Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn - Die Macht der inneren Bilder - Biologie der Angst: Limitierte Sonderausgabe 9783666404511, 9783525404515, 9783647404516


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Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn - Die Macht der inneren Bilder - Biologie der Angst: Limitierte Sonderausgabe
 9783666404511, 9783525404515, 9783647404516

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Gerald Gerald Hüther Hüther

Biologie der Angst – Bedienungsanleitung Bedienungsanleitung für ein für ein menschliches Gehirn menschliches Gehirn – Die Macht der inneren Bilder 11. Auflage Limitierte Sonderausgabe

Vandenhoeck & Ruprecht

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Umschlagabbildung © Hans-Ulrich Hellmann, Buche im Rapsfeld – www.oberweseratelier.com Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40451-5 ISBN 978-3-647-40451-6 (E-Book) © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: H Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Vorwort Während meines Studiums habe ich gelernt, wie man Gehirnschnitte mit einem speziellen Verfahren anfärbt. Die Nervenzellen werden dabei zuerst mit einer Silbernitratlösung imprägniert und dann, wie bei der Entwicklung fotografischer Bilder, als schwarze Zellen mit all ihren feinsten Verästelungen sichtbar gemacht. Schwarz auf gelbem Hintergrund zeichnen sich diese Nervenzellen dann unter dem Mikroskop ab, so wie auf dem Titelbild von Hans-Ulrich Hellmann der einzelne Baum aus dem gelben Rapsfeld herausragt. Er gehört zu den Künstlern, die sich in ihrer Einzigartigkeit eben auch von anderen abheben. Weshalb es immer nur ganz bestimmte Nervenzellen sind, die sich in dieser Weise imprägnieren und darstellen lassen, haben die Hirnforscher wahrscheinlich bis heute noch nicht herausgefunden. Aber dieses besondere Färbeverfahren, das zu Beginn des vorigen Jahrhunderts von einem der Väter der Hirnforschung, Camillo Golgi, entwickelt worden war, bildete den Anfang einer Entwicklung innerhalb der Neurowissenschaften, die seitdem ziemlich atemberaubend verlaufen ist. Damals wusste man ja noch nicht, dass das Gehirn ein Netzwerk von miteinander über Myriaden von Kontaktstellen verbundenes Geflecht von vielen Milliarden Nervenzellen ist. Erst dieses sonderbare Färbeverfahren, bei dem sich eben nicht alle – sonst wäre ja alles schwarz –, sondern nur sehr wenige einzelne Nervenzellen aus diesem wilden Geflecht hervorhoben, öffnete den Blick dafür, dass die erstaunlichen Leistungen unseres Gehirns offenbar dadurch zustande kommen, dass diese Milliarden von Nervenzellen auf eine bestimmte Weise zusammenwirken, weil sie auf eine bestimmte Weise miteinander verbunden sind. Seitdem wussten die Hirnforscher endlich, wonach sie suchen mussten, wenn sie verstehen wollten, wie unser Gehirn funktioniert: nach der Art und Weise, wie diese vielen Nervenzellen in den verschiedenen Regionen des Gehirns miteinander vernetzt sind. Und schon damals werden sie geahnt V © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

haben, dass man sich mit einem stärker vernetzten Gehirn besser in der Welt zurechtfindet als mit einem Gehirn, dessen Nervenzellen weniger intensiv und weniger komplex miteinander verknüpft sind. Aber es hat fast ein ganzes Jahrhundert lang gedauert, bis sie auch herausgefunden haben, wer oder was dafür verantwortlich ist, dass manche Menschen ein stärker vernetztes und manche ein weniger komplex vernetztes Gehirn bekommen. Denn zunächst hatten die Hirnforscher dafür die genetischen Programme verantwortlich gemacht und geglaubt, es gäbe Menschen, die ihre besonderen Leistungen ihren genetischen Anlagen verdanken. Man hielt deshalb manche für minderbemittelt, andere für hochbegabt und passte sogar das Schulsystem dieser Vorstellung an. Die einen kamen zur Hauptschule, die anderen zum Gymnasium. Und wer nicht in der Lage war, sein Leben irgendwie zu meistern, und Verhaltens- oder Denkweisen entwickelte, die nicht zu dem passten, was alle anderen machen oder dachten, hatte nach den damaligen Vorstellungen eine Meise – war also nicht ganz richtig im Gehirn verdrahtet. Weil sich die genetischen Anlagen, die für diese problematische Verkabelung verantwortlich gemacht wurden, nicht ändern ließen, steckte man diese Personen in psychiatrische Anstalten. Dort wurden mit diesen Patienten Experimente durchgeführt und dabei stellte sich heraus, dass die Verabreichung bestimmter Medikamente zu einer Verringerung oder sogar zum Verschwinden von Störungen führte. Das war die Geburtsstunde der Psychopharmakologie, und wieder öffnete sich ein weites Feld für die Hirnforscher. Denn anhand der Wirkungen bestimmter Substanzen auf bestimmte Hirnfunktionen wurde es möglich, die Signale zu entschlüsseln, die Nervenzellen benutzen, um anderen Nervenzellen etwas mitzuteilen und bestimmte Reaktionen auszulösen. Damit begann die Ära der Neurochemie und die führte zur Entdeckung von immer mehr Neurotransmittern, Neuromodulatoren, Rezeptoren und immer spezifischeren Kenntnissen über die biochemischen Reaktionen und Mechanismen, die Nervenzellen benutzen, um miteinander zu kommunizieren und im Gehirn ankommende Signalmuster zu verarbeiten und in spezifische Antwortmuster umzuwandeln. VI © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Das war damals auch mein Forschungsgebiet, zunächst am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin und später im Neurobiologischen Labor der Göttinger Universitätsklinik. Mit großer Begeisterung habe ich in dieser Zeit die Wirkungen von Neurotransmittern, ihre Synthese, die Mechanismen ihrer Wiederaufnahme und ihrer Interaktion mit spezifischen Rezeptoren untersucht, Kongresse veranstaltet und Kongresse besucht, zahlreiche wissenschaftliche Fachbeiträge veröffentlicht und Fachbücher geschrieben. Es ging darin um die Regulation der Synthese und Ausschüttung bestimmter Transmitter, um Veränderungen der Rezeptorexpression und die Wirkungen von Transmittern und Modulatoren und bestimmter Psychopharmaka. Und es ging um die Beeinflussbarkeit all dieser Mechanismen durch psychische Belastungen, durch die Art der Ernährung oder durch die Verabreichung bestimmter Medikamente. Besonders beeindruckt war ich von den Auswirkungen von Stress und Angst und es schien mir damals wichtig, die immer deutlicher erkennbaren Folgen psychischer Belastungen auf das Gehirn nicht nur für meine Fachkollegen in der sogenannten Scientific Community, sondern auch für die Menschen außerhalb der Forschungsinstitute und Labore bekannt zu machen. So versuchte ich ein erstes populärwissenschaftliches Sachbuch zu schreiben, was sich als ein ziemlich schwieriges Unterfangen erwies. Was ich damals zu Papier brachte und wie ich es auszudrücken versuchte, blieb zunächst ein unverständliches Kauderwelsch von Fachausdrücken und umständlichen Erklärungen. Was ich am Abend noch mit viel Eifer aufgeschrieben hatte, landete am nächsten Tag im Papierkorb. Wochenlang ging das so, bis ich irgendwann einen Einfall hatte, der mir endlich half, diese komplizierten Sachverhalte so darzustellen, dass sie auch für jedermann verständlich wurden: Ich setzte in Gedanken je einen Repräsentanten derjenigen Personengruppe, für die ich dieses Buch schreiben wollte, um meinen Schreibtisch herum – eine Krankenschwester, einen Unternehmer, einen Lehrer, einen Pfarrer, einen Arzt und einen Bauern. Dann begann ich zu schreiben – jetzt aber nicht mehr für mich, sondern für diejenigen – und nach jedem Satz VII © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

schaute ich die in meiner Vorstellung dort sitzenden Personen der Reihe nach an und fragte sie, ob sie das nun so auch wirklich verstanden hatten. Nur wenn sie alle nickten, schrieb ich weiter. Es war wie ein Wunder. Durch diesen einfachen Perspektivenwechsel konnte ich komplizierte Sachverhalte so beschreiben, dass sie verstanden wurden. Damals musste ich mich noch anstrengen, die Sachverhalte aus der Sicht und auf dem Erfahrungsgrund der späteren Leser zu beschreiben. Heute geht das automatisch, nicht nur beim Schreiben, sondern auch bei Vorträgen oder in Interviews. Und es ist ganz leicht. Und es macht Freude, anderen Menschen auf diese Weise etwas zu erklären. So ist mein erstes populärwissenschaftliches Sachbuch entstanden. Ich fand im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht einen äußerst kompetenten und ermutigenden Lektor, Herrn Dr. Bernd Rachel. Ihm bin ich bis heute für seine Unterstützung bei der Veröffentlichung dieses Buches dankbar. Es heißt »Biologie der Angst« und bildet jetzt auch den Auftakt dieser kleinen Sammlung. Die Botschaft dieses Buches ist ganz einfach: Die Angst ist ein Signal, das im Gehirn entsteht und sich im ganzen Körper ausbreitet, wenn etwas nicht stimmt. Und wir brauchen diesen Schutzmechanismus, damit wir rechtzeitig die Kurve kriegen und unser Leben verändern. Hätten wir keine Angst, dann könnten wir auch nicht lernen, was wir anders als bisher machen müssen. Die Angst ist also nicht unser Feind, sondern unser Freund – manchmal ziemlich bedrohlich, aber bisweilen braucht es eben einen etwas kräftigeren Impuls, damit wir aufwachen und die gewohnten, aber unbrauchbar gewordenen Bahnen verlassen. Seit dem Erscheinen dieses Buches sind fast zwei Jahrzehnte vergangen und man sollte meinen, dass vieles, was damals bekannt war, inzwischen überholt und durch neue Erkenntnisse ersetzt worden ist. Interessanterweise ist das aber nicht der Fall. Manches würde ich wohl heute etwas anders und auch in etwas anderen Zusammenhängen darstellen. Aber im Großen und Ganzen stimmt auch heute noch, was ich damals aus vielen Einzelbefunden der Stress- und Angstforschung VIII © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

wie ein Puzzle zu einem ganzheitlichen Bild zusammengefasst habe. Die für mich beglückendste Rückmeldung zu diesem Buch bekam ich kürzlich von einer Leserin. Sie hatte jahrelang unter Angststörungen in Form von Panikattacken und generalisierter Angst gelitten. Jetzt, so schreibt sie, nachdem sie dieses Buch über die »Biologie der Angst« gelesen hatte, habe sie verstanden, dass sie keine Angst vor diesen Angstzuständen haben müsse, und nun seien diese auch so unvermittelt, wie sie gekommen waren, wieder verschwunden. Ermutigt von solchen und ähnlichen Rückmeldungen habe ich anschließend versucht, in einem weiteren Buch die inzwischen durch die Einführung der sogenannten bildgebenden Verfahren, der Computertomographie und der funktionellen Kernspinresonanz, gewonnenen Erkenntnisse der Hirnforscher über die nutzungsabhängige Plastizität des menschlichen Gehirns darzustellen. Nötig erschien mir das deshalb, weil damals ja noch in den Köpfen der meisten Menschen die Vorstellung fest verankert war, nach Abschluss der Hirnentwicklung sei kein Umbau der bis dahin angelegten Nervenzellvernetzungen mehr möglich. Demnach, so lautete die damals noch weit verbreitete Vorstellung, sei das Gehirn erwachsener Personen nicht mehr nachhaltig veränderbar: »Was Hänschen nicht gelernt hat, lernt Hans nimmermehr.« Deshalb, so meinten viele, brauche man Veränderungen als Erwachsener auch gar nicht erst zu versuchen. Das war weder eine günstige noch eine hilfreiche und ermutigende innere Überzeugung. Sie entsprach zwar dem, was die Hirnforscher selbst noch bis zum Ende des letzten Jahrhunderts geglaubt hatten, aber zu ihrer eigenen Überraschung fanden sich bei ihren Untersuchungen mit Hilfe der bildgebenden Verfahren immer mehr Beispiele, die zeigten, dass es auch im Gehirn erwachsener Personen, zum Teil bis ins hohe Alter, zu bisweilen sogar sehr weitreichenden Veränderungen der Konnektivität, also der Art und Intensität von Nervenzellverknüpfungen, gekommen war. So begann sich damals auch unter den Hirnforschern die Erkenntnis durchzusetzen, dass sich neuronale Verschaltungsmuster zeitlebens an neue Nutzungsbedingungen anpassen können. Das freilich war eine

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neue Sichtweise, die zwangsläufig zu der Frage führte, wie und wofür man als Mensch sein Gehirn eigentlich nutzen sollte, damit sich dieses plastische Potenzial so gut wie möglich entfalten kann. »Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn« schien deshalb ein recht passender Titel für dieses Buch. Und es kam, wie es kommen musste: Nicht wenige Leser griffen zu diesem Titel, weil sie wohl glaubten, darin Ratschläge und Hinweise für die »Bedienung« ihres eigenen Hirns zu finden. Weil ich das geahnt hatte, habe ich es auch tatsächlich so aufgebaut und gegliedert, wie uns allen das aus den üblichen Bedienungsanleitungen für technische Geräte bekannt ist. Beim Lesen erst wird dann von Seite zu Seite immer deutlicher, dass es für die Nutzung unseres Gehirns niemals so etwas wie eine Bedienungsanleitung geben kann. Es funktioniert eben grundsätzlich anders als Waschmaschinen, Autos oder Computer: weil es erst durch die Art seiner Nutzung zu dem wird, was es zu jedem Zeitpunkt im Leben eines Menschen ist. Was in dieser »Bedienungsanleitung« bereits unausgesprochen als grundlegendes Prinzip der Strukturierung des Gehirns angedeutet worden war, habe ich anschließend in dem letzten Band dieser Sonderausgabe in aller Deutlichkeit herausgearbeitet: Selbstorganisation ist das, was unser Gehirn zu dem macht, was es ist. Und was durch sich selbst organisierende Prozesse entsteht, sind immer ganz bestimmte Beziehungsmuster, und die werden dann im Gehirn in Form ganz bestimmter Netzwerkstrukturen und Verschaltungsmuster strukturell verankert. Auf diese einmal entstandenen Muster, man kann sie auch »innere Bilder« nennen, greifen wir zurück, wenn wir uns dann später in der Welt zurechtzufinden versuchen. Manche der für unsere ersten Reaktionen notwendigen Muster bringen wir bereits mit auf die Welt. Sie haben sich schon während unserer vorgeburtlichen Entwicklung im Gehirn herausgeformt, und auf sie greift jedes Neugeborene zurück, um das, was in seinem Körper passiert, mit dem abzugleichen, was dort draußen, in seiner äußeren Welt geschieht. Und dabei werden diese ursprünglichen inneren Bilder oder Vernetzungsmuster ergänzt, erweitert, überformt und ständig weiter verändert. Beziehungserfahrungen werden auf diese

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Weise in sich immer weiter verfeinernde und immer spezifischer funktionierende Beziehungsmuster von Nervenzellen im Gehirn transformiert. Nicht nur am Anfang, sondern zeitlebens programmiert sich unser Gehirn also gewissermaßen selbst. Und das, was sich hier anhand des Gehirns so wunderbar herausarbeiten und erklären lässt, gilt offenbar in gleicher Weise auch für jedes andere lebende System. Zellen machen das ebenso, dort werden diese einmal herausgeformten Muster in Form bestimmter Erbanlagen im Zellkern abgelegt und bei Bedarf erneut abgerufen. Soziale Systeme, also beispielsweise menschliche Gemeinschaften wie Familien, Sportvereine, Unternehmen und Organisationen, machen es ganz genauso: Was sich bewährt, wird irgendwie festgehalten und als Vorschriften, Rituale und Geschichten, als gemeinsame Überzeugungen, Weltbilder und Theorien im kollektiven Gedächtnis verankert und transgenerational weitergegeben. Das Buch, in dem ich das alles beschreibe, heißt »Die Macht der inneren Bilder«. Es ist mir heute noch schleierhaft, wie es mir gelungen ist, solch eine komplexe Materie auf so ein einfaches Prinzip zurückzuführen und es auf so wenigen Seiten auch noch einigermaßen verständlich darzustellen. Dieses Buch ist in meinen Augen der wichtigste Beitrag, den ich in meinem Leben als Biologe zum Verständnis der Organisationsprinzipien lebender Systeme geleistet habe. Gern gebe ich zu, dass ich von der Idee meines heutigen Lektors bei Vandenhoeck & Ruprecht, Herrn Günter Presting, diese drei Bücher noch einmal in einem einzigen Band zusammenzustellen und als Sonderedition zu publizieren, zunächst nicht so recht begeistert war. Ich habe länger darüber nachgedacht und dabei ist mir selbst erst richtig klar geworden, dass es ja gerade diese drei kleinen Bücher sind, in denen ich zeigen wollte, dass sich die Tätigkeit eines Wissenschaftlers – ich bin ja nach wie vor ein leidenschaftlicher Biologe – nicht darauf beschränken kann, irgendwelche Experimente durchzuführen, deren Ergebnisse dann in den einschlägigen Fachzeitschriften publiziert, von einigen Fachkollegen gelesen, kritisiert oder gelobt und anschließend irgendwo abgelegt und

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irgendwann vergessen werden. Natürlich ist es wichtig, immer tiefer in den jeweiligen Gegenstand eines Fachgebietes einzudringen, die dort beobachtbaren Phänomene zu beschreiben und so lange zu untersuchen, bis sich das, was man auf diese Weise zerlegt, analysiert und gemessen hat, immer besser verstehen und vielleicht auch irgendwie praktisch nutzen lässt. Aber zumindest ebenso wichtig ist es, dass all die so gewonnenen Einzelbefunde wieder zu einem ganzheitlichen Bild zusammenfügt werden. Neben all den vielen analytischen Verfahren und Ansätzen in der Forschung muss es auch Wissenschaftler geben, die einen integrativen, synthetischen Ansatz verfolgen und die ihre Erkenntnisse und Entdeckungen, zu denen sie dabei möglicherweise gelangen, ganz vielen anderen Menschen zur Verfügung stellen. Da es sich dabei meist um Einsichten handelt, die die engen Grenzen eines speziellen Fachgebietes und der dort untersuchten Phänomene zwangsläufig überschreiten, müssten diese Erkenntnisse nicht nur für die Kolleginnen und Kollegen des eigenen, engen Fachgebietes interessant sein. Entsprechend sollten sie dann auch in allgemein verständlicher Sprache dargestellt werden. Genau das habe ich in den letzten Jahren versucht. Nirgendwo wird das deutlicher als in diesen drei Büchern, die nun hier als Sammelband vorliegen. Und so habe ich meine anfängliche Meinung nicht nur geändert, sondern ich bin meinem Lektor und dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht jetzt auch wirklich dankbar, dass er mir mit dieser Edition Gelegenheit bietet, deutlich zu machen, dass wissenschaftliche Forschung mehr sein kann – und vielleicht auch immer sein sollte – als die bloße Anhäufung wissenschaftlicher Befunde. Göttingen, im Juni 2013

Gerald Hüther

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Gerald Hüther

Biologie der Angst Wie aus Streß Gefühle werden

Vandenhoeck & Ruprecht

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Inhalt 1. Begegnung und Ausschau

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2. Zugangswege 11 Weshalb wir immer nur das finden, was wir suchen, und sich immer nur diejenigen verstehen, die durch die gleiche Brille schauen Das Problem des Leib-Seele-Dualismus und die unterschiedlichen Perspektiven von psychologischen und neurobiologischen Ansätzen

3. Entwicklungswege 17 Warum es die Streßreaktion gibt, wie sie entstanden ist und wozu sie dient Die biologischen Funktionen der Streßreaktion und die Evolution plastischer, anpassungsfähiger Gehirne

4. Sackgassen 33 Was in uns passiert, wenn wir nicht mehr weiterwissen Die neuronale und endokrine Streßreaktion und ihre Besonderheiten beim Menschen

5. Auswege 47 Wie wir Sackgassen des Denkens und Fühlens verlassen und wie wir gar nicht erst hineingeraten Die Bedeutung von individueller Erfahrung und Kompetenz und der Einfluß psychosozialer Unterstützung

6. Gebahnte Wege 57 Wie holprige Wege unseres Denkens und Fühlens zu Straßen und Autobahnen werden Die Auswirkungen psychischer Herausforderungen auf neuronale Verschaltungen: Bahnung und Spezialisierung

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7. Neue Wege 71 Was bei Sturmflut mit Straßen und Autobahnen passiert Die Auswirkungen psychischer Belastungen auf neuronale Verschaltungen: Destabilisierung und Reorganisation

8. Der intelligente Weg 79 Weshalb unser Gehirn kein Computer ist, und was wir tun müssen, damit es keiner wird Die Bedeutung der Wahrnehmungsfähigkeit für die Informationsverarbeitung in sich selbst optimierenden Systemen

9. Spurensuche 85 Weshalb jeder Mensch so ist, wie er ist, so denkt, wie er denkt, und so fühlt, wie er fühlt Der Einfluß psychischer Herausforderungen und Belastungen auf die Hirnentwicklung

10. Ausblick und Abschied

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Die wichtigsten im Text gebrauchten Fachausdrücke

117

Literatur

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Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort Sie sprechen alles so deutlich aus: und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus und hier ist Beginn und das Ende dort. Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott sie wissen alles, was wird und war; kein Berg ist ihnen mehr wunderbar; Ihr Garten und Gut grenzt gerade an Gott. Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern. Die Dinge singen hör ich so gern Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm. Ihr bringt mir alle die Dinge um. Rainer Maria Rilke

Begegnung und Ausschau Dort, wo ich wohne, gibt es einen kleinen Hügel. Die Leute in der Gegend nennen ihn den Pferdeberg, aber Pferde weiden dort oben schon lange nicht mehr. Es führt ein einsamer grasbewachsener Weg hinauf. Nur selten verirrt sich ein Mensch hierher. Von der Anhöhe schaut man weit ins Land. Es ist durchzogen von einem Netz von Straßen und Wegen, auf denen Menschen wie Ameisen in ihren Autos, mit ihren Fahrrädern oder zu Fuß unterwegs sind. Von den umliegenden Dörfern eilen sie in die Stadt und dann wieder zurück in die Dörfer. Auf Straßen und Spazierwegen bewegen sie sich durch die Felder und Wälder. Bleiben Sie ein bißchen mit mir hier oben. Manchmal gelingt es mir nämlich, an dieser Stelle die Zeit anzuhalten, und je besser dies gelingt, desto rascher vergeht die Zeit für die dort unten. Nur wer still steht, sieht, wie die anderen sich fortbewegen, sieht, wohin sie immer wieder gehen und welche Spuren sie dabei hinterlassen. Dort, mitten im Wald, hat eben ein Aus7 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

flugslokal eröffnet. Schauen Sie, wie der kleine Weg von der Stadt her immer breiter wird, wie alle Windungen begradigt werden. Jetzt ist er bereits eine Straße geworden, und da kommen auch schon die ersten Autos angefahren. Oder dort, neben der Stadt, wird eine Fabrik gebaut. Der holprige Feldweg wird plattgewalzt, schon ist er asphaltiert und vierspurig ausgebaut. Der Weg, für den man früher eine Stunde zu Fuß brauchte, ist jetzt in zehn Minuten zurückzulegen. Unten am Fluß stellt die Fähre ihren Dienst ein. Sie haben ein Stück flußauf eine Brücke gebaut. Das alte Fährhaus verwaist, die Zufahrt bleibt unbenutzt. Schon bricht der Asphalt auf. Die ersten Büsche beginnen zu wachsen, bald wird die Straße kaum noch zu finden sein. Aber ich habe Sie nicht hierhergeführt, um Ihnen zu zeigen, wie ein Netzwerk von Straßen und Wegen in Abhängigkeit von der Nutzung ständig verändert und fortwährend an neue Erfordernisse und Gegebenheiten angepaßt wird. Was wir von hier oben beobachten können, ist ein Bild für etwas, das später einmal als der entscheidende Durchbruch der Neurobiologie auf dem Gebiet des Verständnisses von Hirnfunktion in diesem Jahrhundert bezeichnet werden wird. Es ist ein Prozeß, für den wir noch gar keinen eigenen Namen haben. Die Engländer und Amerikaner nennen ihn »experiencedependent plasticity of neuronal networks« und meinen damit die Festigung oder aber Verkümmerung der Verbindungen zwischen den Nervenzellen in unserem Gehirn in Abhängigkeit von ihrer Benutzung. Stellen Sie sich vor, was das heißt: Die Art und Weise der in unserem Gehirn angelegten Verschaltungen zwischen den Nervenzellen, die unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, ist abhängig davon, wie wir diese Verschaltungen nutzen, was wir also mit unserem Gehirn machen, was wir immer wieder denken, was wir immer wieder empfinden, ob wir zum Beispiel Abend für Abend vor dem Fernseher sitzend verbringen 8 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

oder ob wir statt dessen Geige spielen, ob wir viel lesen oder ständig mit unserem Computer im Internet herumsurfen. Für jede dieser Beschäftigungen benutzen wir sehr unterschiedliche Verbindungen zwischen den Nervenzellen in unserem Gehirn. Sie heißen auf Englisch »neuronal pathways«. Nervenwege? Wege des Denkens und Empfindens? In unserem Gehirn gibt es eine Unmenge verschlungener Pfade. Viele davon werden im Lauf unseres Lebens und in Abhängigkeit davon, wie oft wir sie in unseren Gedanken beschreiten, zu leicht begehbaren Wegen, zu glatten Straßen oder gar zu breiten Autobahnen. Wem es wichtig geworden ist, sein Ziel möglichst schnell durch die Nutzung des existierenden Straßenund Autobahnnetzes zu erreichen, der übersieht allzuleicht die verträumten Pfade, die sonnigen Feldwege und die beschaulichen Nebenstraßen, die ebenfalls dorthin führen. Sie wachsen so allmählich zu und sind irgendwann kaum noch begehbar. Wer lieber zeitlebens auf einsamen verschlungenen Pfaden herumspaziert, der wird früher oder später feststellen, daß er immer dann in Schwierigkeiten gerät, wenn es darauf ankommt, in seinem Denken möglichst schnell von hier nach dort zu gelangen und eine rasche, eindeutige Entscheidung zu treffen. Wie es kommt, daß manche Menschen ihr Gehirn so benutzen, daß sie möglichst schnell vorankommen, und was in ihrem Leben darüber entscheidet, wohin sie wollen, davon handelt dieses Buch. Was uns also interessiert, ist mehr als das, was wir von unserem Hügel aus sehen können: Wir wollen wissen, warum an einer Stelle schmale Wege zu breiten Straßen und woanders ausgebaute Straßen zu schmalen Pfaden werden. Uns interessiert nicht so sehr die Tatsache, daß ein Netzwerk von Wegen in unserem Gehirn existiert und daß sich dieses Netzwerk neuronaler Kommunikation im Lauf unseres Lebens verändert. Wir wollen vielmehr 9 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

wissen, weshalb die Wege des Denkens und Empfindens eines Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Entwicklung so sind wie sie sind. Wir wollen herausfinden, unter welchen Umständen und aus welchen Gründen manche dieser Wege bevorzugt benutzt werden und deshalb immer leichter begehbar werden. Wir wollen auch verstehen, was passieren muß, damit eingefahrene Wege verlassen werden können. Da es in unserem Gehirn keine Verkehrsplaner gibt, die alle künftigen Entwicklungen in die Erstellung des Wegeplans einbeziehen, kann sich jeder Weg, den wir einschlagen und den wir ausbauen, irgendwann später im Leben als Sackgasse, als Irrweg erweisen. Die Frage, weshalb solche Fehlentwicklungen immer wieder auftreten, welche Folgen sie haben und wie sie überwunden werden können, wird sich also wie ein roter Faden durch all unsere Überlegungen winden. Wir wollen das Wunderbare und Geheimnisvolle nicht entzaubern. Wir schauen nur einmal ganz vorsichtig hinein, voll Ehrfurcht und Bewunderung. Dann machen wir den Deckel wieder zu und tragen das Geheimnis in uns weiter – vielleicht auf all unseren künftigen Wegen.

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Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen, Wenn die, so singen oder küssen, Mehr als die Tiefgelehrten wissen, Wenn sich die Welt ins freie Leben Und in die Welt wird zurückgegeben, Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu echter Klarheit werden gatten Und man in Märchen und Gedichten Erkennt die wahren Weltgeschichten, Dann fliegt von einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort. Novalis

Zugangswege Von unserem Hügel aus können wir nur beobachten, daß sich das vor uns ausgebreitete Netzwerk von Wegen und Straßen, ähnlich wie das Netzwerk von Nervenverbindungen in unserem Gehirn, verändert, wenn die Menschen beginnen, es auf andere Weise zu nutzen. Weshalb manche Menschen solche, andere jedoch jene Wege einschlagen, bleibt uns verborgen. Hier reicht die Hügelperspektive nicht mehr aus. Es scheint so, als müßten wir entweder höher hinaus, um uns einen noch größeren Überblick über das Geschehen zu verschaffen, oder hinunter, um die Einzelheiten besser erkennen zu können. Seit altersher haben Menschen versucht, das nicht Faßbare entweder durch eine Vergrößerung der Entfernung von den konkreten Phänomenen vorstellbar, oder aber durch direktes Eindringen in die sichtbaren Formen begreifbar zu machen. Auch diejenigen, die wissen wollten, weshalb Menschen so fühlen, denken und handeln, wie sie es nun einmal tun, und weshalb sich ihr Fühlen, Denken und Handeln im Lauf der Zeit verändert, sind entweder weit zurückgetreten und haben 11 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

beschrieben, was aus solcher Entfernung sichtbar wurde, oder sie haben versucht, so tief wie möglich in das Gehirn hineinzuschauen und zu beschreiben, was dort normalerweise abläuft, und wie sich diese Abläufe ändern, wenn in irgendeiner Weise in das Geschehen eingegriffen wird. Da ein und dasselbe Ding entweder aus großer Entfernung oder aber aus großer Nähe betrachtet, sehr verschieden aussieht, ist es kein Wunder, daß im Lauf der Zeit verschiedene Worte und Begriffswelten entstanden sind, um entweder unser Denken und Fühlen zu beschreiben oder die neuroanatomischen, neurophysiologischen und neurochemischen Merkmale unseres Gehirns und seiner Funktionsweise zu erfassen. Es ist auch kein Wunder, daß Geisteswissenschaftler und Naturwissenschaftler einander immer weniger verstanden, und wie immer bei solchen Entwicklungen, Fronten gebildet und tiefe, scheinbar unüberbrückbare Gräben ausgehoben wurden. Da solche Abgrenzungen auf Dauer wenig fruchtbar sind, finden sich irgendwann einzelne, später immer mehr, die darangehen, die entstandenen Gräben wieder aufzufüllen und die einstmals so deutlichen Fronten aufzuweichen. Auch das ist kein Wunder, wunderbar ist aber, daß sich diese Synthese zwischen philosophischen, psychologischen und neurobiologischen, also zwischen geisteswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Ansätzen gerade jetzt, am Ende des 20. Jahrhunderts, vollzieht. Noch immer sitzen die Vertreter der zu langen und der zu kurzen Perspektive in ihren Stellungen. Aber sie hören schon das Lied, das auf der anderen Seite gesungen wird, und sie beginnen zu verstehen, daß beide Lieder sich nur im Text unterscheiden. Ihre Melodie ist gleich. Sind Sie noch mit mir auf dem Hügel? Wir haben gemeinsam geschaut. Wir wollen nun gemeinsam lauschen, ob wir die Melodie erkennen, die über uns und 12 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

unter uns gesungen wird. Vielleicht gelingt es uns, sie mitzusingen. Damit uns der unterschiedlich gesungene Text dabei nicht zu sehr stört, werden wir ihn im Druck etwas verkleinern. Diese kleingedruckten Texte sollen eine Hilfe für diejenigen sein, die die Melodie besser erkennen, wenn sie auch den dazugehörigen Text hören oder mitlesen können. Diese Texte sind oft schwerfällig und in einer Sprache geschrieben, die manchem gar nicht zu der Melodie zu passen scheint, die in diesem Buch gesungen wird. Wem es so geht, der mag sie einfach überhören. Einige werden die großgeschriebene Melodie schnell erkennen und auch den kleingeschriebenen Text ein Stück weit mitverfolgen wollen. Damit das möglichst vielen gelingt, sind die unverständlichsten Fachausdrücke in Klammern und am Ende (S. 117) erklärt. Am schwersten haben es freilich diejenigen, die nur das Kleingedruckte lesen, um herauszufinden, weshalb die Melodie, die sie selbst nicht mitsingen können oder wollen, falsch sein muß. Für sie sind dort, wo es erforderlich schien, in Klammern Verweise auf die wichtigsten Originalarbeiten eingefügt, in denen noch einmal in aller Ausführlichkeit nachgelesen werden kann, was im kleingedruckten Text gesagt wurde. Weiterführende Darstellungen finden sich in folgenden Übersichtsarbeiten: Hüther, G. (1996): The central adaptation syndrome: Psychosocial stress as a trigger for the adaptive modification of brain structure and brain function. Progress in Neurobiology, Vol. 48, Seite 569–612. Hüther, G.; Doering, S.; Rüger, U.; Rüther, E. und Schüßler, G. (1996): Psychische Belastungen und neuronale Plastizität. Zeitschrift für psychosomatische Medizin, Band 42, Seite 107–127. Rothenberger, A. und Hüther, G. (1997): Die Bedeutung von psychosozialem Stress im Kindesalter für die strukturelle und funktionelle Hirnreifung: Neurobiologische Grundlagen der Entwicklungspsychopathologie. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie (Heft 9, 1997, im Druck) Hier also die erste kleingedruckte Erläuterung: Seit der Antike wird das abendländische Denken von einem dualistischen Modell der Leib-Seele-Spaltung beherrscht. Lange Zeit standen die beiden Pole einander isoliert gegenüber, und bis heute ist es nicht gelungen, den »geheimnisvollen Sprung

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vom Seelischen ins Körperliche« (Freud 1895) wissenschaftlich zur Gänze zu vollziehen. Es hat sich aber doch eine Entwicklung vollzogen von einem dualistischen zu einem integralen Denken (Schüßler 1988): Wir sehen Leib und Seele nicht mehr als voneinander getrennte, sondern als zwei sich gegenseitig beeinflussende und durchdringende Wesenheiten an, die eine »komplementäre Identität« (Kirsch und Hyland 1987) bilden. Diese gegenseitige Durchdringung wird in weiten Teilen der aktuellen neurobiologischen und psychologischen Forschung immer deutlicher. In diesem Bereich entstehen immer differenziertere Kenntnisse über die Beeinflußbarkeit biologischer Prozesse durch psychische Faktoren und über die Auswirkungen neurobiologischer Voraussetzungen und Gegebenheiten auf psychische Phänomene. Nachdem noch bis vor wenigen Jahrzehnten die Überzeugung herrschte, daß ein Umbau der während der Hirnentwicklung einmal angelegten Verschaltungen im adulten Gehirn nicht mehr stattfindet, wissen wir heute, daß das Gehirn auch im Erwachsenenalter noch in hohem Maße zu struktureller Plastizität fähig ist. Zwar können sich Nervenzellen im Anschluß an die intrauterine Reifung des Gehirns schon vor der Geburt nicht mehr teilen, sie bleiben jedoch zeitlebens zur adaptiven Reorganisation ihrer neuronalen Verschaltungen befähigt (»experience dependent plasticity«). Im Zuge derartiger Umbauprozesse kommt es zur Veränderung der Effizienz bereits vorhandener Synapsen (Kontaktstellen), etwa durch Vergrößerung oder Verringerung der synaptischen Kontaktflächen, durch verstärkte oder verminderte Ausbildung prä- und postsynaptischer Spezialisierungen oder durch Veränderungen der Eigenschaften und der Dichte von Rezeptoren für Transmitter (Botenstoffe) und damit der Effizienz der Signalübertragung. Verstärktes Auswachsen und »kollateral sprouting« (Bildung zusätzlicher Seitenäste) von Axonen (Fortsatz der Nervenzelle zur Verbindung mit anderen Nervenzellen) kann zur Neubildung von Synapsen, terminale retrograde Degeneration (Rückbildung) zur verstärkten Elimination vorhandener Synapsen führen. Durch plastische Veränderungen des Dendritenbaumes (vielfach verästelte Zellfortsätze) oder durch Änderung der Abschirmung von Neuronen durch Astrozyten (Hüllzellen) kann das Angebot postsynaptischer Kontaktstellen erhöht oder vermindert werden. Unter normalen Bedingungen findet so im Gehirn eine ständige Stabilisierung, Auflösung und Umgestaltung synaptischer Verbindungen und neuronaler Verschaltungen statt. Derartige Umbauprozesse können beispielsweise verstärkt nach

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Deafferenzierungen (Nervendurchtrennungen) durch Extremitätenamputationen beobachtet werden. Es findet hier eine Reorganisation kortikaler somatosensorischer Projektionsfelder statt, das heißt, die vorher für die verlorene Extremität zuständigen Gehirnareale übernehmen nach und nach neue, andersartige Funktionen (Ramachandran 1993; O’Leary u.a. 1994). Steroidhormone spielen eine besondere Rolle als Trigger (Auslöser) für strukturelle Umbauprozesse im adulten ZNS (Zentralnervensystem). Sie wirken als sogenannte Liganden-gesteuerte Transkriptionsfaktoren und nehmen so direkten Einfluß darauf, welche Gene einer Nervenzelle aktiviert und welche Funktionen von der Zelle infolgedessen ausgeführt werden. Ein beeindruckendes Beispiel für einen solchen Einfluß von Steroidhormonen ist die sich in Abhängigkeit vom Sexualzyklus weiblicher Ratten ändernde Dichte synaptischer Verbindungen in verschiedenen Hirngebieten (Olmos u.a. 1989; Wooley und McEwen 1992). Die intensivsten strukturellen Reorganisationsprozesse im adulten Gehirn wurden bisher beim Erwachen von Tieren aus dem Winterschlaf beobachtet. Im Zuge der hierbei stattfindenden massiven hormonellen Veränderungen kommt es innerhalb weniger Stunden zum Wiederauswachsen der während des Winterschlafes zurückgebildeten Dendritenbäume von Pyramidenzellen (Popov und Bocharavo 1992; Popov u.a. 1992).

Noch ist es sehr laut hier oben auf unserem Hügel. Das dumpfe Dröhnen der Autos und das Getöse der gelegentlich vorüberziehenden Flugzeuge klingt nicht wie ein Lied. Um die Melodie vernehmen zu können, müßte man dorthin zurückkehren, wo sie entstanden ist. Man müßte weg in eine ferne Vergangenheit, in eine Zeit, als es weder Flugzeuge noch Autos gab, zurück in eine Zeit, als das denkende und empfindende Gehirn die ersten Schritte auf seinem langen Entwicklungsweg gegangen ist.

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Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn. Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, und ich kreise jahrtausendelang; und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang. Rainer Maria Rilke

Entwicklungswege Keine Sorge, unser Weg zu den Anfängen unseres Denkens und Fühlens führt uns nicht zurück bis zum Urschleim oder gar zum Urknall. Wir werfen nur einen kurzen Blick zurück auf die ersten lebendigen Wesen, die damals – ebenso wie wir heute – gezwungen waren, sich in ihrer Welt zurechtzufinden. Sie hatten es noch sehr leicht, denn sie hatten ein Programm, ein von ihren Vorfahren ererbtes Programm, das ihre körperliche Gestalt, ihren Stoffwechsel und natürlich auch ihr Verhalten diktiert hat. Die genetischen Programme, die den Bau eines Lebewesens und seine Reaktionen auf Eßbares oder Feindliches bestimmten und dafür sorgten, daß entsprechend programmierte Nachkommen gezeugt wurden, blieben jedoch nie ganz gleich. Diese Programme neigten von Natur aus dazu, größer zu werden und mehr zu enthalten als eigentlich nötig war, und sie neigten dazu, sich immer wieder etwas zu verändern. Sie hatten also eine Eigenschaft, die wir an unseren Computerprogrammen nicht so sehr schätzen. Sie waren fehlerfreundlich. Und sie machten noch etwas, was Computerprogramme nicht machen sollen, sie vermischten sich ständig mit anderen, ähnlichen Programmen. Wir nennen das, was da stattgefunden hat 17 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

und – nicht ohne Grund – noch heute und selbst bei uns stattfindet, sexuelle Reproduktion. Beides zusammen, die Fehlerfreundlichkeit und die sexuelle Durchmischung im Zuge ihrer Reproduktion hat dazu geführt, daß immer wieder neue, leicht veränderte Programme entstanden sind, die den Bauplan und damit all das, was lebende Wesen konnten und machten, bestimmt haben. Deshalb gab und gibt es immer wieder Individuen, die etwas anders aussehen und die etwas anders sind als andere. Das ist natürliche Variabilität, und ohne die gäbe es keine Entwicklung. Aber hier liegt auch die Wurzel für das Leid auf dieser Welt: Nicht alle Programme erwiesen sich als gleich gut geeignet, um die Entwicklung eines lebenden Wesens so zu steuern, daß es als erwachsenes Individuum auch überleben und sich fortpflanzen konnte. Hierfür gab es für die jeweiligen Bedingungen besser und schlechter geeignete Programme. Die Vorfahren aller heute lebenden Arten und aller heute lebenden Menschen hatten die besseren. Die Träger der anderen Programme sind gestorben, bevor sie sich fortpflanzen konnten. Ihre Programme wurden gelöscht und sind für immer verloren. Das ist Selektion und ohne die gäbe es auch keine Entwicklung. Aber Variabilität und Selektion von genetischen Programmen sind das eine, die für das Überleben und die Weitergabe dieser Programme erforderlichen äußeren Bedingungen sind das andere. Die einen sind die Spieler, die anderen die Dirigenten. Die genetischen Programme sind Handlungsanweisungen, die den Aufbau, die Strukturierung und damit auch die physiologischen Leistungen und das Verhalten der Individuen einer Art mehr oder weniger genau bestimmen. Ob diese Programme erhalten blieben und an die Nachkommen weitergegeben werden konnten, hing jedoch immer von den jeweils herrschenden äußeren Bedingungen ab. Sie bestimmten, welche Programme am besten geeignet waren und welche der immer wieder aufgetretenen Programmänderungen einen Selektionsvorteil boten. Über lange Zeiträume der Evolution waren es ausschließlich Änderungen der äußeren Lebensbedingungen, die die Richtung vorgaben, in die sich die

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genetischen Programme einzelner Arten fortzuentwickeln hatten. Die Situation änderte sich erst, als lebende Wesen auf dieser Erde begannen, die für ihr Überleben und für ihre Reproduktion erforderlichen Bedingungen in zunehmendem Maße selbst zu gestalten oder wenigstens zu beeinflussen, richtiger: als ihre Programme so weit entwickelt waren, daß sie ihre Träger eben dazu befähigten. Seit dieser Zeit hat der Begriff »Umwelt« eine doppelte Bedeutung: Neben der klassischen Außenwelt existiert eine zweite, noch viel bedeutsamere, eigene Welt, die durch die Wirkung genetischer Programme innerhalb dieser äußeren Welt erzeugt wird. Begonnen hat diese Entwicklung bereits sehr früh. Jede Eizelle enthält nicht nur ein genetisches Programm, sondern gleichzeitig auch all das, was für seine Umsetzung initial erforderlich ist (Bausteine, Kofaktoren, Energie etc.). Artspezifische intrauterine Entwicklungsbedingungen, Brutpflege und andere Mechanismen tragen zur Abschirmung der Nachkommen vor äußeren Bedingungen bei, die den Ablauf der genetisch programmierten Entwicklung gefährden. Während der Evolution wirkte also ein innerer Selektionsdruck, der die Träger von genetischen Programmen begünstigte, die in der Lage waren, die eigenen Entwicklungsbedingungen aktiv und weitgehend unabhängig von den äußeren Bedingungen zu gestalten.

