für alle bis zum Ende der Fokusgruppe sichtbar, was manche Teilnehmer hemmt. Ein guter Moderator kann sich aber darauf vorbereiten und durch Regeln des guten Miteinanders innerhalb der Fokusgruppe vorbeugen. Online-Fokusgruppen können auch in sogenannten Multi User Dungeons (kurz MUD) oder in virtuellen Welten wie Second Life stattfinden. Vielleicht die Form der Zukunft sind kleine virtuelle Konferenzräume, die man bucht und in die sich jeder Teilnehmer ohne Installation zusätzlicher Software eintragen kann. Benötigt werden auch hier nur ein Mikrofon und ein Kopfhörer, von Vorteil ist eine Webcam. Die bekannten privaten Chaträume, in die man sich aus einem öffentlichen Chat zurückziehen kann, standen Modell für die nun existierenden virtuellen Konferenzräume. Momentan gibt es bereits sehr viele Angebote, die jedoch nicht alle in der Ton- und Videoqualität überzeugen. Ein weiterer Vorteil dieser virtuellen Konferenzräume sind integrierte virtuelle Whiteboards, auf die Teilnehmer selbst zeichnen und schreiben können oder auf denen sie ein existierendes Angebot kommentieren können (Abb. 5). Mittels dieser Whiteboards kann man auch Studien mit dem Card-Sorting-Test durchführen. Bei dieser Methode überprüfen die Teilnehmer den Aufbau eines digitalen Angebots. Auf gelben Karten befinden sich zum Beispiel die Überschriften oder Namen der jeweiligen Unterseite eines Online-Angebots. Auf grünen Karten befinden sich dann einzeln aufgelistet alle Elemente, die sich unter diesen Überschriften befinden. Der Studienteilnehmer muss dann die grünen Karten den gelben Karten zuordnen; im Anschluss wird überprüft, ob die Vorstellung der Benutzer mit den Zuordnungen der Einrichtung übereinstimmt.
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Abb. 5: Beispiel eines virtuellen Whiteboards (Softwareanbieter Twiddla.com)
Qualitative Online-Beobachtungen Als letzte Methode gibt es verschiedene Formen der ethnografischen Herangehensweise. Die qualitative Beobachtung (engl. virtual observation) ähnelt im Internet der Inhaltsanalyse, da vorwiegend Texte als Untersuchungsobjekt verwendet werden. Beobachtet wird zum Beispiel, in welcher Form Reaktionen auf eine Meldung erfolgen. So untersuchten qualitative Forscher im Internet die Verbreitung und Bewertung der Meldung, dass Michael Jackson gestorben ist. Methodisch kann man aktiv oder passiv am Online-Geschehen teilnehmen und sich Beobachtungen über die Form der Interaktion notieren. Erlaubt eine digitale Bibliothek die aktive Mitarbeit von Benutzern wie die Vergabe von Tags oder von Benutzern verfasste Rezensionen oder Kommentaren, dann kann man diese qualitativ untersuchen. Dies trifft auch auf digitale Angebote zu, die zum größten Teil von Benutzern gefüllt werden. Die soziale Plattform FlickR oder das Bildarchiv Prometheus gehören dazu. Untersucht werden könnte dann zum Beispiel welche Inhalte von wem zu welchem Zweck verfügbar gemacht werden. Auf Basis dieses Wissens kann man die eigenen Angebote benutzerorientiert gestalten. Bei einer Online-Beobachtung an der North Carolina State University entwickelte man eine Anwendung für den iPad und andere Tablet-PCs, mit denen man mobil Daten erfassen kann.19 Ziel der Studie war es, mehr über die Benutzung der Bibliotheksräume herauszufinden, insbesondere wie sich OnlineNutzung und reale Raumnutzung verknüpfen.
19 Casden, 2011.
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Rechtliche Einschränkungen bei Online-Studien Neben vielen Vorteilen birgt die Online-Forschung einige Tücken, auf die der folgende Teil dieses Beitrags eingeht. Es handelt sich dabei um technische Tücken, um rechtliche Einschränkungen und um Fragen bezüglich der Validität von Online-Studien. Auf rechtlicher Ebene gibt es einige Vorgaben, die auch auf die OnlineForschung zutreffen. Beispielhaft sei hier auf die Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (auch bekannt als European Union Data Protection Directive) hingewiesen.20 Diese besagt, dass Studienteilnehmer oder – allgemeiner – Untersuchungssubjekte (wie zum Beispiel Verfasser von Weblogbeiträgen): – – – – –
explizit darüber informiert werden müssen, welche personengebundenen Daten über sie gesammelt werden, informiert werden müssen, warum persönliche Daten überhaupt gesammelt werden, in der Lage sein müssen, fehlerhafte Daten zu korrigieren, in der Lage sein müssen, aus der Datensammlung auszusteigen („Opt-out“), davor geschützt werden müssen, dass ihre personengebundenen Daten in ein anderes Land transferiert werden, in dem es weniger stringente Regelungen zur Privatsphäre gibt21.
Technische Tücken bei der Online-Forschung Wichtigster Baustein der Online-Forschung ist die Nutzung technischer Hilfsmittel. Dies kann das Werkzeug für den Web-Fragebogen sein, die Software, um Logfiles aufzuzeichnen oder aber auch die Kamera und das Mikrofon, um Online-Interviews durchzuführen. Aber die starke Abhängigkeit von der Technik birgt Gefahr: wenn bei der Testdurchführung die Technik versagt, bleibt nur der Abbruch der Studie. Einige potentielle Probleme können bereits vor Studienbeginn vermieden werden. So muss die eigene Studie nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf das technische Funktionieren getestet werden. Studien sollten unter verschiedenen Computer-Betriebssystemen und mit verschiedenen Browsern getestet werden. Nicht jeder Fragebogen funktioniert mit einem Opera-Browser und nicht jeder Remote-Usability-Test funktioniert auf mobilen Endgeräten. 20 Vgl. Schutz von personenbezogenen Daten 1995. 21 Vgl. Ess, 2002.
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Es ist wichtig, die betroffenen Kollegen frühzeitig über die Studie zu informieren, damit nicht am ersten Tag der Durchführung der Server gewartet wird oder ein Relaunch der zu testenden Website ansteht. Das Funktionieren der Technik auf Seiten der Teilnehmer ist schwieriger zu kontrollieren. Im Grunde kann man nur durch eine gute Kommunikation die gröbsten Probleme verhindern. So ist es wichtig, dass man die Teilnehmer der Studie darüber informiert, welche technischen Anforderungen an ihre Ausrüstung gestellt werden: wird ein Mikrofon oder eine Kamera benötigt und reicht die Geschwindigkeit der Internetübertragung für ein Online-Interview? Benötigen die Teilnehmer Administratorenrechte, um zum Beispiel eine Software für einen synchronen Remote-Test zu installieren? Oder ist es für einen bestimmten Test notwendig, dass der Remote-Rechner Cookies setzen darf oder dass Javascript ausgeführt werden kann? So verheißungsvoll Remote-Usability-Tests für die Benutzerforschung sind, so bergen sie gleich ein dreifaches technisches Risiko: erstens kann das zu testende Online-Angebot auf Seiten des Forschenden versagen. Zweitens kann die Technik, wie eben beschrieben, auch beim Teilnehmer Probleme verursachen. Und drittens könnte die Technik auf Seiten des Anbieters der Usability-Software nicht funktionieren. So kann es zum Beispiel passieren, dass der Server, auf dem der Test läuft, in Nordamerika liegt und dort nachts Serverarbeiten durchgeführt werden, während Studienteilnehmer hierzulande den Test aufrufen wollen. Hier ist eine genaue Abstimmung mit dem Softwareanbieter hilfreich. Ein gut gepflegter Support ist gerade bei Remote-Usability-Software sehr wichtig. Da man nicht jede technische Tücke durch Pretests und gute Kommunikation verhindern kann, sollte man bei jeder Studie von Beginn an einen ausreichenden zeitlichen und personellen Puffer einplanen. Dann ist es weniger gravierend, wenn eine Studie sich um ein paar Tage verzögert oder wenn man zusätzliche Teilnehmer benötigt. Ein viel größeres Problem der Online-Forschung sind möglicherweise nicht die Tücken in der Benutzung der Technik, sondern das Fehlen der Technik an sich. Sollte jemand automatisch von einem synchronen Remote-Usability-Test oder einem Online-Interview ausgeschlossen werden, nur weil er kein Mikrofon besitzt? Das Thema Barrierefreiheit ist ein ernsthaftes Problem für die Validität der Online-Forschung, da von Beginn an bestimmte Nutzergruppen als Studienteilnehmer ausgeschlossen werden. Können Online-Studien repräsentativ sein, wenn man die Stichprobe auf Basis der Verfügbarkeit einer bestimmten Technik zieht und die Technik dabei nicht für die Benutzung des zu untersuchenden digitalen Angebots nötig ist? Auf diese Fragen gibt der folgende Abschnitt zur Validität von Online-Studien Antwort.
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Validität von Online-Studien Eine repräsentative Studie erlaubt es, Aussagen über eine Grundgesamtheit zu treffen. Doch wie sieht die Grundgesamtheit einer digitalen Bibliothek aus? Sind das alle Internetuser oder nimmt man nur die Zahl der potentiellen Benutzer, die man von lokalen Erhebungen kennt, so wie der BIX sie für seine virtuelle Messung als „primäre Nutzergruppe“22 definiert? Im Gegensatz zu einer physischen Bibliothek gibt es keine konkreten Angaben darüber, wer Teil der Grundgesamtheit aller Benutzer eines bestimmten Service ist (Angebote mit Anmeldung sind hiervon natürlich ausgeschlossen). Die Angabe, dass über 3.000 Benutzer an einem Fragebogen teilgenommen haben, sagt nichts über die Repräsentativität der Studie aus. Die 3.000 Benutzer könnten besonders aktive Benutzer oder besonders zufriedene Benutzer sein. Ohne ein detailliertes Wissen über die Grundgesamtheit kann auch keine „repräsentative“ Stichprobe gezogen werden. Das ist das wohl größte Manko der Online-Forschung: Eine repräsentative Erhebung ist schlichtweg unmöglich. Neben dem bereits angesprochenen Problem der Repräsentativität durch das Hindernis, dass der Teilnehmer eine bestimmte Technologie verfügbar haben muss, gibt es ein weiteres Problem: die Convenience Samples. Bittet man Benutzer auf einer Website oder in einer Mailingliste um die Teilnahme an einer Studie, so ziehen nicht die Forscher gezielt eine Stichprobe, sondern jeder Benutzer entscheidet selbst, ob ihn eine Teilnahme interessiert. Damit findet eine Selbstselektion der Teilnehmer statt, die häufig in einer Überproportionierung von besonders motivierten oder besonders angesprochenen Teilnehmern resultiert. Haben zum Beispiel einige Benutzer Probleme mit dem Interface, könnten diese viel eher motiviert sein, ein Feedback abzugeben, als Benutzer, die problemlos mit dem System interagieren. Es gibt verschiedene Herangehensweisen, wie man diese Begrenztheiten der Online-Forschung abmildern kann. Um eine bessere Zufallsstichprobe zu erhalten, sollte man nicht pauschal jeden Benutzer, sondern zum Beispiel nur jeden n-ten Benutzer um die Teilnahme an der Studie bitten, damit zumindest eine Zufallsauswahl der gefragten Teilnehmer erfolgt. Technisch umsetzbar ist dies durch gezielt gesteuerte Pop-Ups. Alternativ kann man vor der eigentlichen Studie eine Vorerhebung schalten, in der man die Benutzer nach ihren Gewohnheiten und demographischen Angaben fragt und auf Basis dieses BenutzerPools dann eine geeignete Stichprobe auswählt. Bei dieser Variante bleibt der hohe Faktor der Selbstselektion erhalten, da Benutzer sich bereit erklären müssen, gleich zweimal an einer Studie teilzunehmen (die Vorabfrage und die eigentliche Studie). Eine in den Sozialwissenschaften häufig verwendete Form ist die Benutzung von Panels. Panels sind eine Gruppe von potentiellen Teilnehmern, die sich 22 BIX Handbuch – WB 2011.
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bereit erklärt haben, regelmäßig an Studien teilzunehmen. Panelmitglieder werden aktiv rekrutiert, um nahe an die Gesamtpopulation heranzukommen. Panels müssen regelmäßig erneuert, aktualisiert und gepflegt werden.23 Dank der besseren Repräsentativität von Panels im Vergleich zu anderen Rekrutierungsmethoden, werden Panels – insbesondere solche, die Teilnehmer auch offline rekrutiert haben – gerne auch als Königsweg der Onlineforschung bezeichnet. Zwei Elemente des Forschungsdesigns sind für die Online-Forschung von besonderer Bedeutung: Erstens ist es wichtig, die richtigen Variablen abzufragen. Welche Variablen bilden einen guten Indikator für das Nutzerverhalten? So ist es möglicherweise bedeutsam, die Anzahl an weiteren Applikationen zu erfassen, die während der Bearbeitung einer Studie geöffnet waren.24 Zweitens ist eine ausreichend lange Feldzeit bei Online-Studien wichtig, da eine Verkürzung der Feldzeit zu geringeren Teilnahmequoten und zu einer verzerrten Ausschöpfung führt. So nahmen nur „26 Prozent der zur Online-Befragung aufgeforderten Personen […] sehr zeitnah (innerhalb 48 Stunden)“ an einer Studie von Lanninger25 teil. Im Durchschnitt nahmen deutlich mehr Männer in einem kürzeren Zeitraum als Frauen teil. Wie bereits im Abschnitt zu Remote-Usability-Testing angedeutet, ist ein ausreichend bemessener Zeitplan für die Online-Forschung unerlässlich. In einer Studie von Stieger und Göritz26 nahmen in etwa die Hälfte der angefragten Benutzer letztendlich an einer Studie mit Instant-Messaging teil. Ähnliche Quoten gelten für das Remote-Usability-Testing. Auch ist die Gefahr eines Abbruchs während der Studie deutlich höher, als wenn Benutzer physisch an einer Studie teilnehmen. So berichten Stieger und Göritz von 10,5 Prozent der Teilnehmer, welche den Chat während der Studie verlassen haben.
Zusammenfassung Die Methoden der Online-Forschung sind eine Bereicherung für die Forschung über digitale Bibliotheken. Sie eröffnen die Möglichkeit, nahe an den tatsächlichen Benutzern zu sein. Remote-Usability-Tests untersuchen digitale Angebote auf den Endnutzergeräten und nicht auf Laborrechnern. Aus Online-Forschung erhaltene Daten spiegeln die tatsächliche Nutzungssituation adäquater wider, als manche herkömmliche „Offline-Methode“ dies konnte. Zum ersten Mal ist es möglich, Benutzer aus der ganzen Welt auch in qualitative Studien mit einzubeziehen, ohne gleichzeitig hohe Reisekosten zu generieren. Die rasante technische Entwicklung neuer Werkzeuge verspricht 23 24 25 26
Theobald, 2000. Greifeneder, 2011. Lanninger, 2001. Stieger; Göritz, 2006.
Einführung in die Online-Benutzerforschung zu Digitalen Bibliotheken
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auch für die nächsten Jahre weitere Hilfsmittel, um Online-Forschung noch besser durchführen zu können. Trotz aller Euphorie über Online-Forschung sollten die Beschränkungen derselben nicht vergessen werden. So sind die Werkzeuge der Online-Forschung zugleich Segen und Fluch. Technische Hilfsmittel wie virtuelle Whiteboards ermöglichen ganz neue Ansätze in der Forschung zu digitalen Bibliotheken. Aber sie schließen Teilnehmer ohne die nötigen Zugangsmittel aus. Convenience Samples werden noch für viele Jahre die Qualität der Online-Forschung schmälern. Gute Online-Forschung zu digitalen Bibliotheken hängt davon ab, dass man sich der genannten Beschränkungen deutlich bewusst ist und die erhaltenen Daten unter Einbeziehung dieser Beschränkungen interpretiert. Denn erst dann bieten die Online-Werkzeuge wirklich einen Mehrwert für die Forschung zu digitalen Bibliotheken und nicht nur ein hübsches Beiwerk, das ein schlechtes Forschungsdesign kaschiert.
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Teil II: Umsetzung
5. Usability und User-Centered Design im Kontext einer wissenschaftlichen Bibliothek Steffen Weichert und Margret Plank „Ich verstehe wie gesagt meine Wasserrechnung nicht, obwohl ich mir jedes Mal wenn sie kommt wieder Mühe gebe, dieses Kauderwelsch da, dieses computerausgedruckte Kauderwelsch zu verstehen. Ich verstehe auch meine eigene Gehaltsabrechnung nicht. Es gibt wahrscheinlich Millionen von Menschen, die ihre eigene Lohnabrechnung nicht nachvollziehen können. Das hat nichts mit allgemeinem Kulturpessimismus zu tun, sondern: Das hat damit zu tun, dass sich in den Büros, die das machen, Leute gibt, die sich nicht in die Lage anderer versetzen, nicht gehörig in die Lage anderer versetzen … ihrer Konsumenten versetzen.“ Helmut Schmidt in einer Regierungserklärung vom 16.12.1976
User-Centered Design: So aktuell wie eh und je Inzwischen sind 35 Jahre vergangen, seit der deutsche Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt sich in einer Regierungserklärung1 über die Usability von Wasserrechnungen und Gehaltsabrechnungen echauffierte. Und doch ist das Problem ebenso wie der von Schmidt genannte Auslöser so aktuell wie eh und je. Mit seiner Behauptung, wenig benutzerfreundliche Formulare entstünden dadurch, dass die Verfasser beim Erstellen „die anderen“ gemeint sind die Konsumenten zu wenig im Fokus haben, umschreibt Schmidt zugleich ein Konzept, das heute in zahlreichen Organisationen eingeführt oder bereits erfolgreich umgesetzt wird: User-Centered Design. User-Centered Design (UCD) oder Benutzerzentriertes Design bietet als Vorgehensmodell für die Entwicklung von Informationssystemen zahlreiche Methoden, die auch oder wie gezeigt werden soll gerade im Bibliothekskontext sinnvoll eingesetzt werden können, um benutzerfreundliche Anwendungen entstehen zu lassen. 1
Quelle: Schmidt 1976.
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Steffen Weichert und Margret Plank
Dieser Beitrag beschreibt anhand eines Projekts der Technischen Informationsbibliothek (TIB)2 den Einsatz ausgewählter UCD-Methoden verbunden mit Erfahrungsberichten und Empfehlungen für den praktischen Einsatz in vergleichbaren Projekten. Die Kompetenz im Umgang mit Usability- und UCDMethoden wurde bei dem vorgestellten Projekt durch die Kooperation mit Usability-Experten der Spezialagentur für Benutzerfreundlichkeit und UserCentered Design usability.de sichergestellt. Im folgenden Abschnitt wird zunächst das Projekt vorgestellt.
Das Projekt AV-Portal Angebot, Nutzung und Bedeutung von audiovisuellen Medien (AV-Medien) im Bereich Forschung und Lehre nehmen kontinuierlich zu und nur ein verschwindend geringer Teil des Materials ist derzeit recherchierbar und nutzbar. Angesichts dieser Entwicklung möchte die TIB nutzerorientierte Schnittstellen mit einem hohen Maß an Usability schaffen, die den Benutzer bei der Veröffentlichung von und bei der Suche nach AV-Medien optimal unterstützt. Zu diesem Zweck wird an der TIB in Kooperation mit dem Hasso-Plattner Institut für Softwaresystemtechnik GmbH ein innovatives Portal zur Bereitstellung und Nutzung von audiovisuellen Medien (im Folgenden: AV-Portal) entwickelt. Das Portal ermöglicht einen webbasierten Zugang zu wissenschaftlichen AV-Medien wie z. B. Simulationen, Animationen, aufgezeichneten Experimenten, Vorlesungen und Konferenzen aus dem Bereich Naturwissenschaften und Technik. Die AV-Medien werden über das TIB-Fachportal GetInfo mit weiteren Forschungsinformationen wie digitalen Volltexten und Forschungsdaten verknüpft und durch die Vergabe von Digital Object Identifier (DOI) eindeutig referenzierbar sein. Die Übertragung verschiedener Methoden u.A. der visuellen Suche3 und der automatischen Inhaltsanalyse4 auf den Bereich der digitalen Bibliothek sind Kernfragestellungen des Projekts5. 2
3
4
5
Die Technische Informationsbibliothek (TIB) ist die Deutsche Zentrale Fachbibliothek für Technik sowie Architektur, Chemie, Informatik, Mathematik und Physik. Auf der Basis ihrer exzellenten Bestände präsentiert sich die TIB heute als eine der weltweit größten Spezialbibliotheken und leistungsfähigsten Dokumentlieferanten ihrer Fachgebiete. Unter visueller Suche werden Verfahren verstanden, die für eine Suchanfrage statt eines Suchbegriffs, eine Zeichnung oder Bild zulassen. Auf diese Weise können Benutzer Medien finden, die der Zeichnung bzw. dem Bild sehr ähneln. Mit Techniken der automatischen Inhaltsanalyse können in Filmen unter anderem Kamerabewegungen und Überblendungen erkannt werden. Auf diese Weise ist es möglich, Filme maschinell in kleinere Einheiten (z. B. Szenen) aufzuteilen oder automatisch erzeugte Video-Zusammenfassungen zu erstellen. Für 2011 ist die Weiterentwicklung des teilfunktionalen Prototyps geplant, in 2012 und 2013 der Betabetrieb und in 2014 der Vollbetrieb. Weitere Projektdetails und -fragestellungen und -ziele cf. TIB 2011.
Usability und User-Centered Design im Kontext einer wissenschaftlichen Bibliothek
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Da es sich bei den Retrieval- und Analyse-Verfahren um zum Teil wenig praxiserprobte Verfahren ohne Standards handelt, wurden darüber hinaus Forschungsfragen im Hinblick auf Usability und Usefulness6 aufgestellt. Diese lauteten unter anderem: –
–
–
–
Welche Verfahren zur Bereitstellung, Verarbeitung und Wiederauffindbarkeit von AV-Medien stehen zur Verfügung und wie erfahren sind die potentiellen Benutzer des AV-Portals im Umgang mit ihnen? Welche dieser potentiell möglichen Verfahren stellen bei der Integration in das AV-Portal einen Nutzen für die Zielgruppen und ihren Fragestellungen und Ziele dar? Wie müssen diese Verfahren im Portal umgesetzt und die Interaktion gestaltet werden, damit die Benutzer ihre Ziele gemäß der Definition von Usability „effektiv, effizient und zufriedenstellend“ (DIN 2010a) erreichen können? Um Antworten auf die genannten Fragestellungen zu erhalten, wurde im Projekt AV-Portal der Ansatz des User-Centered Design gewählt. Diese Herangehensweise sowie ausgewählte Methoden werden im Folgenden vorgestellt.
User-Centered Design im Projekt AV-Portal Grundlage für ein benutzerzentriertes Vorgehen in Projekten bildet die DIN EN ISO 9241-210 (DIN 2010b), in welcher der Prozess zur Gestaltung gebrauchstauglicher Systeme anhand von vier Prozessabschnitten beschrieben wird.7 Einen Überblick über den UCD-Ansatz gibt Abbildung 1. Die Abbildung enthält über die Zielsetzung der einzelnen Phasen hinaus die Zuordnung von vier ausgewählten Methoden, die im Projekt AV-Portal eingesetzt wurden und in den folgenden Abschnitten vorgestellt werden: Die vier Phasen und die jeweils eingesetzte Methodik im Projekt AVPortal umfassten somit: 1) Benutzer und Nutzungskontext verstehen und beschreiben (Personas) In dieser Phase des UCD-Zyklus werden die zukünftigen Benutzer des zu entwickelnden Systems näher betrachtet und beschrieben. Zentrale Fragen lauten: 6
7
Während unter Usability die Benutzerfreundlichkeit eines Systems verstanden wird, umschreibt der Begriff Usefulness den Nutzen bzw. die Nützlichkeit eines Systems oder einer Systemfunktion für einen Anwender. Beide Aspekte spielten im vorgestellten Projekt eine Rolle. Die DIN EN ISO 9241-210 ersetzte im März 2010 die bis dato gültige Norm ISO 13407. Bei der Überarbeitung wurden Inhalte aktualisiert und präzisiert. Darüber hinaus wurde das Konzept der User Experience als Ergänzung des bis dahin fokussierten Usability-Begriffs aufgenommen.
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Abb. 1: User-Centered Design Prozess im Projekt AV-Portal (nach DIN 2010b)
Wer genau sind die Benutzer? Wofür werden sie das System benutzen? Unter welchen Bedingungen und in welchem Kontext werden sie das System benutzen? Welche Ansprüche und Ziele haben Sie? Für das Projekt AV-Portal wurde in dieser Phase u.a. die Personas-Methode eingesetzt. 2) Anforderungen an das System spezifizieren (Experteninterviews) Für die Anforderungserhebung kommen in der Regel Methoden zum Einsatz, die die Anforderungen, Bedürfnisse und Ziele der Benutzer erfassen und das gesammelte Wissen so aufbereiten, dass es in der (Weiter-)Entwicklung des Systems nutzbringend eingesetzt werden kann. In dieser Phase werden außerdem projekt- oder unternehmensinterne Ziele gegenüber Benutzerzielen und technischen Möglichkeiten abgewogen. Im Rahmen des Projekts AV-Portal wurde ein Vorgehen gewählt, bei dem zunächst der State of the Art der Forschung, Funktionalitäten und technischen Möglichkeiten durch Experteninterviews erhoben wurde. Die Ergebnisse wurden später den Anforderungen der Benutzer gegenübergestellt. 3) Lösungen entwickeln (Rapid Prototyping) In dieser Phase werden Lösungen anhand von Prototypen unterschiedlichen Detailgrades iterativ entwickelt. Die verschiedenen Arten von Prototypen im Projekt AV-Portal wurden zum einen zur internen Kommunikation mit Projektbeteiligten verwendet, zum anderen dienten sie als Grundlage für die Evaluation mit Benutzern.
Usability und User-Centered Design im Kontext einer wissenschaftlichen Bibliothek 101
4) Entwickelte Lösungen evaluieren (Fokusgruppen) Durch die Evaluation mit Benutzern wird sichergestellt, dass ihre Anforderungen in den Prototypen und im finalen System optimal berücksichtigt und umgesetzt wurden. Hierzu wurden im TIB-Projekt Fokusgruppen mit Benutzern aus den unterschiedlichen Zielgruppen durchgeführt. Der Einsatz der vier Methoden Personas, Experteninterviews, Rapid Prototyping und Fokusgruppen im Projekt AV-Portal wird im Folgenden exemplarisch für die jeweilige Phase des UCD-Vorgehens vorgestellt und ihr Mehrwert im Bibliothekskontext näher betrachtet8. Empfehlungen für den eigenständigen Einsatz in vergleichbaren Projekten schließen jeden Abschnitt ab.
UCD-Methode1: Personas Beschreibung der Methode Die Personas-Methode bietet ein gutes Beispiel für einen denkbar unkomplizierten und einfachen Weg, in einem Projekt bei Projektworkshops oder Kickoff-Meetings immer eine kleine Gruppe Benutzer zu beteiligen. Bei Personas handelt es sich um fiktive, spezifische, sehr konkrete Repräsentanten der Benutzer (vgl. Pruitt 2005: 11). In einer Persona ist das Wissen über reale Nutzergruppen aggregiert und anhand von typischen Charakteristika eines konkreten Menschen visualisiert. Dieses Wissen kann entweder über User Research Verfahren (Interviews, Usability-Tests etc.) erhoben werden, oder in einem Workshop mit Benutzern bzw. unmittelbaren Schnittstellen zu Benutzern9 zusammengeführt werden. Personas helfen dabei, dass alle Projektbeteiligten von der Bibliotheksführung über die Projektleitung bis hin zu IT-Vertretern das gleiche Verständnis der zukünftigen Benutzer haben. Ziel der Persona-Methode ist es, allgemeine Formulierungen und Hypothesen über die Nutzergruppen wie z. B. „Unsere Benutzer brauchen …“ oder „Der Benutzer weiß doch gar nicht, ob …“ zu umgehen und stattdessen auf einige wenige Personas zu fokussieren. Hierzu wird eine Persona mit sehr konkreten Informationen ausgestattet, unter anderem: – –
Personalisierungsdaten, z. B. Name, Foto etc. Soziodemographische Daten, z. B. Alter, Geschlecht, Beruf, Familienstand etc.
8
Einen ausführlichen Überblick über Methoden, Rollen und Dokumente des UCDProzesses bietet Mayhew 1999. Typische Schnittstellen zu Benutzern im Bibliothekskontext bilden Mitarbeiter des Auskunfts-Teams oder Fachreferenten. Durch ihren direkten Kontakt zu Benutzern der verschiedenen Bibliotheksservices ist ihr Hintergrundwissen zu Problemen, Anforderungen und Wünschen der Benutzer sehr wertvoll.
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102 Steffen Weichert und Margret Plank – – –
Psychografische Daten, z. B. Wünsche, Werte, Lebensstil, Hobbies etc. Technografische Daten, z. B. Technische Ausstattung, Nutzungsverhalten etc. Geografische Daten, z. B. Wohnort, Land, Kultur etc.
Diese Informationen werden zur aktiven Verwendung in einem Projekt beispielsweise auf einer Folie, einem Poster oder auf Postkartengröße zusammengestellt. Auf diese Weise besteht die Möglichkeit, Personas als Vertreter der gesamten Nutzerschaft in Projektsitzungen zu beteiligen, indem man etwa vier bis fünf Persona-Poster aufhängt oder die wichtigsten Personas ausgedruckt auf den Tisch legt. Ein in der Praxis beobachteter Effekt, der hierbei eintritt, besteht darin, dass sich Formulierungen weg von allgemeinen Hypothesen („Unsere Benutzer…“) hin zu konkreten Aussagen bewegen wie z. B. „Für Herrn Höfer ist es aber wichtig, dass er die Videos nicht nur online ansehen, sondern auch in seiner Vorlesung einsetzen kann.“ Vorgehen beim Einsatz der Methode im Projekt Die Persona-Methode wurde im Projekt AV-Portal zu Beginn der Zusammenarbeit des Konzeptions- und Usability-Teams mit TIB- Projektmitarbeitern eingesetzt. Ziel war es, das verteilte Wissen über die Zielgruppen zu sammeln und Konsens über die Nutzergruppen herzustellen, die in der Konzeptionsphase berücksichtigt werden sollten. Hierzu wurde ein Persona Workshop durchgeführt, an dem zwei Usability-Experten sowie fünf Projektbeteiligte der TIB teilnahmen. Die Workshop-Teilnehmer wurden gebeten, einen aus ihrer Sicht typischen zukünftigen Benutzer des zu entwickelnden AV-Portals zu beschreiben. Hierzu wurden verschiedene menschliche Silhouetten10 als Arbeitsblatt ausgeteilt. Die zugehörige Aufgabenstellung lautete wie folgt: „Wählen sie eine Silhouette aus, die einem aus Ihrer Sicht typischen Vertreter einer Zielgruppe des AV-Portals ähnlich ist. Benennen Sie die Zielgruppe und nennen Sie einige typische Merkmale des Zielgruppenvertreters wie z. B. Alter, Berufsbezeichnung, Firma/Organisation, beruflicher Bezug zu AV-Medien etc. Fügen Sie außerdem einige persönliche Merkmale, wie Namen, Hobbies etc. hinzu.“
Anschließend stellte jeder Workshop-Teilnehmer seine Persona kurz vor und hängte das zugehörige Arbeitsblatt auf. In einem zweiten Schritt wurden die Workshop-Teilnehmer gebeten, typische Ziele und Aufgaben der zukünftigen Benutzer auf Karten zu schreiben. Die zugehörige Aufgabenstellung lautete: „Schreiben Sie auf zwei bis drei Karten jeweils eine typische Aufgabe, die ein Benutzer mit dem zu konzipierenden AV-Portal beispielsweise bearbeiten wird. Ordnen Sie die Karte den aufgehängten Persona-Silhouetten zu.“ 10 Pruitt & Adlin 2005 sprechen bei dieser Art Vorstufe zu einer konkreten Persona von „sceleton“.
Usability und User-Centered Design im Kontext einer wissenschaftlichen Bibliothek 103
Abb. 2: Im Persona-Workshop eingesetzte Silhouetten11
Die Ergebnisse des Workshops wurden von den Usability-Experten ausgewertet, die Personas weiter ausdefiniert und mit Foto- und Bildmaterial angereichert. Die finalen Personas konnten dann in einem der folgenden Konzeptionsworkshops vorgestellt und Konsens mit allen Projektbeteiligten hergestellt werden. Ein Beispiel für eine der entwickelten Personas gibt Abbildung 3. Eignung für den Bibliothekskontext Personas stellen eine gute Möglichkeit dar, bei der Neu- oder Weiterentwicklung bzw. der Überarbeitung und Optimierung von Informationssystemen den Fokus auf die Benutzer zu legen. Während Beschreibungen wie Unsere Nutzer oder Unsere Kunden nur unzureichend der Bandbreite und mitunter Komplexität der Benutzer von Bibliothekssystemen gerecht werden, helfen Personas sehr wohl dabei, diese Komplexität zu beherrschen. Der Einsatz von Personas empfiehlt sich deshalb außer für Projektkontexte wie dem des AV-Portals unter anderem für die folgenden Anwendungsfälle: –
Bei der Überarbeitung oder dem Relaunch der Bibliothekswebsite oder anderer Web-Präsenzen. Persona-Fragestellung: „Wird Markus auf dieser Website die für ihn nötigen Informationen finden?“, „Braucht Marion an dieser Stelle nicht noch die für sie wichtige Funktion ...?“
11 Die verwendeten Silhouetten basieren auf einer Vorlage von Taha 2011.
104 Steffen Weichert und Margret Plank
Abb. 3: Persona Markus Brügge Der Wissenschaftsjournalist auf der Suche nach Videomaterial zum Thema Polschmelze (Quelle: usability.de/TIB)
–
–
Bei Strategie- und Visionsworkshops, in denen Ideen für neue Bibliotheksservices entwickelt werden. Persona-Fragestellung: „Für Markus wäre es toll, wenn er in Zukunft von seinem Handy zum Standort des Buches im Regal geführt wird.“ Bei der Vorbereitung von Usability-Tests oder der Organisation von Fokusgruppen Persona-Fragestellung: „Wir brauchen noch einen Vertreter für Markus.“ Empfehlungen für die Praxis An dieser Stelle seien einige Empfehlungen für den praktischen Einsatz der Personas-Methode im Bibliothekskontext gegeben: Ɣ Verwenden Sie Bilddatenbanken mit Inhalten, die nicht von Fragen des Urheberrechts betroffen sind12, um sowohl die Persona selbst, als auch ihren privaten und beruflichen Hintergrund plastisch darzustellen. Hobbys, Lieblingsbücher, Interessen etc. müssen auf diese Weise nicht durch Text beschrieben werden und sind somit auf einen Blick erfassbar. Die Akzeptanz der Persona als „Teammitglied“ wird erfahrungsgemäß durch einen hohen Detailgrad und Realitätsnähe erhöht.
12 Geeignete Bilddatenbanken sind beispielsweise gettyimages.de oder fotolia.de.
Usability und User-Centered Design im Kontext einer wissenschaftlichen Bibliothek 105
Ɣ Formulieren Sie konkrete Bedürfnisse der Personas, z. B. das Bedürfnis Ɣ „Sicherheit“ (Wissen, wo man ist und wo man herkommt), Bedürfnis „Zeit“ (Wenige Klicks) und verbinden sie spezielle Anwendungsfälle mit einer Persona. Ɣ Kommunizieren Sie die Personas intern bei Workshops, in Gremiensitzungen oder im Intranet, um deren Bekanntheitsgrad zu steigern. Ɣ Definieren Sie in Projekten jeweils einen Verantwortlichen für jede Persona13, der sich bei Entscheidungen ggf. für ihre Bedürfnisse einsetzt. („Wenn wir diesen Weg gehen, missachten wir bewusst die Anforderungen von Markus!“).
UCD-Methode 2: Experteninterviews Beschreibung der Methode Experteninterviews dienen dazu, das projektinterne Wissen zu solchen Fragestellungen und Technologien aufzubauen, die über die Kompetenz und den Wissensstand der eigenen Mitarbeiter hinausgehen. Dazu werden Interviewteilnehmer als Spezialisten für eine bestimmte Domäne (z. B. MultimediaRetrieval, Filmportale etc.) ausgewählt, kontaktiert und strukturiert befragt. Darüber hinaus können die Experten auch in Ihrer Rolle als Schnittstellen zu Benutzern dahingehend interviewt werden, welches Wissen sie über die Anwendung und die Anwender einer bestimmten Technologie haben. Eine mögliche Interviewfragestellung dazu könnte lauten: „Sie setzen an Ihrem Institut bereits die Technologie […] ein. Welche Rückmeldung bekommen Sie von Benutzern?“ Experteninterviews ersetzen dabei nicht die direkte Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Benutzern eines Informationssystems, sondern bilden eine sinnvolle Ergänzung, um insbesondere hinsichtlich innovativer Funktionen, die die Benutzer noch nicht hinreichend kennen, offen zu sein. Würde ein benutzerzentriertes Vorgehen als ein radikal auf die Benutzer ausgerichtetes Vorgehen angewandt, wäre die Entwicklung neuer Funktionen, die dem Benutzerkreis noch nicht bekannt, für sie aber durchaus hilfreich wären, nicht möglich. Zusammenfassend lässt sich die Rolle von Experten und Benutzern beim UCD wie folgt formulieren: Experten geben einen Überblick über potentiell zur Verfügung stehende Technologien und den Forschungs- und Entwicklungsstand sowie ihre Erfahrungen im eigenen Umgang und den Rückmeldungen der Benutzer damit.
13 Pruitt 2005: 247ff. spricht in dem Zusammenhang vom Besitzer (engl. „owner“) der Persona.
106 Steffen Weichert und Margret Plank Benutzer lernen bei der Evaluation des zu entwickelnden Systems unter Umständen diese neuen Funktionen kennen und liefern eine Einschätzung zum Nutzen in ihrem Kontext und für ihre Fragestellungen. Vorgehen beim Einsatz der Methode Die Experteninterviews im Projekt AV-Portal wurden mit sechs VertreterInnen relevanter Institutionen14 telefonisch durchgeführt und dauerten ca. 60 Minuten. Sie wurden vor der Entwicklung erster Prototypen durchgeführt, protokolliert und ausgewertet. Die Interviewpartner wurden zunächst gebeten, eine Einschätzung zum Forschungsstand für das Thema Video-Retrieval abzugeben und relevante Projekte mit innovativen Suchverfahren zu benennen. Außerdem sollte bewertet werden, was ein wissenschaftliches AV-Portal von nicht-wissenschaftlich orientierten Portalen wie YouTube lernen könnte. Bei allen Interviewteilnehmern wurde erfragt, welche dem TIB-Projekt ähnlichen Projekte bekannt sind bzw. welche Suchverfahren in eigenen Projekten bereits eingesetzt werden und welche Erfahrungen hinsichtlich der Nutzung gemacht wurden. Schließlich sollten die Interview-Teilnehmer einen Bezug zum geplanten AV-Portal herstellen und begründete Empfehlungen aussprechen, welche Verfahren in den Prototypen integriert werden sollten und welche nicht. Abschließend hatten die Experten die Möglichkeit, übergeordnete Empfehlungen und Warnungen für die Konzeption und das Projekt mit auf den Weg zu geben. Im Folgenden werden einige ausgewählte Ergebnisse der Experteninterviews aufgeführt: –
–
–
Verknüpfung von Videos mit anderen Medien im Kontext wichtig: Die Experten empfahlen, ein Portal zu konzipieren, bei dem die auffindbaren AV-Medien gut mit z. B. textuellen Medien verknüpft sind. Insbesondere eine Verknüpfung zu Publikationen, in denen Videos zitiert werden, als auch zu den zum Video gehörenden Forschungsdaten sei entscheidend. Geeignete Ergebnispräsentation zentral für die Relevanzbeurteilung durch die Benutzer: Neben der Suchanfrage sei es essentiell, Lösungen für die Ergebnispräsentation zu konzipieren. Hierfür wurden von den Interviewteilnehmern verschiedene Verfahren vorgeschlagen, die es aus ihrer Erfahrung den Benutzern erleichtern, schnell zu entscheiden, ob ein Video relevant für ihre Fragestellung ist oder nicht. Genannte Verfahren waren unter anderem eine automatisch erzeugte Videozusammenfassung, sowie statische Bilder, die die Kapitel des Videos repräsentieren. Spracherkennung bietet nützliche und verwendbare Ansätze: Die Experten betonten, dass der Forschungsbereich Spracherkennung bereits einige
14 Für den Kontext AV-Medien wurden Interviewpartner an wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen, Filminstituten, wissenschaftlichen Bibliotheken und Hochschulen ausgewählt.
Usability und User-Centered Design im Kontext einer wissenschaftlichen Bibliothek 107
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gute einsetzbare Verfahren hervorgebracht habe, die auch im Kontext AVPortal eine Rolle spielen. So könnte der Audio-Inhalt eines Videos gleichzeitig als Text zur Navigation zur Verfügung gestellt werden. Community-Features im wissenschaftlichen Kontext teilweise schwierig: Die interviewten Teilnehmer waren nicht alle der gleichen Meinung, was die Integration von Community-Features wie Kommentar- oder TaggingFunktion in einem Portal angeht, das sich primär an Wissenschaftler wendet. Während einige Experten die Integration begrüßten, warnten andere davor, dass die Einbeziehung von Community-Funktionen immer auch Moderation voraussetze, die Moderation von Wissenschaftlern jedoch Schwierigkeiten mit sich bringe. Obwohl also das Teilen und gegenseitige Kommentieren von Wissen gerade im wissenschaftlichen Kontext eigentlich gewollt sein müsse, äußerten sich einige Experten demgegenüber skeptisch.
Auf Basis der ausgewerteten Ergebnisse aus den Experteninterviews, wurden die Inhalte, Anforderungen und zu integrierenden Funktionen für einen ersten Prototypen abgeleitet. Die folgenden Funktionen wurden im ersten Entwurf integriert: – – – –
– – –
Verknüpfung der Medien mit dem Kontext z. B. Volltexten oder Forschungsdaten Möglichkeit der medienübergreifenden Suche Verschiedene visuelle Suchfunktionen wie z. B. ähnlichkeitsbasierte Suche15 Visuelles Inhaltsverzeichnis, das auf der Basis von Strukturerkennung das AV-Medium in Szenen unterteilt und eine Navigation innerhalb der Objekte ermöglicht Fassettenbasierte Suche16 Abbildung des Sprechertextes auf der Basis von automatischer Spracherkennung zum Auffinden einer konkreten Bildsequenz Community-Funktionen wie Benutzerprofil anlegen, Tagging, Bewertungen, Empfehlungen etc.
Eignung für den Bibliothekskontext Experteninterviews eignen sich immer dann besonders gut für den Einsatz im Bibliothekskontext, wenn neue Services auf der Basis innovativer Verfahren aus der Forschung entwickelt und in die Praxis der digitalen Bibliothek überführt werden sollen. 15 Die ähnlichkeitsbasierte Suche ermöglicht es beispielsweise zu einem Bild oder einer Graphik ähnliche Bilder oder Graphiken zu finden. 16 Unter einer Facettenbasierten Suche wird eine Filtermöglichkeit verstanden, mit deren Hilfe Benutzer ihre Suchergebnisse nach bestimmten Kriterien filtern können.
108 Steffen Weichert und Margret Plank Empfehlungen für die Praxis Ɣ Setzen Sie Experteninterviews insbesondere dann ein, wenn Sie bekannte Wege verlassen und Sie neue Verfahren, Services oder Technologien in Ihren Bibliothekskontext integrieren möchten. Wenn Sie beispielsweise in Betracht ziehen, verstärkt auf Social Media zu setzen, können Sie über Experteninterviews mit Web2.0-Spezialisten Erfahrungswissen aufbauen und nutzen. Ɣ Lassen Sie die Interviews durch einen erfahrenen Interviewer durchführen. Ɣ Entwickeln Sie einen Interviewleitfaden, anhand dessen alle Projektbeteiligten überprüfen können, ob die wesentlichen Fragen berücksichtigt sind. Ɣ Wägen Sie ab, ob Sie die Interviewfragen den Interviewteilnehmern zur Vorbereitung vorab zusenden.