Natürliche Variabilität und Selektion bestimmten bereits die Entwicklung der Einzeller. Bald, das heißt in der Evolution nach unvorstellbaren Zeiträumen, entstanden Programme, die sich ihren Trägern als nützlich erwiesen, weil sie dazu führten, daß die Zellen zusammenklebten. Schon haben wir Vielzeller. Die saßen entweder fest und sind später einmal Pilze oder Pflanzen geworden, oder sie bewegten sich aktiv vorwärts. Letzteres schafften nur die, die ein Programm besaßen, das dazu führte, daß bestimmte Zellen das Kommando übernahmen und allen anderen Zellen auf der Oberfläche sagten, ob sie ihre Ruderinstrumente vorwärts oder rückwärts, nach rechts oder nach links bewegen sollten, hin zum Futter oder weg von unwirtlichen Verhältnissen und hungrigen Freßfeinden. Hierfür war ein Programm erforderlich, das dafür sorgte, daß besonders empfindliche Zellen, die ursprünglich auch auf der Oberfläche lagen, ein Stück eingesenkt 19 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

wurden. Sie durften nicht mehr auf alles reagieren und mußten Möglichkeiten bekommen, durch Fortsätze miteinander und mit den äußeren wie auch mit den inneren Zellen in Kontakt zu bleiben. Nur so konnten sie in ihrer Aktivität von außen, aber auch durch andere Zellen beeinflußbar bleiben und ihrerseits andere Zellen durch ihre Aktivität in bestimmter Weise beeinflussen. Schon haben wir die ersten Tiere vor uns, die ein bewährtes, brauchbares genetisches Programm für ein voll funktionstüchtiges Nervensystem von ihren Eltern übernommen hatten. Nun geht es Schlag auf Schlag. Programme, die es ermöglichten, wichtige Sinneseindrücke (die meist von vorn kommen) zu verarbeiten, und auf andere Nervenzellen zu übertragen, bildeten die Grundlage für die Entwicklung einer Nervenzellansammlung im Kopfteil. So sind die ersten fest vernetzten Gehirne entstanden – irgendwo auf der Stufe der Würmer. Der Rest ist nur noch Spielerei. Für jede nur mögliche Art des Überlebens fand sich früher oder später ein modifiziertes Programm, das die Herausbildung der dazu erforderlichen neuronalen Verschaltungen steuerte. Wie schön das alles funktioniert hat, sieht man am Beispiel der riesigen Gruppe der Insekten. Hier haben die Gene gewissermaßen alles ausprobiert, was ein Überleben mit Hilfe eines genau programmierten, fest verdrahteten Nervensystems unter den unterschiedlichsten Lebensbedingungen ermöglichte. Die Strategie, mit Hilfe genetisch genau vorgeschriebener fester Verschaltungen im Gehirn in allen Lebenslagen zurechtzukommen, war auf dieser Entwicklungsstufe an den Grenzen ihrer Möglichkeiten angekommen. Hier war die Evolution, zumindest was die weitere Entwicklung des Nervensystems betraf, offensichtlich in eine Sackgasse geraten. Parallel zum Programm der Insekten und aller anderen sogenannten Urmünder hatte sich jedoch bei den sogenannten Neumündern, zu denen wir gehören, be20 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

reits sehr früh ein Programm entwickelt, das die ganze Entwicklung des Organismus anders anfaßte, das der Ausbildung des Nervensystems zumindest potentiell und, wie wir gleich sehen werden, später auch wirklich mehr Spielraum ließ. Von den Vorfahren der Wirbeltiere bis etwa zu den Sauriern und ihren heutigen Verwandten blieb das Gehirn allerdings noch immer relativ fest verdrahtet, ohne daß dies für die heute noch lebenden Eidechsen und Krokodile, die Nachfahren der Saurier, von großem Nachteil wäre. Die genetischen Programme, die die Verschaltungen in ihrem Gehirn lenkten, sind in einem langen Evolutionsprozeß genau für die Bedingungen optimiert worden, unter denen sie noch heute leben. Damit sie auch weiterhin überleben können, darf sich, wie bei den Insekten, an ihrer Lebenswelt, an den Bedingungen, die in ihren jeweiligen ökologischen Nischen herrschen, möglichst nichts ändern. Sie alle haben sich Lebensräume erschlossen, die bis heute weitgehend so geblieben sind, wie sie damals waren. Aber Unveränderlichkeit der äußeren Verhältnisse war und ist die Ausnahme, nicht die Regel auf dieser Erde. Je stärker und je rascher sich diese äußeren Lebensbedingungen änderten, desto weniger waren die Träger von Programmen für die Herausbildung fester, im späteren Leben nicht mehr veränderbarer Verschaltungen zwischen den Nervenzellen ihres Gehirns in der Lage, hinreichend flexibel auf neuartige Herausforderungen ihrer Lebenswelt zu reagieren. Die meisten sind eben nicht deshalb ausgestorben, weil sie von anderen gefressen wurden, sondern, so wie die Saurier, einfach deshalb, weil es irgendwann zu kalt oder zu heiß, zu naß oder zu trocken wurde und sie daher nicht mehr genug zu fressen fanden und ihre Nachkommen nicht mehr hochbrachten. Sie hatten ein zu fest programmiertes Gehirn, um flexibel genug auf derartige Veränderungen reagieren zu können. 21 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Jetzt kam eine großartige Erfindung zum Tragen, von der die Saurier noch nicht in dem Maße profitieren konnten, wie all diejenigen, aus denen später einmal die Säugetiere werden sollten: Mit den ersten Wirbeltieren waren Programme entstanden, die dazu führten, daß das Gehirn bei Gefahr bestimmte Signalstoffe produziert, die in das Blut abgegeben werden und die Produktion und Abgabe von Hormonen durch die Nebennieren anregen. Diese hormonelle Reaktion diente zunächst dem Zweck, die letzten Reserven des Körpers zu mobilisieren, damit er eine bedrohliche Situation übersteht. Es war eine Reaktion für den Notfall. Sie heißt Streßreaktion und hat schon unendlich vielen Lebewesen geholfen, kritische Phasen zu überstehen. Sie wurde bei jeder Gefährdung ausgelöst, also immer dann, wenn in der für das Überleben wichtigen Außenwelt lebensbedrohliche Veränderungen auftraten. Ein Feind oder ein Nahrungskonkurrent ließ sich durch die Aktivierung einer angeborenen Verschaltung und die dadurch ausgelöste Instinkthandlung vielleicht vertreiben. Falls das nicht gelang, konnten andere Nervenbahnen benutzt werden, um sich schleunigst aus dem Staub zu machen. Was passierte aber, wenn die im Gehirn angelegten Verschaltungen so beschaffen waren, daß es mit ihrer Hilfe einfach nicht möglich war, einer plötzlich auftretenden Veränderung der äußeren Lebenswelt mit einer entsprechenden Verhaltensreaktion zu begegnen, wenn neuartige Bedingungen entstanden, sich das Klima veränderte, die Ressourcen knapp wurden? Derartige Veränderungen der äußeren Lebensbedingungen verschwanden meist auch nicht so plötzlich, wie sie gekommen waren. Wenn es immer weniger zu fressen gab, wenn sich die klimatischen Bedingungen immer stärker veränderten, dann wurde aus der kurzen Notfallreaktion ein Dauerstreß. Besonders bekamen das all diejenigen zu spüren, deren Verhalten am wenigsten geeignet war, mit den veränderten Bedingungen umzugehen. Wenn eine Not22 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

fallreaktion zur Dauerreaktion wird, brennen irgendwann irgendwo im Körper die Sicherungen durch. Das war damals ebenso wie heute: Dauerstreß führt zum Untergang, entweder zum Tod durch streßbedingte Erkrankungen (denn die Streßhormone unterdrücken auch die körpereigenen Abwehrkräfte) oder durch streßbedingte Unfruchtbarkeit (denn die Streßhormone unterdrücken auch die Produktion von Geschlechtshormonen). Über unvorstellbar lange Zeiträume hinweg sind so immer wieder diejenigen Nachkommen einer Art an den Folgen von Dauerstreß zugrundegegangen, die kein Rezept fanden, um die in ihrem Gehirn ausgelöste und ihren ganzen Körper erfassende Streßreaktion kontrollierbar zu machen. Die Vorfahren einiger Arten hatten Glück und fanden eine Nische, in der sich die Lebensbedingungen über viele Generationen hinweg nicht mehr allzusehr veränderten. Ihre Nachkommen konnten, so wie die Riesenechsen auf den Galápagosinseln, bleiben, wie sie waren. Die Verschaltungen in ihrem Gehirn und die von ihnen gesteuerten Verhaltensweisen waren optimal zur Bewältigung der Probleme geeignet, die es über Generationen hinweg auf den Galápagosinseln für Riesenechsen gab. Unseren Vorfahren ist es nicht gelungen, sich auf ein kleines, unveränderliches Eiland zurückzuziehen und so zu bleiben, wie sie waren. Sie zählen damit zu denjenigen, deren Überleben als Art von immer wieder auftretenden Änderungen im genetischen Programm ihrer Nachkommen abhing. Hin und wieder hat eine solche Änderung diesen Nachkommen geholfen, sich besser als alle anderen in der sich ständig verändernden Welt zurechtzufinden. Sie hatten deshalb weniger Streß, blieben länger gesund und konnten sich stärker vermehren als ihre Artgenossen mit den alten Programmen. Reichten solche, etwas erweiterten und flexibler gewordenen Verschaltungen in ihrem Gehirn 23 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

aus, um sich in einer immer komplexer werdenden, sich immer stärker verändernden Lebenswelt ohne Dauerstreß zurechtzufinden, war alles gut und die genetischen Programme, die diese Verschaltungen hervorbrachten, blieben wie sie waren. Reichte die Änderung nicht, bekamen die Träger dieser noch immer nicht hinreichend flexiblen Programme früher oder später die Konsequenzen ihrer unzureichenden Anpassungsfähigkeit als dauerhaft aktivierte Streßreaktion zu spüren. Auch sie hatten ab und zu Nachkommen, deren genetische Programme es möglich machten, noch komplexere und noch stärker durch die Art der Nutzung beeinflußbare Verschaltungen der Nervenzellen in ihren Gehirnen auszubilden. So ging es mit ganz kleinen, manchmal auch mit größeren Schritten weiter, aber niemals irgendwohin, sondern immer dorthin, wo wieder einmal zufällig Programme entstanden waren, die ihre Träger dazu befähigten, besser als alle anderen – also ohne Dauerstreß – auf immer vielschichtigere und unvorhersehbarere Änderungen ihrer Lebenswelt reagieren zu können. So entstanden immer lernfähigere Gehirne und damit immer anpassungsfähigere Verhaltensweisen. Der große Lenker, der immer wieder die Richtung dieser Entwicklung bestimmte, indem er all diejenigen auslöschte, die mit ihren zu starren Programmen diesem Weg nicht folgen konnten, war – die allen Wirbeltieren eigene neuroendokrine Streßreaktion. Unser großes lernfähiges Gehirn ist also auf einem unvorstellbar langen Weg entstanden, der von der Angst und dem Leid all derer gezeichnet ist, die sich vergeblich bemüht haben, in einer sich ständig verändernden Welt zu überleben. Jeden kleinen Schritt, den unsere entfernten Ahnen auf diesem Weg vorangekommen sind, haben jene erst mit Dauerstreß und dann mit ihrem Leben bezahlt.

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Das ist noch immer Darwins Ansatz, aber nicht mehr aus der Perspektive derer betrachtet, die sich gern als Darwinisten bezeichnen. Darwin hat sich in viel stärkerem Maß als seine späteren Interpreten gefragt, wie es möglich war, daß bestimmte Merkmale im Verlauf der Evolution wie von Geisterhand gesteuert, scheinbar zielstrebig in eine ganz bestimmte Richtung weiterentwickelt wurden. Er hat auch verstanden, daß im Verlauf der Evolution der höheren Tiere ein komplexes Verhaltensrepertoire immer wichtiger wurde und die weitere Ausformung anatomischer Merkmale zunehmend an Bedeutung verlor. Er hat bereits gesehen, daß diejenigen, die ein ungeeignetes Verhaltensprogramm besaßen, früher oder später aussterben mußten, wenn es ihnen oder ihren Nachkommen nicht gelang, ihr Verhalten an die veränderten Bedingungen anzupassen. Aber Darwin wußte noch nicht, daß die höheren Tiere einen Mechanismus in sich trugen, der den Trägern ungeeigneter Verhaltensprogramme Unfruchtbarkeit und Untergang bescherte. Er konnte nichts von einer neuroendokrinen Streßreaktion wissen, aber er ahnte, daß eine vermeintliche Bedrohung wie auch das vermeintliche Ende einer Gefahr bei Tieren ähnliche Empfindungen auslösen wie bei uns Menschen, daß auch Tiere offenbar die Angst kennen, mit der jede Streßreaktion beginnt, ebenso wie die Erleichterung, die auch wir empfinden, wenn sie aufhört. Diese sonderbaren Gefühle entstehen ja eben dadurch, daß stammesgeschichtlich sehr alte Verschaltungen in unserem Gehirn aktiviert werden. So wie alle Säugetiere Augen haben, mit denen sie sehen können, haben sie auch diese alten Schaltstellen, die, wenn sie erregt werden, eine Empfindung auslösen, die wir Angst nennen, und beim Aufhören dieser Erregung, beim Verschwinden der Angst ein Gefühl der Freude, der Erleichterung zurücklassen.

Ein großes lernfähiges Gehirn ist etwas Feines, aber es hat ein Problem, das wir bereits von unserem Hügel aus erkannt haben. Ist aus einem ehemaligen Feldweg erst einmal eine schöne breite Straße oder gar eine Autobahn geworden, auf der man schnell von hier nach dort kommt, fahren auch viele hier entlang, selbst dann, wenn sie gar nicht dorthin wollen, wohin sie führt. Bis zu den Sauriern gab es nur festgefügte Verschaltungen im Gehirn, deren Abzweigungen, deren Dicke und deren Gabelungen durch ein arteigenes geneti25 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

sches Programm diktiert wurden. Nun haben wir ein Gehirn vor uns, in dem in Abhängigkeit von der Art und der Häufigkeit der Benutzung seiner anfangs noch kaum festgelegten Verschaltungen allmählich einzelne Wege zu Straßen und Autobahnen ausgebaut werden. Die Dicke, die Abzweigungen und Gabelungen dieser Nervenbahnen wurden dabei im Lauf des Lebens jedoch ebenso festgefügt, als wären sie von einem Programm diktiert. Wenn nun eine neue, bisher nicht dagewesene Bedrohung auftrat, saß der Träger eines solchen Gehirns in der gleichen Patsche wie die Dinosaurier im Karbon: Ratlosigkeit, Angst, vergebliche Versuche mit den eingefahrenen Strategien weiterzukommen. Dann Resignation und wieder Angst, Streß, streßbedingte Unfruchtbarkeit und streßbedingte Krankheiten, bis – ja, bis wieder eine kleine Programmänderung auftrat, die die Lösung des Dilemmas ermöglichte: Die Streßhormone, die bis dahin auf alle Körperzellen gewirkt hatten und deren Signal von allen Körperzellen verstanden worden war, die auf irgendeine Weise dazu beitragen konnten, die vorhandenen Reserven des Körpers zur Bewältigung einer Notfallsituation zu mobilisieren, mußten auch auf das Gehirn wirken können. Was gebraucht und gefunden wurde, war eine Programmänderung, die es möglich machte, daß auch die Nervenzellen des Gehirns durch die bei einer fortwährenden Bedrohung ausgeschütteten Streßhormone ihre Eigenschaften veränderten, bisherige Verschaltungen auflösten und sich für neue Verschaltungen öffneten. Unter dem Einfluß der Streßhormone mußten unbrauchbar gewordene Autobahnen zu Straßen und Wegen zurückgebildet werden können. Genau das ist passiert. Irgendwann auf dem Weg von den Sauriern zu den Säugetieren hat diese entscheidende Programmänderung stattgefunden, und seit dieser Zeit ist das Gehirn, sind die dort herausgebildeten Verschaltungen remodellierbar geworden. 26 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Die neuroendokrine Streßreaktion der höheren Wirbeltiere findet sich bereits auf der Stufe der Fische. Atlantische Lachse sterben beispielsweise nach dem Ablaichen an den Konsequenzen einer unkontrollierbaren Streßreaktion. Solange der Paarungs- und Ablaichinstinkt aktiviert ist, wird diese Streßreaktion unterdrückt. Die Lachse merken bis dahin offenbar gar nicht, wie eng es in den Flüssen wird, welches Gedränge dort entsteht und wie wenig Futter es gibt. Sie sterben nicht, wenn sie unmittelbar nach dem Ablaichen aus den Flußoberläufen in das Meer zurückverbracht werden. Leider existiert bisher keine vergleichend stammesgeschichtliche Untersuchung der Expression von Glukokortikoidrezeptoren im ZNS der Wirbeltierreihe. Von welcher Entwicklungsstufe an und in welchen Hirngebieten die bei Streß ausgeschütteten Glukokortikoide direkten Einfluß auf die Genexpression neuraler Zellen nehmen konnten, läßt sich jedoch aus dem Umstand ableiten, daß diejenigen Hirnstrukturen, die bei den Säugetieren derartige Rezeptoren in hoher Dichte exprimieren (limbisches System und Neokortex) erst auf der Stufe der Sauropsiden (Reptilien und Vögel) entstanden sind. Eine weitere Voraussetzung für die Nutzbarkeit eines im Blut zirkulierenden Hormons als Signal für zentralnervöse Anpassungsprozesse ist ein von anderen Außenfaktoren weitgehend unabhängiger Blutkreislauf. Auch die ersten Warmblüter finden sich erst auf der Stufe der Sauropsiden. Eine dritte Voraussetzung für eine optimale Nutzbarkeit streßmediierter zentralnervöser Anpassungsprozesse ist eine verzögerte Hirnentwicklung. Sie wurde in Koevolution mit dem hierfür erforderlichen Brutpflegeverhalten ebenfalls erst auf der Stufe der Vögel und Säugetiere eingeleitet.

Jetzt fängt es an spannend zu werden. Die Streßreaktion ist offenbar nicht nur der große Lenker, der immer wieder dafür gesorgt hat, daß im Lauf der stammesgeschichtlichen Entwicklung genetische Programme stabilisiert wurden, die das Gehirn immer größer und lernfähiger werden ließen. Die Streßreaktion ist auch der große Modellierer, der sogar noch im Lauf unseres Lebens immer wieder dafür sorgt, daß zunächst zwar richtige, sich später aber als Sackgassen erweisende Verschaltungen aufgelöst und neue Wege eingeschlagen werden können. Und in beiden Fällen ist der Auslöser dieser Reaktion die Angst. 27 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Die historische Entwicklung der Streßforschung ist geprägt von faszinierenden Ergebnissen einerseits und konzeptueller Verwirrung andererseits – bis heute existiert kein allgemein akzeptiertes Streßmodell. Der Streßbegriff ist so vielfältig gebraucht worden und in die Umgangssprache eingegangen, daß es heutzutage unerläßlich ist, der Verwendung des Begriffs eine Betrachtung seiner Entstehung und Konzeptualisierung voranzustellen. Trotz widersprüchlicher Ansätze, Ergebnisse und theoretischer Modelle läßt sich die Streßforschung rückblickend in einige wenige wichtige Etappen gliedern. Der eigentlich erste Streßforscher moderner wissenschaftlicher Prägung war Charles Darwin (1809–1882). Obwohl er den Begriff »Streß« selbst noch nicht verwandte, sah er in der Umwelt eine ständige Herausforderung und Bedrohung für Lebewesen jeglicher Art. Seiner Auffassung zufolge erzeugt dieser »Streß« einen Selektionsdruck, der nur die stärksten und bestangepaßten Individuen einer Art überleben läßt. Darwins Überzeugung, daß diese »Selbstoptimierung« einer Art auf genetischer Ebene stattfindet, eben durch Bevorzugung von Individuen mit »besserer« genetischer Anlage, die diese durch Fortpflanzung weitergeben können, findet so eine späte Bestätigung durch die Streßforschung. Es ist wichtig hervorzuheben, daß Darwin die Reaktion eines Individuums auf den »Streß« des Selektionsdruckes als die des ganzen Organismus ansah, bei der Physiologie und Verhalten eine Einheit bilden – eine Auffassung, die erst nach gut einem Jahrhundert von der Streßforschung wieder aufgegriffen wurde und heute fester Bestandteil moderner Streßtheorien ist. Nur wenige Jahre nach Darwin war es der französische Physiologe Claude Bernard, der eine mechanistische Theorie entwarf, die die Streßforschung über Jahrzehnte hinweg dominieren sollte. 1865 beschrieb er den Organismus als eine lebende Maschine, die in dauernder Verbindung mit der Außenwelt steht. Kommt es durch äußere Einflüsse wie zum Beispiel Hitze oder Feuchtigkeit zu einer Störung des »inneren Milieus«, so wird dieses durch »Schutzfunktionen« wiederhergestellt; versagen diese Schutzfunktionen, resultiert Krankheit und Tod. Der amerikanische Physiologe Walter B. Cannon hielt 1914 an Bernards Vorstellungen von der Aufrechterhaltung eines inneren Milieus fest. Er prägte hierfür den Begriff »Homöostase« und führte für die störenden Einflüsse erstmals den Begriff »Streß« ein. Er erkannte als erster die Bedeutung der Katecholamine für die Reaktion des Organismus auf eine Streßbelastung. Ihre vermehrte Ausschüttung befähigt den Organismus zu Kampf oder Flucht (»Notfallreaktion«, Cannon 1914/1932).

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Kaum ein anderer hat die Streßforschung so geprägt wie der kanadische Arzt für experimentelle Medizin Hans Selye. 1936 beschrieb er erstmals die pathogene Wirkung von Streßbelastungen. An Ratten, die er massiven Belastungen (z. B. Hitze, Kälte, Nahrungskarenz, Verletzungen) aussetzte, fand er eine Trias von Organveränderungen: Hypertrophie der Nebennierenrinde, Atrophie und Blutung in Thymus und Lymphknoten sowie Erosionen der Magenschleimhaut. 1946 entwarf er das Modell des »Allgemeinen Adaptationssyndroms«, das eine stereotype und unspezifische Reaktion auf verschiedenste Stressoren darstellt. Einer »Alarmphase« allgemeiner Aktivierung folgt eine »Phase des Widerstandes«, die bei weiterbestehendem Stressor in die »Phase der Erschöpfung« mit den beschriebenen Organveränderungen mündet und zum Tode führen kann. Selye beschrieb als erster die zentrale Funktion der Kortikosteroide bei der Streßantwort und sah sie als das pathogene Agens an. 1971 definierte Selye Streß als die »unspezifische Reaktion des Körpers auf jegliche Beanspruchung«. Zur Unterscheidung von »krankmachendem» versus »gesunderhaltendem» Streß führte er 1974 die Begriffe »Dysstreß« und »Eustreß« ein. Hatte Selye (zumindest in seinen frühen Arbeiten) noch implizit der Vorstellung der inneren Homöostase angehangen – ein gestreßter Organismus bleibt entweder in seinem Zustand oder wird krank –, so wies Tyhurst 1953 darauf hin, daß es neben Wiederherstellung und Krankheit noch eine dritte Möglichkeit gibt, nämlich die der Reorganisation, also Streßbewältigung durch Veränderung des Organismus. Indem er die subjektive Bewertung von Situationsanforderungen als entscheidend für die Streßreaktion eines Individuums darstellte, brachte Lazarus (1966) eine neue Perspektive in die Streßforschung ein, die von Lazarus und Folkman (1984) weiter differenziert wurde. Sie unterschieden zwischen einer »Erstbewertung« (primary appraisal), in der das Individuum ein Ereignis hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die eigene Person einschätzt, einer »Zweitbewertung« (secondary appraisal) als Einschätzung der individuellen Bewältigungsmöglichkeiten und einer dritten Phase der abschließenden »Neubewertung« der Situation. Im Anschluß an die drei Phasen der Bewertung folgt im Modell von Lazarus und Folkman der »Bewältigungsprozeß« (coping). Mason (1971) griff Lazarus’ Überlegungen auf und verlangte eine Streßdefinition, die das »ganze Spektrum interagierender Faktoren« einschließlich Stimuli, Bewertung und Reaktionen beinhaltet. Darüber hinaus zeigte er in zahlreichen Experimenten, daß es keine unspezifische physiologische Streß-

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antwort gibt, sondern in Abhängigkeit vom Streß-Stimulus eine große intra- und interindividuelle Variabilität der neuroendokrinen Antworten besteht. Lazarus (1966) und Mason (1971) wiesen erstmals seit Darwin auf die Wichtigkeit des Verhaltens im Rahmen der Streßantwort hin. Diese Vorstellung wurde durch die Beobachtung erhärtet, daß nicht nur eine belastende Situation selbst, sondern bereits die Antizipation einer solchen zu einer psychoneuroendokrinen Streßreaktion führen kann (Moore-Ede 1986). Moderne integrative Streßtheorien tragen den Ergebnissen früherer Forscher Rechnung und vermitteln eine sehr differenzierte Sichtweise des Phänomens Streß. Ursin und Olff (1993) konstruierten ein dreiteiliges Streßmodell, in dem sie den »Streßstimulus« vom »Streß-bewertenden oder -verarbeitenden System« und der »Streßantwort« unterscheiden. Für die Gesamtheit der Aktivierung eines solchen Prozesses schlug Weiner (1992) den Begriff »Streßerfahrung« (stressful experience) vor. Ursin und Olff (1993) betonten die Notwendigkeit, zwischen zwei Arten der streßbedingten Aktivierung zu unterscheiden. »Phasische Aktivierung« trete bei erfolgreicher Bewältigung auf und gehe mit einer vermehrten Adrenalinausschüttung, Pulsfrequenzanstieg und einer mäßigen Erhöhung des Plasmatestosteronspiegels einher, bei ausbleibender oder erfolgloser Bewältigung gehe diese in »tonische Aktivierung« über, welche nach einiger Zeit zu psychosomatischen Beschwerden führe. In zunehmendem Maß beschäftigten sich auch kognitive Psychologen und Psychoanalytiker mit der Frage, wie psychische Belastungen entstehen und welche Auswirkungen sie auf das Denken, Fühlen und Handeln einer Person haben. Sie entwickelten eine Vielzahl von Theorien über die Ursachen und die Konsequenzen von Angst und psychischen Konflikten. Die diesen psychischen Prozessen zugrundeliegenden neurobiologischen Mechanismen fanden hierbei jedoch nur wenig Beachtung. Das hier vorgestellte Konzept des »Zentralen Adaptationssyndroms« (Hüther 1996) ist der Versuch, eine Brücke zwischen den bisher entweder physiologisch oder aber psychologisch orientierten Streß- und Angstkonzepten zu schlagen. Die dabei vorgenommene strenge Trennung zwischen kontrollierbaren und unkontrollierbaren Streßreaktionen und zwischen deren stabilisierenden oder destabilisierenden Auswirkungen auf die im Gehirn angelegten neuronalen Verschaltungen ist eine modellhafte Überzeichnung, die helfen kann, die beobachtbaren Phänomene besser zu verstehen und mit psychischen Belastungen

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umzugehen. Auch die vorgenommene Fokussierung auf das zentrale noradrenerge System und das adrenokortikale System stellt eine Vereinfachung dar, die der Vielfalt der ebenfalls noch am Streßreaktionsprozeß beteiligten Mechanismen nicht gerecht wird. Das Konzept nimmt eine Neubewertung der Ursachen und Konsequenzen von Angst und Streß vor. Es ermöglicht die Abkehr vom einseitigen Paradigma der Malignität und Pathogenität psychischer Belastungen und beleuchtet die biologische Bedeutung von Angst und Streß für Selbstorganisationsund Anpassungsprozesse. Der Angstbegriff wird in seinem biologischen Zusammenhang etwas weiter gefaßt als beispielsweise in der Affektforschung. Er bezeichnet das initial bei jeder psychogenen Streßreaktion ausgelöste Gefühl, das sich durch die individuelle Erfahrung der Bewältigbarkeit einer bestimmten psychischen Belastung zwangsläufig verändert. Das ursprüngliche Gefühl der Angst verwandelt sich daher in Abhängigkeit von diesen individuell gemachten Erfahrungen zu einem ganzen Spektrum von Gefühlen, die wir aus der Erfahrung der Überwindbarkeit initial empfundener Ängste entwickeln. Sie können das ursprüngliche Gefühl der Angst mehr oder weniger vollständig überdecken und dann als Überraschung, Neugier, Freude oder gar Lust empfunden werden.

Bevor wir uns mit der Frage beschäftigen, in welcher Weise psychische Herausforderungen und Belastungen die Verschaltungen in unserem Gehirn beeinflussen, müssen wir noch einen kurzen Blick auf die Auslöser der Streßreaktion werfen.

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Halt dein Rößlein nur im Zügel, kommst ja doch nicht allzuweit. Hinter jedem neuen Hügel dehnt sich die Unendlichkeit. Nenne niemand dumm und säumig, der das Nächste recht bedenkt. Ach, die Welt ist so geräumig, und der Kopf ist so beschränkt. Wilhelm Busch

Sackgassen Wer kennt nicht dieses sonderbare Gefühl, das sich immer dann einstellt, wenn wir nicht mehr weiter wissen. Wir spüren es, wenn wir eine schwere Prüfung zu bestehen haben, wenn uns der Chef mit Entlassung droht, wenn ein liebgewonnener Mensch uns verläßt oder mit unerfüllbaren Wünschen und Erwartungen an uns herantritt. Es ist ein Gefühl, das aus dem Bauch zu kommen scheint und sich bis in die Haarwurzeln ausbreitet. Wenn es ausgelöst wird, fängt unser Herz an zu rasen und der Pulsschlag pocht in unseren Ohren. Wir bekommen feuchte Hände, müssen aufs Klo, fühlen uns schlecht, ohnmächtig, alleingelassen und hilflos. Das ist die Angst, die wir als dieses sonderbare Sammelsurium von angstbegleitenden Reaktionen erleben. Wir fühlen, daß etwas in uns plötzlich in Gang gesetzt wird und unseren ganzen Körper überflutet, ohne daß wir uns dagegen wehren können. Zunächst nehmen wir etwas wahr, was wir eigentlich nicht erwartet hatten. Als nächstes stellen wir fest, daß das, was da unerwarteterweise passiert ist, bedrohliche Ausmaße anzunehmen scheint. Jetzt beginnen die Alarmglocken in unserem Gehirn zu läuten. Wir fangen an, verzweifelt nach einer Lösung zu suchen, eine irgendwo zwischen unseren Milliarden von Nervenzellen angelegte Ver33 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

schaltung für eine Verhaltensstrategie zu aktivieren, die uns geeignet scheint, die Bedrohung irgendwie abzuwenden, das Problem zu lösen, die Situation zu bereinigen. Falls wir so etwas finden, werden die Alarmglocken schon etwas leiser. Wir machen das, was uns in dieser Situation als richtig erscheint. Wenn sich herausstellt, daß das genau das Richtige war, hören die Alarmglocken auf zu dröhnen. Uns fällt ein Stein vom Herzen. Schwein gehabt! Das, was wir da erlebt haben, war eine kontrollierbare Streßreaktion. Sie beginnt immer damit, daß eine Information ganz oben in unserem Gehirn, wo alle Fäden zusammenlaufen, in der Hirnrinde, ankommt, die in dieser Situation, zu diesem Zeitpunkt oder in dieser Weise nicht erwartet wurde. Die eingehende Information stört die dort in der üblichen Routine ablaufenden Prozesse ganz genauso wie ein Fremder, der plötzlich in die laufende Unterrichtsstunde hereinstürmt, der Lehrerin eine Ohrfeige gibt und wortlos wieder verschwindet. Im Nu ist die ganze Klasse in Aufregung, die Lehrerin geht zum Direktor und wie ein Lauffeuer breitet sich die Information in der gesamten Schule aus. Im Gehirn führt die oben entstandene Aufregung dazu, daß auch tiefer gelegene Nervenzellen von der sich ausbreitenden Erregung mit erfaßt werden. Sie erreicht so auch eine Gruppe von Nervenzellen mit sehr langen, vielfach verzweigten Fortsätzen, die ihrerseits wieder hinauf in alle höher gelegenen Hirnregionen reichen und die dort ablaufenden Prozesse beeinflussen. Wenn diese Zellen mit ihrem Gestrüpp von Fortsätzen zu feuern anfangen, wird das gesamte Gehirn sozusagen wachgerüttelt – höchste Alarmstufe. In Sekundenbruchteilen werden alle gespeicherten Informationen abgesucht, gleichzeitig wird über Nervenfortsätze, die in alle Regionen des Körpers ziehen, ebenfalls Alarm geschlagen. Jedes Organ versteht dieses Signal sofort. Die Nebennieren entleeren ihre Vorräte an Adrenalin, 34 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

dem bekanntesten Streßhormon, in das vorbeifließende Blut. Das Herz beginnt wie wild zu schlagen, die Blutgefäße werden eng gestellt, die Muskulatur zum Sprung vorbereitet, Energiereserven der Leber mobilisiert, die Pupillen weit aufgemacht und – so man welche hat – richten sich sogar die Haare auf, wie bei einem Hund, dem sich bei Erregung das Fell sträubt. Die stammesgeschichtlich älteren Anteile und Mechanismen der neuroendokrinen Streßreaktion des Menschen sind weitgehend mit denen aller anderen Säugetiere identisch. Die Wahrnehmung neuartiger und durch assoziative Verarbeitung als bedrohlich eingestufter Reizkonstellationen geht mit der Generierung eines unspezifischen Aktivitätsmusters in assoziativen kortikalen und subkortikalen Strukturen einher. Eine besondere Rolle spielt hierbei der präfrontale Kortex, eine Region, die insbesondere für die Interpretation sensorischer multimodaler Eingänge und für antizipatorische Phänomene verantwortlich ist. Die Aktivierung dieser assoziativen Kortexareale bewirkt die Generierung eines charakteristischen Aktivierungsmusters im limbischen System. Innerhalb des limbischen Systems ist die Amygdala von besondere Bedeutung, da hier die eingehenden Erregungsmuster durch Aktivierung angeborener, phylogenetisch alter neuronaler Netzwerke mit einer affektiven Qualität versehen werden. Durch absteigende Projektionen insbesondere zu den noradrenergen Kerngebieten im Hirnstamm kommt es zur Stimulation des peripheren sympathischen und adrenomedullären (SAM) Systems. Aufsteigende Fasern der im Locus coeruleus und im Hirnstamm lokalisierten noradrenergen Neurone verstärken die Aktivierung im Bereich der Amygdala und der hypothalamischen Kerngebiete, sowie – über Aktivierung mesokortikaler dopaminerger Projektionen – im Bereich des präfrontalen Kortex. Auf diese Weise entsteht ein sich aufschaukelndes Erregungsmuster zwischen Kortex, limbischem System und den zentralen noradrenergen Kerngebieten, das – wenn es nicht durch andere Eingänge unterdrückt wird – zur Aktivierung der neurosekretorischen Zellen im Nucleus paraventricularis und damit zur Stimulation des hypothalamo-hypophyseo-adrenokortikalen (HPA) Systems führt. (Die während der Aktivierung des hypothalamo-hypophyseotropen Systems stattfindenden Teilprozesse, die Bedeutung intra- und extrahypothalamischer Freisetzung von insbesondere CRF und Vasopressin, die Regulation der Ausschüttung dieser Signalstoffe durch limbi-

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sche, kortikale und andere Eingänge, die Beteiligung noradrenerger und anderer Transmittersysteme an diesen Aktivierungsprozessen, die Stimulation der ACTH-Freisetzung, die Ursachen und Auswirkungen der damit einhergehenden vermehrten Bildung und Abgabe von Endorphinen, die durch ACTH und andere Faktoren ausgelöste Stimulation der adrenokortikalen Glukokortikoidsekretion sowie die auf den verschiedenen Ebenen dieser Kaskade wirksamen Kontroll- und Regelmechanismen sind an anderer Stelle ausführlich beschrieben, vgl. Hüther 1996.) Das noradrenerge System wird bereits durch neuartige, unerwartete Stimuli aktiviert, also auch durch Stressoren, die mit keiner oder einer nur schwachen Aktivierung der HPA-Achse einhergehen. Zu einer derartigen kontrollierbaren Streßreaktion kommt es immer dann, wenn zwar Verhaltens- (incl. Verdrängungs-) Strategien zur Vermeidung oder Beseitigung des Stressors verfügbar sind, die Effizienz dieser Mechanismen jedoch (noch) nicht ausreicht, um die aufgetretene Anforderung durch eine zur Routine gewordene Reaktion zu bewältigen und die Aktivierung einer Streßreaktion zu verhindern. Derartige kontrollierbare Belastungen führen zu einer präferentiellen Aktivierung des zentralen noradrenergen und des peripheren SAM-Systems und (wenn überhaupt) nur zu einer kurzzeitigen Stimulation der HPA-Achse.

Manchmal ist die aufgetretene bedrohliche Situation so oder so ähnlich noch nie dagewesen. Dann funktioniert nicht einmal das noch, was sonst als letzter Ausweg immer funktioniert hat, nämlich entweder den Kopf in den Sand zu stecken und so zu tun, als merke man nichts, oder aber wegzulaufen, bis man alles hinter sich gelassen hat. Dann, wenn alle Wege blockiert oder verbaut sind, gehen zusätzlich zu den Alarmglocken noch die Sirenen an. Jetzt ist es vorbei mit aller Kontrollierbarkeit, und der Angstschweiß tropft uns von der Stirn. In unserem Gehirn ist der Teufel los, alles geht durcheinander. Verschaltungen, die sonst nie von dem berührt werden, was wir im gewöhnlichen Leben machen und denken, werden auf einmal auch noch in Erregung versetzt. Sie sondern Substanzen ab, die mit dem vorbeiströmenden Blut in eine Drüse an der Unterseite des Gehirns transportiert werden. Diese Substanzen bewir36 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

ken, daß von den Zellen dieser Hirnanhangdrüse ein Hormon ausgeschüttet wird. Das gelangt mit dem vorbeifließenden Blut zu den Nebennieren, und die schütten nun große Mengen eines weiteren Streßhormons aus, das Kortisol heißt und viel tiefergreifende und weiterreichende Wirkungen hat als das Adrenalin. Aus der anfänglichen Angst wird Verzweiflung, Ohnmacht und Hilflosigkeit. Die im Körper ablaufende Streßreaktion ist nicht mehr anzuhalten, sie ist unkontrollierbar geworden. Vergeblich suchen wir noch immer nach einer Lösung oder warten darauf, daß ein Wunder geschieht und alles wieder so wird, wie es vorher war. Da solche Wunder selten geschehen, bleibt uns schließlich nichts anderes übrig, als uns in unser Schicksal zu fügen. Wir sind von Selbstzweifel geplagt und merken, wie die andauernde Belastung unsere Energiereserven aufzehrt, fühlen uns müde, kraft- und mutlos. Erschöpft fallen wir abends ins Bett, um am nächsten Morgen mit dem gleichen unguten Gefühl aufzuwachen, mit diesem sonderbaren Gefühl gleichzeitiger Unruhe und Lähmung, und wir ahnen, daß etwas passieren muß, damit diese unkontrollierbare Streßreaktion irgendwann aufhört, daß wir verloren sind, wenn wir keinen Ausweg finden. Jede Reaktion auf einen psychischen Stressor beginnt mit einer unspezifischen Aktivierung kortikaler und limbischer Hirnstrukturen, die zur Stimulation des zentralen und peripheren noradrenergen Systems führt (»arousal«). Sobald im Zuge dieser unspezifischen Aktivierung eine Möglichkeit zur Lösung der betreffenden Anforderung gefunden wird, kommt es mit der Aktivierung der an dieser Verhaltensreaktion beteiligten neuronalen Verschaltungen zum Erlöschen der initialen unspezifischen Aktivierung. Vor allem die verstärkte Ausschüttung von Noradrenalin in den initial aktivierten kortikalen und limbischen Hirnregionen führt zu einer ganzen Reihe von funktionellen und metabolischen Veränderungen in Nerven- und Gliazellen, die direkt oder indirekt zur Stabilisierung und Bahnung der in die Antwort involvierten neuronalen Verschaltungen beitragen. Wenn eine Belastung auftritt, für die eine Person keine Möglichkeit einer Lösung durch ihr eigenes Handeln sieht, an der sie

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mit all ihren bisher erworbenen Reaktionen und Strategien scheitert, so kommt es zu einer sogenannten »unkontrollierbaren Streßreaktion«. Sie ist durch eine langanhaltende Aktivierung kortikaler und limbischer Strukturen sowie des zentralen und peripheren noradrenergen Systems gekennzeichnet, die sich wechselseitig so weit aufschaukelt, daß es schließlich auch zur Aktivierung des HPA-Systems mit einer massiven und lang anhaltenden Stimulation der Kortisolausschüttung durch die Nebennierenrinde kommt. Solche unkontrollierbaren Belastungen haben andere, weiterreichende Konsequenzen auf die im Gehirn angelegten Verschaltungen als die soeben beschriebenen kontrollierbaren Streßreaktionen. Der Nachweis von Glukokortikoidrezeptoren im Gehirn hat den Blick für ein Phänomen geschärft, das bisher in der Streßforschung kaum beachtet wurde: Das Gehirn ist nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch ein wichtiges Zielorgan der Streßreaktion. Mit der schrittweisen Aufklärung der an der Auslösung der neuroendokrinen Streßreaktion beteiligten Mechanismen ist darüber hinaus deutlich geworden, daß die durch einen Stressor im ZNS selbst ausgelösten Reaktionen (z. B. verstärkte Katecholaminausschüttung im Zuge der Aktivierung noradrenerger Kerngebiete, vermehrte Ausschüttung von CRF und Vasopressin durch intra- und extrahypothalamische Axone, z. B. der Amygdala oder des Nucleus paraventricularis, Stimulation der Endorphinausschüttung z. B. durch ACTH produzierende Zellen der Adenohypophyse) in der Lage sind, die während der Streßreaktion ablaufenden zentralnervösen Verarbeitungsprozesse auf vielfältige Weise zu beeinflussen. Auch die streßinduzierte Stimulation des sympathischen Nervensystems und der Ausschüttung von Noradrenalin und Adrenalin aus dem Nebennierenmark hat eine ganze Reihe direkter und indirekter Effekte auf das ZNS. Sie reichen von Änderungen der Hirndurchblutung über die vermehrte Bereitstellung von Substraten für den Energiestoffwechsel bis hin zu Änderungen der Verfügbarkeit von Vorstufen für die Katecholamin- und Serotoninsynthese. Durch ansteigende Spiegel zirkulierender Glukokortikoide kommt es nicht nur zu einer direkten Aktivierung von Glukokortikoidrezeptoren im ZNS mit weitreichenden und oft langfristigen Konsequenzen für die Funktion der betreffenden Nerven- und Gliazellen. Auch indirekte, Glukokortikoid-vermittelte periphere Effekte (Abfall der Sexualhormonspiegel, Suppression der Synthese und Ausschüttung von Mediatoren der intrazellulären Kommunikation wie Prostaglandine und Zytokine, Änderungen der Substratversorgung etc.) können die

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Funktion des ZNS während einer Streßbelastung auf vielfältige Weise beeinflussen. Welche dieser Mechanismen im Verlauf einer Streßbelastung aktiviert und welche langfristigen Veränderungen dadurch ausgelöst werden, hängt von der Art der Belastung ab, der sich eine bestimmte Person ausgesetzt sieht, also von der individuellen Bewertung der Kontrollierbarkeit des Stressors. Zu einer kontrollierbaren Streßreaktion kommt es immer dann, wenn die bisher angelegten Verschaltungen zwar prinzipiell zur Beseitigung der Störung geeignet, aber noch nicht effizient genug sind, um diese vollständig und gewissermaßen routinemäßig zu beantworten. Eine derartige Streßbelastung ist besser mit dem Begriff »Herausforderung« zu beschreiben. Zu langanhaltenden Aktivierungen der HPA-Achse und zu langfristigen Erhöhungen zirkulierender Glukokortikoidspiegel kommt es immer dann, wenn die Streßbelastung sich als unkontrollierbar erweist, das heißt, wenn keine der vorhandenen Verhaltens- (incl. Verdrängungs-)strategien auch nur ansatzweise geeignet ist, das ursprüngliche Gleichgewicht wiederherzustellen. Bei Versuchstieren beobachtet man unter diesen Bedingungen ein Phänomen, das »behavioural inhibition« genannt wird. Die wiederholte Konfrontation mit verschiedenen unkontrollierbaren Stressoren führt zu einem Zustand von »learned helplessness« und dient als Tiermodell für streßinduzierte Erkrankungen.

Wir kennen nun die beiden Arten von Streßreaktionen, die eine, die nur kurze Zeit dauert, die wir noch anhalten, kontrollieren können, weil wir eine Lösung finden, und die andere, die Tage oder gar Wochen anhält, weil uns nichts einfällt, um eine als Gefahr und Bedrohung eingeschätzte Veränderung in unserer Lebenswelt abzuwenden, oder weil alles, was uns dazu einfällt, nicht machbar ist, nicht funktioniert. Das Anfangsgefühl ist in beiden Fällen Angst. Nicht nur ein bißchen, sondern ganz und gar verschieden sind jedoch die sowohl im Gehirn als auch im Körper im Verlauf dieser Reaktionen ausgelösten Veränderungen, ihre Dauer und deshalb auch die Auswirkungen beider Arten von Streßreaktionen auf das Gehirn und den Körper. Wenn sich eine Belastung als kontrollierbar erweist, kehrt sich plötzlich alles um, aus einer Bedro39 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

hung wird eine Herausforderung, aus Angst wird Zuversicht und Mut, aus Ohnmacht wird Wille, und am Ende, wenn wir es geschafft haben, spüren wir, wie unser Vertrauen in das, was wir wissen und können, gewachsen ist. Wir sind stolz und zufrieden, froh und ein bißchen glücklich. Ganz anders wandeln sich unsere Gefühle, wenn wir erkennen müssen, daß wir keine Möglichkeit finden, eine drohende Gefahr rechtzeitig abzuwenden. Dann schlägt die Angst um in Wut und Verzweiflung, die anfängliche Ratlosigkeit wächst zu anhaltender Ohnmacht, die leichte Verunsicherung wird zu quälendem Zweifel. Unser Selbstvertrauen schwindet, uns verläßt der Mut, wir fühlen uns elend und verzweifelt, unzufrieden und unglücklich. Es ist bemerkenswert, wie viele Worte wir haben, um all die Veränderungen unserer Gefühle zu beschreiben, die wir erleben, wenn die am Beginn der Streßreaktion stehende Angst entweder verschwindet oder größer wird. Weshalb sollte ein Hase, dem es gelungen ist, den ihm nachhetzenden Hunden zu entkommen, nicht ebenso erleichtert, froh, glücklich und zufrieden sein wie wir nach einer bestandenen Prüfung? Warum fallen uns Worte wie Verzweiflung, Ohnmacht, Wut und Resignation nicht ein, um zu beschreiben, was ein Schwein empfindet, wenn es zum Schlachthof abtransportiert wird? Alles, was wir bei diesem Schwein messen können, angefangen von den veränderten Hirnströmen bis zu den ansteigenden Streßhormonspiegeln im Blut, zeigt uns, daß es die gleiche unkontrollierbare Streßreaktionen erlebt wie wir, wenn wir hilflos zusehen müssen, wie . . . ja, was eigentlich? Was muß eigentlich passieren, um bei uns ein Gefühl der völligen Hilflosigkeit auszulösen? Die Antwort auf diese Frage ist gleichzeitig eine Antwort auf die Frage nach der Übertragbarkeit unserer Gefühle nicht nur auf Tiere, sondern auch auf andere Menschen. Der Engländer würde sagen: »It depends . . . «, 40 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

und das stimmt, denn es sind die Vorerfahrungen, die jeder einzelne im Lauf seines Lebens gemacht hat, die bestimmen, wie er eine plötzlich auftretende Veränderung seiner Lebenswelt interpretiert. Was von dem einen als unkontrollierbare Bedrohung empfunden wird, kann für den nächsten eine willkommene Herausforderung darstellen. Bei einem Einzelgänger wie unserem Hasen löst nur das, was sein eigenes Überleben und seine Fähigkeit bedroht, einen Partner zur Fortpflanzung zu finden, eine unkontrollierbare Streßreaktion aus. Für sozial organisierte Säugetiere wie die Schweine ist bereits die Abtrennung von der Herde eine unkontrollierbare Bedrohung. Für den Menschen, dessen gesamter Erfahrungsschatz von Geburt an durch soziale Faktoren, durch das Verhalten anderer Menschen geprägt ist, kann jede nur denkbare Veränderung seiner Beziehungen zu anderen Menschen unkontrollierbare Angst auslösen. Der Verlust einer nahestehenden Person ebenso wie ihre dauernde Anwesenheit, zunehmende Entfernung ebenso wie bedrohliche Annäherung, zu viel Kälte ebenso wie zu viel Wärme, zu viel Verantwortung ebenso wie zu wenig Vertrauen . . . die Liste ist unendlich viel länger als etwa bei Schweinen oder selbst bei unseren nächsten Verwandten, den Affen. Aber es geht noch weiter. Unser Gehirn kann nicht nur äußerst subtile Veränderungen des sozialen Beziehungsgeflechts in dem wir leben wahrnehmen. Besonders einschneidende Erlebnisse mit anderen Menschen werden über lange Zeit gespeichert, deshalb kann auch die Erinnerung an eine erlebte Erniedrigung, an ein schweres Versagen, an eine Vergewaltigung unseres Willens zu einer fortgesetzten oder bei geringfügigen Anlässen immer wieder aufflammenden unkontrollierbaren Belastung werden. Noch eine andere Fähigkeit unterscheidet uns von Affen und anderen Tieren. Aus all den Erfahrungen, die 41 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

wir im Leben machen und von denen andere Menschen uns berichten, entstehen in unserem Gehirn Vorstellungen darüber, wie nicht nur wir, sondern wie auch die Welt um uns herum sein sollte, wie sie so geworden ist, wie sie ist, und was aus ihr und aus uns wird, wenn wir sie verlassen haben. Es sind Ideen und Hypothesen, deren Gültigkeit keiner überprüfen kann, an denen wir jedoch, so gut es geht, festhalten, an die wir glauben. Jede Erschütterung dieser Vorstellungen durch das, was wir täglich erleben, bedeutet eine Bedrohung und wird, ganz so, als ob uns jemand seinen Revolver in den Nakken drückte, zum Auslöser einer unkontrollierbaren Streßreaktion. Schließlich hat nur der Mensch so viel Phantasie, daß er sich Ereignisse lediglich vorzustellen braucht, um eine schwere Streßreaktion auszulösen. Schweißgebadet wacht er auf und ist froh, daß alles nur ein Alptraum war oder er merkt, daß er den Fernseher ausschalten oder den Krimi weglegen kann. Vieles spricht dafür, daß die an Versuchstieren gewonnenen Vorstellungen über die Mechanismen der zentralnervösen Aktivierung der neuroendokrinen Streßantwort in ihren Grundzügen auch für den Menschen gelten. Die Besonderheiten der Streßreaktion beim Menschen ergeben sich aus der enormen Ausdehnung des assoziativen Kortex und der daraus resultierenden Fähigkeit zur langfristigen Speicherung äußerst komplexer Gedächtnisinhalte, zur Bewertung und Kontrolle von Emotionen und zur Steuerung situationsgerechten Verhaltens. Wichtige, die Streßantwort bestimmende Faktoren, die von der tierexperimentellen Streßforschung erst in den letzten Jahren erkannt wurden, etwa die Bedeutung der Vorerfahrung eines Individuums mit einem bestimmten Stressor, das Ausmaß der von einem Individuum empfundenen Kontrollierbarkeit eines Stressors oder der Einfluß von sozialen Faktoren (»social support«, »social status«) auf die Streßantwort, spielen beim Menschen eine weitaus größere Rolle als bei Versuchstieren und sind entscheidend für die enorme interindividuelle Varianz seiner Streßantwort. Eine Frage, mit der sich die experimentelle Streßforschung bisher kaum beschäftigt hat, ist die nach den normalen Auslösern und der Häufigkeit der Aktivierung der Streßreaktion

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unter den jeweiligen, artspezifischen Lebensbedingungen. Bei allen sozial organisierten Säugetieren und insbesondere beim Menschen ist psychosozialer Konflikt die wichtigste und häufigste Ursache für die Aktivierung der Streßreaktion, die leicht unkontrollierbar werden kann. Besonders betroffen sind Individuen mit einem unzureichend entwickelten Repertoire an sozialen Verhaltens-(Coping-)Strategien. Aber auch rasche, unerwartete Veränderungen des sozialen Rahmens, für den erfolgreiche Coping-Strategien entwickelt wurden, etwa Veränderungen des sozialen Beziehungsgefüges durch Verlust eines Partners oder durch einen raschen Wandel kultureller und sozialer Normen, sind Ursachen für unkontrollierbare Belastungen der betroffenen Personen. Eine weitere häufige Ursache für unkontrollierbaren Streß ist die Unerreichbarkeit von vorgestellten Zielen und die Unerfüllbarkeit von als zwingend empfundenen Bedürfnissen und Wünschen innerhalb des gegebenen soziokulturellen Kontextes. Ebenso wie ein Defizit an relevanter Information die Ursache für inadäquates Verhalten und damit psychosozialen Streß darstellt, kann auch ein Informationsüberschuß zu Handlungsunfähigkeit und damit einhergehenden unkontrollierbaren Streßbelastungen führen, weil es nicht gelingt, die vorhandenen Informationen hinsichtlich ihrer aktuellen Relevanz zu klassifizieren. Schließlich ist nur der Mensch aufgrund seiner assoziativen Fähigkeiten in der Lage, sich ein Szenario vorzustellen, das eine Streßbelastung nicht nur beinhaltet, sondern die entsprechende neuroendokrine Reaktion tatsächlich auslöst. Da das furchterregende Szenario nur in der Vorstellungswelt existiert, ist keine adäquate Reaktion möglich und eine unkontrollierbare Streßreaktion unausweichlich.