UCD-Methode 3: Rapid Prototyping Beschreibung der Methode Rapid Prototyping umschreibt ein Verfahren, das die unkomplizierte und regelmäßige Entwicklung von Prototypen zum Kern hat. Bei der Konzeption von Informationssystemen wird diese Methodik u.a. eingesetzt, um die Systemanforderungen abzubilden, kurzfristiges Feedback von Benutzern einzuholen, oder die Kommunikation zwischen Projektbeteiligten, Benutzern und Entwicklern zu vereinfachen (vgl. Hoyos 1987: 329ff.). Ziel ist es dabei, mit geringem Aufwand eine Visualisierung von Ideen, Funktionen und Inhalten entstehen zu lassen. Diese können durch die graphische Verankerung in einem Prototypen mit Projektbeteiligten und Benutzern diskutiert und schrittweise optimiert werden. Je nach Detailgrad der Prototypen und je nachdem wie ähnlich er der fertigen Anwendung ist, wird zwischen Low-Fidelity Prototypen und HighFidelity-Prototypen unterschieden. Für die verschiedenen Arten von Prototypen existieren diverse Begriffe, von denen an dieser Stelle drei genannt und erläutert werden sollen: Papierprototypen: Der Papierprototyp stellt eine einfach zu erstellende Prototypenvariante dar, für den lediglich Papier und Stift zum Einsatz kommen, um den Aufbau einer Seite grob zu skizzieren. Wireframes (dt. etwa: „Drahtgitter“): In einem Wireframe17 sind bereits die wesentlichen Bestandteile einer einzelnen Seite skizzenhaft erfasst. Im Unterschied zum Papierprotypen wird ein Wireframe in der Regel mit einer Prototyping-Software erstellt und liegt digital vor. Es kommen für die Entwicklung von Wireframes noch keine Farben oder finalen Designelemente zum Einsatz. 17 Als Synonym für Wireframes findet sich außerdem der Begriff Mock-up.
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Clickdummy: Ein Clickdummy wird erstellt, indem einzelne Wireframes miteinander verlinkt werden18. Der Wireframe einer Systemstartseite kann beispielsweise wesentliche Navigationseinträge verlinken, so dass bei einem Mausklick auf den Menüpunkt ein weiterer Wireframe aufgerufen und dargestellt wird. Durch den Clickdummy kann somit die Navigations- und Informationsarchitektur des Systems dargestellt und mit Benutzern getestet werden. Ein wesentlicher Vorteil von Prototypen besteht darin, dass Designentscheidungen bewusst ausgelagert werden und stattdessen Fragen des Layouts, des Inhalts, der Funktionen und der Struktur vorab geklärt werden. Darüber hinaus bieten Prototypen die Möglichkeit, mit allen Projektbeteiligten über das System und den Stand der Konzeption zu kommunizieren sowie Benutzerfeedback beispielsweise durch Einzelinterviews, Usability-Tests oder Fokusgruppen einzuholen. Anpassungen des Prototypen sind insbesondere im Vergleich zur Anpassung bereits implementierter Systeme denkbar unaufwendig: Papierprototypen können problemlos verworfen werden, wenn sich eine Idee als nicht nützlich für die Benutzer herausstellt. Auch Usability-Probleme bei der Interaktion können auf Basis von ersten Prototypen bereits identifiziert und durch iterative Anpassung noch vor der Programmierung behoben werden. Neben der Möglichkeit Papierprototypen mit Papier und Stift zu erstellen, existieren inzwischen verschiedene Prototyping-Tools speziell für die Wireframeerstellung für unterschiedliche Zielgruppen und Projektfragestellungen, so dass Prototyping nicht mehr allein Usability-Experten mit entsprechenden Kompetenzen überlassen ist. Vorgehen beim Einsatz der Methode Im Projekt AV-Portal wurden zunächst Papierprototypen erstellt, auf denen das grundsätzliche Layout des AV-Portals angelegt und mit Projektbeteiligten diskutiert wurde. Einen solchen Papierprototypen zeigt Abbildung 4.
Abb. 4: Papierprototyp für den Ausschnitt Suche mit Zeichnung (Quelle: usability.de/ TIB)
18 Sobald im Projektverlauf auch Designentwürfe für das System vorhanden sind, können diese Screens außerdem zu einem graphischen Clickdummy verlinkt werden.
110 Steffen Weichert und Margret Plank Diese Papierprototypen dienten vor allem dem Konzeptionsteam für erste Überlegungen zum grundsätzlichen Aufbau der einzelnen Portalseiten. Aufbauend auf den Papierprototypen wurden in einem weiteren Schritt Wireframes für die wichtigsten Seiten des AV-Portals entwickelt (Startseite, Suchergebnisseite, Bereitstellung von Videos, Video-Upload u.a.). Ein Beispiel für einen entwickelten Wireframe bietet Abbildung 5.
Abb. 5: Wireframe für den Ausschnitt Video-Upload (Quelle: usability.de/TIB)
Haupteinsatzzweck der Wireframes bestand in der Kommunikation mit verschiedenen Projektbeteiligten. Anhand der Wireframes konnten Detailfragen zu Funktionen wie Suchanfrage, Ergebnisrepräsentation oder Aufbau der SuchFilter projektintern diskutiert und iterativ optimiert werden. Hierzu wurden die Wireframes über das Internet zentral verfügbar gemacht, so dass alle Projektbeteiligten Zugriff hatten und dem Konzeptionsteam Feedback geben konnten. Für eine detaillierte Besprechung der Wireframes wurden darüber hinaus Workshops durchgeführt.
Usability und User-Centered Design im Kontext einer wissenschaftlichen Bibliothek 111
Da im AV-Portal die Interaktion mit den innovativen Verfahren der visuellen Suche ein zentraler Aspekt für die Frage nach dem Nutzen und der Usability war, wurde in einem weiteren Schritt ein Clickdummy auf Basis der Wireframes entwickelt (Abbildung 6).
Abb. 6: Teilfunktionaler Prototyp des AV-Portals in der Ansicht „Ergebnisliste“
In diesem Clickdummy wurden Verlinkungen deutlich hervorgehoben und erste Repräsentanten für echte Datensätze integriert, so dass die wichtigsten Prozesse, wie z. B. die Suche nach einem Medium oder das Hochladen eines Films, abgebildet waren. Der Clickdummy wurde für die Evaluation mit Benutzern in Fokusgruppen eingesetzt. Eignung für den Bibliothekskontext Der Einsatz von Prototypen empfiehlt sich für die Neu- oder die Weiterentwicklung von Informationssystemen im Bibliothekskontext sehr. Häufig wird bei Projekten zur Entwicklung von Informationssystemen zu früh auf Design-
112 Steffen Weichert und Margret Plank Entwürfe oder gar die Implementierung des finalen Systems gesetzt. Sinnvoll ist hingegen die Umsetzung von Benutzeranforderungen zunächst in Papierprototypen und später in Wireframes und Clickdummys, sowie die iterative Evaluation und Optimierung unter Einbeziehung der zukünftigen Benutzer. Aufgrund der Verfügbarkeit von Testpersonen empfiehlt sich der Einsatz von Protoypen im Bibliothekskontext auch deshalb, weil problemlos mit kleinen Benutzergruppen erste Ideen oder Funktionen überprüft werden können. Während der Evaluation in anderen Kontexten oft zu wenig Zeit eingeräumt wird, weil die Rekrutierung geeigneter Testpersonen vermeintlich viel Aufwand bedeutet, lässt sich im Bibliothekskontext nicht leugnen, dass sich Testpersonen oft nur wenige Räume entfernt befinden. Diese Chance sollte genutzt und mit Prototypen verschiedener Stadien (Papierprototypen, Wireframes, Clickdummy) getestet und iterativ optimiert werden. Empfehlungen Ɣ Identifizieren Sie Projektmitarbeiter, die gerne zeichnen und visuell arbeiten. Häufig stellt sich sehr schnell heraus, wer bei einer Problembeschreibung oder einer Idee zu Stift und Flipchart greift. Dies sind oft die geeigneten Kollegen für die Erstellung von Papierprototypen. Ɣ Arbeiten Sie kollaborativ: Ein erster Entwurf mit Papier und Stift eines Projektbeteiligten während eines Workshops kann ggf. durch weitere Kollegen ergänzt oder verfeinert werden. Ɣ Scannen Sie erstellte Papierprototypen ein, fotografieren Sie sie ab oder übertragen Sie die aus Ihrer Sicht wichtigen Iterationsstufen eines Papierprototypen mit Hilfe eines einfachen Prototyping-Tools in einen Wireframe, um ihn auch digital zur Verfügung stellen zu können, z. B. über einen Projekt-Mailverteiler oder einen geschützten Serverbereich. Ɣ Lernen Sie, Prototypen wegzuwerfen: Nichts fällt schwerer, als eigene Arbeit wortwörtlich in den Papierkorb zu verwerfen. Eine zentrale Eigenschaft von Prototypen besteht jedoch darin, dass sie ggf. schnell angepasst oder bei entsprechender Indikation vollständig verworfen werden können, um Platz für einen neuen Entwurf zu machen. Ɣ Testen Sie früh, vermeiden Sie Überraschungen: Scheuen Sie sich nicht, bereits mit ersten Papierprototypen ein Benutzerfeedback einzuholen. Wenn Sie für verschiedene Prozessschritte eines Systems Papierprototypen vorliegen haben, besteht sogar die Möglichkeit, bestimmte Stellen (z. B. einen gezeichneten Button) durch die Benutzer „anklicken“ zu lassen und die nächste Seite in Form eines weiteren Papier-Entwurfs anzuzeigen19. 19 Verfahren, bei denen die Interaktion eines Systems durch Menschen simuliert wird, werden auch als Wizard-of-Oz-Verfahren bezeichnet.
Usability und User-Centered Design im Kontext einer wissenschaftlichen Bibliothek 113
Ɣ Drucken Sie die Wireframes für die Evaluation mit Benutzern aus und stellen Sie einen Stift zur Verfügung: Häufig ist zu beobachten, dass bei Wireframe-Tests mit Wireframes, die Testteilnehmer zum bereitgelegten Stift greifen, um eigenen Ideen direkt in den Wireframe zu skizzieren.
UCD-Methode 4: Fokusgruppe Beschreibung der Methode Bei einer Fokusgruppe handelt es sich um eine moderierte Gruppendiskussion zu einem bestimmten Thema. Die Diskussion wird dabei so moderiert, dass Anregungen aus der Benutzergruppe über Gestaltungsvarianten oder Inhalte, aber auch Bedenken und Akzeptanzkriterien aufgenommen werden können. Typischerweise werden Fokusgruppen eingesetzt, um Prototypen eines Systems zukünftigen Benutzern vorzustellen und eine frühe Rückmeldung zu Usability und Usefulness zu erhalten. Ein erfahrener Moderator sorgt dabei für einen konstruktiven und ergebnisorientierten Verlauf. Vorgehen beim Einsatz der Methode im Projekt Zur Evaluation mit Benutzern wurden im Rahmen des Projekts AV-Portal zwei Fokusgruppen durchgeführt. Der Prototyp wurde mit je einer Fokusgruppe aus dem Bereich Physik und Maschinenbau von insgesamt 15 Teilnehmern evaluiert. Für die Zusammensetzung der Fokusgruppen wurden Teilnehmer entsprechend den Zielgruppen der TIB aus den Bereichen Industrie, Forschung und Lehre rekrutiert.20 Im Vorfeld der Fokusgruppe wurde ein Gesprächsleitfaden entwickelt, der die zu diskutierenden Themen sowie Zeitangaben für jeden thematischen Block enthielt. Nachdem sich die Fokusgruppenteilnehmer zu Beginn der Fokusgruppe zunächst kurz vorgestellt hatten und einige Informationen zu ihrem Bezug zum Thema AV-Medien ausgetauscht hatten wurde der erste Block der Fokusgruppe durch den Moderator eingeleitet: Ohne, dass die Teilnehmer den Prototypen des zu evaluierenden Portals gesehen hatten, wurden sie gebeten ihre Einschätzung zum Nutzen eines AV-Portals für ihren Hintergrund zu äußern und zu diskutieren. Danach zeigte der Moderator zunächst die Startseite des Clickdummys. Damit die Teilnehmer jedes Detail gut erkennen konnten, wurde der Prototyp auf 2 Bildschirmen gezeigt. Nach einer grundlegenden Diskussion zu Aufbau und Funktionen der Startseite stellte der Moderator die verschiedenen 20 Die Fokusgruppen setzen sich aus wissenschaftlichen Mitarbeitern (3), Doktoranden (2), Lehrkraft für besondere Aufgaben (1), akademischem Oberrat (1), Studenten (3), technischen Angestellten (1), Diplom Bibliothekaren (1) und Ingenieuren (3) zusammen.
114 Steffen Weichert und Margret Plank Suchmöglichkeiten vor, die der Prototyp des AV-Portals bot: Suche mit Text, Suche mit Bild, Suche mit Zeichnung. Hierbei wurde zunächst überprüft, welche Begriffe bekannt oder selbsterklärend sind und welche nicht. Einen weiteren Schwerpunkt der Fokusgruppe bildete die Besprechung der Video-Detailseite, da diese außer den Metadaten zu einem gefundenen Video auch innovative Möglichkeiten zur Navigation und Orientierung im Video enthielt. Abschließend wurde von den Teilnehmern die Integration von Tagging, Benutzerprofil, Empfehlungen und Bewertungen diskutiert. Im Folgenden werden einige ausgewählte Ergebnisse der Fokusgruppen aufgeführt: –
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Zugang zu den Medien allein über die Suche für die Benutzer noch nicht ausreichend: Die Teilnehmer erwarteten auf der Startseite des AVPortals weitere Zugänge zu den AV-Medien (z. B. Stöberfunktion, Einstieg nach Themen oder Einstieg nach Zielgruppen). Innovative Suchmöglichkeiten (Suche über Text, Bild, Zeichnung) bieten hohen Nutzen: Die Teilnehmer zeigten sich sehr offen für innovative Suchmöglichkeiten (Suche mit Bild, Suche mit Zeichnung) und nannten konkrete Szenarien aus ihrer Arbeit, in denen diese Techniken einen Mehrwert darstellen. Vermisst wurde jedoch eine Möglichkeit, die verschiedenen Arten der Suche zu kombinieren, z. B. Suche über ein hochgeladenes Bild kombiniert mit einem Suchterm. Nutzen der innovativen Navigationsmöglichkeiten innerhalb eines Videos wird als hoch eingeschätzt: Die Möglichkeit der Navigation im Video über den automatisch erstellten und neben dem Video abgebildeten Audiotext war für die Benutzer überwiegend unbekannt, wurde jedoch als sehr hilfreich eingeschätzt. Faceted Search wird positiv bewertet: Der Aufbau des Filters wurde von allen Teilnehmern begrüßt und nur kleinere Optimierungen vorgeschlagen. So wünschten sich die Teilnehmer beispielsweise die Möglichkeit, die Ergebnisliste nach Herkunft des Mediums z. B. Institute filtern zu können. Benutzergenerierte Inhalte/Web2.0: Die Teilnehmer waren gegenüber den meisten reinen Community-Features (wie Profile, Vernetzung mit anderen etc.) ebenso wie die Experten der Experteninterviews eher skeptisch eingestellt. Diskutiert wurde beispielsweise die Notwendigkeit einer Kontrollinstanz für das Thema Tagging: Konsens der teilnehmenden Benutzer: „Nutzertags sind wichtig, sollten aber nicht ungefiltert und unkontrolliert vergeben werden können.“
Aufbauend auf den Ergebnissen wurden verschiedene Optimierungen an den Prototypen vorgenommen: Die drei im Prototyp angebotenen Suchmöglichkeiten21 21 Als Optionen für die Suche wurden die folgenden drei Möglichkeiten hinterlegt: Key-
Usability und User-Centered Design im Kontext einer wissenschaftlichen Bibliothek 115
wurden miteinander verknüpft und weitere Zugänge zu Ergebnissen auf der Startseite integriert (z. B. Stöbern, Einstieg nach Themen/Zielgruppen/…). Auch die von den Benutzern vermissten Kanäle wurden in das Konzept und den Prototypen eingefügt. Ein gutes Beispiel für eine denkbar unaufwendige und schnelle Optimierung stellte auch die Vergrößerung des Vorschaubildes dar. Eine solch „kleine“ Anpassung hätte nach der Implementierung einen hohen zeitlichen und monetären Aufwand bedeutet. Weitere Optimierungen nach der Fokusgruppe umfassten u.a. die differenziertere Darstellung der Bewertung von Filmen (Bewertung der Filmqualität vs. Bewertung der wissenschaftlichen Qualität etc.) sowie die Möglichkeit eigene Videos selbst in Kapitel zu segmentieren. Der optimierte Prototyp wurde in einem Workshop vorgestellt und steht nunmehr für die Weiterentwicklung und für die Durchführung weiterer Tests zur Verfügung. Eignung für den Bibliothekskontext Fokusgruppen sind für den Bibliothekskontext aus mehreren Gründen gut geeignet: Ein Gruppenraum, der ca. 10-12 Personen fasst und eine Möglichkeit der Projektion bietet, ist oftmals in einer Bibliothek vorhanden. Ein großer Vorteil besteht in der einfachen Rekrutierung von Teilnehmern für die Fokusgruppe. Da es sich bei der gesuchten Zielgruppe von Informationssystemen einer wissenschaftlichen Bibliothek in der Regel um Kunden, Mitarbeiter, Studenten oder Lehrpersonal handelt, können die Fokusgruppenteilnehmer u.a. über einen der folgenden Wege rekrutiert werden: – – – –
Persönlicher Kontakt z. B. Scientific Community oder Industrie Aushang am schwarzen Brett Aufruf über die Bibliothekswebsite und das Mitarbeiter-Intranet Aufruf über den Twitter-Kanal oder die Facebook-Seite der Bibliothek Empfehlungen Ɣ Setzen Sie einen erfahrenen Moderator für die Durchführung der Fokusgruppe ein. Ɣ Erstellen Sie für die Fokusgruppe einen Diskussionsleitfaden, der die wichtigsten Fragestellungen, Diskussionspunkte und Themen enthält. In diesem Leitfaden sollten auch die maximal eingeplante Zeit pro Thema festgelegt sein. Ɣ Bereiten Sie eine Aufwandsentschädigung (z. B. einen Snack im Café) für die Teilnahme an der Fokusgruppe vor. wordbasiert (Suchanfrage als Text), Query-by-example (Suchanfrage über ein hochgeladenes Beispielbild) und Query-by-sketch (Suchanfrage über eine Zeichnung).
116 Steffen Weichert und Margret Plank Ɣ Bereiten Sie wichtige Ausschnitte des zu evaluierenden Prototypen als Ausdruck für jeden Teilnehmer vor. Ɣ Legen Sie außerdem Papier und Stifte bereit und animieren Sie die Teilnehmer ggf. selbst Lösungen oder ideale Funktionen zu skizzieren. Ɣ Wägen Sie ab, ob eine Audio-/Video-Aufzeichnung der Fokusgruppe für die Auswertung hilfreich ist. Bereiten Sie im Falle einer Aufzeichnung eine entsprechende Datenschutzerklärung für die Teilnehmer vor.
Zusammenfassung Wie gezeigt wurde, existieren verschiedene Methoden des User-Centered Design, deren Einsatz sich für die Entwicklung von Informationssystemen im Bibliothekskontext hervorragend eignen. Auch der Einsatz in verwandten Projekten ist problemlos möglich. Dies gilt vor allem dann, wenn es sich um eigenentwickelte Informationssysteme wie Fachportale oder Internetseiten handelt: Gerade in einem Umfeld wie dem einer Bibliothek, in welchem sich Entwickler und Anwender eines Systems oft im gleichen Haus befinden, lässt sich schwer rechtfertigen, den Fokus an den entscheidenden Stellen nicht auf die Benutzer zu legen. Während die benutzerzentrierte Entwicklung im Bibliothekskontext somit eine grundsätzliche Empfehlung darstellt, sollte im Detail abgewogen werden, welche Methoden eingesetzt werden. Die vier hier vorgestellten Ansätze dienen dabei als Orientierung und sollten ggf. durch vergleichbare Methoden ersetzt oder ergänzt werden, sofern es der Projekthintergrund verlangt. Die Durchführung von Fokusgruppen könnte sich beispielsweise schwierig gestalten, wenn die Zielgruppe nicht zu einem Termin zusammenzubringen ist22. In diesem Fall stellen jedoch strukturierte Einzelinterviews zu den verschiedenen Prototypen eine gute Alternative dar. Ein großer Vorzug der benutzerzentrierten Herangehensweise besteht in der Methodenvielfalt, die von sehr einfachen und eigenständig einsetzbaren Ansätzen bis hin zu Expertenmethoden23 reicht. Es ist insofern weniger die Frage, ob ein benutzerzentriertes Vorgehen überhaupt sinnvoll und praktikabel ist. Vielmehr gilt es, die geeigneten Methoden für das eigene Projekt auszuwählen und Sicherheit im Umgang damit zu erreichen. Auf diese Weise hat das benutzerzentrierte Vorgehen im vorgestellten Projekt AV-Portal einen Prototypen hervorgebracht, der auf innovative Retrieval22 Dieses Problem besteht insbesondere bei zeitlich eingespannten Benutzern, beispielsweise, wenn es sich um die Entwicklung eines Informationssystems für das Bibliotheksmanagement handelt. 23 Zu den nicht ohne weiteres eigenständig einsetzbaren Methoden zählt etwa der UsabilityTest. Für diese Methode sollte eine kurze Schulung durch Usability-Experten vorgesehen werden, um die speziellen Anforderungen an die Moderation zu erlernen.
Usability und User-Centered Design im Kontext einer wissenschaftlichen Bibliothek 117
Techniken setzt und zugleich die Anforderungen der verschiedenen Benutzergruppen an den Funktionsumfang des Systems und die Usability optimal berücksichtigt.
Ausblick Auch in Zukunft wird die Weiterentwicklung des AV-Portals mit Methoden des benutzerzentrierten Designs begleitet. Während der Schwerpunkt der Fokusgruppen eher auf der Erhebung der Usefulness lag, soll in einem folgenden Schritt vor allem die konkrete Interaktion mit dem AV-Portal detailliert evaluiert werden. Obwohl beispielsweise der Filter für die Suchergebnisliste von den Fokusgruppenteilnehmern sehr positiv („nützlich“ / „hilfreich“) bewertet wurde, kann die reibungslose Verwendung des Filters im Detail noch nicht sichergestellt werden. Deshalb werden in der kommenden Projektphase umfangreiche Usability-Tests in mehreren Iterationen stattfinden. Der Prototyp wird dann erneut auf Basis der Ergebnisse der Evaluation weiterentwickelt und dient schließlich als Vorlage für die Programmierung. Dabei wird die TIB stets eines zum Ziel haben: Sich nicht nur „in die Lage ihrer Kunden“ zu versetzen, sondern diese im Sinne des User-Centered Designs direkt in die Entwicklung mit einzubeziehen: Ganz im Sinne Helmut Schmidts und nicht zuletzt der Zielgruppen der Technischen Informationsbibliothek.
Literaturverzeichnis DIN EN ISO 9241-11: Anforderungen an die Gebrauchstauglichkeit - Leitsätze. ISO, 2010 DIN EN ISO 9241-210: Prozess zur Gestaltung gebrauchstauglicher interaktiver Systeme. ISO, 2010 Hoyos, C. G; Gstalter H., Strube V. und Zang B. Software-design with the Rapid-Prototyping Approach: A Survey and some empirical Results. In: Cognitive Engineering in the Design of Human-Computer Interaction and Expert Systems, Salvendy G. (Hrsg.). Elsevier,1987. Kompetenzzentrum für multimediale Objekte (KMO). http://www.tib-hannover.de/de/die-tib/ kompetenzzentrum-fuer-multimediale-objekte-kmo/ (9.6.2011) Mayhew, D.J.: The usability engineering lifecycle. Morgan Kaufmann, 1999 Pruitt, John; Adlin, Tamara: The Persona Lifecycle: A Field Guide for Interaction Designers. Keeping People in Mind Throughout Product Design. Morgan Kaufmann, 2005 Schmidt, Helmut: Regierungserklärung, Plenarprotokoll 08/5 16.12.1976 8. Wahlperiode, 5. Sitzung, S 31. Taha, Mohammed: Mixed Silhouettes. http://teach-me-freedom.deviantart.com/gallery/#/ d1iqynj (9. 6. 2011)
6. Das Wissensportal der ETH-Bibliothek – ein Fallbeispiel für User-Centered-Design Arlette Piguet Einführung Die Bibliothek der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich hat seit Mitte des Jahres 2010 einen neuen Internetauftritt (www.library.ethz.ch): Das „Wissensportal“ der ETH-Bibliothek bietet über einen Single-Point-of-Access einen neuartigen Zugang zu den heterogenen Informationsressourcen und Dienstleistungen der technisch-naturwissenschaftlich ausgerichteten Hochschulbibliothek. Es integriert diverse elektronische Informationsangebote in einem zentralen Rechercheinstrument und bindet dieses nahtlos in die Website mit allen Dienstleistungen der ETH-Bibliothek ein. Das neue Portal war bei den Kunden von Beginn an sehr beliebt und ist heute nicht mehr wegzudenken. Die Qualitätsansprüche an das neue Angebot wurden hoch angesetzt, wobei die Bedürfnisse des heterogenen Zielpublikums klar im Zentrum standen. Ein ansprechendes Design und eine intuitive Benutzung des Wissensportals gehörten zu den wichtigsten Projektzielen. In diesem Beitrag werden die einzelnen Schritte skizziert, die nötig waren, um ein möglichst optimal auf die Bedürfnisse der Nutzer-Community abgestimmtes Portal zu erarbeiten. Doch wer sind diese Nutzer? Welche spezifischen Bedürfnisse an das Online-Angebot einer Hochschulbibliothek haben sie und wie nutzen sie dieses? Wie lassen sich diese Anforderungen überhaupt ermitteln, und wie können die identifizierten Bedürfnisse mit einem adäquaten Design und benutzerfreundlichen Funktionalitäten in die Praxis umgesetzt werden?
User-Centered-Design: ein kurzer Blick in die Theorie Der Ansatz des User-Centered-Designs geht unter anderem auf Arbeiten von Gould und Lewis zurück1. Bei dieser Herangehensweise stehen die Benutzerbedürfnisse sowie das Design für die intuitive und einfache Bedienung eines Produktes – das die Interaktion von Mensch und Maschine erlaubt – im Zentrum2. 1 2
Vgl. hierzu etwa: Gould und Lewis (1985). Weitere Arbeiten zum Thema vgl. etwa: Normann (1998) oder Jordan (1998).
120 Arlette Piguet Das Produkt kann beispielsweise eine Website sein, zu deren benutzerfreundlichen Bedienung auch eine auf den ersten Blick erfassbare Struktur sowie dem Medium angepasste Texte gehören. Im Bibliotheks- und Informationsbereich hat das User-Centered-Design auch große Relevanz für Rechercheinstrumente. Für die Durchführung des benutzerorientierten Gestaltungsprozesses haben sich mehrere Evaluationsmethoden durchgesetzt, die insbesondere auch vom langjährigen Usability-Experten Jakob Nielsen mitgeprägt wurden. Eine Hilfestellung für die Entwicklung von Software dazu gehören auch Websites – bietet beispielsweise aber auch die Norm ISO 13407 aus dem Jahr 19993. Die Beteiligung der zukünftigen Nutzer im gesamten Entwicklungsprozess des Produktes ist ein wesentlicher Kern zahlreicher Verfahren. Die Kenntnis und die Orientierung an den Aufgaben, Zielen sowie Fähigkeiten und Grenzen der potenziellen Nutzer sind von Beginn an unumgänglich. Der gesamte Entwicklungsprozess verläuft denn auch kooperativ und iterativ: Erste auf der Basis vom Nutzeranalysen und Interviews erarbeitete Prototypen – allenfalls lediglich auf Papier skizziert werden mit potenziellen Nutzern getestet, auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse adaptiert und allenfalls erneut getestet. Die Anzahl der Zyklen hängt im Allgemeinen von der Komplexität des Anwendungsgebietes ab. Mit diesem Entwicklungsprozess kann die Qualität des Interface deutlich gesteigert werden.
Abb. 1: Der User-Centered-Design-Prozess nach ISO 13407; angelehnt an eine Präsentation von Hauri, Ergonomie & Coaching GmbH (http://www.chauri.ch/)
3
Deutsche Fassung: EN_ISO_13407: 1999.
Das Wissensportal der ETH-Bibliothek – ein Fallbeispiel für User-Centered-Design 121
Im Gegensatz zu den subjektiven Evaluationsmethoden, die unmittelbar an die Beurteilung des Benutzers anknüpfen und somit eher „weiche Daten“ liefern, werden bei den objektiven Evaluationsmethoden quantitative Daten erhoben. „Zwischen den subjektiven und objektiven Methoden liegen die analytische (leitfadenorientierte) Evaluation durch Experten und die empirische Evaluation (usability assessed by testing the interface with real users).4“ Die Wahl einer spezifischen Evaluationsmethode hängt von mehreren Fragestellungen ab, u.a. vom Ziel der Evaluation, der Information die gesammelt werden soll oder auch von den verfügbaren Ressourcen5. Oberstes Ziel bleibt es immer, die Software an die Bedürfnisse der Benutzer anzupassen.
Die ETH-Bibliothek – eine innovative Dienstleistungseinrichtung Die ETH-Bibliothek ist die zentrale Hochschulbibliothek für die ETH Zürich. Als grösste Bibliothek der Schweiz mit einem Bestand von rund 7,6 Mio. Einheiten nimmt sie auch die Aufgabe eines nationalen Zentrums für naturwissenschaftliche und technische Information wahr. Zu den Forschungsschwerpunkten der ETH Zürich gehören die Ingenieurwissenschaften, die Architektur, die systemorientierten Wissenschaften sowie Mathematik und die Naturwissenschaften. Die ETH-Bibliothek nimmt für diese Fachgebiete somit auch die Rolle einer Spezialbibliothek ein. Naturgemäss zählen die Angehörigen der Hochschule, also Wissenschaftler sowie Studierende, zum primären Zielpublikum der ETH-Bibliothek6. Als Institution mit öffentlichem Auftrag versorgt sie aber auch Kunden aus der Industrie sowie die wissenschaftlich interessierte Öffentlichkeit mit Informationen. Da die ETH-Bibliothek über ein umfassendes Informationsangebot verfügt, benutzen selbstverständlich auch Studierende sowie das wissenschaftliche Personal von anderen Schweizer Bildungseinrichtungen die ETH-Bibliothek. Besondere Schwerpunkte liegen im Bereich elektronischer Informationsangebote sowie in der Entwicklung und Realisierung innovativer Dienstleistungsangebote. Zum aktuellen Online-Angebot zählen der Katalog sowie eine sehr umfassende Anzahl an lizenzierten Fachdatenbanken, elektronischen Zeitschriften und zunehmend auch an Büchern in elektronischer Form. Darüber hinaus digitalisiert die ETH-Bibliothek seit mehreren Jahren schweizerische Zeitschriften, alte Drucke sowie Bilder und stellt diese Materialien kostenlos weltweit über geeignete Plattformen online zur Verfügung. Der bereits seit rund zehn Jahren angebotene Dokumentenserver wird seit kurzem durch eine 4 5 6
So: Hegner (2003). Vgl. hierzu: ebenda. Die ETH Zürich zählt rund 16 000 Studierende, 400 Professoren sowie über 7000 wissenschaftliche Mitarbeitende und administratives Personal.
122 Arlette Piguet Hochschulbibliographie ergänzt. Die Heterogenität dieses umfassenden Angebotes hat auch eine Kehrseite: die Benutzung ist relativ komplex und vor allem für gelegentliche Nutzer ist es nicht einfach, sich im Angebot zurechtzufinden. Es ist davon auszugehen, dass insbesondere im Wissenschaftsbereich in den nächsten Jahren die Informationsversorgung noch verstärkt und allenfalls sogar ausschließlich auf elektronischem Weg erfolgen wird. Hinzu kommt, dass die Kunden im Zeitalter der leistungsfähigen Suchmaschinen ganz andere Ansprüche an die Benutzerfreundlichkeit von Katalogen und weiteren Informationsangeboten haben als früher. Nicht zuletzt aus diesem Grund wollte die ETH-Bibliothek einen Paradigmenwechsel vollziehen: Die bisherige datenbankbasierte Suche im Katalog sollte durch eine suchmaschinenbasierte Abfrage ersetzt werden, wie man sie von gängigen Suchmaschinen her gewohnt ist. Auch das Idealziel eines „Single-Point-of-Access“ für alle online angebotenen Informationsressourcen sowie für die weiteren Dienstleistungen der ETHBibliothek sollte im Rahmen eines Projektes soweit möglich realisiert werden. Dass der Weg in die skizzierte Richtung korrekt ist, untermauert auch eine im Jahr 2007 von der ETH-Bibliothek durchgeführte qualitative Expertenbefragung zum Umgang mit Literatur und Informationsressourcen in Forschung und Lehre an der ETH Zürich7. Die Nutzung verlagert sich zunehmend auf elektronische Angebote, wobei die Wissenschaftler häufig das Problem äußern, sich in der wachsenden Menge an Informationen zunehmend nicht mehr zurechtzufinden. Damit die ETH-Bibliothek ihre Rolle als Informationsanbieter und -vermittler auch in Zukunft wahrnehmen kann, muss der Zugang zu relevanten Informationen somit möglichst einfach und intuitiv sein.
Projektziel und Rahmenbedingungen Ziel des Projektes Wissensportal war es somit, den Kunden der ETH-Bibliothek einen wesentlich vereinfachten Online-Zugang zum Informations- und Dienstleistungsangebot über einen Single-Point-of-Access bereitzustellen. Bereits auf der ersten Ebene der Website sollte eine intuitive, schnelle und integrierte Suche in den Katalogdaten sowie in weiteren Informationsressourcen möglich sein. Auch die vielfältigen Dienstleistungen der ETH-Bibliothek sollten benutzerfreundlich präsentiert werden. Darüber hinaus sollte das neue Portal attraktiv sein und mit einem ansprechenden Design ein zeitgemässes Image der ETHBibliothek vermitteln. Die Anforderungen an den neuen Internetauftritt beinhalteten also wichtige Aspekte, die im Kontext des User-Centered-Designs relevant sind. Um den Bedürfnissen der Nutzer des künftigen Informationsportals möglichst weit entgegenzukommen, wurde für die Umsetzung der gestellten Anforderungen der oben skizzierte User-Centered-Design-Prozess verfolgt. 7
Vgl. hierzu: Ramminger und Graf (2007).
Das Wissensportal der ETH-Bibliothek – ein Fallbeispiel für User-Centered-Design 123
Das Großprojekt dauerte etwas mehr als zwei Jahre. Der auf das Portal abgestimmte User-Centered-Design-Prozess erstreckte sich über mehrere Monate. Das Projekt wurde nach einem in der ETH-Bibliothek etablierten standardisierten Projektverfahren abgewickelt8. Für die Bearbeitung der hohen Projektanforderungen war die Zusammenstellung eines professionellen Teams aus Bibliothekaren, technischem Personal, Designern sowie der für das Marketing verantwortlichen Person essenziell. Das Subteam Website war für das Design, ein zweites kleines Subteam für die Inhalte der Website verantwortlich. Professionelle Unterstützung wurde von einem Usability-Experten und einer auf Web-Design spezialisierten Firma in Anspruch genommen. Zusätzlich zur Qualitätsorientierung war auch die Orientierung an international anerkannten technischen Standards von entscheidender Bedeutung für das Vorhaben. Bereits früh im Projekt wurde entschieden, für die Realisierung der Suchfunktionalitäten ein kommerzielles Produkt zu nutzen und dieses auf die eigenen Bedürfnisse anzupassen. Der Aufwand für eine Eigenentwicklung auf Basis einer Open-Source-Suchmaschine wurde aus zeitlichen, personellen wie auch aus finanziellen Gründen verworfen. Nach einem längeren Evaluationsprozess fiel die Wahl auf das Produkt Primo der Firma ExLibris. Dieses Suchinstrument erlaubt die Suche, die Anzeige und das Delivery von heterogenen Informationsressourcen. Für die Realisierung der integrierten Suche müssen die Metadaten naturgemäß normalisiert werden. Diese Arbeit wurde im Rahmen eines Teilprojektes realisiert. Die ETH-Bibliothek entschied sich darüber hinaus, die Datenbank DADS9 der Technischen Universität Dänemark (DTU) an Primo anzubinden10. Diese Datenbank beinhaltet mehrere Millionen Metadatensätze von Artikeln wichtiger wissenschaftlicher Zeitschriftenverlage. Mittlerweile sind auch die Daten von Web of Science integriert. Das mit Primo standardmässig ausgelieferte Design kann über Änderungen in den Cascading-Style-Sheets (CSS) in begrenztem Ausmass auf die eigenen Bedürfnisse angepasst werden. Weiterführende Anpassungen können über Änderung in den Java Server Pages bzw. HTML-Files realisiert werden. Für die Integration der Websiteinhalte war es erforderlich, parallel dazu ein ContentManagement-System (CMS) zu implementieren11.
8
Das Verfahren orientiert sich an der schweizerischen Projektführungsmethode HERMES, der Methode für die einheitliche und strukturierte Durchführung von Projekten der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT). Vgl. hierzu: http://www.hermes.admin. ch/. 9 DADS: Digital Article Database Service. 10 Über das sogenannte „Deep-Search-Konzept“ können in Primo auch externe Datenbanken angebunden und gleichzeitig mit den lokalen Daten durchsucht werden. 11 Das System eZ Publish erfüllte die definierten Anforderungen am besten.
124 Arlette Piguet Die Ausgangslage für die Präsentation der heterogenen Inhalte war sichtlich komplex. Das Design für eine einfache Navigation und Nutzung musste folglich für diverse Aspekte entwickelt werden: – – – – –
Suchfunktionen für die lokalen und externen Metadaten sowie für die Inhalte der Website Präsentation der Suchergebnisse mit Funktionen für die weitere Einschränkung Funktionalitäten für den Zugriff auf die recherchierten Inhalte Präsentation der Informationen zu allen Dienstleistungen der ETH-Bibliothek Navigation durch die gesamten Inhalte der Website
Ziel war es nun, das Suchmaschinenprogramm Primo der Firma ExLibris hinsichtlich Design und Funktionalitäten so weit in das CMS der ETH-Bibliothek zu integrieren, dass die Suchmaschine von aussen gesehen als fester Bestandteil der Website erscheint.
Schrittweises Vorgehen Website-Analyse Von Anfang an war klar: Das neue Portal sollte kein Aufguss der alten Website sein. Es sollte andersartig und auch „besser“ werden. Trotz oder gerade wegen dieser Anforderung an das Wissensportal schien es angezeigt, in einem ersten Schritt die alte Website der ETH-Bibliothek auf ihre Unzulänglichkeiten hin zu analysieren sowie Ideen von attraktiven Websites von „Konkurrenzinstitutionen“ zu sammeln. Die Ist-Analyse der Vorgänger-Website machte größtenteils bereits bekannte Mängel der bereits im Jahr 1999 konzipierten Website deutlich. Hierzu zählten beispielsweise zu lange Texte, teilweise eine zu stark an die bibliothekarische Terminologie angelehnte Sprache oder die nicht mehr konsistente Struktur und Navigation. Diese war selbstverständlich auch bedingt durch immer neue Informationsdienstleistungen, die im Verlauf der Zeit in die bestehende Website eingefügt wurden. Die Analyse der Log-Files einzelner Seiten gab zusätzlich darüber Auskunft, welche Angebote verhältnismässig wenig benutzt und allenfalls prominenter platziert werden müssen. Darüber hinaus wurden anhand einer Checkliste auch die Websites der Bibliotheken von vergleichbaren, ebenfalls renommierten technisch-naturwissenschaftlich ausgerichteten Hochschulen12, aber auch von nicht-bibliothe12 Dies waren u.a. die MIT Libraries (http://libraries.mit.edu/), die University of Toronto Libraries (http://main.library.utoronto.ca/) sowie die University of California Library (http://www.library.ucla.edu/).
Das Wissensportal der ETH-Bibliothek – ein Fallbeispiel für User-Centered-Design 125
karischen Institutionen analysiert. Beurteilt wurde der Gesamteindruck, die Zielgruppenorientierung (Sprache, Design u.a.), das Visual Design (Layout, Farben u.a.), die Informationsarchitektur (Struktur, Navigationswege u.a.), die Benutzerführung (Konsistenz, Navigationselemente u.a.), die Inhalte (Übersichtlichkeit, Umfang, Schreibstil u.a.) sowie die Technik (Schnelligkeit, Fehlermeldungen u.a.). Die aus Sicht der ETH-Bibliothek positiven sowie die weniger gelungenen Aspekte wurden festgehalten und während des gesamten Designprozesses für das eigene Portal immer wieder als Referenz für die Veranschaulichung von Teilaspekten herangezogen.
Workshops Der eigentliche User-Centered-Design-Prozess wurde in mehreren Teilschritten abgearbeitet: Interner Workshop (Benutzergruppen, Szenarien) Ein erstes Ziel war es, die potenziellen Nutzer der zukünftigen Website festzulegen und vor allem auch deren Charakteristika zu identifizieren. Hierzu wurden in einem ersten noch bibliotheksinternen Workshop alle infrage kommenden Benutzergruppen des zukünftigen Wissensportals aufgelistet, charakterisiert und priorisiert. Grundlage war der durch den Steuerungs- und Fachausschuss des Projektes definierte Katalog der Zielgruppen der ETH-Bibliothek: – – – – – – – – – –
Erfahrene Forschende Lehrende Masterstudierende, Jungforscher Studienanfänger, Bachelorstudierende Alumni, technisch interessierte Wissenschaftler Historisch interessierte externe Wissenschaftler Firmenkunden (Sonderfall) Öffentlichkeit Schüler ETH-Mitarbeitende (administrative und technische Angestellte)
Das Nutzerspektrum ist also nicht nur breit, die einzelnen Gruppen stellen zusätzlich unterschiedlichste Anforderungen. Dieses Faktum wurde für die Konzipierung des Designs mit intuitiver Bedienung als wichtiger Faktor identifiziert.
126 Arlette Piguet
Abb. 2: Potenzielle Nutzer des zukünftigen Wissensportals; Skizze mit Bewertung der Wichtigkeit (grüne Punkte) aus dem Workshop
Von den identifizierten Nutzergruppen wurden anschließend Benutzerprofile entwickelt, sogenannte Personas13, und als (erfundene) realistische Personenbeschreibungen dokumentiert: – – – – –
Name, Alter, Beruf Ausbildung, Vorkenntnisse Ziele, Nutzungsziele Aufgaben, Tätigkeiten Vorlieben, Spezielles, Abneigungen, Motto...
Ziel war, dass sich die Projektmitarbeitenden ein einprägsames Bild von den jeweiligen Benutzertypen machen konnten. Bei dieser Aufgabe hatten die Workshopteilnehmer sichtlich Spass, was sich auch positiv auf das Ergebnis auswirkte. 13 Vgl. hierzu: Cooper (1999).
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In einem zweiten Schritt wurden für die wichtigsten Nutzergruppen mögliche Nutzungsszenarien erarbeitet. Aufgrund der Diskussion solcher Szenarien entstanden erste wichtige Erkenntnisse über die grundlegenden Anforderungen an die Website.
Abb. 3: Benutzerszenario für einen Masterstudierenden oder einen Jungforscher; Skizze aus dem Workshop (Punkt 7: PW vergessen nehmen Sie Kontakt mit der Stammbibliothek auf)
128 Arlette Piguet Workshop mit Nutzerbeteiligung (Szenarien/Prototyping) Um die Website nutzerspezifisch zu gestalten sind einige grundlegende Kenntnisse zum Benutzerverhalten essenziell: Welche Informationen suchen die identifizierten Nutzer über ein zentrales Rechercheinstrument? Was erwarten sie von der Website? Wie geht der Nutzer vor, was sind seine Überlegungen, um die Rechercheaufgabe zu lösen? Welche Funktionalitäten müssen angeboten werden, damit der Nutzer die relevanten Informationen auch auf der Bibliotheks-Website effizient findet?
Abb. 4: Erster LoFi14-Prototyp für erfahrende Forschende; Szenario: Neue Forschung Nanotechnologie; Skizze aus dem Workshop 14 LoFi: Low Fidelity.
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Um zumindest einige Antworten auf diese Fragen zu erhalten wurde ein zweiter Workshop durchgeführt, diesmal mit repräsentativen Nutzervertretern der Hochschule. Es handelte sich um fünf Benutzer aus unterschiedlichen Fachgebieten und Positionen im Wissenschaftsbetrieb der ETH-Community. Die Beschränkung auf diese ETH-internen Nutzergruppen war gerechtfertigt, da sie die wichtigsten Kunden des zukünftigen Wissensportals sein werden15. Der frühe Einbezug der wichtigsten Endnutzer sollte letztlich auch dazu beitragen, die Akzeptanz des Endproduktes zu erhöhen. Ziel des Workshops war es auch, erste Schritte in Richtung inhaltlicher Struktur, Navigationskonzept und PapierPrototypen anzugehen. Mit dem Einbezug einer Außensicht sollten folglich wichtige Erkenntnisse zur zukünftigen Benutzerführung gewonnen werden. Auch an diesem Workshop wurde lebhaft diskutiert und die Ergebnisse waren auch hier entsprechend ertragreich. Zusammengefasst konnte bestätigt werden, dass die Nutzer einen möglichst einfachen zentralen Zugang zu möglichst vielen Informationsquellen wünschen. Erste wichtige Grundelemente für das zukünftige Wissensportal konnten also bereits identifiziert werden, wobei der zentrale Sucheinstieg16 das wichtigste Element war.
Testen der Funktionalitäten des Suchinstruments Primo Um auch Erkenntnisse hinsichtlich des Umgangs mit dem Suchinstrument Primo zu erhalten, testeten insgesamt 20 ETH-Angehörige (13 Forschende und Lehrende aus allen Fachgebieten, drei Studierende sowie vier Verwaltungsmitarbeitende) die Funktionalitäten. Die Mitglieder dieses sogenannten Sounding Boards erhielten einen Link zur Testinstallation von Primo im „Rohzustand17“ und einen Link zum OnlineFragebogen. Dieser führte durch die Testaufgaben und forderte die SoundingBoard-Mitglieder auf, diverse Aspekte des Suchinstruments auszuprobieren und die Erfahrungen in einem Fragebogen quantitativ und qualitativ festzuhalten.
15 Die weiteren Nutzergruppen wurden nie aus den Augen verloren: In den Diskussionen wurde ihr erwartetes Verhalten immer wieder angesprochen, vor allem hinsichtlich der einfachen Nutzung. 16 Intensiv wurde auch das Thema Browsing diskutiert mit dem Ergebnis, dass zum Beispiel Literaturlisten von Professoren ein Zugang zu relevanten Informationen sein könnten – viel eher als ein Zugang über thematische Browsinglisten. Man einigte sich schließlich darauf, zuerst die Suche zu realisieren und das umfassende Browsing in einer späteren Version anzugehen. 17 Um die Nutzer auf die wesentlichen Funktionalitäten zu lenken wurden alle nicht relevanten Informationen und Links aus dem Frontend entfernt.
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Abb. 5: Screenshot des Suchinstruments im „Rohzustand“
Gefragt wurde nach der Zufriedenheit mit der Suche, den Ergebnissen sowie den Einschränkungsmöglichkeiten von Suchresultaten. Hierzu wurden die Benutzer gebeten, eigene Suchen über die Reiter „Bücher, Zeitschriften, Bilder ...18“ sowie „Artikel19“ zu tätigen und die angebotenen Funktionalitäten mit Suchanfragen aus ihrem jeweiligen Fachgebiet zu testen. Auch das sogenannte E-Shelf, u.a. mit Funktionen für das Speichern von Suchanfragen, konnte in einem Rohzustand ausprobiert werden. Aufgrund der Ergebnisse wurden mehrere Faktoren identifiziert, die für das definitive Design nützliche Hinweise gaben. Eine wichtige Erkenntnis war, dass auch diejenigen, die das Suchinstrument positiv beurteilten, es als noch nicht bereit für den Launch befanden. So war beispielsweise für manche Testpersonen unklar, welche Informationen sich genau hinter den Reitern versteckten und warum überhaupt zwei Reiter angeboten wurden. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass viele angezeigte Informationen bei der eigentlichen Suche gar nicht notwendig sind. Sehr gelobt wurden die sogenannten Facetten, d.h. extrahierte Suchbegriffe, mit denen eine Ergebnisliste weiter verfeinert werden kann. Eine Testperson fasste ihre Eindrücke wie folgt zusammen: „Es hat einige sehr schöne Innovationen drin. Ein sehr schönes Tool. Es braucht noch Verbesserungen …“. Eine andere Person meinte: „Es hat Spass gemacht und es ist toll, dass das Bibliotheksteam ganz nah an der Benutzerfreundlichkeit dran ist! Ganz großes Kompliment!“ Aufgeteilt nach Personengruppen zeigt das Gesamturteil, dass vor allem jüngere Benutzer, also Studierende sowie Doktorierende, sehr gute Noten austeilten. Es stellt sich hierbei natürlich die Frage, ob diese Kundschaft weniger anspruchsvoll ist oder aber vertrauter mit einem Suchinstrument. 18 Hinter diesem Reiter versteckte sich damals ein Auszug aus dem Katalog NEBIS sowie die Metadaten der ETH E-Collection sowie der Bilddatenbank. 19 Hinter diesem Reiter versteckt sich die eingangs erwähnte Datenbank „DADS“.
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Das Projektteam analysierte sämtliche Rückmeldungen und integrierte sie – wo möglich und sinnvoll – in den Entwicklungsprozess der neuen Website. Es stand insofern vor der günstigen Ausgangslage, als die Einbettung von Primo in die neue Website die Chance bot, noch substanzielle Verbesserungen an der Präsentation der Funktionen und deren Benennung sowie an der Benutzerführung anzubringen.
Herstellung von Papierprototypen Die umfangreichen Ergebnisse der Workshops wurden detailliert analysiert. Darauf aufbauend wurden Papierprototypen, also erste Entwürfe der Website, erarbeitet. Bei diesen sogenannten LoFi-Prototypen handelt es sich um primitive Prototypen, häufig erst skizziert auf einem Blatt Papier. Ein Vorteil ist, dass sie kostengünstig und schnell erarbeitet werden können. Damit können bereits in einem frühen Stadium beispielsweise grobe Designfehler eruiert werden, ohne die Website bereits programmiert zu haben. Bei der Erarbeitung der Prototypen für das Wissensportal hatte das DefaultLayout von Primo selbstverständlich einen gewissen Einfluss. Dies war insofern gerechtfertigt, als die Firma ExLibris die Usability ebenfalls hoch angesetzt hatte und von Benutzern testen ließ. Um die Usability mit der Website der ETH-Bibliothek abzustimmen, musste das Projektteam gewisse Anpassungen des Default-Layouts vornehmen. Hierzu hatten ja die Mitglieder des Sounding Boards wichtige Rückmeldungen gegeben. Bereits früh im Entwicklungsprozess wurde die Entscheidung getroffen, zunächst die Grundstruktur mit den ersten drei bis vier Ebenen zu planen und erst dann die detaillierten Inhalte nach und nach zu erarbeiten. Ziel war die Herstellung von zwei bis drei Extremvarianten in Form von Storyboards, die dann in einem anschließenden Walkthrough20 einigen ausgewählten Nutzern vorgelegt werden sollten. Dadurch sollten den Testpersonen nicht nur das vorgeschlagene Design präsentiert, sondern auch Meinungen provoziert werden. Als Grundlage für die Erstellung der Prototypen wurde folgender 10-PunktePlan definiert21: 1. Die Suchmaschine steht im Mittelpunkt und ist möglichst auf jeder Seite präsent, sowohl grafisch als auch vom Zugang her. Auch Inhalte/Informationen aus der Website sind mit der zentralen Suche auffindbar und
20 Als Walkthrough bezeichnet man die Analyse des schrittweisen Vorgehens für einen Handlungsablauf, beispielsweise für das Auffinden einer Information auf einer Website. 21 Zu diesem Zeitpunkt war die Evaluation des zukünftigen CMS noch nicht abgeschlossen, die grobe Richtung aber bereits bekannt.
132 Arlette Piguet werden auf der Ergebnisseite gesondert von den Bibliotheksressourcen ausgewiesen. 2. Das Design ist modern, ansprechend und einladend. Grafisches Browsing ersetzt althergebrachte Kategorien und Herangehensweisen. 3. Die Website ist schlank und konzentriert sich auf die wichtigsten Funktionen. 4. Die Struktur ist flexibel, Module/Gadgets sind austauschbar. 5. Alle Arten von möglichen Einstiegen in die Website werden berücksichtigt (über die Homepage, über Suchmaschinen etc.). 6. Das Corporate Design ist immer präsent. 7. Die Aktualität ist gewährleistet: Aktuellmeldungen, neueste Termine u.a. 8. Allenfalls grafischer Zugang für Ausstellungen u.a. 9. Das Layout ist professionell erstellt. 10. Die Inhalte sind professionell redigiert, lektoriert und übersetzt.
Abb. 6: LoFi-Prototyp eines möglichen Eingangsbildschirms
In einem ersten Schritt wurden die Hauptmenüpunkte auf der ersten Ebene der Website und darauf basierend erste Unterebenen der Sitestruktur festgelegt. Es sollte eine gute Ausgeglichenheit zwischen Auswahlmöglichkeiten auf jeder einzelnen Seite und der Tiefe der Sitestruktur erzielt werden. In Abbildung 6 ist der LoFi-Prototyp eines möglichen Einstiegsbildschirms dargestellt, in Abbildung 7 derjenige einer erweiterten Suche. Direkte Links zu den wichtigsten Dienstleistungen, sogenannte Quick-Links, wurden bereits zu diesem Zeitpunkt für die Startseite sowie alle Unterseiten diskutiert (vgl. hierzu im unteren Teil der Abb. 7).
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Abb. 7: LoFi-Prototyp eines möglichen Layouts für die erweiterte Suche
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Walkthrough mit Benutzern Der nächste Meilenstein war auf Basis der LoFi-Prototypen der Walkthrough mit vier Forschenden22 und Lehrenden sowie mit zwei Studierenden. Mit dem Walkthrough wurde das Benutzerverhalten im Umgang mit der zukünftigen Website abgefragt, indem den Probanden verschiedene Szenarien präsentiert wurden, u.a. Startseitensituation, allgemeines Informationsthema (beispielsweise Öffnungszeiten), Suche nach einem bestimmtem Medium, Themensuche, Suche nach Medientyp, Beratungsszenario oder Up-to-date-Bleiben. Jeder der sechs Probanden wurde vom externen Usability-Experten während 1,5 bis 2 Stunden gezielt befragt, das Gespräch wurde protokolliert. Zwei Projektmitarbeiter verfolgten das Geschehen im Hintergrund. Die Gespräche waren aufwändig, aber sehr aufschlussreich. Eine kleine Auswahl wichtiger Erkenntnisse ist nachfolgend exemplarisch zusammengefasst: – – – – –
–
Einige Begriffe und Bezeichnungen sind unklar, z.B. InfoCenter, Ausleihe, Datenbanken, Einschreibung, Tagging. Einige Begriffe sind zu wenig definiert, z.B. Ausleihe: ist das online? Kann ich hier Bücher vorbestellen? Ist das ein Schalter? Wenn ja, wo ist er? Insgesamt zu viele Informationen – lieber wenige und selbsterklärende Angebote Hinweise auf die Zugänglichkeit von Medien wären wichtig Einstieg über Subjects (Fachbrowsing) viel zu schwierig. Man ist sich nicht im Klaren darüber, was man dabei machen soll. Ist es ein Einstieg, ist es ein Eingrenzen der Suche… wählt man dann mehrere Fachgebiete? Oder nur eines… Suchformulare sind zu lang, zu unübersichtlich.
Im Rahmen eines dritten internen Workshops wurden die Ergebnisse dem Projektteam präsentiert und die wichtigsten Erkenntnisse für das Erzielen einer möglichst optimalen Usability der neuen Website festgehalten. Die definitiv festgelegte Struktur bildete – zusammen mit dem erarbeiteten Anforderungskatalog an das Design – dann die Grundlage für den Auftrag an eine WebdesignFirma. Auftrag an den Webdesigner Der Schritt vom festgelegten Konzept zum definitiven Layout ist vermutlich der schwierigste. Trotz umfangreichen Vorgesprächen kann davon ausgegangen werden, dass die Vorstellungen des Auftraggebers wie auch der Projektverantwortlichen in diesem Projektstadium noch weit auseinanderliegen. 22 Von den vier Forschenden waren drei bereits am Workshop beteiligt.
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Um für die ETH-Bibliothek das passende Design zu finden, entschied sich das Projektteam für eine Ausschreibung mit definiertem Profil unter professionellen Webdesignern. Sechs Web-Agenturen folgten der Einladung für die Präsentation der Anforderungen. Diese erhielten alle Agenturen auch in schriftlicher Form und mussten innerhalb zwei Wochen ihre Vorschläge einreichen23. Unter den Bewerbern fanden sich kreative Ideen. Das klar strukturierte Konzept der Firma Hinderling Volkart AG24 traf die Vorstellungen der ETHBibliothek am besten. Es gelang dem Unternehmen unter Berücksichtigung der Vorgaben ein funktional überzeugendes Design für den Webauftritt einer modernen Informationseinrichtung zu entwerfen. Die Siegerfirma erarbeitete die Detailgestaltung der einzelnen Seitentypen in enger Zusammenarbeit mit dem für die Website zuständigen ProjektSubteam. Obwohl im Hintergrund zwei ganz verschiedene Systeme stehen – einerseits das CMS eZ Publish für die Verwaltung der Inhalte der Website und andererseits das Frontend von Primo musste sich der neue Webauftritt der ETH-Bibliothek aus einem Guss präsentieren. In diesem Prozess war vor allem die Detailgestaltung verhältnismässig langwierig. Zwischen den Technikern und den Bibliothekaren herrschten häufig unterschiedliche Meinungen hinsichtlich der Gestaltung und Positionierung einzelner Elemente. Mit einigen Kompromissen gelang es letztlich aber sehr überzeugend, die Informationsarchitektur, das Navigationskonzept sowie das Layout von Primo und CMS nahtlos ineinandergreifend zu präsentieren – selbstverständlich unter Berücksichtigung der gewonnenen Nutzerbedürfnisse. Das Visual-Design wurde anschließend von der Web-Agentur in HTML/ CSS Files umgesetzt. Basierend auf diesen Files wurden die eZ Publish Templates für das Content Management System (CMS) entwickelt25. Erarbeitung der künftigen Inhalte im erweiterten Webteam Die Erkenntnisse aus dem User-Centered-Design-Prozess bildete auch eine wichtige Grundlage für die Erarbeitung der Inhalte der Website in Absprache mit den fachlich jeweils zuständigen Bereichen der ETH-Bibliothek. Um einen einheitlichen Aufbau der einzelnen Websites zu erzielen wurde je eine Grundstruktur festgelegt. Grundlage für die Texte bildeten darüber hinaus auch die „Leitlinien für die Gestaltung von Grafik und Texten in der ETH-Bibliothek26“.
23 Da das Design der Website der Hochschule bereits in die Jahre gekommen war, aber eine Erneuerung noch nicht konkretisiert war, entschied sich die ETH-Bibliothek für das Aufsetzen eines eigenen Designs. Selbstverständlich wurden die Auflagen des Bundes für behindertengerechte Websites berücksichtigt. 24 Vgl. hierzu: http://www.hinderlingvolkart.com. 25 Die CMS-Vorlagen von eZ Publish wurden von einer externen Firma erstellt. 26 Das Dokument dient als Grundlage für Marketing und Kommunikation in der ETHBibliothek.
136 Arlette Piguet Ein kleines Redaktionsteam bereitete die Texte auf Basis von formalen Vorgaben auf. Die damals auf den aktuellen Websites der ETH-Bibliothek vorhandenen Informationen wurden neu strukturiert, teilweise gekürzt oder ergänzt bzw. meist ganz neu geschrieben. Das Einfüllen in sogenannte Mock-Ups erlaubte eine einfache Überarbeitung der Entwürfe von diversen Mitarbeitenden. Die Titel der Seiten wurden so gewählt, dass sie die Navigation unterstützen. Für die Schlussbearbeitung der Texte wurde ein externes Lektorat beauftragt. Die Übersetzung ins Englische wurde von einem Übersetzungsbüro vorgenommen. Anhand eines erarbeiteten Styleguides, der die Grundlagen der visuellen und typographischen Regeln für die Website vorgibt, wurden dann die vorbereiteten Inhalte in das CMS eingepflegt.
Projektergebnis und Fazit Das Wissensportal wurde im Sommer 2010 erfolgreich eingeführt, begleitet von einigen hochschulweiten Marketingmassnahmen. Das Portal präsentiert sich heute wie folgt (vgl. hierzu http://www.library.ethz.ch und Abb. 8): – – – –
– –
Die Website gliedert sich in die Hauptgruppen Home, Dienstleistungen, Ressourcen, Über uns, Kontakt. Das Suchfenster ist auf jeder Seite prominent platziert. Das Suchinstrument Primo ist integriert in die Website mit einem einheitlichen, funktionalen und attraktiven Layout. Die integrierten Informationsressourcen sind mit einer Suchanfrage durchsuchbar (Katalog, Institutional Repository, Bilddatenbank etc.). Der Zugriff auf die elektronischen Volltexte erfolgt nahtlos über einen Link. Die Informationen zu allen Dienstleistungen der ETH-Bibliothek sind klar strukturiert und in einer verständlichen Sprache verfügbar. Links zu den wichtigsten Dienstleistungen werden als sogenannte Quicklinks auf der Haupt- und allen Unterseiten aufgeführt.
Mit dem neuen Wissensportal unterstreicht die ETH-Bibliothek ihren Anspruch als modernes Informationszentrum. Mit der nahtlosen Integration von Primo in die Website mit einem eigenen attraktiven Design hat sie Pionierarbeit geleistet. Darüber hinaus hat sie mit dem frühen Einbezug der wichtigsten Zielgruppen und einem zeitaufwändigen User-Centered-Design-Prozess ein Produkt geschaffen, das von der wissenschaftlichen Community der ETH Zürich wie auch von den weiteren Zielgruppen breit akzeptiert ist. Die zentrale und einfache Suche über mehrere Ressourcen hinweg wird von einer großen Kundschaft sehr geschätzt. Einzelne kleinere Unzulänglichkeiten werden laufend verbessert. Als Fazit kann festgehalten werden, dass sich das zeit- und ressourcenintensive Verfahren gelohnt hat. Als Kritik mag angefügt werden, dass das schließlich
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Abb. 8: Aktuelle Homepage der ETH-Bibliothek
erstellte Design vor dem Aufschalten nicht mehr mit externen Nutzern getestet und adaptiert wurde. Dies hat mehrere Gründe: Einerseits wäre die Projektlaufzeit massiv überschritten worden, andererseits konnte die erfahrene Firma für das Webdesign wichtige Funktionalitäten und Darstellungen fundiert empfehlen. Möglich wäre nun die Durchführung eines heuristischen Verfahrens für die Evaluation der Usability, um mögliche Schwachstellen der Website zu ermitteln. Hierbei würde eine kleine Gruppe von Experten die Benutzerschnittstelle des Portals analysieren und die Übereinstimmung mit bestimmten Usability Prinzipien (Heuristiken) überprüfen. Ob und wann diese Evaluation durchgeführt wird, ist noch offen. Um das Wissensportal attraktiv zu halten, sollen laufend neue Informationsquellen integriert und weitere Funktionalitäten realisiert werden. Ein wichtiger Schritt wird hierbei die Einführung des Single-Sign-on sein, mit dem sich ins-
138 Arlette Piguet besondere für Angehörige der ETH Zürich das mehrfache Anmelden bei verschiedenen Informationsquellen erübrigen wird. Hinzu kommen die Personalisierung des Angebots, indem beispielsweise die Resultate von Abfragen gespeichert werden können, sowie die Nutzung des Wissensportals über mobile Geräte. Es wird eine Herausforderung sein, diese Funktionalitäten so in die bestehende Website einzufügen, dass die Usability weiterhin einfach und intuitiv bleibt. Auf die wertvolle Mitarbeit der Benutzer wird die ETH-Bibliothek auch hier sicher nicht verzichten!
Literatur Cooper, A. (1999): The inmates are running the asylum. Macmillan: Indianapolis. Gould D.J. und Lewis C. (1985): Designing for Usability: Key Principles and What Designers Think. Communications of the ACM, 28(3), S. 300–311. Hegner, M. (2003): Methoden zur Evaluation von Software. IZ Arbeitsbericht Nr. 29. http:// www.gesis.org/fileadmin/upload/forschung/publikationen/gesis_reihen/iz_arbeitsberichte/ ab_29.pdf (14.07.2011). Jordan, P.W. (1998): An Introduction to usability, London: Taylor and Francis. Normann, D. (1998): The Invisible Computer. Cambridge MA, MIT Press. Ramminger E. und Graf, N. (2007): Informationsmanagement an der ETH Zürich. Ergebnisse einer qualitativen Expertenbefragung der ETH-Bibliothek zum Umgang mit Literatur und Informationsressourcen in Forschung und Lehre ETH-Bibliothek. doi:10.3929/ ethz-a-005472952. useit.com: Jakob Nielsen’s Website. http://www.useit.com/ (13.07.2011).
7. Recherche- und Leseverhalten von Studierenden: Ergebnisse einer Think-Aloud-Studie Kathy Heintz und Sebastian Mundt Untersuchungsrahmen Was veranlasst Studierende beim Recherchieren und Lesen von Fachliteratur dazu, sich für ein gedrucktes Buch oder für ein E-Book zu entscheiden? Diese Forschungsfrage steht im Mittelpunkt einer vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg geförderten und auf zwei Jahre angelegten Repräsentativstudie zur Akzeptanz von elektronischer Studienliteratur1. Akzeptanz soll im Rahmen dieses Forschungsprojektes verstanden werden als Bereitschaft akademischer Nutzer, E-Books als neue Technologie nachhaltig und gleichberechtigt gegenüber gedruckten Büchern in die eigenen Recherche- und Lesegewohnheiten zu integrieren. In der Literatur sind zahlreiche Studien zu den Recherche-, Lese- und Lerngewohnheiten von Studierenden dokumentiert2. Die meisten dieser Untersuchungen wurden in Form quantitativer Fragebogen-Untersuchungen oder LogFile-Analysen durchgeführt. Nicht alle für die Fragestellung dieser Studie relevanten Einflussfaktoren lassen sich jedoch allein im Rahmen einer quantitativen Erhebung ermitteln: So unterliegen Selbstauskünfte im Kontext von Befragungen über eigene Motive und Gewohnheiten einer Vielzahl möglicher Fehlerquellen, z.B. durch fehlerhafte Erinnerung, Verallgemeinerungseffekte oder sozial erwünschte Antworten. Gerade das Recherche- und Leseverhalten während des Studiums ist nicht allein durch individuelle Erfahrungen und Kompetenzen, sondern auch durch situative Faktoren wie die Themenstellung, das Zeitbudget und die verfügbaren Informationsressourcen bestimmt. Es reicht daher nicht allein aus, zu erfassen, wie Studierende für gewöhnlich handeln; vielmehr ist zu erforschen, welche subjektiven Motive, Hindernisse und Vorbehalte das Handeln von Einzelpersonen in bestimmten Situationen beeinflussen. Teilstrukturierte Interviews und Beobachtungsverfahren ermöglichen dagegen diesen unmittelbaren Einblick in die Handlungen und Überlegungen, die eine Testperson während des Arbeitsvorgangs vornimmt. Hernon et al.3 1 2 3
Vgl. Mundt, 2010. Für eine zusammenfassende Bewertung breit angelegter Studien zum Informationsverhalten von Studierenden vgl. Connaway; Dickey (2010). Vgl. Hernon et al., 2006.
140 Kathy Heintz und Sebastian Mundt wandten eine Kombination von Beobachtungs- und Interviewformen an, um die Nutzung von E-Books durch College-Studierende zu untersuchen. Während diese Untersuchung sich primär mit den Erscheinungsformen, Eigenschaften und Zugangswegen von E-Books befasst, stellt Keller4 die Lesegewohnheiten von Studierenden in den Mittelpunkt ihrer Studie, die sie mittels Foto-Lesetagebüchern und anschließenden Interviews durchführte. Ziel der hier vorgestellten Studie war es, in Verbindung der Untersuchungsfragen von Keller und Hernon et al. Einstellungs- und Verhaltensmuster von Studierenden beim Recherchieren und Lesen von Fachbüchern zu erkennen. Die Ergebnisse sollten als Grundlage für die Konstruktion eines generalisierten Fragebogens zur Akzeptanz elektronischer Studienliteratur dienen, der im Sommersemester 2011 in einer Repräsentativstudie an sechs baden-württembergischen Hochschulen zum Einsatz kam.
Lautes Denken als Untersuchungsmethode Für das Projekt wurde die „Current-Think-Aloud“-Methode gewählt, bei der die Aussagen der Untersuchungsperson mit einem Diktiergerät aufgenommen und durch Notizen des Versuchsleiters ergänzt werden. Thinking Aloud bzw. Lautes Denken5 ist eine Methode, die vorwiegend in der Marketingforschung und Usability-Forschung (z.B. zur Optimierung von Websites) angewendet wird.6 Sie dient dazu, Einblicke in die Wahrnehmung und das Bewertungssystem von Testpersonen zu erhalten.7 Die Think-Aloud-Methode bedient sich dazu einer Kombination aus teilnehmender Beobachtung und Selbstauskunft durch die Testperson: Der Teilnehmer8 bekommt zunächst eine für das Untersuchungsthema typische Aufgabe gestellt, bei deren Lösung er „laut denken“, d.h. alle aufkommenden Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle aussprechen soll. Dieses prinzipielle Vorgehen kann je nach Untersuchungsschwerpunkt modifiziert oder mit anderen Methoden kombiniert werden.9 Das „Laute Denken“ wird zumeist mit einem Diktiergerät oder einer Kamera aufgezeichnet, während der Versuchsleiter den Probanden beobachtet und zusätz4 5
6 7 8
9
Vgl. Keller, 2010. Für die Methode sind auch die folgenden Synonyme gebräuchlich: Denke-LautProtokoll, Think-Aloud-Methode (TAM), Protokoll lauten Denkens (PLD), Thinking Aloud Protocol (TAP), Gedankenprotokoll, Verbal Protocol. Vgl. Buber, 2009. Vgl. Yom; Wilhelm; Gauert, 2009. Aus Gründen der Kürze und Prägnanz des Textes werden die Bezeichnungen Teilnehmer, Proband, Student usw. im Folgenden stellvertretend für männliche und weibliche Personen verwendet. Vgl. Yom; Wilhelm; Gauert, 2009.
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liche Notizen anfertigt. Über die Qualität der Testergebnisse entscheidet jedoch vor allem das Briefing durch den Versuchsleiter und dessen Verhalten während des Tests: „Interacting with the participant appropriately is a difficult skill to master and should not be undertaken lightly. Even a sigh at the wrong time can influence results and render all or a portion of the results useless“.10
Der Moderator sieht sich also dem Spannungsfeld ausgesetzt, einerseits „aktiv zuzuhören“ und die Verbalisierung des Probanden im Fluss zu halten, andererseits aber den Ablauf nicht mehr als nötig zu beeinflussen bzw. zu stören. Nachfragen zu Hintergründen des Handelns sollte er erst im folgenden Abschlussinterview stellen.11 Bei einem derart ergebnisoffenen Vorgehen kann nicht jeder mögliche Gesichtspunkt während des Tests thematisiert werden, sondern nur diejenigen, die vom Benutzer wahrgenommen und angesprochen werden.12 Insbesondere die gleichzeitige Beanspruchung durch Denken und Sprechen führt dazu, dass manche Testpersonen ihre Gedanken filtern und nicht kontinuierlich aussprechen.13 Die Methode erfordert daher ein besonderes Augenmerk bei Testpersonen, denen es schwerfällt, sich verbal auszudrücken. Hinzu kommt, dass sich die Testteilnehmer in einer für sie ungewohnten bzw. geradezu künstlichen Situation befinden. Einer möglichen Befangenheit und dem Gefühl, getestet oder gar bewertet zu werden, sollte daher frühzeitig durch den Hinweis begegnet werden, dass keine Verhaltenserwartungen bestehen und kein besonderes Können überprüft wird.14
Untersuchungsteilnehmer Zielgruppe der Think-Aloud-Tests waren Studierende der an der E-BookStudie beteiligten Stuttgarter Hochschulen: der Universität Hohenheim, der Hochschule der Medien Stuttgart und der Hochschule für Technik Stuttgart. Die Stichprobe repräsentierte damit eine für die Exploration hinreichende demographische Breite; die Beschränkung auf den Standort Stuttgart trug vor allem dem hohen organisatorischen Aufwand Rechnung, der mit einer überregionalen Untersuchungsanlage verbunden gewesen wäre. Gemessen an der Zielsetzung der Studie wurde eine Anzahl von rund 50 Teilnehmern als hinreichend erachtet. In der Stichprobe sollten die vertretenen 10 11 12 13 14
Rubin; Chisnell, 2008. Vgl. Yom; Wilhelm; Gauert, 2009. Vgl. Yom; Wilhelm; Gauert, 2009. Rubin; Chisnell, 2008; ebenso Bilandzic, 2005. Vgl. Yom; Wilhelm; Gauert, 2009.
142 Kathy Heintz und Sebastian Mundt Hochschultypen, Fächergruppen, das Geschlecht und der Studienfortschritt ausgewogen repräsentiert sein. Die Teilnehmer sollten hauptsächlich durch persönliche Ansprache in Aufenthaltsräumen, vor Hörsälen, in der Mensa und vor Bibliotheken gewonnen werden. Ergänzend wurden bei der Ansprache Flyer in Postkartengröße verteilt; damit konnten sich die Studierenden ggf. auch nach einer Bedenkzeit noch anmelden. Zusätzlich wurden Plakate im A3-Format an Schwarzen Brettern ausgehängt. Auf den Versand von Massenmails über die Hochschulserver wurde aufgrund geringer Erfolgsquoten in früheren Projekten vollständig verzichtet. Für die 60-minütige Sitzung erhielten die Teilnehmer eine Aufwandsentschädigung in Höhe von jeweils 25 Euro. Die Mehrzahl der Probanden meldete sich aufgrund von Aushängen an Pinnwänden; persönliche Ansprachen führten hingegen nur selten direkt zu einer Anmeldung. Neben den Aushängen führte Mundpropaganda unter den Studierenden zu unerwartet vielen Teilnehmermeldungen. Die endgültige Entscheidung, welche Interessenten zu einem Test eingeladen werden konnten, wurde primär aufgrund demographischer Auswahlmerkmale (Hochschultyp, Geschlecht, Studienfach und -fortschritt) getroffen. Insgesamt wurden auf diese Weise 44 Tests durchgeführt: sieben an der Hochschule für Technik, 19 an der Hochschule der Medien und 18 an der Universität Hohenheim.
Ablauf der Untersuchung Die Tests wurden vor Ort jeweils in geschlossenen Räumen durchgeführt, die mit einem internetfähigen PC bzw. Laptop sowie einem Diktiergerät zur Aufzeichnung des lauten Denkens ausgestattet waren. Auf eine Kamera wurde aufgrund des zusätzlichen Koordinierungsaufwands für den Moderator verzichtet. Auch auf den Einsatz von Screen-Capturing-Software wurde verzichtet, da die getesteten Programme eine umfangreiche Einarbeitung erforderten oder in der Aufnahmezeit beschränkt waren. Die Sitzungen wurden anfangs durch jeweils eine Moderatorin, später von je zwei Moderatorinnen gemeinsam bzw. arbeitsteilig geleitet. Auf diese Weise konnten durchschnittlich drei Interviews pro Tag realisiert werden. Der Ablauf einer Sitzung ist in Abb. 1 schematisch dargestellt. Zusätzlich lag den Moderatorinnen ein mehrseitiger Leitfaden vor, der weitere Hinweise und vorformulierte Rückmeldungen enthielt. Arbeitsschritte wie das Exzerpieren von Texten oder das Entleihen oder Besorgen von gedruckten Büchern, die nicht unmittelbar in der Testsituation ausgeführt werden konnten, wurden im Rahmen des Abschlussgesprächs vertieft. Die Darstellungen im Abschnitt „Ergebnisse“ beziehen sich daher sowohl auf Beobachtungen als auch auf Selbstauskünfte.
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Abb. 1: Ablaufschema des Think-Aloud-Tests
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Aufbereitung der Ergebnisse Die Interview-Mitschnitte wurden vollständig transkribiert; der Zeitaufwand dafür betrug etwa vier Stunden pro Sitzung. Die Transkripte wurden anschließend um die handschriftlichen Notizen des Moderators und die demographischen Merkmale und Aussagen zu den individuellen Arbeitsbedingungen aus dem Kurzfragebogen ergänzt. Zur Auswertung wurden die Protokollinhalte in zwei Schablonen übertragen. In einer Darstellungsform wurden die wichtigsten Aussagen jeder Testperson tabellarisch zusammengefasst; damit sollte die Identifikation von Typen bzw. Profilen erleichtert werden. Ein Ausschnitt der Schablone ist exemplarisch in Abb. 2 dargestellt. In einer weiteren Tabelle wurden die Protokollinhalte auf bestimmte Themen (z.B. Rechercheeinstieg, Weiterverarbeitung der Ergebnisse, Stellenwert der Bibliotheksangebote) hin ausgewertet. In den folgenden Abschnitten werden die wichtigsten Ergebnisse der themenbasierten und der profilbasierten Auswertung vorgestellt.
Themenbasierte Auswertung Suchstrategien und -techniken Drei von fünf Probanden begannen ihre Recherche in Internet-Suchmaschinen. Google wurde mit Hinweis auf „bessere“ Suchergebnisse oder größere Treffermengen von nahezu allen Studenten favorisiert; nur drei bevorzugten andere Suchmaschinen wie Bing oder Ecosia. Der Start bei Google geschah nach eigenem Bekunden eher aus einer Gewohnheit als aus rationalem Kalkül heraus („Das hat sich schon eingespielt, das ist halt irgendwie immer so. Wenn man was sucht: Google.“). Google wurde dabei nicht nur zum Finden neuer Quellen benutzt, sondern auch als eine Art „Telefonbuch“, um bereits bekannte Internetseiten über den Suchschlitz bequemer und schneller aufzurufen: „Weil man grad Internetlinks oder so nicht kennt, geb’ ich die ganz schnell dann immer über Google ein. Das ist meistens dann beim ersten Treffer sofort erledigt und ziemlich effektiv.“ Nur in wenigen Fällen wurde die Recherche in anderen Internet-Quellen begonnen: Wikipedia oder der Bibliothekskatalog der eigenen Universität wurden von fünf bzw. acht Probanden als Startpunkt für die Recherche gewählt. Nur in Einzelfällen erfolgte der Einstieg über Buchkatalog.de, Spiegel Online oder über die Datenbank Scopus von Elsevier. Wikipedia nutzten die Studierenden vor allem, um sich anhand des Eintrags in ihr Thema einlesen zu können und erste Suchbegriffe zu erhalten („Das ist einfach top Informationsdarstellung!“). Viele waren sich bewusst, dass die
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Abb. 2 Auswerteschablone (Auszug)
146 Kathy Heintz und Sebastian Mundt Qualität und Zitierfähigkeit der Einträge weitere Recherchen notwendig macht („Da soll man aber immer vorsichtig sein, weil das halt von irgendwelchen Leuten geschrieben wird“; „Für Arbeiten eben würde ich das jetzt niemals zitieren oder so, weil das als Quellenangabe einfach nicht geeignet ist.“). Links und Literaturhinweise am Ende der Artikel wurden hingegen in vielen Fällen qualitativ weniger kritisch betrachtet und weiterverfolgt („Aber die Weblinks, die unten angegeben sind, oder die Literatur, die ist ja durchaus zitierfähig“). Lediglich vier Teilnehmer gaben sich mit einer Suche in Google oder Wikipedia zufrieden. Die übrigen bezogen selbstverständlich und kompetent weitere Quellen in ihre Informationssuche ein. Einen wichtigen Stellenwert nahmen dabei zwei andere Google-Anwendungen ein: Google News wurde geschätzt, um Einblick in die aktuellen Entwicklungen des gesuchten Themas zu erhalten oder einen interessanten „Aufhänger“ für die Hausarbeit zu finden. Häufig genutzt wurde auch die Google Bildersuche – nicht allein zur Illustration eines Sachverhaltes, sondern auch deshalb, weil auf den Herkunftsseiten zusätzliche Informationen zum Thema erwartet wurden („Öfters findet man eben ja durch die Bilder auch die Homepages, wo dann darüber erzählt wird.“). In vielen Fällen wurden ferner Quellen wie YouTube, Communities, Foren und Blogs genutzt, um ein besseres Verständnis des Themas zu entwickeln. Vier Studierende wiesen ausdrücklich darauf hin, dass sie in einem nächsten Schritt auch Kontakt zu bekannten oder gefundenen Firmen aufnehmen würden, um von diesen Informationsmaterial zu erbitten oder Ansprechpartner zu finden. Einige Probanden nutzten Google nach einer Recherche im Bibliothekskatalog, um speziell Internetquellen zu finden oder um die bisherigen Suchbegriffe für die weitergehende OPAC-Suche im Bibliothekskatalog zu verfeinern. Bei der intensiven Recherche in Suchmaschinen wurde ausdrücklich in Kauf genommen, dass der Rechercheprozess durch eine Vielzahl paralleler Angebote gestört oder überlagert wird. Als besondere Ablenkung empfanden die Studierenden Kommunikationsanwendungen wie das Mailprogramm, Instant Messaging, soziale Netzwerke, aber auch Kontextwerbung und andere nicht unmittelbar relevante Inhalte – z.B. den „Artikel des Tages“ in der Wikipedia: „Die Ablenkungsgefahr ist halt doch recht groß […]. Dass man dann halt doch noch nebenher Facebook offen hat oder die anderen sozialen Netzwerke, und auf einmal schreibt einen dann ein Kumpel an und den kann man auch nicht einfach so abwimmeln.“ Etwa die Hälfte der Studierenden verfolgte bei ihrer Recherche eine klar erkennbare Suchstrategie. So wurden Stichworte für die folgende Suche notiert bzw. gesammelt oder unbekannte Begriffe in Google und Wikipedia nachgeschlagen. Die Trefferlisten wurden auf relevante Treffer verkleinert, indem speziellere Suchbegriffe ergänzt oder Eingrenzungsmöglichkeiten genutzt wurden. Ein Proband arbeitete mit Stift und Block neben der Recherche am PC und erstellte vorab eine Liste mit möglichen Suchbegriffen.
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Auffällig war, dass die Studierenden meist intuitiv und sehr versiert Hardund Softwarefunktionen einsetzten, um den Rechercheprozess im Browserfenster zu optimieren. Dazu zählte insbesondere die Seitensuche (Strg+F) zum schnellen Auffinden und Navigieren innerhalb einer Internetseite. Viele wechselten außerdem zwischen mehreren Tabs und Oberflächen, um Ladezeiten effizient zu überbrücken. Ein Proband öffnete eine Seite in zwei Tabs, um mit verschiedenen Begriffen parallel zu suchen; zusätzlich verfolgte er im Taskmanager die PC- und Netzauslastung. Andererseits zeigten sich bei den Probanden schnell Anzeichen von Frustration, wenn die Suche auf dem eingeschlagenen Weg nicht schnell zum Erfolg führte („Also ich hab’ grad’ das Gefühl, was ich im Vorfeld erwartet hab‘, ist schwer bis gar nicht zu erfüllen.“, „Ich bin jetzt nur bisschen deprimiert, dass da gar nix dabei ist, was ich brauchen kann.“). Einige Studierende waren auch schnell dem Aufgeben nahe („Weiß jetzt net so wirklich was ich jetzt machen soll.“, „Ja, deswegen würd’ mich das hier alles schon ziemlich nerven. Wahrscheinlich würd’ ich erst mal ’ne Pause machen und hätte schon gar keine Lust mehr.“) oder gaben sich selbst die Schuld für die schlechten Ergebnisse („Aber das lag vielleicht auch an mir und nicht an der Seite.“).
Die Bibliothek im Rechercheprozess Die Bibliothek ist in den Augen der Probanden in erster Linie ein Ort der Bücher; der Katalog dient in der Wahrnehmung der meisten Studierenden dem Nachweis der physischen Bestände und wird vielfach in erster Linie zur Verfügbarkeitsrecherche von zuhause aus benutzt. Etwa die Hälfte der Teilnehmer nutzte im Laufe der Recherche den OPAC der eigenen Hochschule oder anderer Stuttgarter Bibliotheken oder des Verbundes bzw. gaben an, den Bibliothekskatalog im weiteren Verlauf der Recherche – überwiegend von zu Hause aus – nutzen zu wollen. Fächerabhängig wurden in Einzelfällen auch die Literaturdatenbanken Scopus, PubMed und WISO genutzt. Die fünf Untersuchungsteilnehmer, die aus Lehrveranstaltungen oder Tutorials mit dem Bibliothekskatalog vertraut waren oder sich freiwillig zu einer Schulung angemeldet hatten, zeigten sich in der Katalogrecherche versiert. Andere Studierende waren in der Nutzung der Bibliotheksangebote weniger sicher: Des Öfteren wurde im Webangebot der Hochschule die Seitensuche benutzt, weil der Bibliothekskatalog oder die Homepage der Bibliothek in der Struktur der Hochschulseite nicht gefunden wurden. Zwei Studenten bemängelten ausdrücklich die fehlende Benutzerfreundlichkeit des Katalogs („Ich finde unseren Hochschul-Katalog katastrophal. Ich mag’s von der Bedienung nicht. Unübersichtlich, nicht selbstsprechend.“), zwei weitere erkannten in der Ergebnisanzeige nur einen Treffer bzw. nur die auf der ersten Seite gelisteten
148 Kathy Heintz und Sebastian Mundt Treffer. Zwei anderen Studierenden war nicht bewusst, dass der Bibliothekskatalog auch ohne Login ins Konto genutzt werden kann. Neun Studierende erklärten, die Bibliothek und ihre Dienstleistungen bei der Literatursuche ungern, selten oder gar nicht zu benutzen. Als Gründe wurden vor allem eigene Bequemlichkeit, der im Vergleich zur Internetrecherche höhere Zeitaufwand und teilweise die fehlende Aktualität des Bestandes genannt. Zum einen sei der Arbeitsort eigentlich zu Hause und der Weg in die Bibliothek zu aufwändig oder die Suche in den Büchern selbst wurde als zu umständlich empfunden („[…] wobei ich schon eher online arbeite, also einfach eher nach Sachen google als nach Büchern. Weil in Büchern, das ist zeitaufwändiger, die Infos rauszufinden oder rauszuschreiben.“, „Google ist einfach schneller. Ich find‘ da wirklich schnell das, was ich brauch‘. […] Das ist für mich einfach zu zeitaufwändig, weil die Bibliothek auch nicht gerade um die Ecke ist. Das würd ich nur machen, wenn ich nix Gescheites im Internet finde.“). Neben dem Internet und den Angeboten der Bibliothek bezogen die Studierenden auch ihr unmittelbares Lernumfeld direkt in die Recherche ein: Dazu zählten insbesondere Literaturhinweise aus der Vorlesung, Quellen in Semesterapparaten oder direkte Anfragen bei Lehrenden und Kommilitonen. Die letztgenannte Gruppe würde bevorzugt unter Verwendung sozialer Netzwerke um Rat gefragt. Insgesamt ist die Bibliothek in den Augen der Probanden in erster Linie ein Ort der Bücher; der Katalog dient in der Wahrnehmung der meisten Studierenden dem Nachweis der physischen Bestände und wird vielfach in erster Linie zur Verfügbarkeitsrecherche von zu Hause aus benutzt.