Faszinierend ist auch die Fähigkeit so vieler Menschen, ihre Ängste zu verleugnen und sich einzubilden, sie hätten alles im Griff. Auf die Frage, wovor sie eigentlich Angst haben, antworten sie meist nur mit einem Achselzucken. Sie behaupten, sie hätten keine Angst, jedenfalls hier und jetzt nicht, und sie könnten sich auch kaum erinnern, jemals richtige Angst empfunden zu haben. Manchen fallen noch irgendwelche Erlebnisse ein, wie die riesige Spinne, die dem einen bei der Suche nach den besten, meist zuunterst liegenden Bananen im Supermarkt vor drei Jahren entgegengesprungen war, oder die Strömung, die einen anderen damals 43 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

während der Sommerferien beim Schwimmen an der Atlantikküste erfaßt und um ein Haar ins Meer hinausgezogen hätte. Aber die Erfahrung habe sie klug gemacht, so beeilen sie sich hinzuzufügen, sie buddelten seither nicht mehr so tief im Bananenregal herum oder schwämmen nicht mehr so weit ins Meer hinaus. Deshalb hätten sie nun auch keine Angst mehr, meinen sie. Zwingt man sie jedoch, darüber nachzudenken, was ihrer Meinung nach sehr schnell dazu führen würde, ihnen dieses schöne Gefühl der Angstfreiheit zu nehmen, herrscht zunächst nachdenkliches Schweigen, aber dann kommen die Antworten wie aus der Pistole geschossen: Es wäre furchtbar, wenn plötzlich kein Geld mehr da wäre, um die Familie zu versorgen, wenn sie eine unheilbare Krankheit bekämen, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlören, wenn der Partner sie verließe, die Kinder drogenabhängig würden, wenn die Klimakatastrophe käme, ein Atomreaktor in der Nähe explodierte, die Wirtschaft zusammenbräche und was sonst noch alles. Es ist auffällig, daß besonders Männer diese Fähigkeit zur Nichtwahrnehmung ihrer Ängste bis zur Perfektion entwickelt haben. Entweder sind die Verschaltungen, die das Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, bei Frauen bereits von Geburt an subtiler und komplexer als bei Männern, oder Männer gewinnen im Lauf ihres Lebens eine festere Überzeugung als Frauen, ihre Ängste durch den Einsatz ganz bestimmter Strategien beherrschen zu können. Bereits bei Kindern, besonders gut bei Jungen, läßt sich beobachten, wie sie jeden Trick, den sie finden, um ihre Angst kontrollierbar zu machen, immer und immer wieder ausprobieren. Ein Junge, der dafür bewundert wird, daß er auf hohe Bäume klettert, kann so schnell zu einem Klettermax, einer, der seine ersten Erfolge bei Computerspielen erntet, leicht zu einem versessenen Computerfreak werden. Während seine Spielkameraden noch 44 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

ängstlich einen Bogen um den hohen Baum oder die ungeheure Maschine machen, ist die ursprüngliche Angst bei einem solchen Kind bereits längst in ein Gefühl freudiger Erwartung, Spannung und Neugier umgeschlagen. Wer so bestimmte Fähigkeiten entwickelt, weil er immer wieder feststellt, wie sich durch die Bewunderung und Anerkennung anderer Menschen eigene Sicherheit gewinnen läßt, der hat tatsächlich irgendwann keine Angst mehr – freilich nur so lang, wie sich an den bisherigen Gegebenheiten nichts ändert. Beginnen die so erfolgreich eingesetzten Strategien ihre Wirkung zu verfehlen, oder bröckeln Teile der so sicher geglaubten Bühne ab, auf der die bisherige Vorstellung so prima funktionierte, dann kommt die alte Angst wieder hervorgekrochen. Wehe dem, der ihr jetzt nichts besseres entgegenzusetzen hat, als auf Bäume zu klettern oder mit Computern zu spielen.

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Wer nichts weiß, liebt nichts. Wer nichts tun kann, versteht nichts. Wer nichts versteht, ist nichts wert. Aber wer versteht, der liebt, bemerkt und sieht auch . . . Je mehr Erkenntnis einem Ding innewohnt, desto größer ist die Liebe . . . Wer meint, alle Früchte würden gleichzeitig mit den Erdbeeren reif, versteht nichts von den Trauben. Paracelsus

Auswege Kinder sind noch nicht in der Lage zu erkennen, von wie vielen Voraussetzungen ihr Überleben tatsächlich abhängt. Sie kennen einige, und meinen, das seien alle. Sie erleben die Angst immer erst dann, wenn sie eine konkrete bedrohliche Veränderung in ihrer kleinen Lebenswelt wahrnehmen, und sie können die damit einhergehende Streßreaktion durch eine ebenso einfache wie lautstarke Reaktion kontrollierbar machen. Jedes Kind und jeder Erwachsene, der im Lauf seines Lebens einen immer komplexer werdenden Lebensbereich für sich erschließt, stellt irgendwann fest, daß sein »Überleben«, daß die Erhaltung seiner körperlichen, geistigen und emotionalen Integrität von immer mehr und immer schlechter kontrollierbaren Voraussetzungen abhängig wird. Er ist gezwungen, nach Auswegen zu suchen, die geeignet sind, dieser wachsenden Angst zu begegnen. Der am häufigsten eingeschlagene Weg, nämlich der Versuch, all das nicht wahrzunehmen, was Angst auslösen könnte, ist leider eine Sackgasse. Man spaziert mühelos hinein, freut sich noch eine Zeitlang über die Tatsache, daß es hier keine Warnschilder und Schlag47 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

löcher mehr gibt, bis man irgendwann dort ankommt, wo es nicht mehr weitergeht, jedenfalls nicht mehr so wie bisher. Die dann zwangsläufig ausgelöste unkontrollierbare Streßreaktion läßt einem nur noch die Wahl zwischen Selbstzweifel und Neuanfang oder Impotenz und Krankheit. Auf lange Sicht ist das Nichtwahrnehmenwollen real existierender Gefährdungen und Bedrohungen offenbar kein geeigneter Weg zur Bewältigung der Angst. Kein Tier ist in der Lage, die Angst so lange und hartnäckig zu verdrängen wie der Mensch, und wenn es jemals so ein Lebewesen gegeben hätte, so wäre es mitsamt seinem ungeeigneten Programm längst ausgestorben. Es gibt geeignetere Strategien zur Bewältigung der Angst und die lassen sich sogar schon bei Tieren beobachten. Das Lieblingstier der Streßforscher, die Laborratte, hat schon manchen Vertreter dieser Zunft zur Verzweiflung gebracht. Über viele Generationen haben die Züchter dieser Rattensorte immer wieder nur diejenigen Tiere verpaart, die besonders »pflegeleicht« waren, die sich durch so gut wie nichts aus der Ruhe bringen ließen, nicht bissen, nicht wild umhersprangen und sich nicht wehrten, wenn man sie aus ihren Käfigen nahm und mit ihnen alle möglichen und unmöglichen Versuche anstellte. Die heutigen Nachfahren der durch diese besondere Art von Zuchtwahl entstandenen Laborratten zeichnen sich durch stoische Ruhe, unendliche Geduld und größte Zutraulichkeit aus. Um an derartigen Ratten Streßreaktionen untersuchen zu können, muß man sich schon einiges einfallen lassen. Heiße Platten, Elektroschocks, kaltes Wasser, Festbinden – alles haben unsere Streßforscher ausprobiert und alles funktionierte einmal, zweimal, vielleicht auch dreimal hintereinander, aber dann war Schluß. Keine Streßreaktion mehr. Feierabend. Selbst Laborratten spielen irgendwann nicht mehr mit, denn eines können sie noch: Sie können noch lernen, und sie können 48 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

sich merken, daß diese ganze Quälerei nicht ewig dauert, daß sie bald überstanden ist und daß sie ihr Leben nicht wirklich bedroht. Aber wie soll man eine unkontrollierbare Streßreaktion messen, wenn sie bei jeder gleichartigen Belastung immer kontrollierbarer wird? Die exakteste Meßapparatur ist unnütz, wenn sich die Ratte von Versuch zu Versuch verändert. Das Blatt hatte sich gewendet. Nun saßen die Streßforscher ratlos vor ihren unerwarteten Ergebnissen, bis ihnen irgendwann einfiel, was sie eigentlich hätten wissen müssen: Daß die bisher im Lauf des Lebens gemachten Erfahrungen, daß das erworbene Wissen im Umgang mit einer ganz bestimmten Bedrohung ausschlaggebend dafür ist, wie jemand (auch eine Ratte) auf eine plötzlich erneut auftretende, gleichartige Gefährdung reagiert. Bei Kleinkindern kann man besonders eindrucksvoll miterleben, welches immense Geschrei sie anfangs machen, wenn sie für einen Augenblick alleingelassen werden. Das ist ihre Lösung, um eine unkontrollierbare Streßreaktion abzuwenden. Jede Mutter weiß das und spielt deshalb tage- und wochenlang ein und dasselbe Spiel des kurzzeitigen Verschwindens und Wiederauftauchens. Sie merkt, wie die Angst ihres Babys bei jedem Verschwinden abnimmt und seine Sicherheit mit der Erfahrung wächst, daß selbst so etwas Bedrohliches wie der plötzliche Verlust der Mutter doch irgendwie kontrollierbar ist. Jeder von uns hat im Lauf seines Lebens seine eigenen Erfahrungen gemacht. Er hat gelernt, was er tun kann, um bestimmte Probleme und Schwierigkeiten zu meistern oder wenigstens auszuhalten. Jeder von uns weiß auch recht genau, mit welchen Anforderungen und Belastungen er besonders schlecht umgehen kann. Manche Menschen haben erstaunlich feine Antennen ausgebildet, um solche Situationen bereits sehr früh zu erkennen, und wenden äußerst raffinierte Strategien an, um die auf sie zukommenden Schwierigkei49 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

ten bereits im Vorfeld abzubiegen oder sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen. Wie weit es ein einzelner Mensch in dieser Hinsicht schon gebracht hat, hängt – wie bei der Ratte – davon ab, mit welchen Anlagen er auf die Welt gekommen ist, welche bedrohlichen Situationen er im Lauf seines Lebens auszustehen hatte und wie er sie bewältigen konnte. Jeder, der mehrere Kinder großgezogen hat, weiß, daß bereits Neugeborene sehr unterschiedlich auf alles Fremde, Ungewohnte und Unbekannte reagieren. Anschließend wächst jeder einzelne Mensch in einer nur für ihn typischen Welt auf. Diese Welt ist nie identisch mit der Welt der anderen. Nie erlebt er die gleichen Herausforderungen, Bedrohungen oder Gefährdungen im gleichen Alter wie andere, und niemals wird er genau die gleichen Erfahrungen wie andere bei der Lösung dieser Probleme machen können. Deshalb ist jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt seiner Entwicklung einzigartig. Er trägt seine eigene Geschichte von Erfahrungen in sich und zusätzlich in Form der von seinen Eltern ererbten Programme, auch noch die Geschichte seiner Vorfahren. Dieser ganz persönliche Erfahrungsschatz eines Menschen wird seine Entscheidungen über jeden weiteren noch einzuschlagenden Schritt auf seinem zukünftigen Weg bestimmen. Das, was sich aus Erfahrung bewährt hat, legt fest, wohin es geht, egal ob uns das gefällt oder nicht, und ob das mit unserer gegenwärtigen Vorstellung von der Freiheit menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns vereinbar ist oder nicht. Frei können wir in unseren Entscheidungen eigentlich immer erst dann werden, wenn es so wie bisher nicht mehr weitergeht, wenn alle bisher bewährten Strategien unseres Denkens, Fühlens und Handelns sich als ungeeignet oder undurchführbar erweisen, um eine immer bedrohlicher auf uns zukommende und scheinbar unabwendbare gefährliche Entwicklung auf50 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

zuhalten. Dann spüren wir wieder tagelang dieses ungute Gefühl im Bauch, und wir brauchen den Spiegel von Streßhormonen in unserem Blut gar nicht erst zu messen, um zu wissen, daß das eine unkontrollierbare Streßreaktion ist. Gleichgültig, für wie kompetent wir uns bis dahin im Umgang mit allen möglichen Herausforderungen gehalten haben, dieses aus dem Bauch kommende Gefühl sagt uns, daß es so wie bisher nicht mehr weitergeht. Und wenn wir bislang noch so stolz darauf und überzeugt davon waren, alle Probleme ganz allein, aus eigener Kraft und nach eigenen Vorstellungen bewältigt zu haben, so sagt uns dieses nicht abzustellende Gefühl in unserem Bauch, daß das offenbar doch ein fataler Irrtum war. Selbst dem größtem Individualisten und dem effektivsten Manager macht dieses Gefühl dann irgendwann klar, daß er es allein nicht mehr schafft, daß er einen anderen Menschen braucht, der ihm hilft oder der, wenn er nicht wirklich helfen kann, wenigstens da ist, ihm zuhört, ihn tröstet, ihm irgendwie zur Seite steht. So kann jeder, dessen Denken, Fühlen und Handeln bisher auf bestimmten, von Erfolg und fortwährender Benutzung gebahnten Straßen entlanggesaust ist, irgendwann in seinem Leben das Glück haben, plötzlich angehalten zu werden. Das ist zwar schmerzlich, aber nur so bekommt er die Chance, längst verlassene und deshalb inzwischen fast zugewachsene Wege wiederzufinden. Erst jetzt wird er wieder frei. Er muß vielleicht noch einmal lernen, was andere, weniger rasante Fahrer nicht so schnell vergessen haben: Daß es die Angst ist, die am Beginn jeder Streßreaktion steht, und daß der Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten zur immer besseren Bewältigung von Problemen nur die eine von zwei möglichen Strategien ist, um der immer wieder auftauchenden Angst vor unkontrollierbaren Belastungen und Bedrohungen zu begegnen. Es ist nämlich keineswegs so, daß einzig und allein das im 51 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Lauf des Lebens erworbene Wissen und Können zur Bewältigung einer bestimmten Belastung oder Bedrohung beiträgt und so verhindert, daß eine unkontrollierbare Streßreaktion in Gang gesetzt wird. Auch das Gefühl, daß man nicht allein ist, daß jemand da ist, den man um Rat fragen kann, der einem zur Seite steht, der zuhört, tröstet und mitfühlt, führt dazu, daß die Angst verschwindet und die Streßreaktion angehalten wird. Waren die Streßforscher bereits daran verzweifelt, daß die Streßreaktion ihrer Ratte verschwand, sobald diese gemerkt hatte, daß das, was sie anfangs für eine Bedrohung hielt, offenbar nur ein Experiment war, so hat es ihnen wohl gänzlich die Sprache verschlagen, als sie feststellen mußten, daß bei einem Affen immer dann, wenn sein »Freund« zu ihm gesetzt wird, kaum noch Angst und deshalb auch keine Streßreaktion mehr auslösbar ist. Die Forscher hatten sich ein ganz einfaches Experiment ausgedacht, um ein neues Präparat zu testen, das gegen Angst und Streß helfen sollte. Dazu wurde ein Affe in einen Käfig gesetzt, anschließend holte man einen Hund herein, der nun knurrend um den Käfig herumlief. Natürlich hatte der Affe Angst und die Streßhormonspiegel in seinem Blut schnellten in die Höhe. Dann holte man einen zweiten Affen, gab dem das Testpräparat, setzte ihn zu dem anderen, ließ wieder den Hund um den Käfig rennen, und der Affe, der das Präparat bekommen hatte, zeigte keinerlei Streßreaktion. Die Pille wirkt also, dachten die Forscher, aber nur bis sie auch die Streßhormonspiegel desjenigen Affen anschauten, der zuerst im Käfig gesessen und keine Beruhigungspille bekommen hatte. Bei dem war nämlich auch keine Streßreaktion mehr meßbar. Sie nahmen den zweiten Affen wieder heraus, holten den Hund, und die Streßreaktion war wieder da. Sie warteten einen Tag und machten das Ganze noch einmal. Diesmal bekam der zweite Affe keine Beruhigungspillen. Alles verlief wie am Tag zuvor. Sah einer der beiden Affen allein im 52 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Käfig sitzend den Hund, so stiegen seine Streßhormonspiegel mächtig an. Saßen die beiden Affen gemeinsam im Käfig, so konnte der Hund draußen knurren, so viel er wollte, sie hatten keine Angst mehr. Setzte man jedoch zwei Affen zusammen, die aus unterschiedlichen Kolonien stammten und sich deshalb nicht kannten, kam es zu keinerlei Unterdrückung der Streßreaktion. Das schaffte eben nur der alte Bekannte, der gute Freund, nicht irgendein Affe. Damit hatten die Forscher nun wirklich nicht gerechnet. Sie hatten endlich das wichtigste und effektivste Gegenmittel gegen Angst und Streß bei allen sozial organisierten Säugetieren, und damit ganz besonders bei uns Menschen, gefunden, also genau das, wonach sie und so viele andere weltweit schon so lange suchten. Auf einmal ließ sich so vieles erklären, was viele bis heute immer noch nicht verstehen. Bei uns Menschen muß, anders als bei Affen, der Freund oder die Freundin nicht unbedingt neben uns sitzen, um uns die Angst zu nehmen. Uns reicht es schon, wenn wir wissen, daß ein Freund oder eine Freundin, eine Mutter, ein Großvater, einfach irgend jemand, der uns nahe ist, existiert, an uns denkt und alles, was in seiner Macht steht, auch tun wird, um uns zu helfen. Es muß auch nicht unbedingt ein Mensch sein, es genügt vielleicht auch ein Hund, eine Katze oder ein Kanarienvogel, irgend etwas Lebendiges, zu dem wir sprechen können, auch Musik oder ein Bild, das wir in uns aufzunehmen und dabei spüren, wie das sonderbare Gefühl im Bauch auf wundersame Weise verschwindet. Und zu alledem können wir selbst dann, wenn alle uns enttäuscht und verlassen haben, noch glauben. Wir können daran glauben, daß es jemanden gibt, der seine Hand schützend über uns hält und uns den richtigen Weg weisen wird. Wie heißt dieses Gefühl, das so stark ist, daß es die Angst besiegt, das so stark werden kann, daß es Men53 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

schen sogar ihre größte Angst, die vor dem Tod, vergessen und singend ihre letzten Schritte gehen ließ, bevor sie von ihren Peinigern auf den Scheiterhaufen geworfen oder ans Kreuz genagelt worden sind? Es ist das gleiche Gefühl, das einen Menschen dazu bringt, in einen reißenden Fluß zu springen, um ein Kind zu retten, in ein brennendes Haus zu laufen, um seine Frau herauszuholen, in den Krieg zu ziehen, um das Vaterland gegen einen vermeintlichen Feind zu schützen. Weshalb haben wir keinen passenden Namen für dieses starke Gefühl? Wir ahnen, wie dieses Gefühl heißen könnte, das die Angst besiegt: Es ist die Liebe. Wir wissen aber auch, daß es nur wenige Menschen auf dieser Erde gibt, deren Fähigkeit zu lieben ausreicht, um alles, was sie umgibt, zu umfassen. Sie haben kaum noch Angst. Die meisten Menschen können jedoch nur das lieben, was ihre konkreten Ängste in ihrem bisherigen Leben zu unterdrücken imstande war: oft sich selbst, ihre eigenen Fähigkeiten und Erfolge, womöglich sogar ihr Auto, vielleicht noch immer die Eltern, manchmal den Partner, fast immer die Kinder, vielleicht auch ihren Hund oder ihr Pferd. Seltener umfaßt diese Liebe all das, was wir Heimat nennen, die Nachbarn, den Wald, die Vögel, die Natur. Aber wir können auch Ideen und Idole lieben, uns für Utopien begeistern, für religiöse Vorstellungen, für politische Ziele, für so viel Verschiedenes. Aber immer dann, wenn ein Mensch etwas ganz Bestimmtes auf dieser Welt gefunden hat, das ihm hilft, seine Angst erträglicher zu machen, hat er sich bereits eine neue Angst eingehandelt. Es ist die Angst, daß er das, was er liebt, wieder verliert. Sobald er spürt, daß jemand kommt und ihm das wegzunehmen droht, was er so nötig braucht, um all die verschiedenen Bedrohungen in seinem Leben aushalten, kontrollieren zu 54 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

können, bekommt diese Angst einen sehr präzisen Namen: Haß. Auf diese Weise erzeugt jede unvollständige Liebe immer wieder Haß, Wut, Aggression, Feindschaft, Krieg und neue Angst auf seiten derer, gegen die sich der Haß richtet. Je dünner die Decke aus Liebe und Kompetenz ist, die ein Mensch gefunden hat, um damit seine größte Blöße, die nackte Angst, zu bedecken, desto intensiver und unversöhnlicher muß er diejenigen hassen, die ihm ein noch so kleines Stück dieses lebenswichtigen Schutzes vor den Folgen einer unkontrollierbaren Streßreaktion wegzunehmen drohen. Das können Fremde sein, die die bisherige Ordnung in Frage stellen, Konkurrenten, die seine Stellung bedrohen, oder Untergebene, die seinen Weisungen nicht folgen. Es können aber ebensogut Menschen sein, für die er sich verantwortlich fühlt, der Lebenspartner, die Eltern, die Kinder, die ihm zu viel abverlangen oder die sein Selbstbild in Frage stellen. Auch gegen diejenigen, die er braucht, die ihm nahestehen, kann sich der Haß eines Menschen richten, sobald er spürt, daß sie sich von ihm abwenden, nicht mehr bereit oder in der Lage sind, ihm in der bisherigen Weise bei der Bewältigung seiner Ängste beizustehen. Oft äußert sich dieser Haß gegen andere Menschen als blinde Zerstörungswut, die sich gegen all das richtet, was jenen besonders lieb ist und am Herzen liegt. Ein Mensch kann aber auch wütend auf sich selbst werden, sich selbst hassen und womöglich absichtlich selbst verletzen, wenn er glaubt, dem nicht gerecht werden zu können, was er von sich oder andere von ihm erwarten, wenn er feststellt, daß der Schutzmantel, den er sich selbst zu schaffen imstande war, nicht ausreicht, um ihm genügend Sicherheit zu bieten. Deshalb kann die Angst auf dieser Welt erst dann verschwinden, wenn irgendwann einmal alle Men55 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

schen so aufwachsen und leben, daß sie all das, was sie umgibt, erkennen, verstehen und deshalb vielleicht auch lieben können. Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, betrachtete die Liebe in erster Linie als ein sexuelles Phänomen. »Die Erfahrung, daß die geschlechtliche (genitale) Liebe den Menschen die stärksten Befriedigungserlebnisse gebe, mußte es nahegelegt haben, die Glücksbefriedigung im Leben auch weiterhin auf dem Gebiet der geschlechtlichen Beziehungen zu suchen, die genitale Erotik in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen.« Für ihn und viele seiner Anhänger blieb die Nächstenliebe ein Ergebnis der sexuellen Begierde, wobei der Sexualtrieb in einen »zielgehemmten Impuls« verwandelt wird. »Die zielgehemmte Liebe war eben ursprünglich vollsinnliche Liebe und ist es im Unbewußten des Menschen noch immer.« Das Gefühl allumfassender Liebe, das am stärksten in der Lage ist, die Angst des Menschen kontrollierbar zu machen, hat Freud als pathologische Regression, als »Wiederherstellung des uneingeschränkten Narzißmus« der frühen Kindheit interpretiert (vgl. S. Freud: Das Unbehagen in der Kultur. In: Ges. Werke, Band 14, S. 419–506, S. Fischer-Verlag, Frankfurt a. M. 1960).

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Seit ich des Suchens müde war, Erlernte ich das Finden. Seit mir ein Wind hielt Widerpart, Segl ich mit allen Winden. Friedrich Nietzsche

Gebahnte Wege Streß, Angst, Liebe, Haß – was ist das für ein Bogen, den wir da spannen? Er reicht von der exakten, trockenen Biologie, den meßbaren Ursachen und Konsequenzen der in unserem Kopf und in unserem Körper ablaufenden Streßreaktion, bis hin zu den abstraktesten Gefühlen, über deren Herkunft selbst die Psychologen wenig zu sagen haben. Vielleicht sollten wir uns einen Augenblick setzen und überlegen, ob wir hier tatsächlich noch auf dem richtigen Weg sind. Haß, so schien es, entsteht immer dann, wenn wir spüren, daß uns jemand genau das wegzunehmen droht, was uns bisher geholfen hat, die Angst davor zu unterdrücken, nicht anerkannt und ausgelacht, ausgeschlossen und alleingelassen zu werden. Das, was uns in unserem bisherigen Leben geholfen hatte, diese Angst zu besiegen, war unser bisher erworbenes Wissen über die Ursachen bestimmter Belastungen und die Gesamtheit unserer bisher bei der Bewältigung dieser Belastungen gemachten Erfahrung. Wir nutzen die Sicherheit dieser Erfahrungen und suchen die Geborgenheit und die Nähe anderer, um die Angst und damit eine Kette von Reaktionen in unserem Gehirn und unserem Körper zu unterdrücken, die neuroendokrine Streßreaktion heißt. Diese Notfallreaktion ist so uralt, daß es sie bereits bei den Sauriern gab. Sie hat immer wieder dafür gesorgt, daß diejenigen ausstarben, deren Lebensbedingungen sich so schnell veränderten, daß sie 57 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

mit ihren unflexiblen Programmen, die die Verschaltungen der Nervenzellen in ihrem Gehirn und damit ihr Verhalten bestimmten, nicht zurechtkamen. Irgendwann, so habe ich behauptet, sei dann eine kleine Programmänderung aufgetreten, die dafür sorgte, daß die während der Streßreaktion ausgeschütteten Hormone direkt auf die neuronalen Verschaltungen im Gehirn einwirken und sie verändern konnten. »Ha!« rufen Sie lauthals und springen begeistert auf. »Da haben wir ja den Pferdefuß. Wenn das nämlich nicht stimmt, stimmt der ganze Rest auch nicht. Und wenn es stimmt, dann muß man es auch heute noch bei allen Tieren beobachten und messen können, die ein lernfähiges, plastisches Gehirn haben.« Setzen Sie sich wieder hin, es stimmt! Die Natur ist offenbar erfinderischer, als wir uns vorzustellen bereit sind. Wie wir gleich sehen werden, hat es sogar mehrere kleine Programmänderungen gegeben, die alle genau das bewirkten, was wir uns auf dem Weg von den Sauriern zu uns ausgedacht haben. Die Verschaltungen in unserem Gehirn haben ja eigentlich mit richtigen Wegen wenig gemein. Auf einem Weg gelangt man ohne Unterbrechungen von hier nach dort. Ein elektrischer Impuls im Gehirn hingegen muß auf seinem Weg von einer Nervenzelle zur nächsten jedesmal eine Art Fähre benutzen. Wenn eine Nervenzelle erregt wird, breitet sich der Impuls zwar blitzartig auf ihrer gesamten Oberfläche bis zu den Enden ihrer mehr oder weniger langen, oft vielfach verzweigten Fortsätze aus, aber dort, kurz vor der nächsten Nervenzelle, ist Schluß. Hier klafft ein zwar nur mit dem Elektronenmikroskop zu sehender Spalt, der aber wie ein Bruch in einem Stromkabel jede weitere Ausbreitung der Erregung unterbricht. Jetzt geht es nur noch mit einem Trick weiter. Von jeder Nervenzellendigung (das ist das deutsche Wort für eine Synapse) wird immer dann, wenn ein elektrischer Impuls an58 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

kommt, eine chemische Substanz abgegeben, ein Neurotransmitter. Dieser Botenstoff schwimmt durch den Spalt, gelangt auf die andere Seite zur nächsten Nervenzelle und löst dort eine erneute Erregung aus. So springt die Erregung von einer Nervenzelle zur nächsten, breitet sich über die Verzweigungen immer weiter aus und kann überall dorthin gelangen, wo diese Äste hinführen, von einem in ein anderes oder gar in mehrere andere Netzwerke. In diesen Netzen können mehrere Erregungen gleichzeitig eintreffen und sich gegenseitig aufschaukeln. Bestimmte Nervenzellen dieser Netze geben Botenstoffe ab, die die Erregbarkeit nachgeschalteter Nervenzellen entweder vermindern oder erhöhen. So können die eingehenden Erregungen sowohl abgebremst als auch verstärkt und damit in bestimmte Bahnen gelenkt werden. Das Netz von Verbindungen zwischen den Milliarden von Nervenzellen in unserem Gehirn ist nicht nur viel dichter als jedes Wegenetz, das wir uns vorstellen können, es hat auch viel mehr Verzweigungen. Es gibt kleinere, lokale Netzwerke mit besonders engen Verschaltungen, in denen ganz bestimmte Informationen verarbeitet werden. Diese lokalen Netze sind mit anderen lokalen Netzen über Nervenfasern verbunden und bilden so größere, komplexe Netzwerke. Zwischen denen der rechten und der linken Hirnrinde gibt es enge Verschaltungen, ebenso wie zwischen denen in höher- und tiefergelegenen Hirnregionen. Von den Sinnesorganen und aus dem Körper kommende Nervenbahnen münden in ganz bestimmte dieser lokalen Netze ein, und andere führen aus diesen Netzen heraus in alle Bereiche des Körpers, zu jeder einzelnen Muskelfaser, allen Drüsen und Organen. Der Versuch, all diese Verschaltungen zwischen den Fortsätzen der Nervenzellen in unserem Gehirn bis in ihre letzten Verzweigungen zu verfolgen, wäre noch unsinniger als das Bemühen, eine Karte zu erstellen, auf der alle Stra59 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

ßen, Wege und Trampelpfade dieser Erde eingezeichnet sind. Wir würden dabei sehr schnell die Übersicht verlieren. Unser Gehirn enthält nämlich nicht nur solche Nervenbahnen, auf denen Informationen in Form elektrischer Erregungen in das Gehirn hinein-, dort in allen möglichen Netzen umher- und an irgendeiner Stelle wieder hinausgelangen. Es enthält auch noch solche, die nichts weiter machen, als zu beeinflussen, welchen Weg diese Erregungen entlanglaufen und mit welcher Geschwindigkeit sie vorankommen. Ohne diese Nervenzellen, die mit ihren Fortsätzen das gesamte Gehirn überziehen, und selbst gar nicht am Verkehr teilnehmen, sondern lediglich den Verkehr lenken, würde unser Gehirn nur wie ein einfacher Computer funktionieren, bei dem man vorn etwas eingibt und hinten etwas herauskommt. Sie wirken ähnlich wie unsere Verkehrsleitsysteme auf den Autobahnen, wie der Verkehrsfunk mit seinen Staumeldungen und Umleitungsempfehlungen. Eines dieser »Verkehrsleitsysteme« in unserem Gehirn, Sie ahnen es bereits, wird immer dann aktiviert, wenn es irgendwo gekracht hat. Am häufigsten kracht es zwangsläufig dort, wo alle Wege zusammenlaufen, also in den Netzwerken in unserer Hirnrinde, die die ständig eingehenden Informationen mit dem vergleichen, was dort bereits abgespeichert ist. Dort entsteht immer dann ein hektisches Durcheinander, wenn das eine nicht zum anderen paßt, wenn etwas Neues, Unerwartetes aufgetreten ist – also immer genau in dem Augenblick, in dem die Angst entsteht und eine Streßreaktion ausgelöst wird. Dieses ganz am Anfang der Streßreaktion im Gehirn eingeschaltete »Leitsystem« heißt zentrales noradrenerges System. Es wird immer zusammen mit dem peripheren noradrenergen System (dem sympathischen System) aktiviert, was wir sofort daran erkennen, daß unser Herz zu rasen anfängt und uns der Angstschweiß auf die Stirn tritt. 60 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Dieses bei jedem Stau oder Verkehrsunfall aktivierte System sorgt dafür, daß alle Nervenzellen wachgerüttelt werden, und daß der Informationsfluß schnell und effizient dort entlang geleitet wird, wo es besser vorangeht. Das sind diejenigen Nervenbahnen und Verschaltungen, deren Benutzung eine Verhaltensreaktion auslöst, die in irgendeiner Weise geeignet ist, die aufgetretene Bedrohung zu beseitigen – zunächst durch genaueres Hinschauen, und, je nachdem, was sich da im einzelnen abspielt, entweder durch Flucht oder aber durch Angriff oder eine andere Form der aktiven Bewältigung. Die Informationsverarbeitung im ZNS wird heute als ein gleichzeitig seriell und parallel ablaufender Prozeß der Aktivierung multifokaler, eng miteinander verschalteter neuronaler Netzwerke verstanden. Jedes dieser Netzwerke besitzt strukturell festgelegte Verschaltungsmuster mit anderen Netzwerken, die im Verlauf der Ontogenese herausgebildet und zeitlebens durch die Art ihrer Nutzung um- und überformt werden (»experiencedependent plasticity«). Die Aktivität und die Effizienz der in verschiedenen Bereichen des ZNS operierenden lokalen Netzwerke wird durch »überregionale« Systeme mit weitreichenden und überlappenden Projektionen beeinflußt und aufeinander abgestimmt (Übersicht in Mesulam 1990). Eines dieser globalen Systeme ist das zentrale noradrenerge System. Seine Neurone sind im Locus coeruleus und den katecholaminergen Kernen des Hirnstammes lokalisiert. Ihre vielfach verzweigten Axone erreichen praktisch alle Bereiche des ZNS und beeinflussen die Aktivität der dort angelegten lokalen Netzwerke. Diese noradrenergen Kerngebiete erhalten ihrerseits Eingänge aus den höheren, limbischen und kortikalen Hirnbereichen, die die noradrenergen Neurone immer dann erregen, wenn es in assoziativen kortikalen beziehungsweise limbischen Gebieten zu einer verstärkten neuronalen Aktivität (»alerting stimuli«, »arousal«) kommt, also bei jeder Aktivierungsreaktion durch neuartige, mit den normalerweise ablaufenden Erregungsmustern interferierende Stimuli (Abercrombie und Jacobs 1987; Jacobs u.a. 1991; Lachuer u.a. 1991). Unter dem Einfluß vermehrter Noradrenalinausschüttung kommt es in den limbischen und kortikalen Zielgebieten zu charakteristischen Veränderungen der Erregbarkeit nachgeschalteter Neuronenverbände der dort lokali-

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sierten neuronalen Netze. Ihre Spontanaktivität wird verringert und ihre Antwort auf andere eintreffende Impulse verstärkt. Das daraus resultierende verbesserte Signal-Rauschverhältnis führt zu einer größeren Selektivität der neuronalen Reaktionen dieser lokalen Netze auf spezifische Stimuli (Foot u.a. 1983; Cole und Robbins 1992). Auf der Verhaltensebene bewirkt dieser Effekt eine Intensivierung der Reaktionen auf interne oder externe Reize, eine raschere Verarbeitung sensorischer Information und der motorischen Antworten (»behavioral output«). Auf diese Weise führt die initial bei jeder Streßreaktion stattfindende noradrenerge Aktivierung zu einer globalen Erhöhung des Vigilanzniveaus (vermehrte Aufmerksamkeit und Reaktionsbereitschaft). Die während dieser Phase in lokale Netze einfließenden Informationen werden intensiver und nachhaltiger verarbeitet, als das ohne die Aktivierung des noradrenergen Systems möglich wäre (Aston-Jones 1986; Jacobs u.a. 1991). Nach Zerstörung des noradrenergen Systems kommt es daher zu einer generellen Verschlechterung von Hirnleistungen (Everitt u.a. 1983; Robbins 1984). Die Aktivierung des zentralen noradrenergen Systems geht, zumindest in Tierversuchen, immer mit einer gleichzeitigen Aktivierung des peripheren noradrenergen Systems einher (Abercrombie und Jacobs 1987), deren körperliche Auswirkungen bei jeder Streßreaktion initial spürbar werden.

Wenn die Bedrohung so abgewendet werden kann, ist alles gut. Wir haben eine kontrollierbare Streßreaktion erlebt. Das noradrenerge System hört auf zu feuern, der Verkehrsfunk meldet freie Fahrt auf allen Straßen. Also Gas geben und weiter geht’s wie vorher – denkt der Autofahrer. Aber das war schon wieder ein Irrtum. Die Natur ist nun einmal kein Autofahrer. Sie nutzt nämlich jede sich bietende Gelegenheit, um das existierende Streckennetz, die neuronalen Verschaltungen in unserem Gehirn, immer besser an die tatsächlichen Erfordernisse anzupassen. Dieses zu Beginn jeder Streßreaktion aktivierte noradrenerge System kann nämlich noch etwas, was kein noch so gut ausgeklügeltes computergestütztes Verkehrsleitsystem zustandebringt. Es sorgt dafür, daß immer diejenigen neuronalen Verschaltungen, die erfolgreich zur Auflösung des entstandenen Durcheinanders 62 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

in den Netzwerken der Hirnrinde beitragen und die wir schließlich benutzen, um eine bestimmte Belastung zu bewältigen, auch gleich ausgebaut, besser, schneller und effizienter nutzbar gemacht werden. So müßte ein Verkehrsleitsystem funktionieren! Nicht einfach nur Staumeldung und Umleitungsempfehlung durchgeben, sondern gleich noch ein Straßenbaukommando auf die Umleitungsstrecke schicken, das dafür sorgt, daß diese auch gleich vernünftig ausgebaut wird. Das macht das noradrenerge System in unserem Kopf. Es ist kaum zu glauben, aber unser Gehirn scheint tatsächlich schlauer zu sein als wir. Jeder, der eine holprige Nebenstrecke gefunden hat, um an allen Staus vorbei möglichst schnell in die Stadt zu kommen, wird sich schon die ganze Zeit gefragt haben, wie es funktionieren soll, daß dieser holprige Schleichweg nur allein dadurch, daß immer mehr Schlaumeier hier entlangfahren, zu einer vernünftigen Straße werden soll. Jetzt haben wir die Antwort. Die simple Benutzung eines Weges kann bestenfalls dazu führen, daß er irgendwann ausgefahren und immer breiter wird. Um daraus eine richtige Straße werden zu lassen, muß etwas anderes passieren. Da muß eine ordentliches Straßenbett ausgehoben und mit Schotter aufgefüllt werden. Das Ganze muß dann festgewalzt und asphaltiert werden, Markierungen müssen angebracht, Verkehrsschilder und Wegweiser aufgestellt werden. Das ist genau das, was das noradrenerge System mit den Verschaltungen macht, die in unserem Gehirn benutzt werden, wenn wir eine ganz bestimmte Herausforderung meistern. Sie werden unter dem Einfluß des von den noradrenergen Nervenendigungen ausgeschütteten Signalstoffs und der von diesem Signalstoff ausgelösten Prozesse »gebahnt« (so heißt das tatsächlich auch in der Fachsprache der Hirnforscher). Auf diese Weise werden die anfänglich noch holprigen Feldwege unseres Denkens und Fühlens allmählich zu 63 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Straßen und unter Umständen sogar zu breiten Highways. Aufgrund seiner weitreichenden Projektionen, und weil adrenerge Rezeptoren nicht nur an Neuronen, sondern auch an Gliaund Endothelzellen (Hüll- und Gefäßzellen) vorhanden sind, ist das noradrenerge System in der Lage, Hirnfunktionen in gleichzeitig sehr spezifischer und globaler Weise zu modulieren. Durch Stimulation adrenerger Rezeptoren der Hirngefäße kommt es zur Steigerung der cerebralen Durchblutung, vermehrter Glukoseaufnahme und erhöhtem Energiestoffwechsel (Bryan 1990). Die Wirkung auf Astrozyten (Hüllzellen) führt zu einer Freisetzung von Glukose und Laktat (Energielieferanten für Nervenzellen) (Pentreath u.a. 1986; Sorg und Magistretti 1991) und zur Abgabe von neurotrophen Faktoren (wachstumsfördernde Substanzen für Nervenzellen) (Furukawa u.a. 1989; Eiring u.a. 1992), die ihrerseits über Modulation der Genexpression in benachbarten Neuronen plastische Veränderungen (Auswachsen von Fortsätzen, Synaptogenese etc.) induzieren (Stone u.a. 1992; Rosenberg 1992; Vaccarino u.a. 1993). Da ein erheblicher Anteil der noradrenergen Axone, besonders im Kortex keine typischen Synapsen, sondern freie Nervenendigungen bildet, kann das im Zuge der Streßreaktion in den extrazellulären Raum freigesetzte Noradrenalin sowohl als Transmitter als auch in einer hormonähnlichen Weise wirken. Vieles spricht dafür, daß die noradrenerg-mediierte Stimulation astrozytärer neurotropher Funktionen entscheidend an synaptischen Bahnungsprozessen im Verlauf kontrollierbarer Streßreaktion beteiligt ist (vgl. Hüther 1996). Wie wichtig die durch kontrollierbare Belastungen ausgelöste Aktivierung zentraler noradrenerger Neurone für zentralnervöse Anpassungsprozesse ist, macht der Umstand deutlich, daß im Verlauf der Evolution Mechanismen stabilisiert worden sind, die die Reaktionsfähigkeit des noradrenergen Systems auf wiederholte, kontrollierbare Belastungen nicht nur sichern, sondern sogar noch verstärken. So läßt sich bei Versuchstieren zeigen, daß wiederholte, verschiedenartige kontrollierbare Streßbelastungen dazu führen, daß das noradrenerge System auf eine erneute Belastung mit verstärkter Aktivierung reagiert. Diese nur durch verschiedenartige, kontrollierbare Stressoren induzierbare Verstärkung noradrenerger Einflüsse erfolgt gleichzeitig auf mehreren Ebenen: durch eine erhöhte Feuerungsrate der noradrenergen Neurone (Pavcovich u.a. 1990), durch vermehrte Synthese, Speicherung und Ausschüttung von Noradrenalin

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durch noradrenerge Nervenendigungen (Anisman u.a. 1987; Adell u.a. 1988; Nisenbaum u.a. 1991) sowie – und das ist das interessanteste, bisher aber erst in einer Studie nachgewiesene Phänomen – durch verstärktes Auswachsen von Axonen und Intensivierung der noradrenergen Innervation bestimmter Zielgebiete, z. B. des Kortex (Nakamura 1991). Vieles, was hier über das noradrenerge System und seine Rolle als Trigger von adaptiven plastischen Veränderungen des ZNS unter kontrollierbarem Streß gesagt wurde, scheint in gewissem Umfang auch für das dopaminerge und das serotonerge System zu gelten, und es ist davon auszugehen, daß das kontrollierte, regionale Zusammenwirken dieser drei monoaminergen Systeme bestimmte kortikale und limbische Erregungsmuster stabilisiert, die dann über die gleichzeitige Stimulation neurotropher Aktivitäten strukturell in Form adaptiver plastischer Veränderungen der an der Generierung dieser Erregungsmuster beteiligten synaptischen Verschaltungen verankert werden. Wiederholt auftretende, kontrollierbare psychosoziale Belastungen können auf diese Weise zu einer sukzessiven Stabilisierung, Faszilitation und verbesserten Effizienz der in die Antwort involvierten neuronalen Netzwerke und Verbindungen führen. Sie fördern die Bahnung und strukturelle Verankerung der in die Generierung ganz bestimmter, spezialisierter Fähigkeiten oder Reaktionsweisen involvierten neuronalen Verschaltungen. Dieser zentralnervöse Anpassungsprozeß ist in gewisser Weise vergleichbar mit peripheren Anpassungen an physische Stressoren, etwa die durch Kältebelastung induzierte Verdichtung des Haarkleides. Sehr komplexe, verschiedenartige und vielseitige kontrollierbare Belastungen sind offenbar notwendig, um die individuelle genetische Potenz zur Strukturierung eines entsprechend komplexen Gehirns nutzen zu können. Einen beeindruckenden Beweis für diese Vermutung und ein anschauliches Beispiel für das Ausmaß möglicher plastischer Veränderungen, vor allem während der Hirnentwicklung, liefern die Ergebnisse von Untersuchungen zum Einfluß von sogenannten »handling« oder »enriched environments« auf die Entwicklung des Kortex bei jungen Versuchstieren. Unter solchen Bedingungen aufgewachsene Ratten zeigen vergleichsweise einen dickeren Kortex, verstärkte Vaskularisierung, vermehrte Anzahl von Gliazellen, vergrößerte Dendritenbäume der Pyramidenzellen und höhere Synapsendichte (Greenough und Bailey 1988). Darüber hinaus zeichnen sie sich im Erwachsenenalter durch eine geringere Ängstlichkeit in fremder Umgebung und eine verminderte Glukokortikoidsekretion in verschiedenen Streßsituationen aus

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(Levine u.a. 1967; Akanaet al 1986). Die besondere Bedeutung wiederholter noradrenerger Aktivierung für strukturelle Veränderungen neuronaler Verschaltungen wird auch durch die Beobachtung unterstrichen, daß eine intakte noradrenerge Innervation eine essentielle Voraussetzung für die während der Differenzierung des visuellen Kortex ablaufenden strukturellen Bahnungsprozesse ist (Gordon u.a. 1988; Kasamatsu 1991; Marshall u.a. 1991) und daß selbst die im erwachsenen Gehirn nach kortikalen Läsionen stattfindenden strukturellen Umbauprozesse unter noradrenerger Kontrolle stehen (Feeney und Sutton 1987; Boyeson und Krobert 1992; Levin und Dunn-Meywell 1993).

So kommt es, daß etwas, was uns beim ersten Mal noch ziemlich viel angst macht, also etwa die erste Fahrt mit dem Auto durch die Stadt, beim zweiten Mal bereits mit viel weniger Herzrasen und feuchten Händen einhergeht, um schließlich irgendwann ganz mühelos und ohne die geringste Angst, fast routinemäßig erledigt zu werden. Ohne noradrenerges System hätten wir weder Herzklopfen noch feuchte Hände, würden aber wohl noch heute alle wie die Anfänger umherfahren. Wir lernen etwas Neues richtig schnell und so, daß es auch sitzt, offenbar nur dann, wenn dieses sonderbare noradrenerge System in unserem Gehirn eingeschaltet wird, das uns gehörig wachrüttelt und dazu beiträgt, die erfolgreich zur Lösung des Problems, zur Bewältigung der Angst eingesetzten Verschaltungen zu bahnen. Das, was uns nicht unmittelbar berührt, was nicht die geringste Spur einer kontrollierbaren Streßreaktion auslöst, bekommen wir, wenn überhaupt, nur mit größter Mühe in unseren Kopf, und, wenn wir es nicht ständig wieder aufsagen, ist es im Nu auch wieder verschwunden. Etwas anderes ist es, wenn die Angst unkontrollierbar wird, wenn der Fahrlehrer neben uns immer ungehaltener wird und uns anbrüllt, endlich aufzupassen. Dann geht nicht nur nichts mehr in das Gehirn hinein, 66 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

dann kommt auch nichts Brauchbares von dem, was bereits drin war, heraus. Bevor wir uns mit diesem Phänomen beschäftigen, bleiben wir aber noch einen Augenblick bei den kontrollierbaren Belastungen und ihren Auswirkungen auf unser Denken, Fühlen und Handeln. Wenn die bei jeder kontrollierbaren Streßreaktion stattfindende Aktivierung des großen noradrenergen Leitsystems dazu führt, daß all diejenigen Verschaltungen, die in unserem Gehirn zur Bewältigung einer Herausforderung benutzt werden, besser ausgebaut, gebahnt und effektiver gemacht werden, können durch häufig auftretende, gleichartige und immer wieder durch die gleichen Reaktionen und Verhaltensweisen bewältigbare Belastungen aus anfangs noch recht holprigen Feldwegen, gut ausgebaute Straßen und aus flotten Straßen rasante Autobahnen für den Informationsfluß in unserem Gehirn entstehen. Manche Herausforderungen bewältigen wir, indem wir bestimmte Verschaltungen zur Steuerung komplexer Bewegungsabläufe benutzen. Es ist also nicht verwunderlich, daß wir jede anfangs noch so schwierige Handlung, wenn sie uns einmal gelungen ist, das nächste Mal schon viel besser und irgendwann sogar ganz mühelos vollziehen. Sie wird Schritt für Schritt zu einer gebahnten Routine, die am Ende keinerlei Anstrengung, keine neuartige Anforderung und auch keine Aktivierung unseres noradrenergen Systems mehr verursacht. Viele ungewohnte Anforderungen oder bedrohliche, angsteinflößende Entwicklungen lassen sich auch durch Nachdenken bewältigen. Wenn wir eine Lösung finden, werden diejenigen Wege unseres Denkens gebahnt, die zur Lösung dieses Problems beitragen. Je häufiger es wieder auftaucht, desto leichter fällt es uns, die jeweils geeigneten Denkmuster zu aktivieren und die entsprechenden Verhaltensstrategien zur Lösung einzusetzen. Wieder ist eine Straße, diesmal auf der 67 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Ebene des Denkens, entstanden, auf der man sehr bequem vorankommt. Was für ein gutes Gefühl es doch ist, wenn alles so flott läuft, wenn man feststellt, daß man durch eigenes Denken und Handeln die schwierigsten Aufgaben lösen, die bedrohlichsten Situationen klären und auflösen kann. Jetzt wird es aber erst wirklich interessant. Auch dieses gute Gefühl entsteht ja letzten Endes nur deshalb, weil bestimmte Verschaltungen im Gehirn aktiviert werden. Das Gehirn belohnt uns so für erfolgreiches Verhalten. Die Verschaltungen dieses »Belohnungssystems« werden ebenfalls immer dann aktiviert, wenn wir eine Herausforderung gemeistert, eine kontrollierbare Belastung erfolgreich bewältigt haben. Es ergeht ihnen ebenso wie denen, die für bestimmte Bewegungskoordinationen oder bestimmte Denk- und Verhaltensmuster verantwortlich sind. Sie werden ebenfalls gebahnt. Je öfter wir also die Erfahrung machen, daß wir die in unserem Leben auftretenden Probleme zu lösen imstande sind, desto tiefer gräbt sich in unserem Gehirn ein bestimmtes Gefühl ein. Wenn wir immer wieder besonders stolz darauf sind, es allein und ohne fremde Hilfe geschafft zu haben, werden wir immer selbstbewußter und überzeugter von unserer Kompetenz. Wenn wir immer wieder voll überströmender Freude erleben, daß ein anderer Mensch uns tatsächlich geholfen hat, die in unserem Leben auftretenden Anfechtungen und Bedrohungen zu meistern, wird sich das Gefühl immer tiefer in unserem Gehirn verankern, daß es ein Leben ohne so etwas nicht geben kann, egal, ob wir es nun Liebe nennen oder nicht. Vielleicht stellen wir auch einfach nur fest, daß wir auftauchende Probleme und Spannungen in unseren Beziehungen zu anderen Menschen besonders gut lösen können, indem wir all unsere Sinne und unsere ganze Wahrnehmungsfähigkeit einsetzen, um eintre68 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

tende Veränderungen in der uns umgebenden Welt, beispielsweise des Gesichtsausdruckes, der Stimme, der Körperhaltung eines anderen Menschen rechtzeitig zu erkennen und entsprechend sensibel auf die Signale zu reagieren, die er nicht auszusprechen wagt. Je öfter uns das gelingt, um so besser werden die für die Verarbeitung komplexer und subtiler sinnlicher Wahrnehmungen verantwortlichen Verschaltungen nutzbar gemacht. Mit jeder erfolgreich bewältigten Belastung, jeder bestandenen Herausforderung wird unter dem Einfluß der bei der kontrollierbaren Streßreaktion stattfindenden Aktivierung des noradrenergen Systems das jeweils empfundene Gefühl in Form von bestimmten, dieser Empfindung zugrundeliegenden neuronalen Verschaltungen in unserem Gehirn verankert. Diese Bahnungsprozesse sind um so intensiver, je früher sie erfolgen und je häufiger die entsprechenden Verschaltungen bei Herausforderungen und Belastungen aktiviert werden. Welche Verschaltungen für welche Gefühle gebahnt werden, hängt davon ab, was der einzelne empfindet, wenn es ihm wieder einmal gelungen ist, eine Bedrohung abzuwenden oder eine Herausforderung zu bestehen. Ihn interessiert dabei nicht, wie diejenigen sein Verhalten beurteilen, die ihm nichts bedeuten und ihm keine Sicherheit bieten. Der einzige Maßstab für die Bewertung des Erfolges seiner Bemühungen, die Angst zu bewältigen, ist seine persönliche Einschätzung und das Urteil, ihm nahestehender, Sicherheit bietender Bezugspersonen. Wenn also jemand bereits sehr früh und häufig genug die Erfahrung macht, daß Probleme dadurch lösbar werden, daß er oder jemand, der ihm Sicherheit zu bieten scheint, wild um sich schlägt, so wird sich in ihm das Gefühl festigen, daß aggressives Verhalten besonders gut geeignet ist, um Ängste zu bewältigen und Sicherheit zu schaffen. 69 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

In gleicher Weise kann durch immer wieder erfolgreich eingesetztes unterwürfiges Verhalten während der frühen Kindheit später ein zwanghaftes Aufopferungsbedürfnis, durch erfolgreiche Anlehnung zwanghafte Abhängigkeit, durch eigensüchtiges Verhalten Egozentrik, durch erfolgreiche Verdrängung, Insensibilität und Gefühlsarmut gebahnt werden. Die Liste der auf diese Weise entstehenden neurotischen Fehlhaltungen ist lang. Sie umfaßt das gesamte Spektrum der innerhalb der Bevölkerung eines bestimmten Kulturkreises zu einem bestimmten Stadium ihrer Entwicklung herausgeformten, tolerierten und durch gesellschaftliche Normen sanktionierten Verhaltensweisen und Gefühlswelten. Gefährlich werden derartige Fixierungen dann, wenn sie den einzelnen oder ganze Gesellschaften zunehmend daran hindern, neue Lösungswege zur Bewältigung der Angst vor neuartigen Herausforderungen zu suchen.

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Wenn einer, der mit Mühe kaum geklettert ist auf einen Baum, schon meint, daß er ein Vogel wär, so irrt sich der. Wilhelm Busch

Neue Wege Die Wege des Lebens führen selten geradeaus, so sehr wir uns das vielleicht auch manchmal wünschen. Wir sind eben nicht allein auf dieser Welt. Kaum haben wir mit Hilfe des noradrenergen Systems die Verschaltungen für eine ganz bestimmte Verhaltensstrategie gebahnt, mit der wir wunderbar vorankommen, weil sie uns alle bisher in unserem Leben aufgetauchten Untiefen und Schlaglöcher immer besser vermeiden oder durchfahren hilft, schon steht uns wieder irgend jemand oder irgend etwas Neues, bisher noch nicht Dagewesenes im Wege. Fatalerweise trifft uns so etwas um so härter, je fester sich in unserem Kopf die Überzeugung gebildet hatte, auf dem einmal eingeschlagenen Weg ganz besonders gut voranzukommen. Oft haben wir ein halbes Leben gebraucht, um zu begreifen, wie wir beruflich, bei Männern oder bei Frauen vorankommen, Karriere machen, den Haushalt perfekt beherrschen oder anderen ganz besonders imponieren können. Sie wissen besser als ich, was Ihnen sonst noch alles eingefallen ist, um sich immer glatter um all das im Leben vorbei- oder hindurchzuwinden, was bei Ihnen anfangs noch Verunsicherung, Angst und Streß ausgelöst hat. Aber, ob Sie es nun schon erlebt haben oder nicht, und obwohl wir es uns immer wieder wünschen: Viel Erfolg zählt zum Schlimmsten, was einem im Leben passieren kann. Wer immer wie71 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

der mit der gleichen Strategie erfolgreich vorankommt, der wird am Ende einem Rennpferd immer ähnlicher, einem Rennpferd, das sich selbst die Scheuklappen immer fester überzieht. Er sieht immer weniger von dem, was rechts und links von ihm passiert, merkt nicht, wie sich die Rennstrecke allmählich verändert oder daß ihm jemand einen Knüppel in den Weg legt. Dann macht es platsch, und er liegt auf der Nase, oder er erkennt plötzlich, daß er sich hoffnungslos verrannt hat. Er stellt fest, daß er so viel Zeit und Aufmerksamkeit in seinen Beruf, in seine Karriere gesteckt hat, daß ihm gar nicht aufgefallen ist, wie ihm Frau und Kinder immer fremder wurden, bis sie sich nun endgültig von ihm getrennt haben, oder daß er all die Warnungen aus seinem Körper ignoriert hat, bis er im Krankenhaus aufwacht, weil ihm sein Herz von heute auf morgen den weiteren Dienst in der bisherigen Weise versagt. Manchem fallen die Scheuklappen erst dann von den Augen, wenn er trotz seiner guten Arbeit für die Firma entlassen wird, weil unfähige Manager sie bankrott gemacht haben, wenn er sein halb abbezahltes, mit so viel Mühe gebautes Häuschen für einen Spottpreis verkaufen muß, wenn die Bank ihn und seine Familie im Regen stehen läßt, weil er die monatlichen Raten nicht mehr bezahlen konnte. Nun ist guter Rat teuer und auch nicht so schnell zu bekommen. Jetzt kommt es wieder, dieses sonderbare, schon längst vergessene und für immer überwunden geglaubte Gefühl im Bauch. Man macht noch zwei, drei vergebliche Versuche, doch noch mit dem Kopf durch die Wand, mit den alten Strategien durch die neuen Anforderungen zu kommen, und dann steckt die Karre endgültig fest. Die untergründige Angst, und mit ihr die im Gehirn ausgelöste Streßreaktion, ist nicht mehr aufzuhalten, sie wird unkontrollierbar. Hilflosigkeit und Verzweiflung machen sich breit, und der Körper wird immer wieder von den 72 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Wellen an Streßhormonen überschwemmt, die bei derartigen unkontrollierbaren Belastungen zwangsläufig ausgeschüttet werden, tagelang, manchmal wochenlang. Diese fortwährende Überflutung des Körpers mit Streßhormonen bleibt nicht folgenlos, und je länger sie anhält, um so schwerwiegender sind ihre Auswirkungen auf die verschiedensten Organe und deren Funktionen. Die Unterdrückung der Bildung von Sexualhormonen ist wohl noch der harmloseste Effekt, denn die Begeisterung für Sex ist angesichts der sich ausbreitenden Angst und Verzweiflung meist ohnehin schon auf den Nullpunkt gesunken. Schlimmere Konsequenzen hat die durch eine derartig andauernde Erhöhung der Streßhormonspiegel ausgelöste Unterdrückung der körpereigenen Abwehrmechanismen. Ein Erreger nach dem anderen kann sich nun ungehindert im Körper ausbreiten, und es dauert sehr lang, bis der Körper sich wieder einigermaßen von diesen Krankheiten erholt hat. Natürlich ist auch der Schlaf gestört. Er wird von unruhigen Träumen zerfahren und spendet kaum noch Kraft und Erfrischung für den kommenden Tag. So gerät allmählich alles aus dem Gleis, es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann das schwächste Glied in der Kette, die unseren Körper zusammenhält, zerbricht. Wir ahnen, daß es so nicht weitergeht, daß eine Lösung gefunden, daß unser Leben verändert werden muß. Nur wie? Immer wieder suchen wir unser Gehirn nach einer brauchbaren Verschaltung ab, und jedesmal merken wir, wie unsere Gedanken automatisch in die alten bequemen Bahnen der inzwischen unbrauchbar gewordenen Straßen unseres Denkens und Empfindens rutschen. So fest sitzt das alles. So tiefe Spuren haben wir, ahnungslos und vom Erfolg geblendet, in unser Gehirn eingegraben. Mit eigener Kraft kommen wir hier nur schwer wieder heraus. 73 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Völlig ohne unser Zutun geschieht jedoch, solange dieser Zustand einer unkontrollierbaren Belastung anhält, etwas in unserem Gehirn. Ganz allmählich und ohne daß wir etwas davon merken, weichen die Streßhormonwellen, die ja ständig auch unser Gehirn, seine Nervenzellen und ihre Verschaltungen überfluten, die dort entstandenen Straßen auf. Wie die Meeresbrandung bei Sturmflut Straßen und Dämme unterspült, zerlöchert und unbrauchbar macht, trägt auch die ständige Anflutung von Streßhormonen dazu bei, die bereits ausgebildeten Strukturen, die bereits entwickelten Spezialisierungen, die bereits entstandenen, gebahnten Verschaltungen allmählich aufzulösen. Die im Blut zirkulierenden Glukokortikoide gelangen problemlos in das Gehirn und binden an die im Zytoplasma von Nervenund Gliazellen vor allem in limbischen und kortikalen Regionen reichlich vorhandenen Glukokortikoidrezeptoren. Die so entstandenen Hormon-Rezeptor-Komplexe wandern in den Zellkern und bewirken dort (als Liganden-gesteuerte Transkriptionsfaktoren) nachhaltige Veränderungen der Genexpression und damit der bisherigen Leistungen und Funktionen dieser Zielzellen. In Abhängigkeit von der Dosis, der Dauer der Einwirkung und des jeweiligen Zustands ihrer Zielzellen können Glukokortikoide sowohl degenerative als auch regenerative Wirkungen ausüben. Darüberhinaus haben sie eine permissive Wirkung, das heißt, sie verstärken oder verringern die Antwort ihrer Zielzellen auf andere Signale. So können Glukokortikoide in niedrigen Konzentrationen das Auswachsen von Nervenzellfortsätzen fördern (McEwen und Brinton 1987), in höheren Konzentrationen jedoch hemmen (McEwen u.a. 1993). Nervenzellen, die besonders viele Glukokortikoidrezeptoren besitzen, wie die Pyramidenzellen des Hippokampus, sind zwangsläufig besonders empfindlich für die Wirkungen von Kortikosteroiden. Sie degenerieren, wenn der Kortisolspiegel durch Entfernen der Nebennieren von Versuchstieren abfällt (McEwen u.a. 1992). Ihre Dendritenbäume degenerieren aber auch und die Neurone sterben unter Umständen sogar ab, wenn es infolge längerdauernder unkontrollierbarer Streßreaktionsprozesse zu stark erhöhten Glukokortikoidspiegeln kommt (Sapolski u.a. 1985; Uno u.a. 1989; Fuchs u.a. 1995;). Von diesen degenerativen Wir-

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kungen sind vor allem solche Neurone und deren Fortsätze betroffen, die zusätzlich durch fortgesetzte erregende Eingänge (Glutamat) übermäßig stimuliert werden (Sapolsky 1990). Gleichzeitig führt die langanhaltende Aktivierung von Glukokortikoidrezeptoren zur Unterdrückung der Synthese und Ausschüttung von neurotrophen Faktoren durch Gliazellen (Smith u.a. 1995). Interessant sind auch die Wirkungen von Glukokortikoiden auf die Funktion der monoaminergen Systeme, speziell des noradrenergen Systems. So wird die Noradrenalin-induzierte Stimulation der cAMP-Bildung (Substanz der intrazellulären Signalübertragung) in Neuronen und Gliazellen durch langfristig erhöhte Glukokortikoidspiegel gehemmt (Roberts u.a. 1984; DeKloet u.a. 1986), die Noradrenalinausschüttung verringert und der Noradrenalin-Umsatz reduziert (Lachuer u.a. 1992; Buda u.a. 1994). Durch starke Streßbelastungen kommt es sogar zur Degeneration noradrenerger Axone und einer daraus resultierenden Verringerung der noradrenergen Innervationsdichte im Kortex (Nakamura u.a. 1991). Die mit unkontrollierbarem Streß einhergehende Stimulation der Glukokortikoidausschüttung beeinflußt aber nicht nur das noradrenerge System, auch serotonerge, dopaminerge und peptiderge Mechanismen der Signalübertragung im ZNS werden durch Glukokortikoide langfristig moduliert. Im Verlauf unkontrollierbarer Belastungen kommt es auch zu einem massiven Abfall der Produktion und Ausschüttung von Sexualsteroiden, die ihrerseits als trophische Faktoren an der Regulation struktureller Reorganisationsprozesse im ZNS beteiligt sind (Rivier u.a. 1986; Rabin u.a. 1988). Generell zeigen Tierversuche einen hochinteressanten und sehr konsistenten Effekt: Hohe Spiegel von Glukokortikoiden, wie sie physiologischerweise bei unkontrollierbarem Streß erreicht werden, faszilitieren die Extinktion von erlernten Verhaltensreaktionen und führen zur Elimination vor allem solcher Verhaltensweisen, die für eine erfolgreiche Beendigung des Streß-Reaktions-Prozesses ungeeignet sind (Bohus und DeWied 1980; VanWimersma-Greidanus 1989). Die mit unbewältigbaren Belastungen einhergehenden langanhaltenden neuroendokrinen Veränderungen können also offenbar – über die von ihnen ausgelösten plastischen Veränderungen neuronaler Verschaltungsmuster in limbischen und kortikalen Hirnregionen, vor allem durch die Destabilisierung und Auflösung bisher stabilisierter Verbindungen – zu sehr grundsätzlichen Veränderungen des Denkens, Fühlens und Handelns eines Individuums führen.

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Die Aneignung neuer Bewertungs- und Bewältigungsstrategien, grundlegende Veränderungen im Denken, Fühlen und Handeln werden durch die vorangehende Destabilisierung und Auslöschung unbrauchbar gewordener Muster erst ermöglicht. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, daß vor allem Umbruchphasen wie die Pubertät oder andere psychosoziale Schwellensituationen, die zu psychosozialen Neuorientierungen zwingen, besonders häufig mit langanhaltenden, unkontrollierbaren psychischen Belastungen einhergehen. Vereinfacht ausgedrückt heißt das: Unkontrollierbarer Streß kann veraltete, für neuartige Anforderungen unbrauchbare Bewertungs- und Bewältigungsmuster durch überwiegend degenerative Veränderung der ihnen zugrundeliegenden neuronalen Verschaltungen destabilisieren und auslöschen. Ein solcher Prozeß geht, je länger er anhält, mit einer zunehmenden Labilisierung und der Gefahr einer Dekompensation des Individuums einher. Da diese Destabilisierungen die Entstehung eine Vielzahl körperlicher und geistiger Erkrankungen begünstigen, wurden in der Streßforschung bislang fast ausschließlich die pathogenen Auswirkungen unkontrollierbarer Belastungen untersucht, und »tonische Aktivierung« als etwas Destruktives und zu Vermeidendes angesehen (»Dysstress«).

Wieder einmal ist unser Gehirn und unser Körper so viel schlauer, als wir uns das vorzustellen bereit sind. Wenn es in einer bestimmten Richtung nicht mehr weiterzugehen scheint, wird ganz einfach all das aufgelöst und weggespült, was uns so hartnäckig daran hindert, eine andere Richtung einzuschlagen, neue Wege des Denkens und Fühlens auszuprobieren. Das ist es also, was unsere Großeltern meinten, wenn sie sagten: »Wenn einer lange genug mit dem Kopf gegen die Wand gerannt ist, wird es drinnen schon weich werden«. Aber auch dieser eingebaute Mechanismus, der die immer neue Anpassung der in unserem Gehirn angelegten Verschaltungen an die jeweiligen Erfordernisse unserer Lebenswelt ermöglicht, kann überschießen. Ebenso wie es durch übermäßige Bahnungsprozesse im Verlauf wiederholter kontrollierbarer Belastungen zur neurotischen Fixierung des Denkens, Fühlens und 76 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Handelns eines Menschen kommen kann, kann die Destabilisierung neuronaler Verschaltungen bei langanhaltenden unkontrollierbaren Belastungen tiefer reichen und mehr auflösen, als eigentlich erforderlich wäre. Die mit Verzweiflung und Ratlosigkeit einhergehende unkontrollierbare Streßreaktion ist die Voraussetzung dafür, daß wir einen neuen, geeigneteren Weg zur Bewältigung der Angst finden. Dauert sie zu lange an, so werden die immer wieder anflutenden Streßhormonwellen zu einer wachsenden Gefahr für unsere geistige, emotionale und körperliche Integrität. Eine kleine Sicherung ist in unserem genetischen Programm auch für diesen Fall noch eingebaut. Die hohen Kortisolspiegel wirken nämlich wie eine Bremse auf diejenigen Zellen im Gehirn und im Körper, die durch Streßbelastungen übermäßig aktiviert werden. Jeder weiß, daß ein Auto mit Vollgas und angezogener Handbremse nicht lange fährt. Er sollte deshalb in der Lage sein, auch die aus seinem Körper kommenden Störgeräusche, die Anzeichen eines überhitzten Motors und abgefahrener Bremsbeläge wahrzunehmen, anzuhalten und sich auf den nächstbesten Hügel zu setzen, um darüber nachzudenken, wo die Ursachen dieser Störung liegen. Erst dann, wenn die breiten Straßen und Autobahnen in seinem Hirn weggeräumt und eingeschmolzen sind, hat der Mensch die Freiheit wiedergewonnen, mit seinen Gedanken nun auch einen der vielen anderen, selten benutzten und fast vergessenen kleinen Wege zu begehen. Erst jetzt kann er sich wirklich auf die Suche machen, auf die Suche nach einem ganz anderen, neuen Weg. Jetzt hat er die Chance, eine alte Verschaltung wiederzuentdecken, deren Benutzung dazu führt, daß die unlösbar geglaubten Probleme sich entweder in Luft auflösen, weil er erkennt, daß sie gar keine wirklichen Probleme waren, oder daß er sie letztlich doch, wenngleich ganz anders, als er sich das ursprünglich 77 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

vorgestellt hatte, beiseite räumen kann. Die Angst ist weg, die unkontrollierbare Streßreaktion ist kontrollierbar geworden. Jetzt kann er tief durchatmen, und im vorangehenden Kapitel (vorsichtshalber) noch einmal nachlesen, wie es weitergeht.

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Es wandert eine schöne Sage Wie Veilchenduft auf Erden um, Wie sehnend eine Liebesklage Geht sie bei Tag und Nacht herum. Das ist das Lied vom Völkerfrieden Und von der Menschheit letztem Glück, Von goldner Zeit, die einst hienieden, Der Traum als Wahrheit kehrt zurück, ... Wer jene Hoffnung gab verloren Und böslich sie verloren gab, Der wäre besser ungeboren: Denn lebend wohnt er schon im Grab. Gottfried Keller

Der intelligente Weg Ich ahne schon, daß diejenigen, die nur das Kleingedruckte lesen, nun allmählich Probleme haben, dem Großgedruckten zu folgen. Deshalb wollen wir das, was wir uns inzwischen erarbeitet haben, noch einmal in kleiner Schrift auf den Punkt bringen. Die Offenheit aller lebenden Systeme macht ihre innere Ordnung störanfällig für Änderungen ihrer Außenwelt. Solche Veränderungen führen jedoch normalerweise nicht zu chaotischen Störungen ihrer bisher entwickelten inneren Struktur und Organisation. Jedes lebende System verfügt über eine Reihe von Mechanismen, die dazu beitragen, Veränderungen der Außenwelt abzupuffern, abzuschwächen oder ihnen auszuweichen, und die in Abhängigkeit von ihrer Nutzung immer besser ausgebaut und fortentwickelt werden. Anschauliche Beispiele derartiger adaptiver Modifikationen finden sich auf der Ebene körperlicher Merkmale (Änderungen der Schwanzlänge bei Mäusen bei veränderter Außentemperatur, verstärkte Keratinisierung der Haut bei erhöhter Beanspruchung etc.) wie auch auf der Ebene psychischer Reaktionen (Verdrängung, Abschirmung, selektive Aufmerksamkeit etc.). Zu derartigen adaptiven Modifika-

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tionen kommt es immer dann, wenn die Störung der Außenwelt und damit das Ausmaß der im System erzeugten Unordnung gering bleibt und geeignete Reaktionen zur Beseitigung der Störung angelegt sind und aktiviert werden können, wenn es sich also für das betreffende System um eine kontrollierbare Belastung handelt. Die zwangsläufige Konsequenz wiederholter, kontrollierbarer Belastungen ist die Bahnung, der Ausbau, die schrittweise Verbesserung der Effizienz der zur Beseitigung der Störung (des Stressors) benutzten Mechanismen. Sie führt im Fall wiederholter gleichartiger kontrollierbarer Belastungen zur Herausbildung ganz bestimmter Spezialisierungen und endet damit, daß die betreffende Störung schließlich durch eine zur Routine gewordene Reaktion abgefangen und unwirksam gemacht werden kann. Der Ausbau von Mechanismen, die besonders geeignet sind, eine ganz bestimmte Art von Störungen der inneren Ordnung eines lebenden Systems aus der Außenwelt zu unterdrücken, hat zur Folge, daß das betreffende System gegenüber andersartigen, bisher selten aufgetretenen Störungen anfällig wird, anfälliger als ein System, das im Verlauf seiner bisherigen Entwicklung einer Vielzahl verschiedenartiger kontrollierbarer Belastungen ausgesetzt war. Die zunehmende Spezialisierung eines Systems auf die Beseitigung ganz bestimmter Störungen schränkt zwangsläufig seine Fähigkeit ein, adäquat auf andere, bisher seltener aufgetretene Veränderungen seiner Außenwelt zu reagieren. Wenn sie eintreten, kommt es zu einer wesentlich tiefgreifenderen Störung der inneren Ordnung des Systems, die nun nur noch durch die Aktivierung unspezifischer »Notfall«-Reaktionen für eine gewisse Zeit aufrechterhalten werden kann. Kann keine geeignete Abwehrstrategie aktiviert werden, bleibt die Störung also unkontrollierbar, so kommt es zu einer zunehmenden Destabilisierung des Systems und der bisher von diesem System entwickelten Spezialisierungen. Diese Destabilisierung ist die notwendige Voraussetzung für eine Neuorganisation seiner inneren Ordnung. Als Ergebnis dieser adaptiven Reorganisation können neuartige Strategien und Reaktionen herausgeformt werden, die destabilisierende Einflüsse aus der Außenwelt verringern. Durch die wiederholte Aktivierung und erfolgreiche Benutzung dieser Mechanismen kommt es zur Bahnung und Festigung dieser Neuentwicklungen und damit zu einer Verbesserung der adaptiven Potenz des betreffenden Systems. Die Reaktion des ZNS auf entweder kontrollierbare oder unkontrollierbare Belastungen und ihre unterschiedlichen Auswirkungen auf die Struktur und

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Organisation verhaltenssteuernder neuronaler Netzwerke ist lediglich ein besonders anschauliches Beispiel für die durch kontrollierbare und unkontrollierbare Störungen ausgelösten adaptiven Modifikationen beziehungsweise Reorganisationen der inneren Struktur und Organisation lebender Systeme auf allen Ebenen. Tatsächlich handelt es sich hierbei um ein generelles Entwicklungsprinzip, das beschreibt, auf welche Weise die immer wieder auftretenden (und zumeist von einem lebenden System selbst erzeugten) Veränderungen der äußeren Bedingungen zu entsprechenden Veränderungen der inneren Struktur und Organisation lebender Systeme führen. Es gilt als Prinzip für jedes lebende System, gleichgültig, ob es sich hierbei um eine Zelle, einen Organismus, eine Population oder eine Gesellschaft handelt. Jedes System produziert bei einer Störung seiner inneren Ordnung ein charakteristisches Muster von Signalen, das gewissermaßen eine physikalische, chemische oder sprachliche Kodierung von Art und Ausmaß der Störung darstellt. Diese zuerst von bestimmten Teilbereichen des Systems generierten, allgemeinverständlichen Signale breiten sich innerhalb des Systems aus und lösen in anderen Subsystemen ihrerseits charakteristische Veränderungen der inneren Ordnung aus. Art und Ausmaß dieser nunmehr Signal-kodierten Veränderungen sind jedoch eindeutiger definiert und lösen spezifische Antworten aus, die im Fall kontrollierbarer Störungen zur Festigung, im Fall unkontrollierbarer Störungen zur Destabilisierung der in einzelnen Bereichen des Gesamtsystems bisher etablierten inneren Struktur und Organisation führen. Beide Arten von Streßreaktionen, also die kontrollierbaren Herausforderungen als auch die unkontrollierbaren Belastungen tragen, in jeweils spezifischer Art und Weise zur Strukturierung des Gehirns, also zur Selbstorganisation neuronaler Verschaltungsmuster im Rahmen der jeweils vorgefundenen äußeren, psychosozialen Bedingungen bei: Herausforderungen stimulieren die Spezialisierung und verbessern die Effizienz bereits bestehender Verschaltungen. Sie sind damit wesentlich an der Weiterentwicklung und Ausprägung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale beteiligt. Schwere, unkontrollierbare Belastungen ermöglichen durch die Destabilisierung einmal entwickelter, aber unbrauchbar gewordener Verschaltungen die Neuorientierung und Reorganisation von bisherigen Verhaltensmustern.

Wissen Sie, was ein sich selbst organisierendes System ist? Ich auch nicht. Aber unser Gehirn scheint genau so etwas zu sein, ein System, das seine innere Organi81 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

sation immer wieder neu an die jeweils vorgefundenen äußeren Bedingungen anpaßt. Bleiben diese Bedingungen über längere Zeit gleich, bleiben auch die einmal zur Bewältigung dieser Anforderungen eingeschlagenen Lösungswege und die dabei benutzten Verschaltungen so wie sie sind. Wenn diese Anforderungen zunehmen, passiert zunächst erst einmal gar nichts. Das Gehirn arbeitet weiter wie ein Computer, der nicht mitbekommt, daß er zu langsam und seine Festplatte zu klein ist. Sobald wir aber spüren, daß die Anforderungen anfangen, unsere Fähigkeiten zu überschreiten, schaltet unser Gehirn einen Mechanismus ein, der diejenigen Verschaltungen ausbaut, bahnt und effizienter nutzbar macht, die zur Bewältigung der betreffenden Anforderungen gebraucht werden. Wenn sich nun die Art dieser Anforderungen grundsätzlich verändert, passiert wieder gar nichts. Wieder arbeitet das Gehirn weiter wie ein zwar intelligenter, lernfähiger Computer, der aber nicht merkt, daß er auf dem falschen Programm läuft. Wenn wir jedoch spüren, daß sich inzwischen etwas ganz grundsätzlich verändert hat, daß wir mit den bisherigen Strategien nicht mehr weiterkommen, schaltet unser Gehirn einen Mechanismus ein, der die zu stark gebahnten Verschaltungen auflöst. So werden wir in die Lage versetzt, noch einmal ganz woanders anzufangen, etwas Neues zu versuchen und, wenn es funktioniert, umzulernen. An diesem Punkt stürzt jeder noch so schnelle und gescheite Computer garantiert ab. Es sei denn, er wäre so konstruiert, daß auch er spürt, daß etwas an seinem Programm nicht stimmt, daß er so etwas wie Angst empfindet und deshalb so etwas wie eine unkontrollierbare Streßreaktion in seinem Inneren ausgelöst wird. Im Verlauf dieser Reaktion müßte er nicht alle, sondern nur diejenigen seiner bisher benutzten Programmteile, die für die neuen Aufgaben nicht zu gebrauchen sind, nicht einfach nur löschen, sondern irgendwie abschwächen. 82 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Merken Sie, wo es bei allen noch so ausgefeilten Maschinen, die wir bauen können, klemmt, wo es immer wieder klemmen wird? Sie bekommen einfach nicht mit, was in der Welt passiert, wenn wir es ihnen nicht vorher sagen und ihnen irgendwie einprogrammieren. Was sie nicht von uns wissen, merken sie nicht, und was wir ihnen gestern gesagt haben, kann morgen schon ganz falsch sein, denn wir leben in einer sich ständig verändernden Welt. Um wirklich vorhersehen zu können, wie sich diese Welt verändern wird, müßten wir sie in Kenntnis der diesen Veränderungen zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten bewußt gestalten. Dann wäre nicht nur unser Gehirn, sondern auch die ganze uns umgebende Welt ein sich selbst optimierendes System. Visionäre einer solchen Welt, wie Teilhard de Chardin (1959) oder Erich Fromm (1979), haben uns immer wieder zu sagen versucht, worauf es hierbei vor allem ankommt: Wir müssen noch viel genauer sehen lernen und besser merken, was um uns herum geschieht und wie wir unsere Lebenswelt durch unser Handeln verändern. Wir dürfen nicht blind und nur deshalb, weil wir und andere es bisher so getan haben, einzelne Wege unseres Denkens, Fühlens und Handelns zu Autobahnen werden lassen, die wir selbst dann nicht mehr verlassen können, wenn absehbar wird, daß diese in die falsche Richtung führen.

Damit in den Gehirnen möglichst vieler Menschen keine breiten Straßen, sondern möglichst viele kleine und vielfach verzweigte Wege entstehen, damit Menschen frei werden, den Träumen anderer zu lauschen und nach gemeinsamen Wegen zu suchen, um sie wahr werden zu lassen, müssen sie hellwach sein und dürfen sich nicht wie ein Computer programmieren lassen. Sie müssen merken, was um sie herum passiert. Sie müssen äußerst empfindliche Antennen ausbilden, um so früh wie möglich erkennen zu können, wenn sich die Verhältnisse, in denen sie leben und von denen ihr Überleben abhängt, zu verändern beginnen. Sobald sie eine derartige Veränderung wahrnehmen, 83 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

müssen in ihrem Gehirn die Alarmglocken zu läuten beginnen. Ich glaube, es wird höchste Zeit, daß wir uns anschauen, wie und wodurch unser Gehirn doch immer wieder unbemerkt wie ein Computer programmiert wird.

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Du mußt das Leben nicht verstehen, dann wird es werden wie ein Fest. Und laß dir jeden Tag geschehen so wie ein Kind im Weitergehen von dem Wehen sich viele Blüten schenken läßt. Sie aufzusammeln und zu sparen, das kommt dem Kind nicht in den Sinn. Es löst sie leise aus den Haaren, drin sie so gern gefangen waren, und hält den lieben jungen Jahren nach neuen seine Hände hin. Rainer Maria Rilke

Spurensuche Wir sind damit wieder bei der alten Frage angekommen, warum wir so sind, wie wir sind, durch was unser Denken, Fühlen und Handeln tatsächlich bestimmt wird. Einer, der intensiv nach einer Antwort auf diese Frage gesucht hat und dabei ebenso Bemerkenswertes wie Bizarres aus den frühen Kindheitserinnerungen Erwachsener zutage gefördert hat, war Sigmund Freud. Er hatte, ebenso wie vor ihm Karl Marx und Charles Darwin, begriffen und – was wohl das wichtigste war – seinen Zeitgenossen auch begreiflich machen können, daß sich das, was ist, nur verstehen läßt, indem man sich fragt, wie es so, wie es ist, geworden ist. Wenn der Weg, den ein Mensch, den die menschliche Gesellschaft oder den eine bestimmte Tierart im Lauf der Zeit zurücklegt, von so vielen Ereignissen beeinflußt und in seiner Richtung bestimmt wird, wie das nun einmal der Fall ist, dann wird eine solche Spurensuche zu einem mühsamen Unterfangen. Wenn dann noch jeder an einer anderen Stelle und nach anderen Einflüssen zu suchen beginnt, ist das chaotische Ende all dieser Bemühungen vorprogrammiert. 85 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

So sind die Psychoanalytiker auf ihrem Weg bei der frühen Kindheit und den unterdrückten sexuellen Wünschen angekommen, die Entwicklungspsychologen bei den Stufen des kindlichen Abstraktionsvermögens, bei dem, wie und was Kinder lernen, die Epigenetiker bei den vorgeburtlichen Einflüssen im Mutterleib, die Genetiker bei den ererbten, die frühe Hirnentwicklung steuernden genetischen Programmen und die Soziobiologen bei dem, was diese Gene in grauer Vorzeit vielleicht dazu gebracht haben mag, unser Verhalten noch heute zu steuern. Alle kommen zu Erkenntnissen und Aussagen, die ein Stück weit tragen und überzeugen, – bis sie anfangen, einander zu widersprechen und sich gegenseitig zu entwerten. Das Durcheinander ist perfekt, alle haben Recht, aber jeder eben nur ein bißchen. Und wir, was machen wir? Wir gestatten immer demjenigen, seine Meinung am lautesten zu verkünden, dessen Auffassung davon, wie wir so geworden sind, wie wir sind, uns zur Zeit am besten in den Kram paßt. Wollen wir gerade einmal die Welt verändern, holen wir Freud und Piaget und all diejenigen hervor, die uns darin bestärken, daß der Mensch sich ändern, daß er erzogen werden kann. Sind die Weltverbesserer wieder einmal mit ihren Konzepten gescheitert, wird den Genetikern und Soziobiologen das Wort erteilt und Gelegenheit gegeben, ihren Graben noch etwas tiefer auszuheben. So geht das Pendel hin und her, bis – ja, bis was? Bis uns entweder die Kraft oder ganz einfach die Lust vergeht, es ständig wieder anzustoßen. Irgendwann bleibt es dann stehen. Unten, in der Mitte. Es ist noch nicht ganz so weit, aber es scheint so, als könnten wir diesen Zustand, der nur noch durch das Gewicht, nicht den Schwung der Argumente bestimmt wird, noch selbst miterleben. Dann erst hätten wir Gelegenheit, unbefangen von allen Seiten genauer hinzuschauen, und würden feststellen, daß die Herausbil86 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

dung der kognitiven und emotionalen Fähigkeiten eines Menschen sowohl von gewissen angeborenen Voraussetzungen als auch von den während seiner Entwicklung vorgefundenen Bedingungen abhängt. Als erstes würden wir sehen, was jede Hebamme schon lange weiß, daß es nämlich keine zwei Neugeborenen gibt, ja nicht einmal eineiige Zwillinge, die sich in jeder Hinsicht gleichen. Jeder Mensch ist bereits dann, wenn er geboren wird, anders als alle anderen. Er sieht nicht nur anders aus, er verhält sich auch anders. Der eine ist ruhiger, der andere lauter, der eine interessierter an dem, was ihn umgibt, der andere weniger, der eine läßt sich durch fast nichts erschüttern, der andere schreit bei jeder Kleinigkeit, der eine verhält sich fordernd, der andere nachgiebig. Jeder für sich ist einzigartig. Bereits unmittelbar nach der Geburt ist schon nicht mehr auseinanderzuhalten, was von dieser Einzigartigkeit durch die von den Eltern stammenden genetischen Programme verursacht und was davon bereits das Ergebnis von Einflüssen ist, denen das Neugeborene während seiner sehr langen und äußerst komplizierten Entwicklung im Mutterleib ausgesetzt war. Die Entwicklung des kindlichen Gehirns folgt einem grundsätzlichen Entwicklungsprinzip aller lebenden Systeme: Neue Interaktionen (hier: neuronale Verbindungen und synaptische Verschaltungen) können nur im Rahmen und auf der Grundlage bereits etablierter Interaktionsmuster ausgebildet und stabilisiert werden. Dabei müssen sie den bereits entwickelten Interaktionsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Subsystemen folgen. Wie alle lebenden Systeme entwickelt sich auch das Gehirn nur dann, wenn neuartige Bedingungen auftreten, die die Stabilität der bereits etablierten Interaktionen in Frage stellen. Solche Bedingungen werden oft von dem sich entwickelnden System selbst verursacht (im sich entwickelnden Gehirn etwa durch Proliferation von neuralen Zellen, Auswachsen von Fortsätzen, Sekretion von wachstumshemmenden und -stimulierenden Faktoren etc.). Solange das der Fall ist, verläuft die (Hirn)Entwicklung weitgehend autonom, selbstorganisiert und eigendynamisch innerhalb der jeweils herrschenden äußeren

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(intrauterinen) Bedingungen. In dem Maße, wie Proliferation und Wachstum erlöschen, verliert das sich entwickelnde Gehirn eine wesentliche Triebfeder seiner Eigendynamik. In dem Maße, wie das sich entwickelnde Gehirn zunehmend Verbindungen zur Außenwelt erlangt, werden die bereits etablierten Verschaltungen und Erregungsmuster über die entsprechenden sensorischen Eingänge zunehmend von außen beeinflußbar. Mehr noch, da nun die durch sensorische Eingänge getriggerten Erregungsmuster dazu führen, daß bestimmte neuronale Verschaltungsmuster stabilisiert werden können, hängt die Stabilität dieser Verschaltungen von den jeweiligen sie stabilisierenden Eingängen und Erregungsmustern ab. Von diesem Zeitpunkt an verläuft die Hirnentwicklung nicht mehr autonom gegenüber sensorischen Inputs, sondern sie wird durch die sensorischen Eingänge aus der Außenwelt bestimmt und bleibt von ihnen abhängig.

Jeder von uns hat bis zum Zeitpunkt seiner Geburt schon eine ganze Menge gelernt. Wenn er auf die Welt kommt, weiß er zumindest eines sehr genau, nämlich was Geborgenheit bedeutet. Jetzt lernt er die Angst kennen, und er spürt die Auswirkungen der damit einhergehenden Streßreaktion an seinem ganzen Körper. Es geht um das nackte Überleben, und er kennt zunächst nur eine Lösung: Er schreit und versucht verzweifelt, wenigstens einen Zipfel dieser Wärme und Abgeschirmtheit, dieser sicheren Versorgung und dieses schwimmenden schwerelosen Schaukelns im Bauch der Mutter wiederzufinden. Alles, was er von dort bereits kennt, den Herzschlag der Mutter oder eine immer wieder gehörte Melodie, selbst Gerüche, die er nun wiedererkennt, hilft ihm, die Angst zu unterdrücken, die er in seiner völlig neuen Welt erlebt. Er strebt immer wieder dorthin zurück, und indem er das tut, macht er eine neue Erfahrung nach der anderen. Zu diesen Erfahrungen zählen all die kleinen Erfolge, die seine Streßreaktion kontrollierbar machen. Dabei werden diejenigen Verschaltungen in seinem Gehirn gebahnt, die er bei seiner Suche nach dem verlorengegangenen Glück immer wieder benutzt. 88 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Oberflächlich betrachtet sehen viele dieser initial beobachtbaren Verhaltensreaktionen von Neugeborenen so aus, als seien sie von angeborenen, genetisch festgelegten neuronalen Verschaltungen gesteuert. Ein typisches Beispiel hierfür ist die auffällige Zielstrebigkeit, mit der alle neugeborenen Säugetiere die mütterlichen Milchdrüsen suchen und finden. Bei Ratten wurde dieses »Nippelsuchverhalten« genauer untersucht. Es stellte sich heraus, daß die Neugeborenen so zielstrebig auf die Brustwarzen der Mutter zusteuern, weil diese einen Duftstoff absondern, der auch in der Amnionflüssigkeit (Fruchtwasser) enthalten ist, und den die jungen Ratten daher bereits gut kennen. Wäscht man diesen Duftstoff von den mütterlichen Brustwarzen ab, so wird die Brust nicht mehr gefunden. Trägt man nun etwas Amnionflüssigkeit auf das Rückenfell der Mutter auf, so werden die Brustwarzen von den Jungen dort vermutet und vergeblich gesucht. Spritzt man vor der Geburt Zitronenaroma in die Amnionflüssigkeit, so werden die Nippel dort gesucht, wo die Mutter nach Zitrone riecht. Das scheinbar instinktive Nippelsuchverhalten neugeborener Ratten (und vermutlich auch anderer Säugetiere) ist somit Ausdruck der intrauterin beziehungsweise perinatal stattgefundenen Bahnung von assoziativen Verschaltungen zwischen bestimmten Geruchsempfindungen und anderen, die intrauterine Geborgenheit signalisierenden Wahrnehmungen. Nach der »Geburt« von Enten- und Gänseküken führen ähnliche Bahnungsprozesse dazu, daß die frisch geschlüpften Küken der Mutter (oder irgendjemandem, der sich bewegt, selbst einer Spielzeugeisenbahn) nachfolgen. Konrad Lorenz hat dieses Phänomen als Prägung bezeichnet. Damit es dazu kommen kann, muß sich das »Prägungsobjekt« bewegen, das heißt, es muß immer wieder aus dem Blickfeld des Kükens verschwinden. Die dadurch ausgelöste Angst muß durch eine eigene Verhaltensreaktion (Rufen, Nachfolgen) kontrollierbar gemacht werden können. Die im Verlauf dieser wiederholten Streßreaktion stattfindenden zentralnervösen Aktivierungsprozesse führen zur Bahnung der dabei benutzten Verschaltungen und damit zur Festigung bestimmter Verhaltensreaktionen. Am Beispiel der Prägung von Gänseküken auf einen Menschen wird deutlich, welche weitreichenden Konsequenzen derartige, sehr früh stattfindende, besonders intensive Bahnungsprozesse haben können: Eine solche Gans wird später versuchen, sich mit ihrem »Prägungsobjekt« zu paaren.