Auswahl und Bewertung von Literaturquellen Meistens kamen für die Studenten nur die ersten etwa drei bis vier Seiten einer Trefferanzeige in Frage („Weil je weiter man nach hinten kommt, umso weniger haben sie mit dem Thema zu tun.“). Die Auswahl eines Treffers geschah meist nach „Lesen“ der URL und der Kurzbeschreibung; als hilfreich wurde auch die Seitenvorschau in der Google-Trefferliste empfunden. Nur selten wurden Seiten wahllos aufgerufen. Die Selektion von Katalogtreffern fand auf unterschiedlichen Wegen statt: Einige wählten nur anhand des Titels aus, andere achteten auch auf die Keywords und Abstracts, sofern diese angegeben waren. Darüber, ob eine Seite länger betrachtet wurde, entschieden vor allem die vermutete Seriosität des Herausgebers und der erste gestalterische Eindruck. Sofern die Ästhetik nicht gefiel oder das Lesen und Recherchieren unangenehm war, wurde die Seite sofort verlassen. Oft genügte für diese Entscheidung ein kurzer Blick („Das gefällt mir jetzt nicht so und da kann auch nicht so gut drauf lesen. [Also] mach ich sie auch gleich wieder weg.“).
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Inhaltsverzeichnisse, Leseproben, Abstracts oder Klappentexte wurden allgemein rege genutzt, um ein Buch zu beurteilen. Konkret wurden besonders häufig die Vorschaufunktion und Empfehlungen anderer Titel in Google Books genutzt; Amazon wurde besonders für seine Bewertungen, Empfehlungen und die Funktion „Blick ins Buch“ geschätzt. In vielen Fällen wurden Treffer aus Bibliothekskatalogen in Google Books oder Amazon nachrecherchiert, um dort Einblick in das Inhaltsverzeichnis und den Volltext zu erhalten („Das was sie zeigen, das ist schon glaub ich für ’ne Hausarbeit ausreichend.“). Umgekehrt wurden in Google oder Amazon gefundene Bücher meist direkt bei der Bibliothek gesucht, um diese auszuleihen. Der Kauf eines Buches kam in vielen Fällen nur als letzte Alternative in Frage: „Mein Gott, ein Student hat ein gewisses Budget im Monat zur Verfügung und da liegen bei mir die Präferenzen nicht unbedingt bei den Büchern. Ich mein’ ich muss Miete, Lebenshaltungskosten decken und Fahrkarte und was weiß ich was noch […].“. Fast alle Studierenden zogen deutschsprachige Quellen den fremdsprachigen vor. Begründet wurde dies vor allem damit, dass Texte mit Fachbegriffen schwierig zu verstehen seien und mühsam übersetzt werden müssten. Bei Bedarf wurde die Recherchesprache jedoch auch auf Englisch erweitert, um mehr Treffer zu erhalten. Texte oder Suchbegriffe wurden dann mit dem OnlineWörterbuch LEO15 übersetzt. Sofern für die weitergehende Nutzung einer Internetseite eine Registrierung erforderlich war, wurde diese meist gemieden. Generell überwog die Angst vor Spam, dem Missbrauch persönlicher Daten oder die Registrierung oder späteren Kosten; ein Proband lehnte aus diesem Grund die Registrierung bei einem großen Wissenschaftsverlag ab. Ausnahmen wurden dann gemacht, wenn Volltexte kostenlos zugänglich waren, der Text besonders gut zum gesuchten Thema passte oder nur wenige Daten preisgegeben werden mussten.
Weiterverarbeitung von Quellen In der Weiterverarbeitung gefundener Quellen unterschieden sich die Teilnehmer nur in geringem Maße: Zehn Studierende gaben an, eine Text-Datei anzulegen, in der sie Quellen und Literaturhinweise (Bücher oder Links) sammeln. Einzelne Studierende gaben an, zusätzlich eigene Bewertungen und Screenshots einzufügen, die Suchhistorie zu dokumentieren und/oder bei Büchern bereits die Signaturen zu vermerken. Internetquellen wurden zusätzlich oder alternativ auch im Lesezeichen-Menü des Internet-Browsers abgelegt, pdfDateien grundsätzlich in einem lokalen Ordner gespeichert. Zwei Teilnehmer, die zu Semesterbeginn im Einsatz des Literaturverwaltungsprogramms RefWorks
15 Vgl. http://www.leo.org.
150 Kathy Heintz und Sebastian Mundt geschult worden waren, benutzten das Programm während der Recherche und exportierten die gefundenen Artikel dorthin. Ausgedruckt wurden Dokumente vor allem dann, wenn es sich um ein mehrspaltiges Dokument handelte, man nach vielen Vorlesungen müde war, das Dokument „mitnehmen“ wollte oder sich durch Kontextwerbung abgelenkt fühlte. Meist beschränkte sich der Ausdruck auf ein relevantes Kapitel oder einzelne Seiten.
Gedruckter oder elektronischer Text Die Probanden brachten ihre Präferenz zwischen gedruckten und elektronischen Texten vor allem mit Blick auf die Nützlichkeit zum Ausdruck. So liegen die wesentlichen Vorteile von E-Books nach Ansicht der Teilnehmer in solchen Funktionen, die den Arbeitsprozess im Vergleich zum gedruckten Buch beschleunigen und vereinfachen: Sechs Probanden erwarteten, dass E-Books insbesondere die Verfügbarkeit von Kerntiteln verbessern würden, die häufig ausgeliehen bzw. nur als Präsenzexemplar verfügbar seien („Klar man kann’s natürlich verstehen, dass sie nicht von jedem Buch unendlich viele Stück haben. Wobei es da dann natürlich positiv wär’, wenn sie sozusagen solche E-Books hätten, wo man das dann einfach sich downloaden könnte.“). Mehrere Probanden sahen E-Books als vorteilhaft an, weil der Weg in die Bibliothek für sie zu umständlich sei oder sie viel unterwegs lesen und arbeiteten. Dass zur mobilen Nutzung immer ein Endgerät benötigt wird, empfanden die Probanden allerdings als wenig komfortabel. Von der Anschaffung dezidierter Lesegeräte oder Tablet-PC’s nahmen rund ein Viertel der Studierenden vor allem aufgrund des unerschwinglich hohen Preises Abstand; außerdem hätte man damit „noch ein weiteres Ladekabel in der ohnehin schon unübersichtlichen Sammlung“. Zehn Studierende nutzten während ihrer Internet-Recherchen die Vorschau-Funktion von Texten in Google Books bzw. Amazon, um den Inhalt schnell erfassen bzw. durchsuchen und damit die Eignung für das eigene Thema überprüfen zu können. Ein Studierender machte sich die Vorteile beider Versionen zunutze und las im gedruckten Buch, während er bei Google Books die Volltextsuche nutzte, um Textstellen aufzufinden. Vereinzelt empfanden Teilnehmer den Text am Bildschirm sogar kompakter als einen ausgedruckten „Papierwust“. Ein Proband war der Meinung, dass er die Texte am Bildschirm konzentrierter erfassen kann, weil fragliche Begriffe oder besonders interessante Passagen unmittelbar mit anderen Internetquellen abgeglichen bzw. ergänzt werden können. Eine vom konventionellen Lesen her bekannte Gewohnheit ist dazu sogar ins „elektronische Zeitalter“ übertragen worden: So war zu beobachten, dass zwei Teilnehmer während des Lesens statt des Fingers auf dem Papier den Mauszeiger als Hilfestellung benutzten, um sich im Text zu orientieren. Die wahrgenommenen Vorteile werden zum Teil mit Dateiformaten
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verbunden: So seien pdf-Dateien verlässlicher als Websites, da an der Datei nachträglich nichts geändert werden könne. Teilweise schränkten die Studierenden ihre Suche auf pdf-Formate ein. Als grundsätzlich wichtig wurde empfunden, dass elektronische Texte durch „copy and paste“ bequem und fehlerfrei weiterverarbeitet werden können. Der Mehrzahl der Teilnehmer war es auf Dauer allerdings zu anstrengend, am Bildschirm zu lesen: So wurde verschiedentlich beklagt, dass nach langer Bildschirmarbeit die Augen regelmäßig gerötet und geschwollen oder die Muskeln verspannt seien. Sieben Probanden gaben an, dass sie Texte am Bildschirm überfliegen würden und nicht richtig aufnehmen könnten. Andere wollten einen Text ausdrucken und beim Lesen in der Hand halten, um Anstreichungen und Notizen anfügen zu können. Mehrfach wurde angeführt, das Markieren, Strukturieren und Organisieren sei mit Papier einfacher: Man könne mehrere Texte nebeneinander legen und schneller darin vor- und zurückblättern. Zwei Teilnehmer begründeten ihre Präferenz für das gedruckte Format noch grundsätzlicher mit eigenen Gewohnheiten: „Vielleicht ist es auch noch dieses Denkschema, dass man irgendwie sagt: Ich hab‘s so gelernt und jetzt will ich‘s erst mal so beibehalten.“ Zudem wurde vereinzelt das gedruckte Buch als vertrauenswürdiger und relevanter empfunden („Bei E-Books, eben wenn ich irgendetwas nur auf dem Bildschirm hab, erachte ich es vielleicht auch als nicht so wichtig. Man hat das ja heutzutage noch so: Was mal gedruckt wurde, in einem Buch steht, hat mehr Wahrheit wie irgendein Internetartikel.“). Im Unterschied zu früheren Untersuchungen schien nur noch einer geringen Zahl von Teilnehmern der Begriff „E-Book“ nicht klar zu sein („Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht so ganz, was ein E-Book genau ist.“). So werden E-Journals für E-Books gehalten („Zeitschriften im E-Book-Format“, „viele Zeitschriften als E-Book sozusagen lesbar“), E-Books mit E-Readern gleichgesetzt („Also das verstehe ich, wenn mir wer sagt „E-Books“ dann seh‘ ich gleich so’n Gerät“) oder mit Katalogen verwechselt („Ich weiß, dass die da auch [so etwas wie] ein E-Book haben, also dass man da den Suchbegriff eingibt […]. Also das ist bei unserer Zeitung so, die haben so ’nen E-Book-Reader bei denen im Haus stehen und wenn ich da dann ’nen Suchbegriff eingeb‘ und das irgendwo in einer Überschrift drinstand, dann wird mir der Artikel aufgerufen.“). In der Konsequenz gaben unerfahrene Studierende meist an, lieber zum gedruckten Buch zu greifen. Selbst Probanden, die mit dem Thema E-Books grundsätzlich vertraut waren, fehlten allerdings Grundkenntnisse zum Umgang mit elektronischen Texten: Viele bemängelten an E-Books die fehlende Möglichkeit, mit einem Textmarker zu arbeiten und waren sich nicht bewusst, dass vielen Angebote bereits über entsprechende Möglichkeiten zur Bearbeitung der Texte verfügen. Manchen Studierenden war nicht klar, wie man ein E-Book überhaupt „leihen“ kann und wie der Zugriff von zu Hause per Virtual Private Network (VPN) funktioniert.
152 Kathy Heintz und Sebastian Mundt Einzelne Teilnehmer wünschten sich insgesamt mehr Werbung von Seiten der Bibliothek bzw. eine bessere Übersicht, welche E-Books es gibt und wo diese zu finden sind. Zwei Studierende gingen davon aus, dass E-Books bisher lediglich im Belletristik-Bereich angeboten werden.
Profilbasierte Auswertung Im Vergleich der Untersuchungsteilnehmer konnten insgesamt sechs studentische Verhaltensprofile identifiziert werden. Einige der Profile beschreiben eher grundsätzliche Arbeitsgewohnheiten, andere beziehen sich speziell auf die Lesegewohnheiten. Auch wenn die Reihenfolge der Darstellung dem Prinzip „vom Konservativen zum Progressiven“ folgt, kann sie daher nicht vollkommen stringent sein. Einige Probanden wiesen zudem Merkmale verschiedener Typen auf und ließen sich keinem der Profile eindeutig zuordnen. Bis auf wenige Ausnahmen traten hinter den Profilen keine bestimmten Studienrichtungen auffällig in Erscheinung. Aufgrund des mit dem qualitativen Untersuchungsansatz verbundenen geringen Stichprobenumfangs soll an dieser Stelle auf Häufigkeitsaussagen über die Profile verzichtet werden.
Der Konservative Der konservative Typ ist geprägt von Gewohnheiten und kulturellen Traditionen. Er ist mit Büchern aufgewachsen, seine Haltung gegenüber E-Books ist eher ablehnend. Für ihn ist es besonders wichtig „etwas in der Hand zu halten“ und darin „rumzublättern“ („Ich les’ lieber noch so richtig.“). Daher druckt er elektronische Texte grundsätzlich aus, statt sie am Bildschirm zu lesen. E-Books und Reader sind für ihn ein „Spielzeug“ oder „High-Tech-Schnickschnack“, von dem er glaubt, dass es sich nicht durchsetzen wird. Einzig Probanden mit naturwissenschaftlichem Hintergrund wiesen keine der genannten Eigenschaften des Konservativen Typs auf.
Der Bequeme „Google reicht aus… wer suchet, der findet über Google“, so die Meinung eines Bequemen. Er vermeidet den Weg in die Bibliothek und benutzt auch nicht den Bibliothekskatalog. Suchmaschinen bringen ihm die Antwort direkt auf den Bildschirm; deren Ergebnisse bewertet er nur oberflächlich. Ein ganzes Buch zu lesen wäre zu anstrengend und umständlich – dort ist „alles so drum-
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rumgeschrieben“. Bei diesem Typ handelt es sich meist um Erstsemester, die die Bibliothek „bis jetzt noch nicht brauchen“. In geringem Maße ist der Typ jedoch auch in höheren Semestern vertreten.
Der Pragmatische Der pragmatische Typ präferiert das gedruckte Buch für dessen gewohnten Lesekomfort. Er nutzt aber auch E-Books, soweit sie ihm bestimmte Vorteile versprechen, z.B. die Möglichkeit des standortunabhängigen Zugriffs oder die Supplementfunktion, falls keine gedruckte Version existiert oder diese ausgeliehen ist. Er recherchiert und liest bisweilen am Bildschirm, druckt andererseits aber selbst kurze Texte aus, wenn er abgespannt ist oder wenn er diese markieren oder transportieren möchte. Im übertragenen Sinn könnte sein Verhalten als „amphibisch“ bezeichnet werden: Bücher und E-Books erkennt und nutzt er als Alternativangebote mit unterschiedlichen Vorteilen. Auch der „Laie“ ist als Untertyp des „Pragmatischen“ E-Books gegenüber durchaus aufgeschlossen. Begrenztes technisches Know-How im Umgang mit dem VPN-Zugang, eine komplizierte Nachweissituation oder wenig benutzerfreundliche Nutzungsmodalitäten stellen den Laien jedoch vor scheinbar unüberwindliche Hürden. Wäre der Zugang bzw. Umgang mit den Angeboten verständlicher oder besser bekannt, würde der Laie E-Books häufiger nutzen.
Der ökologisch Motivierte Das Ausdrucken von Literatur und anderen Informationsquellen ist nach Meinung des ökologisch motivierten Typs unwirtschaftlich; er besitzt in vielen Fällen keinen eigenen Drucker. Drucken bedeutet für ihn in erster Linie Papierverschwendung und hohe Verbrauchskosten für Toner und Papier. Häufig führt er für den Verzicht explizit ökologische Gründe an: So möchte er durch die Reduzierung des eigenen Papierverbrauchs seinen Beitrag dazu leisten, dass weniger Bäume gefällt werden. Er arbeitet daher hauptsächlich oder ausschließlich am Bildschirm – jedoch nicht zwangsläufig aus einem empfundenen Vorteil heraus, sondern eher aufgrund einer konsequent gelebten Grundüberzeugung. Diese Konsequenz findet sich auch in der Grundhaltung zu E-Books wieder: Diese sind ihm zum Lesen am Bildschirm zu lang. Er druckt sie jedoch nicht aus, sondern greift zum gedruckten Original – dem Buch. Bei der Auswertung nach Studiengängen fanden sich die Eigenschaften des ökologisch motivierten Typs vor allem bei Probanden mit naturwissenschaftlichen Schwerpunkten wieder.
154 Kathy Heintz und Sebastian Mundt
Der Informationskompetente Der Informationskompetente verfolgt in der Regel eine sachkundige und ausgefeilte Strategie bei der Literatursuche. Um einen Treffer beurteilen zu können, benutzt er Kataloge mit angereicherten Titelinformationen wie Voransichten, Rezensionen und Bewertungen (z.B. bei Amazon). Er schätzt die Dienstleistungen seiner Bibliothek vor Ort und im Netz – einschließlich lizenzierter Fachdatenbanken und wissenschaftlicher Suchmaschinen. Teilweise haben Personen dieses Typs eine Einführungsveranstaltung der Bibliothek besucht oder würden bei Problemen mit Datenbanken eine entsprechende Schulung besuchen.
Der Technik-Kompetente Er präferiert das Lesen und Arbeiten am Bildschirm; Texte druckt er nur selten aus. Online-Inhalte wie Blogs und Videos nutzt er ergänzend zu „klassischen“ Textformaten vielfältig und selbstverständlich, um sich in seinen – meist technischen – Interessengebieten auf dem neuesten Stand zu halten. Typischerweise verfügt er über ein mobiles Endgerät (Smartphone oder Tablet-PC) und/oder einen eigenen E-Book-Reader. Einige rechtfertigten für die Beschaffung lizenzierter Inhalte sogar illegales Verhalten bzw. nahmen es selbst in Kauf („Als Student bleibt einem ja nichts anderes übrig – kostentechnisch in dem Fall.“).
Fazit Das Recherche- und Leseverhalten der Probanden in dieser Studie ist als deutlicher Beleg dafür zu werten, dass Studierende die Handlungskette vom Finden bis zum Zugang zu Fachinformationen konsequent an den Kriterien des „quick and convenient“ messen. Ihr angestrebtes Informationsniveau ist nicht durch eine objektiv umfassende Quellenlage bestimmt: Der kompetente Umgang mit Informationsressourcen ist nicht ein per se erstrebenswertes Ziel, sondern vielmehr ein Mittel, um den Zweck von schriftlichen Studien- und Prüfungsarbeiten erfüllen zu können. Kommerzielle Informationsanbieter wie Google und Amazon bündeln in ihren Angeboten eine Vielzahl nützlicher Funktionen und sind für pragmatisch vorgehende Studierende der Einstiegspunkt in die Literatursuche. Die reine Recherche nach Literaturquellen wird im Internet zusätzlich ergänzt durch sekundäre Informationsquellen, die textlichen, bildlichen oder multimedialen Charakter haben können. Auch die Nutzung elektronischer Texte scheint sich an den Kriterien von Schnelligkeit und Bequemlichkeit zu messen: Die Bewertung elektronischer Texte wird von den meisten Probanden nicht auf Grundlage grundsätzlicher
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Überlegungen, sondern situativ getroffen und lässt den Schluss zu, dass der Bedarf an paralleler Verfügbarkeit von gedruckten und elektronischen Ausgaben zunehmen wird. Nur in wenigen Fällen waren die Ergebnisse dieser Studie auf deutliche fachgebundene Präferenzen zurückzuführen. Dies wird als erstes Indiz dafür gewertet, dass die Akzeptanz von elektronischer Fachliteratur nicht primär von der Zugehörigkeit zu bestimmten Fachdisziplinen, sondern vielmehr von anderen Einflussfaktoren bestimmt wird. Die im zweiten Teil der Auswertung dargestellten Profile bieten einen ersten möglichen Interpretationsrahmen, der als ein Ausgangspunkt für die Auswertung der nachfolgenden Repräsentativstudie dienen kann.
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Teil III: Trends
8. Barrierefreiheit in digitalen Bibliotheken Brigitte Bornemann Einleitung Unter Barrierefreiheit, engl. accessibility (Zugänglichkeit), verstehen wir, dass Einrichtungen des öffentlichen Raums – Bürgersteige, Gebäude und auch das Internet – von Menschen mit Behinderungen selbständig benutzt werden können. In den europäischen Ländern besteht eine gesetzliche Pflicht zur Barrierefreiheit für Internetauftritte der öffentlichen Hand. Auch die Deutsche Digitale Bibliothek (DDB) muss für Menschen mit Behinderungen zugänglich sein. Die digitalen Bibliotheken stehen an einem strategisch wichtigen Punkt für den Zugang zum Wissen, und dies gilt auch für Menschen mit Behinderungen. In digitaler Form kann Wissen weitaus besser als in gedruckter Form für Menschen mit Lesebehinderungen zugänglich gemacht werden. Hier sammeln sich aber auch alle bisher ungelösten Problemstellungen der Barrierefreiheit: Verständlichkeit der Suche, Zugang zu den verschiedenen Medientypen, Bedienbarkeit komplexer Web-Anwendungen. Diese Aufgaben stehen bei der Entwicklung der Internetportale auf einer generellen Ebene sowieso an, und gewinnen durch die Anforderung der Barrierefreiheit noch eine Dimension hinzu. Wenn die kritischen Punkte der Barrierefreiheit im Rahmen der digitalen Bibliotheken gelöst werden könnten, wäre hierdurch ein großer gesamtgesellschaftlicher Fortschritt erreicht. Auf dem gegenwärtigen Stand der Internetportale stehen allerdings die fachlichen Herausforderungen digitaler Bibliotheken noch ganz im Vordergrund. Es entsteht die Besorgnis, dass vielleicht der beste Zeitpunkt für die Umsetzung der Barrierefreiheit verpasst werden könnte. Gerade in großen, interdisziplinär angelegten Entwicklungsprojekten ist die Barrierefreiheit erfahrungsgemäß nur schwer einzubringen, da auf allen Ebenen ein Expertenwissen erforderlich ist, das von den Fachverantwortlichen zumeist unterschätzt wird. Im Folgenden wird, nach einer Darstellung der gesetzlichen Grundlagen und des Stands der Technik, auch die Implementierung der Barrierefreiheit in den verschiedenen Phasen eines Entwicklungsprojekts erörtert. Dabei wird soweit möglich auf die DDB als Beispiel einer digitalen Bibliothek eingegangen.
160 Brigitte Bornemann
Barrierefreiheit als Zielsetzung in Internetprojekten der öffentlichen Hand Das Thema Barrierefreiheit ist seit etwa zehn Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung präsent, seit gesetzliche Regelungen zur Gleichstellung behinderter Menschen nicht nur die rechtliche Stellung der Einzelperson, sondern auch die barrierefreie Gestaltung des öffentlichen Raums regeln. Aktuell sorgt vor allem die UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities, die derzeit in nationale und regionale Gesetze und Verwaltungsprozesse eingearbeitet wird, für Medienpräsenz. In der Informationstechnik gilt die Aufmerksamkeit den technischen Standards für Barrierefreiheit im Internet, den internationalen Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) und den darauf basierenden nationalen Regelungen, deren Modernisierung noch nicht ganz abgeschlossen ist. Analog zur Beschaffungsrichtlinie Section 508 in den USA, die bestimmt, dass von US-Regierungsbehörden eingesetzte Produkte und Technologien barrierefrei sein müssen, ist auf EU-Ebene unter dem Titel Mandate 376 eine entsprechende Richtlinie auf den Weg gebracht worden. Hintergrund der zunehmenden Bedeutung von Barrierefreiheit sind zwei parallel verlaufende Prozesse in den westlichen Gesellschaften: zum einen der demografische Wandel und die steigende Lebensarbeitszeit, zum anderen die Verlagerung aller Informationsprozesse ins Internet, die persönliche Kontakte zusehends ablöst. Immer mehr öffentliche und private Dienstleistungen werden im Internet angeboten, z.B. das Beantragen behördlicher Dokumente, das Buchen von Fahrscheinen, die Ausleihe von E-Books oder die Rückmeldung von Zählerständen an ein Energieversorgungsunternehmen. Es ist absehbar, dass das Internet bald das eine, ubiquitäre Medium sein wird, in dem das gesellschaftliche Leben stattfindet, zu dem alle Bürger Zugang haben müssen. Da mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit körperlicher Beeinträchtigungen steigt1, wird die Barrierefreiheit des Internet zu einer notwendigen Voraussetzung, um älteren Menschen möglichst lange ein produktives Arbeiten und selbständiges Leben zu ermöglichen. Barrierefreiheit ist nicht nur eine Forderung der Menschenrechte und der sozialen Fürsorge, sondern auch der makroökonomischen Wirtschaftlichkeit. Ein barrierefreies Informationssystem kann von behinderten Menschen „auf die allgemein übliche Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe“ (BGG § 4) genutzt werden. Je besser die von allen benutzte technische Infrastruktur barrierefrei gemacht werden kann, desto geringer ist der noch verbleibende Unterstützungsbedarf der Einzelperson. Barrierefreiheit hat das alte Konzept der special needs, der Sonderbehandlung Behinderter, abgelöst, es ist der wirtschaftlich machbare Weg zu einer inklusiven Gesellschaft (UN-Convention). 1
Vgl. Bornemann et al. 2010.
Barrierefreiheit in digitalen Bibliotheken 161
Die Europäische Union hat unter den Aktionsnamen eEurope und i2010 seit 1999 die Entstehung einer „Informationsgesellschaft für alle“ gezielt gefördert. Zu den weit gespannten Maßnahmen – von der Vereinheitlichung der technischen Standards über Initiativen wie „Schulen ans Netz“, dem eGovernment-Aktionsplan und der Einrichtung der europäischen digitalen Bibliothek Europeana – gehörte von Anfang an der Zugang für Menschen mit Behinderungen. Die Barrierefreiheit fehlt in keinem der aufeinander aufbauenden Aktionsprogramme, sie gehört zu den Maßnahmen, die ein digital divide, den Ausschluss benachteiligter Gruppierungen aus der Informationsgesellschaft, verhindern sollen. Zugleich macht sie das positive Potential der Digitalisierung sichtbar, indem Informationen in digitaler Form besser als je zuvor für Menschen mit Behinderungen zugänglich gemacht werden können. Eine der ersten Maßnahmen von eEurope war die Selbstverpflichtung der EU und ihrer Mitgliedsstaaten, die Internetseiten auf Regierungsebene barrierefrei zu gestalten. In der Folgezeit wurde dieser Anspruch auf alle mit öffentlichen Mitteln geförderten Projekte ausgedehnt. Betrachtet man allerdings die durchgeführten Projekte, so bleibt der erreichte Stand der Barrierefreiheit weit hinter dem Erwünschten zurück. In einem Test der Webauftritte deutscher Bundesbehörden im Jahr 2006, nach Ablauf der Übergangsfrist für die mit der BITV (s.u.) im Jahr 2002 ausgesprochenen Verpflichtung, wurden nur 21,5% der getesteten Internetauftritte als gut oder sehr gut zugänglichen bewertet, 43% als eingeschränkt zugänglich, 35,5% als schlecht zugänglich.2 Dies muss als ein gutes Ergebnis anerkannt werden, das in der „heißen Phase“ der Bewegung für ein barrierefreies Internet durch die Aufmerksamkeit der Fachöffentlichkeit und durch begleitende Beratungsprojekte möglich wurde. In anderen Bereichen, in denen die Barrierefreiheit keine vergleichbare Anteilnahme genießt, würde ein Test deutlich schlechter ausfallen. Diese Ergebnisse zeigen, dass die Barrierefreiheit auch heute noch keinesfalls zum Grundwissen der Informationstechnik oder der Internetentwickler gehört, wie viele meinen. Es ist nach wie vor ein Expertenwissen, und steht aktuell in Gefahr, wieder vernachlässigt zu werden, seitdem das Thema mit Web 2.0 und Social Media konkurrieren muss. Eine gezielte Förderung der Barrierefreiheit in den Internetprojekten der öffentlichen Hand ist nach wie vor notwendig, und wird auch in der Digitalen Agenda für Europa, die seit 2010 eEurope abgelöst hat, weiterhin gefordert.
2
BIK, 2006.
162 Brigitte Bornemann
Technischer Standard WCAG 2.0 Der maßgebliche internationale Standard für die barrierefreie Gestaltung von Internetauftritten sind die vom World Wide Web Consortium herausgegebenen Web Content Accessibility Guidelines WCAG 2.0, Richtlinien für barrierefreie Webinhalte, vom Dezember 2008. Die in den WCAG 2.0 ausgeführten Anforderungen wurden bereits vielfach dargestellt3, daher seien hier nur die vier zentralen Gestaltungsprinzipien genannt, unter die sich alle Regeln einordnen lassen: –
–
–
–
Wahrnehmbarkeit. Die Aufnahme von Informationen auch bei eingeschränktem Sehen und Hören sicherstellen. Ausreichenden Kontrast, skalierbare Texte, Alternativtexte für Bilder und Videos zur Verfügung stellen, Informationen auf mehreren Wegen zugänglich machen. Bedienbarkeit. Auch alternative Eingabegeräte berücksichtigen, insbesondere die volle Tastaturbedienbarkeit sicherstellen. Fehlertoleranz und längere Bedienzeiten gewähren. Verständlichkeit. Auch Menschen mit Lernbehinderungen oder niedrigerem Bildungsniveau berücksichtigen durch einfache Sprache, übersichtliche Navigationsstrukturen, Erläuterung von Fachbegriffen. Robustheit. Menschen mit Behinderungen sollen ihre Hilfsmittel, z.B. Sprachausgaben und Braillezeilen, nutzen können. Dies wird vor allem durch eine standardkonforme Programmierung erreicht.
Die vier Prinzipien sind die oberste Ebene eines tief gegliederten Systems, darunter stehen zwölf Richtlinien, denen jeweils testfähige Erfolgskriterien in drei Anforderungsniveaus zugeordnet sind. Für Konformitätstests können die Erfolgskriterien zu den Stufen A, AA und AAA zusammengefasst werden. Auf der untersten Ebene des Systems stehen Hinweise zur technischen Umsetzung, die nicht verpflichtend sind und je nach dem Stand der Technik fortgeschrieben werden. Ein Leitfaden Understanding WCAG 2.0 gibt Hintergrundinformationen zum Verständnis der Richtlinien. Die Gestaltungsregeln der WCAG sind im Sinne eines Design for All zu verstehen, d.h. die Regeln sind zwar für Menschen mit Behinderungen gemacht, sollen aber die Ergonomie und Effizienz für alle Nutzer fördern. Aus dem Straßenverkehr ist das Beispiel der abgeschrägten Bordsteinkanten bekannt, die für Rollstuhlfahrer eingeführt wurden, aber auch mit Fahrrädern und Kinderwagen vielfach genutzt werden. In ähnlicher Weise fördern die Gestaltungsregeln der Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit und Verständlichkeit die allgemeine Software-Ergonomie. Auch eine nachhaltige Wirtschaftlichkeit barriere3
Siehe Bornemann et al., 2010.
Barrierefreiheit in digitalen Bibliotheken 163
freier Systeme wird beansprucht und kann am Beispiel der standardkonformen Programmierung von Internetseiten nachgewiesen werden4. Nur wenn im Grenzfall die allgemeinen Regeln nicht ausreichen, werden Angebote verlangt, die ausschließlich einer bestimmten Gruppe von Behinderten zugute kommen. So wird die deutsche BITV 2.0 (s.u.) den Einsatz spezieller Sprachversionen in „Leichter Sprache“ für Menschen mit Lernbehinderungen und in Gebärdensprache für Gehörlose verlangen. Der Einsatz solcher special needs ist nicht unumstritten und jeweils für den Einzelfall sorgfältig abzuwägen. WCAG 2.0 löste die Vorgängerversion WCAG 1.0 aus dem Jahr 1999 ab. Die neue Richtlinie berücksichtigt auch dynamische Webanwendungen und Multimediainhalte, während die ältere Version sich im Wesentlichen auf statische Internetseiten beschränkte. Die Regeln gelten jetzt für alle im Internet gebräuchlichen Formate, während die ältere Richtlinie auf die W3C-eigenen Standards HTML und CSS zugeschnitten war. In barrierefreien Websites sind jetzt also auch Inhalte in JavaScript, PDF und Flash® erlaubt, soweit sie in sich barrierefrei sind. Die konkreten technischen Regeln und Produktionsverfahren für die barrierefreie Gestaltung dieser „Fremdformate“ sind aber erst zu einem geringen Teil ausgearbeitet. Während barrierefreie HTML-Seiten seit Jahren relativ ausgereift sind, gehören JavaScript-Anwendungen und PDF-Dokumente heute zu den Pilotanwendungen in barrierefreien Internetprojekten.
Staatliche Verordnungen und Umsetzungsprojekte Die Herausgabe der WCAG 1.0 im Mai 1999 war weltweit der Anstoß für zahlreiche nationale Gesetze und Verordnungen, in denen das technische Regelwerk der WCAG weitgehend unverändert übernommen wurde. Auch die Europäische Union verpflichtete ihre Mitgliedsländer auf die Umsetzung der Richtlinie. Hieraus entstanden die je nach nationalem Rechtssystem leicht unterschiedlichen Gesetzeswerke. Im Folgenden soll vor allem die Situation in Deutschland betrachtet werden, mit einem Seitenblick auf die deutschsprachigen Nachbarländer.
Gesetzliche Regelungen In Deutschland sind die WCAG 1.0 in die Barrierefreie InformationstechnikVerordnung (BITV) vom 17.07.2002 eingegangen, eine Verordnung zur Durchführung von § 11 des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) vom 27. 04.2002. Das BGG ist ein Gesetz auf Bundesebene, daneben bestehen entsprechende Landesgesetze. 4
Siehe Bornemann et al., 2010; Bornemann-Jeske, 2005.
164 Brigitte Bornemann Die BITV übernimmt die technischen Regeln der WCAG 1.0, führt aber ein strengeres Anforderungsniveau ein, indem sie die Konformitätslevel WCAG A und AA zu BITV Priorität I zusammenfasst, WCAG AAA wird zu BITV Priorität II. Alle Angebote müssen Priorität I erfüllen, „zentrale Navigations- und Einstiegsangebote“ (BITV § 3 Abs. 2), also Portale, müssen zusätzlich Priorität II erfüllen. Eine auf das Einstiegsniveau nach WCAG Level A reduzierte Barrierefreiheit ist im Bereich der BITV nicht vorgesehen. Das BGG verpflichtet recht weitgehend Bundesbehörden „einschließlich der bundesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts“ (BGG § 7 Abs. 1), und gilt daher z.B. auch für die Deutsche Rentenversicherung und die Deutsche Nationalbibliothek. Die deutschen Bundesländer haben jeweils ihre eigenen Behindertengleichstellungsgesetze und Durchführungsverordnungen, die zwischen 1999 und 2008 erlassen wurden, teils also vor dem BGG. In den technischen Regeln verweisen sie überwiegend auf die BITV, es gibt aber auch Abweichungen, z.B. führt Hamburg eine dreistufige Gewichtung analog WCAG ein (HmbBITVO § 3). Auch im Geltungsbereich sind die Landesgesetze uneinheitlich, einige binden ausschließlich die obersten Landesbehörden, andere beziehen auch die Gemeinden und die Anstalten öffentlichen Rechts mit ein. In Bayern sind z.B. der Bayerische Rundfunk und die Landesmedienanstalt ausdrücklich ausgenommen (BayBGG § 9 Abs. 1). In dieser unübersichtlichen Lage ist vielfach nur mit spezifischer Rechtskenntnis festzustellen, ob eine bestimmte Institution zur Barrierefreiheit verpflichtet ist. So kann man auch bei den zur DDB beitragenden Institutionen (s.u.) nicht davon ausgehen, dass sie alle der BITV oder einer entsprechenden Landesverordnung unterliegen. BGG § 13 führt ein Verbandsklagerecht ein, zu dem eigens registrierte Verbände der Behindertenselbsthilfe berechtigt sind. Es können also nicht mehr nur Einzelpersonen klagen, die ihre persönlichen Rechte verletzt sehen. Trotz dieser vereinfachten Rechtsverfolgung ist bisher in Deutschland kein Gerichtsverfahren wegen mangelnder Barrierefreiheit von Internetauftritten bekannt. Die deutschen Behindertenverbände setzen auf den guten Willen der zur Barrierefreiheit verpflichteten Träger der öffentlichen Gewalt. Diese diplomatische Haltung kann sich jedoch bei veränderten Voraussetzungen jederzeit ändern. Die private Wirtschaft unterliegt in Deutschland keiner gesetzlichen Auflage zur Barrierefreiheit. Es gibt aber das Rechtsinstrument der Zielvereinbarung nach BGG § 5, das registrierte Verbände der Behindertenselbsthilfe autorisiert, mit Wirtschaftsunternehmen eine Zielvereinbarung zur Barrierefreiheit ihrer öffentlichen Internetauftritte abzuschließen. Auch von diesem Instrument wurde, außer in Mustervereinbarungen, bisher kein Gebrauch gemacht. Dennoch gibt es einige freiwillige Übernahmen der Barrierefreiheit bei Unternehmen wie etwa der Deutschen Bahn und der Postbank.
Barrierefreiheit in digitalen Bibliotheken 165
Im Sommer 2011, voraussichtlich noch vor dem Drucktermin dieser Abhandlung, soll die lange erwartete BITV 2.0 endlich in Kraft treten5, die Novellierung der BITV zur Übernahme der internationalen Richtlinie WCAG 2.0. Die Verzögerung verdankt sich einer langwierigen Abstimmung mit den Behindertenverbänden, als deren Ergebnis der „deutsche Sonderweg“ in der Umsetzung der WCAG weiter vertieft wurde. Es wird nun in drei wesentlichen Punkten eine abweichende Regelung der BITV geben:
– – –
Wie bisher gelten die höheren Anforderungsniveaus Priorität I und II. Anstelle der WCAG-Richtlinie 3.1.5 „reading level“ wird die alte Fassung „Einfache Sprache“ eingesetzt. Ergänzend zu den Bestimmungen der WCAG wird die Bereitstellung von Informationen in Leichter Sprache und in Deutscher Gebärdensprache verlangt, um „den besonderen Belangen gehörloser, hör-, lern- und geistig behinderter Menschen Rechnung (zu) tragen“.
Leider ist hier nicht der Raum für eine inhaltliche Diskussion der abweichenden Regelungen. Positiv anzumerken ist, dass mit dem Erlass der Novellierung nun bald eine Phase des Stillstands zu Ende geht. Deutschland wird wieder eine Verordnung auf dem anerkannten Stand der Technik haben, und damit eine Handhabe für die öffentliche Hand, ihre Internetauftritte nach modernen Anforderungen fortzuentwickeln. In Österreich regelt das E-Government-Gesetz (E-GovG) vom 01.03.2004, dass behördliche Internetauftritte „internationale Standards über die Web-Zugänglichkeit … für behinderte Menschen“ einhalten müssen. Nähere Durchführungsbestimmungen gibt es nicht, hierdurch gilt WCAG 2.0 ohne Zeitverzug automatisch. Die erste Auflage des E-GovG enthielt eine Umsetzungsfrist bis zum 01.01.2008. In einer Erhebung des Bundeskanzleramts von 2007 wurde ein Erfüllungsgrad von 94% für WCAG Level A festgestellt6, nachdem bereits seit 2002 Informationsveranstaltungen für die Webmaster der Bundesbehörden stattgefunden hatten. Das seit 01.01.2006 geltende Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG) verpflichtet darüber hinaus auch bestimmte nicht-behördliche Webangebote auf Barrierefreiheit, allerdings mit einem Zumutbarkeitsvorbehalt für den Einzelfall. Der gerichtlichen Klage ist ein Schlichtungsverfahren vorgelagert. Entsprechende Rechtsfälle sind nicht bekannt. Die Schweiz ist zwar kein Mitgliedsland der EU, hat aber die EUDeklaration von Riga vom 11.06.2006 mit unterzeichnet, und sich damit verpflichtet, die öffentlichen Websites bis 2010 für Menschen mit Behinderungen 5
6
Persönliche Mitteilung von Personen aus dem Umkreis des mit dem Gesetzgebungsverfahren betrauten Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung an die Autorin am 05.07.2011. Siehe auch den bei der EU-Kommission zur Notifizierung vorgelegten Referentenentwurf der BITV 2.0. Eibl & Wagner-Leimbach, 2007.
166 Brigitte Bornemann zugänglich zu machen7. Das schweizerische Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz, BehiG) und die entsprechende Durchführungsverordnung Behindertengleichstellungsverordnung, BehiV, beide in Kraft getreten am 01.01.2004, begründen den Rechtsanspruch von Menschen mit Behinderungen, bei Dienstleistungen des Bundes nicht benachteiligt zu werden. Für Dienstleistungen im Internet gelten laut BehiV Art. 10 die Richtlinien des W3C, mit genauerer Spezifikation durch den schweizerischen Informatikstandard P028 Richtlinien des Bundes für die Gestaltung von barrierefreien Internetangeboten. Letzterer wurde am 27.01.2010 auf die WCAG 2.0 aktualisiert. P028 verpflichtet Websites des Bundes auf die Konformitätsstufe WCAG AA. In der älteren Fassung des P028 von 2005 wurde explizit die Barrierefreiheit von PDFDokumenten gefordert, womit die Schweiz eine Vorreiterrolle einnahm.
Abb. 1: Der BITV-Test des BIK-Projekts mit dem Qualitätssiegel 95plus für empfehlenswerte Agenturen, die Websites mit mindestens 95 Punkten im BITV-Test erstellen können.
Das Schweizerische BehiG bindet die Bundesregierung und -verwaltung und prinzipiell auch die Kantone und Gemeinden. Letztere haben aber bisher keine entsprechenden Durchführungsverordnungen erlassen, so dass bei den nachgeordneten Verwaltungseinheiten ein Rückstand in der Umsetzung der Barrierefreiheit besteht.8 Der Stand der Umsetzung im Bund wurde in den Jahren 2004 und 2007 überprüft. Die besten Ergebnisse erreichten die Websites der Bundesverwaltung, die im Rahmen einer Design-Umstellung an den Standard 028 angepasst worden waren.9 7 8 9
Riesch, 2007. „Gesetzliche Rahmenbedingungen in der Schweiz“, in: Zugang für alle . Riesch, 2007.
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Umsetzungsprojekte In Deutschland wurde die Einführung der Barrierefreiheit mit einigen Umsetzungsprojekten gefördert, die teils fortdauernde Ressourcen geschaffen haben. Zu nennen ist insbesondere der BITV-Test, ein Prüfverfahren zur Bewertung der Konformität von Websites nach BITV, der zum Prüfstandard für Websites der öffentlichen Hand geworden ist. Der BITV-Test wird weiter fortentwickelt und liegt bereits in der neuen Version für BITV 2.0 vor. Der BIENE-Award ist ein jährlich ausgetragener Wettbewerb zur Prämiierung der besten deutschsprachigen barrierefreien Websites, die Liste der BIENEGewinner ist anerkannt als Quelle für Musterlösungen des barrierefreien Webdesigns. Als Quelle für Fachwissen ist insbesondere das Portal Einfach für alle der Aktion Mensch zu nennen. Die Schweizerische Stiftung Zugang für alle unterhält eine PDF-Werkstatt und hat den PDF Accessibility Checker (PAC) herausgegeben, ein kostenloses Tool zur Überprüfung der Barrierefreiheit von PDF-Dokumenten. Beratungsprojekte, die sowohl die Regierungsbehörden bei der Umsetzung der BITV unterstützt als auch darüber hinausgehend öffentlich geförderte Beratung angeboten haben, sind bereits abgeschlossen. Qualifizierte Dienstleister für Accessibility-Beratung und barrierefreies Webdesign sind zu finden über das Mitgliederverzeichnis des AbI-Projekts und die 90plus-Liste des BITV-Tests.