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Das alles passiert allen Neugeborenen und doch hat es jeder von uns etwas anders erlebt. Diejenigen, die kräftig und gesund auf die Welt kamen, fanden sich schneller in der neuen Welt zurecht als die anderen. Die schwächlicheren und empfindlicheren machten ihre Erfahrungen langsamer, dafür aber intensiver und nachhaltiger. Diejenigen, die eine ausgeglichene, erfahrene und sichere Mutter hatten, kamen in jeder Hinsicht besser voran als diejenigen, die sich immer wieder neu auf eine sich ständige verändernde Mutter einstellen mußten. Manchmal paßten die Angebote der Mutter und die Bedürfnisse des Neugeborenen gut zusammen, so daß zu schnelle Entwicklungen gebremst und damit intensiver und nachhaltiger gestaltet, zu vorsichtige, ängstliche Verhaltensweisen abgebaut und Voraussetzungen für eine raschere Entwicklung geschaffen wurden. In manchen Fällen klappte das Zusammenspiel weniger gut und die Mutter verstärkte durch ihr Verhalten zu rasche und deshalb zu einseitige oder zu ängstliche und deshalb zu wenig eigenständige Entwicklungen ihres Kindes. Was wir während dieser Phase erlebt haben, wie wir uns mit unseren Anlagen und den ersten Erfahrungen in dieser neuen Welt zurechtgefunden haben, was wir als Säugling im einzelnen gelernt haben, wissen wir heute nicht mehr. Die Verschaltungen, die wir benutzt haben, um beispielsweise unsere Bewegungen zu koordinieren, sind jedoch nicht verschwunden. Wir haben sie auf unserer weiteren Suche nach besseren Lösungen zur Kontrolle der Angst immer weiter benutzt, ausgebaut, verfeinert und an die Erfordernisse unseres weiteren Lebens angepaßt. So sind unsere tapsigen Bewegungen zu exakter Körperbeherrschung, so ist unser anfängliches Geschrei und Gebabbel allmählich zu einer verständlichen Sprache geworden, unserer Muttersprache. Jedesmal, wenn es uns gelang, unsere Angst durch die Benutzung irgendeiner der vielen, sich in un90 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

serem Gehirn herausbildenden oder schon angelegten Verschaltungen zu besiegen, war das Verschwinden der Angst unsere größte Belohnung. Wir wurden in die Arme genommen, geküßt, gestreichelt und bekamen so ein Stück der Wärme und Geborgenheit wieder, die wir mit unserer Geburt verloren hatten. Später reichte uns schon ein Lob, ein liebevoller Blick, ein freundliches Lächeln der Mutter, um uns dieses Gefühl der Geborgenheit wiederzugeben und uns Mut zu machen, auf unserem weiteren Weg. So haben wir immer wieder erfahren, wie die Angst verschwand, wenn jemand in unserer Nähe war, der uns mit seiner Wärme Sicherheit und Schutz bot, der uns liebte. Das war die erste eigene Erfahrung, die wir in unserem Leben gemacht haben. Die Verschaltungen hierfür wurden immer wieder gebahnt und das Gefühl, daß wir bei einem Menschen, der uns liebt, geborgen sind, wurde tief in das Gehirn eines jeden Menschen eingegraben. Leider haben nicht alle Kinder dieses Glück, und leider bleiben diese Verschaltungen nicht automatisch für den Rest des Lebens so fest verankert, wie sie es damals waren. Die mit kontrollierbaren Belastungen einhergehende Aktivierung des noradrenergen Leitsystems in unserem Gehirn hat während unserer ersten Lebensmonate nicht nur dazu beigetragen, die für die Bewegungskoordination und für das Gefühl des Geborgenseins verantwortlichen Verschaltungen zu bahnen. Auch unsere Wahrnehmungsfähigkeit und die Verarbeitung von Sinneseindrücken wurden immer ausgefeilter und sicherer. Immer besser wurden wir in die Lage versetzt, die durch unser Verhalten ausgelösten Reaktionen auf seiten der Mutter und dem inzwischen größer gewordenen Kreis von Bezugspersonen zu erkennen. Immer besser konnten wir herausfinden, was wir tun mußten, um uns ihre Geborgenheit, ihre Liebe zu sichern. Nun waren wir erstmals in der Lage, einfach nur durch ein Lächeln, durch ein liebes Wort, 91 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

durch ein zärtliches Streicheln die Wärme und Zuwendung eines anderen Menschen zu gewinnen, uns durch eigenes Handeln Liebe schenken zu lassen. Wir konnten das tun, wann immer wir wollten, auch ohne unmittelbare Not, Bedrängnis oder Angst. Hätten wir es jedoch tatsächlich ausschließlich so benutzt, wären die dabei aktivierten Verschaltungen in unserem Gehirn auch nicht gebahnt worden. Diese Verschaltungen wurden gebahnt, weil wir sie eben nicht einfach so, sondern vor allem immer dann benutzten, wenn wir Angst hatten. Wir haben immer dann liebevoll gelächelt und zärtlich gestreichelt, wenn wir spürten, daß der andere in Bedrängnis war, daß die Mutter oder der Vater sich Sorgen machten, daß sie Angst hatten. Jedesmal, wenn unser Lächeln von ihnen erwidert wurde, war auch unsere eigene mitfühlende Angst wie weggeblasen, wurden die betreffenden Verschaltungen ein Stück tiefer in unserem Gehirn verankert. In uns zurückgeblieben ist das Gefühl, daß wir einem anderen Menschen etwas geben können, das seine Angst besiegt, daß wir uns hingeben können. Damals haben wir begriffen, was es heißt, einen anderen Menschen lieben zu können. Damals, als unsere Eltern noch voll Ungeduld darauf warteten, wann wir endlich die ersten Schritte gehen, die ersten Worte stammeln und womöglich das erste Mal in den Topf machen würden, haben wir von ihnen fast unbemerkt zwei entscheidende Fähigkeiten erworben, die unseren weiteren Lebensweg – im Gegensatz zu den anderen vielbeachteten Fertigkeiten – tatsächlich bestimmt haben. Wie die beiden Keimblätter, die zuerst von einem aufkeimenden Samenkorn einer Sonnenblume entfaltet werden, hat sich in unserem Gehirn im Lauf unserer ersten Lebensmonate das Gefühl dafür entfaltet und gekräftigt, was es bedeutet, von anderen Menschen geliebt zu werden und unsere Liebe anderen Menschen schenken zu können. 92 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Damit dieses Gefühl wachsen kann, braucht jedes Baby jemanden, der ihm seine Wärme, seine Zärtlichkeit, seinen ganzen Körper und seine ganze Zuneigung unbefangen und ohne Zaudern nicht immerzu, sondern immer dann schenkt, wenn es Angst verspürt. Die Mutter (oder wer immer es sein mag) muß seine Signale der Verunsicherung verstehen, und sie muß ihrem Kind deutlich und so, daß es von ihm auch verstanden wird, zeigen, daß es selbst bereits in der Lage ist, nicht nur seine, sondern auch ihre Ängste zu verjagen, sie froh und glücklich zu machen. Der an das Bettchen gehängte Klimbim und das ganze »pädagogisch wertvolle« Spielzeug in der Krabbelecke ist dabei bestenfalls schmückendes Beiwerk. Wenig hilfreich sind auch alle Maßnahmen, die darauf abzielen, ein Kind bereits dann zu erziehen, wenn es noch voll und ganz damit beschäftigt ist, seine ersten beiden Keimblätter auszubilden. Die Versuche von Eltern, ihrem Sprößling bereits sehr früh beizubringen, was ihnen besonders wichtig erscheint, sind für ein Kleinkind oft nur schwer durchschaubar. Jedes vergebliche Bemühen, es dazu zu bringen, nicht mehr in die Windeln, sondern in einen Topf zu machen, löst zunächst nichts anderes als eine immer wiederkehrende unkontrollierbare Streßreaktion aus und trägt dazu bei, alle bisher schon entwickelten Verschaltungen in seinem Gehirn aufzulösen. Das sind vor allem diejenigen, die das Gefühl von Geborgenheit vermitteln, wie auch jene, die sein Vertrauen in seine Fähigkeit bestimmen, diese Geborgenheit zu erlangen. Eltern, die sich weniger von ihren Vorstellungen leiten lassen und genauer auf die Signale ihres Kindes achten, merken sehr genau, wann ihm die Sache mit den Windeln unangenehm zu werden beginnt. Das wäre der richtige Zeitpunkt, um ihm behilflich zu sein, dieses kleine Problem zu bewältigen und das Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten wachsen zu lassen. Wird er verpaßt, so lernt das Kind wieder etwas 93 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

anderes, nämlich, daß man sich an vollgemachte Windeln auch ganz gut gewöhnen kann. Auch das wird gebahnt und läßt sich später möglicherweise nur schwer wieder auflösen. Eltern müssen also ein sehr feines Gespür dafür entwickeln, was in ihrem Kind vorgeht, was es fühlt, von welchen Ängsten es getrieben wird und auf welche Weise es versucht, seine Angst und die dadurch ausgelöste Streßreaktion kontrollierbar zu machen. Wie man dieses Gespür entwickelt, weiß ich nicht. Wer sich nicht in einen Säugling hineinfühlen kann, dem wird auch die Lektüre aller Bücher, Zeitschriften und Ratgeber dieser Welt nicht wirklich weiterhelfen. Wer naiv versucht, sich in sein Kind hineinzuversetzen, ohne zumindest in Grundzügen zu wissen, wie es zu diesem Zeitpunkt seiner Entwicklung die Welt betrachtet, betrachten muß, was es fühlt, weil es gar nichts anderes fühlen kann, der hält allzuleicht und ohne es zu merken seine eigenen Vorstellungen und Empfindungen für die des Kindes. Wenigstens in groben Zügen läßt sich nachvollziehen, was ein Kind empfinden muß, nachdem es im Lauf seines ersten Lebensjahres die Erfahrung gemacht hat, daß ihm die Zuwendung der Mutter Sicherheit und Schutz bietet und die Angst vor allem Neuen zu bewältigen hilft. Es hat sich unter diesem sicheren Schirm entfaltet, hat Laufen und Sprechen gelernt, kann aus Bauklötzen Türme bauen, fast allein essen und weiß, daß es sich, wann immer es bedrohlich wird, unter diesen Schirm retten kann. Es fühlt sich in dieser Welt nun wieder ähnlich geborgen wie damals, vor seiner Geburt. Es weiß, wie sehr es diese Geborgenheit braucht, und muß sich deshalb immer wieder vergewissern, daß sie ständig verfügbar ist. Deshalb klebt es nun am Rockzipfel der Mutter wie eine Klette und paßt auf, daß keiner kommt, der diese auch noch für sich beansprucht. Seiner so geschärften 94 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Aufmerksamkeit entgeht nichts. Es merkt deshalb irgendwann, daß die Mutter selbst Rechte für sich geltend macht, daß der Vater einen Teil ihrer Aufmerksamkeit auf sich lenkt und daß womöglich auch noch Geschwister die Zuwendung der Mutter von ihm wegziehen. Jede dieser Feststellungen wird für das Kind zu einer Bedrohung seiner bisherigen Geborgenheit. Es entdeckt, daß der so sicher geglaubte Schirm voll gefährlicher Risse und Löcher ist. Sofort ist die alte Angst wieder da. Es fühlt sich noch einmal, nun zum zweiten Mal, hinausgeworfen in eine neue, fremde und bedrohliche Welt und es versucht verzweifelt, die unkontrollierbar werdende Streßreaktion kontrollierbar zu machen. Auch diesmal findet das Kind eine Lösung, aber der eingeschlagene Weg ergibt sich nun nicht mehr gleichsam automatisch. Es muß auf der Grundlage seiner bisher gemachten Erfahrungen und innerhalb der jeweils vorgefundenen Verhältnisse jetzt versuchen, sich diesen Weg durch schrittweises Vortasten, durch vielfachen Versuch und Irrtum selbst zu erschließen. Damit ist es über Jahre hinweg tagein tagaus intensiv beschäftigt. Zunächst wird das Kleinkind versuchen, die mütterliche Geborgenheit so wie bisher ausschließlich für sich selbst zurückzugewinnen. Gelingt das nicht, so muß es Ablehnung, Wut und Haß gegenüber all denen empfinden, die es dadurch bedrohen, daß sie seine Bemühungen scheitern lassen. Richtet sich diese Ablehnung ganz besonders gegen die Eigeninteressen der Mutter und sind deren Selbstentfaltungsbestrebungen so stark, daß all seine Versuche scheitern, so kann die daraus resultierende unkontrollierbare Streßreaktion so lange aktiviert bleiben, bis die ursprünglich gebahnten und für die Mutterbindung verantwortlichen Verschaltungen gelockert werden. Die enge Bindung an die Mutter wird so allmählich gelöst. 95 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Schätzt das Kind die Eigeninteressen der Mutter als weniger bedrohlich ein, so wird es den Versuch machen, sich mit den Zielen und Vorstellungen der Mutter zu identifizieren und so zu werden, wie die Mutter ist. Wird dieses Verhalten von der Mutter durch verstärkte Zuwendung belohnt, so kommt es durch die wiederholt ablaufenden kontrollierbaren Streßreaktionen zur Bahnung aller hierbei aktivierten Verschaltungen. Die Bindung wird verstärkt und von der Mutter übernommene Kompetenzen und Grundüberzeugungen werden fest verankert. Die weitere Entwicklung der Beziehungen zwischen dem Kind und seinem – die Mutter ebenfalls für sich beanspruchenden und aus diesem Grund bedrohlich erscheinendem – Vater hängt entscheidend von der Beziehung zwischen beiden Elternteilen ab. Sind die Gefühle der Mutter für den Vater bereits weitgehend abgekühlt, so kann sich die Ablehnung des Vaters als äußerst erfolgreiche Strategie erweisen, um dem Kind die ganze Gunst der Mutter zu sichern. Die dabei immer wieder aktivierte kontrollierbare Streßreaktion stabilisiert all diejenigen Verschaltungen, die im Prozeß der aktiven Ablehnung des Vaters benutzt werden. Auf diese Weise kann eine bereits entstandene Bindung an den Vater überformt und zurückgedrängt werden. Seine Kompetenzen und Vorstellungen werden nicht übernommen. Solange die Mutter sich weigert, die Versuche des Kindes, den Vater auszugrenzen, durch besondere Zuwendung zu belohnen, läßt sich das »Vaterproblem« auf diese Weise nicht lösen. Unter diesen Umständen bleibt dem Kind als alternative Strategie nur die Identifikation mit den Zielen, Wünschen und Vorstellungen des Vaters. Ist diese Strategie erfolgreich, so kommt es durch die wiederholt auftretenden kontrollierbaren Streßreaktionen zur Verstärkung aller hierbei aktivierten Verschaltungen. Die Bindung an den Vater 96 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

wird intensiver und die von ihm übernommenen Kompetenzen und Vorstellungen werden fest verankert. Auch für die weitere Gestaltung der Beziehungen zu seinen älteren und jüngeren Geschwistern muß das Kind eine der beiden Strategien einschlagen: entweder Ablehnung und Ablösung oder aber Anlehnung und Identifikation. Welchen Weg es im Einzelfall wählen wird, hängt davon ab, welches Verhalten ihm die größere Geborgenheit bietet und deshalb besser zur Bewältigung seiner Angst geeignet ist. Die entscheidende Frage nach der Entstehung von menschlichen Grundbedürfnissen wird von der gegenwärtigen Entwicklungspsychologie nur unzureichend beantwortet. Die auf Piaget zurückgehende kognitive Entwicklungspsychologie befaßt sich mit den kindlichen Entwicklungsstufen von Intelligenz, Abstraktionsvermögen und Kognition und kann kaum etwas über die emotionale Entwicklung aussagen. Die psychoanalytische Entwicklungspsychologie hat sich von der psychosexuellen Entwicklung, also der Entwicklung des Sexualtriebes im erweiterten Sinn Freuds, zur dominierenden Theorie der emotionalen Entwicklung ausgeweitet, die von triebhaften Grundbedürfnissen »Triebimpulsen« abgeleitet wird (Abhängigkeits- und Autonomiebedürfnissen, sexuelle, aggressive und narzißtische Bedürfnisse). Die sogenannten Triebimpulse durchlaufen nach dieser Vorstellung eine altersabhängige Entwicklung, die eng mit der Entwicklung der Emotionalität zusammenhängt und deren Störungen zur Herausbildung neurotischer (hysterischer) Persönlichkeitsmerkmale führt. Die Entwicklung dieser triebhaften Bedürfnisse wird traditionell in mehreren Schritten beschrieben: 1. die orale Phase, etwa von der Geburt bis zum Ende des ersten Lebensjahres, 2. die anale oder analsadistische Phase, etwa das zweite und dritte Lebensjahr umfassend, 3. die phallisch-narzißtische oder ödipale Phase, etwa im vierten und fünften Lebensjahr, 4. eine Zeit der Triebruhe (Latenzphase) zwischen dem sechsten Lebensjahr und der Pubertät, die mit ihrer endgültigen Begründung der Sexualität ins Erwachsenenalter überleitet. Dieses auf Freud zurückgehende Entwicklungsmodell ist in entscheidenden Bereichen von Spitz, Erikson und Mahler erweitert worden. Entscheidende Wandlungen erfahren diese Modelle gegenwärtig durch die von der experimentellen Entwicklungspsychologie nachgewiesene zentrale Bedeutung der Bindung (attachment)

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zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen (vgl. Kraemer 1992) und die zunehmende Kenntnis des Einflusses kontrollierbarer und unkontrollierbarer Streßreaktionen auf die Hirnentwicklung (vgl. Rothenberger und Hüther 1997). Auf der Grundlage des hier vorgestellten Konzepts lassen sich die oben genannten Triebimpulse als Manifestationen bereits stattgefundener Bahnungsprozesse auf der Ebene neuronaler Verschaltungen verstehen. Demnach wären Abhängigkeits- und Autonomiebedürfnisse, aggressive und narzißtische Bedürfnisse als erfolgreiche Bewältigungsstrategien des Kindes zu werten, deren zugrundeliegende Verschaltungsmuster durch wiederholte, kontrollierbare Streßreaktionen bereits tief im kindlichen Gehirn verankert worden sind. Die Triebfeder für die sequentielle Aneignung dieser Strategien im Denken, Fühlen und Handeln eines Kindes wäre die von ihm erlebte Angst und das daraus resultierende Grundbedürfnis nach Überwindung dieser Angst, also nach Sicherheit. Die zur Unterdrückung dieser Angst eingeschlagenen Strategien sind vom jeweiligen Entwicklungsstadium des Kindes abhängig. Sie führen über die Ausbildung der »Mutter-Kind-Dyade« zur »Triade«, der Beziehung zwischen dem Kind und beiden Elternteilen. Die dabei stattfindenden Identifikations- und Abgrenzungsversuche gehen meist mit widersprüchlichen Gefühlen einher (»Ödipuskomplex«, »Kastrationskomplex« etc.).

Über viele Jahre hinweg ist das Kind damit beschäftigt, sich in diesem Wirrwarr widerstreitender, immer neu hin- und herwogender Gefühle zurechtzufinden. Seine Suche nach einem gangbaren Weg durch dieses Gestrüpp wird auch für uns nicht leichter nachvollziehbar, wenn wir die eben gedachte, »altmodische« Familienstruktur durch eine der vielen »moderneren« Varianten ersetzen. Es macht keinen großen Unterschied, wenn die Rollen von Mutter und Vater vertauscht werden und eine starke initiale Bindung an den Vater stattfindet. Wenn Kinder allein mit der Mutter oder dem Vater aufwachsen, muß das nicht unbedingt ein Nachteil sein. Sie haben es leichter, und es gelingt ihnen vielleicht rascher, sich für den Weg der Identifikation mit dem verbliebenen Elternteil zu entscheiden, und sie werden weniger Ambivalenz in ihrer Gefühlswelt 98 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

entwickeln. Der Preis, den sie hierfür bezahlen, ist ein Mangel an Kompetenzen, deren Verschaltungen durch eine mögliche Identifikation mit dem anderen Elternteil hätten gebahnt werden können. Da eine Identifikation mit beiden Eltern jedoch kaum gelingen kann, wenn deren Beziehung durch gegenseitige Ablehnung bestimmt wird, wäre dieses Defizit auch beim Zusammenbleiben des Elternpaares entstanden. Mit Sicherheit unterschätzt wurde bisher der Einfluß der Geschwisterkonstellation auf die emotionale und geistige Entwicklung eines Kindes. Er ist dann besonders stark, wenn Geschwister gleichen Geschlechts sind und der Altersunterschied zwischen ihnen nicht zu groß ist. Der erstgeborene Bruder oder die erstgeborenen Schwester hat unter diesen Umständen immer schon einen Teil der beschützenden familiären Welt für sich in Anspruch genommen, und der wird meist sehr erfolgreich verteidigt. So ist es wenig erstaunlich, daß die Wege des Denkens, Fühlens und Handelns von Erstgeborenen wesentlich geradliniger und damit auch weniger flexibel ausgeformt werden. Die Nachgeborenen müssen grundsätzlich andere Strategien einschlagen, um ihre Ängste zu bewältigen. Diese Wege sind oft vielfältiger und verzweigter, anfangs bisweilen sogar recht bizarr, im allgemeinen aber immer weniger fest und wesentlich verschlungener als die ihrer älteren Geschwister. Wenig Beachtung hat auch die besondere Bedeutung gefunden, die Bezugspersonen aus dem Randbereich der engeren Familienstruktur für die psychische Entwicklung von Kindern erlangen können. Vor allem Großeltern, die in einer harmonischen Beziehung zu den Eltern stehen, bieten dem Kind eine einzigartige Möglichkeit, aus dem Durcheinander seiner gefühlsmäßigen Bindungen und Ablehnungen von Eltern und Geschwistern auszubrechen. Sie sind einfach da und bieten Geborgenheit und Schutz. Sie können von ei99 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

nem Kind für sich entdeckt und geliebt werden, ohne daß es ständig befürchten muß, daß sie ihm von Vater oder Mutter weggenommen werden. Manchmal gelingt das auch mit einem Onkel oder einer Tante, und versucht wird es fast immer mit Kindergärtnerinnen und den ersten Lehrerinnen und Lehrern. Auch Freunde und Freundinnen gehören zu diesem immer größer werdenden Kreis von Beziehungen, die Kinder mit anderen Menschen eingehen und die sowohl zu sicheren Schilden als auch zu ständig präsenten Quellen ihrer Ängste werden können. Oft erreichen die Beziehungen zu Freunden und Freundinnen durch die gemeinsame Identifikation mit bestimmten Vorstellungen und Vorbildern eine enorme Intensität. In zunehmendem Maß machen sich Massenmedien diesen Umstand zunutze, indem sie bestimmte, ebenso kurzlebige wie fragwürdige Vorbilder und Idole für spezifische Altersgruppen und soziale Schichten verbreiten. Experimentell läßt sich anhand von Tierversuchen nur in sehr groben Zügen nachweisen, auf welche Weise kontrollierbare und unkontrollierbare Belastungen an der Strukturierung des sich entwickelnden Gehirns und damit an der Herausformung bestimmter Grundzüge des Verhaltens und Empfindens beteiligt sind. Gut lassen sich die langfristigen Konsequenzen von wiederholten, kontrollierbaren Streßbelastungen bei Ratten veranschaulichen, die während ihrer 21tägigen Säugephase täglich für 15 Minuten von der Mutter und ihren Geschwistern getrennt in einem separaten Käfig untergebracht wurden. Dieses sogenannte »handling« führt initial zu einer deutlichen Aktivierung ihrer Streßantwort und zu Verhaltensäußerungen, die als »distress vocalisations« quantifizierbar sind. In dem Maße, wie die Tiere mit der täglichen Handling-Prozedur vertraut werden, tritt das typische Merkmal einer wiederholten kontrollierbaren Belastung zutage: Die neuroendokrine Streßantwort wird zunehmend schwächer, es kommt über die Etablierung und Bahnung der entsprechenden neuronalen Verschaltungen zur Habituation der Antwort auf den immer gleichen Stimulus. Wie komplex und wie tiefgreifend diese adaptiven Modifikationen zentralnervöser Verarbeitungsmechanismen bei diesen jungen

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Ratten sind, wird deutlich, wenn man sie als erwachsene Tiere nach etwa einem Jahr genauer untersucht: Sie zeigen deutlich verringerte Angstreaktionen und ein vermindertes Vermeidungsverhalten gegenüber neuartigen Stimuli. Ihre basale Kortikosteronsekretion ist erniedrigt und nach Aktivierung ihres HPA-Systems kommt es zu einer rascheren Normalisierung der vermehrten Glukokortikoidsekretion (Übersichten in Levine u.a. 1967; Meaney u.a. 1993; Smythe u.a. 1994). Werden juvenile Ratten unter Bedingungen (»enriched environments«) aufgezogen, die aufgrund ihrer Komplexizität eine Vielfalt verschiedenartiger Stimuli für die häufige Auslösung sehr milder, also besonders gut kontrollierbarer Streßreaktionen (novelty-stress) bieten, so entwickeln sie einen dickeren Kortex mit größeren und verzweigteren Dendritenbäumen der Pyramidenzellen, mit einer höheren Synapsendichte, einer größeren Zahl glialer Zellen und einer stärkeren Vaskularisierung (Übersicht in Greenough und Bailey 1988). Auch bei Affen ist der Einfluß derartiger, während der postnatalen und juvenilen Entwicklung durch kontrollierbare Streßbelastungen ausgelösten adaptiven Modifikationen von Cytoarchitektur und neuronalen Verschaltungsmustern auf das spätere Verhalten recht gut untersucht. Ihr Sozialverhalten ist wesentlich kompetenter, Problemlösungen werden schneller gefunden, ihre Reaktionen auf neuartige Stimuli sind kontrollierter und sie besitzen ein komplexeres Verhaltensrepertoir, wenn sie während ihrer juvenilen Entwicklung einer größeren Vielfalt neuartiger Stimuli und damit häufiger kontrollierbaren Streßbelastungen ausgesetzt wurden als ihre Geschwister (Clarke 1993). Langanhaltende Zweifel über die Zweckmäßigkeit des einzuschlagenden Weges, langdauernde emotionale Verunsicherung und die daraus resultierende anhaltende Aktivierung einer unkontrollierbaren neuroendokrinen Streßreaktion kennen nur die lernfähigsten sozial organisierten Säugetiere wie Affen und Menschen. Die wichtigsten Auslöser dieser Reaktion sind psychosoziale und psychische Belastungen. Die erste einschneidendste und mit Abstand wichtigste unkontrollierbare Belastung während der Kindheit ist der Verlust von bisher vorhandenen, Sicherheit bietenden Bezugspersonen. Junge Primaten erleben eine unkontrollierbare, langanhaltende Aktivierung ihrer neuroendokrinen Streßreaktion, wenn sie von ihrer Mutter getrennt werden (Coe und Levine 1981). Sie versuchen zunächst, mit allen Mitteln die Kontrolle über die Situation zurückzuerlangen und sind dabei sogar bereit, einen Hund oder eine ausgestopfte Puppe als Ersatz für die verlorene Bezugsperson anzu-

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nehmen. Wenn alle ihre Bemühungen scheitern, werden sie passiv, verlieren jedes Interesse an ihrer Umgebung und gehen schließlich zugrunde (Übersichten in Seligman 1975; Kraemer 1992). Die Konsequenzen unkontrollierbarer Streßbelastungen während der juvenilen Entwicklung wurden an Affen untersucht, deren Mütter gezwungen waren, ihr Futter auf recht aufwendige Weise zu beschaffen. Sie mußten ihre Jungen häufiger unbeaufsichtigt lassen und zeigten eine geringere Bindung und eine erhöhte Ängstlichkeit im Umgang mit ihnen. Im Vergleich zu »optimal« aufgewachsenen Affen sind die Jungen dieser Mütter im ersten Jahr leichter irritierbar durch neuartige Reize und stärker abhängig von der Mutter (Rosenblum u.a. 1994) und fallen noch vier Jahre später durch geringeres Selbstvertrauen, unsoziales und subordinates Verhalten auf (Andrews und Rosenblum 1991). Infolge derartiger juveniler Streßbelastungen kommt es zu erheblichen Veränderungen bei der Ausreifung globaler (adrenerger und serotonerger) Transmittersysteme. Es wird vermutet, daß derartige frühkindliche unkontrollierbare Streßbelastungen zu einer erhöhten Vulnerabilität für Angststörungen und affektive Erkrankungen führen.

Wie immer die Beziehungen aussehen, die Kinder im Lauf ihrer Entwicklung zu anderen Menschen, aber auch zu anderen Lebewesen, eingehen, sie hinterlassen Spuren, die ihr späteres Verhalten bestimmen. Diese Spuren sind die unter dem Einfluß kontrollierbarer und unkontrollierbarer Streßreaktionen stabilisierten und destabilisierten Verschaltungen in ihrem Gehirn. Damit in ihren Köpfen möglichst viele verschiedenartige und vielfältige Wege des Denkens, Fühlens und Handelns angelegt und gefestigt werden können, muß ihnen Gelegenheit gegeben werden, tiefe Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen. Flache Beziehungen rütteln das noradrenerge System nicht wach, wenn es abgeschaltet ist, und sie bringen auch keine Ruhe in das Gehirn, wenn dort das große Durcheinander einer unkontrollierbaren Streßreaktion ausgebrochen ist. Nur wenn Kindern Gelegenheit geboten wird, und sie diese Gelegenheit auch nutzen können, um sich und all das, was sie zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer 102 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Entwicklung bereits denken, fühlen und können, in immer neuen Beziehungen zu anderen Menschen zu erproben, zu erweitern, zu vertiefen und – falls erforderlich – auch wieder aufzulösen, werden sie in die Lage versetzt, sich einen gangbaren Weg durch das anfängliche Wirrwarr ihrer widerstreitenden Gefühle zu bahnen. Der Einfluß sozialer Faktoren auf die Hirnentwicklung wurde unter neurobiologischen Gesichtspunkten bisher kaum untersucht. Ein guter Überblick des gegenwärtigen Wissens findet sich bei Leon Eisenberg (1995).

Dieser Prozeß der Herausformung eines möglichst komplexen Gehirns, dessen Verschaltungen so angelegt sind und so benutzt werden können, daß das Denken, Fühlen und Handeln nicht immer wieder programmartig auf wenigen eingefahrenen Straßen und Autobahnen entlangsaust, sollte bis zum Beginn der Pubertät abgeschlossen sein. Nur so kann die nun erwachende Sexualität und Erotik als ein neuer, sich vielfach verzweigender Weg ohne Zwang und Angst mit den bisher entwickelten Wegen des Denkens und Fühlens verbunden werden. Menschen, denen das gelungen ist, werden die durch die Angst ausgelöste Streßreaktion auch auf ihrem weiteren Lebensweg nutzen können, um diejenigen Verschaltungen in ihrem Gehirn auszubauen und weiterzuentwickeln, die ihr Wissen und ihr Können mit dem fest verankerten Gefühl von Liebe und Verantwortung verbinden. Sie brauchen nicht länger krampfhaft nach dem Sinn des Lebens zu suchen, denn sie sind frei geworden, ihn täglich neu zu entdecken. Wenn sie irgendwann später einmal erleben, mit welcher Hingabe ihr Kind die Blumen auf einer Wiese gießt, können sie dieses Bild in der glücklichen Erkenntnis genießen, daß es offenbar ebenfalls auf dem richtigen Weg ist. Wie schön wäre es, wenn wir dem blumengießenden Mädchen noch eine Zeitlang ungestört zuschauen 103 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

könnten. Aber wir sehen ihn in unserem Geist schon kommen, den älteren, wohlmeinenden Herrn mit seinem Spazierstock in der Hand und der Brille auf der Nase, der es nicht lassen kann, unserem Mädchen zu sagen, was für ein Blödsinn es sei, die Blumen auf der Wiese zu gießen. Auch er ist mit Ängsten in eine Welt und in Bedingungen hineingewachsen und hat bestimmte Lösungen gefunden oder vorgefunden, die die Wege seines Denkens, Fühlens und Handelns gebahnt haben. Und wir sehen in unserer Vorstellung einen Jungen, der hinter dem Mädchen pfeifend daherkommt und mit einem Stock jede der eben begossenen Blumen zerschlägt. Auch er benutzt dabei bestimmte Verschaltungen in seinem Gehirn, die er als scheinbar erfolgreiche Lösungen zur Bewältigung seiner Ängste gebahnt hat. Wir wissen auch, daß jeden Augenblick ein Mann aus dem Gebüsch hervortreten kann, um seine Hose zu öffnen, und dem Mädchen sein Geschlechtsteil zu präsentieren, ein Mann, dem es nicht gelungen ist, die in der Pubertät erwachende Sexualität ohne Angst mit den wenigen Verschaltungen zu verbinden, die er bis dahin zu entwickeln Gelegenheit gehabt hatte. Wir ahnen, daß der Bagger deshalb am Rand der Wiese steht, weil hier in ein paar Tagen ein Parkplatz für die Kunden des benachbarten Spielzeug-Supermarkts entstehen soll. Wir wissen, daß er gebaut werden muß, weil ein am Rande der Stadt gelegener Supermarkt ohne einen ausreichend großen und komfortablen Parkplatz keine Kunden für sein Spielzeug findet. Und wie wichtig Spielzeug für Kinder sei, so wird uns der Leiter des Supermarkts beflissen erklären können, sehe man ja schon daran, daß unser kleines Mädchen seine Blumen mit einer alten Flasche und nicht mit einer der bei ihm erhältlichen Plastikkinderkannen gieße . . . Wir leben nun einmal in einer Welt, in der nicht alles so ist, wie es sein sollte. Sie ist aber die einzige, die wir haben. Da Menschen wie wir sie so gemacht haben, wie 104 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

sie ist, sind wir die einzigen, die sie ändern könnten. Dazu müßten wir uns freilich selbst ändern. Nur wie? Solange wir uns einreden, alles sei sicher und auf dem richtigen Weg, haben wir keine Chance, nach einem anderen, besseren Weg zu suchen. Aber auch wenn wir die Angst zulassen, werden wir einen solchen Weg kaum finden, solange wir weiterhin das Durcheinander des Verkehrs auf allen Wegen, Straßen und Autobahnen dieser Welt immer nur entweder aus zu großer Nähe oder aus zu großer Entfernung betrachten. Wir bleiben Gefangene unserer jeweils gewählten Perspektive. Vielleicht finden auch Sie irgendwo in Ihrer Nähe einen Hügel, von dem aus alles etwas anders aussieht . . . Wenn Sie wollen, können Sie aber gern auch immer wieder auf meinen kleinen Hügel, den Pferdeberg, zurückkehren. Sie finden ihn irgendwo in der Mitte von Deutschland. Noch bis vor wenigen Jahren lief der Grenzzaun genau über ihn hinweg und zerteilte ihn in zwei Hälften. Seine östliche Seite hatte man damals komplett abrasiert. Um Schußfreiheit zu schaffen, wurde kein Baum und kein Strauch stehengelassen. Inzwischen haben die ersten Büsche und Bäumchen wieder Wurzeln geschlagen, und bald wird wohl der ganze Pferdeberg wieder so aussehen wie früher. Der Weg hinauf führt durch eine alte, verwilderte Obstplantage. Zwei Brüder aus dem Nachbardorf hatten sie angelegt, bevor die Grenze gebaut wurde. Solange der Grenzzaun stand, lag sie im Niemandsland. Weil niemand die Bäume beschneiden konnte, sind sie über Jahrzehnte gewachsen, wie sie wollten. Ihre Früchte fielen herab, und unter den Pflaumen und Kirschen entstand ein dichtes Gestrüpp von jungen Pflaumen und Kirschen. Misteln trieben aus den Astgabeln der Apfelbäume. In die morschen Äste hatte der Buntspecht seine Höhlen gezimmert, und viele der alten Bäume wurden von Heckenrosen und Geißblatt überwachsen. 105 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Wann immer ich Lust hatte, einsam auf meinem Hügel zu sitzen, um träumend und ein bißchen wehmütig zuzuschauen, wie der Verkehr dort unten vorüberbraust, führte mich mein Weg durch diese verwilderte Obstplantage. Hier wuchsen im Frühling die ersten Walderdbeeren, im Sommer die süßesten Kirschen und im Spätherbst teilte ich mir die letzten Äpfel an den kahlen Zweigen mit den vielen Vögeln, die hier zu Hause waren. Vor einiger Zeit traf ich auf die beiden Brüder, die die Bäume zusammen mit ihrem Vater damals, vor mehr als einem halben Jahrhundert, gepflanzt hatten. Sie konnten sich noch gut an die Begeisterung erinnern, mit der sie die vielen verschiedenen Obstsorten ausgesucht und als kleine Bäumchen in die Erde gesetzt hatten. Ihr Vater hatte ihnen gezeigt, wie man sie beschneidet, wie man herunterhängende Äste hochbindet, wie man kopuliert und okuliert und was man sonst noch alles tun kann, um später einmal möglichst viele Früchte zu ernten, denn deren Verkauf sollte den Unterhalt der Familie sichern. Als die Bäume ihre ersten Früchte zu tragen begannen, wurde der Grenzzaun gezogen, und fortan war ihnen das Betreten ihrer Plantage verboten. Einer der Brüder ist später über die Grenzanlagen geklettert und hat sein Glück in der anderen Hälfte der geteilten Landes versucht. Jetzt, nach dreißig Jahren, standen sie endlich wieder gemeinsam auf ihrer Plantage und überlegten, was damit werden sollte. Um heutzutage vom Obstbau leben zu können, so meinten beide, müsse alles umgepflügt und eine besonders ertragreiche, hochgezüchtete Sorte als Spalierobst angebaut werden. Die Bäume müßten maschinell gedüngt, gespritzt und abgeerntet werden. Damit sich die dazu erforderlichen Maschinen rentierten, müßte die Plantage aber zehnmal, besser hundertmal größer sein. 106 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Lange standen die alten Männer ratlos am Fuß meines Hügels. Dann schüttelten sie resignierend ihre Köpfe und gingen ihrer Wege.

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Erst hier, an diesem Wendepunkt, wo die Zukunft den Platz der Gegenwart einnehmen soll, müssen die Feststellungen der Wissenschaft der Vorwegnahme durch den Glauben weichen; hier kann unsere Ratlosigkeit beginnen, und hier ist sie im Recht. Was hinter der modernen Unruhe sich herausbildet und heranwächst, ist nichts Geringeres als eine organische Krise der Evolution. Pierre Teilhard de Chardin

Ausblick und Abschied Ich arbeite nun schon seit vielen Jahren als Hirnforscher, und noch immer bereitet mir die Arbeit im Labor sehr viel Freude, aber ich glaube, Sie wissen jetzt, weshalb ich ab und zu ebenso gern hier oben auf meinem Hügel bin. Hier kommt man nicht auf die Idee, jeden Stein umdrehen zu müssen, um zu verstehen, wie Wege und Straßen entstehen und vergehen. Man ist hier hoch genug, um zu schauen, aber nicht so hoch, daß man die Übersicht verliert. Von hier aus kann man sie genau beobachten, die begeisterten Hochflieger und Tiefbohrer, die notorischen Besserwisser, die sich ständig zu Wort melden, nur um sich immer wieder zu bestätigen, wie wichtig sie sind. Sie werden über unser langweiliges Plätzchen hier oben nur müde lächeln und fortfahren, Fragen zu beantworten, die keiner gestellt hat, und Dinge zu tun, die nur von ihnen getan werden können. Sie werden noch einige Zeit damit verbringen, die Räder eines immer unsinniger werdenden Uhrwerks in Gang zu halten. Das einzige, was sie dabei bewegen, sind die Zeiger, die ihnen deutlich machen, daß die Zeit, ihre Zeit, vergeht. Je älter sie werden, um so lau109 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

ter werden sie sich fragen, wie sie eigentlich in dieses Räderwerk gelangt sind. Manche finden einen Ausweg, andere machen nicht mehr richtig mit. So wird die Last für diejenigen, die noch mit der alten Begeisterung an den alten Rädern drehen, immer schwerer, bis auch sie die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen erkennen und feststellen, daß sich die Angst nur eine Zeitlang dadurch besiegen läßt, daß man immer schneller an immer größeren Rädern eines vorgefundenen Getriebes dreht. Wer ein Programm hat, das nicht geeignet ist, die Angst kontrollierbar zu machen, ist verloren. Das ist das uralte biologische Gesetz, an dem bereits die Saurier gescheitert sind. Aber Sie, nachdem wir zusammen hier oben auf diesem Hügel waren, was ist mit Ihnen? Haben wir von hier etwas anderes gesehen als das, was sie selbst schon immer gefühlt und gewußt haben? Ich glaube das nicht, denn es war ja eigentlich nichts anderes als das, was wir tagtäglich erleben. Alles um uns, was lebendig ist und in seiner Harmonie gestört wird, versucht mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, die verlorengegangene Harmonie wiederzufinden, zunächst die alte, und wenn das nicht geht, eben eine neue. Deshalb kann alles, was lebt, nie so bleiben, wie es ist. Dies gilt für jede einzelne Zelle, das gilt für jeden von uns, und das gilt natürlich auch für jede Gesellschaft. Eine Zelle kann sich nur verändern, indem sie die Art des Zusammenwirkens ihrer Teile verändert. Wir können uns nur verändern, indem wir die Art des Zusammenwirkens derjenigen Zellen verändern, die unser Verhalten bestimmen. Und eine Gesellschaft kann sich nur verändern, wenn sich diejenigen verändern, die diese Gesellschaft so machen, wie sie ist. Das klingt alles sehr banal und doch tun wir uns so schwer damit. Zu allen Zeiten und in allen Kulturkreisen haben Menschen eine Antwort auf die Frage gesucht, warum sie selbst, warum andere Menschen, 110 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

warum die Welt, in die sie hineingeboren wurden, so ist, wie sie ist. Was ihnen anfangs noch als gottgegebene Ordnung erschien, wurde mit zunehmender Kenntnis der Zusammenhänge und Wechselbeziehungen zwischen den für sie sichtbaren Strukturen der Natur und Gesellschaft erst in kleinen, später in immer größer werdenden Schritten erklärbar. Sie suchten nach Lösungen für die Probleme der Welt, in der sie sich täglich bewegten und die sie kennen mußten, um möglichst gefahrlos und unbehindert ihre Bedürfnisse zu befriedigen, Handel zu treiben, Ressourcen zu erschließen und sich vor Angriffen zu schützen. Einzelne Wissenschaftsdisziplinen wurden entwickelt, um immer tiefer in die Zusammenhänge zunächst der physikalischen, später der chemischen und atomaren und schließlich auch der lebendigen Welt einzudringen und die dort entdeckten Phänomene nutzbar zu machen. Die Triebfeder all dieser Anstrengungen war die Angst, und das Ziel all dieser Bemühungen war Sicherheit. Die geeignetste Strategie, der effektivste Weg zum Erreichen dieser Sicherheit, so schien es für lange Zeit, war die Schaffung materieller und geistiger Unabhängigkeit, also die Aneignung von Macht und Wissen. Wir sind noch immer auf diesem Weg, der von unseren Vorfahren so erfolgreich eingeschlagen worden ist. Die Signale, die uns aus der Gesellschaft und aus unserem Körper inzwischen erreichen, sagen uns jedoch immer eindringlicher, daß dieser Weg eine Sackgasse zu sein scheint. Er führt nicht dorthin, wo mehr Sicherheit und weniger Angst zu finden sind. Die individuelle oder kollektive Anhäufung von Wissen und Macht, die so lange geeignet schien, die Angst und die damit einhergehende Streßreaktion kontrollierbar zu machen, ist inzwischen selbst zu einer Bedrohung geworden. Sie hat zwangsläufig andere zurückgelassen, die weniger Macht haben, die ärmer sind und weniger wissen. Getrieben von der Angst und auf der Suche 111 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

nach mehr Sicherheit folgen diese Menschen, wie ein kleiner Junge seinem scheinbar allmächtigem Vater, dem so hell beleuchteten Pfad der Erfolgreichen, der Mächtigen, der materiell Unabhängigen auf dieser Welt. Als Einzelne, als Gruppen oder als ganze Gesellschaften nehmen sie, was sie bekommen können, und zwar von dort, wo es zu holen ist und mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen. So wächst die Angst derer, die nun erleben müssen, wie ihre so mühevoll zusammengenähte Decke aus Wohlstand und Macht immer dünner und löchriger zu werden beginnt. Zuerst irritiert, dann beunruhigt und schließlich ernsthaft beängstigt machen sie verschiedene Versuche, das Problem mit den bisher erfolgreichen Strategien zu bewältigen. Ihre Macht reicht nicht aus, um die alte Ordnung wiederherzustellen, ihren Reichtum können sie nicht opfern, und ihr ganzes angehäuftes Wissen darüber, wie man Macht und Reichtum erlangt, stellt sich als völlig nutzlos heraus, um diese Art von Bedrohung abzuwenden. Die Situation beginnt ausweglos zu werden, eine unkontrollierbare Streßreaktion ist unabwendbar. Sie erfaßt zunächst die schwächeren Glieder der sogenannten Wohlstandsgesellschaft, die Kranken, die Alten, die Kinderreichen, die Empfindlicheren, die weniger Mächtigen und weniger Reichen, die Arbeitslosen, Zugewanderten und Rechtlosen. Bei denen, die noch Kraft haben, führt die wachsende Angst zu steigender Gewaltbereitschaft, bei den anderen zu Resignation, Krankheit und Zerfall. Das alles wußten oder ahnten Sie ebenfalls schon seit langem und können es sich, wenn es sein muß, täglich durch die Nachrichten oder die Zeitungen bestätigen lassen. Was sie aber vielleicht nicht wußten, und was ich auf diesen wenigen Seiten von meiner Hügelperspektive deutlich zu machen versucht habe, ist etwas, was auch ich bis vor wenigen Jahren nicht zu denken gewagt hätte. Daß es nämlich irgendwann einmal mög112 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

lich werden würde, so große Bereiche des Wirrwarrs im Fühlen und Denken einzelner Menschen und damit auch so viele Ungereimtheiten und Widersprüche im Denken, Fühlen und Handeln großer Gruppen von Menschen auf einen biologischen Mechanismus zurückzuführen. Ich hätte es auch nicht für möglich gehalten, daß bei dem Versuch, die Ursachen, die Mechanismen und die Konsequenzen der neuroendokrinen Streßreaktion bis in das letzte Detail, bis hinunter auf die Ebene der molekularen Sequenzen und Interaktionen zu studieren und zu analysieren, irgendwann einmal so viel Information zusammengetragen werden würde, daß sich daraus, wie bei einem Puzzle, ein Bild zusammenfügen läßt. Ich hätte auch nicht geglaubt, daß dieses Bild am Ende so bestechend einfach aussehen würde, daß man es jedem Menschen, der verstehen möchte, auf wenigen Seiten nachzeichnen kann. Und wie sehr sich dieses Bild von all dem unterscheidet, was uns bisher über die negativen Auswirkungen von Angst und Streß einzureden versucht wurde! Wir brauchen immer neue Herausforderungen und die damit einhergehenden kontrollierbaren Streßreaktionen, um uns immer besser an die vielfältigen Erfordernisse unserer Lebenswelt anpassen zu können. Wenn wir dann, vom Erfolg unserer Bemühungen in einzelnen Bereichen geblendet, starr und unachtsam zu werden beginnen, uns selbst überschätzen und uns einbilden, alles sei von uns kontrollierbar und beherrschbar, so brauchen wir ebenso dieses anhaltende Gefühl von Angst, Verzweiflung und Ohnmacht und die damit einhergehende unkontrollierbare Streßreaktion mit ihren destabilisierenden Einflüssen auf die in unserem Gehirn angelegten Verschaltungsmuster. Wie sonst könnte es uns gelingen, aus den bisherigen Bahnen unseres Denkens, Fühlens und Handelns auszubrechen und nach neuen, geeigneteren Wegen zu suchen? Wir haben die Streßreaktion nicht deshalb, damit wir krank wer113 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

den, sondern damit wir uns ändern können. Krank werden wir erst dann, wenn wir die Chancen, die sie uns bietet, nicht nutzen. Wenn wir die Herausforderungen, die das Leben bietet, vermeiden, ebenso, wie wenn wir immer wieder nur ganz bestimmte Herausforderungen suchen. Wenn wir uns weigern, die Angst zuzulassen und unsere Ohnmacht einzugestehen ebenso, wie wenn wir unfähig sind, nach neuen Wegen zu suchen, um sie überwindbar zu machen. Auch das gilt für jeden einzelnen ebenso wie für die Gemeinschaften oder Gesellschaften, die sie alle zusammen bilden. Vor Jahren habe ich das Zitat eines Philosophen aus der Renaissance-Zeit gefunden, das mir seitdem nicht mehr aus dem Sinn gegangen ist: »Naturae enim non imperatur, nisi parendo« (»Denn der Natur wird nicht befohlen, außer indem man ihr gehorcht«, Bacon, Novum Organum). Erst jetzt beginne ich zu begreifen, was dieser Satz bedeutet: Erst wenn es uns gelingt, zu erkennen, durch welche Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien die Entwicklung lebender Systeme bestimmt wird, erst dann, wenn wir begreifen, weshalb bestimmte Prozesse in bestimmte Richtungen gelenkt werden, haben wir die Möglichkeit, diese Entwicklungsrichtungen auch gezielt zu beeinflussen und korrigierend in absehbare Fehlentwicklungen einzugreifen. Erst wenn wir verstehen, weshalb und wovor Menschen Angst haben und was mit ihnen dann passiert, können wir nach geeigneten Auswegen suchen. Wir müssen nicht mehr wie unwissende Kinder den von den Eltern eingeschlagenen und von deren Eltern vorgezeichneten Wegen in ausweglose Sackgassen folgen. Wir müssen auch nicht mehr wie Blinde auf die von allen Seiten auf uns herabrieselnden Ratschläge, Warnungen und gutgemeinten Hinweise derjenigen hören, die glauben, ganz besonders gut sehen zu können, weil sie dicke Brillen tragen. Wir können prüfen, ob die Richtung stimmt, in die sie uns zu lenken versuchen. Weil wir wissen, daß die Angst, 114 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

daß kontrollierbare Herausforderungen und unkontrollierbare Belastung die Wege unseres Denkens und Fühlens bestimmen werden, können wir uns fragen, ob ihr Rat mit dem vereinbar ist, was wir wollen und ob ihr Rat uns deshalb auf einen Weg führen kann, der nicht zwangsläufig wieder als Sackgasse enden muß. Was, so mögen Sie nun noch fragen, nützt uns all das schöne Wissen. Die Entwicklungen so vieler einzelner Menschen und deshalb auch der Gesellschaften, die sie bilden, sind inzwischen so fehlgerichtet, daß jeder Versuch einer Kursänderung unabsehbare Folgen hätte. Ist das wirklich so? Die Menschen vor uns haben unendlich viel Zeit damit verbracht, ihre Waffen zu schärfen, Reichtum, Macht und Wissen anzuhäufen. Dabei sind zwangsläufig immer komplexere und immer stärker vernetzte gesellschaftliche Beziehungen entstanden. Solche Systeme brechen nicht plötzlich wie ein Kartenhaus zusammen. Sie lassen sich ganz allmählich und sehr gezielt verändern, indem immer mehr Menschen an all den Stellen, wo ein solches System bedrohlich starr zu werden beginnt, zur Seite treten und einfach einen anderen Weg einschlagen. Vielleicht ist es das, was Julian Huxley mit seiner Bemerkung meinte, »der Mensch (sei) nichts anderes, als die zum Bewußtsein ihrer Selbst gelangte Evolution«. Hier und dort beginnt einer, eine Melodie zu summen, die von allen anderen und über alle Gräben hinweg wiedererkannt wird. Es ist ein uraltes Lied, das von Einzelnen immer wieder einmal gesungen wurde, solange es Menschen auf dieser Erde gibt. Es ist das Lied von der Befreiung unseres Denkens, Fühlens und Handelns aus den Fesseln der Angst. Ich glaube, es ist Zeit, daß wir von unserem Hügel herunterkommen. Ich wünsche Ihnen Umsicht und Zuversicht auf all Ihren Wegen. Leben Sie wohl! 115 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

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Die wichtigsten im Text gebrauchten Fachausdrücke ACTH: adrenokortikotrophes Hormon aus der Hirnanhangdrüse, → Streßreaktion adaptive Modifikation: Anpassung komplexer synaptischer Verschaltungsmuster, → Neuroplastizität adaptive Reorganisation: Neustrukturierung neuronaler Netzwerke, → Neuroplastizität Adenohypophyse: Hirnanhangdrüse, → Streßreaktion Adrenalin: Hormon des Nebenrindenmarks, → Streßreaktion adrenokortikales System: Hormone aus der Hirnanhangdrüse regen die Sekretion von Kortisol durch die Zellen der Nebennierenrinde an, → Streßreaktion Amnionflüssigkeit: Fruchtwasser Amygdala: Hirnregion, → Limbisches System assoziativer Kortex: Netzwerk der Großhirnrinde, → Kortex Astrozyten: sternförmige Zellen des Nervenstützgewebes, auch an Nervenstoffwechselvorgängen beteiligt, → Neuroplastizität Axon: zentraler, für die Erregungsleitung wesentlicher Teil des langen Fortsatzes der Nervenzellen, → Neuron c-AMP: zyklisches Adenosinmonophosphat; Substanz, die bei der Mittlung der Hormonwirkung innerhalb der Zelle beteiligt ist, → Genexpression CRF: Corticotropin releasing factor; Stoff, der in der Hirnanhangdrüse ein Hormon (ACTH) freisetzt und seinerseits die Tätigkeit der Nebennierenrinde reguliert, → Streßreaktion Cytoarchitektur: Zellanordnung, → Neuroplastizität Deafferenzierung: Unterbrechung der Erregungsweitergabe (durch die hinteren Nervenwurzeln) an das Zentralnervensystem, → Neuroplastizität Degeneration, terminale, retrograde: Rückbildung von Fortsätzen und Verbindungsstellen der Nervenzellen, → Neuroplastizität Dendrit, Dendritenbaum: Fortsatz, oft stark verzweigt (Baum), der Nervenzelle, → Neuron Distress vocalizations: Angstrufe von jungen Versuchstieren bei Belastungen dopaminerges System: Transmittersystem, → ZNS

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Dysstreß: veraltete Vorstellung von »schädigenden« Streßreaktionen gegenüber »Eustreß« als fördernden Einfluß, → Streßreaktion Endothelzellen: Wandzellen der Blutgefäße enriched environments: besonders reichhaltig und abwechslungsreich gestaltete Aufzuchtbedingungen Eustreß: veraltete Vorstellung von »förderlichen« Streßreaktionen gegenüber »Dysstreß« als pathogenen Einfluß, → Streßreaktion experience-dependent plasticity: durch individuelle Erfahrungen ausgelöste Anpassungen der Struktur und Funktion neuronaler Verschaltungen im Zentralnervensystem, → Neuroplastizität Extinktion: Auslöschung, Vergessen von bereits erlernten Gedächtnisinhalten Genexpression: die von bestimmten Abschnitten (Genen) der Erbsubstanz (DNA) tatsächlich von der Zelle abgelesene und in entsprechende Eiweißmoleküle »übersetzte« Information des Zellkerns. Der Kern enthält wesentlich mehr genetische Informationen als die, die beispielsweise von einer bestimmten Nervenzelle exprimiert wird. Veränderungen der Genexpression führen oft zu grundlegenden Veränderungen der Struktur und Funktion der betreffenden Zellen. Wichtige Auslöser hierfür sind Mediatoren der interzellulären Kommunikation (→ Zellkommunikation). Sie können durch Aktivierung von Rezeptoren auf der Zelloberfläche eine Sequenz von intrazellulären Mechanismen der Signalübertragung auslösen (z. B. Erhöhung der c-AMP-Produktion oder des intrazellulären Kalziumspiegels), die u. U. bis zu Änderungen auf der Ebene der Genexpression reicht. Andere Mediatoren (Kortisol) verbinden sich mit ihren Rezeptoren (cytoplasmatische Glukokortikoidrezeptoren), sog. Liganden-gesteuerte Transkriptionsfaktoren, die dann in den Zellkern wandern und dort u. U. tiefgreifende Änderungen der Genexpression auslösen. Gliazellen: Zellen des Nervenstützgewebes, auch an Nervenstoffwechselvorgängen beteiligt, → Neuroplastizität Glukokortikoide: Wirkstoffe aus der Nebennierenrinde, beeinflussen vielfältige Zellfunktionen (Kortisol), → Streßreaktion Glutamat: Salz der Glutaminsäure, wichtiger Neurotransmitter, → Zellkommunikation Handling: regelmäßiges Herausnehmen von Versuchstieren aus ihrer gewohnten Umgebung Hippokampus: halbmondförmige Hirnstruktur des → limbischen Systems, bedeutsam für Lern- und Gedächtnisleistungen

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HPA-System: Hypothalamo-hypophyseo-adrenokortikales System; neuronal ausgelöstes, hormonelles Reaktionssystem, an dem Zwischenhirn, Hirnanhangdrüse und Nebennierenrinde beteiligt sind, → Streßreaktion Hypothalamus: Teil des Zwischenhirns, → limbisches System intrauterin: in der Gebärmutter, vorgeburtlich juvenil: jugendlich Katecholamine: Signalstoffe (Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin) der Zellkommunikation, wirken als Transmitter, Hormone und Modulatoren auf Nerven- bzw. Körperzellen, → Streßreaktion Keratinisierung: Verhornung der Haut Kortex: Hirnrinde. Diese Hirnregion ist beim Menschen besonders entwickelt und enthält ca. 14 Milliarden Nervenzellen, die im Neokortex zu komplexen assoziativen Netzwerken verbunden sind (assoziativer Kortex, präfrontaler Kortex). Von den neuronalen Netzen des Neokortex werden die höchsten integralen Funktionen gesteuert. Bestimmte Bereiche des Kortex sind vorwiegend an der Verarbeitung von Informationen aus dem Körper beteiligt (somatosensorische Projektionsfelder), andere Areale enthalten auf die Verarbeitung von Sinneseindrücken spezialisierte Netzwerke (optische, akustische Felder) oder sind für die Bewegungskoordination zuständig (motorische Felder). Als Pyramidenzellen bezeichnet man einen besonders großen, auffälligen Zelltyp des Kortex, der sich durch besonders weitreichende Fortsätze auszeichnet Kortisol: Glukokortikoid der Nebennierenrinde mit vielfältigen Wirkungen auf Nerven- und Körperzellen, → Streßreaktion, → Zellkommunikation, → Genexpression Ligand: Signalstoff, von Zellen abgegeben, der an spezifischen Rezeptoren anderer Zellen anbindet und dort bestimmte Reaktionen auslöst, → Zellkommunikation Limbisches System: gürtelförmig um den Hirnstamm gruppiertes Areal neuronaler Netze, die intensiv miteinander sowie mit höher- und tiefergelegenen Netzwerken des Gehirns verbunden sind. Es erhält seine Informationen parallel zu diesen anderen Hirnregionen und wirkt modulierend auf die dort ablaufenden Verarbeitungsprozesse ein. Es hat eine zentrale Bedeutung für die Entstehung von Emotionen (Amygdala), für Lern- und Gedächtnisleistungen (Hippocampus) und für die Regulation vegetativer Funktionen (Hypothalamus). Locus coeruleus: wichtigstes Kerngebiet des zentralen noradrenergen Systems, → Streßreaktion

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Mediator: Signalstoff, dient der Kommunikation zwischen Zellen, → Zellkommunikation Modulator: Signalstoff, der die Kommunikation zwischen Zellen beeinflußt, → Zellkommunikation monoaminerge Systeme: Transmittersysteme, die Monoamine (Noradrenalin, Serotonin, Dopamin) als Signalstoffe ausschütten Neokortex: stammesgeschichtlich junger Teil der Großhirnrinde, → Kortex Neuron: Nervenzelle. Charakteristischer, extrem polarisierter Zelltyp des Nervensystems, der in der Lage ist, an der Zelloberfläche eintreffende Informationen aufzunehmen, in elektrische Impulse umzuformen und an nachfolgende Strukturen weiterzuleiten. Besitzt Fortsätze, meist mehrere stark verzweigte Dendriten (Dendritenbaum) zur Informationsaufnahme sowie ein oft reichlich verzweigtes Axon zur Informationsweiterleitung in Projektionsgebiete. Am Axonende befinden sich Verdickungen (Präsynapsen), aus denen bei Erregung Botenstoffe (Transmitter) in den synaptische Spalt abgegeben werden. Sie binden an spezifische Eiweiße (Rezeptoren) der postsynaptischen Membran nachgeschalteter Nervenzellen und lösen dort u.U. eine erneute Erregung aus. neuronal pathways: Nervenbahnen, Verbindungen zwischen Nervenzellen Neuroplastizität: Gesamtheit der nach Abschluß der Hirnentwicklung stattfindenden Anpassungen der Struktur und Funktion der im → ZNS angelegten neuronalen Verschaltungen an veränderte Anforderungen oder Nutzungsbedingungen. Sie reicht von den experimentell durch lokale Stimulation auslösbaren Veränderungen der Effizienz der Signalübertragung an einzelnen Synapsen (synaptische Plastizität) über elektronenmikroskopisch sichtbare Änderungen synaptischer Strukturen und synaptischer Verschaltungsmuster bis hin zur adaptiven Modifikation und Reorganisation komplexer synaptischer Verschaltungsmuster neuronaler Netzwerke, die sogar lichtmikroskopisch als Veränderungen der Cytoarchitektur (Anordnung der Nervenzellen) sowie der Ausformung von Axon- und Dendritenbäumen sichtbar sind und u. U. mit Veränderungen der Gefäßversorgung (Vaskularisierung) einhergehen können. Nach Abschluß ihrer Proliferation können sich Nervenzellen nicht mehr teilen, ihre Fortsätze und Synapsen sind jedoch in der Lage, sich zurückzubilden (retrograde terminale Degeneration) bzw. neu auszuwachsen (collateral sprouting, Synaptogenese). Besonders deutlich

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werden solche neuroplastischen Veränderungen nach Verlust oder fortdauernder Nichtbenutzung bestimmter Eingänge (Deafferenzierung), nach massiven hormonellen Veränderungen (z. B. Pubertät, Streßreaktion). Eine wichtige Rolle bei der Regulation dieser Umbauprozesse spielen Gliazellen (sog. Hüll- oder Stützzellen, sind in vielen Hirnregionen zahlreicher vorhanden als Nervenzellen), insbesondere Astrozyten (sternförmige Gliazellen), die entscheidend an der Regulation der »Arbeitsbedingungen« der sie umgebenden Nervenzellen beteiligt sind (Sicherung der Versorgung, Aufrechterhaltung des Ionenmilieus, Abgabe von Wachstumsfaktoren, sog. neurotrophen Faktoren). neurotrophe Faktoren: Substanzen, die das Auswachsen von Nervenzellfortsätzen fördern, → Zellkommunikation, → Neuroplastizität Noradrenalin: Transmitter und Hormon, → Zellkommunikation, → Streßreaktion noradrenerges System: Transmittersystem (zentrales NS im Hirnstamm, peripheres NS), wirkt durch Ausschüttung von Noradrenalin, → ZNS, → Streßreaktion Nucleus paraventricularis: wichtiges Kerngebiet im Zwischenhirn, → Streßreaktion parasympathisches Nervensystem: Teil des vegetativen Nervensystems, Gegenspieler des sympathischen NS, → ZNS peptiderge Systeme: Transmittersysteme, die Peptide als Signalstoffe ausschütten, → ZNS perinatal: kurz vor, während und kurz nach der Geburt Postsynapse: nachgeschalteter Bereich der Verbindungsstelle zwischen Nervenzellen, → Neuron präfrontaler Kortex: Teil der Großhirnrinde, → Kortex Präsynapse: vor der Verbindungsstelle zwischen Nervenzellen gelegener Bereich des Nervenfortsatzes, → Neuron Projektionen: neuronale Verbindungen zwischen verschiedenen Hirnregionen, → Neuron, → Kortex Proliferation: Zellteilung, → Neuroplastizität Prostaglandine: Hormongruppe mit zahlreichen Vertretern, → Zellkommunikation Pyramidenzellen: besonders großer Zelltyp in der Großhirnrinde, → Kortex Rezeptoren: aufnehmende, reizempfangende Zellstrukturen, → Neuron, → Zellkommunikation, → Genexpression SAM-System: Sympatho-adrenomedulläres System, neuronal aktiviertes Reaktionssystem, bestehend aus sympathischem Nervensystem und Nebennierenmark, wirkt über die Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin, → Streßreaktion

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Sauropsiden: Sammelbezeichnung für Reptilien und Vögel und deren gemeinsame Vorfahren sensorische Eingänge: über das periphere Nervensystem eintreffende Informationen, → ZNS serotonerges System: Transmittersystem, → ZNS Serotonin: Transmitterstoff, → ZNS Sexualsteroide: von den Geschlechtsdrüsen gebildete Signalstoffe (Geschlechtshormone), → Zellkommunikation somatosensorische Projektionsfelder: Teile der Großhirnrinde, die Informationen aus dem Körper verarbeiten, → Kortex Streßreaktion, neuroendokrine: relativ unspezifische Reaktion des Organismus auf physische oder psychische Belastungen. Die Reaktion auf psychische Stressoren (Herausforderungen, Belastungen) ist von der individuellen Bewertung abhängig. Sie beginnt mit einer unspezifischen Aktivierung assoziativer Netzwerke in kortikalen und limbischen (subkortikalen) Regionen. Als Folge dieser Arousal-Reaktion kommt es zur Aktivierung des zentralen noradrenergen Systems (Locus coeruleus und noradrenerge Kerne des Hirnstammes) sowie des peripheren noradrenergen Systems (sympatho-adrenomedulläres System, SAM-System, verstärkte Ausschüttung von Noradrenalin und Adrenalin durch sympathische Nervenendigungen und Nebennierenmark). Im Fall stärkerer, anhaltender und als unkontrollierbar eingeschätzter Belastungen führt die auf hypothalamische Kerngebiete (Nucleus paraventricularis) übergreifende Erregung zur Freisetzung von CRF (corticotropin releasing factor) und Vasopressin. Beide Release-Hormone stimulieren die Freisetzung von ACTH (adrenokortikotrophes Hormon) aus der Adenohypophyse (Hirnanhangdrüse). ACTH wiederum regt die Sekretion von Glukokortikosteroiden (beim Menschen Kortisol) durch die Zellen der Nebennierenrinde an. Dieses neuronal getriggerte hormonelle Reaktionssystem bezeichnet man als hypothalamo-hypophyseo-adrenokortikales System (HPA-System, HPA-Achse). Die häufig verwendeten Bezeichnungen Eustreß für die kurzzeitige Aktivierung des SAM- und HPA-Systems und Dysstreß für die langanhaltende Aktivierung des HPA-Systems sind irreführend. sympathisches Nervensystem: Teil des vegetativen Nervensystems, Gegenspieler des parasympathischen NS, → ZNS Synapse: Verbindungsstelle zwischen Nervenzellen, → Neuron Synaptogenese: Neubildung von Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen, → Neuroplastizität Testosteron: Geschlechtshormon, → Zellkommunikation

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Transmitter: Botenstoff zur Kommunikation zwischen Nervenzellen, → Neuron, → Zellkommunikation Trigger: Auslöser, → Zellkommunikation Vaskularisierung: Gefäßversorgung, → Neuroplastizität Vasopressin: Hormon, → Streßreaktion Zellkommunikation: wechselseitige Beeinflussung von Zellen durch Abgabe bestimmter Signalstoffe (Mediatoren), die als Liganden an spezifische Rezeptoren anderer Zellen anbinden und durch deren Aktivierung eine spezifische Antwort auslösen (triggern). Die Mediatoren der synaptischen Signalübertragung (→ Neuron) werden als Transmitter bezeichnet (z. B. Serotonin, Glutamat). Die mit dem Blutkreislauf verteilten Signalstoffe heißen Hormone (z. B. Sexualsteroide wie Testosteron oder Glukokortikoide wie Kortisol). Für die von einer Zelle abgegebenen und zu benachbarten Zellen durch das Gewebe diffundierenden Signalstoffe hat man sich noch nicht auf einen gemeinsamen Namen einigen können (Modulatoren, Zytokine, Prostaglandine, neurotrophe Faktoren). Manche Signalstoffe werden sowohl als Transmitter, als Hormon und als Modulator benutzt (z. B. die Katecholamine Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin) ZNS: Zentralnervensystem (Gehirn und Rückenmark), hat die Aufgabe, die über das periphere Nervensystem zugetragenen Informationen (sensorische Eingänge) zu verarbeiten, z. T. zu speichern und in verarbeiteter Form über das periphere Nervensystem an die Erfolgsorgane abzugeben (sympathisches und parasympathisches System). Die Verarbeitung der eintreffenden Informationen und ihre Abgleichung mit bereits gespeicherten Informationen erfolgt in regionalen neuronalen Netzwerken, die z. T. eng miteinander verflochten sind und deren Aktivität durch sog. globale Transmittersysteme moduliert und harmonisiert wird (z. B. monoaminerge, d. h. noradrenerge, serotonerge und dopaminerge Systeme, auch peptiderge Systeme). Zytokine: Signalstoffe zwischen Zellen, vor allem des Immunsystems, → Zellkommunikation

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Gerald Hüther

Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn

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Inhalt

Vorbemerkungen und Gefahrenhinweis Überblick 1

2 2.1 2.2 2.3 2.4

3 3.1 3.2 4 4.1 4.2 4.3

Entfernung von Verpackungsmaterial und Schutzvorrichtungen Aufbau und Einsatzmöglichkeiten Programmgesteuerte Konstruktionen: Gehirne von Würmern, Schnecken und Insekten . . . . . . . . Initial programmierbare Konstruktionen: Gehirne von Vögeln, Beutel- und Säugetieren . . . Zeitlebens programmierbare Konstruktionen: Gehirne von Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Programmöffnende Konstruktionen: menschliches Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinweise auf bereits erfolgte Installationsmaßnahmen Optimal gelungene Installationen . . . . . . . . . . . . . Mangelhaft gelungene Installationen . . . . . . . . . . . Korrektur von Installationsdefiziten Ungleichgewichte zwischen Gefühl und Verstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungleichgewichte zwischen Abhängigkeit und Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungleichgewichte zwischen Offenheit und Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7 21

29 33 37 43 53 61

69 72 76 83 86 89 95 5

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5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Unterhaltungs- und Wartungsmaßnahmen Auf der Stufenleiter der Wahrnehmung . . . . . . . . Auf der Stufenleiter der Empfindungen . . . . . . . . Auf der Stufenleiter der Erkenntnis . . . . . . . . . . . . Auf der Stufenleiter des Bewußtseins . . . . . . . . . . . Praktische Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97 103 108 111 115 118

6 6.1 6.2 6.3

Verhalten bei Störfällen Bedienungsfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Störungsmeldungen und Schadensbegrenzung . . Reklamationen und Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . .

125 127 134 139

6 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Vorbemerkungen und Gefahrenhinweis

Sicher fahren Sie ein Auto. Und Ihre Wäsche waschen Sie in einer Waschmaschine. Sie telefonieren mit einem Handy, surfen im Internet herum, produzieren Ihre eigenen Urlaubsvideos, sehen fern und hören auf Platten gepreßte Musik. Ich weiß nicht, was für nützliche oder unnütze Apparate Sie sich sonst noch im Lauf Ihres Lebens angeschafft haben, aber eines weiß ich ganz gewiß: je komplizierter und je teurer diese Geräte waren, desto intensiver haben Sie die mitgelieferten Anweisungen studiert, in denen beschrieben ist, worauf es bei ihrer Bedienung ankommt und worauf man achten sollte, wenn man daran möglichst lange seine Freude haben will. Ein Gehirn besitzen Sie auch. Und das benutzen Sie häufiger, als Sie denken – jedenfalls viel häufiger als all diese Apparate und Maschinen –, um sich im Leben zurechtzufinden und um sich wenigstens hin und wieder eine kleine Freude zu verschaffen.Aber in eine Bedienungsanleitung für Ihr Hirn haben Sie bisher noch nie hineingeschaut. Weshalb eigentlich nicht? Waren Sie der Meinung, daß Ihr Gehirn schon von allein so funktioniert, wie es funktionieren soll? Dann war das leider ein Irrtum. Es funktioniert so, wie es mit Hilfe der darin angelegten Verschaltungen funktionieren kann. Und welche Verschaltungen darin angelegt sind und zur Lösung von Problemen eingesetzt werden können, hängt ganz wesentlich davon ab, wie und wozu Sie Ihr Hirn bisher benutzt haben. Vielleicht hätten Sie sich doch schon früher einmal fragen sollen, ob die Art und Weise, wie Sie Ihr Gehirn bedienen, nicht unter Umständen dazu führt, daß es später für manche Aufgaben kaum noch einsetzbar ist. Oder sind Sie bisher davon ausgegangen, daß man sich um 7 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

etwas, das man nicht für teures Geld erworben hat, sondern einfach schon immer besitzt, nicht weiter zu kümmern braucht. Auch das war ein Irrtum. Alles, was man nur einmal geschenkt bekommt, und was nicht tot ist, sondern weiterlebt und sich weiterentwickelt, bedarf – so wie jedes Kind, wie jede Beziehung zu einem anderen Menschen, ja auch wie Ihr Hund oder Ihr Gemüsegarten – ganz besonderer Beachtung und sorgfältiger Pflege. Das gilt auch für Ihr Gehirn. Vielleicht haben Sie auch gehofft, ein allmächtiger Schöpfer oder die allmächtigen Gene hätten Ihr Gehirn so geschaffen beziehungsweise zusammengebaut, damit Sie sich damit für alle Zeit optimal in dieser Welt zurechtfinden und daß es deshalb an diesem Gehirn nichts mehr zu verändern gibt. Es ist zwar eine angenehme Vorstellung, daß entweder Er oder sie, aber eben nicht Sie selbst verantwortlich dafür zu machen sind, was aus Ihrem Hirn wird, aber diese Annahme war leider auch ein Irrtum. Zwar besitzt jeder Mensch ein besonderes, nur ihm eigenes Gehirn, das von Anfang an mit ganz bestimmten Schwächen und mit ganz bestimmten Begabungen ausgestattet ist. Was aber im Lauf des Lebens aus diesen Anlagen wird, ob bestimmte Schwächen ausgeglichen oder noch weiter verstärkt und ob bestimmte Begabungen entfaltet oder aber unterdrückt werden, hängt davon ab, wie und wofür man sein Gehirn benutzt. Das alles klingt zwar sehr unbequem, ist aber auf keinen Fall dadurch zu ändern, daß man den Kopf in den Sand steckt. Irgendwann werden Sie ihn wieder aufrichten müssen, und dann bleibt es Ihnen nicht erspart festzustellen, daß es sich bei all diesen ausgedachten Begründungen nicht um wirkliche Gründe, sondern um nackte Ausflüchte handelt. Eigentlich hätten Sie mit gutem Gewissen nur einen einzigen Grund nennen können, der Sie bisher davon abgehalten hat, sich darum zu kümmern, wie Sie Ihr Gehirn benutzen: Es hat Ihnen noch nie jemand erklärt, worauf es dabei ankommt. Genau deshalb habe ich diese Bedienungsanweisung für Sie geschrieben, und ich bin froh, daß Sie sie gefunden haben. 8 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Seit vielen Jahren arbeite ich schon als Hirnforscher und versuche wie viele andere auf diesem Gebiet tätige Wissenschaftler herauszufinden, wie unser Gehirn eigentlich funktioniert. Wie all diese Forscher habe auch ich die Gehirne von Versuchstieren, so gut das ging, in immer kleinere Einzelteile zerlegt und gemessen, was sich daran messen ließ. Ich habe die verschiedenen Zelltypen des Gehirns in Kulturschalen gezüchtet und beobachtet, was aus ihnen wurde und zu welchen Leistungen sie imstande waren. Und wie so viele andere Hirnforscher habe ich auch Versuche mit Tieren – meist waren das Laborratten – durchgeführt, um die Auswirkungen bestimmter Behandlungen oder Eingriffe auf deren Gehirne zu untersuchen. Noch immer finde ich es spannend, was es in so einem Gehirn alles zu zerlegen, zu messen und zu untersuchen gibt. Aber ich glaube inzwischen nicht mehr daran, daß es uns auf diese Weise jemals gelingt zu verstehen, wie ein Gehirn, gar ein menschliches Gehirn, funktioniert. Im Gegenteil: Diese Art von Forschung verleitet uns dazu, immer gerade das, was wir besonders gut zerlegen, messen und untersuchen können, als besonders wichtig für die Funktionsweise des Gehirns zu erachten. Und weil die Forscher das, was ihnen besonders wichtig erscheint, auch besonders gern weitergeben und weil die Medien solche Neuigkeiten besonders gern verbreiten, glauben über kurz oder lang immer mehr Menschen, daß Glück durch eine verstärkte Endorphinausschüttung, Harmonie durch viel Serotonin und Liebe durch bestimmte Peptide im Hirn entsteht, daß die Amygdala für die Angst, der Hippokampus für das Lernen und die Großhirnrinde für das Denken verantwortlich sind. All das dürfen Sie, falls Sie jemals davon gehört haben, getrost vergessen. Nicht anders verhält es sich mit all jenen Meldungen, die bestimmte genetische Anlagen für das verantwortlich machen wollen, was in Ihrem Hirn geschieht. Es gibt keine Faulheitsgene, Intelligenzgene, Melancholiegene, Suchtgene oder Egoismusgene. Was es gibt, sind unterschiedliche Anlagen, charakteristische Prädispo9 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

sitionen (Veranlagungen) und spezifische Vulnerabilitäten (Anfälligkeiten). Was aber letztendlich daraus wird, hängt von den jeweils vorgefundenen Entwicklungsbedingungen ab. Sehr hinderlich für das Verständnis dessen, was in unserem Hirn geschieht, ist jedoch nicht nur die Überbewertung bestimmter, mit den Siebenmeilenstiefeln modernster Techniken erzielter Teilerkenntnisse, sondern auch das notorische Herumschleppen alter und längst zu eng gewordener Schuhe. Früher einmal entwickelte und aus gewissen Gründen während eines bestimmten Zeitraums als besonders zutreffend bewertete Vorstellungen werden anschließend oftmals wie ein Dogma vertreten und verbreitet. Meist von einer besonders geachteten und bewunderten Autorität in die Welt gesetzt, halten sich diese Ideen bisweilen jahrzehntelang. Wenn solche Modelle die Realitäten zutreffend beschreiben, ist dagegen nichts einzuwenden. Da das aber nur sehr selten der Fall ist, werden die meisten Theorien mit der Zeit zu einem immer schwerer zu tragenden Hemmschuh, der vor allem ganz vorn ganz furchtbar drückt. Auch ich bin, wie viele andere Hirnforscher, lange mit solchen alten Schuhen herumgelaufen. Am längsten und am stärksten gedrückt hat mich dabei das Dogma von der Unveränderlichkeit der einmal im Gehirn entstandenen Verschaltungen. Es stammt von einem Pionier der Hirnforschung, Raymond y Cajal. Er hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit neuen Färbetechniken herausgefunden, daß das Gehirn kein diffuser Brei (ein sogenanntes Synzytium) ist, sondern aus einer Unmenge von Nervenzellen besteht, die mit ihren vielfach verzweigten Fortsätzen miteinander in Kontakt stehen. Er konnte an seinen gefärbten Hirnschnitten zeigen, daß dieses ganze Gestrüpp von Fortsätzen während der Hirnentwicklung immer dichter wird und daß es sich später, im Alter, wieder mehr oder weniger stark aufzulichten beginnt. Diese Vorstellung wurde von den späteren Hirnforschern übernommen und bestimmte fast ein Jahrhundert lang das Denken der 10 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

meisten Neurobiologen, Psychologen und Psychiater und hat sich in weiten Kreisen der Bevölkerung als Grundüberzeugung verfestigt. Inzwischen hat sich herausgestellt, daß das Gehirn auch im Erwachsenenalter noch in hohem Maß strukturell formbar ist. Zwar können sich Nervenzellen nach der Geburt nicht mehr teilen (bis auf wenige Ausnahmen), sie sind jedoch zeitlebens in der Lage, ihre komplexen Verschaltungen an neue Nutzungsbedingungen anzupassen. Der beim Menschen wichtigste und für die Nutzung der im Gehirn angelegten neuronalen Netzwerke und Nervenzellverschaltungen am nachhaltigsten wirksame Einfluß ist besonders schlecht zu messen. Er läßt sich am Zutreffendsten mit dem Begriff Erfahrung umschreiben. Gemeint ist damit das im Gedächtnis eines Individuums verankerte Wissen über die in seinem bisherigen Leben entweder besonders erfolgreich oder besonders erfolglos eingesetzten, in dieser Weise immer wieder bestätigt gefundenen und deshalb auch für die Lösung zukünftiger Probleme als entweder besonders geeignet oder eben ungeeignet bewerteter Strategien des Denkens und Handelns. Solche Erfahrungen sind immer das Resultat der subjektiven Bewertung der eigenen Reaktionen auf wahrgenommene und als bedeutend eingeschätzte Veränderungen der Außenwelt. Sie unterscheiden sich darin von allen (passiven) Erlebnissen und (passiv) übernommenen Kenntnissen und Fertigkeiten, denen kein oder noch kein Bedeutungsgehalt für die eigene Lebensbewältigung beigemessen wird. Aufgrund der normalerweise bereits während der frühkindlichen Entwicklung stattfindenden und im späteren Leben aktiv vollzogenen Einbettung des Menschen in ein immer komplexer werdendes soziales Beziehungsgefüge sind die wichtigsten Erfahrungen, die ein Mensch im Lauf seines Lebens machen kann, psychosozialer Natur. Es hat lange gedauert, bis mir das endlich klar wurde und bis ich verstanden hatte, daß das, was uns bei all unseren Entscheidungen leitet, nicht unser Geist oder unser Bewußtsein 11 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

ist, auch nicht all unser auswendig gelerntes oder von fragwürdigen Quellen übernommenes Wissen, sondern die Erfahrungen, die wir während unserer bisherigen Entwicklung gesammelt haben. Die Erfahrungen, die ein Mensch im Lauf seines Lebens gemacht hat, sind fest in seinem Gehirn verankert, sie bestimmen seine Erwartungen, sie lenken seine Aufmerksamkeit in eine ganz bestimmte Richtung, sie legen fest, wie er das, was er erlebt, bewertet, und wie er auf das reagiert, was ihn umgibt und auf ihn einstürmt. In gewisser Weise sind diese individuell gemachten Erfahrungen also der wichtigste und wertvollste Schatz, den ein Mensch besitzt. Er kann ihn nicht nur für sich selbst nutzen, sondern – wenn er einmal die Erfahrung gemacht hat, daß Verschenken sehr viel Freude macht – auch versuchen, ihn an andere weiterzugeben. Das Besondere an diesem Erfahrungsschatz ist, daß er dadurch, daß man ihn benutzt und verteilt, nicht immer kleiner, sondern immer größer wird. Und wenn man nun, so wie ich, als Hirnforscher in einer psychiatrischen Klinik arbeitet, macht man nicht nur immer wieder neue Erfahrungen, man macht sich auch so seine Gedanken. Man sieht in einer solchen Klinik Patienten, die von bestimmten Gefühlen beherrscht werden und die Fähigkeit verloren haben, diese Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Getrieben von einem bestimmten Gefühl, entwickeln diese Menschen bisweilen für den Außenstehenden irrwitzig erscheinende Vorstellungen. Manche fühlen sich verfolgt oder von fremden Mächten gelenkt, manche haben das Gefühl, sich aufzulösen und in verschiedene Persönlichkeiten zu zerfallen, manche entwickeln Allmachtsgefühle und halten sich womöglich für Gott oder für Napoleon, und wieder andere fühlen sich klein und nichtig oder sind zwanghaft darum bemüht, irgend etwas zu kontrollieren. Auf der anderen Seite sieht man in einer solchen Klinik bisweilen auch Menschen, die keine Patienten sind, deren Denken und Handeln jedoch in ähnlicher Weise von bestimmten 12 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Gefühlen gelenkt wird. Solche, die sich selbst für unentbehrlich und ihre Meinungen für allgemeingültig halten, und andere, die sich selbst geringschätzen und lieber den Mund halten oder immer nur das bestätigen, was die anderen sagen. Es gibt Menschen, die von dem Gefühl beherrscht sind, sie müßten Macht und Einfluß gewinnen, und die alles zu tun bereit sind, um diesem Ziel näher zu kommen, und es gibt solche, die einfach nur in Ruhe gelassen werden wollen und denen fast alles, was um sie herum geschieht, egal ist. Es gibt welche, die sich über alles Mögliche aufregen müssen, und solche, die ständig das dringende Bedürfnis nach Ablenkung haben. Manche können das immer wieder aufflackernde Gefühl einer inneren Unruhe und Unzufriedenheit nur noch mit maßlosem Essen oder mit Hilfe legaler, manchmal auch illegaler Drogen ersticken. Nicht nur in einer Klinik, sondern überall gibt es Menschen, die sich selbstzerstörerisch, rücksichtslos, egoistisch, narzißtisch, gleichgültig, berechnend, streitsüchtig, wichtigtuerisch und verantwortungslos verhalten und damit immensen Schaden anrichten. In der Wirtschaft nennt man diese Schäden Reibungsverluste, und die Vermeidung dieser Reibungsverluste wird inzwischen von den Wirtschaftswissenschaftlern als die entscheidende Voraussetzung für jede weitere Steigerung des Bruttosozialprodukts in den Industriestaaten betrachtet. Fragt man diese Zeitgenossen, warum sie sich an der Arbeit, zu Hause und im Zusammenleben mit anderen Menschen so destruktiv und selbstsüchtig verhalten, so stellt man meist fest, daß sie es auch nicht wissen. Sie haben eben das Gefühl, daß sie sich so und nicht anders verhalten müssen und daß das, was sie tun und denken, für sie schon irgendwie richtig ist. Es ist also nichts weiter als ein Gefühl. Und deshalb finde ich es sehr spannend, der Frage etwas genauer nachzugehen, woher diese starken, das Denken und Handeln vieler Menschen bestimmenden Gefühle kommen. Erst seit wenigen Jahren sind »emotionale Intelligenz« und das »Netz der Gefühle« aufregende und heiß diskutierte The13 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

men geworden. Auch die Psychologen und Psychoanalytiker geben sich inzwischen nicht mehr damit zufrieden, einfach nur festzustellen, daß frühe Erfahrungen spätere Grundhaltungen und Gefühle maßgeblich bestimmen, sondern sie wollen inzwischen auch wissen, wie diese Erfahrungen im Hirn verankert werden. Sie wollen wissen, wie und unter welchen Umständen es möglich ist, diese Engramme durch neue Erfahrungen zu überschreiben, wie ein einmal entwickeltes Gefühl verändert und durch ein neues ersetzt oder überlagert werden kann. Mit diesen neuen Fragen ist in den letzten Jahren ungemein viel in Bewegung gekommen, auch oder gerade im Bereich der Hirnforschung. Nun durchläuft jede Wissenschaftsdisziplin während ihrer Entwicklung bestimmte Phasen. In jeder dieser Phasen gelangt sie zu einer gewissen Erkenntnis der Phänomene, die sie untersucht. Sie baut auf der Grundlage ihres bis dahin erlangten Verständnisses und des bis dahin akkumulierten Wissens ein bestimmtes Gedanken-(Theorie-)Gebäude auf. Dieses Gebäude ist zunächst noch mehr oder weniger wackelig. Es wird deshalb durch gezielte Suche nach festen Bausteinen stabilisiert, durch verschiedene organisatorische Maßnahmen gefestigt und so gut wie möglich vor destabilisierenden Einflüssen störender Ideen und Vorstellungen geschützt. Was sich so allerdings nie ganz verhindern läßt, ist weiteres Wissen, das zwangsläufig dazukommt, wenn weiter an bestimmten Fragen gearbeitet, über Zusammenhänge nachgedacht und nach Lösungen gesucht wird. Dieses neue Wissen muß irgendwie in das alte Denkgebäude eingebaut werden, und solange das gelingt, ist alles gut und das Gebäude bleibt noch eine Zeitlang stehen, wenngleich es allmählich immer eklektizistischere Gestalt in Form von Anbauten, Giebeln, Türmchen, Nebengelassen und Abstellräumen annimmt. Irgendwann jedoch wird das ganze Gebäude so schwer begeh-(begreif-)bar und paßt nur noch so schlecht in die Landschaft, daß ein drastischer Umbau oder sogar eine Neukonstruktion des ganzen bisher aufgetürmten Theoriegebäudes unvermeidbar wird. Das sind 14 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Umbruchphasen, und in diesen Phasen wird ein altes, bisher für allein seligmachend gehaltenes Paradigma durch ein neues ersetzt, das die Möglichkeit bietet, das bisherige Wissen noch immer als gültiges Wissen zu nutzen, es aber in ein neues Gedankengebäude einzuordnen, das auch dem neuen Wissen Raum bietet, weil es übergreifender, umfassender, einfach weiter ist als das alte. Diese Umbruchphasen sind die spannendsten Phasen in der Entwicklung einer Wissenschaftsdisziplin, weniger für diejenigen, die es sich im alten Haus gerade so recht bequem gemacht hatten, sondern eher für all jene, denen das alte Haus zu eng, zu muffig und zu unübersichtlich geworden ist. Die klassischen Naturwissenschaften (Astronomie, Mathematik, Physik und Chemie) haben derartige Paradigmenwechsel bereits hinter sich. Sie sind alle durch eine Phase gegangen, in der sie zunächst die beobachtbaren Phänomene gesammelt, beschrieben und sortiert haben. Dann wurden die Dinge in alle Einzelteile zerlegt, und wo das ging, wurden die Eigenschaften dieser Teile so genau wie möglich untersucht. Nachdem man lange genug vergeblich versucht hatte, das Ganze aus der immer genaueren Kenntnis seiner Teile zu verstehen, war irgendwann eine Stufe erreicht, auf der einzelne begannen, nun auch gezielt nach den unsichtbaren Kräften und Dimensionen zu suchen, die hinter den objektiv beobachtbaren und meßbaren Phänomenen verborgen waren. Namen wie Kopernikus, Kepler, Schrödinger, Einstein, Bohr, Heisenberg und Planck markieren diese Wendepunkte unseres Weltverständnisses auf der Ebene der klassischen Naturwissenschaften. Da es jedoch den meisten Menschen völlig egal ist, daß die Newtonschen Gesetze nur dort gelten, wo es nicht zu groß und nicht zu klein ist, daß es gekrümmte Räume gibt, daß die Zeit nur relativ ist und Wellen und Teilchen ineinander übergehen können, haben sich diese neuen Betrachtungsweisen nicht allzusehr auf unser Leben und unser Selbstverständnis ausgewirkt. Anders verhält es sich jedoch mit der Biologie, der Wissen15 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

schaft vom Leben, oder gar mit der Hirnforschung, bei der sich jetzt ebenfalls eine solche Wende abzuzeichnen beginnt. Nun ist die Biologie noch eine relativ junge naturwissenschaftliche Disziplin, und ihr Gegenstand, das Leben in all seinen vielfältigen Formen, ist so komplex, daß die Biologen in vielen Gebieten noch immer beim Sammeln, Beschreiben und Sortieren sind. In manchen Bereichen sind sie bereits zum Zerlegen übergegangen und haben begonnen, die Eigenschaften der einzelnen Teile so genau wie möglich zu erfassen. Sie sind dabei bis auf die Ebene einzelner Moleküle vorgedrungen, haben den genetischen Code entschlüsselt und eine Unmenge von Signalen, Signalstoffen und deren Rezeptoren entdeckt, mit deren Hilfe Informationen innerhalb von Zellen, zwischen Zellen und Organen und schließlich auch zwischen Organismen ausgetauscht werden. Sie können zum Teil schon genau beschreiben, wie sich bestimmte Lebensformen im Lauf der Stammesgeschichte entwickelt haben, wie die dafür erforderliche Information an die Nachkommen weitergegeben und wie sie zur Herausformung bestimmter körperlicher Merkmale während der Entwicklung des einzelnen Individuums genutzt wird. All das sind wichtige Erkenntnisse, die ganz wesentlich dazu beigetragen haben, daß wir heute so gut wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte verstehen, wie wenig sich menschliche Zellen von den Zellen anderer Lebewesen, sich menschliche Organe von den Organen anderer Säugetiere, wie wenig sich menschliche Verhaltensweisen von den Verhaltensweisen unserer tierischen Verwandten unterscheiden. »Nackte Affen« hat uns Desmond Morris* deshalb genannt und uns damit noch einmal drastisch vor Augen geführt, worauf uns schon Darwin hingewiesen hatte und was wir nur so ungern wahrhaben wollen: daß wir nur ein Teil – in mancher Hinsicht sogar nur ein recht dürftig ausgestatteter Teil – der Natur sind, kein allmächtiges Geschöpf, und erst recht nicht Mittelpunkt * Morris, Desmond (1970): Der nackte Affe. Neuaufl. München, 1992.

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der Welt, sondern, wie alle anderen, eingebettet in die Natur, von ihr abhängig und mit ihr verwachsen. Und das ist eben das Besondere, wodurch sich die Erkenntnisse der Biologen oder gar der Hirnforscher von den Erkenntnissen der klassischen Naturwissenschaftler unterscheiden: Sie liefern uns nicht nur, so wie alle anderen Naturwissenschaften auch, immer neues, praktisches, nutzbares Wissen, um die Welt zu erkennen und sie nach unseren Vorstellungen zu gestalten. Sie fördern dabei zwangsläufig auch immer mehr Wissen über uns selbst zutage, Wissen, das uns hilft, uns in uns selbst zurechtzufinden, uns selbst und unsere Stellung, auch unsere Rolle in der Natur zu erkennen. Wie so viele Biologen und Hirnforscher habe auch ich mich lange in dem von den klassischen Naturwissenschaften übernommenen Denkgebäude bewegt. Dort war nur eine Frage erlaubt: Wie ist das Gehirn aufgebaut und wie funktioniert es? Wenn nun aber die Struktur und damit auch die Funktion unseres Gehirns ganz entscheidend davon abhängt, wie und wozu wir es benutzen und bisher benutzt haben, lautet dann nicht die entscheidende Frage, wie und wozu wir es benutzen sollten, damit die in unserem Gehirn angelegten Möglichkeiten auch wirklich in vollem Umfang entfaltet werden können? In dieser Bedienungsanweisung für ein menschliches Gehirn mache ich den Versuch, diese Frage zu beantworten. Ich stütze mich dabei auf Erkenntnisse aus dem Bereich der Hirnforschung, die erst in den letzten Jahren gewonnen wurden und die ganz entscheidend dazu beigetragen haben, daß sich heute besser als je zuvor abschätzen läßt, worauf es bei der Nutzung unseres Gehirns ankommt. Jahrzehntelang war man davon ausgegangen, daß die während der Hirnentwicklung ausgebildeten neuronalen Verschaltungen und synaptischen Verbindungen unveränderlich seien. Heute weiß man, daß das Gehirn zeitlebens zur adaptiven Modifikation und Reorganisation seiner einmal angelegten Verschaltungen befähigt ist und daß die Herausbildung 17 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

und Festigung dieser Verschaltungen ganz entscheidend davon abhängt, wie und wofür wir unser Gehirn benutzen. Vor einigen Jahren konnte sich noch kein Hirnforscher vorstellen, daß das, was wir erleben, in der Lage wäre, die Struktur des Gehirns in irgendeiner Weise zu verändern. Heute sind die meisten von ihnen davon überzeugt, daß die im Lauf des Lebens gemachten Erfahrungen strukturell im Gehirn verankert werden. Bisher hielt man es für völlig selbstverständlich, daß der Mensch sein großes Gehirn zum Denken besitzt. Forschungsergebnisse der letzten Jahre haben jedoch deutlich gemacht, daß der Bau und die Funktion des menschlichen Gehirns in besonderer Weise für Aufgaben optimiert sind, die wir unter dem Begriff »psychosoziale Kompetenz« zusammenfassen. Unser Gehirn ist demnach weniger ein Denk- als vielmehr ein Sozialorgan. Noch bis vor wenigen Jahren schien den Hirnforschern alles suspekt, was mit Gefühlen zusammenhing. Inzwischen beginnen sie zu verstehen, welche Bedeutung Gefühle nicht nur für die Ausrichtung von Wahrnehmungs- und Denkprozessen besitzen, sondern auch wie frühe Erfahrungen im Gehirn verankert werden und wie sehr sie spätere Grundhaltungen und Überzeugungen bestimmen. Fast ein ganzes Jahrhundert lang wurde heftig darüber gestritten, ob das Denken, Fühlen und Handeln des Menschen stärker von angeborenen Verhaltensprogrammen oder von den im Lauf des Lebens gemachten Erfahrungen bestimmt wird. Heute setzt sich auf seiten der Verfechter der psychischen und psychosozialen Determiniertheit menschlichen Verhaltens allmählich die Einsicht durch, daß das Fühlen, Denken und Handeln des Menschen eine materielle, das heißt neurobiologische Grundlage hat. Andererseits müssen die Anhänger der biologischen Determiniertheit psychischer Erscheinungen inzwischen eingestehen, daß die psychische Verarbeitung sozialer Erfahrungen zumindest beim Menschen von erheblicher Bedeutung ist, und zwar sowohl für 18 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

die Stabilisierung bestimmter genetischer Anlagen innerhalb einer Population wie auch für die Herausbildung bestimmter neuronaler und synaptischer Verschaltungsmuster im Gehirn. Viele dieser neuen Erkenntnisse sind mit der Flut wissenschaftlicher Publikationen auf dem Gebiet der Hirnforschung an den potentiellen Nutzern, an Ärzten, Therapeuten und Erziehern, weithin unbemerkt vorbeigerauscht. Sie fanden kein besonderes Echo in den Medien, und bis sie in den Schulbüchern stehen, werden wohl noch Jahre vergehen. Wenn so viele Menschen von dem, was in ihrem Kopf und in den Köpfen ihrer Mitmenschen vorgeht, entweder nichts oder nur sehr wenig verstehen, ist sowohl das Schreiben wie das Lesen einer Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn weder ein leichtes noch ein ungefährliches Unterfangen. Ich habe mich darum bemüht, den Text so abzufassen, daß das Komplizierteste gleich am Anfang, also bereits in diesen Vorbemerkungen steht. Wenn Sie bis hierher gekommen sind, ist der Rest ein Kinderspiel. Aber Vorsicht: Aus diesem Spiel kann sehr schnell Ernst werden. Möglicherweise bleibt dann nichts mehr so, wie es einmal war. Auch nicht Ihr Gehirn.