Die Deutsche Digitale Bibliothek Wenn die Deutsche Digitale Bibliothek (DDB) im Herbst 2011 für eine begrenzte Öffentlichkeit online geht, ist dies nur eine Etappe in der Reihe der Herausforderungen, die das Jahrhundertprojekt zu bewältigen hat. Die DDB will den gesamten deutschen Wissensbestand in digitaler Form zugänglich machen, Bücher ebenso wie Archivalien, Bilder, Musik und Film, historische Bestände ebenso wie Neuerscheinungen. Je nach Lage der Urheberrechte soll eine kostenfreie Nutzung für den Endverbraucher eingerichtet, aber auch Bezugsquellen für Ausleihe oder Erwerb sollen nachgewiesen werden. Kernstück des Vorhabens ist eine gemeinsame semantische Suche über alle Bestände. Historische Bestände wurden teils schon von den beteiligten Bibliotheken, Archiven und Museen in vorangegangenen Digitalisierungsprojekten angelegt. Bis zu 30.000 Institutionen wird das Projekt unter einem Dach vereinen. Die DDB will der zentrale Zugang zum Wissen werden, der sich durch bibliothekarisch erschlossenes hochwertiges Material auszeichnet. Sie will etwas von dem Terrain zurückerobern, das die Bibliotheken an Google und Wikipedia verloren haben. Zu den erklärten Zielen der DDB gehört auch die Barrierefreiheit. Auf ihrer Website wird die „Vision vom frei zugänglichen Wissen“ angesprochen, und
168 Brigitte Bornemann dabei auch der besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen gedacht. Ebenso in der Anforderungsanalyse: man will „den deutschen Kulturund Wissensschatz für Menschen mit und ohne Sinnesbehinderungen oder motorische Einschränkungen in gleicher Weise verfügbar“ machen und hiermit „symbolisch ein Zeichen“ setzen. 10 Dieses hoch gesteckte Ziel könnte mit Befriedigung zur Kenntnis genommen werden, wenn da nicht ein latentes Misstrauen wäre, das aus schlechten Erfahrungen mit anderen Projekten stammt. Wird es bei der DDB besser laufen, sind die Weichen richtig gestellt, um am Ende ein barrierefreies Ergebnis zu erzielen? Leider bleibt beim bisher sichtbaren Planungsstand Grund zur Besorgnis bestehen. Denn auch die Barrierefreiheit hat ihre Herausforderungen. Um nur die wichtigsten zu nennen, die beim Thema Online-Bibliotheken ins Auge fallen: – –
Ein barrierefreies Format für digitale Dokumente, Digitalisate, E-Books hat sich bisher noch nicht etabliert. Dynamische Web-Anwendungen, wie sie u.a. zur Online-Sichtung der Digitalisate benötigt werden, sind eine Pionieraufgabe für barrierefreies Webdesign.
Wenn die DDB es mit der Barrierefreiheit ernst meint, wird sie sich dieser Herausforderungen annehmen müssen. Im Moment deuten die Anzeichen jedoch eher auf eine defensive Herangehensweise hin. In der Anforderungsanalyse gibt es kein Detailkonzept zur Barrierefreiheit, vielmehr wird auf die „gängigen Standards der Benutzungsfreundlichkeit und Barrierefreiheit“ Bezug genommen und die Einbindung von Experten in Aussicht gestellt.11 Wann sollte das geschehen? In der jetzigen Phase der technischen Umsetzung ist es bereits zu spät, um noch kritische Punkte der Barrierefreiheit regeln zu können. So wird zwar die Präsentationsschicht des Portals nach den Anforderungen der BITV implementiert, allerdings kann z.B. die Bereitstellung von Alternativtexten für Abbildungen nicht garantiert werden, da die präsentierten Inhalte in Verantwortung der zuliefernden Institutionen produziert werden.12 Auch auf die Präsentation der Digitalisate nimmt die DDB bisher keinen Einfluss. Wenn es wie angekündigt läuft, werden wir bei Eröffnung der DDB den paradoxen Zustand vorfinden, dass Menschen mit Behinderungen den Katalog zwar selbständig durchsuchen, die gefundenen Werke aber nicht selbständig lesen bzw. betrachten können werden. Dieser Zustand ist weit von dem angestrebten Ziel entfernt. Es gibt keine Hinweise darauf, dass in den vorausgegangenen Planungsphasen der DDB das Thema Barrierefreiheit erörtert worden wäre. Bei voraus10 Fraunhofer IAIS, 2010. 11 Fraunhofer IAIS, 2010. 12 Persönliche Mitteilung des Projektleiters Dr. Kai Stalmann an die Autorin per E-Mail vom 07.07. 2011.
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schauender Betrachtung wäre unweigerlich z.B. das Thema barrierefreie Dokumentformate (s.u.) in den Blick gekommen, das auf ebenso hoher diplomatischer Ebene zu regeln ist wie die viel bedachten Urheberrechte. Ebenso die Forschungsaufgaben. Unter den Forschungsvorhaben im Umkreis der digitalen Bibliotheken gibt es z.B. das Thema semantische Suche, aber nicht die in ähnlicher Weise mit Nutzerbeteiligung zu untersuchende Barrierefreiheit von dynamischen Bedienelementen. Es wurden also bereits im Vorfeld einige Gelegenheiten verpasst, das angestrebte „symbolische Zeichen“ pro Barrierefreiheit zu setzen. Die DDB ist ein Beispiel für viele Großprojekte, in denen die Barrierefreiheit in der Konkurrenz mit fachspezifischen Zielen zurückstehen muss. Im Interesse einer inklusiven Gesellschaft wäre dagegen zu wünschen, dass in den Projekten der öffentlichen Hand die Barrierefreiheit eher offensiv als defensiv verfolgt würde.
Herausforderungen der Barrierefreiheit in digitalen Bibliotheken Barrierefreies Webdesign blickt auf eine Tradition von mehr als zehn Jahren zurück und ist in vielen Bereichen relativ ausgereift. Es gibt Standardlösungen für die Navigationsmenüs, die Struktur einer Seite, die semantische Auszeichnung diverser Inhaltstypen. Dennoch kann es bei komplexeren Strukturen herausfordernd sein, eine Gestaltung zu finden, die allen Anforderungen gerecht wird. Geht man über den Funktionsumfang statischer Websites hinaus, so gibt es keine gesicherten Methoden der barrierefreien Gestaltung mehr. Die neue Vielfalt der dynamischen Web-Anwendungen und der diversen Medienangebote ist ein Fall für Pilotprojekte, in denen die Gebrauchstauglichkeit der möglichen Lösungsansätze sich in Nutzertests erweisen muss. Hieraus werden die best practices der nächsten Generation entstehen. Auch die digitalen Bibliotheken bewegen sich in diesem innovativen Feld.
Digitale Dokumente Die von der digitalen Bibliothek bereitgestellten Textdokumente – Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, Archivalien – sind aller Voraussicht nach überwiegend nicht barrierefrei. Als barrierefreies Dokumentformat bietet sich bisher nur PDF an, das sich aber in der Praxis noch nicht durchgesetzt hat.13 Die Anforderungen an barrierefrei aufbereitete PDF-Dokumente sind im Prinzip dieselben wie die Anforderungen an barrierefreie HTML-Seiten. Typi13 Siehe auch „PDF, ODF, OpenXML - Die Zukunft der Dokumentformate“ und „Weg mit der PDF-Prüfung im BITV-Test“ in: bit.blog.
170 Brigitte Bornemann sches Merkmal ist die semantische Strukturierung der Inhalte durch sog. tags (getaggtes PDF). Hinzu kommen weitere Merkmale wie interaktives Inhaltsverzeichnis, sinnvolle Lesereihenfolge, Alternativtexte für Bilder etc.. Ein vorläufiger Stand der testfähigen Merkmale ist u.a. im BITV-Test beschrieben14. Die Produktion barrierefreier PDF-Dokumente ist relativ aufwändig, verlangt sowohl die manuelle Nachbearbeitung durch Spezialisten als auch die spezielle Qualifikation aller Mitarbeiter der Produktionskette bis hin zum Autor15, und leidet darüber hinaus an unzulänglichen Werkzeugen16. Daher ist die Bereitstellung barrierefreier PDF-Dokumente bei den auf die BITV verpflichteten deutschen Bundesbehörden relativ zögerlich angelaufen.17 An einigen Stellen wurden zentrale Dienste zur Unterstützung der Behörden eingerichtet, so in der Hansestadt Hamburg18 und in der Schweiz19.
Abb. 2: Tag-Struktur einer Broschüre in Acrobat Pro®. Quelle: Markus Erle, mit freundlicher Genehmigung
Ein Konkurrent für PDF erwächst aktuell aus dem XML-basierten EPUBStandard, der in Buchverlagen eingesetzt wird und nun durch die wachsende Verbreitung von E-Books in die Hände von Endnutzern gelangt. Im Rahmen 14 15 16 17 18 19
„Prüfschritt 11.1.1. Angemessene Formate“, in: BITV-Test. Adobe, 2004. Erle, 2011. BIK, 2007 . Persönliche Kenntnis der Autorin. Zugang für alle.
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von Adobe Digital Editions kann es heute schon auf dem PC genutzt werden. Obwohl die E-Book-Reader bisher nicht barrierefrei sind20, bringt doch das EPUB-Format bessere Voraussetzungen für die barrierefreie Gestaltung mit als PDF, und wird aktuell im Rahmen des barrierefreien Hörbuchformats DAISY in dieser Richtung fortentwickelt21. Die digitalen Bibliotheken werden die Buchproduktion der Verlage in ihren Bestand aufnehmen, sobald die Frage der Nutzungsrechte geklärt ist. Bereits heute gibt es unter dem Namen Onleihe ein kommerzielles Angebot für die Online-Ausleihe von E-Books und anderen digitalen Werken, das über die Stadtbüchereien vertrieben wird. Die Verlage haben sich bisher noch nicht auf die Barrierefreiheit eingelassen22, auch in der Öffentlichkeit hat der Gedanke, dass digitale Bücher generell barrierefrei sein könnten, noch nicht Fuß gefasst. Vielmehr sperren sich die Verlage sogar erfolgreich gegen die Vergabe von Lizenzen an Blindenbibliotheken23, die die Werke für ihre Zielgruppe aufbereiten wollen. Hintergrund ist vermutlich die Sorge um den Kopierschutz, der sich mit dem Zugang für Blindenhilfsmittel bisher schlecht verträgt. Die DDB wird mit ihrer barrierefreien Suche neue Nachfrage nach barrierefreien digitalen Büchern schaffen. Wie der aktuelle Kampf um die Urheberrechte in der digitalen Wirtschaft ausgehen wird, ist im Moment nicht absehbar. Für die Verbraucher, unter ihnen die Menschen mit Behinderungen, wäre es von Vorteil, wenn die Bibliotheken eine größere Marktmacht an sich ziehen könnten. Ein großer, zentraler Abnehmer der Verlagsproduktion – vielleicht die DDB – könnte in ganz anderer Weise Einfluss auf Qualitätsmerkmale wie etwa die Barrierefreiheit nehmen. Dass dies funktioniert, beweisen die US-Behörden, die mit Hilfe der Beschaffungsrichtlinie Section 508 erreicht haben, dass z.B. Software barrierefrei produziert wird24. Ein erster Schritt könnte sein, dass die DDB einen Vermerk über die Barrierefreiheit der Werke in ihre Metadaten aufnimmt und ein entsprechendes Suchkriterium einrichtet. So könnten Menschen mit Behinderungen in den Katalogen der DDB gezielt nach für sie zugänglichen Werken suchen.
20 Vgl. Pluta, 2010. Hier wird auf Amazon Kindle Bezug genommen, der allerdings nicht den EPUB-Standard verwendet. . 21 Vgl. „Adieu Braille – welcome DAISY“, in: bit.blog. 22 Vgl. „Open Access = Accessibility?“ in: bit.blog. 23 Ermert & Wilkens, 2010. 24 Vgl. „VPAT Voluntary Product Accessibility Template“ in: bit.blog. Vgl. Pluta, 2010.
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Digitalisate In der ersten Ausbaustufe wird die DDB vor allem Digitalisate gemeinfreier älterer Literatur präsentieren, sowie Abbildungen von Gemälden, Skulpturen und Archivalien, die bei den beteiligten Institutionen bereits vorliegen. Ein größerer Beitrag stammt z.B. von der Bayerischen Staatsbibliothek, die zurzeit in einer Kooperation mit Google Books eine Million Bände aus dem 18. und 19. Jahrhundert einscannt.25 Die DDB sammelt in ihrer Datenbank nur die Metadaten für die gemeinsame Suche über alle Bestände, die medialen Inhalte verbleiben in den Datenbanken ihrer Eigentümer und sind über deren Webportale zugänglich.26
Abb. 3: In der Variante für mobile Endgeräte ist die Darstellung von Google Books auch für Blinde zugänglich.
Das Problem für die Nutzung der Digitalisate ist offensichtlich. Am Beispiel der bereits in Betrieb befindlichen Kulturportale im Umkreis der DDB, das deutsche BAM-Portal und die Europeana, wird der Effekt der gegebenen Organisationsform deutlich. Es gibt keine gemeinsame Bedienoberfläche für die Betrachtung der Digitalisate, der Nutzer trifft bei jedem gefundenen Objekt
25 Dworschak, 2010. 26 Schweibenz; Sieglerschmidt, 2010.
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auf eine anders strukturierte Präsentation und Bedienung. Der Nachteil für die Orientierung ist bereits beklagt worden.27 Eine verständliche, einheitliche Präsentation der Digitalisate wäre sowohl aus Sicht der Benutzungsfreundlichkeit als auch der Barrierefreiheit erforderlich. Es wäre also zu wünschen, dass die DDB ihren Zulieferern einheitliche Bedienoberflächen für die Betrachtung der verschiedenen Medientypen zur Verfügung stellt. Hier sind wir im Bereich der dynamischen Web-Applications, die im Hinblick auf gute Bedienbarkeit und Barrierefreiheit noch viel Raum für die Erprobung mustergültiger Lösungen bieten. Technische Basis für solche Bedienoberflächen wird sicherlich HTML5, CSS3 und Javascript sein, während das proprietäre Flash® vergleichsweise schlechte Voraussetzungen für eine barrierefreie Gestaltung mitbringt.28 Eine weitere Aufgabe für die barrierefreie Präsentation von Digitalisaten ist die Bereitstellung von Alternativtexten. Eine textliche Beschreibung von Bildern und anderen Exponaten ist häufig im Zusammenhang mit didaktischen Aufbereitungen vorhanden. Beim Dayton Art Institute gibt es eine Anleitung für die Bildbeschreibung für Blinde, die nicht nur für die engere Zielgruppe interessant ist, sondern generell als Anleitung für eine neutrale Bildbeschreibung verwendet werden kann. Wenn aber kein besonderer Anlass für die Anfertigung ausführlicher Bildbeschreibungen gegeben ist, wird zumeist nur eine knappe Benennung des Objekts als Alternativtext zur Verfügung stehen. Solche Informationen sind wesentlich für die Nutzbarkeit bildlicher Darstellungen für Blinde und Sehbehinderte. Ein Suchkriterium „Bildbeschreibung verfügbar“ wäre also eine wertvolle Ergänzung für den Katalog der DDB. Für digitalisierte Bücher verwendet Google Books eine Darstellung, die in der leider wenig bekannten Variante für mobile Endgeräte sogar für Blinde zugänglich ist. Google verarbeitet den Inhalt der Digitalisate per Optical Character Recognition (OCR) für die Volltextsuche, und stellt diese Daten auch als NurText-Version für den Leser zur Verfügung. Die Texte sind in Kapitel eingeteilt, mit verlinktem Inhaltsverzeichnis versehen und sogar absatzweise strukturiert (siehe Abb. 3). Die auf das Wesentliche reduzierte Bedienoberfläche der mobilen Version erleichtert die Nutzung auch für Blinde.
Suchfunktion Die gemeinsame Recherche über die verschiedenen Datenstrukturen der Medienbestände hinweg ist eine Leistung, die in den früheren Projektphasen der DDB bereits erbracht wurde. In der aktuellen Phase des Portalaufbaus geht es darum,
27 Dworschak 2010. 28 Vgl. Bornemann, 2009.
174 Brigitte Bornemann die Suchfunktion an den verschiedensten Nutzerforderungen auszurichten, und sogar ein inspirierendes Erlebnis zu ermöglichen.29 Dies soll durch semantische Analysen und die Kombination verschiedener Ansätze geschehen. Auch die Forderungen der Barrierefreiheit sind hierdurch weitgehend erfüllt. Allgemein unbefriedigend gelöst ist bisher noch die Unterstützung von Menschen mit Lernbehinderungen im Rahmen von Suchfunktionen, die weiterer Forschung bedarf. Probleme mit der Rechtschreibung aber, die bei vielen Lernbehinderungen vorzufinden sind, können durch die von der Google-Suche bekannten Features wie die Autocomplete-Funktion und „Meinten Sie vielleicht“ relativ gut aufgefangen werden. Die Rechtschreibung ist häufig auch für Blinde ein Problem, vor allem wenn sie keine Braillezeile zur Verfügung haben. Leider gibt es bisher noch keinen wirklichen Durchbruch in der Nutzung der Autocomplete-Funktion mit Blindenhilfsmitteln. Für diesen Einsatzbereich ist der WAI-ARIA-Standard geschaffen worden, der Deklarationen zur barrierefreien Gestaltung dynamischer Web-Anwendungen enthält, u.a. zur Strukturierung einer Seite, zur Tastaturbedienung, zur Formularprüfung und zur Anzeige dynamischer Inhalte. Zurzeit läuft auf vielen Ebenen die Erprobung von Musterlösungen mit diesem neuen Standard. Auch die DDB implementiert derzeit die Präsentationsschicht ihres Internetportals, speziell die Katalogsuche, und will erklärtermaßen ein sowohl innovatives als auch barrierefreies User Interface schaffen. Auf die dabei entstehenden Lösungen dürfen wir gespannt sein.
Abb. 4: Die Autocomplete-Funktion in der Google-Suche ist für Blinde bisher nicht nutzbar.
29 Fraunhofer IAIS, 2010.
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Barrierefreiheit in den Entwicklungsphasen eines Internetprojekts umsetzen Barrierefreiheit hat in groß angelegten Internetprojekten oftmals einen schweren Stand. Ein verbreitetes Missverständnis ist, dass es eine Sache der technischen Umsetzung sei und an die Programmierung verwiesen werden könne. Doch leider kann man das Thema nicht derart separieren, es greift in alle Bereiche ein. Beim gegebenen Stand der Technik kann das politisch gewollte Ziel der Barrierefreiheit nur dann bestmöglich umgesetzt werden, wenn es explizit in allen Phasen eines Entwicklungsprojekts auf der Agenda steht und gegen die konkurrierenden Ziele offen abgewogen wird.
Konzeption Die Weichen für eine erfolgreiche Umsetzung der Barrierefreiheit werden bereits in der Konzeptphase eines Entwicklungsprojekts gestellt. Hier entscheidet sich, welche Priorität die Barrierefreiheit genießt. Nimmt man sich relativ unverbindlich vor, den etablierten Standard der WCAG „soweit möglich“ umzusetzen, oder plant man konkret die zu erwartenden Schwachstellen und die erforderlichen Ressourcen ein? Entwickelt man eine Strategie für die Lösung zu erwartender Interessenskonflikte? Die Verpflichtung auf Barrierefreiheit. Basis aller Entscheidungen ist die Festlegung auf ein angestrebtes Level der Barrierefreiheit, das gegenüber dem Auftraggeber oder der Öffentlichkeit zu verantworten ist, und auf das alle Projektpartner verpflichtet werden. Im Falle der DDB entsteht ein Konfliktpotential schon daraus, dass die zuliefernden Institutionen vielfach nicht der BITV oder einer entsprechenden Landesverordnung unterliegen. Auch kann die gewünschte Qualität hier nicht einfach in Auftrag gegeben werden, es sind komplexere Vertragsverhandlungen vonnöten. In dieser Phase ist eine klare Haltung pro Barrierefreiheit erforderlich, um das politisch gesetzte Ziel durch die diplomatischen Verwicklungen hindurch zu retten. Fachkonzept. Bereits das Fachkonzept kann Herausforderungen für die Barrierefreiheit enthalten, wie am Beispiel der digitalen Bibliotheken gezeigt wurde. Daher sollte bereits in der Anforderungsanalyse eine mögliche Funktionseinschränkung der potentiellen Nutzer des Systems bedacht werden. Beispielsweise werden in den Anwendungsszenarien der DDB Nutzungskontexte für Wissenschaftler, Lehrer, Schüler, die kulturinteressierte Öffentlichkeit und weitere Zielgruppen beschrieben.30 Denkt man an einen Wissenschaftler mit Karpaltunnelsyndrom, der die Maus nicht mehr benutzen kann, an eine blinde 30 Fraunhofer, IAIS 2010.
176 Brigitte Bornemann oder sehbehinderte Lehrerin und an einen Schüler mit Lese-Rechtschreibschwäche, so gewinnen die Anforderungen der Barrierefreiheit in den verschiedenen Kontexten Kontur. Solche Personas werden im User Centered Design mit Erfolg eingesetzt und können kritische Punkte der Barrierefreiheit frühzeitig sichtbar machen.31 Technikkonzept. Die technische Systementscheidung spielt eine besondere Rolle für die Barrierefreiheit eines Internetportals, denn die Gestaltungsregeln sind leider nicht in jeder Systemumgebung gleich gut umsetzbar. Wichtig ist, dass keine Einschränkungen für die Programmierung des User Interface in HTML, CSS und Javascript gesetzt werden. Besonders kritisch sind die zur Arbeitserleichterung eingesetzten Frameworks, Formulargeneratoren und sonstigen Tools, deren vorgeformter HTML-Output zumeist keine besondere Rücksicht auf die WCAG-Standards nimmt. Nur vereinzelt wurden bisher Frameworks für barrierefreien Output geschaffen, erwähnenswert sind u.a. der Government Site Builder32 für die Websites der Bundesverwaltung, ein neuartiges CRMSystem des Software-Herstellers SAP33 und das Open-Source-PHP-Framework MODx34. Ein Indikator für ein geeignetes System kann sein, wenn das barrierefreie HTML-CSS-Framework YAML35 oder eine vergleichbare HTML-Struktur einsetzbar sind. Da das technische System Ressourcen bindet, kann eine Fehlentscheidung zumeist nur mit großem Aufwand korrigiert werden. Ein ungeeignetes System bedeutet, dass die Barrierefreiheit nur umständlich, also kostenintensiv, oder mit Abstrichen umsetzbar ist.
Technische Umsetzung Während die Barrierefreiheit in einer kleinen Internetpräsenz und in der Hand eines einzelnen kundigen Webdesigners relativ einfach zu realisieren ist, kommt in einem fachlich differenziert angelegten Entwicklungsprojekt die Komplexität des Themas zum Tragen. Alle beteiligten Professionen, der Konzepter ebenso wie der Screendesigner und der Programmierer, müssen ihren Teil zum Gelingen des Ganzen beitragen. Dabei wäre es optimal, einen im barrierefreien Webdesign erfahrenen Projektleiter zu haben, der die Fäden in der Hand hält. Darstellungs- und Bedienkonzept. Bei der Ausarbeitung des Feinkonzepts geht es aus Sicht der Barrierefreiheit u.a. darum, die Verständlichkeit und Über-
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Siehe auch Kowallik; Weber, 2010. http://www.government-site-builder.de/. Schrepp, 2008. http://modx.com/. Siehe auch „Frameworks: YAML und MODx“ in: bit.blog. http://www.yaml.de.
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Abb. 5: Accessibility Color Wheel, interaktives Tool zum Auffinden ausreichender Farbkontraste. Quelle: Giacomo Mazzocato.
Übersichtlichkeit des Gesamtsystems sicher zu stellen. Hierzu gehören die Navigation und weitere den Inhalt erschließende Einrichtungen wie Inhaltsverzeichnis, Glossar, Suchfunktion, Einführungen in einfacher Sprache, etc. Weitere Themen sind die Präsentation der Inhalte mit den verschiedenen Medientypen, wie Videos, großformatige Bilder etc., und interaktive Elemente wie Bildschirmformulare und Buttons. Bereits in dieser Phase muss festgestellt werden, ob es für alle Elemente eine barrierefreie Lösung gibt. Falls es Lücken gibt, ist eine Entscheidung zu treffen: Selbst entwickeln, eine andere Lösung suchen, oder Abstriche in der Barrierefreiheit in Kauf nehmen. Screendesign. Auch der grafische Entwurf der Bedienoberfläche muss die Gestaltungsregeln der WCAG beachten. Eine Hürde ist oftmals bereits das Farbmuster, das üblicherweise nach den Hausfarben der Institution ausgerichtet wird und dennoch einen ausreichenden Farbkontrast bieten muss.36 Zur Unterstützung dieser Designaufgabe gibt es spezifische Online-Tools (vgl. Abb. 5). Weitere neue Themen für den Screendesigner sind die Orientierung im Menüsystem, das Feedback bei dynamischen Bedienelementen, das fluide Layout zur Anpassung an verschiedene Bildschirmgrößen. Wenn diese Spezifikationen fehlen, hat der Programmierer keine Handhabe für die barrierefreie Umsetzung. Programmierung. Die Programmierung des User Interface in HTML, CSS und Javascript ist eine relativ späte Phase in der Entwicklung eines Internetportals, und basiert auf den zuvor gesetzten Spezifikationen. Wenn jetzt erst die Expertise für Barrierefreiheit einsetzt, ist es definitiv zu spät. Im besten Fall kann der Programmierer eigene Gestaltungsideen einbringen, oder eine 36 „Farbkontraste nach WCAG 2.0“ in: bit.blog.
178 Brigitte Bornemann Mängelliste an die Projektleitung zurückgeben. Der Programmierer ist zuständig für die standardkonforme Umsetzung der Gestaltung, hierzu gehört die korrekte semantische Auszeichnung aller Inhalte und Bedienelemente und die maschinenlesbare Strukturierung der einzelnen Seite. Eine Schwierigkeit besteht darin, die Fülle der Technischen Dokumente von WCAG 2.0 zu überblicken und Beispiellösungen bewerten zu können. Verbreitete Missverständnisse gibt es z.B. bei den Sprungmarken, der Überschriftenstruktur, den Title-Attributen.37 Aktuelles Thema ist der Einsatz von Javascript und WAI-ARIA, der noch sehr vom Stand der Screenreader abhängig ist, und zu dem man die Expertendiskussion verfolgen muss. Gerade auch die Programmierung kann also sehr von der Unterstützung durch einen Spezialisten für barrierefreies Webdesign profitieren.
Qualifikation und Qualitätssicherung Wie gezeigt wurde, ist die Barrierefreiheit nach wie vor eine Spezialdisziplin, die von der Mehrheit der Webdesigner und -entwickler nicht beherrscht wird. Mit der technischen Umsetzung sollte also eine Agentur beauftragt werden, die ihre Erfahrung im barrierefreien Webdesign nachgewiesen hat. Sofern es um die Entwicklung innovativer Bedienkonzepte geht, kann ergänzend ein Test mit behinderten Anwendern unter Einsatz technischer Hilfen erforderlich werden. Wer die Entwicklung vorrangig mit eigenem Personal durchführen möchte, sollte die nötige Fachkompetenz durch externe Berater hereinholen. Für den Know-How-Transfer hat sich u.a. die Methode des entwicklungsbegleitenden BITV-Tests bewährt, der durch seine Punktwerte auch ein einfach anwendbares Instrument der internen Ergebniskontrolle darstellt. Für den Abschluss eines Projekts steht das 90plus-Siegel des BITV-Tests zur Verfügung, das die erfolgreich absolvierte externe Qualitätskontrolle dokumentiert.
Fazit Die Barrierefreiheit des Internet nimmt einen hohen Stellenwert in dem politischen Konzept einer Informationsgesellschaft „für alle“ ein, daher sind die Träger der öffentlichen Hand gesetzlich aufgefordert, den Qualitätsmaßstab der Barrierefreiheit in ihren Internetauftritten in vollem Umfang umzusetzen. Es wurde gezeigt, dass dieser politische Auftrag angesichts des raschen technischen Wandels nur erfüllt werden kann, wenn die Barrierefreiheit in der Projektorgani37 Eine ausführliche Diskussion von Gestaltungsalternativen findet sich z.B. bei Hellbusch; Probiesch, 2011.
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sation mit den fachlichen Zielen eines Portals gleichgestellt wird. Bereits in der Konzeptphase müssen die Weichen richtig gestellt werden, damit alle Ressourcen in der nötigen Qualität vorliegen. In der Phase der technischen Umsetzung muss die Expertise für Barrierefreiheit in der Ebene der Projektleitung oder einer Stabsstelle angesiedelt werden, um alle Aspekte koordinieren zu können. Dieser hohe Rang wird der Barrierefreiheit in den Fachprojekten der öffentlichen Hand bisher nicht zuerkannt. In diesem Punkt muss also ein Umdenken einsetzen. Die Barrierefreiheit darf sich aber auch nicht in den Vordergrund spielen, um nicht in die Rolle der Spaßbremse oder des Sündenbocks für die Vermeidung technischer Innovationen zu geraten. Bei der hier angeregten Neubewertung der Barrierefreiheit geht es nicht darum, die Interessen Behinderter an die erste Stelle zu setzen, sondern im Interesse eines Design for All eine zukunftsorientierte und wirtschaftlich vernünftige inklusive Lösung zu finden. Hierzu ist es erforderlich, die konkurrierenden Interessen offen auszutragen. Wenn dagegen die Barrierefreiheit abgedrängt wird, geschieht es nur zu leicht, dass man den richtigen Zeitpunkt dafür verpasst. Erfahrungsgemäß sind die im Nachhinein „für Behinderte“ fällig werdenden Korrekturen unverhältnismäßig teuer, beschädigen die Hilfsbereitschaft und den Steuersäckel gleichermaßen. Bei rechtzeitiger Implementierung bleiben die Kosten der Barrierefreiheit dagegen überschaubar.38 Auch der Einsatz externer Expertise ist ein probates Mittel für eine effiziente Umsetzung der Barrierefreiheit. Die Deutsche Digitale Bibliothek kann durch ihre zentrale Position eine bedeutende Rolle für die Förderung der Barrierefreiheit spielen. Sie könnte u.a. ihren Einfluss auf die digitale Wirtschaft geltend machen, um barrierefreie Dokumentformate und E-Books durchzusetzen. Die Zielvorstellung der DDB, „den deutschen Kultur- und Wissensschatz für Menschen mit und ohne Sinnesbehinderungen oder motorische Einschränkungen in gleicher Weise verfügbar“ zu machen39, gibt bereits die richtige Richtung an. Es wäre zu wünschen, dass dieses Ziel ohne allzu große Umwege umgesetzt werden kann.
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180 Brigitte Bornemann Österreich: E-Government-Gesetz, in Kraft getreten am 1. März 2004. Schweiz, Informatikrat Bund: P028 - Richtlinien des Bundes für die Gestaltung von barrierefreien Internetangeboten- Version 1.0, Ausgabedatum 28.05.2005 Dass., Version 2.0, Ausgabedatum 27.01.2010 World Wide Web Consortium (Hrsg.): Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.0, W3C Recommendation 11 December 2008.
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9. Bibliotheken im Future Internet Stephanie B. Linek und Klaus Tochtermann Einleitung In diesem Kapitel werden Bibliotheken angesichts der Herausforderungen des Future Internet thematisiert. Das Future Internet stellt die nächste gravierende Entwicklung nach Web 2.0 dar. Diese komplette Reorganisation des Internet kann auf vier Dimensionen beschrieben werden (Internet des Wissens und der Inhalte, Internet der Menschen, Internet der Dienste und Internet der Dinge) und stellt für die Bibliotheken der Zukunft eine besondere Herausforderung dar. Die Erörterungen dieses Kapitel beschreiben dabei auch beispielhaft die Chancen neuerer spezifischer Ansätze, wie Serious Games, und thematisieren die Besonderheiten der Usability Evaluation von Bibliotheken im Future Internet.
Charakterisierung des Future Internet Während Bibliotheken noch immer damit beschäftigt sind, sich im Web 2.0 zu verorten steht bereits die nächste revolutionäre Umwälzung vor der Tür: das Future Internet (FI)1. Die Idee beruht auf einer kompletten Erneuerung des Internet auf vier Dimensionen: Internet des Wissens und der Inhalte, Internet der Menschen, Internet der Dienste und Internet der Dinge. Diese vier Dimensionen werden nachfolgend kurz und unabhängig von einem Zusammenhang mit Bibliotheken beschrieben: Das Internet der Inhalte: Aufgrund der rasch wachsenden Menge an Information im Internet spricht man vom Internet der Inhalte. Dadurch wächst auch die Summe der Bedeutungszusammenhänge zwischen den Inhalten rasant an. Folglich wird es immer wichtiger Inhalte so zu beschreiben, dass Computer deren Bedeutung verstehen können. Damit beschäftigen sich die Forschungsarbeiten im Bereich des Semantic Web. Mit der Linked Open Data Initiative (LOD)2 wurde 2007 ein wesentlicher Grundstein für das Internet der Inhalte gesetzt. LOD ist eine weltweite stark durch die Wissenschaft getriebene BottomUp Bewegung, welche frei verfügbare Datensätze bzw. Metadaten-Datensätze im Web als vernetzte Daten zugänglich macht. So wurden mehr als 4,5 Milliarden Datensätze innerhalb von zwei Jahren online gestellt. 1 2
Domingue et al., 2011. http://linkeddata.org/.
184 Stephanie B. Linek und Klaus Tochtermann Das Internet der Menschen: Mit dem Übergang vom klassischen, statischen Web (Web 1.0) zum sozialen, dynamischen Web 2.0 hat sich das Nutzungsverhalten im Internet grundlegend geändert. Das Web 1.0 war durch eine TopDown Governance Struktur geprägt, d.h. nur Personen mit technischen Kenntnissen und Zugangsrechten zu Servern konnten Inhalte einstellen. Im Gegensatz dazu wird der Inhalt im Web 2.0 von den Nutzerinnen und Nutzern bestimmt (Bottom-Up Governance). Mittels einfacher Internettechnologien kann heute jeder Inhalte z.B. über Blogs und Wikis im Internet bereit stellen. Deshalb spricht man vom Internet der Menschen. Diese Möglichkeit zur Inhaltsvermittlung wird ergänzt durch zahlreiche Soziale Plattformen, wie Facebook, MySpace oder XING, die der Vernetzung von Menschen dienen. Das Internet der Dienste: Der Trend im Internet geht in Richtung einer webbasierten Dienstleistungsgesellschaft. Zukünftig sollen nicht nur Bücherkäufe, Flugbuchungen oder Routenplanungen über das Internet abgewickelt werden, sondern mithilfe semantischer Technologien können Computer verschiedenste Dienstleistungen verknüpfen und bündeln. Dann meldet die Nutzerin oder der Nutzer dem Computer einfach: „Ich möchte von Berlin nach Hamburg ziehen.“ Der Computer erfasst die Bedeutung dieser Meldung und zieht daraus logische Schlüsse. Das Computerprogramm ermittelt und koordiniert die passenden Angebote für die Wohnungssuche, den Umzug bis hin zum Anmelden des Wohnsitzes. Das Internet der Dinge: Das korrekte Versenden von Daten von Computer zu Computer basiert auf Internet-Protokollen (kurz IP). Dazu benötigt jeder Rechner im Internet eine eindeutige IP-Adresse. Das zurzeit mehrheitlich eingesetzte IP ist das IPv4, welches die eindeutige Identifizierung von 232 (entspricht ca. 4,3 Milliarden) Rechnern im Internet ermöglicht. Die rasant wachsende Anzahl an Internetzugängen macht eine Adaptierung auf das IP-Protokoll der Version 6 (IPv6) notwendig, welches 2128 Rechner eindeutig identifiziert. Aufgrund dieses riesigen Adressraums ist es in Zukunft möglich, jedes „Ding“ zu identifizieren. Anwendungen gibt es zahlreiche: Jeder Golfball kann mit einem Kleinstrechner versehen werden, der die Geo-Koordinaten des Balls versendet, sollte er verloren gegangen sein; Kleidung kann intelligent werden und Herzschlag und Blutdruck von Personen in Stresssituationen (z.B. im zivilen Flugverkehr, in der Raumfahrt) übermitteln; in der Viehzucht kann für Nutztiere eine individuelle und leistungsangepasste Futtergabe ermöglicht werden. Entwicklungen dieser Art werden unter dem Begriff Internet der Dinge zusammengefasst. Die große Herausforderung liegt nun in der Integration dieser vier Dimensionen, um ein Future Internet zu schaffen, das bestehende Defizite in den Bereichen Skalierbarkeit, Sicherheit und Leistungsfähigkeit überwindet. Um dies zu realisieren, ist es erforderlich, dass Anspruchsgruppen aus den verschiedensten Bereichen zusammenkommen und gemeinsam das FI vorantreiben. Die Europäische Kommission unterstützt bereits den Aufbau einer solchen
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Interessensgemeinschaft. Alle sechs Monate trifft sich die sogenannte Future Internet Assembly3 und diskutiert neueste Ergebnisse aber auch noch offene Herausforderungen. In Deutschland fand im Juli 2011 eine der ersten Tagungen zum Thema Future Internet in Berlin statt.4 Leider sind Bibliotheken in dieser Interessensgemeinschaft unterrepräsentiert, obwohl sie durch das FI nicht nur beeinflusst werden können, sondern Bibliotheken sogar das Potential haben, diese neuen Entwicklungen substantiell zu steuern. Dieses Kapitel wird detailliert erläutern, weshalb das FI von entscheidender Bedeutung für Bibliotheken ist und – am Beispiel der ZBW (Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften Leibniz Informationszentrum Wirtschaft) – aufzeigen, wie Bibliotheken zu dieser neuen Entwicklung beitragen können.
Bibliotheken im Future Internet am Beispiel der ZBW Eine nachhaltig erfolgreiche Zukunft von Infrastruktureinrichtungen und Bibliotheken, wie die ZBW eine ist, wird im Wesentlichen davon abhängen, welche Antwort auf folgende Frage gefunden wird: Wie können Infrastruktureinrichtungen bzw. Bibliotheken wie die ZBW Mehrwerte in einer Welt schaffen, in der Informationen im Internet einfach und oft kostenfrei zu finden sind und in der zunehmend Infrastrukturangebote über das Internet verfügbar sind?
Eine starke Positionierung der ZBW, aber auch anderer Bibliotheken, im Kontext des Future Internet wird als ein erfolgversprechender Weg gesehen, um eine nachhaltig erfolgreiche Antwort auf die obige Frage zu geben. Vor diesem Hintergrund stellen die nächsten Abschnitte den Zusammenhang zwischen Bibliotheken und den vier Dimensionen des FI vor.
Bibliotheken im Internet der Inhalte Häufig wird das Internet der Inhalte auch als Internet der Inhalte und des Wissens bezeichnet. Dahinter verbirgt sich die Tatsache, dass neben den einfachen Inhalten, wie z.B. Fotos auf Flickr, Tweets auf Twitter etc. auch Inhalte angeboten werden, die um Bedeutungsinformationen angereichert sind. Beispielsweise kann so ein Foto einer Person dem Konzept „Indianerstamm“ zugeordnet werden. Instanzen dieses Konzepts können beispielsweise „Sioux“ oder „Apache“ sein. Anhand dieser semantischen Modellierung ist es schließlich möglich, eine Fotosuche nach „Apache“ im Web auf Fotos von Personen des 3 4
http://www.future-internet.eu/. http://www.bmbf.de/de/3884.php.
186 Stephanie B. Linek und Klaus Tochtermann Indianerstamms einzuschränken. Fotos einer Webservertechnologie, die ebenfalls den Namen „Apache“ hat, würden damit nicht zum Suchergebnis gehören. Die Grundlage hierfür bildet das Semantic Web. Dieses wird in den kommenden Jahren enorm an Bedeutung gewinnen. So haben Anfang Juni Google, Yahoo und Bing gemeinsam eine derzeit noch einfache Ontologie sowie das zugehörige Vokabular entwickelt und im Web angeboten.5 Damit können nun beliebige (auf HTML 5 basierte) Websites um semantische Informationen angereichert werden; und diese Anreicherung wird von den Suchalgorithmen der drei genannten Suchmaschinen ausgewertet. Wie Suchergebnisse semantisch angereicherter Websites aussehen können, ist sehr schön anhand der Semantic Web Suchmaschine sig.ma6 zu erkennen.
Abb. 1: Die Suche nach der Person „Klaus Tochtermann“ liefert semantische Informationen u.a. darüber, von welchen Dokumenten er „Creator“ ist (is creator of) bzw. mit welchen Personen er in Kontakt steht (is contact of).
5 6
Vgl. http://schema.org. http://sig.ma .
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Für Bibliotheken gibt es nun zahlreiche Ansätze, sich im Future Internet zu positionieren. Zum einen betreiben zahlreiche Bibliotheken domänenspezifische Thesauri. Im Falle der ZBW ist dies der Semantische Thesaurus Wirtschaft (STW). Um diesen Thesaurus für andere nachnutzbar zu machen, wurde er „semantifiziert“ und in der LOD verfügbar gemacht.7 „Semantifiziert“ heißt in dem konkreten Fall, dass alle Beziehungen zwischen Begriffen des Thesaurus über das normierte Vokabular SKOS (Simple Knowledge Organization System)8 beschrieben wurden. Ein weiterer Anwendungsbereich für Bibliotheken besteht darin, ihre Kataloge mittels des Vokabulars RDF (Resource Description Framework)9, zu semantifizieren und in der LOD bereitzustellen. Auf Basis dieser semantischen Beschreibungen ist es nun möglich, dass Beziehungen zwischen anderen Inhaltsquellen in der LOD hergestellt werden. Beispielsweise können für Autorinnen und Autoren eines Artikels die zugehörigen Lebensläufe aus der Wikipedia automatisch herausgefiltert und nachgenutzt werden. Dies ist möglich, da die Wikipedia ebenfalls semantifiziert wurde und als DBpedia10 in der LOD verfügbar ist. Die ZBW hat diese Möglichkeiten anhand ihres Pressearchivs untersucht und umgesetzt. Somit können automatisch Lebensläufe zu Personen, die in einem Presseartikel genannt werden, aus der Wikipedia herausgelesen und angeboten werden. Der aktuelle Stand unserer Forschungsarbeiten ist in den ZBW-Labs11 zu finden. Weitere Informationen hierüber können bei dem vom Hochschulbibliothekszentrum des Landes Nordrhein-Westfalen betriebenen LOD-Dienstes „lobid“ (Linking Open Bibliographic Data)12 nachgesehen werden.
Bibliotheken im Internet der Menschen Das Internet der Menschen ist eng mit Plattformen für soziale Netzwerke wie zum Beispiel Facebook verwoben, wo sich derzeit immerhin 700 Millionen aktive Menschen vernetzt haben. Aktiv heißt in diesem Fall, dass sich die Menschen mindestens einmal in den letzten 30 Tagen bei Facebook eingeloggt haben. Diese Plattformen bieten nun zahlreiche neue Möglichkeiten sich untereinander auszutauschen. So ist zu erwarten, dass E-Mail als Kommunikationsmedium, vor allem im privaten Bereich, an Bedeutung verlieren wird, 7 8 9 10 11 12
http://zbw.eu/stw/ . http://www.w3.org/2004/02/skos/ . http://www.w3.org/rdf/ . http://dbpedia.org/about . http://www.zbw.eu/labs/about.en.html . http://lobid.org/de/ .