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Überblick

Diese Bedienungsanleitung ist nichts für Menschen, die sich vor Veränderungen fürchten. Viele Menschen haben sich im Lauf ihres Lebens mehr oder weniger dicke Scheuklappen und unterschiedlich getönte Brillen aufgesetzt. Auf diese Weise gelingt es ihnen oft, sehr lange nicht zu bemerken, daß etwas um sie herum passiert, was sie eigentlich zwingt, sich zu verändern. Bei diesen geistigen Brillen und emotionalen Scheuklappen handelt es sich um bisweilen notwendige Sicherheitsvorkehrungen und Schutzeinrichtungen, die aber immer dann entfernt werden müssen, wenn man sein Gehirn einmal wirklich frei benutzen will. Es ist daher zwingend erforderlich, diese Vorrichtungen zumindest so lange abzunehmen, wie diese Bedienungsanleitung gelesen wird. Da das nicht nur ungewohnt, sondern anfangs auch etwas unbequem ist, wird im ersten Kapitel beschrieben, wie man sein Gehirn zumindest eine Zeitlang von allem befreit, was den unbefangenen, klaren Blick trübt. Wenn Sie die restlichen Kapitel gelesen haben, wird ihnen ohnehin die Lust vergangen sein, freiwillig wieder mit den alten Brillen und Scheuklappen herumzulaufen. Wofür ein Gehirn benutzt werden kann, hängt zwangsläufig davon ab, wie es aufgebaut ist. Und wie ein Gehirn aufgebaut ist, ist wiederum davon abhängig, wofür es bisher gebraucht wurde, und zwar nicht nur von dem jeweiligen Besitzer, sondern auch von dessen Vorfahren, die die entsprechenden Konstruktionspläne in Form bestimmter genetischer Anlagen ausprobiert haben und – wenn sie einigermaßen funktionierten – an ihre Nachkommen weitergeben konnten. Aber ein Konstruktionsplan ist noch lange kein fertiges Ge21 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

hirn. Damit daraus erneut ein funktionsfähiges Gehirn werden kann, muß von der jeweiligen Elterngeneration auch all das an ihre Nachkommen mitgeliefert werden, was für die Verwirklichung dieses Konstruktionsplans unbedingt erforderlich ist. Für einfache programmgesteuerte Konstruktionen, mit denen Würmer, Schnecken und Insekten herumkriechen, ist das nicht sehr viel. Die mit den notwendigen Bausteinen ausgestatteten Eier müssen lediglich an einem für die Entwicklung der Nachkommen geeigneten Ort abgelegt werden. Der Rest funktioniert dann meist von selbst. Die meisten Wirbeltiere besitzen bereits initial programmierbare Konstruktionen, also Gehirne, die anfangs noch durch eigene Erfahrungen in gewissem Umfang formbar sind. Hier kommt es zusätzlich noch darauf an, daß die Eltern während der Phase der Hirnentwicklung ihrer Nachkommen Bedingungen schaffen und aufrechterhalten, unter denen von den Nachkommen all das gelernt werden kann, worauf es im späteren Leben einmal ankommt. Das ist schon schwieriger, funktioniert aber normalerweise problemlos, solange die Welt, in die diese Nachkommen hineinwachsen, sich nicht allzusehr verändert. Nicht viel anders verhält es sich mit genetischen Konstruktionsplänen, die die Herausbildung eines zeitlebens programmierbaren und damit auch zeitlebens lernfähigen Gehirns ermöglichen. So ein Gehirn hat nur der Mensch, und zwar seit etwa 100 000 Jahren. Seit ungefähr 4000 aufeinanderfolgenden Generationen hat sich also nichts Wesentliches mehr an der Fähigkeit unserer genetischen Anlagen geändert, ein Gehirn herauszubilden, dessen Feinkonstruktion zeitlebens dadurch bestimmt wird, wie und wozu ein Mensch es benutzt. Jede neue Generation mußte demzufolge innerhalb der von ihren Eltern und deren Vorfahren gestalteten Lebensbedingungen immer wieder neu lernen, worauf es im Leben ankommt. Das war manchmal sehr viel, manchmal aber auch recht wenig. Es gab Zeiten und Regionen, in denen es Menschen über mehrere Generationen hinweg gelang, besonders 22 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

günstige Bedingungen für die Herausbildung hochkomplexer, stark vernetzter Gehirne zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Aber es gab zu anderen Zeiten und in anderen Regionen immer auch Bedingungen, die dazu führten, daß das genetische Potential zur Ausbildung eines hochkomplexen, vielfach vernetzten Hirns nicht in diesem Ausmaß genutzt werden konnte. Auch daran hat sich bis heute nichts geändert. Noch heute gibt es Menschen, die das Glück haben, in eine Welt hineinzuwachsen, die ihnen die Möglichkeit bietet, ihre genetischen Potenzen zur Ausbildung eines zeitlebens lernfähigen Gehirns weitgehend auszuschöpfen, und es gibt andere, die einfachere Lösungen finden oder finden müssen, um ihr Überleben und das ihrer Nachkommen zu sichern. Wie verschieden also Gehirne, besonders die von uns Menschen, tatsächlich sein können, weshalb sie so verschieden sind und wie sehr die einmal im Hirn entstandenen Verschaltungen die weiteren Nutzungsmöglichkeiten bestimmen, wird im zweiten Kapitel dargestellt. Hier wird auch erstmals deutlich gemacht, was ein menschliches Gehirn gegenüber allen programmgesteuerten Konstruktionen auszeichnet: die zeitlebens vorhandene Fähigkeit,einmal im Hirn entstandene Verschaltungen und damit die von ihnen bestimmten Denk- und Verhaltensmuster, selbst scheinbar unverrückbare Grundüberzeugungen und Gefühlsstrukturen, wieder zu lockern, zu überformen und umzugestalten. Deshalb ist nur ein menschliches Gehirn in der Lage,einmal entstandene Programme wieder aufzulösen oder zu überschreiben, sobald sie die weitere Entfaltung der geistigen und emotionalen Potenzen zu behindern beginnen. Wie alle lernfähigen Gehirne ist auch das Gehirn des Menschen am tiefstgreifenden und am nachhaltigsten während der Phase der Hirnentwicklung programmierbar. Die wichtigsten Installationen in Ihrem Hirn sind also bereits, lange bevor Sie diese Bedienungsanleitung lesen konnten, erfolgt. Wichtige, während der frühen Kindheit und im Jugendalter gemachte Erfahrungen haben zur Stabilisierung bestimmter 23 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

neuronaler Verschaltungen geführt. Diese einmal gebahnten Verschaltungsmuster sind auch im späteren Leben besonders leicht durch gewisse Wahrnehmungen und Erlebnisse aktivierbar und werden dann bestimmend für das, was »in uns vorgeht«, wie wir in bestimmten Situationen fühlen, denken und handeln. Das geschieht meist unbewußt und wie von einem inneren Programm gesteuert. Um derartige Programmierungen später wieder auflösen zu können, müssen sie als bereits erfolgte Installationen bewußt gemacht und erkannt werden. Darum geht es im dritten Kapitel. Hier wird zunächst beschrieben, welche Entwicklungsbedingungen erforderlich sind, um die genetischen Potenzen zur Ausbildung eines hochkomplexen, vielfach vernetzten und zeitlebens lernfähigen Hirns optimal nutzen zu können. Da nur wenige Menschen das Glück haben, während ihrer Kindheit und Jugend solche Bedingungen tatsächlich vorzufinden, werden wir uns in diesem Abschnitt auch mit den Spuren befassen, die weniger optimale oder gar unzulängliche Entwicklungsbedingungen im Gehirn hinterlassen können. Ein zeitlebens lernfähiges Gehirn ist auch lebenslänglich veränderbar. Auch die während der Phase der Hirnentwicklung möglicherweise entstandenen einseitigen, unbalancierten oder defizitären Installationen sind daher in gewissem Umfang auch noch im erwachsenen Zustand korrigierbar. Wie solche Korrekturen erfolgen können, wird im vierten Kapitel beschrieben. Das Ziel all dieser Korrekturmaßnahmen ist die Wiederherstellung eines verlorengegangenen inneren Gleichgewichts. Oft sind im Verlauf der bisherigen Entwicklung Ungleichgewichte zwischen Offenheit und Abgrenzung gegenüber der äußeren Welt entstanden. Es kann die Abhängigkeit von bestimmten Bezugspersonen ebenso übermäßig ausgebildet worden sein wie das Bestreben nach Autonomie. Fühlen und Denken bilden dann nur noch selten eine Einheit und geraten allzuleicht in Widerspruch.All diese »Schieflagen« sind meist jahre-, oft sogar jahrzehntelang stabilisiert worden 24 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

und haben die bisherigen Nutzungsbedingungen des Gehirns ganz wesentlich bestimmt, genauer: eingeschränkt. Da unter diesen Bedingungen keine Weiterentwicklung möglich ist, wird die Korrektur dieser Installationsdefizite zur entscheidenden Voraussetzung für die Ausbildung eines hochkomplexen, vielfach vernetzten und zeitlebens änderungsfähigen Gehirns. Nichts im Hirn bleibt so, wie es ist, wenn es nicht immer wieder so genutzt wird wie bisher. Und nichts im Hirn kann sich weiterentwickeln und zunehmend komplexer werden, wenn es keine neuen Aufgaben zu lösen, keine neuen Anforderungen zu bewältigen gibt. Das sind die beiden Kernaussagen, die das zusammenfassen, was im fünften Kapitel unter der Überschrift »Unterhaltungs- und Wartungsmaßnahmen« beschrieben wird. Wäre ein menschliches Gehirn nichts weiter als ein kompliziertes Denk- und Erinnerungsorgan, dann sollte es durch intellektuelle Ratespiele und das Auswendiglernen von Telefonbüchern am besten zu unterhalten und zu warten sein. Wäre es nichts weiter als ein zentrales Koordinationsorgan zur Steuerung vitaler Körperfunktionen und komplexer Bewegungsabläufe, müßte es durch Abhärtungsprogramme und Leibesübungen trainiert und stimuliert werden. Diente das Gehirn in erster Linie dem Zweck, Wahrnehmungen aus unserer äußeren Lebenswelt und unserer inneren Körperwelt zu verarbeiten und entweder in unspezifische Bilder, Gefühle und Träume oder aber in spezifische Reaktionen umzusetzen, dann käme es vor allem darauf an, diese Fähigkeit zur Wahrnehmung und Verarbeitung des Wahrgenommenen zu schulen und fortzuentwickeln. Und wenn wir unser großes, lernfähiges Gehirn vor allem deshalb hätten, um uns gegenüber anderen zu behaupten, so wäre es ratsam, nach immer besseren Strategien zu suchen, um andere Menschen zu übertreffen, übers Ohr zu hauen, zu hintergehen, zu unterwerfen oder sonstwie für unsere Zwecke auszunutzen. Auch wenn es in der Vergangenheit immer wieder so aussah und vielfach auch so dargestellt worden ist, als käme es bei 25 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

der Benutzung des Gehirns auf die eine oder andere dieser vielen Fähigkeiten ganz besonders an, so läßt sich vom heutigen Stand der Erkenntnisse zweifelsfrei festhalten, daß es auf alles gleichermaßen ankommt. Das Kunststück bei der Bedienung unseres Gehirns besteht also darin, daß wir versuchen müssen, immer wieder Bedingungen zu schaffen, die es nicht nur möglich, sondern sogar erforderlich machen, all diese verschiedenartigen Fähigkeiten unseres Gehirns möglichst gleichzeitig zu benutzen und gleichermaßen auszubauen. Was das für Bedingungen sein könnten, wo man sie findet und wie man sie für die Unterhaltung und Wartung eines menschlichen Gehirns nutzen kann, wird im fünften Kapitel, dem Hauptteil dieser Bedienungsanleitung, ausführlich dargestellt. Alles, was kompliziert aufgebaut ist, reagiert auch sehr empfindlich auf Störungen. Das Gehirn ist das komplizierteste Organ, das wir besitzen. Wenn es gelingt, daraus ein menschliches Gehirn zu entwickeln und es als solches trotz der enormen Störanfälligkeit dieses Prozesses zu bewahren, so grenzt das fast an ein Wunder. Viel wahrscheinlicher ist es, daß das Gehirn des Menschen durch ungünstige Entwicklungsund Nutzungsbedingungen an der vollen Entfaltung seiner Möglichkeiten gehindert wird. Das sechste und letzte Kapitel befaßt sich mit den wichtigsten dieser normalerweise immer wieder auftretenden Störfälle. Der häufigste Grund dafür sind gravierende Bedienungsfehler. Zu solchen Bedienungsfehlern kommt es meist schon sehr früh, also bereits zu einem Zeitpunkt, wenn in erster Linie die Eltern und andere frühe Bezugspersonen darüber bestimmen, wie und wofür man sein Gehirn benutzt. Später erweitert sich der Kreis anderer Menschen, die die Art der Nutzung des eigenen Hirns beeinflussen. Von diesen anderen Menschen werden all jene Vorstellungen übernommen, die besonders geeignet erscheinen, um sich in der Welt, in die man hineinwächst, zurechtzufinden. Die Art und Weise, wie man sein Gehirn benutzt, hängt also nicht nur von den Anforderungen ab, die ein Mensch in seiner 26 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Lebenswelt zu bewältigen hat, sondern auch davon, welche Vorstellungen anderer Menschen er zur Bewältigung dieser Anforderungen angeboten bekommt und übernehmen kann. Die Welt, in die die meisten Menschen hineinwachsen, ist eine mit den Maßstäben von vorangegangenen Generationen mehr oder weniger bewußt gestaltete Welt. Das ist nicht zwangsläufig auch eine besonders menschliche Welt und deshalb auch nicht zwangsläufig eine Welt, in der optimale Bedingungen für die Entwicklung eines menschlichen Gehirns herrschen. Je weniger diese Voraussetzungen erfüllt sind, desto stärker ist die heranwachsende Generation gezwungen, Bedienungsfehler bei der Benutzung ihres Hirns zu machen. Dann wird das Wunder der Herausbildung eines menschlichen Gehirns immer seltener, und über kurz oder lang wird das, was am häufigsten passiert, der Störfall, zum Normalfall erklärt. Und wenn dieser Punkt erreicht ist, bleiben uns nur noch drei Möglichkeiten: (1) an der Allmacht unseres Schöpfers zu zweifeln, (2) die genetischen Anlagen so zu verändern, daß die von ihnen hervorgebrachten Gehirne besser in die gegenwärtigen Verhältnisse passen, oder (3) die gegenwärtig herrschenden Verhältnisse so zu verändern, daß sie die Ausbildung immer menschlicherer Gehirne ermöglichen. Die erste dieser Möglichkeiten haben wir schon weitgehend abgearbeitet, die zweite probieren wir zur Zeit noch aus. Die unbequeme dritte Möglichkeit versuchen wir noch immer vor uns herzuschieben.

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1 Entfernung von Verpackungsmaterial und Schutzvorrichtungen

Alles, was lebt, auch ein Gehirn, steckt in einem großen Dilemma. Es muß hinreichend offen sein, damit es all das aufnehmen kann, was es zu seinem Aufbau und zur Aufrechterhaltung seiner inneren Ordnung benötigt. Gleichzeitig muß es aber auch hinreichend verschlossen sein, um zu verhindern, daß Störungen aus der äußeren Welt in seine Innenwelt vordringen und die Stabilität der dort aufgebauten inneren Ordnung bedrohen. Vom Gehirn ist dieses Dilemma besonders raffiniert gelöst worden. Es kann seine Öffnungen zur Außenwelt besonders weit aufmachen, wenn es darauf ankommt, genauer zu erfahren, ob draußen etwas Bedrohliches passiert, und es kann sie auch ganz einfach zumachen, wenn ihm das, was draußen passiert, nicht besonders bedrohlich erscheint. Falls es doch einmal richtig gefährlich wird, hat es immer noch die Möglichkeit, sich unter Zuhilfenahme der Beine beziehungsweise Flügel seines Besitzers möglichst rasch davonzumachen oder sich mit Hilfe von dessen Zähnen und Klauen gegen einen Angriff auf seine innere Ordnung zu wehren. Manche Gehirne sind in der Lage, bedrohliche Veränderungen der äußeren Welt sehr feinfühlig bereits dann wahrzunehmen, wenn sie sich gerade erst anbahnen und noch gar nicht eingetreten sind. Sie können das, was auf sie zukommt, vorausschauend abschätzen und sich deshalb viel früher und viel effektiver vor Bedrohungen ihrer inneren Ordnung schützen. Auf diese Weise gelingt es ihnen, Gefahren bereits im Vorfeld zu erkennen und abzuwenden. Sie können nach Lösungen suchen, bevor es zu spät ist. Da das aber auf Dauer recht anstrengend ist und allzuviel vorausschauendes Denken auch dazu führen kann, daß man ganz wirr im Kopf wird und 29 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

am Ende womöglich sogar das Gras wachsen hört, macht das Gehirn normalerweise nur selten Gebrauch von dieser außergewöhnlichen antizipatorischen Fähigkeit. Lieber döst es vor sich hin, löst ab und zu einmal ein Kreuzworträtsel, läßt sich von Musik und bunten Bildern berieseln und verläßt sich darauf, daß schon alles gutgehen wird. Je länger ein Gehirn auf diese Weise benutzt worden ist, desto schwerer läßt es sich später wieder wachrütteln, wenn wirklich einmal etwas Wichtiges passiert. Damit Sie mit dieser Bedienungsanleitung etwas anfangen können, müssen Sie Ihr Gehirn zunächst einmal aus dem Wattepolster herausholen, in das es normalerweise so schön bequem eingepackt ist. Am besten gelingt das mit dem Hinweis, daß es ansonsten ein für allemal mit der bisherigen Bequemlichkeit vorbei sei. Immer dann, wenn ein Gehirn so plötzlich ausgewickelt und aufgerüttelt wird, entsteht darin ein gewisses Durcheinander. Das ist recht unangenehm, weil es sich bis in den Körper hinein auswirkt. Unser Herz beginnt zu rasen, in der Magengegend breitet sich ein flaues Gefühl aus, wir bekommen einen Schweißausbruch und müssen womöglich aufs Klo. Streßreaktion nennt man das, was da passiert, und das Gefühl, das damit einhergeht, heißt Angst. Wenn Sie das erleben, ist Ihr Gehirn wirklich wach geworden. Es hat alle Sinneseingänge und -kanäle weit aufgemacht und versucht nun herauszufinden, woher die Störung seines inneren Gleichgewichts kommt und wie ihr zu begegnen ist. Sobald es jedoch feststellt, daß in Wirklichkeit nichts weiter passiert ist, daß Sie ja eigentlich nur ein Buch lesen, wird sich Ihr Gehirn sofort wieder beruhigt in sein Wattebett zurückfallen lassen. Das können Sie nur verhindern, indem Sie ihm erklären, daß dieses Buch davon handelt, wie man ein menschliches Gehirn richtig bedient. Dann wird es sich schon wieder aufrappeln. Jetzt fangen die Schwierigkeiten allerdings erst richtig an. Denn wenn Sie eine Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn lesen, wird Ihr Hirn sofort befürchten, daß es mit der 30 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

bequemen Art seiner bisherigen Bedienung nun ein für allemal vorbei ist. Es wird sich also zu Wort melden und versuchen, seine alte Ruhe durch allerlei Schutzbehauptungen wiederherzustellen. Zuerst wird es erklären, daß es so viele Bücher gibt, in denen so viel Unsinn steht, daß es sich deshalb kaum lohnen wird, auch dieses Buch noch zu lesen. Wenn Sie ihm dann klargemacht haben, es gebe auch Ausnahmen, und es solle doch erst einmal abwarten, wird es als nächstes behaupten, ein Gehirn sei viel zu kompliziert, um zu verstehen, wie es zu benutzen ist. Es wird sich dabei auf die vielen Experten berufen, die immer wieder darauf hingewiesen haben, wie schwer, ja unmöglich es sei, mit Hilfe des Gehirns herauszufinden, wie unser Gehirn funktioniert. Wenn Sie Ihr Gehirn dann darauf hingewiesen haben, daß Sie gar nicht wissen wollen, wie es funktioniert, sondern wie man es benutzt, wird es sehr geschickt andeuten, daß das, was in dieser Bedienungsanleitung steht, auch sehr wohl falsch sein könnte. Dann bleibt Ihnen keine andere Möglichkeit mehr, als ihm Mut zu machen, es einfach darauf ankommen zu lassen. Versuchen Sie dabei, liebevoll und behutsam vorzugehen. Ihr Gehirn ist ängstlicher, als Sie denken. Vielleicht läßt es sich überzeugen, wenn Sie ihm erklären, daß es sicher noch viele andere Menschen gibt, die diese Bedienungsanleitung ebenfalls lesen werden.

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2 Aufbau und Einsatzmöglichkeiten

Ein festsitzender Zellhaufen braucht kein Gehirn. Er kann sich weder dorthin bewegen, wo es besser ist, noch kann er sich davonmachen, wenn es brenzlig wird. Für ihn wäre ein Gehirn der reine Luxus, also etwas, womit er überhaupt nichts anfangen kann. Es könnte verkümmern und ihm irgendwann ganz und gar abhanden kommen, ohne daß er das überhaupt bemerken würde. So ist es unseren Bandwürmern gegangen. Deren Vorfahren waren einmal recht bewegliche Würmer. Sie besaßen ein Nervensystem, das die Kontraktionen ihrer vielen Muskelzellen so koordinierte, daß sich der ganze Wurm fortbewegen konnte. Es war in der Lage, die von den Sinneseingängen eintreffenden Signale so zu verarbeiten, daß der Wurm zielsicher dorthin kriechen konnte, wo keine Gefahr drohte, wo es etwas zu fressen gab und wo gegebenenfalls sogar ein begattungsbereiter Partner zu finden war. Einigen dieser Würmer ist es später, als noch viel größere und kompliziertere Tiere entstanden waren, mit Hilfe ihres primitiven Hirns gelungen, einen besonders angenehmen Lebensraum zu finden: den Darm. Dort gab es Nahrung im Überfluß, und dort drohte, solange der Wirt lebte, keinerlei Gefahr. Sie verloren allmählich ihre Beweglichkeit. Außen an ihrem Kopf entwickelte sich ein Hakenkranz, mit dem Sie sich festhalten konnten, und drinnen verschwand all das, was in diesem Wurm-Schlaraffenland nicht mehr gebraucht wurde. Ohne es überhaupt zu bemerken, hatten sie nicht nur ihr ohnehin nicht sehr großes Gehirn verloren, sondern bald auch die Fähigkeit, überhaupt noch eines herauszubilden. Wie den Bandwürmern ist es bisher auch allen anderen Pa33 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

rasiten gegangen. Erst benutzen sie ihr Hirn besonders schlau, um sich ein bequemes Leben zu machen, und wenn sie das endlich geschafft haben, fangen sie an zu verblöden. Eine Einsatzmöglichkeit für das Gehirn besteht also darin, sich damit einen Lebensraum zu erschließen, in dem gar kein Gehirn mehr gebraucht wird. Mit dem Aufbau des Gehirns und seiner unterschiedlichen Bereiche verhält es sich nicht viel anders. Auch die Ausbildung einzelner, für bestimmte Leistungen zuständiger Regionen des Gehirns hängt davon ab, wofür man sein Gehirn braucht und deshalb auch benutzt. Nehmen wir zum Beispiel den Maulwurf. Dessen Vorfahren waren Insektenfresser und mußten deshalb zumindest einigermaßen gut sehen und umherspringen können. Da sie dabei ständig Gefahr liefen, von größeren Tieren gefressen zu werden, war es durchaus vorteilhaft, sich gelegentlich einfach einzugraben. Falls sie auch unter der Erde noch genug zu fressen fanden, hatten diese Urmaulwürfe bald keinen vernünftigen Grund mehr, überhaupt je wieder aufzutauchen. Sie buddelten ihre Gänge und fingen sich ihre Regenwürmer und was es sonst noch da unten gab. Zu sehen war in diesen dunklen Gängen nichts, aber gut riechen und hören mußte man können. Wer am seltensten Lust auf Licht und Sonne bekam und wer die größten Vorderschaufeln hatte, muß wohl am längsten gelebt und die meisten Nachkommen hinterlassen haben. Irgendwann waren die dann alle blind wie die Maulwürfe, hatten lange Nasen und so große Grabschaufeln, daß keiner mehr damit umherspringen konnte. Nutzlos, wie sie für ein solches Maulwurfleben geworden war, begann ihre Sehrinde zu verkümmern, dafür wurden diejenigen Bereiche ihres Gehirns, die zum Riechen und Hören gebraucht wurden, allmählich immer besser ausgebaut. Das ist das Schicksal aller Spezialisten. Erst benutzen sie all ihre Sinne und ihr ganzes Gehirn, um eine Nische zu finden, in der es sich einigermaßen komfortabel leben läßt. Und wenn sie die endlich gefunden haben, paßt sich ihr Gehirn und ihr ganzer Körperbau von Generation zu Generation immer bes34 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

ser an die dort herrschenden Bedingungen an. Je einseitiger diese Bedingungen sind und je besser dieser Anpassungsprozeß gelingt, desto schwerer fällt es ihnen allerdings, später einmal wieder aus so einer Nische herauszukommen. Eine zweite Einsatzmöglichkeit des Gehirns besteht also darin, sich damit einen Lebensraum zu erschließen, in dem bestimmte Teile des Gehirns besonders gebraucht und auf Kosten anderer, weniger benötigter Bereiche immer stärker entwickelt werden. Die dritte Einsatzmöglichkeit ist die interessanteste, aber auch die schwierigste: Das Gehirn kann auch dazu benutzt werden, einen Lebensraum zu erschließen, der so komplexe Anforderungen an die Leistungen des Gehirns stellt, daß all seine Fähigkeiten gleichermaßen beansprucht und ausgebaut werden. Dieses Kunststück konnten im Verlauf der Evolution nur diejenigen vollbringen, denen es aus irgendwelchen Gründen nicht so recht gelungen war, eine spezielle Nische zu erobern und zu verteidigen, einen Lebensraum also, in dem es darauf ankam, entweder besonders gut sehen, besonders gut hören, besonders gut riechen, besonders gut laufen oder klettern oder aber besonders gut schwimmen oder fliegen zu können. Sie, die den Wettbewerb in all diesen Einzeldisziplinen verloren hatten, die von allem ein bißchen und nichts besonders gut konnten, diese scheinbaren Verlierer der Evolution bekamen als einzige die Chance, die weitere Entwicklung ihres Gehirns für möglichst viele Optionen offenzuhalten. Sie brauchten kein Gehirn, das zum Zeitpunkt der Geburt bereits so weit ausgereift war, daß sie sich damit so rasch wie möglich und so perfekt wie möglich in einen ganz bestimmten, hochspezifischen Lebensraum einfügen konnten. Ein strenges genetisches Programm, das die Gehirnentwicklung der Nachkommen all dieser Spezialisten in eine ganz bestimmte Richtung lenkte, war für diese »Alles-und-doch-nichts-richtig-Könner« ohne besonderen Nutzen. Beim großen Rennen um die besten Überlebensnischen hatten sie gewissermaßen den Startschuß verpaßt. Das Feld der Spezialisten war davon35 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

gestürmt, und das Rennen war für die zu spät Gekommenen praktisch gelaufen. Hinterherlaufen war sinnlos. Sie konnten nur noch versuchen, so zu bleiben, wie sie waren, und auszuharren, bis die anderen sich mit ihrer Strategie, einzelne Teilleistungen und Fähigkeiten immer weiter auszubauen, verausgabt oder festgerannt hatten. In der Tat gab es auf der Erde bald keinen Lebensbereich mehr, der nicht von irgendwelchen Spezialisten erschlossen und okkupiert worden war. Im Wasser, an Land und in der Luft breiteten sich die vielfältigsten Lebensformen aus, und die Welt wurde so bunt, vielgestaltig und vielstimmig, wie sie nie zuvor gewesen war. Damit begann sie sich aber auch in einem Tempo zu verändern, das es bisher noch nie gegeben hatte. Beides zusammen – die zunehmende Komplexität der äußeren Welt und die wachsende Dynamik der in dieser Welt stattfindenden Veränderungen – bot den Zurückgebliebenen die Chance, all die anderen Spezialisten zu überholen, ohne sie einzuholen. Erst jetzt, in dieser immer vielfältiger und immer veränderlicher werdenden Welt, erwies sich ein Gehirn von Vorteil, mit dem man sowohl riechen als auch sehen als auch hören als auch fühlen als auch schwimmen als auch laufen und klettern, ja womöglich sogar fliegen konnte. Und so kam es, wie es kommen mußte. Die Spezialisten waren am Ende ihrer Kunst und ihrer Entwicklungsmöglichkeiten angelangt. Dafür machten sich die Generalisten, die alles ein bißchen und nichts besonders gut konnten und die es bisher nur mit viel Mühe geschafft hatten, sich in der Welt der Spezialisten zu behaupten, nun erst richtig auf den Weg. Es gab unglaublich viel zu entdecken in dieser von so vielen Hör-, Seh-, Riech- und sonstwie spezialisierten Künstlern gestalteten Welt, wenn man Ohren, Augen, Nasen und Haut gleichermaßen gut benutzen und das Gehörte, Gesehene, Gerochene und Gefühlte zu einem möglichst vollständigen Bild zusammenfügen, assoziieren konnte. Mit dieser Begabung ließen sich komplexe Veränderungen der äußeren Welt gleichzeitig auf mehreren Sinnesebenen erfassen und für voraus36 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

schauende, umsichtige Reaktionen nutzen. Und all das gelang natürlich um so besser, je weniger die im Gehirn angelegten Verschaltungen bereits von Anfang an durch genetische Programme vorbestimmt waren. So entstanden aus den ursprünglich noch streng programmgesteuerten Konstruktionen allmählich immer offenere, nicht mehr ausschließlich genetisch kontrollierte Verschaltungen. Bei ihnen wurden die endgültigen Verschaltungsmuster erst später, innerhalb der individuell vorgefundenen Nutzungsbedingungen stabilisiert. Aus programmgesteuerten wurden so zunächst initial und später sogar zeitlebens programmierbare Konstruktionen.Am Ende dieser Entwicklungsreihe entstand schließlich ein Gehirn, das in der Lage war, seine eigenen Nutzungsbedingungen festzulegen und sich damit gewissermaßen selbst zu strukturieren. Es konnte nun auf einmal selbst entscheiden, was aus ihm werden wollte. Mit einem solchen Gehirn haben sich unsere Vorfahren auf den Weg gemacht, eine Welt zu schaffen, in der sie die Bedingungen für die Benutzung ihres Gehirns nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten konnten. Wie oft sie dabei auf Abwege geraten sind, läßt sich in den Geschichtsbüchern nachlesen.

2.1 Programmgesteuerte Konstruktionen: Gehirne von Würmern, Schnecken und Insekten Die ersten, allerprimitivsten Nervensysteme sind von solchen Tieren entwickelt worden, denen es durch zufällige Programmänderungen ihrer genetischen Anlagen gelungen war, aus einem bloßen Haufen gleichartiger Zellen so etwas wie eine hohle Kugel zu machen. In dem flüssigkeitsgefüllten Hohlraum dieser Kugel entstand auf diese Weise eine eigene, innere Welt, die von den störenden Einflüssen der äußeren, fremden Welt weitgehend abgeschirmt war. Am Leben konn37 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

te eine solche kleine Zellkugel freilich nur so lange bleiben, wie sie imstande war, die in ihrem Inneren herrschenden Bedingungen auch dann noch aufrechtzuerhalten, wenn sich die äußere Welt in bedrohlicher Weise zu verändern begann. Das konnte nur gelingen, wenn alle Zellen ständig darüber informiert wurden, ob draußen in der Welt etwas Wichtiges passierte und ob drinnen, in ihrer inneren Welt, noch alles in Ordnung war. Für dieses Problem gab es nur eine einzige Lösung, und die wurde irgendwann auch durch irgendeine zufällige Änderung des genetischen Programms gefunden. Einige der äußeren Hautzellen blieben in ihrer Entwicklung zurück, wanderten in den Zwischenraum zwischen äußerer und innerer Haut und bildeten Fortsätze aus, mit denen sie sowohl untereinander, mit der äußeren und der inneren Welt und mit den Zellen der Außen- und Innenhaut in Kontakt traten. Außen und innen waren damit verbunden, und der ganze Organismus konnte nun in einer konzertierten Aktion seiner Zellen auf all das reagieren, was seine innere Ordnung bedrohte. Diese allererste Funktion der allerersten Nervensysteme ist bis heute die entscheidende Aufgabe geblieben, die auch unser Nervensystem noch zu leisten hat: Aufrechterhaltung der inneren Ordnung. Erforderlich war dafür zunächst nicht allzuviel, und tatsächlich erinnern die ersten Konstruktionspläne für derartige Nervensysteme noch sehr an den Aufbau des Regelsystems einer Klimaanlage, das dafür sorgt, die Temperatur, die Luftfeuchtigkeit und die Frischluftzufuhr im Innenraum eines Hauses konstant zu halten, egal ob es draußen friert und schneit oder ob brütende Hitze herrscht. Für diesen Zweck reicht eine einfache, programmgesteuerte Konstruktion mit entsprechenden Sensoren, die immer dann einen geeigneten gegenregulatorischen Mechanismus in Gang setzen, wenn der von ihnen gemessene Istwert vom Sollwert abzuweichen beginnt. So konstruierte Nervensysteme waren völlig ausreichend für das Leben in einer Welt, die sich nicht allzusehr veränderte, in der nichts Neues, Bedrohliches passierte. Manche 38 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

dieser kleinen Kugeln kommen in der Welt, in der sie leben, noch heute ausgezeichnet damit zurecht. Manche, wie die Polypen und Quallen, haben auch erstaunlich vielfältige Formen entwickelt. Die meisten sind jedoch im Lauf der Jahrmillionen zugrunde gegangen, weil es immer wieder zu Störungen in ihrer äußeren Welt kam, die sie mit ihrem primitiven Nervensystem nicht früh genug erkennen und auf die sie nicht effizient genug reagieren konnten. Aber es gab auch immer einige wenige, die aufgrund zufälliger Veränderungen ihres genetischen Programms etwas anders waren, die bestimmte Bedrohungen besser oder früher wahrnehmen und darauf anders, effizienter reagieren konnten als ihre Artgenossen. Beispielsweise weil sie Ruderinstrumente oder kontraktile Zellen besaßen, die sich zusammenziehen und mit deren Hilfe sie sich aus Gefahrenzonen weg und zu Nahrungsquellen hin bewegen konnten. Diese Instrumente zur Fortbewegung waren aber erst dann gezielt zu gebrauchen, wenn es auch ein Nervensystem gab, das diese Bewegungen so koordinierte, daß der ganze Organismus damit in eine bestimmte Richtung gelenkt werden konnte. Und als das erst einmal entstanden war, nahm das ursprünglich kugelförmige Gebilde nicht nur eine immer stromlinien- und damit wurmförmigere Gestalt an, es wurde vor allem das, was vorn passierte, wichtiger als das, was hinten geschah. Deshalb entwickelten sich auch die ersten Nervenzellansammlungen dort, wo alle Tiere noch heute ihr Gehirn haben: vorn, im Kopf. Und je mehr Sensoren zur Wahrnehmung von physikalischen (taktilen, optischen, auditorischen) oder chemischen (gustatorischen, olfaktorischen) Veränderungen der Außenwelt dort konzentriert werden konnten, desto besser, desto sicherer und desto früher ließen sich nicht nur Bedrohungen der inneren Ordnung erkennen und abwenden, sondern auch solche Bereiche innerhalb ihrer jeweiligen Lebenswelten ausmachen, in denen für die Aufrechterhaltung ihrer inneren Ordnung besonders günstige Bedingungen herrschten. All das funktionierte um so effektiver, je besser die 39 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

aus den verschiedenen Sensoren, also den unterschiedlichen Sinnesorganen, einlaufenden Informationen miteinander zu einem Gesamteindruck der in der äußeren Welt aufgetretenen Veränderungen und der in der inneren Welt herrschenden Bedingungen verknüpft werden konnten. Und das geschah eben in dieser Nervenzellansammlung im Kopf. Je größer sie war und je mehr Verschaltungen und Querverbindungen es zwischen den unterschiedlichen Sinneseingängen dort gab, desto komplexer wurde dieses primitive Gehirn und desto genauer entsprach das Bild, das dort über die wahrgenommenen Veränderungen der äußeren Welt gezeichnet werden konnte, auch dem, was sich draußen in Wirklichkeit abspielte. Welche Stufe der Komplexität diese Gehirne auf ihrem Entwicklungsweg über Würmer, Schnecken, Insekten und Spinnen dabei auch immer erreichten, sie blieben allesamt streng von den jeweiligen genetischen Programmen abhängige und von ihnen gesteuerte Konstruktionen. Die dafür erforderlichen genetischen Anlagen sind über unvorstellbar lange Zeiträume zunächst nur durch zufällige Abänderungen bereits vorhandener DNA-Sequenzen entstanden, eigentlich also durch Fehler, die immer wieder bei der Weitergabe der genetischen Programme von einer Generation zur nächsten auftraten. Wie von einem Zufallsgenerator erzeugt, entstanden so immer wieder neue, zusätzliche, verdoppelte, abgeschnittene und anders angeordnete DNA-Abschnitte und damit mehr oder weniger ausgeprägte Programmänderungen. Durch die bei der sexuellen Vermehrung stattfindende Verschmelzung der elterlichen Keimzellen wurden diese Anlagen ständig weiter durchmischt. Wer ein genetisches Programm mitbekommen hatte, das ihn in die Lage versetzte, eine bestimmte innere Ordnung aufzubauen und zu erhalten, blieb am Leben und erzeugte Nachkommen. Die genetischen Programme derjenigen, die die meisten Nachkommen hinterließen, breiteten sich aus, alle anderen blieben als ungeeignete Prototypen auf der Strecke. Das waren fast alle, denn den theoretisch unbegrenzten Möglichkeiten genetischer Pro40 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

grammänderungen waren seit jeher recht enge praktische Grenzen gesetzt. Nur sehr wenig von dem, was alles möglich war, erwies sich auch als lebbar. Die Änderungen durften nicht zu groß und zu tiefgreifend sein, sie mußten zu dem passen, was schon da war, und sie durften all das, was bereits funktionierte, nicht beeinträchtigen. Das galt insbesondere für die Konstruktionspläne des Gehirns. Die Änderungen mußten vor allem dazu führen, daß entweder mehr Nachkommen oder aber überlebensfähigere Nachkommen erzeugt wurden. Die Zahl der Nachkommenschaft ließ sich durch eine ganze Reihe unterschiedlichster Programmänderungen erhöhen. Deren Überlebensfähigkeit aber war nur auf eine einzige Weise zu verbessern: durch ein besser funktionierendes Gehirn. Aus dem ständig weiter sprudelnden Quell genetischer Variabilität wurden also immer wieder solche Programme ausgelesen, die sich für die Konstruktion eines Gehirns eigneten, das Veränderungen der inneren und äußeren Welt früher wahrnehmen und effektiver beantworten konnte. Da die innere Welt der sich entwickelnden Lebensformen durch die Erweiterung ihrer genetischen Programme zwangsläufig immer komplexer und die äußere Welt zunehmend von den Aktivitäten anderer, bisher nicht vorhandener Lebewesen bestimmt wurde, mußten die in den Gehirnen dieser ersten wirbellosen Tiere herausgeformten neuronalen Schaltkreise und assoziativen Netzwerke zunehmend komplexer werden. Sie ermöglichten so eine immer bessere Steuerung von vitalen Körperfunktionen (Stoffwechsel, Kreislauf, Atmung, Verdauung etc.), von überlebenswichtigen Verhaltensweisen (Angriff, Verteidigung, Flucht, Nahrungsbeschaffung, Schlaf) und von artspezifischen reproduktiven Strategien (Partnersuche, Partnerwahl, Paarung, Brutpflege). Von Anfang an waren die wirbellosen Tiere darauf angewiesen, durch massenhafte Vermehrung hinreichend viele genetische Varianten zu produzieren. Aus diesem Pool wurden diejenigen Varianten durch die natürliche Selektion ausgelesen, die sich besser als alle anderen in den jeweiligen Lebens41 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

raum der betreffenden Arten einfügen konnten, weil sie irgend etwas, worauf es in diesem spezifischen Lebensraum besonders ankam, besser als alle anderen konnten. Wie bei einer Bauserie von Automaten zur immer effizienteren Lösung bestimmter Aufgaben entstanden aus den primitiven Nervensystemen der Hohltiere, Würmer und Schnecken schließlich so komplexe Gebilde wie die Gehirne der Gliedertiere, die damit alle nur denkbaren Lebensbereiche im Wasser, zu Lande und in der Luft erschlossen. Sie entwickelten dabei zum Teil hochkomplizierte artspezifische Verhaltensweisen. In Form von Bienen-, Termiten-, Ameisen- und anderen Staaten entstanden sogar kollektive, arbeitsteilige Gemeinschaften. Jede nur irgendwie zum Überleben nutzbare Form der Wahrnehmung, der Nahrungsbeschaffung, der Verteidigung oder der Fortbewegung und jede nur irgendwie zur Partnersuche, zur Paarung oder zur Sicherung der Nachkommenschaft brauchbare Verhaltensstrategie dürfte auf dem langen Entwicklungsweg von den Würmern bis zu den Insekten in Form bestimmter genetisch programmierter Verschaltungen entstanden sein und ist, wenn sie sich bewährte, weiter ausgelesen worden. Am Ende dieses Weges hatten lauter verschiedene Spezialisten die Welt erobert und in Form unterschiedlichster ökologischer Nischen unter sich aufgeteilt. Je besser diese Spezialisten an die in ihren Nischen herrschenden Bedingungen angepaßt waren, desto erfolgreicher konnten sie sich dort behaupten. Allerdings nur so lange, wie dort alles weitgehend so blieb, wie es war. Immer dann jedoch, wenn sich der von ihnen erschlossene Lebensraum zu verändern begann, waren sie sehr schnell mit ihrem Latein, das heißt mit ihrem spezialisierten Hirn, am Ende. Zu solchen Veränderungen kam es zwangsläufig durch ihre eigenen Aktivitäten, wenn sie sich zu rasch vermehrten, durch die Wirkungen anderer Arten, wenn die sich besonders erfolgreich in ihrem angestammten Lebensraum ausbreiteten, durch allmähliche Klimaverschiebungen oder durch plötzlich auftretende Katastrophen. In all diesen Fällen erwies sich der bisher so erfolgreich eingeschlagene Weg 42 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

der Entwicklung spezifischer, streng genetisch programmierter Verschaltungen nun auf einmal als eine fatale Sackgasse. Immer dann, wenn es plötzlich auf andere, völlig neue Fähigkeiten ankam, waren die Spezialisten am Ende ihrer Kunst. Genetisch programmierte Installationen zur Steuerung spezifischer Verhaltensweisen lassen sich durch viele kleine Programmänderungen allmählich immer weiter fortentwikkeln. Sie eignen sich so immer besser zur Bewältigung derjenigen Aufgaben, für die sie optimiert worden sind. Nahezu unmöglich ist es jedoch, die auf diese Weise entstandenen speziellen Programme anschließend allmählich wieder aufzulösen oder so zu verändern, daß sie auch für andere Einsatzmöglichkeiten optimal nutzbar sind. Diese streng genetisch programmierten Gehirne unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht allzusehr von einmal in bestimmter Weise programmierten Computern. Man kann damit nichts anderes machen als das, wofür sie programmiert sind. Wenn der Besitzer eines solchen Computers Glück hat, findet er für sein altes Gerät noch einen Platz im Museum und kauft sich ein neues. Wenn die Besitzer solch eines festinstallierten Gehirns Glück hatten, fanden sie vielleicht einen Lebensraum, der sich so wenig veränderte, daß sie damit bis heute überleben und sich weiter fortpflanzen konnten. Alle anderen sind ausgestorben. Neue, vielseitiger verwendbare Programme konnten nur von denjenigen entwickelt werden, die von Anfang an anders konstruiert waren.

2.2 Initial programmierbare Konstruktionen: Gehirne von Vögeln, Beutel- und Säugetieren Die Würmer, Schnecken und Insekten gehören zur großen Gruppe der sogenannten Urmundtiere. Bei ihnen bleibt die bereits während der frühen Embryonalentwicklung zuerst angelegte Öffnung auch die spätere Mundöffnung. Eine andere 43 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Gruppe von Tieren, die Neumundtiere, zu denen die Seegurken, alle Wirbeltiere und wir selbst gehören, entwickelt den späteren Mund aus einer anderen, zweiten Öffnung, die der Embryo während des Blasenstadiums ausbildet. Bei ihnen wird nicht nur der Mund, sondern noch einiges anderes, was im Verlauf der Embryonalentwicklung aus den sogenannten Keimblättern entsteht, erst später und bei weitem nicht so streng wie bei den älteren Urmundtieren festgelegt. Das gilt ganz besonders für das Nervensystem. Besser als beispielsweise beim Insektenembryo läßt sich bei diesen Neumundtieren all das, was später einmal aus einer bestimmten Zellgruppe wird, durch relativ einfache Manipulationen von außen durcheinanderbringen. Die embryonalen Zellen »wissen« nämlich lange Zeit noch gar nicht, was später einmal aus ihnen wird, wohin und wozu sie sich einmal entwickeln sollen. Festgelegt wird das erst durch das Bedingungsgefüge, in das sie während ihrer Teilungen innerhalb des Embryos geraten. Die genetischen Programme versetzen jede dieser Zellen lediglich in die Lage, immer dann etwas ganz Bestimmtes zu machen, wenn sich die Bedingungen, in die sie hineinwachsen, in einer ganz bestimmten Weise zu verändern beginnen. Die verschiedenen embryonalen Zellen werden also in Wirklichkeit nicht durch einzelne Gene, sondern durch das im Inneren des Embryos entstehende Bedingungsgefüge gelenkt und wirken gleichzeitig selbst an dessen Gestaltung mit. Dieses Bedingungsgefüge muß man sich als einen Cocktail unterschiedlichster Wachstumsfaktoren, Signalstoffe, Hormone und Transmitter vorstellen. In jeder Region des Embryos und zu jedem Zeitpunkt seiner Entwicklung herrscht eine ganz charakteristische Kombination dieser Wirkstoffe und veranlaßt die betreffenden Zellen, ganz bestimmte, genetisch abgespeicherte Programme abzurufen und andere abzuschalten. Dieser Signalcocktail kann – wie bei den Urmundtieren – enorm streng und eindeutig und deshalb kaum von außen beeinflußbar sein. Er kann aber auch – wie bei den Neumundtieren – weniger streng und mehrdeutiger und deshalb leichter verän44 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

derbar sein. Wenn das der Fall ist, können die Bedingungen, die draußen, außerhalb des Embryos herrschen, wichtig für das werden, was innen passiert. Die Embryonalentwicklung wird so in gewissem Umfang durch bestimmte Faktoren der Außenwelt beeinflußbar. Genau das war der entscheidende Konstruktionsvorteil der Vorfahren der heutigen Wirbeltiere. Die Expression, also die Umsetzung und Realisierung ihrer genetischen Programme, war von außen, war durch Veränderungen ihrer äußeren Entwicklungsbedingungen beeinflußbar. Am stärksten konnten sich solche Veränderungen auf das System auswirken, das sich am langsamsten entwickelte und dessen Entwicklung am stärksten durch komplexe, regionale Änderungen der Produktion und Abgabe von Signalstoffen reguliert wurde. Das war das Gehirn. Dennoch war es noch ein langer Weg, bis aus den ersten Neumundtieren die ersten Wirbeltiere mit einem Gehirn entstanden waren, dessen endgültige Verschaltungen von den während ihrer frühen Entwicklung vorgefundenen äußeren Bedingungen bestimmt wurden. Diese Vorfahren der heutigen Wirbeltiere waren erst später als die Vorfahren der Würmer, Schnecken und Insekten als noch sehr undifferenzierte Formen entstanden und lange Zeit auf dieser primitiven Entwicklungsstufe stehengeblieben. Ihr Nervensystem war noch sehr einfach strukturiert, besondere Teilleistungen waren noch nicht besonders entwickelt, und die genetischen Programme, die das für seine Ausformung verantwortliche Bedingungsgefüge steuerten, waren entsprechend einfach: nicht sehr genau und vor allem nicht sehr streng. Da diese Vorfahren der Wirbeltiere so lebten und so ähnlich aussahen wie unsere heutigen Seegurken, kam es für ihr Überleben auf ein sehr präzise funktionierendes Nervensystem ohnehin nicht allzusehr an. Es entwickelte sich langsamer, und es war von Anfang an stärker darauf ausgerichtet, die Innenwelt dieser Tiere konstant zu halten, als ihre äußere Welt durch gezielte Verhaltensreaktion zu beeinflussen. Ihr Lebensraum war das Meer oder der Meeresgrund. Dort mußten sie zunächst auch bleiben, denn die leichte Beeinflußbarkeit der 45 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Entwicklung ihrer Nachkommen durch Änderungen der äußeren Bedingungen ließ ihnen keine andere Möglichkeit, als ihre Eier dort abzulegen, wo immer die gleichen Bedingungen herrschten. Sie benutzten das Meer gewissermaßen als einen riesigen Uterus. Selbst als die ersten Wirbeltiere als Quastenflosser an Land gingen und später als Lurche umherzukriechen begannen, blieben sie darauf angewiesen, hinreichend warme und salzhaltige Gewässer als sicheren, konstanten Ort für die Eiablage und die ersten Entwicklungsstadien ihrer Nachkommen aufzusuchen. Das Land und später sogar die Luft konnten sie nur erobern, indem sie unverhältnismäßig große Eier produzierten, die all das enthielten, was für die ungestörte Entwicklung ihrer Nachkommen erforderlich war, Nährstoffe, Salze und, noch immer, genug Wasser. Geschützt von einer dicken Schale, mußten sie diese Eier an einem Ort ablegen, wo es sowohl warm als auch feucht genug war und blieb und wo es möglichst keine Störungen gab. Am besten gelang das, indem sich ein Elternteil, meist war das die Mutter, gleich selbst auf die Eier setzte. Die Fröschinnen und Reptilinnen konnten das nicht, denn die wurden als Kaltblüter nachts selbst ziemlich kalt. Warmblüter gab es noch nicht. Aber die Fähigkeit, die Innenwelt konstant zu halten, war schon recht weit entwickelt. Einigen dieser Vorfahren der heutigen Warmblüter ist es durch verschiedene kleine Änderungen ihrer genetischen Programme gelungen, diese Fähigkeit so weit fortzuentwickeln, daß sie schließlich sogar in der Lage waren, ihre Körpertemperatur selbst dann noch konstant zu halten, wenn es draußen nicht nur zu warm, sondern auch viel zu kalt wurde. Diese ersten Warmblüter waren die Urahnen unserer heutigen Vögel, Beutel- und Säugetiere. Sie erschlossen sich mit dieser Fähigkeit eine Welt, die bis dahin von lauter Spezialisten und Kaltblütern beherrscht war, die jedoch, wenn sie nicht gerade im Wasser lebten, sehr schnell träge wurden, wenn die Sonne einmal nicht mehr richtig schien. Mindestens drei bisher verschlossene Türen öffneten sich nun auf einen Schlag. 46 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Die eine führte in die schattigen und kühleren Gegenden dieser Erde, die allen anderen Tieren wegen mangelnder eigener Körperwärme bisher zu frostig und lebensfeindlich vorgekommen waren. Daß zu dieser Zeit offenbar auch noch eine Klimakatastrophe eingetreten ist, die zu einer längeren Kälteperiode führte, war nur um so besser. Die Saurier und viele andere Spezialisten gingen zugrunde und machten bisher besetzt gehaltene Lebensräume für die Vorfahren der Vögel, Beutel- und Säugetiere frei. Die zweite bisher verschlossene Tür führte in die Nacht. In einer Welt, die bis dahin von lauter kaltblütigen Spezialisten beherrscht war, die jedoch zum größten Teil steif wurden, sobald die kühle Nacht hereinbrach, konnten diese ersten Warmblüter die Nacht zum Tage machen und auf diese Weise in Lebensräume vordringen, die eigentlich längst besetzt waren, aber eben nur tagsüber. Um sich nachts zurechtzufinden, braucht man mehr und feinere Sinne als tagsüber. Man muß nicht nur besser sehen, sondern auch besser fühlen, besser hören und besser riechen können. Und am besten findet man sich zurecht, wenn man alles gleichermaßen gut kann. Auf diese ersten Warmblüter wirkte also ein Selektionsdruck, der die Entwicklung von Sensoren zur Wahrnehmung unterschiedlichster Sinnesmodalitäten und von neuronalen Verschaltungen zur Verarbeitung dieser multiplen Sinneseingänge in einer Weise vorantrieb, die es bis dahin noch nie gegeben hatte. Wer vieles gleichzeitig verarbeiten will, muß die aus den verschiedenen Sinnesorganen eintreffenden Informationen zu einem Gesamtbild assoziieren können. Das dabei in der Vorstellung entstehende Bild wird durch eine charakteristische Kombination des jeweils Gehörten, Gesehenen, Gerochenen und Gefühlten im Gehirn erzeugt, und sein Bedeutungsgehalt wird dort erst durch den Vergleich mit bereits abgespeicherten Informationen erschlossen. All das gelingt um so besser, je weniger diese Wahrnehmungs- und Assoziationsprozesse auf bereits angelegten, festgefügten Bahnen verlaufen. Streng genetisch programmierte Installationen, die be47 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

stimmte Wahrnehmungen über spezifische Nervenbahnen weiterleiten und bestimmte, programmierte Reaktionen auslösen, sind für derartig komplexe Verarbeitungsprozesse ungeeignet. Sie sind jedoch immer dann von Vorteil, wenn es auf eine möglichst schnelle Reaktion ankommt, um eine Bedrohung möglichst effizient abwehren zu können. Die Urahnen der heutigen Warmblüter brauchten also, wenn sie all ihre Sinne benutzen wollten, ein Gehirn, dessen endgültige Verschaltungen so wenig wie möglich durch starre genetische Programme festgelegt waren. Um schnell und effizient auf Gefahren und Bedrohungen reagieren zu können, brauchten sie aber gleichzeitig ein Gehirn, dessen Verschaltungen möglichst effizient funktionierten, das heißt möglichst streng genetisch determiniert waren. Für dieses Problem gab es nur eine Lösung, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie gefunden wurde: Zusätzlich zu den streng durch genetische Programme installierten und für die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und die Abwehr von Bedrohungen zuständigen Teilen des Gehirns entstand ein neuer Bereich, dessen Verschaltungen zum Zeitpunkt der Geburt noch nicht genau festgelegt waren, sondern erst durch die jeweils vorgefundenen Nutzungsbedingungen, das heißt durch die während der frühen Phasen der Nutzung dieses Gehirns gemachten Erfahrungen endgültig herausgeformt, stabilisiert und gefestigt wurden. In diesem Bereich konnten nun erstmals individuell gemachte komplexe Wahrnehmungen und Erfahrungen in Form charakteristischer neuronaler Verschaltungsmuster verankert werden. Was für Erfahrungen das in erster Linie waren, wird schnell deutlich, wenn man einen Blick durch die dritte Tür wirft, die sich mit der Erfindung der Warmblütigkeit nun ebenfalls zu öffnen begann. Die Warmblüter konnten ihre Eier jetzt selbst ausbrüten, entweder, wie bei den Vögeln, draußen in einem Nest, oder, wie bei den Beuteltieren, zuerst im Uterus und später in einer Bauchfalte, oder, wie schließlich bei den Säugetieren, zunächst im Mutterleib und später an der Brust der 48 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Mutter. Damit hatten sie sich nicht nur unabhängig von bestimmten Plätzen, bestimmten Zeiten und bestimmten Regionen gemacht. Sie mußten nicht mehr, wie die Schildkröten noch heute, immer wieder zur Eiablage bestimmte Plätze aufsuchen, um die für eine störungsfreie Entwicklung ihrer Nachkommen erforderlichen Bedingungen zu gewährleisten. Sie waren jetzt sogar, und das war noch viel entscheidender, erstmals in der Lage, die für die Aufzucht ihrer Nachkommen erforderlichen Bedingungen selbst zu gestalten. Damit bot sich die Möglichkeit, die weniger starke Bestimmtheit, mit der ihre genetischen Anlagen die Entwicklung dieser Nachkommen steuerten, in gezielter Weise auszunutzen. Erst jetzt wurde das, was sich bisher eher als Nachteil erwiesen hatte, nämlich die leichte Beeinflußbarkeit und damit Störanfälligkeit des Entwicklungsprozesses ihrer Nachkommen durch äußere Faktoren, zu einem ganz entscheidenden Vorteil, der sich insbesondere während der Phase der Hirnentwicklung dieser Nachkommen gezielt ausnutzen ließ. Die Hirnentwicklung der Nachkommen war durch die Bedingungen, die die jeweilige Elterngeneration zu schaffen imstande war, in gewissem Umfang lenkbar, die im Gehirn dieser Nachkommen angelegten aber noch nicht fertig ausgereiften Verschaltungen waren durch eigene frühe Erfahrungen prägbar, programmierbar geworden. Bei Vögeln, Beutel- und Säugetieren findet man eine Vielzahl von Beispielen für solche initialen Programmierungen, die wie genetisch bedingte, angeborene Verhaltensweisen aussehen, sich aber bei genauerer Betrachtung als früh erworbene Prägungen erweisen. Koloniebildende Seevögel beispielsweise werden während ihrer Kindheit und Jugend so sehr auf die in ihrer Kolonie herrschenden Bedingungen geprägt, daß sie immer dort bleiben oder zumindest immer dann, wenn sich ihr Brutinstinkt zu regen beginnt, dorthin zurückkehren. Ihr genetisches Programm befähigt sie nur, ein Gehirn auszubilden, das eine Zeitlang etwas lernen kann; und das, was es in der Welt dieser her49 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