188 Stephanie B. Linek und Klaus Tochtermann da zunehmend zwischenmenschliche Kommunikation innerhalb von Facebook (und ähnlichen Netzwerken) stattfinden wird. Beispielsweise ist Facebook in den USA noch weit vor Google die Website mit der größten Verweildauer. Und immerhin weltweit 42% der Internetznutzenden besuchen täglich Facebook. Damit zeichnet sich ab, dass sich auch der Austausch von Informationen in diese Umgebungen hineinverlagern wird. Trafen sich die Studierenden früher am Kopierer der Bibliothek, um ihre recherchierten Seminarunterlagen auszutauschen, so tun sie dies künftig in sozialen Netzwerken. Für Bibliotheken heißt dies, dass sie sich dorthin entwickeln müssen, wo sich ihre Kundschaft aufhält. Im Internet der Menschen sind dies derzeit primär Plattformen für soziale Netzwerke. In Bibliotheken wird heutzutage die Betreuung der Kundschaft in diesen Plattformen immer noch stark unterschätzt, auch wenn viele Bibliotheken dort bereits eine Präsenz haben. Dies ist insbesondere daran zu erkennen, dass die Verantwortung für diese Aufgabe bei den Marketingabteilungen angesiedelt ist. Im Bewusstsein der Komplexität des Managements der eigenen Kundschaft hat die ZBW als eine der ersten Bibliotheken in Deutschland einen Community Manager eingestellt. Dieser hat speziell die Aufgabe, die im Internet der Menschen über unterschiedlichste Social Media Kanäle eine Community aufzubauen, diese zu betreuen und schließlich gezielt auf alle Online-Angebote der ZBW zu lenken. Inzwischen umfasst die Präsenz der ZBW im Web 2.0 nicht nur einen professionalisierten Facebook-Auftritt.13 Vielmehr ist der gesamte Auftritt ein umfassendes Angebot, das neben dem Facebook-Auftritt aus den folgenden wichtigsten Komponenten besteht: – – – – –
ein eigener Youtube-Kanal14 unterschiedliche Twitter-Kanäle, die alle unterschiedliche Inhalte vertreten und damit unterschiedliche Interessensgebiete der Community ansprechen15 den Twitter-Robot EconBot16, der die Interaktion mit dem Portal EconBiz direkt aus Twitter ermöglicht (vgl. Abb. 2) ein eigenes Blog17 sowie die Präsenz in Location-based Netzwerkplattformen, wie etwa Foursquare.18
13 http://www.facebook.com/DieZBW . 14 http://www.youtube.com/DieZBW . 15 http://twitter.com/ZBW_news, http://twitter.com/ktochtermann und http://twitter.com/ ZBW_MediaTalk . 16 http://twitter.com/econbot . 17 http://www.zbw-mediatalk.eu/ . 18 https://de.foursquare.com/venue/894261 .
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Abb. 2: Auf der linken Seite ist die Formulierung der Suchanfrage nach Dokumenten zum Thema „Wissensmanagement“ aus dem Twitterclient Hootsuite heraus zu sehen. Auf der rechten Seite sieht man das Ergebnis des EconBot, ebenfalls innerhalb von Hootsuite. Es sagt, dass 8502 Treffer in EconBiz gefunden wurden. Folgt man dem angegebenen Link, kommt man auf die Ergebnisseite von EconBiz, um sich dort die Treffer ansehen zu können.
Bibliotheken im Internet der Dienste Das Internet der Dienste hat insbesondere die rasanten Entwicklungen im Bereich „mobile Web“ (d.h. der Zugang zum Internet über mobile Endgeräte) zu berücksichtigen. So wächst das mobile Web weltweit um ca. 34% pro Jahr; Nutzerinnen und Nutzer eines iPhones verbringen nur ca. 45% ihrer Nutzungszeit mit telefonieren. Der Rest der Zeit wird der Anwendung von Diensten gewidmet, wie etwa solchen zur Reiseplanung. Bibliotheken beginnen ebenfalls ihre Angebote als mobile Dienste verfügbar zu machen. So ist beispielsweise EconBiz19, das Portal für Wirtschaftswissenschaften der ZBW, seit 2011 als iPadund iPhone-Service verfügbar (Android wird ab Ende 2011 bedient), inklusive neuer Möglichkeiten zur Nutzung von raumbezogenen Daten (Geotagging). Zudem wurden die meisten Dienste der ZBW mit den Umgebungen aus dem Internet der Menschen integriert. Beispielsweise ist es möglich, direkt aus Facebook heraus, den Dienst EconBiz zu nutzen. Dasselbe gilt für die Nutzung von EconBiz aus Twitter heraus. Für diesen Zweck wurde das System EconBot entwickelt. Mit seiner Hilfe ist es möglich, eine Suchanfrage als Twitternachricht an EconBiz zu senden. Als Antwort erhält man eine Twitternachricht von EconBot, die einen Verweis auf die Seite mit den von EconBiz ermittelten Suchergebnissen liefert. Der Nachteil der heutigen Situation liegt jedoch noch darin, dass sich Nutzerinnen und Nutzer einer Vielzahl von „kleinteiligen“ Diensten gegenübersehen und sich schwer tun, diese Dienste für eine Gesamtanwendung zu kombinieren. Aktuelle Forschungsarbeiten beschäftigen sich daher bereits heute mit der semantischen Integration von Diensten. Ziel ist es etwa für Unternehmen aus der Medienbranche oder Bibliotheken Angebote zu liefern anhand derer Kundinnen und Kunden Anfragen der folgenden Art stellen können: „Wann ist außerhalb meines Urlaubs und in der Nähe meines Wohnorts das Buch „Web 2.0 in 19 http://www.econbiz.eu/ .
190 Stephanie B. Linek und Klaus Tochtermann der Unternehmenspraxis“ verfügbar“. Hierfür können zukünftig unterschiedliche Dienste – im Idealfall sogar von unterschiedlichen Anbietern – zur Bestimmung der zeitlichen Verfügbarkeit („außerhalb meines Urlaubs“), der räumlichen Koordinaten („Bibliothek in der Nähe meines Wohnorts“) und des thematischen Bezugs („Web 2.0 in der Unternehmenspraxis“) angesprochen und semantisch miteinander integriert werden. Technisch liegt die Herausforderung darin, dass die Dienste semantisch über eine oder mehrere Service-Ontologien zu beschreiben sind. Erste Arbeiten dazu wurden von Granitzer und Kollegen (2010) veröffentlicht.20 Schließlich kann ein Betätigungsbereich für Bibliotheken zukünftig darin bestehen, neben ihren Katalogen über Informationsressourcen auch „DiensteKataloge“ anzubieten, über die Dienste zur Unterstützung bei der Informationsrecherche nachgewiesen sind. Daraus könnte sich auch ein neuer Verantwortungsbereich für Bibliotheken entwickeln. Denn es ist abzusehen, dass die heutige Frage nach der Qualität der im Internet verfügbaren Informationen in den nächsten zehn Jahren durch die Frage nach den qualitativ besten Diensten abgelöst wird.
Bibliotheken im Internet der Dinge Das Internet der Dinge beruht auf dem Grundgedanken, für alle „Dinge“ auf der Welt vernetzte Computer zu haben. Darüber können Informationen über dieses „Ding“ im Zusammenspiel mit anderen „Dingen“ gemanagt werden. Es geht also um die internetbasierten Vernetzung von Objekten und Alltagsgegenständen unserer Lebens- und Arbeitswelt. Beispiele aus der Bibliothekswelt sind etwa intelligente Logistiksysteme. In deren Rahmen kann jedes Buch mit einem Chip auf RFID-Basis (Radio Frequency Identification/funkbasierte Identifikation von Waren und Gütern) versehen werden. Zudem bekommt jedes Buchregal durch einen eigenen Rechner so etwas wie eine eigene „Intelligenz“. Somit ist es schließlich möglich, dass sich Buch und Regal beispielsweise darüber austauschen, ob das Buch thematisch zu den anderen in einem Regal eingestellten Büchern passt. Speziell RFID kommt bereits heute in Bibliotheken als Sicherheitstechnologie und für Selbstverbuchungssysteme zum Einsatz. Vereinzelt wird diese Technologie jedoch schon weiter ausgereizt, etwa um einen mobilen Bibliotheksführer innerhalb der Bibliothek anzubieten. Damit ist es möglich, dass Nutzerinnen und Nutzer etwa über eine iPhone-App gezielt zum Buch ihres Interesses innerhalb einer Bibliothek geführt werden. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, könnten Bibliotheken zukünftig sogar ihr Ordnungssystem in den Magazinen auflösen oder die Magazine gar komplett für die Kundschaft öffnen. 20 Granitzer et al., 2010.
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Die ZBW hat im Juni für den Standort Hamburg RFID-Technologien angeschafft, primär um den klassischen, bibliothekarischen Aufgaben wie Sicherheitsmechanismen und Selbstverbuchung nachzukommen. Darüber hinaus bringt sich die ZBW damit aber auch in eine Position, um sich zukünftig speziell auf Europäischer Ebene als Anwendungspartner für Forschungsprojekte im Zusammenhang des Internet der Dinge zu qualifizieren. Ein Anwendungsbereich kann im Umfeld „Smart Cities“ liegen, der gemeinsam von ZBW und dem Kooperationspartner TrentoRise in Trento (Italien) bearbeitet wird. Die Idee ist, dass innerhalb einer ganzen Region, Trentino in diesem speziellen Fall, überall über RFID zugängliche touristische Informationen (z.B. auf Plakaten, Broschüren etc.) mit fachlicher Hintergrundliteratur der ZBW bzw. weiterer kooperierender Bibliotheken und Medienunternehmen aus der Region angereichert wird. Diese Darstellung zeigt, dass die Aktivitäten der ZBW derzeit sehr fragmentiert sind und den Anspruch der Integration der vier Dimensionen des FI noch nicht erfüllt. Dennoch ist dieser erste Schritt auch für andere Bibliotheken überhaupt einmal zu machen, bevor in weiteren Schritten stärker auf eine Integration fokussiert werden kann. Nachfolgend soll im Speziellen einem spieleorientierten Ansatz nachgegangen werden. Dass solche Ansätze auch für Bibliotheken relevant sein können, zeigte die Informare 201121 in Berlin, bei der zu einem der ersten Male ähnliche Ideen thematisiert wurden: Die Vision ist es, Spiele einzusetzen, um Nutzerinnen und Nutzer von Bibliotheken bei der Durchführung „seriöser“ Rechercheaufgaben zu unterstützen.
Chancen neuere Ansätze im FI: Serious Games zur Büchersuche Digital Natives als neue Nutzergruppe Die Entwicklung des Future Internet wird nicht nur durch technische Innovationen, sondern vor allem auch durch die veränderte Informationssuche der Endnutzerinnen und -nutzer getragen. Die neue User-Generation ist mit neuen Medien aufgewachsen und hat sich von Anfang an einen völlig anderen Umgang mit Medien angeeignet. Bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang der Begriff „Digital Natives“ im Unterschied zu „Digital Immigrants“.22 Als Digital Natives bezeichnet man die Generation der Nutzerinnen und Nutzer, die mit neuen Medien aufgewachsen sind. Sie lernten von Kindesbeinen an die digitale Sprache von Computern, Videospielen, Handys und Internet. Sie sind 21 http://informare-wissen-und-koennen.com/ . 22 Prensky, 2005.
192 Stephanie B. Linek und Klaus Tochtermann somit Muttersprachler des digitalen Zeitalters. Dies äußert sich laut Prensky nicht nur in einem kompetenteren Umgang mit den Medien sondern schlägt sich auch in anderen Denkmustern („thinking patterns“) nieder.23 Digital Natives arbeiten bevorzugt simultan mit mehrere Medien auf einmal (z.B. Chatten im Internet und gleichzeitig Videospielen) und haben auch bei nicht-medialen Tätigkeiten zusätzlich ein Medium im Hintergrund (z.B. während des Einkaufens SMS schreiben oder Musik hören). Die Erwartungshaltung an Medien ist dabei entsprechend hoch: Das Medium bzw. die Anwendung soll selbsterklärend sein, Handbücher werden ignoriert und das Aufrufen der Hilfe-Funktion ist verpönt. Vielmehr wird die schlechte oder umständliche Handhabung einer Software als Ausschlusskriterium gesehen. Mit anderen Worten: Unzureichende Benutzerfreundlichkeit führt dazu, dass man zu einem anderen Medium oder Anwendung wechselt. Ein sehr prägnantes Beispiel dafür ist die weit verbreitete Literatursuche mit Google oder Google Scholar anstelle der Nutzung eines professionellen Dienstes zur Literatursuche. Dabei geht es jedoch nicht nur um die komplizierte und häufig nicht selbsterklärende Handhabung, sondern auch um den Mangel an einer motivierenden und attraktiven Gestaltung der Software. Demgemäß identifiziert Prensky die motivierenden Eigenschaften von Computerspielen als perfekte Rahmenbedingungen für Digital Natives.24 Obgleich Prensky mit seinen theoretischen Erörterungen den Nerv der Zeit traf, entbehrten seine Annahmen jedoch empirischer Stützung. Analog dazu wurde das Potential von sogenannten Lernspielen zwar früh erkannt, jedoch gestaltete sich die Umsetzung relativ schwierig, da es nur wenig empirisch gesicherte Befunde dazu gab, was den Reiz von Computerspielen ausmacht, welches die entscheidenden Designkriterien sind und wie man dieses Potential im Lernkontext oder im Arbeitsumfeld nutzen kann.
Forschungsfeld Game-based Learning: Flow-Theory und Usability Mittlerweile hat sich das Forschungsfeld zu Videospielen und game-based learning bzw. Serious Games etabliert. In der einschlägigen Fachliteratur finden sich zahlreiche empirische Befunde und theoretische Erklärungsansätze zu den motivierenden Eigenschaften von Computerspielen und wie diese im Rahmen von Lernspielen nutzbar gemacht werden können. Neben allgemeinen Erklärungsansätzen zu verschiedenen Teilaspekten von Videospielen und Lernspielen25, gibt es mittlerweile auch konkrete Empfehlungen zum Design.26
23 24 25 26
Ebd. Ebd. Vgl. z.B. Ritterfeld; Cody; Vorderer, 2009 sowie Vorderer; Bryant, 2004. Vgl. z.B. Linek, 2011, Salen; Zimmermann, 2004.
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Eine der einflussreichsten Theorien in diesem Bereich ist die sogenannte Flow-Theory von Csikszentmihalyi (1975, 1990). Die Flow-Theory bezieht sich nicht speziell auf Videospiele, sondern ist vielmehr ein allgemeiner Erklärungsansatz zum subjektiven Erleben bei der Bewältigung alltäglicher Herausforderungen. Demnach wird eine Tätigkeit dann als besonders angenehm empfunden, wenn sie das optimale Maß an Herausforderung bietet, d.h. weder langweilt noch überfordert. Befinden sich die Schwierigkeit der Tätigkeit und die individuellen Fähigkeiten des Einzelnen in Balance, so kommt es zu dem sogenannten Flow-Erleben.27 Dieses Flow-Erleben ist ein hedonistischer Gefühlszustand, der intrinsisch motivierend wirkt. In Bezug auf Computerspiele wird dies als die entscheidende Komponente für das Spielerleben gesehen. Durch die unterschiedlichen Schwierigkeitslevel von Spielen kann sich der einzelne optimal auf die Tätigkeit bzw. die Anforderungen des Spiels einstellen. Computerspiele verfügen daneben noch über weitere Merkmale, die das sogenannte FlowErleben und damit das subjektive Vergnügen bei der Tätigkeit fördern: Die Tätigkeit ist gut strukturiert und es gibt handhabbare Regeln und klare Ziele. Der Spielende bekommt unmittelbar eine eindeutige Rückmeldung über die Konsequenzen seiner Aktion. Ablenkungen werden ausgeblendet und es wird ein konzentriertes Arbeiten ermöglicht. Diese Aufzählung ist geradezu beispielhaft für generelle Empfehlungen, die normalerweise zur Erhöhung der Usability gegeben werden. Und tatsächlich ist eine hohe Benutzerfreundlichkeit eine wichtige Grundvoraussetzung für ein Computerspiel. Umgekehrt kann man die Gestaltungsprinzipien von (erfolgreichen) Computerspielen nutzbar machen, um die Usability von konventioneller Software und Websites zu erhöhen. In diesem Zusammenhang wird das Prinzip der Einfachheit als Zeichen guter Usability teilweise mit der Herausforderung und dem Anreiz von spielerischen Elementen kontrastiert. Dabei wird jedoch vergessen, dass der Inhalt des Spiels (z.B. ein Rätsel zu lösen oder eine Prinzessin zu retten) nicht mit der Bedienbarkeit, sondern vielmehr mit der Aufgabe oder dem Zweck einer Software in Analogie zu setzen ist. Wenn ein Computerspiel keine ausreichend hohe Usability besitzt, beispielsweise die Spielfiguren nur schwer steuerbar sind, wird der Spieler schnell die Motivation verlieren und sich einem anderen Spiel zuwenden. Doch nicht nur in Bezug auf einfache Handhabung liefern Computerspiele ein positives Beispiel. Daneben sind spielerische Elemente an sich geeignet, die Attraktivität einer Software zu erhöhen.28 Der Begriff „Joy of Use“ ist längst ein gängiges Schlagwort geworden, wenn es um die Attraktivität und Akzeptanz einer neuen Software geht.29 Allerdings wird Joy of Use noch immer als wünschenswertes Surplus zur Usability gesehen. Laut internationaler Norm 27 Csikszentmihalyi, 1975, Csikszentmihalyi, 1990. 28 Vgl. z.B. Hassenzahl, 2003. 29 Vgl. z.B. Igbaria; Schiffman; Wieckowski, 1994.
194 Stephanie B. Linek und Klaus Tochtermann gehört es jedoch auch zur Usability, dass die individuellen Ziele des Nutzers nicht nur effektiv und effizient, sondern zudem in einer subjektiv zufriedenstellenden Art und Weise erreicht werden.30 Aus Sicht eines sogenannten Digital Natives ist der Spaß bei der Benutzung längst eine notwendige Voraussetzung einer subjektiv zufriedenstellenden Nutzung geworden. Dieser Trend wird sich im FI noch verstärken. Damit ist der Joy of Use nicht mehr nur ein zusätzlicher Bonus, sondern vielmehr ein integraler Bestandteil guter Usability. Damit stellt sich die Frage, was die entscheidenden Elemente sind, die den Reiz eines (Computer-)Spiels ausmachen. Denn um erfolgreich zu sein, benötigt ein Spiel mehr als ein adaptives Level an Herausforderung und die oben genannten Kriterien im Sinne der Flow-Theorie. Ebenso haben der soziale Anreize bzw. die Interaktion mit ansprechenden Spielcharakteren sowie eine interessante phantasievolle Rahmengeschichte eine entscheidende Rolle. Sowohl Spielcharaktere als auch die narrative Struktur sollten den Spielenden involvieren und motivieren – oder mit anderen Worten: einen persönlichen Bezug zwischen Spiel und Spielenden herstellen. Gerade dieser Aspekt der Involviertheit kommt bei der nüchternen Gestaltung von Bibliotheken und deren Online-Angeboten häufig zu kurz und könnte durch spielerische Elemente hergestellt werden. Dabei muss es sich nicht notwendigerweise um ein zusammenhängendes Spiel handeln, häufig reichen kleine Applikationen oder Elemente aus. Beispiele dafür sind der Gebrauch von Emoticons (z.B. Smileys beim Chatten in Skype oder die Möglichkeit ein Nutzerkonto oder einen eigene Avatar individuell zu gestalten (z.B. in Second Life). Auch der Einsatz eines zusammenhängenden (Lern-)Spiels kann von großem Nutzen sein und die entsprechende Zielgruppe begeistern. Mittlerweile gibt es etliche Websites, die sich die Attraktivität von Spielen zu Nutzen machen: Beispielsweise haben die offizielle Websites von FBI31 und CIA32 jeweils einen eigenen Bereich für jüngere Websitebesucher. Diese Behörden stellen sich damit nicht nur auf ihre eigentliche Zielgruppe (Erwachsene) ein, sondern reagieren in pragmatischer Weise auf ihre tatsächlichen Besucherinnen und Besucher: Kinder, die CIA und FBI aus spannenden Geschichten und Filmen kennen und aus Spaß im Internet danach suchen. Indem man mit Spielen das bietet, wonach Kinder suchen, gewinnt man langfristig betrachtet eine neue zukünftige Interessentengruppe und fördert ein positives Image der Behörde. Bei Americas Army33, einer Website der U.S. Armee, ist dieser Zweck noch offensichtlicher: Oberflächlich ein Ego-Shooter, hintergründig ein Instrument, um neue Rekrutinnen und Rekruten anzuwerben. 30 31 32 33
Vgl. DIN EN ISO 9241-11. http://www.fbi.gov/fun-games/ . https://www.cia.gov/kids-page/games/index.html . http://www.americasarmy.com/ .
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Auch im wissenschaftlichen Bereich gibt es Beispiele zum Einsatz von Spielen. So bietet die offizielle Website des Nobelpreises zahlreiche Lernspiele an, die den Websitebesucherinnen und -besuchern wissenschaftliche Innovationen auf eine unkonventionelle und unterhaltsame Weise näher bringen sollen.34 Diese Beispiele verdeutlichen noch einen weiteren wichtigen Anreiz von Spielen: Die Spielenden können neue ungewöhnliche Verhaltensweisen ausprobieren, ohne sich dabei den tatsächlichen Gefahren oder negativen Konsequenzen in der Realität aussetzen zu müssen.
Spielerische Gestaltung der Online-Angebote von Bibliotheken Der Vorteil von Lernspielen im Bereich der Online-Angebote von Bibliotheken ist leicht nachvollziehbar. Einerseits kann mit spielerischen und interaktiven Elementen die Involviertheit der Bibliotheksnutzerinnen und -nutzer erhöht werden. Die soziale Attraktivität einer Bibliothek kann dabei auf relativ einfache Art und Weise gefördert werden, etwa mittels personalisierter Nutzerkonten oder durch die Möglichkeit der (medialen) Kommunikation mit anderen Bibliotheksbesucherinnen und -besuchern. Zudem können kleine Spiele-Applikationen die Literaturrecherche auf eine unterhaltsame Art und Weise erklären und veranschaulichen. Insbesondere digitale Fachbibliotheken bieten den Nutzenden häufig sehr ausgefeilte Suchfunktionen, um zu einem qualitativ hochwertigen Suchergebnis zu gelangen. Solche komplexen Funktionalitäten könnten beispielsweise in Form eines Abenteuerspiels vermittelt werden. In dem konkreten Spiel ist das Ergebnis der Suche eindeutig festgelegt (z.B. ein geheimnisvolles antikes Buch finden) und die Spielenden können ausprobieren, welche Funktionalitäten zielführend sind und welche Schritte auf die falsche Spur führen. Wichtig ist dabei ein klares Regelwerk (d.h. die logische Struktur der Funktionalitäten sollte sichtbar sein) und eine unmittelbare, leicht verständliche Rückmeldung, was die einzelnen Aktionen bewirkt haben.
Serious Games und Bibliotheken im Future Internet Bislang wurde der Nutzen von Serious Games und spielerischen Elementen für Bibliotheken in sehr allgemeiner Weise thematisiert. In der fortschreitenden Entwicklung des FI sind dabei jedoch einige Besonderheiten und neue Möglichkeiten zu beachten, die im Folgenden näher erläutert werden. Das Internet des Wissen und der Inhalte muss zunehmend an die Bedürfnisse von Digital Natives angepasst werden. Innovative Semantische Technologien 34 http://nobelprize.org/educational/all_productions.html .
196 Stephanie B. Linek und Klaus Tochtermann eröffnen dabei neue Horizonte, die einer spielerischen Herangehensweise eine völlig neue Qualität verleihen können. Mittels neuer Visualisierungstechniken können Wissen und Inhalte dreidimensional und flexibel steuerbar gestaltet werden. Die Nutzenden können zwischen Inhalten und verwandten Wissensbegriffen „surfen“ – eine Metapher, die geradezu dazu einlädt, die Visualisierung in Form eines Spiels darzubieten. Denkt man an das Internet der Menschen, so wird die Nutzergruppe in zunehmendem Maß durch die Generation der Digital Natives geprägt. Demgemäß müssen sich Bibliotheken den neuen Bedürfnissen und Vorlieben ihrer potentiellen Nutzergruppe anpassen. Dies beinhaltet nicht nur eine hohe Benutzerfreundlichkeit der Online-Dienste, sondern kann es zudem erforderlich machen, völlig neue Formen des Wissenserwerbs und des Wissensaustausches zu integrieren. Thematisiert wurde in diesem Zusammenhang bereits der sog. Joy of Use, der für Digital Natives zur Grundlage guter Usability gehört. Ein Trend dabei ist eine spielerische Herangehensweise. Es wurde bereits exemplarisch erläutert, wie die komplexen Funktionalitäten eines Literaturrechercheprogramms in Form eines Abenteuerspiels erklärt werden könnte. Neben diesem allgemeinen Lernspiel könnte auch die eigentliche individuelle Büchersuche in einer analogen Spielumgebung stattfinden. Solche Lernspiele innerhalb von Bibliotheken könnten zudem um eine weitere soziale Komponente angereichert werden, d.h. eine Kommunikation mit anderen Spielenden bzw. Bibliotheksnutzenden wird ermöglicht. Dies könnte etwa nach dem Muster von MMORPGs (Massively Multiplayer Online Role Playing Games)35 oder in Analogie zu SimulationsPlattformen wie Second Life36 gestaltet werden. Bibliotheksnutzenden würde damit die Möglichkeit einer spielerischen und sozial geformten Literatursuche und Weiterbildung eröffnet werden, um in der Interaktion mit anderen ihre Medien- und Fachkompetenz zu erweitern. Gleichermaßen wird auch das Internet der Dienste von den Denkstrukturen der Digital Natives beeinflusst werden. Multiple, flexible und symbiotische Kombinationen der Dienste sind die Grundlage. Dabei ist es auch hier von entscheidender Wichtigkeit, dass die Dienste benutzerfreundlich gestaltet sind und der Umgang mit den Diensten Spaß macht (Joy of Use). Insbesondere die Kombination von mehreren Diensten kann dabei wiederum spielerisch veranschaulicht werden. Verschiedenen Konkurrenzen und Symbiosen zwischen Diensten könnten beispielsweise wie ein Strategiespiel gestaltet werden, das der Nutzerin und dem Nutzer die konkreten Abhängigkeiten näher bringt. Auch das Internet der Dinge bietet Potential für eine spielerische Ausgestaltung. Wie eingangs dargestellt, kann jedes „Ding“ im Rahmen einer internetbasierten Vernetzung durch einen eigenen Rechner so etwas wie eine eigene Intelligenz bekommen. Damit schafft das Internet der Dinge die Vorausset35 Das bekannteste Beispiel ist World of Warcraft. 36 http://secondlife.com/ .
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zungen für eine Spielumgebung, in der jedes „Ding“ als Non-Player Charakter (systemgesteuerte Spielfigur) fungieren kann. Im Rahmen von Bibliotheken können das Regale und Bücher sein, die miteinander kommunizieren und den Nutzenden/Spielenden bei der Büchersuche bzw. Schatzsuche helfen, indem sie Suchpfade aus der Vergangenheit als verblasste Trampelpfade anzeigen oder den Suchenden eine Schatzkarte liefern, wo sich andere semantisch verwandte Bücher befinden oder von welchen Regalen aktuell die meisten Bücher ausgeliehen werden.
Usability Evaluation im Kontext des FI Orientiert man sich an der internationalen Norm DIN EN ISO 9241-11, so ist Usability dann gegeben, wenn die Nutzerin oder der Nutzer in einem definierten Nutzungskontext ihre bzw. seine individuellen Ziele effizient und effektiv auf eine subjektiv zufriedenstellende Art und Weise erreicht. Vergleicht man diese Definition mit den oben dargestellten Erörterungen zum FI und dem Potential von Lernspielen, so wird deutlich, dass diese neuen Entwicklungen grundsätzlich neue Herausforderungen an die Usability stellen. Das FI formiert einen vollkommen neuen Nutzungskontext, der sehr viel stärker durch Semantifizierung und Vernetzung, insbesondere soziale Vernetzung geprägt ist. Auch die Gruppe der Nutzenden hat sich verändert und ist heterogener geworden. Neben der älteren erfahrenen Nutzergruppe, für die Web 2.0-basierte OnlineAngebote der Bibliotheken weitgehend Neuland sind, ist es vor allem die neue Generation von Mediennutzern, auf die sich Bibliotheken im FI einstellen müssen. Dabei geht die Entwicklung weit über das hinaus, was Prensky (2005) im Zeitalter von Web 2.0 als Digital Natives bezeichnete. Die Generation des FI erwartet mehr als eine intuitive einfache Benutzbarkeit und selbsterklärende Software. Eine spielerische Herangehensweise ist nicht mehr nur das wünschenswerte Prozedere, sondern wird vielmehr erwartet. Damit wird das subjektive Nutzungserlebnis oder auch Joy of Use zu einem entscheidenden Schlüsselkriterium. Zudem sieht sich diese neue Generation nicht mehr nur als reine Nutzende sondern vielmehr als integraler Bestandteil des FI (vgl. Internet der Menschen). Soziale Partizipation wird von der Ausnahme zum Regelfall und die Nutzung von Online-Angeboten der Bibliotheken findet zunehmend in Kombination mit anderen Diensten statt. Mit anderen Worten: die subjektiven Ziele der Nutzerinnen und Nutzer sind nicht nur anspruchsvoller, sondern auch vielfältiger geworden. Ebenso bekommt die Vorstellung davon, was als effizient und effektive Suche in Bibliotheken gesehen wird, durch das FI eine neue Bedeutung: Eine Literatursuche wird dann als ausreichend schnell und erfolgreich eingestuft, wenn sie auch verlinkte semantifizierte Inhalte umfasst, die Inhalte miteinander in Relation gebracht werden und die einzelnen Thematiken mit dem sozialen Netzwerk der Forschungs-Community assoziiert sind. Ein sozialer
198 Stephanie B. Linek und Klaus Tochtermann Austausch sollte möglich sein und das allgemeine Meinungsbild sollte unmittelbar ersichtlich werden. Es reicht nicht mehr aus, dass die relevanten Dienste zur Literaturbeschaffung prinzipiell aufgerufen werden können. Vielmehr sollte das entsprechende Dokument unmittelbar abrufbar oder zumindest bestellbar sein. Diese Aufzählung ist nur ein kleiner Ausschnitt der Herausforderungen, die das FI an die Usability der Online-Angebote von Bibliotheken stellt. Indem sich das FI weiterentwickelt, verändern und verbreitern sich auch die Anforderungen der Nutzergruppe an die Usability. Diese wachsenden Ansprüche wirken sich entsprechend auf die Usability Evaluation aus. Da die Ansprüche an die Usability sich ständig weiterentwickeln, muss jeweils kontinuierlich sicher gestellt werden, dass die Benutzerfreundlichkeit ausreichend hoch ist. Auch wenn eine Bibliothek diesem Anspruch heute noch gerecht wird, kann sich dies innerhalb relativ kurzer Zeit ändern, etwa, wenn der Anschluss an soziale Netzwerke verpasst wird. Um einen solchen Handlungsbedarf sichtbar zu machen, können beispielsweise wiederholte quantitative Messungen eingesetzt werden. Standardisierte UsabilityFragebögen wie etwa die System Usability Scale (SUS)37 oder der ISONORM Fragebogen38 sind einfach einzusetzen und allgemein genug gehalten, um auch neuere Applikationen abzudecken. Die regelmäßige quantitative Messung der Usability eines Online-Angebots einer Bibliothek kann nicht nur aufzeigen, ob eine Veränderung nötig ist, sondern auch den Nutzen von Innovationen und Modifikationen messbar machen. Dies bezieht sich nicht nur auf die allgemeine Usability, sondern kann auf spezifische inhaltliche Aspekte ausgeweitet werden. Häufig erfordert dies die Konstruktion eigener Fragebögen. Beispielsweise wurde an der ZBW eine solche inhaltliche Skala zur Erfassung der Qualität der Literaturrecherche (Usefulness) mit dem Online-Service EconBiz erstellt. Diese Skala wurde nach dem Vorbild der SUS in enger Zusammenarbeit mit den inhaltlichen Expertinnen und Experten konstruiert. Dabei wurden aus Sicht der Expertinnen und Experten zehn Kriterien als wesentlich erachtet, bei denen auch zukünftige Entwicklungen berücksichtigt wurden. Neben der Vollständigkeit und geprüften wissenschaftlichen Qualität der Inhalte wurde beispielsweise auch die Exportierbarkeit der Suchergebnisse als Qualitätsmerkmal miteinbezogen. Diese Kriterien wurden (nach dem Vorbild der SUS) jeweils mit einer Aussage umschrieben (z.B. Kriterium geprüfte wissenschaftlich Qualität der Inhalte: „Ich kann mich darauf verlassen, dass die in EconBiz aufgeführten Inhalte von hoher wissenschaftlicher Qualität sind.“). Die Bibliotheksnutzerinnen und -nutzer sollen dabei jeweils auf einer fünfstufigen Rating-Skala angeben, inwieweit diese Aussage aus ihrer Sicht zutrifft. Obgleich Reliabilität und Validität dieser Skala (noch) nicht gesichert sind, liefert sie jedoch intern wichtige 37 Bangor; Kortum; Miller, 2009. 38 Prümper, 1999.
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Daten, welche Aspekte der Literaturrecherche vom Nutzer geschätzt werden und bei welchen Teilaspekten Verbesserungsbedarf besteht. Quantitative Messungen alleine können jedoch nur wenig Aufschluss über die Art der notwenigen Modifikation geben. Die Frage, welche konkreten neuen Anforderungen die Nutzerinnen und Nutzer haben, muss vielmehr anhand qualitativer Daten aufgeklärt werden. Dazu können Usability-Tests, semistrukturierte Interviews oder andere Standardmethoden der Usability Evaluation eingesetzt werden. Neu sind somit nicht die Methoden zur Usability Evaluation sondern vielmehr die Kombination von verschiedenen Daten. Quantitative und qualitative Daten werden als sich ergänzenden Informationsquellen angesehen. Beispielsweise können quantitative Fragebogendaten auch dazu genutzt werden, um die qualitativ erhobenen Wünsche der Nutzergruppe zu priorisieren. Umgekehrt können qualitative Ergebnisse dazu beitragen, die quantitativen Daten mit Bezug auf konkrete Verbesserungsvorschläge zu interpretieren. Die eingangs dargestellte Komplexität des Future Internet macht deutlich, dass es geradezu unmöglich ist, allen Anforderungen und Wünschen aller Nutzenden Rechnung zu tragen. Meist reicht es auch nicht aus, die geplanten Veränderungen in eine Rangreihe zu bringen und die dringlichsten Anliegen zuerst zu bearbeiten. Vielmehr sind Bibliotheken zunehmend zu strategischen Entscheidungen gezwungen. Dies kann sich beispielsweise darauf beziehen, inwieweit man eine Symbiose mit Netzwerken wie Facebook eingehen möchte oder ob und in welchem Ausmaß man Open Access Journals vorrangig behandeln möchte. Diese strategischen Entscheidungen müssen sich zudem an den vorhandenen Ressourcen orientieren, d.h. welche finanziellen und personellen Mittel zur Verwirklichung der Usability-Verbesserungen und Innovationen verfügbar sind. Unter Berücksichtigung dieser Faktoren sollte der übliche Multi-Methoden Ansatz insofern modifiziert werden als sich die benutzerbasierten Methoden auch Instrumente zur Erfassung der Enjoyment-Komponente miteinbeziehen, also beispielweise das Flow-Erleben miterfassen, und prospektiv die Sicht der Nutzenden zu strategischen Entscheidungen erfassen, um mögliche Alternativen abwägen zu können. Zudem sollten expertenbasierte Methoden auch das Expertenwissen zu neueren Applikationen mitberücksichtigen, z.B. zu Computerspielen oder dem Einsatz von Emoticons. Usability Evaluation findet dabei analog zu den gängigen Modellen der Praxis39 in einem iterativen Prozess statt, der quantitative und qualitative Daten miteinander kombiniert. Während qualitative Daten vor allem dazu genutzt werden können, die Breite der Aspekte des FI und seiner Möglichkeiten abzudecken, sind quantitative Daten ein wichtiges Hilfsmittel, um die Anforderungen und Wünsche der Nutzenden zu priorisieren und Verbesserungen messbar zu machen. Beide Datenquellen werden genutzt, um konkrete Empfehlungen zur Usability auszusprechen, die einerseits an den
39 Vgl. die Übersicht bei Sarodnick; Brau, 2011.
200 Stephanie B. Linek und Klaus Tochtermann strategischen Entscheidungen der einzelnen Bibliothek und andererseits an den praktisch verfügbaren Ressourcen orientiert sind. Ein Spezialfall bildet dabei die Integration von spielerischen Elementen in die Bibliothek. Analog zur Evaluation von Serious Games muss nicht nur das subjektive Spielerlebnis, sondern auch der Nutzen für das eigentliche Anliegen der Bibliothek (z. B. seriöses, qualitativ hochwertiges und umfassendes Ergebnis bei der Literaturrecherche) berücksichtigt werden. Beim Einsatz von quantitativen Fragebögen reicht somit die Betrachtung von Usability-Kriterien allein nicht aus. Zusätzlich können Skalen zur Erfassung des Flow-Erlebens oder die Evaluation der Interaktion mit Spielcharakteren nötig sein. Im gewählten Beispiel müsste zudem die inhaltliche Qualität der Literaturrecherche in die Evaluation miteinbezogen werden. Diese Erörterungen verdeutlichen, dass es für die Usability Evaluation von Online-Angeboten einer Bibliothek im FI eine sehr anspruchsvolle Aufgabe ist, wenn es darum geht, eine detaillierte allgemeinverbindliche Anleitung zu geben, die alle Teilbereiche des FI berücksichtigt und anstehende Innovationen angemessen antizipiert. Vielmehr muss ein adäquates Rahmenmodell genügend Flexibilität besitzen, um an die Besonderheiten der einzelnen Bibliothek, die speziellen Wünsche der Nutzergruppe sowie den wachsenden Herausforderungen und Innovationen des Future Internet angepasst werden zu können.
Resümee In diesem Kapitel wurde die neue Entwicklung des Future Internet im Zusammenhang mit Bibliotheken erläutert. Dabei wurde deutlich, dass alle vier Teilaspekte des FI für die Bibliotheken der Zukunft nicht nur spezielle Herausforderungen sondern auch großes Potential bieten. Insbesondere die Semantifizierung von Inhalten und die enge Einbindung von Bibliotheksnutzerinnen und -nutzern werden die anstehende Entwicklung und Ausgestaltung von Bibliotheken entscheidend beeinflussen. In diesem Zusammenhang wurde exemplarisch am Beispiel von Serious Games veranschaulicht, in welche Richtung innovative Ansätze innerhalb der Bibliotheken der Zukunft gehen können. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf den wachsenden Anforderungen an die Usability und die Usability Evaluation. Die revolutionären Umwälzungen im Zuge des FI erfordern ein flexibles und umfassendes methodologisches Rahmenmodell, das nicht nur quantitative und qualitative Daten zu den verschiedenen Teilaspekten umfasst, sondern auch strategische Entscheidungen und die steigenden Ansprüche der Bibliotheksnutzerinnen und -nutzer sowie neue technische Möglichkeiten berücksichtigt. Im Angesicht des Future Internet wachsen nicht nur die Ansprüche an die Bibliotheken der Zukunft, sondern auch die Anforderungen an ein angemessenes methodisches Instrumentarium zur Usability Evaluation.
Bibliotheken im Future Internet 201
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10. Die Usability bibliothekarischer Apps Hans-Bodo Pohla
Einleitung Im Juni 2007 erschien in den USA das erste iPhone1 und im Oktober 2008 das G12, das erste Android-Smartphone. Diese Geräte sollten den Erfolg zweier Betriebssysteme für Smartphones einläuten: den des iOS von Apple und den des Google-Betriebssystems Android. Beide Systeme können von den Nutzern mittels einer Plattform mit zusätzlicher Software, den sogenannten Apps ausgestattet werden. Auch andere Anbieter haben versucht ähnliche Modelle zu entwickeln, deren Erfolg, insbesondere bei den zugehörigen Plattformen für Apps, aber bis heute nicht mit iOS und Android Schritt halten kann.3 Zusätzlich lässt Apple auch die Installation von Programmen auf dem Mediaplayer iPod Touch zu und mit Tablet PCs, wie dem iPad sowie Android-Pendants, ist der Markt für die jeweiligen Applikationen weiter gewachsen. Für Unternehmen wurde die Entwicklung einer eigenen App bald von Interesse, um sich auf diesen Plattformen zu präsentieren. Seit 2010 lassen sich im App Store (Apple) und Market (Android) auch vermehrt Angebote mit bibliothekarischem Hintergrund finden. Anfang Juli 2010 existierten knapp dreißig bibliothekarische Apps.4 Ende des Jahres waren es bereits um die fünfzig. Im April 2011 kann man in den beiden Portalen insgesamt über hundert solcher Programme finden, wobei einige Apps von Bibliotheken plattformübergreifend vorkommen.
Herangehensweise bei der Untersuchung der Usability In diesem Beitrag sollen deduktiv die Usability der grafischen Oberflächen, der eingebetteten Funktionen, sowie der Grundstruktur der Programme anhand von Beispielen evaluiert werden. Um eine summative Einschätzung zur Usability 1 2 3 4
http://www.n-tv.de/wirtschaft/meldungen/USA-im-iPhone-Fieber-article223746.html (15.05.2011) . http://www.heise.de/open/meldung/Googles-Smartphone-Betriebssystem-Android-alsOpen-Source-212719.html (15.05.2011) . http://www.research2guidance.com/android-market-will-become-the-biggest-mobilecontent-platform-in-the-world-by-august-2011/ (22.05.2011) . Pohla, 2010.
204 Hans-Bodo Pohla möglich zu machen, wurden alle bibliothekarischen Apps der beiden Plattformen App Store und Market auf Endgeräten installiert und analytisch evaluiert. Auf den Entwicklerseiten von Apple und Android werden Ratschläge für die Entwicklung der Apps zur Verfügung gestellt, so auch hinsichtlich der Usability. Während bei Android diese Anleitungen momentan sehr rudimentär verfügbar sind5, bietet Apple einen sehr ausführlichen Kriterienkatalog an.6 Die dort unter anderem eingeführten „Human Interface Principles“7 sollen als roter Faden in diesem Beitrag aufgegriffen werden, da in diesem speziellen Fall keine vergleichbaren Richtlinien in Bezug auf die Usability von Apps existieren. Die Kriterien sollen Entwicklern helfen, sich an den Bedürfnissen der Nutzer ihrer App zu orientieren. Damit soll verhindert werden, dass Apps allein auf die Fähigkeiten des Endgerätes zugeschnitten werden. Im Folgenden wird in sechs Kapiteln, die analog zu den „Human Interface Principles“ betitelt sind, kurz die Aufgabenstellung des jeweiligen Kriteriums erörtert. Anschließend wird die Umsetzung der dazugehörigen Gesichtspunkte exemplarisch innerhalb von Fallbeispielen einzelner bibliothekarischer Apps untersucht und bewertet.
Aesthetic Integrity Das erste von Apple aufgestellte Kriterium handelt nicht allein von der Optik einer App, sondern vielmehr von der Harmonie zwischen Anwendungsfall und Design. Es geht also um die Problematik, eine App so zu entwickeln, dass der Nutzer zielgerichtet agieren kann und dabei durch die Optik des Programms unterstützt wird. Für die Suchfunktion in einem Bibliothekskatalog kann man bei den folgenden zwei Beispielen klar erkennen, welche Möglichkeiten vorhanden und wie diese zu erreichen sind (siehe Abbildung 1). In beiden Apps lassen sich die Suchparameter konfigurieren. Während jedoch bei FPL iLibrary8 ausreichend große Buttons verwendet wurden, wirken die Auswahlmöglichkeiten bei SJSU Mobile gedrungen und wesentlich schmaler. Zwar kann die Größe der Geräte variieren, die durchschnittliche Größe einer Fingerspitze ist jedoch konstant und sollte damit stets im Fokus bleiben.9 Darüber hinaus ist laut Apple von enormer Bedeutung, dass die berührbaren Elemente auch explizit dazu einladen.10
5 Android User Interface Guidelines, http://developer.android.com/guide/practices/ui_ guidelines/index.html (15.05.2011). 6 Apple, 2011. 7 Ebd. 8 Auflösung der App-Namen siehe Anhang. 9 Apple, 2010. 10 Ebd.
Die Usability bibliothekarischer Apps 205
Abb. 1: Sucheinstiege bei FPL iLibrary und SJSU Mobile
Im direkten Vergleich wird deutlich, dass dies bei FPL iLibrary sehr gut umgesetzt wurde, während SJSU Mobile den Eindruck einer nicht vollständig geladenen Website macht und die blanken Hyperlinks dadurch wenig ansprechend wirken. In erneutem Bezug auf die Größe der angezeigten Elemente, ist festzustellen, dass dies auch beim Lesen eine Rolle spielt. Bei den folgenden Apps wird die Detailanzeige eines Katalogeintrags angezeigt (siehe Abbildung 2).
Abb. 2: Trefferdetailanzeige bei KPL.gov und Brooklyn Library
Auf den ersten Blick wird deutlich, dass der Nutzer11 bei KPL.gov mit sehr vielen Informationen konfrontiert wird, wohingegen bei Brooklyn Library die Anzeige der Informationen sehr knapp gehalten wurde. Für eine gelungene Harmonie zwischen Funktion und Design sind diese beiden Beispiele zu extrem, ein Mittelweg wäre wünschenswert. 11 Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Beitrag auf die Nennung des weiblichen Pendants verzichtet, gleichwohl ist diese stets ebenso angesprochen.
206 Hans-Bodo Pohla Bei den letzten beiden Apps soll unter Berücksichtigung der „Aesthetic Integrity“ noch ein Mal der Unterschied zwischen einem besonders nutzerunfreundlichen und nutzerfreundlichen Zusammenspiel aus Funktion und Design verdeutlicht werden, wobei es dabei nicht um die dargestellten Inhalte selbst geht (siehe Abbildung 3). Bei Biblo, dem ersten Beispiel, ist sowohl eine Anzeige im iPhone, als auch im iPad von den Entwicklern vorgesehen. Die MenüPunkte waren aber selbst bei dem wesentlich größeren iPad schwer zu bedienen. Darüber hinaus sind die Piktogramme teils wenig aussagekräftig. Bei DPL iLibrary ist hingegen ein klares Schema erkennbar und durch die Größe der Menüpunkte ist eine komfortable Bedienbarkeit gegeben. Die Navigationsleiste am oberen Rand ist als einziger Vorteil hinsichtlich der Usability von Biblo gegenüber DPL iLibrary zu bewerten, da die Nielsen Norman Group in einer Untersuchung herausgefunden hat, dass sich Nutzer des iPads eher am oberen Rand orientieren. Demgegenüber orientieren sich Nutzer des iPhones eher am unteren Rand, wenn sie ein Menü aufsuchen wollen.12
Abb. 3: Kategorieanzeige in Biblo (iPad) und Kontoanzeige in DPL iLibrary (iPad)
All diese Überlegungen hinsichtlich des Zusammenspiels von Funktionalität und Design gehen teilweise fließend in die anderen Kriterien über.
Consistency Hier wird vorgeschlagen dem Nutzer der Anwendung mit Vertrautem zu begegnen, um Barrieren des Neuerlernens von vornherein auszuschließen. Bekannte Elemente können beispielsweise aus Standardanwendungen des Betriebssystems
12 Budiu; Nielsen, 2010.
Die Usability bibliothekarischer Apps 207
gebräuchlich sein oder auch aus dem alltäglichen Leben. Dabei geht es nicht nur um typische Schritte in der Menüführung, sondern auch um bekannte Piktogramme, die verwendet werden sollen. Ein gutes Beispiel ist die Favoritenanzeige der App Gladsaxe Bibliotekerne (Gladsaxe Public Libraries) mit dem rotweißen Symbol (siehe Abbildung 4), welches auch aus anderen Apps bekannt ist. Ebenso deutlich wird die Wirkung solcher homogener Elemente bei den Einstellungen für die UB Gent, die mit den sehr typischen virtuellen Schaltern und einem Schieberegler für die Schrift-Größe versehen sind.
Abb. 4: Favoritenanzeige Gladsaxe Bibliotekerne (Gladsaxe Public Libraries) und Konfiguration bei UB Gent
Über bekannte Elemente wird der Zugang eines Nutzers zur Bedienung erleichtert und kann damit entscheidend die Usability verbessern.
Direct Manipulation An dieser Stelle wird geraten, die Möglichkeiten des Touch-Screen auszuschöpfen, da dem Nutzer hier unmittelbarer als bei separaten Bedienelementen die Folgen des eigenen Handelns deutlich werden. In bibliothekarischen Apps wird bis dato noch relativ wenig mit Gesten und kombinierten Touch-Eingaben experimentiert, im folgenden sind jedoch zwei Beispiele dargestellt, die einen Einblick in mögliche Entwicklung geben (siehe Abbildung 5). Für EPL Mobile haben sich die Entwickler offensichtlich an das im MediaPlayer-Bereich immer häufiger vertretene Cover Flow angelehnt. So kann der Nutzer mit einem Wisch des Fingers durch die in diesem Fall kürzlich rezensierten Werke blättern. Bei DPL iLibrary kann die Suchabfrage durch das justieren stilisierter Regler konfiguriert werden – Für den Nutzer gibt dies einen guten Überblick, denn wären beide Konfigurationsmöglichkeiten per Drop-DownMenü einsehbar, so müssten diese unabhängig voneinander geöffnet werden,
208 Hans-Bodo Pohla wodurch im Rückschluss stets ein Menü geschlossen bleibt. Zusätzlich wird für den Nutzer auf diese Weise eventuell eine Option sichtbar, die er in dem entsprechenden Drop-Down-Menü sonst nicht vermutet hätte. Beide Funktionen lassen sich sehr gut bedienen.
Abb. 5: „Discover“-Startseite der Apps EPL Mobile und DPL iLibrary (iPad)
Eine weitere interessante Entwicklung wurde seitens NP Library umgesetzt, hier kann man ähnlich wie bei Google Streetview13 aus einer Karte, in diesem Fall des Gebäudes, heraus in einen Foto-Modus wechseln und sich nach allen Seiten umsehen (siehe Abbildung 6).
Abb. 6: Übersichtsplan NP Library mit 360°-Ansichten
Die Bedienung dieses virtuellen Rundgangs ist leider noch nicht allzu komfortabel, das Bewegen der blauen Figur auf eine der Stationen erfordert Übung und auch die Einbettung dieses Features in die Gesamt-Applikation ist noch nicht optimal umgesetzt, auch wenn die Symbole schlüssig und das Hauptmenü außerdem stets erreichbar ist. 13 http://maps.google.com/help/maps/streetview/ (15.05.2011) .
Die Usability bibliothekarischer Apps 209
„Direct Manipulation“ beinhaltet auch, den Nutzer zur Interaktion anzuregen. Um noch einmal auf das Beispiel der Trefferanzeige bei KPL.gov und Brooklyn Library zurückzukommen (siehe Abbildung 2), so fehlen hier bei Brooklyn Library entscheidende Interaktionselemente, die man in einem OnlineKatalog in der Regel nicht vermissen würde. Die Rede ist von Hyperlinks, wie sie bei KPL.gov verwendet wurden. Es lässt sich darüber streiten, ob diese, wie bereits angesprochen, sehr ausführliche Detailanzeige des ersten Beispiels einen Nutzer nicht überfordert. Dennoch bieten diese ausführlichen Hyperlinks auf der linken Seite den positiven Aspekt der im Vorfeld klar definierten Ergebnisse. Mit „Find more by this author“, „Find more on these topics“ oder „Nearby items on shelf“ dürfte jedem Nutzer klar sein, was bei entsprechender Auswahl passiert.
Abb. 7: Hyperlinks in der Katalogdetailanzeige von iUsask
210 Hans-Bodo Pohla Die Alternative stellt eine Verlinkung des jeweiligen Katalogeintrags dar, wie unter anderem in der App iUsask (siehe Abbildung 7). In der Detailanzeige des Bibliothekskatalogs wurde der Autor mit einem Hyperlink hinterlegt, welcher eine Suche nach Titeln desselben Autors auslöst. Hyperlinks stellen stets eine Förderung der möglichen Interaktivität dar, da sie direkt eine weitere, andernfalls eventuell umständlich zu erreichende, Aktion möglich machen. Hyperlinks können dabei durchaus untypisch gestaltet werden, wichtig ist lediglich, dass der Nutzer vielfältige und klar gekennzeichnete Einstiege erhält. Laut Budiu und Nielsen14 sind Menschen, die sich im Internet bewegen, sehr offen gegenüber Hyperlinks. Diese Bereitschaft sollte auch bei Apps ausgenutzt werden. Zwar sind für die explizite Einbindung von Gesten und anderen TouchScreen-gesteuerten Eingaben erst eine Handvoll Beispiele im bibliothekarischen Kontext aufzufinden, diese sorgen aber zumeist für eine unmittelbarere und positivere Auseinandersetzung mit dem Kontext. Dies gilt insbesondere für die angesprochenen stilisierten Regler und die Cover-Flow-Anlehnung.
Feedback Das Feedback bezieht sich hierbei auf die Erwartung des Nutzers. Wenn bei der Bedienung einer App ein Button betätigt wird, so erwartet der Nutzer eine Reaktion der Anwendung. Bestenfalls wird umgehend das mit dem Auslösen beabsichtigte Ziel erreicht. Allerdings kann bereits die Information, dass an der Zielführung gearbeitet werde, der Usability sehr zuträglich sein. Es gibt durchaus einzelne Apps, die den Nutzer diesbezüglich im Ungewissen lassen, was zu wiederholter Eingabe oder der Vermutung eines Programmabsturzes führen kann. Benötigt eine App Antwort- oder Rechenzeit, sollte umgehend eine entsprechende Meldung angezeigt werden. Ladezeiten können auch durch eine schwache Internetverbindung ausgelöst werden und müssen nicht der Performanz einer Anwendung geschuldet sein. Eine gute Lösung hierfür wurde bei Bookzee umgesetzt, indem die Oberfläche in den Hintergrund gedunkelt wurde und der Nutzer um Geduld gebeten wird, bis die Daten geladen sind (siehe Abbildung 8). Ein Beispiel für eine besonders gelungene Form des Feedbacks stellt UB Gent dar (siehe Abbildung 9). Es handelt sich hierbei um eine Live-Suche, die für den Nutzer bezüglich des Feedbacks besonders transparent und damit der Usability äußerst förderlich ist. Beim Eintippen der ersten Buchstaben wird bereits im Hintergrund ein Indexabgleich durchgeführt und erste Ergebnisse präsentiert. Da die Suchergebnisse
14 Budiu; Nielsen, 2010.
Die Usability bibliothekarischer Apps 211
Abb. 8: Ladebildschirm Bookzee
Abb. 9: Live-Suche Universiteitsbibliotheek Gent
sich während der Eingabe anpassen, können seitens des Nutzers frühzeitig Schreibfehler und Fehleingaben erkannt werden. Sei es ein Ladebildschirm
212 Hans-Bodo Pohla oder eine Live-Suche, insgesamt ist es stets ratsam den Nutzer auf dem Laufenden zu halten. Das Verständnis eines Nutzers für die Abläufe innerhalb einer App spielt stets eine große Rolle im Bereich der Usability, worauf auch das nächste Kriterium stark fokussiert.
Metaphors Im Speziellen sind an dieser Stelle Bezüge auf reale Gegenstände und allgemein Gebräuchliches gemeint, wie das Bild eines Papierkorbs, dass in der Regel mit dem Wegwerfen oder Vernichten einer Datei gleichgesetzt wird. moBUL Brown Library geht einen Schritt in diese Richtung und verwendet Kreisdiagramme, um die Auslastung der PC-Arbeitsplätze innerhalb der Bibliothek zu symbolisieren (siehe Abbildung 10).
Abb. 10: moBUL Brown Library PC-Arbeitsplatz-Auslastung
Die Usability bibliothekarischer Apps 213
Kreisdiagramme, die jedem Nutzer bekannt sein dürften, werden mit roten und grünen Bereichen gekennzeichnet. Auch hier ist umgehend deutlich, in welchem Gebäude oder Raum noch Kapazitäten zu erwarten sind, da die Farben rot und grün allgemein fest mit positiven, beziehungsweise negativen Aussagen assoziiert werden.
User Controls Dieses letzte Kriterium stellt die Erwartung des Nutzers in den Vordergrund, nichts falsch machen zu können. Dem Nutzer soll stets die Möglichkeit gegeben werden, einen Schritt zurückzugehen, beziehungsweise eine Aktion wieder ungeschehen machen zu können. Ein sehr gutes Beispiel hierfür stellt die App UPLA dar. Selbst wenn aus der Detailanzeige eines Suchtreffers in die Kartenansicht des Bibliotheksgebäudes gewechselt wird, ist stets der Weg zurück in die Detailanzeige möglich (siehe Abbildung 11).
Abb. 11: UPLA mit Detailanzeige eines Katalogtreffers und Anzeige des Regals
Beim ersten Screenshot weist noch ein Button oben links den Weg zurück zu den Suchergebnissen. Dies wurde kleinschrittig in fast allen anderen Apps ebenso realisiert. Kaum eine App bringt den Nutzer statt zur Trefferliste zu einem leeren Suchformular zurück. Hervorzuheben ist aber an dieser Stelle der zweite Screenshot, der einmal abgesehen von der Nützlichkeit der Anzeige des richtigen Regals für den Nutzer, einen ebenso eingebetteten Button beherbergt, um wieder in die Detailanzeige zu gelangen. In der Regel wechselt jedoch bei einer Kartenfunktion das komplette Layout, wie bereits zuvor bei NP Library (siehe Abbildung 6) dargelegt, sodass der Nutzer sich zunächst mit einer neuen Oberfläche befassen muss, ehe er weitere Schlüsse ziehen kann. Bei UPLA wur-
214 Hans-Bodo Pohla
Abb. 12: EPL Mobile mit der Vorwarnung zum Browser
den jedoch alle Funktionen optisch und konzeptionell eingebettet, sodass das Menü in seiner bekannten Form erhalten bleibt. Ein weiterer, dem Anschein nach vielleicht eher lapidarer Anwendungsfall, ist der Wechsel aus der Anwendung heraus in den Browser. Oft wird diese Möglichkeit genutzt, um längere Texte in der App zu vermeiden. So wird beispielsweise durch einen Link zu einem Blog, oder anderen online bereits vorhandenen Inhalten verwiesen. In der bereits angesprochenen Studie von Budiu und Nielsen wird jedoch darauf hingewiesen, dass die Nutzer der App eine Weiterverlinkung zumeist als Ärgernis empfinden.15 Der Nutzer sollte den Wechsel zu Inhalten über die App hinaus kontrollieren und gegebenenfalls verhindern können. Ein gutes Beispiel für eine gelungene Vorwarnung stellt hier die Lösung bei EPL Mobile dar (siehe Abbildung 12). Die Information, 15 Budiu; Nielsen, 2010.
Die Usability bibliothekarischer Apps 215
dass mit der Auswahl ein Wechsel zum Browser stattfinden wird, verbunden mit der Option, dies auf Wunsch wieder abzubrechen, lässt den Nutzer frei entscheiden. Dies ist auch insofern wichtig, als dass sich in der Regel Menüpunkte einer App optisch nicht unterscheiden, seien sie mit App-internen oder externen Inhalten hinterlegt. Die Option, getätigte Eingaben rückgängig zu machen, ist in den meisten PC-Programmen möglich und Usus und sollte auch in Apps integriert sein. Dies bezieht sich sowohl auf Eingaben, als auch auch auf das Browsen zwischen den verschiedenen Ansichten einer App.
Fazit und Ausblick Unter Berücksichtigung aller „Human Interface Principles“ kann abschließend festgehalten werden, dass ein großer Teil der über hundert untersuchten Apps sehr anwendungsbezogen erstellt wurde und die Anwendungen in der Regel unmissverständlich und gut zu bedienen sind. Anwendungsbezogenheit lässt sich aber in diesem Fall nur auf die vorgefundenen Funktionen einordnen. An dieser Stelle ist im Gesamtkontext der Usability die Frage aufzuwerfen, welchen Mehrwert eine App dem Bibliotheksnutzer bieten kann. Die vorgefundenen Hauptfunktionen sind in der Regel die Recherche im Katalog und das Einsehen des Nutzerkontos.16 Apple zufolge gibt es eine „80-20-Regel“.17 Daraus resultierend benutzen 80 Prozent der Nutzer eine App nur für einen Bruchteil der Funktionen und lediglich 20 Prozent der Nutzer reizen Möglichkeiten aus, die darüber hinausgehen. Das würde in diesem Fall mit großer Wahrscheinlichkeit bedeuten, dass 80 Prozent diese beiden Hauptfunktionen nutzen, obwohl sich für den mobilen Anwendungskontext bis dato kein erheblicher Mehrwert erschließt. So wird zum Beispiel eine Information über verspätete Medien eher ärgerlicher, wenn man bereits unterwegs ist und die fälligen Exemplare zu Hause auf dem Schreibtisch liegen. Erst bei Funktionen wie der Verknüpfung aus der Trefferdetailanzeige zur Kartenansicht des entsprechenden Regals oder bei der Anzeige freier PC-Arbeitsplätze werden Potenziale deutlich, die dem Nutzer im mobilen Kontext wertvolle Informationen geben können. Hier zeigt sich, welches Entwicklungspotenzial vorhanden ist und welche Möglichkeiten ausgeschöpft werden könnten. Wenn in naher Zukunft, beispielsweise durch Lokalisierung, eine Zielführung zum entsprechenden Regal und eventuell sogar exakt zum gesuchten Medium möglich, oder gewinnbringende mobile Funktionen wie der Hinweis auf ein abholbares Medium realisiert würden, könnte auch der Nutzer von einer gesteigerten Gesamt-Usability eines Systems Bibliothek profitieren. 16 Ob es sich hierbei um die am meisten genutzte Funktion der jeweiligen App handelt müsste empirisch untersucht werden. 17 Apple, 2010.
216 Hans-Bodo Pohla
Literaturverzeichnis Apple: iOS Human Interface Guidelines (2010). http://developer.apple.com/library/ios/# documentation/userexperience/conceptual/mobilehig/Introduction/Introduction.html (15. 05. 2011). Budiu, Raluca u. Nielsen, Jakob: Usability of iPad Apps and Websites: First Research Findings (2010), Fremont: Nielsen Norman Group. http://www.nngroup.com/reports/mobile/ipad/ (15.05.2011). Pohla, Hans-Bodo: Untersuchung bibliothekarischer Applikationen für Mobiltelefone hinsichtlich der technischen Realisierung und des Nutzens (2010). http://opus.bibl.fh-koeln. de/volltexte/-2010/271/pdf/Pohla_Hans_Bodo_Diplomarbeit.pdf (15.05.2011).
Anhang: Vorgestellte Beispiele (biblo) von PMB Services: http://itunes.apple.com/fr/app/biblo/id396396797?mt=8, Download: 23.04.2011. (Bookzee) von Boski.com: http://itunes.apple.com/de/app/bookzee/id346765213?mt=8, Download: 24.05.2010. (Brooklyn Library) für Brooklyn Public Library von Andreas Sandberg: http://itunes.apple. com/us/app/brooklyn-library/id415441413?mt=8, Download: 23.04.2011. (DPL iLibrary) für Dallas Public Library von Hybrid Forge: http://itunes.apple.com/us/ app/dallas-public-ilibrary-hd/id419654907?mt=8, Download: 23.04.2011. (EPL Mobile) für Edmonton Public Library von BiblioCommons: http://itunes.apple.com/ ca/app/epl-mobile/id390969843?mt=8, Download: 23.04.2011. (FPL iLibrary) für Fayetteville Public Library von Hybrid Forge: http://itunes.apple.com/us/ app/fayetteville-public-ilibrary/id417091948?mt=8, Download: 23.04.2011. (Gladsaxe Bibliotekerne (Gladsaxe Public Libraries)) für Gladsaxe Bibliotekerne von BridgeIT: http://itunes.apple.com/dk/app/gladsaxe-bibliotekerne-gladsaxe/id369889251? mt=8, Download: 22.06.2010. (iUSask) für University of Saskatchewan von University of Saskatchewan: http://itunes.apple. com/ca/app/iusask/id324722704?mt=8, Download: 30.04.2010. (KPL.gov) für Kalamazoo Public Library von Kalamazoo Public Library: http://itunes.apple. com/us/app/kpl-gov/id412326841?mt=8, Download: 23.04.2011. (moBUL Brown Library) für Brown University Library von Boopsie, Inc.: http://itunes.apple. com/de/app/mobul-brown-library/id372916706?mt=8 (alternativ im Android Market), Download: 20.06.2010. (NP Library) für Lieng Ying Chow Library von Ngee Ann Polytechnic: http://itunes.apple. com/sg/app/np-library/id390105597?mt=8, Download: 23.04.2011. (SJSU Mobile) für San Jose State University von San Jose State University: http://itunes. apple.com/us/app/sjsu-mobile/id379725125?mt=8, Download: 23.04.2011. (UB Gent) für Universiteitsbibliotheek Gent von Boopsie, Inc.: http://itunes.apple.com/us/ app/ub-gent/id362022518?mt=8 (alternativ im Android Market), Download: 22.06.2010. (UPLA) für University and Public Libraries Hong Kong von Versitech Limited: http:// itunes.apple.com/us/app/upla-universities-public-library/id340814594?mt=8#, Download: 22.06.2010.
11. Die Blended Library: Benutzerorientierte Verschmelzung von virtuellen und realen Bibliotheksdiensten Mathias Heilig, Roman Rädle und Harald Reiterer Einleitung In diesem Beitrag wird die Idee der „Blended Library“1 vorgestellt, welche die Entwicklung von neuen Konzepten für die Unterstützung des Rechercheprozesses in der physischen Bibliothek der Zukunft beschreibt. Im Zuge der voranschreitenden Digitalisierung wurden in der Vergangenheit in den unterschiedlichsten Bereichen versucht, reale Dienste der Bibliothek auf digitale Dienste zu übertragen. Jedoch gingen dadurch viele soziale und physische Mehrwerte realer Umgebungen (z. B. persönlicher Kundenkontakt, räumliche Orientierung, greifbare Medienobjekte) verloren. Dieser Beitrag schlägt deshalb einen Paradigmenwechsel vor – weg von der Entwicklung rein virtueller Welten, hin zur Einbettung von Informationstechnologien in die soziale und physische Welt einer Bibliothek. In der Blended Library werden Benutzern somit völlig neue Formen der Recherche und der Wissensvermittlung geboten. Dies soll durch den umfassenden Einsatz von neuen interaktiven Endgeräten und zukunftsweisenden Visualisierungen geschehen und somit reale und virtuelle Angebote bzw. Funktionen der Bibliothek zusammenführen. Eine Fallstudie dient dabei als erste exemplarische Umsetzung einer Blended Library, welche umfassend auf den kreativen Arbeitsablauf eines Wissensarbeiters in der Bibliothek der Zukunft eingeht. Das Konzept wird anhand eines realitätsnahen Szenarios vorgestellt, in dem die Designentscheidungen der Fallstudie basierend auf „Conceptual Blending“ erklärt werden.
Motivation Die Digitalisierung von Bibliotheksbeständen und die zunehmende Verlagerung von Wissensarbeit in das World Wide Web haben das Selbstverständnis heutiger Bibliotheken verändert. Freihandbibliotheken haben die früher vorherrschende Monopolstellung als Wissensanbieter durch die digitale Verbreitung von In1
Dieser Beitrag ist eine aktualisierte und erweiterte Fassung von Heilig et al., 2010.
218 Mathias Heilig, Roman Rädle und Harald Reiterer formationen – z. B. durch digitale Bibliotheken – verloren. Im Gegensatz zu Freihandbibliotheken bieten digitale Bibliotheken nahezu unbegrenzt digitale Inhalte in Form von E-Books und E-Journals, gepaart mit vielfältigen digitalen Funktionalitäten wie Volltextsuche, Sortieren und Filtern, Annotation und sind darüber hinaus jederzeit und von überall aus verfügbar. Freihandbibliotheken bieten hingegen Vorteile, die wiederum in digitalen Bibliotheken nicht vorhanden sind. Die Bibliothek als Standort von Medien ist nicht nur Raum der Lagerung, sondern bietet gleichzeitig eine physische Wissensordnung. Diese Ordnung bildet implizit einen Informationsträger, der Werke in vielfältiger Weise zueinander in einen Kontext stellt. Bibliotheksbesucher entwickeln unbewusst eine Eigenschaft solche „Metainformationen“ aufzunehmen. McCullough bezeichnet diese Eigenschaft als „spatial literacy“2. Beispielsweise wird die Gestaltung und das Alter von Einbänden und Buchrücken, die Anzahl von anderen Nutzern in der Umgebung, die Lage eines Regals innerhalb der typischen Laufwege oder zentralen Orte sowie die Position und Nachbarschaft eines Werkes in der Bibliothek von den Besuchern wahrgenommen und verarbeitet. Auch wenn die Digitalisierung zentrale Aufgaben des Bibliothekswesens aus der realen in die virtuelle Welt verlagert hat, zeigen gerade aufwändige Neubauten (z. B. das IKMZ der BTU Cottbus oder die Philologische Bibliothek der Freien Universität Berlin) welche zentrale Bedeutung der modernen Bibliothek als physischem und sozialem Arbeits- und Begegnungsort beigemessen wird. Im Falle der Bibliothek der Universität Konstanz wird diese Bedeutung von den Benutzern bestätigt: Die insgesamt 1.100 Arbeitsplätze für Einzel- bzw. Gruppenarbeit, die rund um die Uhr als Arbeits-, Lern- und Lehrorte zur freien Verfügung stehen, werden intensiv genutzt und sind ein fester Bestandteil des universitären Arbeitsalltags. Einen weiteren Vorteil von Freihandbibliotheken stellen reale Medien in den Regalen dar. Einerseits sind viele wichtige Titel nach wie vor nicht in digitaler Form verfügbar, andererseits besitzen reale Medien als physische Artefakte einige Eigenschaften, die in der digitalen Welt nicht abzubilden sind. Beispielsweise ermöglichen reale Bücher ein natürliches Lesen und verwenden neben dem visuellen Kanal des Menschen, wie es bei E-Book Readern der Fall ist, auch den haptischen Kanal. Durch Blättern und „Querlesen“ können sich Benutzer schnell ein Bild über den Inhalt eines Buches verschaffen. In einigen Studien ist auch von einem sogenannten „Serendipity“-Effekt3 die Rede, der den Leser beim Querlesen von realen Büchern zu neuen Gedanken und Ideen verweist. Versuche diese physischen und sozialen Eigenschaften der realen Bibliothek in die digitale Welt zu projizieren, gab es einige. So ist die Darstellung von 2 3
McCullough, 2004. Foster; Ford, 2003.
Die Blended Library 219
Buchumschlägen oder die Integration von sozialen Metainformationen durch „social tagging“ sowie Benutzerbewertungen bereits in einigen digitalen Angeboten erfolgreich integriert. Jedoch fanden Ansätze, die gerade die sozialen, örtlichen und „greifbaren“ Eigenschaften einer digitalen Bibliothek abbilden, wie z. B. Chatfunktionen oder die digitale Abbildung der physischen Architektur4, bisher bei den meisten Systemen keinen Einzug. Digitale Bibliotheken sind zudem beschränkt auf einen einzelnen Benutzer, der an einen physischen Bildschirmarbeitsplatz mit Maus und Tastatur gebunden ist. Der Mensch wird dabei nicht mit seinen individuellen Fähigkeiten, in seinem physischen und sozialen Kontext beachtet. Dies ist jedoch notwendig, um die Fähigkeiten und Erfahrungen eines Benutzers in den Prozess der Wissensarbeit einbringen zu können. Von vielen Benutzern werden digitale Bibliotheken deshalb nur als passive Warenhäuser wahrgenommen5. In diesem Beitrag wird für die Bibliothek der Zukunft das Konzept der „Blended Library“ als Lösungsansatz der oben beschriebenen Probleme einer digitalen Bibliothek vorgestellt. Die Vielfalt, Flexibilität, Natürlichkeit und (Be-)greifbarkeit realer Arbeitsumgebungen soll bewusst gegenüber der körperlosen und beliebigen „everytime and everywhere“6 Nutzung virtueller Objekte und Dienste bewahrt und genutzt werden. An die Stelle der Koexistenz von realen und digitalen Bibliotheken soll eine Vermischung beider Welten treten. Diese soll die Vorteile realer Umgebungen (z. B. die Natürlichkeit der Interaktion mit Büchern, Papier, Stift und vor allem anderen Personen) und virtueller Angebote einer Bibliothek (z. B. schnelle Suche in digitalen Katalogen oder beliebige Versendung und Vervielfältigung von elektronischen Dokumenten) zusammenführen. Dabei werden dem Benutzer durch den Einsatz von neuen interaktiven Endgeräten und Visualisierungen sowie der Einbindung von Realweltobjekten neue Formen der Recherche und der Wissensvermittlung geboten. Die Theorie des „Embodiment“7 bildet die Grundlage für die Gestaltung der Blended Library und liefert Argumente für die Notwendigkeit einer neuen Generation von Benutzerschnittstellen. Diese Schnittstellen berücksichtigen den Menschen in seinem Kontext, seinem sozialen Umfeld und seinen kognitiven und physischen Fähigkeiten – im Gegensatz zu digitalen Bibliotheken, die meist nur von einem statischen und isolierten Benutzer an einem stationären Arbeitsplatz ausgehen. Als analytisches Werkzeug zur Umsetzung der Blended Library wird das „Conceptual Blending“8 vorgeschlagen. Das Konzept der Blended Library wird 4
5 6 7 8
Chatfunktionen für Zusammenarbeit mit realen oder virtuellen Partnern (Christensen, 2008) oder die Abbildung der physischen Architektur in virtuelle 3D Modelle (MediaScout, Kermer und Ruch, 2009). Adams; Blandford, 2005. McCollough, 2005. Gibbs, 2006, Dourish, 2001. Imaz; Benyon, 2007.
220 Mathias Heilig, Roman Rädle und Harald Reiterer anhand einer Fallstudie für die Arbeit mit multimedialen Inhalten einer Mediensammlung veranschaulicht. Aufgeteilt ist der Beitrag in fünf Abschnitte. Nach der Motivation und Einführung folgt die theoretische Grundlage, um eine Basis für das Verständnis der Embodiment-Theorie und des Conceptual Blending zu schaffen. Der dritte Abschnitt beschreibt die Fallstudie anhand eines Szenarios, als exemplarische Umsetzung der Blended Library. Darauf folgt eine retrospektive Betrachtung verwandter Arbeiten aus dem Bibliotheksumfeld. Der Beitrag schließt mit einem Fazit über die gewonnenen Erkenntnisse und einem Ausblick auf die resultierenden Forschungsarbeiten.
Theoretischer Rahmen Lange Zeit galt in der Kognitionswissenschaft die Auffassung, dass Körper und Geist getrennt voneinander betrachtet werden müssen. Diese Ansicht manifestiert sich beispielsweise im kartesischen Dualismus von Descartes aus dem 17. Jahrhundert, der von einer strikten Trennung der körperlichen Welt („res extensa“) und des Geistes („res cogitans“) ausging9. Diese Auffassung von Kognition als körperlose und kontextfreie Verarbeitung von Signalen hat bis heute Einfluss auf die Informatik und die Gestaltung von interaktiven Systemen. Typische Beispiele dafür sind Internetsuchmaschinen, in denen eine Interaktion zwischen Benutzern und dem Suchsystem rein dialogbasiert abläuft. Die Suchbegriffe werden von Benutzern in einer vorgegebenen Eingabesprache an das System übergeben, welches dann die Ergebnisse in einer sortierten Liste zurückliefert. Die Interaktion bedient sich dabei nur der geistigen Fähigkeiten des Benutzers, die körperlichen oder sozialen Fähigkeiten und Erfahrungen bleiben ungenutzt. Im 20. Jahrhundert entwickelte sich eine neue Sichtweise innerhalb der Kognitionswissenschaft, die eine enge Verbindung zwischen Denkprozessen, der Wahrnehmung und körperlichen sowie sozialen Handlungen erkannte. Diese neue Auffassung menschlicher Kognition wird von Gibbs10 zusammenfassend als „Embodiment“ bezeichnet. Ein Beispiel dieser engen Verknüpfung zwischen Gedanken und physischen Handlungen gibt Gibbs, als er in einem Experiment Teilnehmer mentale Rotationsaufgaben mit virtuellen Körpern und Formen durchführen ließ. Dabei sollten sie zeitweise eine Hand in die entgegengesetzte Richtung der mentalen Rotation bewegen. Gibbs stellte fest, dass die Leistungsfähigkeit der Teilnehmer während der gegensätzlichen Handbewegung stark abnahm. 9 Hart, 1996. 10 Gibbs, 2006.
Die Blended Library 221
Die aus dem Embodiment folgende Konsequenz für das Design von interaktiven Systemen ist, den Menschen mit seinen physischen und kognitiven Fähigkeiten, sowie seinem Kontext und seinem sozialen Umfeld zu betrachten. Ein Framework dafür stellen Jacob et al.11 mit ihrer „Reality-Based Interaction“ vor, welches vier Fähigkeiten des Menschen12 herausstellt, die während des Designprozesses Beachtung finden sollten. Daraus lässt sich in erster Instanz ableiten, dass (be-)greifbare Benutzerschnittstellen (engl. „Tangible User Interfaces“) einen großen Teil der von Jacob et al. angeführten Fähigkeiten unterstützen. Dies trifft für einige Aufgaben interaktiver Systeme zu, jedoch gibt es andere, bei denen die Interaktion dadurch umständlich oder körperlich belastend werden kann. So ist es beispielsweise schwer vorstellbar, mit (be-)greifbaren Benutzerschnittstellen die Aufgaben einer Textverarbeitung zu realisieren. Zusätzlich ist es schwer, abstrakte Konzepte, wie beispielsweise die Recherche in Mediensammlungen mit dieser Art von Benutzerschnittstellen abzubilden. Solche Konzepte werden in menschlichen Denkprozessen meist metaphorisch verarbeitet13, was zum Beispiel die Verwendung von Metaphern im allgemeinen Sprachgebrauch zeigt. So werden komplexe Situationen häufig mit Metaphern, wie „die Nadel im Heuhaufen suchen“ oder „das Recht mit Füßen treten“ beschrieben. Auch für die Gestaltung interaktiver Systeme wird vielfach auf das Mittel der Metapher zurückgegriffen (z. B. eine ikonisierte Lupe als Symbol für die Suche), um sich so an vorhandenen Erfahrungen des Benutzers bedienen zu können. In einigen Fällen birgt dies jedoch die Gefahr, dass so beim Benutzer falsche Erwartungen geweckt werden können14. Ausgelöst wird dieses Problem oft durch direktes Projizieren von Strukturen und Eigenschaften einer Domäne auf eine andere (engl. cross-domain mapping). Es gibt jedoch neben der Metapher-Theorie auch eine Form der indirekten Projektion innerhalb eines übergeordneten Konzepts, welches als „Conceptional Blending“ bzw. „Conceptional Integration“15 bezeichnet wird. Conceptual Blending definiert vier mentale Bereiche (engl. „Mental Spaces“, Abbildung 1): zwei sich teilweise überschneidenden Domänen (engl. „Input Spaces“), welche den Input für die Projektion liefern; ein generischer Bereich (engl. „Generic Space“), bestehend aus geteilten, abstrakten Strukturen der beiden Domänen, welcher die Basis für alle Projektionen darstellt; und dem „Blended Space“ bzw. „Blend“. Dieser Blend wird durch eine selektive Projektion einzelner Strukturen und Eigenschaften aus den beiden Domänen künstlich geschaffen. Dabei können sich innerhalb des Blends neue Strukturen und Eigenschaften 11 Jacob et al., 2008. 12 a.) Naïve Physics, b.) Body Awareness and Skills, c.) Environment Awareness and Skills, d.) Social Awareness and Skills. 13 Lakoff; Johnson, 1980. 14 Imaz; Benyon, 2007. 15 Fauconnier; Turner, 2002.
222 Mathias Heilig, Roman Rädle und Harald Reiterer entwickeln (engl. „Emergent Structure“), die in den ursprünglichen Domänen nicht zu finden sind. Demzufolge ist die „Desktop Metapher“ laut Imaz und Benyon trotz ihrer Bezeichnung ein typisches Beispiel für einen Blend. Sie besteht aus der Domäne „Computerbefehle“ und der Domäne „Arbeit in einem Büro“. Aus beiden Domänen werden selektiv Semantik und Funktionalität in einen neuen mentalen Bereich – dem Blend – projiziert, wie digitale Dateien auf Papierdokumente oder digitale Container auf analoge Ordner. Geteilte, abstrakte Konzepte aus dem generischen Bereich, wie z. B. das Konzept von „Containern“ stellen dabei die Grundlage für diese Projektion dar. Der Blend wird somit von Benutzern als eine neue künstlich geschaffene Welt wahrgenommen, in der auf vorhandene Erfahrungen und Fähigkeiten zurückgegriffen werden kann und neue Strukturen und Funktionalitäten integriert werden können.
Abb. 1: Schematische Darstellung des Conceptual Blending16
Blends können somit als konzeptionelles Werkzeug für das Design interaktiver Benutzerschnittstellen verwendet werden17. Sie führen zwar nicht automatisch zu verständlicheren und natürlicheren Benutzerschnittstellen, aber bei einem bewussten Einsatz im Designprozess können sie laut Imaz und Benyon zu neuen Sichtweisen und zu neuen Ideen führen, um gerade den Anforderungen an interaktive Benutzerschnittstellen, die durch die Theorie des Embodiment aufkommen, gerecht zu werden. Für die Realisierung der Blended Library werden jeweils zwei Domänen „geblendet“, die einen hinreichenden generischen Bereich teilen. Dieser soll aus Strukturen und Konzepten bestehen, die die Erfahrungen 16 Fauconnier; Turner, 2002. 17 Imaz; Benyon, 2007.
Die Blended Library 223
und Fähigkeiten von Benutzern miteinbeziehen. Um komplexere Konzepte umzusetzen, können Blends auch hierarchisch aufgebaut werden, in dem ein neu generierter Blend wiederum als Eingangsdomäne für ein weiteres Blending verwendet wird.
Fallstudie Blended Library Im folgenden Abschnitt wird das Konzept der Blended Library anhand einer Fallstudie demonstriert. Als Datengrundlage dient ein Ausschnitt der Daten aus der Mediothek der Universität Konstanz, welcher hauptsächlich DVDs und VHS-Kassetten beinhaltet. Die Medien sind in physischer Form, in den Regalen der Bibliothek vorhanden. Zusätzlich sind sie in digitaler Form auf Basis von Metadaten und teilweise auch voll digitalisiert verfügbar und wurden mittels verschiedener Onlinequellen und Diensten wie Google Maps oder der IMDb um weitere Metadaten angereichert. Als Simulationsumgebung für die Bibliothek der Zukunft dient das „Media Room“-Labor der Arbeitsgruppe Mensch-Computer Interaktion. Dieses Labor ist ausgestattet mit einem großen hochauflösendem Wanddisplay, mehreren Multitouch-Tischen und Bücher- bzw. DVD-Regalen und kann somit für die Entwicklung und Evaluation von neuen Interaktionsformen genutzt werden. Die entwickelten Blends zur Realisierung der Fallstudie, die in den folgenden Abschnitten beschrieben werden, sollen dabei als mögliche Designvarianten zur Umsetzung der Blended Library betrachtet werden. Anhand eines Szenarios sollen die genaue Funktionsweise und die Konzepte der Blended Library veranschaulicht werden. Das Szenario wird die Fallstudie durch einen realitätsnahen Arbeitsprozess von Studenten näher beschreiben. Es basiert auf den drei Phasen der Informationsreise von Adams und Blandford18, welche ein breites Spektrum an Aktivitäten, Orten und sozialen Kontexten umfasst und sich über einen längeren Zeitraum erstreckt. Durch das Szenario sollen Wege aufgezeigt werden, wie Wissensarbeiter während ihres kreativen Arbeitsprozesses durch Interaktionskonzepte, basierend auf bewusst geschaffenen Blends unterstützt werden können.
Zoombare Objektorientierte Informationslandschaft Der Student Max studiert im fünften Semester Medienwissenschaften und besucht ein Seminar mit dem Titel „Fiktion und Realität – Zeichentrickverfilmungen im 20. Jahrhundert“. Die Dozentin gibt während des Seminars das
18 Adams; Blandford, 2005.
224 Mathias Heilig, Roman Rädle und Harald Reiterer Hausarbeitsthema „Charakteranalyse der Hauptrollen real verfilmter Comics“ aus, welches bis zum Ende des Semesters in Zweiergruppen bearbeitet werden soll. Direkt nach der Seminarsitzung diskutiert Max im Kursraum mit den anderen Kursteilnehmern und tauscht erste Ideen zum Thema aus. Max einigt sich mit Hanna, ein Hausarbeitsthema zusammen zu bearbeiten. Sie setzen sich sofort an Max‘ Laptop und starten das neue Bibliothekssystem, um sich einen ersten Überblick über geeignete Filme zu verschaffen (Abbildung 2).
Abb. 2: Mit Hilfe der zoombaren objektorientierten Informationslandschaft ist es möglich sich einen Überblick über den Datenraum zu verschaffen.
Das System basiert auf dem primären Blend der zoombaren objektorientierten Informationslandschaft ZOIL19. Dabei wurde mit den Domänen „Navigation, Orientierung und Organisation im physischen Raum“ und „digitaler Informationsraum“ bewusst ein Blend geschaffen, der die Basis für weitere Blends bzw. Konzepte bildet. ZOIL projiziert digitale Informationen als Objekte auf eine virtuell unendlich große Informationslandschaft und nutzt dabei bekannte 19 Jetter et al., 2008.
Die Blended Library 225
Anordnungs- und Präsentationsformen aus der realen Welt. Bewegungen im physischen Raum, wie sich auf ein Objekt zu- oder wegbewegen, wurden auf zoombasierte Navigation übertragen. Das Konzept baut unter anderem auf der Arbeit von Donelson20 auf, der mit seinem „Spatial Data Management System (SDMS)“ eine virtuelle Zeichenfläche für den visuellen Zugriff und das räumliche Organisieren von Informationsobjekten vorstellte. Weiterhin dient Jef Raskin’s Vision der „ZoomWorld“21 als wichtige Inspirationsquelle. Nach Raskin könnten zoombare Benutzerschnittstellen den Browser, monolytische Anwendungen und traditionelle Betriebssysteme ersetzen, wodurch auch bisher isolierte Applikationen verschwinden. ZOIL stellt die grundlegende Visualisierung und das fundamentale Interaktionsmodell des neuen Bibliothekssystems dar, die als Ausgangspunkt für die Exploration des Informationsraumes dient (Abbildung 2). Das System ordnet jedes Medienobjekt entsprechend des jeweiligen Fachgebiets auf der Informationslandschaft an. Als erste Repräsentation wird eine Coverdarstellung der DVD oder VHS-Kassette angezeigt. Um visuelle Orientierungspunkte zu schaffen, sind hinter den Filmen der jeweiligen Fachgebiete „Halos“ (transparente Ovale) verortet. Die Größe dieser Halos entspricht der Anzahl der Medien eines Fachgebiets. Durch Zooming und Panning ist es möglich, beliebige Bereiche und Medienobjekte auf der Landschaft zu erreichen. Diese Navigationstechnik setzt auf die menschliche Fähigkeit der visuellen und räumlichen Orientierung22. Um diesen Eindruck zu verstärken, werden sinusartig beschleunigte Animationen verwendet, die Bewegungen in der realen Welt ähneln. Zusätzlich beinhaltet die Informationslandschaft einen sich parallax-bewegenden Hintergrund, der mit einem kleineren Faktor zoomt und pannt. Diese, in Zeichentrickfilmen oft verwendete Technik (mehrere Bildebenen bewegen sich unterschiedlich schnell) wurde angewendet, mit dem Ziel, den Eindruck von räumlicher Tiefe zu verstärken und die Orientierung in der Landschaft zu vereinfachen. Durch den Blend ZOIL entstehen neue Strukturen, Eigenschaften und Funktionalitäten, die in den beiden Ausgangsdomänen nicht verfügbar sind. Beispielsweise kann die Mediensammlung durch natürliche und intuitive Operationen exploriert werden (Abbildung 2). Je tiefer in den Inhalt der Landschaft gezoomt wird, desto mehr Details, wie die Metadaten eines Objektes oder Verarbeitungsfunktionen werden durch den Ansatz des semantischen Zoomings23 in weiteren Repräsentationen der Informationsobjekte erreichbar. Somit sind verfügbare Funktionalitäten, wie das Abspielen eines Videos oder der Zugriff auf eine Website nicht an isolierte Applikationen, sondern an die jeweiligen Infor20 21 22 23
Donelson, 1978. Raskin, 2000. Perlin; Fox, 1993. Perlin; Fox, 1993.
226 Mathias Heilig, Roman Rädle und Harald Reiterer mationsobjekte gebunden, wie es von Collins24 mit objektorientierten Benutzerschnittstellen vorschlagen wird.
Suche Da Max und Hanna noch unsicher bei ihrer Themenwahl sind, verabreden sie sich mit dem Tutor des Seminars in der Mediothek. Dort ist das neue System auf einer Public-Wall (Abbildung 3) verfügbar. Aufgrund ihrer Ausmaße und den sich vor ihr bietenden Interaktionsmöglichkeiten erscheint sie als geeignet, um eine Diskussion in einer Gruppe zu ermöglichen. Der Tutor startet als Erstes eine zielgerichtete Suche nach den Begriffen, die Max und Hanna ihm nennen, und berät sie, welche Filme thematisch in Frage kommen.
Abb. 3: Ein großes hochauflösendes Display als Public-Wall ermöglicht eine Diskussion mit mehreren Personen. Über ein Texteingabefeld können relevante Medienobjekte hervorgehoben werden.
24 Collins, 1994.
Die Blended Library 227
Das System ermöglicht eine direkte Integration der Suchfunktionalität in die Informationslandschaft, ohne dabei auf konventionelle Listen oder Fenster für die Darstellung von Suchtreffern zurückzugreifen. Das Eingabefeld in der oberen rechten Ecke des Bildschirmes (Abbildung 3, unten) dient als Ausgangspunkt einer analytischen Suche. Jeder Tastendruck löst eine Skalierung der korrespondierenden Medienobjekte auf der Informationslandschaft aus. Dabei wird der Suchbegriff mit bestimmten Metadaten (Titel, Jahr, Personen, Fachgebiet etc.) der Objekte verglichen. Wenn eine Übereinstimmung vorhanden ist, werden die Objekte um einen Faktor vergrößert, bis sie die Maximalgröße, abhängig von der Bildschirmgröße, erreicht haben. Dagegen werden die Medienobjekte, die mit der Anfrage nicht übereinstimmen, in ihrer Größe und Transparenz um denselben Faktor verkleinert, bis sie die Minimalgröße und Minimaltransparenz erreicht haben. Mit dieser Umsetzung von „Dynamic Queries“25 und „Sensitivität“26 wird die Aufmerksamkeit der Benutzer automatisch auf die Medienobjekte geleitet die aktuell von Interesse sind, ohne nicht gewünschte bzw. nicht gänzlich übereinstimmende Objekte vollständig zu entfernen. Diese Suchfunktion in der Fallstudie stellt einen weiteren Blend namens Suche dar. Dafür werden die Domäne „Informationssuche“ und der zuvor beschriebenen Blend ZOIL als zweite Domäne verwendet. Blends können nach Fauconnier und Turner auch hierarchisch aufgebaut werden, indem ein Blend als eine der zwei Ausgangsdomänen für einen weiteren Blend benutzt wird. Im neuen Blend wird zur Darstellung der Suchtreffer deren semantische Bedeutung auf die Größe der Informationsobjekte abgebildet.
Virtuelle Fenster Zum Abschluss des Treffens empfiehlt der Tutor den Beiden das Buch „Struktur und Geschichte der Comics: Beiträge zur Comicforschung“. Max sucht an der Public-Wall nach dem Standort des Buches, bevor er sich auf den Weg zum Regal macht. Dort angekommen findet er das Buch im Bereich „Literatur Comic“ vor. Er beginnt im Regal in der unmittelbaren Nachbarschaft nach weiteren relevanten Medien zu stöbern und wird unter anderem bei „Road to Perdition“ fündig. Max gelangt über sein Virtuelles Fenster (Abbildung 4) auf die offizielle Website des Comic-Autors und sammelt weitere Informationen über diesen und weitere Comics. In der Fallstudie ist es möglich neben der physischen und bekannten Informationsbeschaffung („Browsing the shelf“) zusätzliche Mehrwerte durch einen Zugang zu digitalen und darüber hinaus multimedialen Informationsräumen zu nutzen. Diese Informationsräume können vom Wissensarbeiter mit25 Ahlberg; Williamson; Shneiderman, 1992. 26 Tweedie et al., 1994.
228 Mathias Heilig, Roman Rädle und Harald Reiterer hilfe eines Virtuellen Fensters erkundet werden (Abbildung 4). Dabei handelt es sich um einen Tablet PC, welcher die hinter dem Gerät liegende visuelle Szene anzeigt und digital anreichert. Diese Art der digitalen Anreicherung von Sichten auf die reale Welt wird als „Augmented Reality“ bezeichnet27. Je nach Entfernung des Virtuellen Fensters zu realen Objekten wird automatisch eine optimale Darstellung angezeigt. Ist beispielsweise ein ganzes Regal im Fokus des Betrachters wird die physische Wissensordnung der betrachteten Regalböden dargestellt (z. B. Fachgebiet). Befindet sich hingegen ein einzelnes Buch im Fokus, kann der Wissensarbeiter in den ergänzenden digitalen Informationsraum zu diesem Medium eintauchen. Dadurch bieten Virtuelle Fenster eine erweiterte Sicht zum physischen Informationsraum, z. B. durch digitale Mehrwerte wie Kommentare, Rezensionen und Bewertungen anderer Benutzer, Zugriff auf Artikel einer Enzyklopädie, direkte Verweise zu Autobiografien, Sprachnachrichten, Filme oder auch Querverweise zu anderen Medien in den Regalen.
Abb. 4: Die physische Wissensordnung in Freihandbibliotheken ermöglicht exploratives Stöbern. Virtuelle Fenster ergänzen diesen Freiheitsgrad durch einen interaktiven Einblick in den um ein Medium angesiedelten digitalen Informationsraum und bieten somit einen Mehrwert zum rein physischen Browsen.
Virtuelle Fenster sind wiederum ein Ergebnis des Conceptual Blendings. Dieser Blend verwendet als Ausgangsdomäne die einer optischen Linse und als zweite Domäne die eines digitalen Displays. Hierbei wird die Fähigkeit einer Linse verwendet, gezielt Gegenstände zu fokussieren und dem Betrachter den Zugang 27 Rekimoto; Nagao, 1995.
Die Blended Library 229
zu bis dahin verborgene Informationen zu ermöglichen. Durch das digitale Display kann somit der Fokusbereich mit virtuellen Funktionen angereichert werden. Umgebende Objekte bleiben dem Betrachter durch den definierten Sichtbereich der Linse verborgen. Er wird somit nicht mit unnötigen Informationen überflutet. Dennoch gibt die physische Umwelt Aufschluss über den aktuellen Kontext (z. B. wie viele Medien befinden sich links oder rechts des Fokusbereiches oder wie ist der Fokusbereich in die physische Wissensordnung der Bibliothek eingebettet). Die technologische Umsetzung basiert auf einem Tablet PC, dessen Formfaktor und integrierte Hardware ideale Voraussetzungen für den Blend Virtuelle Fenster bieten. Mit Hilfe der Software-Bibliothek ARToolKit28, optischer Marker auf den Buchrücken und einer herkömmlichen RGB-Kamera können die Bücher sowohl eindeutig identifiziert als auch deren Rotation und Translation im Raum erkannt werden. Später können die optischen Marker im Kamerabild mit eigenen visuellen und interaktiven Elementen überlagert werden.
Notizen Max sammelt auf diese Weise weitere wichtige Informationen und Filme für seine Hausarbeit und schaut sich diese später direkt auf seinem Fernsehgerät zu Hause an (Abbildung 5). Während er Filme schaut, notiert er Fakten und skizziert Ideen direkt innerhalb des Systems. Dies wird in der Fallstudie durch den neu geschaffenen Blend Notizen ermöglicht. Dabei werden reale Notizen mit Stift und Papier als digitale Notizen auf der Informationslandschaft abgebildet. Die Wissensarbeiter können somit ihre bisherige Vorgehensweise beibehalten und handschriftliche Aufzeichnungen auf natürliche und intuitive Art und Weise weiterhin verwenden. Als Basis für die technische Umsetzung dieses Blends dient die Anoto Technologie29. Mit Hilfe eines Anoto Stifts und speziellem Papier ist es möglich Handgeschriebenes oder Gezeichnetes direkt an einen PC zu übertragen. Der Stift registriert seine Position auf dem Papier mit Hilfe eines einzigartigen Musters, das individuell auf jede Seite gedruckt ist. Die Aufzeichnungen werden in Echtzeit an das System übertragen und sind unmittelbar digital verfügbar. Somit ist es möglich die Notizen direkt in der Informationslandschaft digital zu organisieren und anzuordnen.
28 http://www.hitl.washington.edu/artoolkit/ . 29 http://www.anoto.com .
230 Mathias Heilig, Roman Rädle und Harald Reiterer
Abb. 5: Mit Hilfe eines Home Cinema Systems können Filmobjekte direkt im Wohnzimmer abgespielt werden. Notizen, die während des Films per Stift und Papier gemacht wurden, sind hinterher als digitale Informationsobjekte verfügbar.
Such-Tokens In der verbleibenden Zeit des Semesters treffen sich Max und Hanna regelmäßig in der Mediothek, um die gesehenen Filme zu besprechen, Ideen zu diskutieren und den Fokus der Arbeit weiter zu konkretisieren. Dazu verwenden sie den Multitouch-Tisch in der Mediothek (Abbildung 6), an dem sie gemeinsam die jeweiligen Notizen durchgehen und gezielt nach fehlenden Informationen recherchieren. Soziale Aktivitäten spielen in zahlreichen Phasen von Rechercheprozessen eine entscheidende Rolle30. Die Blended Library bietet dafür den nötigen Raum und fördert diese Aktivitäten zusätzlich mit neuen Konzepten. Ein Beispiel dafür ist der Blend Such-Tokens31. Dieser ist eine Komposition aus dem 30 Kuhlthau, 2004. 31 Heilig et al., 2011.
Die Blended Library 231
oben beschriebenen Blend Suche und physischen Drehknöpfen, welche als greifbare Benutzerschnittstelle verwendet werden (engl. Tangible User Interface TUI32). Sowohl Multitouch-Tische als auch TUIs sind laut Ishii et al. sehr gut geeignet um die Kollaboration (engl. „co-located collaboration“) zu unterstützen. Im Gegensatz zur herkömmlichen Interaktion mit Maus und Tastatur laden sie die Benutzer ein, aktiv in den Bedienprozess einzugreifen. Die Benutzer bedienen sich der natürlichen (gewohnten) Art und Weise, in der sie sonst mit Objekten in der Realwelt interagieren und können dadurch Fähigkeiten anwenden, die sie weit vor ihren intellektuellen Fähigkeiten erlernt haben. Ishii et al. sehen die Anwendung von TUIs als besonders sinnvoll im Kontext von Informationsmanagement, -aufbereitung und -manipulation. Um das Potenzial von TUIs vollends auszuschöpfen, schlagen sie vor, physische Objekte mit virtuellen Funktionalitäten zu „blenden“.
Abb. 6: Am Multitouch-Tisch und der Public-Wall in der Mediothek können Studenten gemeinsam arbeiten. Tokens stellen dabei ein mögliches Werkzeug dar, um komplexe Suchanfragen einfach zu formulieren. 32 Ishii; Ulmer, 1997.
232 Mathias Heilig, Roman Rädle und Harald Reiterer Unser Ansatz der Such-Tokens bildet Suchanfragen auf physische Drehknöpfe ab, ähnlich zu den „Tangible Query Interfaces“33. Tokens verkörpern nicht einzelne Informationsobjekte des Datenraumes, sondern die „Parameter“ einer Suchanfrage. Im Gegensatz zu den „Tangible Query Interfaces“ werden die Tokens direkt auf dem Multitouch-Tisch als so genannte „On-Screen Controls“ verwendet. Wird ein Such-Token aufgelegt, so erscheint auf dem MultitouchTisch neben einem Texteingabefeld eine virtuelle Tastatur zur Eingabe des Suchbegriffes. Alle Medienobjekte, die den eingegebenen Suchbegriff in ihren Metadaten enthalten, werden automatisch innerhalb der Informationslandschaft semantisch größer gezoomt (wie es auch schon in der Suche über das herkömmliche Eingabefeld beschrieben wurde). Jedoch kann durch Drehen des Suchknopfes die Gewichtung des Suchbegriffs erhöht bzw. verringert werden und alle Treffer werden dementsprechend semantisch größer oder kleiner gezoomt. Auf diese Weise können auch zwei oder mehrere Suchbegriffe via Suchdrehknöpfe eingegeben werden und durch entsprechendes Drehen der Knöpfe die jeweilige Gewichtung beeinflusst werden. Somit sind Benutzer in der Lage eine gewichtete, boolesche Suchanfrage zu formulieren durch eine einfache Kombination und Drehung von mehreren physischen Drehknöpfen. Besonders während der Zusammenarbeit zwischen Benutzern kommen die Vorteile der Such-Tokens zur Geltung. Beispielsweise ist durch die starke physische Präsenz der Tokens die Anzahl und Gewichtung von Suchbegriffen auf einen Blick von allen Seiten des Tisches aus erkennbar. Die Tokens können außerdem nach verschiedenen Kriterien auf dem Multitouch-Tisch angeordnet bzw. gruppiert werden. Des Weiteren können mehrere Benutzer gleichzeitig verschiedene Drehknöpfe manipulieren, wodurch ein gemeinsames Formulieren und Verfeinern einer Suchanfrage ermöglicht wird. Dank des haptischen Feedbacks der Tokens können sie „blind“ bedient werden und die visuelle Aufmerksamkeit des Benutzers kann auf einen anderen Punkt gerichtet werden. Dabei kann die Aufmerksamkeit auch vom Bildschirm des MultitouchTisches weg auf einem anderen Bildschirm wie beispielsweise der Public-Wall liegen. Durch eine Synchronisation der Informationslandschaften auf dem Multitouch-Tisch und der Public-Wall können weitere Synergieeffekte entstehen: auf der großen hochauflösenden Public-Wall können einzelne Medienobjekte im Detail betrachtet und verglichen werden, während der Multitouch-Tisch zur Navigation und zum Erstellen von Suchanfragen verwendet wird.
33 Ullmer; Ishii; Jacob, 2003.
Die Blended Library 233
Hybrides Medium Die realen Medien in den Regalen der Bibliothek werden von Max und Hanna während ihrer Arbeit in den Rechercheprozess mit einbezogen. Eine wichtige Aufgabe besteht darin nach Filmen zu suchen, die Relationen mit den Primärfilmen ihrer Arbeit aufweisen. Die Primärfilme können, wie im oben beschriebenen Blend Such-Tokens, als greifbare Benutzerschnittstelle verwendet werden. Durch Auflegen eines realen Mediums (in diesem Beispiel eine DVD, Abbildung 7) auf den Multitouch-Tisch wird dieses erkannt und dem entsprechenden digitalen Medienobjekt zugeordnet. Dies geschieht analog zu den für Bücher entworfenen Konzepten von Beck und Schrader34. Jedoch erscheinen nach dem Auflegen eines Mediums interaktive Bedienelemente (Abbildung 7), mit dessen Hilfe digitale Funktionalitäten, wie beispielsweise die Suche nach ähnlichen Medien erreichbar sind.
Abb. 7: DVDs aus den Regalen der Bibliothek werden in die Interaktion mit einbezogen. Eine DVD wird auf einen Multitouch-Tisch gelegt und erkannt. Anschließend werden um die DVD herum interaktive Schaltflächen mit Informationen und Funktionen angezeigt, um z. B. ähnliche Medien zu finden.
Dieser Blend namens hybrides Medium setzt sich aus der Domäne eines realen Mediums aus den Regalen der Bibliothek und erneut aus der Domäne ZOIL zusammen. Die realen Medien können durch die geteilte Objektorientiertheit beider Domänen in die Informationslandschaft eingebunden werden. Durch den neuen Blend können Funktionalitäten, wie z. B. das Filtern des digitalen Informationsraumes anhand der Attributausprägungen (z. B. einzelne Schauspieler, Fachgebiete oder Erscheinungsjahr) des aufgelegten, physischen Mediums 34 Beck; Schrader, 2006.
234 Mathias Heilig, Roman Rädle und Harald Reiterer ermöglicht werden. Die Benutzer werden beim Erkunden des umfassenden Medienbestandes und des darum angesiedelten Informationsraums in natürlicher Weise unterstützt. Über das vorgestellte Konzept hinaus eröffnet sich durch diese Form der Verbindung von realen Medien mit der digitalen Welt ein völlig neuer Gestaltungspielraum. So können beispielsweise in der digitalen Welt verborgene Informationen und Funktionalitäten, wie z. B. eine Volltextsuche in Drehbüchern oder das Anzeigen von Bewertungen anderer Benutzer, integriert werden.
Verwandte Arbeiten Konzepte aus der Mensch-Computer Interaktion wie „Ubiquitous Computing“35 und „Tangible User Interfaces“36 versprechen die Kluft zwischen digitalen und physisch-vorhandenen Medienbeständen zu verringern. Eine Idee, diese Konzepte in Bibliotheken zu nutzten, stellte Fitzmaurice bereits 1993 mit der „Computer-Augmented Library“ vor37. In seiner Vision ist eine elektronische Datenbank mit den Regalen einer Bibliothek verbunden. Die Regale und Bücher senden dabei Orientierungsdaten und semantische Informationen an mobile Geräte der Bibliotheksbesucher. Zusätzlich sollen berührungsempfindliche LCD-Bänder an den Regalen das Selektieren interessanter Bücher ermöglichen, um eine Suchanfrage zu verfeinern. Weiser stellte 1999 eine weitere Idee vor, die Nutzung physisch vorhandener Medien in den Regalen einer Bibliothek durch den Einsatz von Technologien zu vereinfachen38. Die Registerkarten einer Bibliothek sollen dabei als aktiver Wegweiser verwendet werden, um den Bibliotheksbesucher zum gesuchten Medium im Regal zu führen. Neue Informations- und Kommunikationstechnologien in den verschiedensten Formen, von kleinen mobilen Geräten über Multitouchtische bis hin zu großen Wanddisplays oder interaktiven Litfaßsäulen eröffnen weiterhin neue Möglichkeiten der Wissensarbeit. Die Arbeit „SmartLibrary“39 zeigte beispielsweise, wie mobile Geräte sinnvoll von Bibliotheksbesuchern verwendet werden können. So wurden PDAs als Navigationshilfe in der physischen Bibliothek und deren Medienbeständen verwendet und nach einer Evaluation auch in das Angebot der Universitätsbibliothek Oulu, Finnland aufgenommen. Neben den vorgestellten Ideen wurde 1995 ein Weg gefunden, den realen Medienbestand einer Bibliothek mit der digitalen Welt zu verbinden40. Ein 35 36 37 38 39 40
Weiser, 1999. Ishii; Ullmer, 1997. Fitzmaurice, 1993. Weiser, 1999. Aittola; Ryhänen; Ojala, 2003. Rekimoto; Nagao, 1995.
Die Blended Library 235
mobiles Gerät namens „NaviCam“ zeigte ein Videobild der aktuellen Situation und erkannte farbcodierte IDs in der realen Umgebung. Zusätzlich wurden zur Situation passende Informationen in das Videobild eingeblendet, zum Beispiel zu Büchern in den Regalen einer Bibliothek.
Abb. 8: (links) Tangible Books Virtual Library Interfaces (entspricht Fußnote 42); (rechts) Transformation Lab (entspricht Fußnote 43)
Neuere Forschungsanstrengungen, die Bibliothek als physischen Ort mit virtuellen Funktionen anzureichern, stellte Butz und Kollegen mit dem Projekt „SearchLight“ vor41. Ein digitales Ergebnis einer Suche wurde durch eine Lichtprojektion in der realen Umgebung sichtbar. Mittels beweglichem Projektor an der Decke, wurden die gefundenen Medien in einem Regal mit einem Lichtkegel bestrahlt. Die Medien wurden dabei über Marker durch eine Kamera erkannt. Einen weiteren Ansatz zeigen Beck und Schrader42. In ihrem „Tangible Books“System werden auf einem Tisch aufliegende Bücher und die aktuell aufgeschlagenen Seiten mittels RFID-Technik und durch eine Kamera erkannt und somit der Zugang zum korrespondierenden virtuellen Medium ermöglicht (siehe Abbildung 8, links). Ein weiteres Projekt, namens „Transformation Lab“43 nutze das Foyer der öffentlichen Bibliothek in Aarhus (Dänemark) über drei Jahre hinweg, um verschiedene interaktive Installationen für die Bibliothek der Zukunft zu entwickeln und deren Wirkung in der realen Bibliothek zu beobachten. Eines dieser erlebbaren Exponate war ein interaktiver Fußboden, auf den die Bibliotheksbenutzer per SMS Nachrichten hinterlassen konnten (siehe Abbildung 8, rechts). Trotz der beschriebenen Vorarbeiten ist das Potenzial an innovativen Ideen in diesem Bereich noch lange nicht ausgeschöpft. Besonders das Zusammenspiel der genannten und noch zu entwickelnden Technologien und Konzepte 41 Butz; Schneider; Spassova, 2004. 42 Beck; Schrader, 2006. 43 Schulz; Thorup; Bech-Petersen, 2007.
236 Mathias Heilig, Roman Rädle und Harald Reiterer verspricht weitere Möglichkeiten für die Bibliothek der Zukunft. Weiser beschrieb diesen Effekt folgendermaßen: “The real power of the concept comes not from any one of these devices – it emerges from the interaction of all of them“. Um diese Konzepte in einer realen Bibliothek sinnvoll nutzen zu können, sind neue integrative Interaktions- und Visualisierungstechniken notwendig. Das könnte ein Grund sein, warum nur sehr vereinzelt die Ergebnisse in das Angebot einer Bibliothek aufgenommen wurden. Viele Konzepte haben weiterhin nicht nachgewiesen, ob sie in realen Szenarien funktionieren. Dazu gehört einerseits die technische Integration in die vorhandene Infrastruktur einer Bibliothek und andererseits die konzeptionelle Integration in die Arbeitsabläufe der Bibliotheksbenutzer. Die Konzepte und Technologien sollen dabei nicht dem Selbstzweck dienen, sondern den Bibliotheksbenutzern bei wichtigen Aktivitäten in der Wissensarbeit, wie sie beispielsweise Kuhlthau beschreibt44 auf natürliche Weise unterstützen. Aufgrund dieser offenen Fragestellungen ist es für die Blended Library entscheidend, die Rolle von Bibliotheken als zentralem Ort der Wissensarbeit auch für zukünftige Benutzergenerationen mit geänderten Erwartungen an die Informations und Kommunikationstechnologie einer Bibliothek („iPhone & Google Generation“ mit hoher Computer Literacy) zu erforschen und zu definieren.
Fazit und Ausblick In diesem Beitrag wurde das Konzept der Blended Library vorgestellt. In dieser „Bibliothek der Zukunft“ wird der Wissensarbeiter mit seinen Erfahrungen und Fähigkeiten, sowie seinen individuellen Abläufen und wechselnden physischen Kontexten im Designprozess wahrgenommen. Durch die Berücksichtigung dieser menschlichen Eigenschaften erhält die Interaktion zwischen System und Wissensarbeiter eine neue Qualität. Die Embodiment-Theorie gibt hierfür einen Rahmen vor, der aufzeigt, warum die kognitiven, sozialen und physischen Fähigkeiten in gleichem Maße für die Interaktion mit einem System von Bedeutung sind. Conceptual Blending wird als analytisches Werkzeug vorgeschlagen, um diese Anforderungen konzeptionell umzusetzen. Demonstriert wurde das Konzept der Blended Library exemplarisch anhand einer Fallstudie. Für die Benutzerschnittstelle wurden die sechs Blends ZOIL, Suche, Virtuelle Fenster, Notizen, Such-Tokens und hybrides Medium geschaffen, die es Wissensarbeitern ermöglichen, kognitive aber vor allem auch physische und soziale Fähigkeiten und Erfahrungen aus dem realen Leben in die Interaktion mit dem System einzubringen. Dies wurde anhand eines realitätsnahen Szenarios eines Wissensarbeiters, basierend auf der Informationsreise 44 Kuhlthau, 2004.
Die Blended Library 237
von Adams und Blandford45, vorgestellt. Innerhalb dieses Szenarios wird es dem Benutzer ermöglicht verschiedene Aktivitäten der Informationsarbeit an unterschiedlichen Orten und Endgeräten, sowie in wechselnden sozialen Kontexten mit einem konsistenten Interaktionsmodell auszuführen. Besondere Gewichtung wird dabei auf die Bibliothek als Ort der Begegnung und des gemeinsamen Lernens gelegt.
Abb. 9: Mobile Geräte spielen in den Arbeitsabläufen von Wissensarbeitern eine immer größere Rolle. In den zukünftigen Konzepten, sollen sie deshalb verstärkt Beachtung finden.
Für die Weiterentwicklung der Konzepte der Blended Library wird in Zukunft verstärkt auf das Mittel des Conceptual Blending zurückgegriffen. Durch den Blend hybrides Medium, wie im beschriebenen Szenario am Beispiel einer DVD vorgestellt, eröffnen sich neue Formen der Wissensvermittlung, welche in Zukunft durch neue Blends verbessert und weiterentwickelt werden sollen. Daneben werden weitere Herausforderungen der Wissensarbeit mit Bibliotheken zu bewältigen sein, wie z. B. das Generieren von neuen Wissensartefakten oder die Anbindung von umfassenderen Informationsräumen. Zusätzlich muss erörtert werden, ob das geschaffene Interaktionskonzept auf weitere in Prozessen von Wissensarbeitern eingesetzte Endgeräte übertragen werden kann. Beispielsweise sollen mobile Endgeräte, wie z. B. Smartphones untersucht werden, welche neue Interaktionsmöglichkeiten eröffnen (Abbildung 9). Sie können neben dem Einsatz als eigenständiger Client auch in Verbindung mit Multitouch-Tischen, analog zum Blend hybrides Medium in die Interaktion eingebunden oder als Navigationsgerät innerhalb der Bibliothek verwendet werden. Information zu verarbeiten und aufzubereiten stellt ergänzend zur physischen Interaktion und Navigation einen ebenso bedeutsamen Teil der Blended Library dar. Dazu zählen zentrale Aspekte wie die des Lesens und der einher45 Adams; Blandford, 2005.
238 Mathias Heilig, Roman Rädle und Harald Reiterer
Abb. 10: Während des Lesens werden weiterführende Informationen zu einem Text auf einem großen peripheren Display dargestellt. Somit wird es möglich Quellen zu verfolgen, offen gebliebenen Fragen zu klären oder zu neuen Gedankengängen anzuregen.
gehenden Reflexion. Neue Geräte wie E-Book Reader oder auch Tablet PCs könnten dabei in der Bibliothek der Zukunft eine wichtige Rolle einnehmen. Durch das Konzept „Interaktives Lesen“ sollen diese Aspekte in der Blended Library unterstützt werden (Abbildung 10). Während des Lesevorgangs könnten vom System implizit oder explizit relevante Informationen zu einem Dokument auf einem großen peripheren Wand-Display angeboten werden. Zusätzlich eröffnet dies dem Wissensarbeiter die Möglichkeit diese neuen Quellen mithilfe von Gesten oder Sprache interaktiv zu verfolgen. In der Weiterentwicklung der Fallstudie Blended Library soll deshalb überprüft werden, inwieweit „Interaktives Lesen“ den Wissensarbeiter bei der Sinnerschließung von statischen Inhalten (z. B. Texte oder Illustrationen) unterstützen kann. Des Weiteren befinden wir uns im Aufbau eines „Living Labs“46 in der Bibliothek der Universität Konstanz (Abbildung 11). Følstad definiert Living Labs wie folgt: “Living Labs are environments for innovation and development where users are exposed to new ICT [information and communication technology] solutions in (semi)realistic contexts, as part of medium- or long-term studies targeting evaluation of new ICT solutions and discovery of innovation opportunities.“ Hierbei soll der reale Einsatz und Nutzen einer solchen ubiquitären Umgebung in einem realistischen Kontext demonstriert werden – ohne jedoch für den realen Benutzer als Labor erkennbar zu sein. Dieses Living Lab wird 46 Følstad, 2008.
Die Blended Library 239
Abb. 11: 3D Skizze des Living Labs für die Blended Library in der Bibliothek der Universität Konstanz.
somit die Alltagstauglichkeit und Nachhaltigkeit des Konzeptes „Blended Library“ demonstrieren. Abschließend betrachtet ist die Verschneidung („Conceptual Blending“) ausgewählter Aspekte der realen und virtuellen Welt ein vielversprechendes Werkzeug für Bibliotheken. An die Stelle der von Medienbrüchen und Einstiegshürden bei der Bedienung gekennzeichneten Koexistenz von „digital“ und „analog“ entsteht eine gegenseitige Ergänzung und Kooperation, die entscheidende Mehrwerte für die Benutzer bei der Recherche und dem Wissenserwerb verspricht. Somit führt die „Blended Library“ reale und virtuelle Angebote homogen zusammen und schafft eine Umgebung, in der Realität und Virtualität nicht konkurrieren, sondern benutzergerecht verschmelzen.
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Autoren Bekavac, Bernard, Prof. Dr. Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Chur [email protected] Professor für Information Engineering am Schweizerischen Institut für Informationswissenschaft (SII). Forschungsschwerpunkte: Information-/Web-Retrieval, Architektur von Informationssystemen, Human-Computer-Interaction. Birri Blezon, Rahel, B.Sc. HES-SO in Information Studies, Haute école de gestion de Genève [email protected] Forschungsassistentin an der Haute école de gestion (HEG) in Genf, zuständig für das Projekt ACCEPT (Analyse du Comportement des Clients – Evaluation des Prestations de Téléchargement) mit Fokus auf Usability-Evaluation digitaler Angebote im Kontext wissenschaftlicher Bibliotheken. Bornemann, Brigitte BIT Design für Barrierefreie Informationstechnik GmbH, Hamburg [email protected] Kommunikationswissenschaftlerin, Accessibility-Beraterin, Inhaberin einer Internetagentur. Setzt sich ein für die Fortentwicklung des barrierefreien Internet. Mitarbeit im DIN Normenausschuss für Ergonomie und Accessibility, AK Barrierefreiheit der German UPA, BIK 95plus-Kreis. Greifeneder, Elke, M.A. Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft (IBI), Humboldt-Universität zu Berlin [email protected] Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Digitale Bibliotheken und Associate Editor Library Hi Tech. Forschungsschwerpunkte: Informationsdesign, HumanComputer-Interaction, Online-Hilfen, Online-Forschung, Benutzerforschung. Hamann, Sonja, M.Sc. Information Engineering, M.A. Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Chur [email protected] Projektleiterin am Schweizerischen Institut für Informationswissenschaft (SII). Forschungsschwerpunkte: Informationsvisualisierung, Human-Computer-Interaction, Semantic Web.
244 Autoren Heilig, Mathias, M.Sc. Fachbereich Informatik und Informationswissenschaft, Universität Konstanz [email protected] Doktorand der Arbeitsgruppe Mensch-Computer Interaktion an der Universität Konstanz. Forschungsschwerpunkte: Interaction Design, Usability Engineering, Information Visualization. Heintz, Kathy Hochschule der Medien Stuttgart [email protected] Studentin im Masterstudiengang Bibliotheks- und Informationsmanagement an der Hochschule der Medien Stuttgart. Hügi, Jasmin, B.Sc. HES-SO in Information Studies, Haute école de gestion de Genève [email protected] Lehrassistentin an der Haute école de gestion (HEG) in Genf. Forschungsassistentin für das Projekt PECI (Plateforme d'évaluation des centres d’information) mit Fokus auf Usefulness-Evaluation digitaler Inhalte von Bibliotheken. Linek, Stephanie B., Dr. Deutsche Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft (ZBW) [email protected] Medienpsychologin und Usability Expertin an der Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft (ZBW). Forschungsschwerpunkte: Evaluation und Usability, HCI, Social Media, Games, Medienpsychologie. Mundt, Sebastian, Prof. Forschungsschwerpunkt „Fachinformation und Digitaler Medienwandel“, Hochschule der Medien Stuttgart [email protected] Professor für Medienmanagement und Informationsdienstleistungen im Studiengang Bibliotheks- und Informationsmanagement an der Hochschule der Medien Stuttgart. Forschungsschwerpunkte: Informations- und Mediennutzungsverhalten, Reichweitenmessung von Websites, Benchmarking und Ranking öffentlicher Einrichtungen.
Autoren 245
Piguet, Arlette, Dr. ETH Zürich, ETH-Bibliothek und Sammlungen [email protected] Leiterin des Bereichs Kundenservices der ETH-Bibliothek. Dieser Bereich zeichnet verantwortlich für alle kundenbezogenen Aufgaben und Dienstleistungen. Hierbei nimmt die digitale Informationsversorgung der Kunden einen zunehmend wichtigeren Stellenwert ein. Plank, Margaret, M.A. Int. Informationsmanagement, Technische Informationsbibliothek (TIB) [email protected] Leiterin des Kompetenzzentrums für multimediale Objekte an der Technischen Informationsbibliothek (TIB), der deutschen zentralen Fachbibliothek für Technik sowie Architektur, Chemie, Informatik, Mathematik und Physik. Darüber hinaus ist sie an der TIB zuständig für Webauftritte und Usability Optimierung. Pohla, Hans-Bodo, Dipl. Bibl. Stadtbibliothek Amberg [email protected] Stellvertretende Leitung der Stadtbibliothek Amberg. Studium an der Fachhochschule Köln, Diplomarbeit zum Thema „Untersuchung bibliothekarischer Applikationen für Mobiltelefone hinsichtlich der technischen Realisierung und des Nutzens“. Rädle, Roman, M.Sc. Fachbereich Informatik und Informationswissenschaft, Universität Konstanz [email protected] Doktorand der Arbeitsgruppe Mensch-Computer Interaktion an der Universität Konstanz. Forschungsschwerpunkte: Interaction Design, Usability Engineering, Information Visualization. Reiterer, Harald, Prof. Dr. Fachbereich Informatik und Informationswissenschaft, Universität Konstanz [email protected] Professor für Human-Computer Interaction in den Studiengängen Informatik und Information Engineering an der Universität Konstanz. Forschungsschwerpunkte: Interaction Design, Usability Engineering, Information Visualization. Schneider, René, Prof. Dr. Haute école de gestion de Genève [email protected] Professor im Studiengang Informationswissenschaft an der Haute école de gestion (HEG) in Genf und Koordinator des bilingualen Studienganges. For-
246 Autoren schungsschwerpunkte: Usability- und Usefulness-Evaluation von digitalen Bibliotheken, Kreation von innovativen Werkzeugen zur Informationsrecherche mit Einsatz von Semantic Web-Technologien und bibliographischen Ontologien. Schweibenz, Werner, Dr. Bibliotheksservice-Zentrum Baden-Württemberg (BSZ) – Universität Konstanz [email protected] Technischer Mitarbeiter im BSZ im Bereich Museen und Archive. Forschungsschwerpunkte: Virtuelles Museum, Benutzungsfreundlichkeit und Barrierefreiheit im Web. Lehrbeauftragter im Studiengang Informationswissenschaft an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur. Tochtermann, Klaus, Prof. Dr. Deutschen Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft (ZBW) Institut für Informatik (Abteilung Medieninformatik) an der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel (CAU) [email protected] Direktor der Deutschen Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft (ZBW) und Universitätsprofessor für Medieninformatik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Wissensmanagement und Wissensvermittlung, Web 2.0, Semantische Technologien, Future Internet. Weichert, Steffen, M.A. Int. Informationsmanagement usability.de [email protected] Senior User Experience Consultant bei usability.de, einer Spezialagentur für Usability und User Experience Design. Neben seiner Tätigkeit als Projektleiter in Usability-Projekten gibt er regelmäßig Methodik- und Strategie-Workshops für Unternehmen sowie Seminare zu User Experience Design und Usability an der Universität und der Fachhochschule Hildesheim sowie der Fachhochschule Hannover. Weinhold, Thomas, M.Sc. Business Information Systems, Dipl.-Informationswirt (FH) Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Chur [email protected] Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schweizerischen Institut für Informationswissenschaft (SII). Forschungsschwerpunkte: Human-Computer-Interaction, Information Retrieval, Semantic Web.
Register
A Ästhetik 25, 148, 204-206 Akzeptanz 27, 57, 104, 113, 129, 139, 140, 155, 193 Apps bzw. mobile Applikationen 5, 190, 203-215 Assessment-Prozess 68-72 Aufbereitung der Ergebnisse 79, 144-147, 173
B Barrierefreiheit 4, 90, 159-161, 164-179 Bibliothekskatalog 23, 24, 42, 50, 144, 146-149, 152, 204, 210 Bibliothekswebsites 1, 2, 9, 13, 26, 31, 36-38, 44-49, 103, 115 Bedürfnisse 5, 9, 10, 19-21, 25, 27, 33, 38, 44, 50, 63, 64, 67, 75, 83, 100, 105, 119, 121, 122, 135, 168, 195, 196, 204 Benutzerbeteiligung bzw. Nutzerbeteiligung 128, 129, 169 Benutzerforschung bzw. OnlineBenutzerforschung 3, 75-78, 90 Benutzerfreundlichkeit 1-3, 9, 48, 56, 58, 71, 83, 98, 122, 130, 147, 192, 193, 196, 198 Benutzeroberfläche 1, 34, 46 Benutzerorientierung 4, 9, 10, 11, 20 Benutzerverhalten 58, 63, 67, 80, 92, 128, 134 Blended Library 5, 217-220, 222, 223, 231, 236-239
D Design 3, 9, 12, 13, 16, 20, 37, 38, 40, 41, 47, 48, 60, 76, 83, 92, 93, 97-99, 108, 109, 111, 116, 117, 119, 122-125, 130-132, 134-137, 162, 166-169, 176179, 192, 204-206, 217, 221-223, 236 Digital Natives 191, 192, 194-197 Digitale Bibliothek 11, 26, 51, 55, 59-63, 88, 92, 159, 218, 219 Digitalisate 9, 168, 172-174 DIN EN ISO-Norm 9241 11, 14, 34, 38, 99, 197 Direct Manipulation bzw. Direkte Manipulation 207-210
E E-Books 4, 79, 139-141, 150-154, 160, 168, 170, 171, 179, 218, 238 E-Journals 151, 218 Ease of use 34, 58 Effektivität 11, 22, 35, 61, 69 Effizienz 11, 35, 58, 162 Ergonomie 11, 12, 162 Evaluation, formativ 11, 12, 35, 37 Evaluation, summativ 11 Evaluationspraxis 33-36 Experteninterview 100, 101, 105-108, 114 Exploration bzw. Explorative Analyse 13, 45, 46, 50, 141, 225
F C Cognitive Walkthrough bzw. Walkthrough 13, 35, 131, 134-136
Feedback 42, 91, 108-110, 112, 177, 210212, 232 Fehlertoleranz 14, 34, 162
248 Register Fokusgruppe 3, 14, 20, 35, 38, 61, 64-66, 67-70, 76, 85, 87, 101, 104, 109, 111, 113-117 Fragebogen 3, 14, 15, 25, 35, 51, 57, 6163, 77-80, 83-85, 129, 139, 140, 144, 198-200 Future Internet 4, 183-185
G Gebrauchstauglichkeit 2, 11, 83, 169
H Heuristische Evaluation 13, 35-38, 40, 72, 137
L Lautes Denken s.a. Thinking Aloud 14, 15, 61, 78, 83, 140, 142 Logfile-Analyse 3, 35, 55, 61, 78, 80-82, 85, 89, 124, 139
M Metapher bzw. Metaphor 196, 212, 213, 221, 222 Methoden der Usability-Evaluation, benutzerorientierte 12, 14-16, 18, 35, 57, 199 Methoden der Usability-Evaluation, expertenorientierte 12-14, 18, 35, 36, 57, 199 Moderator 87, 113, 115, 141, 142, 144
I Informationsbedürfnis 1, 23, 24, 32, 34, 55, 70 Inkonsistenz 45-49 Interviews 3, 14, 20, 61, 68, 70, 76, 78, 85-87, 89, 100, 101, 105-109, 114, 116, 120, 139, 140, 142, 199 ISO-Norm 11, 14, 15, 34, 99, 120, 197, 198
N Nützlichkeit 3, 10, 55-58, 60, 65, 71, 72, 150, 213
O OPAC 9, 42, 44, 50, 76, 146-148
J P Joy-of-Use 2, 25, 26, 193, 194, 196
K Komplexität 10, 60, 103, 120, 176, 188, 199 Konsistenz bzw. Consistency 40,125, 206, 207 Kosten-Nutzen-Relation 11, 35, 55, 71 Kriterienkatalog 3, 26, 31, 32, 36-41, 204
Persona bzw. Personas 17, 19, 20-25, 67, 71, 76, 99, 100-106, 126, 176 Personalisierung 3, 39, 101, 138, 195 Portal 3, 4, 19, 63, 64, 98-103, 106, 107, 119-125, 159, 164, 167, 168, 172177, 179, 188, 189, 203 Produktentwicklung 11, 12, 19, 20 Produkttest 14, 15 Prototyping 100, 101, 108-113, 128, 131133
Register 249 R Rechercheprozess 32, 146, 147, 217, 230, 233 Remote-Usability-Testing 3, 76, 83-85 RFID 190, 191, 235
S Serious Games 4, 183, 191-197, 200 Social Media 10, 23, 26, 39, 108, 161, 188 Soziale Netzwerke 40, 79, 146, 148, 187, 188, 197-199 Standard bzw. Standardisierung 11, 45, 57, 78, 83, 99, 123, 160-163, 165170, 174-178, 198, 199, 206 Szenarien 21, 114, 125, 127, 128, 134, 175, 217, 220, 223, 236, 237
T Thinking-Aloud bzw. Think-Aloud 14, 61, 83, 85, 139, 140, 141
U Usability-Engineering 3, 9, 11, 17-19, 26, 27, 37, 38, 51, 83 Usability-Evaluation 3, 11, 12, 15-18, 26, 27, 31, 34-38, 71, 72, 137, 197-200 Usability-Experte 12, 56, 98, 102, 103, 109, 120, 123, 134 Usability-Kriterien 34, 200
Usability-Methoden 2, 3, 12, 60, 61, 83 Usability-Problem bzw. UsabilitySchwachstelle 11-13, 15, 36, 37, 40, 41, 44, 45, 49, 137, 175, 109 Usability-Test 3, 14, 17, 20, 35, 37, 58, 61, 69, 72, 83, 85, 89, 90, 92, 101, 104, 109, 117, 199 Usefulness 3, 26, 33, 34, 55-67, 99, 113, 117, 198 User-Centered Design bzw. UserCentered-Design 97-99, 116, 117, 119-123, 125, 135, 136 User Experience bzw. User-Experience 17, 25, 26, 50, 77
V Validität 35, 77, 89-91, 198 Verständlichkeit 12, 15, 159, 162, 176 Volltext 4, 9, 56, 59, 60, 78, 98, 107, 136, 149, 150, 173, 218, 234
W WCAG 2.0 Standard 162-165, 178 Web 2.0 3, 4, 39, 161, 183, 184, 188-190, 197 Webauftritt 2, 36-38, 40, 42, 43, 45, 49, 51, 135, 161
Z Zufriedenheit 11, 25, 65, 130