anwachsenden Vögel zu lernen gibt, ist eben nichts anderes, als in einer Kolonie an diesem Ort zu leben. Wenn man einen dieser Vögel vom Schlüpfen bis zur Geschlechtsreife mit der Hand zu Hause aufzieht, dann wird es fast unmöglich sein, ihn wieder in die alte Seevogelkolonie seiner Eltern einzugliedern. Er hat eben kein angeborenes Programm dafür und versucht deshalb instinktiv, uns in unsere Welt, die er nun als seine Welt betrachtet, zu folgen. Herdentieren, beispielsweise Pferden oder Bisons, geht es nicht grundsätzlich anders. Wem sie später nachlaufen, hängt davon ab, bei wem sie aufgewachsen sind. Ein Pferd, das von einem Zebra gesäugt und aufgezogen wurde, wird sich später immer lieber einer Herde Zebras anschließen als einer Herde von Pferden. Es hat eben kein genetisches Programm, das ihm sagt: »Du bist ein Pferd«, sondern die Verschaltungen in seinem Gehirn werden erst nach seiner Geburt von den Erfahrungen programmiert, die es während seiner frühen Entwicklung macht. Seine genetischen Anlagen legen lediglich fest, daß sich ein Gehirn ausbilden kann, welches zum Zeitpunkt seiner Geburt noch nicht fertig verschaltet ist. Wie die noch offenen Nervenbahnen, die sein späteres Verhalten als Herdentier lenken, dann tatsächlich miteinander verknüpft werden, hängt davon ab, welche Erfahrungen es nach seiner Geburt machen wird. Auch der artspezifische Gesang unserer Singvögel, beispielsweise der Nachtigall, ist nicht angeboren. In ihrem Gehirn gibt es eine für die Generierung dieses Gesangs zuständige Region, die sich erst nach dem Schlupf entwickelt. Die Nervenzellen dieser Region bilden zunächst eine Vielzahl von Fortsätzen und Kontakten aus, von denen im Verlauf der weiteren Entwicklung jedoch nur diejenigen erhalten bleiben, die durch das Hören des artspezifischen Gesangs stabilisiert werden, den der Vater normalerweise in der Nähe des Nestes immer wieder »vorsingt«. Hört die junge Nachtigall während dieser Zeit nur den ständig krähenden Hahn eines benachbarten Bauernhofs, so wird ihr späterer Gesang eher an Hahnen50 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

geschrei als an den Gesang der Nachtigall erinnern. Nachtigalleneltern meiden instinktiv solche Nistplätze, an denen es störende Fremdgeräusche gibt, und die Väter singen am eifrigsten nachts, wenn alle anderen Singvögel schlafen. Da der komplizierte Gesang der Nachtigall von Region zu Region unterschiedlich ist, lernen die Jungvögel auf diese Weise immer auch gleich automatisch den »Dialekt«, der zu Hause von ihrem Vater gesungen wurde. Viel aufregender als diese gewissermaßen passiv übernommenen Erfahrungen sind die Auswirkungen früher, durch eigenes Handeln gemachter, individueller Erfahrungen auf die im Gehirn entstehenden neuronalen Verschaltungen. Die nachhaltigsten Erfahrungen, die ein Vogel oder ein Säugetier machen kann, sind Erfahrungen, die ihm helfen, seine Ängste zu bewältigen. Angst hat jedes Neugeborene, wenn man es von seiner Mutter wegnimmt. Jeder kennt das Geschrei, das Entenküken, kleine Kätzchen oder Hunde, eben Vögel und Säugetiere dann machen. Diese Angst geht mit einer Streßreaktion einher. Die im Verlauf dieser Reaktion ausgeschütteten Transmitter und Hormone tragen dazu bei, daß all die Nervenwege und Verschaltungen, die das Neugeborene zur Bewältigung seiner Angst benutzt, gebahnt, das heißt, gefestigt und in ihrer Effizienz verbessert werden. Findet das Junge zu seiner Mutter zurück, ist die Angst bewältigt, und all die Verschaltungen in seinem noch unfertigen Gehirn, die dabei aktiviert wurden, sind nun besser ausgebaut und effektiver geworden. Es wird deshalb künftig noch intensiver als bisher versuchen, eine Trennung von der Mutter zu vermeiden, es wird sich die Verhaltensweisen und Wege merken, die ihm geholfen haben, seine Mutter wiederzufinden, und es wird all die Nervenbahnen festigen, die es mit seiner ihm Schutz bietenden Mutter verbindet: ihr Geruch, ihr Aussehen, ihr Verhalten. Es wird seine Mutter deshalb in Zukunft noch ein klein wenig besser erkennen und bei ihr Schutz suchen können. Je früher sich diese prägenden Erfahrungen im Umgang mit der Angst in das Gehirn eingraben können, je verform51 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

barer die Verschaltungen des Gehirns also zu dem Zeitpunkt sind, zu dem diese Erfahrungen gemacht werden, desto besser sitzen sie für den Rest des Lebens. Sie sehen dann aus wie angeborene Instinkte, lassen sich auslösen wie angeborene Instinkte, sind aber keine angeborenen Instinkte, sondern in das Gehirn eingegrabene, während der frühen Kindheit gemachte Erfahrungen bei der Bewältigung von Angst und Streß. Je unfertiger das Gehirn zum Zeitpunkt der Geburt ist, je langsamer es sich anschließend entwickelt und je länger es dauert, bis all seine Verschaltungen endgültig geknüpft und festgelegt sind, desto umfangreicher sind die Möglichkeiten, eigene Erfahrungen und individuell vorgefundene Nutzungsbedingungen in seiner Matrix zu verankern. Primaten, also wir Menschen und unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen, zeichnen sich dadurch aus, daß sie mit einem besonders unfertigen und noch lange durch Erfahrungen veränderbaren Gehirn auf die Welt kommen und daß sie in Gruppen leben, die eigentlich erweiterte Familienverbände, Großfamilien sind. Jedes Neugeborene, das in einer solchen Gruppe aufwächst, wird auf die hier vorgefundenen, ihm Sicherheit und Geborgenheit bietenden Gegebenheiten geprägt, genau wie die Gänseküken auf die von ihnen entdeckte, Schutz bietende »Mutter«, und zwar ohne ein genetisches Programm, das ihnen irgendwelche Verschaltungen ins Hirn baut. Weil diese Prägung bei den Primaten aber wesentlich komplizierter ist, nennt man sie nicht mehr Prägung, sondern Bindung.

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2.3 Zeitlebens programmierbare Konstruktionen: Gehirne von Menschen Wenn man mit einem Gehirn zur Welt kommt, dessen endgültige, das spätere Verhalten bestimmende Verschaltungen erst im Verlauf der weiteren Entwicklung durch die Art ihrer Nutzung geknüpft, gefestigt und gebahnt werden, so ist das ein großer Vorteil. Um sein inneres Gleichgewicht und damit die für sein Überleben erforderliche innere Ordnung aufrechtzuerhalten, muß man sich nicht mehr ausschließlich auf die im Lauf von Jahrmillionen entstandenen, genetisch verankerten Programme verlassen. All das, worauf es für das Überleben in der konkreten Welt, in die man hineingeboren worden ist, ganz besonders ankommt, was also speziell dort, wo man lebt, und zu der Zeit, in der man lebt, von Bedeutung ist, kann man auch noch nach der Geburt in Form zusätzlicher, durch die Art ihrer konkreten Nutzung bestimmter Verschaltungen in seinem Gehirn verankern. Die mit so einem Gehirn gemachten eigenen Erfahrungen lassen sich nicht nur für die weitere eigene Lebensbewältigung, sondern auch für die spätere Gestaltung der Aufzuchtsbedingungen für die eigenen Nachkommen nutzen. Auf diese Weise wird es sogar möglich, erworbene Eigenschaften an die nächste Generation weiterzugeben. Das freilich ist ein ganz unglaublicher Vorteil, denn auf diese Weise wird etwas völlig Neues möglich: die Weitergabe einmal erworbener Fähigkeiten und Leistungen von einer Generation zur nächsten. Das ist der Anfang der kulturellen Evolution. Das Interessante daran ist, daß man dafür kein menschliches Gehirn braucht. Wie sich experimentell leicht zeigen läßt, können das auch schon Ratten. Hält man die nämlich im Labor, so findet man immer wieder Rattenmütter, die sich besonders sorgsam um ihre Jungen bemühen, und andere, die in dieser Hinsicht ziemlich schlampig sind, kaum ein richtiges Nest bauen, ihre Jungen immer wieder allein lassen und womöglich sogar einige auffressen. Vertauscht man nun sofort 53 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

nach der Geburt einen Teil der weiblichen Jungen so, daß eine »gute« Mutter zur Hälfte ihre eigenen, zur anderen Hälfte die Jungen einer »schlechten« Mutter aufzieht, so werden aus all diesen Rattenmädchen später einmal sorgfältig um ihre Jungen bemühte Mütter. Umgekehrt werden alle weiblichen Nachkommen, die bei einer nachlässigen Mutter groß geworden sind, auch wenn sie von einer »guten« Mutter abstammen, selbst wieder »schlechte« Mütter. Man sollte meinen, daß freilebende Rattenmütter, die sich nicht hinreichend gut um ihre Jungen kümmern, wohl kaum eine Chance hätten, diese besondere »Fähigkeit« über mehrere Generationen an ihre Nachkommen weiterzugeben. Das muß jedoch nicht unbedingt richtig sein. Bei »schlechten« Müttern aufgewachsene Ratten sind nämlich, auch wenn einige ihrer Geschwister bereits als Junge aufgefressen werden, als erwachsene Tiere einfacher strukturiert und stärker instinktgeleitet. Sie sind kampfbereiter, brutaler und deshalb vor allem als männliche Tiere auch sexuell erfolgreicher. Die Verschaltungen in ihrem Hirn sind »primitiver«, weniger komplex und nicht so stark vernetzt. Immer dann, wenn es auf schnelle, eindeutige und konsequente Reaktionen ankommt, ist eine Ratte mit einem solch einfach konstruierten Gehirn im Vorteil. Da das in einer freilebenden Rattenkolonie häufig genug der Fall ist, können die Ratten mit ihrer prinzipiell vorhandenen Fähigkeit zur Ausbildung eines etwas komplexeren, stärker vernetzten Gehirns letztlich wenig anfangen. Sie bleiben Gefangene der Verhältnisse, unter denen sie leben und die sie nicht zu ändern imstande sind. Auch unter Laborbedingungen lassen sich diese Verhältnisse nicht dauerhaft verschieben. Sobald die dort entstandene Kolonie groß genug geworden ist, werden sich erneut diejenigen durchsetzen und am stärksten vermehren, deren Gehirn einfacher strukturiert ist. Um den Umsichtigeren auf Dauer eine Chance zu geben, müßten sich die Regeln verändern, die das Leben in einer solchen Kolonie bestimmen, und zwar so, daß nur noch diejenigen Tiere, die besonders umsichtig, besonders lernfähig und besonders feinfühlig sind, 54 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

auch genug zu fressen finden, drohende Gefahren abwenden, einen Fortpflanzungspartner gewinnen und ihre Nachkommen aufziehen können. Solche Veränderungen ihrer Lebensbedingungen hat es während der gesamten Entwicklungsgeschichte von Ratten nie gegeben. Wie den Vorfahren der meisten anderen Säugetiere war es auch ihren Ahnen bereits sehr früh gelungen, einen Lebensraum zu erschließen und zu behaupten, in dem es auf solch differenzierte Fähigkeiten ihres Gehirns nicht unbedingt ankam, in dem sie weitgehend so bleiben konnten, wie sie einmal geworden waren. Weniger erfolgreich in dieser Hinsicht waren unsere eigenen Vorfahren. Ihnen war es nicht gelungen, eine Nische zu erobern, in der es sich einigermaßen bequem leben ließ. Ihr ursprünglicher Lebensraum, der afrikanische Regenwald, begann zusehends zu schrumpfen, bis sich dort nur noch die besten und durchsetzungsfähigsten Kletterer unter den Primaten behaupten konnten. Der außerhalb des Waldes verfügbare Lebensraum, die Savanne, war längst von anderen, wesentlich besser an die dortigen Verhältnisse angepaßten Arten besetzt. Diese Konkurrenten hatten bereits alle nur möglichen Nahrungsquellen erschlossen, sie waren schneller oder stärker, konnten sich besser verteidigen oder andere angreifen. Die Neuankömmlinge hatten in dieser von Spezialisten beherrschten Welt kaum eine Chance. Um dort überleben zu können, mußten sie eine Fähigkeit ausbauen und weiterentwickeln, die all die anderen nicht besaßen. Sie mußten zusammenhalten und versuchen, sich als Gruppe, als Sippe zu behaupten. Nur so konnten sie die unterschiedlichen Fähigkeiten und Begabungen der einzelnen Gruppenmitglieder nutzen, um als Gemeinschaft vollbringen zu können, was jeder einzelne allein nicht zu leisten imstande war. Das war ihre einzige Chance. Genutzt werden konnte sie aber nur von denjenigen Sippen, deren Mitglieder eng aneinander gebunden waren, die sich miteinander verbunden fühlten und in denen jeder den anderen, seine besonderen Fähigkeiten, auch 55 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

seine Schwächen möglichst genau kannte. Unter diesen Bedingungen war es, anders als bei den Ratten oder allen anderen in Gruppen lebenden Arten ein Vorteil, besonders lernfähig, besonders umsichtig, besonders feinfühlig zu sein, also ein Gehirn zu besitzen, dessen endgültige Verschaltungsmuster möglichst lange durch eigene Erfahrungen formbar blieben. Diese Fähigkeit wurde im Verlauf der weiteren Entwicklung unserer Vorfahren offenbar sehr gezielt ausgelesen. Die Auslese erfolgte jedoch nicht nur durch den seit Darwin »survival of the fittest« genannten Selektionsprozeß, sondern vor allem durch einen zweiten, ebenfalls von Darwin erkannten, bisher aber nur unzureichend beachteten evolutionären Auswahlmechanismus, die sogenannte sexuelle Selektion. Die gezielte Auswahl eines ganz bestimmten, aufgrund bestimmter Merkmale besonders attraktiv erscheinenden, das eigene Überleben und das der Nachkommenschaft sichernden Sexualpartners besitzt bei allen sozial organisierten Tieren mit einer relativ langen Entwicklungsphase eine ganz entscheidende Bedeutung für den Fortpflanzungserfolg und damit für die Weitergabe der diesen Merkmalen zugrundeliegenden Genkombinationen. Im Verlauf der Evolution gewann diese als Partnerwahl bezeichnete Auslese immer stärker an Bedeutung. Sie führte neben der Selektion bestimmter körperlicher Merkmale vor allem zur Auslese solcher psychischen Merkmale und der ihnen zugrundeliegenden genetischen Anlagen, die sich als besonders geeignet für die erfolgreiche Aufzucht der Nachkommen erwiesen. Den größten Fortpflanzungserfolg hatten nun nicht mehr automatisch diejenigen, die möglichst viele Nachkommen hinterließen, sondern diejenigen, deren Nachkommen besonders lernfähig, besonders bindungsfähig, besonders umsichtig und besonders kompetent bei der Gestaltung und Festigung des sozialen Beziehungsgefüges in den Sippen dieser frühen Menschen waren. Je besser die Eltern, vor allem die Mütter, in der Lage waren, Bedingungen zu schaffen, die die Herausbildung dieser emotionalen Fähigkei56 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

ten bei ihren Nachkommen ermöglichten, desto größer waren die Überlebenschancen der ganzen Sippe. Die Maßstäbe zur Auswahl eines geeigneten Fortpflanzungspartners wurden (und werden) beim Menschen in viel stärkerem Maß als bei Tieren durch individuell (zumeist während der frühen Individualentwicklung) gemachte Erfahrungen bestimmt. Die Auswahl eines für die Umsetzung dieser Erfahrungen besonders geeignet erscheinenden Reproduktionspartners hatte zwangsläufig zur Folge, daß auch die entsprechenden genetischen Anlagen beider Eltern im Genpool zunächst bestimmter Familienverbände stabilisiert und durch sexuelle Vermischung schließlich auch im Genpool von Sippen, Clans, Stämmen und den daraus hervorgegangenen Völkern verankert wurden. Die mit der fortschreitenden Sozialisierung einhergehende Herausbildung fester Familienverbände bildete nicht nur eine entscheidende Voraussetzung für die effiziente Abschirmung der Nachkommenschaft gegenüber allen die Ausreifung des Gehirns dieser Nachkommen störenden Einflüssen aus der Außenwelt. Sie ermöglichte auch eine weitgehende soziale Determination ihrer Entwicklungsbedingungen innerhalb des jeweiligen Familien- und Sippenverbands. Eine enge emotionale Bindung der beiden Eltern bildete die Voraussetzung für die Entwicklung der Familie und damit der Bindung zwischen Eltern und ihren Kindern. Hand in Hand mit dieser ElternKind-Bindung vollzog sich eine atemberaubende Zunahme der geistigen, emotionalen und sozialen Kompetenzen derjenigen Sippen, bei denen diese Bindung am weitesten entwickelt werden konnte. Wie die zum Zeitpunkt der Geburt noch nicht festgelegten Nervenverbindungen später tatsächlich miteinander und mit den älteren, bereits fest verdrahteten Nervennetzen des Gehirns verknüpft wurden, hing von den konkreten Erfahrungen ab, die das Neugeborene bei der Bewältigung von Herausforderungen und Bedrohungen in seiner realen Lebenswelt machte. Ein immer größer werdender Teil der im Gehirn an57 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

gelegten Verschaltungen konnte aber nur dann offengehalten werden, wenn die Elterngeneration imstande war, ihren Nachkommen während der Phase der Ausreifung ihres Gehirns hinreichend Schutz vor äußeren Bedrohungen zu bieten. Und das gelang nur denen, die eine hinreichend enge Bindung zwischen den Mitgliedern der Familie, der Großfamilie, der Horde entwickelt hatten. War die Bindung zwischen den erwachsenen Mitgliedern einer Sippe stark genug, um die Gefahren und Bedrohungen abzuwenden, denen ihre Nachkommen mit ihrem noch nicht ausgereiften Gehirn ausgesetzt waren, so konnten sich über Generationen hinweg solche genetischen Anlagen durchsetzen, die ein immer lernfähigeres Gehirn hervorbrachten. Wurden die egoistischen Selbstbehauptungsinteressen der Erwachsenen zu groß, um ihren Nachkommen den erforderlichen Schutz zu bieten, konnten nur diejenigen Nachkommen überleben, deren Hirnentwicklung strenger genetisch gesteuert und deren Verhalten stärker von angeborenen Instinkten gelenkt wurden. An diesem Punkt schieden sich nun die Geister während der frühen Phase der Menschheitsentwicklung endgültig. Diejenigen Sippen, die diese emotionale Bindung nicht entwickeln konnten, boten keine Voraussetzung für die Herausbildung immer langsamer ausreifender und deshalb immer lernfähigerer Gehirne. Ohne solche Gehirne konnte keine enge Bindung der Nachkommen an möglichst viele Mitglieder ihrer Horde erlernt werden. Diesen nur begrenzt lernfähigen, noch stark instinktgesteuerten Wesen ist der Übergang zur Menschwerdung nicht gelungen. Diejenigen, die diesen Sprung zwar schafften, bei denen aber später aufgrund irgendwelcher meist äußerer Störungen das Band, das sie bis dahin zusammengehalten hatte, wieder zerriß, sind entweder ausgestorben oder konnten nur weiter überleben, indem sich die Hirnentwicklung ihrer Nachkommen wieder beschleunigte und ihr Verhalten stärker durch weniger komplexe, mehr instinktgesteuerte Reaktionen gelenkt wurde. Unseren eigenen Vorfahren muß es immer wieder gelun58 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

gen sein, das Band, das sich zwischen den Eltern und ihren Nachkommen spannte, zu erhalten und zu festigen. Ebenso müssen sie es verstanden haben, das zweite noch viel wichtigere Band immer fester und haltbarer zu machen. Es muß ihnen gelungen sein, das Gefühl einer engen Bindung zwischen den Mitgliedern ihrer Familie, ihrer Großfamilie, ihres Stammes und ihrer immer größer werdenden Gemeinschaft in die Gehirne ihrer Nachkommen einzugraben. Je besser sie in der Lage waren, dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit zu entwickeln, desto besser ließen sich die individuellen geistigen und körperlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten der einzelnen Mitglieder zur Festigung des Gemeinwesens, zur Erschließung neuer Ressourcen und zur Abwehr äußerer Feinde nutzen. Die Grundeinstellungen und gemeinsamen Überzeugungen, die Ziele und Handlungsmotive dieser frühen Sippen und Clans wurden dabei ebenso von Generation zu Generation an die Nachkommen weitergegeben wie das inzwischen erlangte Wissen über Zusammenhänge und ihre erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die Identifikation der jeweils neu heranwachsenden Generation mit den Zielen, Wünschen und Vorstellungen dieser frühen menschlichen Gemeinschaften wurde durch die Überlieferung der Entwicklungsgeschichte und des bisherigen Entwicklungsweges ihrer Vorfahren verstärkt. So gelang es einzelnen Sippen, die in ihren Siedlungsgebieten vorgefundenen Ressourcen immer besser zu erschließen und zu verteidigen, eine stabile Sozialstruktur aufzubauen, eine immer weiter zurückreichende eigene Geschichte und Tradition zu entwickeln und auf diese Weise das innere Band zu festigen, das ihren Zusammenhalt sicherte und das die Voraussetzung und Triebfeder all ihrer gemeinsamen Leistungen war. Auf dem langen Entwicklungsweg durch das sogenannte Übergangsfeld vom Affen zum Menschen hatten immer wieder kleinere Veränderungen bestimmter genetischer Anlagen stattgefunden und waren durch natürliche Selektion, vor allem aber durch gezielte Partnerwahl ausgelesen worden. Hier59 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

zu zählt die allmähliche Abnahme der Behaarung, die stetige Verlangsamung der Entwicklungsgeschwindigkeit des Gehirns sowie einige anatomische Veränderungen, die insbesondere die Herausformung des Beckens, die Entwicklung der Extremitäten und des Kehlkopfes betrafen. Sie ermöglichten die Geburt von Kindern mit einem zunehmend größeren Gehirn, den aufrechten Gang, das Freiwerden der Hand und die Entwicklung einer Lautsprache. Die Abnahme der Körperbehaarung festigte die erotische Bindung zwischen den Geschlechtspartnern. Die nackte Haut und die durch die Aufrichtung des Beckens möglich gewordene sexuelle Vereinigung von vorn waren entscheidende Voraussetzungen für eine intensivere emotionale, auch zärtlichere und sinnlichere Begegnung zwischen Mann und Frau. Der Umstand, daß die Partner sich dabei in die Augen schauen, sich individuell erkennen konnten, verstärkte die persönliche Bindung zwischen den potentiellen Eltern zusätzlich. Die Ausdehnung der ursprünglich auf bestimmte Phasen beschränkten Paarungsbereitschaft der Frauen auf das gesamte Jahr und die starke Ausprägung attraktiver sekundärer Geschlechtsmerkmale erleichterte die Entstehung nicht nur intensiver, sondern auch dauerhafter sexueller und erotischer Bindungen zwischen Mann und Frau. All das waren wichtige Voraussetzungen nicht nur für das pure Überleben, sondern auch und vor allem für die Ausbildung eines vielfach vernetzten und zeitlebens lernfähigen Gehirns und die dafür erforderliche Festigung sozialer Beziehung in diesen frühen Gemeinschaften. Die hierfür erforderlichen genetischen Modifikationen betrafen, wenn man die Erkenntnisse der Molekularbiologen über die genetischen Differenzen zwischen dem heutigen Menschen und seinen nächsten tierischen Verwandten, den Zwergschimpansen, zugrunde legt, bestenfalls zwei Prozent der genetischen Anlagen. Seit etwa 100 000 Jahren ist dieser Prozeß abgeschlossen. Seither hat sich auch an der für die Hirnentwicklung zuständigen genetischen Ausstattung des Menschen nichts mehr verän60 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

dert. Entscheidend geändert hat sich seitdem aber all das, was bestimmte, wie und wofür Menschen ihr Gehirn nutzen: die gesellschaftlichen Beziehungen, das über den Erwerb von Sprache, Schrift und Datenspeichern akkumulierte und zur Weitergabe verfügbare Wissen, das Ausmaß an Kommunikation und die damit verbundenen Möglichkeiten für die Übertragung von Wissen, von Fähigkeiten und Fertigkeiten sowohl zwischen unterschiedlichen Kulturen als auch von einer Generation zur nächsten. Die durch kulturelle Entwicklung und Überlieferung bestimmte Lebenswelt des Menschen wurde so immer komplexer, vielfältiger und reichhaltiger. In dieser Welt hatten Menschen im Verlauf ihrer individuellen Entwicklung die Möglichkeit, eine Vielzahl unterschiedlichster Herausforderungen zu bewältigen. Sie konnten zeitlebens immer mehr und immer wieder neue Erfahrungen machen und in Form bestimmter neuronaler Verschaltungsmuster in ihrem Gehirn verankern. Damit war auch ihr durch diese Verschaltungen gelenktes Denken, Fühlen und Handeln prinzipiell bis ins hohe Alter veränderbar geworden.

2.4 Programmöffnende Konstruktionen: menschliches Gehirn Es ist nun schon achthundert Jahre her, seit der Stauferkaiser Friedrich II. experimentell nachgewiesen hat, was aus dem Gehirn des Menschen wird, wenn man dessen Ausbildung allein den genetischen Anlagen überläßt. Um herauszufinden, welche Ursprache das Gehirn aus sich selbst heraus entwickelt, ließ er zwei Kinder von Ammen aufziehen, denen er verboten hatte, mit den Kindern auch nur ein einziges Wort zu sprechen. Für den Kaiser war der Ausgang dieses unmenschlichen Versuchs recht unerwartet. Die Kinder begannen nicht, wie er vermutet hatte, aramäisch, auch nicht grie61 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

chisch oder Latein zu sprechen, sondern sie blieben in ihrer gesamten Entwicklung zurück und starben schließlich. Wie sich ihr Gehirn unter diesen Bedingungen entwickelt hatte, wurde damals nicht weiter untersucht. Es kann nur eine Kümmerversion dessen gewesen sein, was daraus hätte werden können. Noch heute wachsen die meisten Menschen auf unserer Erde unter Bedingungen auf, die dazu führen, daß sie die prinzipiell vorhandenen Möglichkeiten zur Ausbildung eines hochkomplexen, vielfach vernetzten und zeitlebens lernfähigen Gehirns nicht ausschöpfen können. Und noch heute sind die meisten Menschen auf unserer Erde gezwungen, ihr Gehirn zeitlebens auf eine sehr einseitige Weise zu nutzen und für ganz bestimmte Zwecke einzusetzen. Das gilt nicht nur für diejenigen, die tagaus, tagein damit beschäftigt sind, ihre wichtigsten Grundbedürfnisse zu befriedigen, indem sie versuchen, ausreichend Nahrung heranzuschaffen, lebensgefährliche Übergriffe, Bedrohungen und Krankheiten abzuwenden, einen ruhigen Platz zum Schlafen zu finden und vielleicht noch einen Sexualpartner zu gewinnen und eine Familie zu gründen. Das gilt auch für all jene, die irgendwann in ihrem Leben eine ganz bestimmte Strategie zur Bewältigung ihrer Ängste und zur Aufrechterhaltung ihrer inneren Ordnung gefunden haben und diese einmal gefundene Strategie anschließend immer wieder zwanghaft in der gleichen Weise einsetzen, weil sie glauben, daß sich damit alle anderen Probleme ebenfalls lösen lassen. Die dabei in ihrem Hirn aktivierten Verschaltungen werden so immer effizienter verknüpft und gebahnt, bis aus den anfänglichen kleinen »Nervenwegen« allmählich feste Straßen und schließlich sogar breite »Autobahnen« entstanden sind. Aus der primären Bewältigungsstrategie ist dann ein eingefahrenes Programm geworden, das das gesamte weitere Denken, Fühlen und Handeln der betreffenden Menschen bestimmt. Zwanghaft sind sie darum bemüht, immer wieder solche Bedingungen zu schaffen und aufrechtzuerhalten, un62 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

ter denen sie die Zweckmäßigkeit ihrer einmal entwickelten Fähigkeiten unter Beweis stellen können. Solange ihnen das gelingt, werden sie bei der Bewältigung bestimmter Aufgaben immer besser, immer effizienter und immer erfolgreicher. Sie scheitern aber meist kläglich, sobald sich die Verhältnisse ändern und neue Herausforderungen auf sie zukommen, die mit den alten, eingefahrenen Verschaltungsmustern in ihrem Hirn nicht zu bewältigen sind. Auch ein solch einseitig programmiertes, immer wieder auf die gleiche Weise für dieselben Zwecke benutztes Gehirn bleibt eine Kümmerversion dessen, was daraus hätte werden können. So gibt es Computerfreaks, die von Kindesbeinen an so intensiv auf den Tastaturen ihrer PCs herumgehackt und sich in eigenen Computerwelten bewegt haben, daß sie später als Erwachsene außerstande sind, ein direktes Gespräch zu führen oder (meist handelt es sich dabei ja um Männer) eine Frau mit etwas anderem als ihrem PC zu verzaubern. Es gibt mathematische Genies, die außerstande sind, eine Möwe von einer Gans zu unterscheiden, und Fußballartisten, die kaum bis drei zählen können. Es gibt Geigenvirtuosen, die weder schwimmen noch Fahrrad fahren, und Schachmeister, die weder singen noch tanzen können. Wie diese Beispiele zeigen, ist es durchaus nicht immer von Vorteil, ein Gehirn zu besitzen, dessen endgültige Verschaltungen durch die Art und Weise bestimmt werden, wie man sein Gehirn benutzt oder zu benutzen gezwungen ist. Was aus einem solch plastischen, lernfähigen Gehirn wird, ob die ihm innewohnenden Möglichkeiten zur Ausbildung komplexer Verschaltungsmuster genutzt werden können, hängt eben ganz entscheidend von den Bedingungen ab, in die ein Mensch hineingeboren wird und unter denen er sein Leben zu gestalten hat. Wo es nicht genug zu essen gibt, wo das eigene Leben und das der Familie, in der man aufwächst, ständig in Gefahr ist, beschränkt sich jeder Austausch mit anderen Menschen auf das, was zur Überwindung dieser Not beiträgt. Wo Neid und Mißgunst herrschen und jeder des anderen Feind 63 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

ist, kann kein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelt werden. Dann wird jede Form des Austauschs mit anderen Menschen von der Notwendigkeit zur Selbstbehauptung und Selbstdarstellung bestimmt. Kein Mensch kann sich die Bedingungen aussuchen, unter denen er aufwächst und die ersten wichtigen Erfahrungen macht, die darüber entscheiden, wie und wofür er sein Gehirn benutzt und welche Verschaltungsmuster dort ausgebildet und stabilisiert werden. Vor 100 000 Jahren gab es noch keine so differenzierte Sprache wie heute. Für vieles, worüber wir uns heutzutage mühelos, oft sogar nicht nur in unserer Muttersprache, sondern in einer später erlernten Fremdsprache verständigen, hatten die Menschen damals noch keine Worte. Ihre Möglichkeiten, individuell gemachte oder kulturell erworbene Erfahrungen auszutauschen und das entsprechende Wissen weiterzugeben, waren deshalb noch sehr eingeschränkt. Auch eine Schriftsprache zur Weitergabe von Erfahrungen und Wissen von einer Generation zur nächsten war damals noch nicht entwickelt. Wäre aber einer dieser frühen Vorfahren des Menschen heute zur Welt gekommen, spräche er fließend Deutsch wie wir, hätte er gelesen, was wir heutzutage so lesen, könnte er sich auch noch in Englisch oder einer anderen Sprache mit Menschen aus anderen Kulturkreisen verständigen und austauschen, und das alles genauso gut oder schlecht wie wir heutzutage. Die Anlagen dazu waren vor 100 000 Jahren bereits vorhanden, nur die Bedingungen dafür, daß diese Anlagen in der Weise genutzt werden konnten, wie wir sie heute nutzen können, gab es damals noch nicht. Was sich in dieser jüngsten Etappe der Evolution entscheidend verändert hat, waren nicht die zur Ausbildung eines hochkomplexen, vielfach vernetzten und zeitlebens lernfähigen menschlichen Gehirns erforderlichen genetischen Anlagen, sondern die zur Entfaltung dieser Möglichkeiten notwendigen Voraussetzungen. Sie mußten im Verlauf der bisherigen Entwicklungsgeschichte erst allmählich von Generation zu 64 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Generation geschaffen und aufrechterhalten werden. Jeder Entwicklungsschritt, jede Entdeckung und jede Erfindung, die die Menschen eines bestimmten Kulturkreises machten, versetzte sie in die Lage, die bisherige Art der Nutzung ihres Gehirns zu erweitern und auszudehnen. Und in dem Maß, wie sie davon Gebrauch machten, konnten auch die in ihrem Hirn angelegten Verschaltungsmuster zunehmend komplexer ausgeformt werden. Bis heute ist dieser Prozeß der fortschreitenden Optimierung unserer eigenen Entwicklungsbedingungen nicht abgeschlossen. Er ist in den verschiedenen Kulturen unterschiedlich schnell abgelaufen und unterschiedlich weit vorangekommen. Die Möglichkeiten zur Gestaltung der jeweiligen Lebens- und Entwicklungsbedingungen der Menschen eines bestimmten Kulturkreises wurden ganz wesentlich von den in einem bestimmten Lebensraum vorgefunden natürlichen Gegebenheiten bestimmt. Im Verlauf der weiteren Entwicklung spielten die von den Vorfahren übernommenen Strategien der individuellen und kollektiven Lebensbewältigung, das bis dahin akkumulierte Wissen, die bis dahin entwickelten Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie die tradierten gemeinsamen Vorstellungen und Grundüberzeugungen eine immer wichtigere Rolle. Arbeitsteilung und Spezialisierung führten zu einer zunehmenden Zergliederung und hierarchischen Strukturierung der ursprünglichen Gemeinschaften. Damit begann die schichtenspezifische Gestaltung der jeweiligen Nutzung des Gehirns. Zu jedem Zeitpunkt dieses Entwicklungsweges liefen sowohl einzelne Mitglieder der Gemeinschaft wie auch einzelne Schichten oder Gruppen der Gesellschaft – sogar ganze Kulturen – immer wieder Gefahr, ganz bestimmte, einmal entwickelte und als besonders erfolgreich bewertete Strategien der Lebensbewältigung und die damit verbundenen Fähigkeiten und Fertigkeiten, Grundüberzeugungen und Wertvorstellungen immer weiter auszubauen und zu festigen. Auf diese Weise kam es zu einer von Generation zu Generation immer 65 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

stärker werdenden Kanalisierung der Entwicklungsbedingungen ihrer Nachkommen. Die damit einhergehende Einschränkung der Nutzungsmöglichkeiten des Gehirns dieser Nachkommen begünstigte die Bahnung ganz bestimmter, besonders intensiv benutzter Verschaltungen auf Kosten anderer, weniger häufig aktivierter Nervenzellverbindungen. Je besser das gelang, um so genauer wurde die nachwachsende Generation für die effiziente Durchsetzung bestimmter Ziele (der Familie, der Sippe, der Schicht, der Gesellschaft, der kulturellen Gemeinschaft) programmiert. Extreme Beispiele hierfür findet man noch heute bei manchen Naturvölkern, etwa den verschiedenen Volksgruppen in Papua-Neuguinea, die in weitgehender Isolation voneinander sehr eigenständige, bisweilen sogar bizarr anmutende kulturspezifische Kanalisierungsprozesse durchlaufen haben (Küsten-, Hochland-, Flußund Waldbewohner). Familienspezifische Kanalisierungsprozesse können zur Herausbildung hochspezialisierter Leistungen und Fähigkeiten in bestimmten Berufen (Handwerker-, Kaufmanns- und Beamtendynastien), bestimmten Künsten (Artistenfamilien, Musikerfamilien) oder sehr fragwürdigen Betätigungsfeldern (Mafia, Camorra) führen. Der über einige Generationen mit dieser zunehmenden Spezialisierung erzielte Vorteil verwandelte sich jedoch immer dann in einen fatalen Nachteil, wenn sich die äußeren Bedingungen zu verändern begannen und es auf andere Fähigkeiten und Fertigkeiten, Vorstellungen und Handlungskonzepte ankam. Diese Bedingungen änderten und ändern sich zwangsläufig: auf der Ebene des einzelnen allein dadurch, daß jeder Mensch älter wird, sich mit anderen austauscht, Erfahrungen hinzugewinnt, aber auch Kompetenzen verliert und neue Lösungen suchen muß. Auf der Ebene der Familie durch von außen auf die Nachkommen einwirkende Einflüsse anderer Menschen und im Fall einer Eheschließung vor allem durch die Einflüsse aus der Familie des Ehepartners. Auf der Ebene einzelner Schichten und Gruppierungen durch die Entwicklung neuer Technologien, die Nutzung neuer Ressourcen und 66 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

die damit einhergehenden strukturellen Veränderungen innerhalb der Gesellschaft. Und schließlich auf der Ebene ganzer Kulturen durch zunehmende Vermischung, verstärkten Kontakt, Handel und Austausch mit anderen Kulturen. Einzelne Familien, Schichten, Gruppen oder auch ganze Kulturen haben im Verlauf unserer Geschichte immer wieder versucht, diesen Prozeß der fortschreitenden Öffnung und Vermischung aufzuhalten. Dauerhaft anzuhalten oder gar umzukehren war er an keinem Ort der Erde. Überall sind Menschen mit ihrem lernfähigen Gehirn in der Lage, ihren Wissensschatz zu erweitern, neue Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erwerben und neue Erfahrungen zu machen. Und überall wird dieses Wissen, werden diese Fähigkeiten und Vorstellungen an andere Menschen weitergegeben, von anderen Menschen übernommen und mit anderen Menschen ausgetauscht. In der Vergangenheit geschah das meist unfreiwillig und unbewußt (durch Handel, Kriege, Migrationen etc.). Heute läßt sich dieser Prozeß der Weitergabe und des Austausches von Informationen zwischen Menschen aus unterschiedlichen Familien, Schichten, Gruppen, Ländern und Kulturen bewußt und gezielt gestalten. Wir sind damit erstmals in der Lage, die bisher noch immer kanalisierend auf die endgültige Ausformung des Gehirns wirkenden Entwicklungs- und Lebensbedingungen gezielt zu erweitern, um auf diese Weise einseitige Bahnungen bestimmter neuronaler Verschaltungsmuster in unserem Gehirn zu verhindern. Erst wenn diese einseitigen, von uns selbst geschaffenen Programmierungen schrittweise geöffnet werden, können wir die genetischen Potenzen zur Ausbildung eines zeitlebens lernfähigen, komplex vernetzten menschlichen Gehirns nutzen, zu einer subtileren Wahrnehmung und Verarbeitung von Veränderungen unserer äußeren Welt und zu immer intensiverem Austausch mit anderen Menschen, zur effizienteren Aufrechterhaltung unserer inneren Welt und nicht zuletzt zur Gestaltung optimaler Entwicklungsbedingungen für unsere Kinder. Prototypen derartiger Gehirne sind im Lauf der Menschheits67 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

geschichte bereits häufiger als Einzelexemplare entstanden (wenn Sie dieses Buch zu Ende gelesen haben, fallen Ihnen vielleicht einige Beispiele hierfür ein). In Serie ist dieses neue Modell bisher noch nicht gegangen.

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3 Hinweise auf bereits erfolgte Installationsmaßnahmen

Hätten Sie ein Gehirn wie ein Stichling, dann bräuchten Sie sich keine Gedanken darüber zu machen, was Sie in jedem Frühjahr dazu bringt, das ewig gleiche Hochzeitsritual mit Ihrem Partner aufzuführen. Sie würden sich nicht einmal darüber ärgern, daß Sie immer dann, wenn Sie dabei gestört werden, mit der ganzen Prozedur wieder von vorn beginnen müßten, um sie zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Und wenn Ihre Kinder dann erwachsen geworden wären und zur Paarungszeit anfingen, den gleichen Tanz wie Sie aufzuführen, würden Sie sich auch nicht wundern, wieso Ihre Nachkommen dieses komplizierte Ritual beherrschen, ohne es je zuvor beobachtet und eingeübt zu haben. Sie könnten sich ganz einfach darauf verlassen, daß all die Nervenzellverschaltungen, die ein Stichling in seinem Stichlingshirn zum Überleben und zum Fortpflanzen braucht, dort auch immer wieder auf die gleiche Weise installiert werden. Die genetischen Programme, die das zustande bringen, sind so alt und so wenig veränderlich wie die Stichlinge und ihr sonderbarer Hochzeitstanz. Hätten Sie ein Gehirn wie eine Graugans und wären Sie unmittelbar nach dem Schlupf von Konrad Lorenz aufgezogen worden, so würden Sie im Frühjahr das gleiche genetisch programmierte Verpaarungsritual wie alle anderen Gänse aufführen, allerdings nicht vor einer Gans oder einem Ganter, sondern vor Konrad Lorenz. Trotz der offenkundigen Erfolglosigkeit all Ihrer Bemühungen würden Sie wohl versuchen, ihn auch im nächsten Frühjahr wieder auf die gleiche Weise zur Paarung zu bewegen. Zu einem Zeitpunkt, als einige der in Ihrem Hirn angelegten Verschaltungen noch nicht fertig ausgereift waren, wäre das Bild des alten Mannes fest in Ihrem 69 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Gänsekükengehirn verankert worden, und diese Verschaltungsmuster wären für den Rest Ihres Lebens ebenso fest installiert, als hätte sie ein genetisches Programm geformt. Mit einem Affenhirn hätten Sie noch ein paar mehr Erfahrungen als so eine Gans machen und entsprechend verankern können. Manche dieser erfahrungsbedingten Verschaltungsmuster hätten Sie später vielleicht sogar wieder auflösen oder durch neue Installationen überlagern können. Aber Sie hätten weder begreifen noch abschätzen können, ob diese einmal erfolgten Installationen auch weiterhin für Sie von Nutzen sind, ob Sie sie also auch weiterhin behalten wollen. Um zu entscheiden, ob die bisher in Ihrem Gehirn angelegten und Ihr Fühlen, Denken und Handeln bestimmenden Verschaltungen für den Rest Ihres Lebens so bleiben oder aber verändert werden sollten, brauchen Sie ein lebenslang lernfähiges Gehirn. Falls Sie der Meinung sind, daß Sie das nicht haben, können Sie hier mit dem Lesen dieser Bedienungsanleitung aufhören. Falls Sie sich zum Weiterlesen entschließen, sollten Sie jedoch an dieser Stelle noch einen Augenblick innehalten und sich klarmachen, was es für Sie bedeutet, wenn Sie erfahren, daß die bisher in Ihrem Gehirn erfolgten Installationen nicht so optimal verlaufen sind, wie es eigentlich wünschenswert gewesen wäre. Es geht um die Frage der Schuld und darum, wie Sie mit der Erkenntnis umgehen wollen, daß ohne Ihr Zutun bereits vor Ihrer Geburt, während Ihrer Kindheit und im Verlauf Ihres späteren Lebens bestimmte Verschaltungen in Ihrem Hirn entstanden sind, die Ihr Fühlen, Denken und Handeln noch heute maßgeblich bestimmen. Wen oder was wollen Sie dafür verantwortlich machen? Die genetischen Anlagen, die Ihnen Ihre Eltern als zufällige Kombination ihrer eigenen Anlagen mit auf den Weg gegeben haben? Die familiären Verhältnisse, unter denen Sie aufgewachsen sind und die dazu geführt haben, daß Sie nur ganz bestimmte, vielleicht sehr einseitige Erfahrungen machen und in Ihrem Gehirn verankern konnten? Oder die gesellschaftlichen Gegebenheiten, die Kultur, die Zeit, die Region, in die Sie hin70 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

eingeboren wurden und hineingewachsen sind und die Ihre bisherigen Entwicklungs- und Lebensbedingungen und damit auch die Nutzungsmöglichkeiten Ihres Gehirns ganz entscheidend bestimmt, womöglich sogar erheblich eingeengt haben? Zu ganz anderen Zeiten, in ganz anderen Kulturen, bei ganz anderen Eltern wären auch Sie ganz anders geworden. Sie hätten ein anderes Gehirn und würden damit ganz anders fühlen, denken und handeln. Sie wären nicht so, wie Sie heute sind, ja, Sie würden sich mit größter Wahrscheinlichkeit nicht einmal selbst wiedererkennen. All das, was Ihre Persönlichkeit ausmacht, das, worauf Sie stolz sind, ebenso wie das, was Sie an sich selbst nicht mögen, worunter Sie vielleicht sogar leiden, Ihre Schwächen und Stärken, Ihre Fähigkeiten und Kenntnisse, Ihre Wünsche und Erwartungen, auch Ihre Träume und Ängste, sind Ergebnis und Ausdruck der Installationen, der neuronalen Verschaltungsmuster, die bisher in Ihrem Hirn entstanden sind. Sie sind ein Produkt von Zufälligkeiten, von zufällig in Ihrem Genom vermischten Anlagen und von zufällig vorgefundenen Bedingungen, unter denen sich manche dieser Anlagen besonders gut, andere nur sehr schlecht entfalten konnten. »Das Wasser nimmt die guten und schlechten Eigenschaften der Schichten an, durch die es läuft, und der Mensch die des Klimas, in welchem er geboren wird« (Gracián*). Die Suche nach den Schuldigen für das geistige, gesellschaftliche oder familiäre Klima, in das man hineingeboren worden ist, hat im nachhinein wenig Sinn, sie kann eigentlich nur einem einzigen Zweck dienen, nämlich zu erkennen, wie man selbst an der Gestaltung eines bestimmten Klimas mitwirkt, um nicht selbst erneut aus Unwissenheit schuldig werden zu müssen. Denn das Klima, in dem Menschen künftig aufwachsen und leben, läßt sich ebenso verändern wie die Art und Weise, wie wir unser Gehirn fortan benutzen. * Gracián, Baltasar (1647): Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit. Übertr. von Arthur Schopenhauer. Zürich, 1993.

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3.1 Optimal gelungene Installationen Um die genetisch angelegten Möglichkeiten zur Ausbildung hochkomplexer und zeitlebens veränderbarer Verschaltungen in vollem Umfang nutzen zu können, braucht ein menschliches Gehirn optimale Entwicklungsbedingungen. Bereits vor der Geburt darf es nicht zu störenden Veränderungen mit den für sein Wachstum erforderlichen Bausteinen, Substraten, Kofaktoren und anderen Substanzen kommen, die die Ausreifung des während dieser Phase sehr schnell wachsenden Gehirns beeinflussen. Hierzu zählen nicht nur Unzulänglichkeiten der plazentaren Versorgung oder Stoffwechselstörungen der Mutter, sondern auch die Einnahme von Wirkstoffen durch die Mutter, die über die Plazenta das sich entwickelnde Gehirn des Föten erreichen und das dort herrschende – und die dort ablaufenden Ausreifungsprozesse steuernde – Bedingungsgefüge verändern (Alkohol, Nikotin, Drogen, Medikamente etc.). Auch Veränderungen der Konzentrationen bestimmter, im Blut der Mutter zirkulierender Hormone, Wachstumsfaktoren und anderer Signalstoffe, die durch seelische oder körperliche Belastungen während der Schwangerschaft ausgelöst werden, können die Hirnentwicklung beeinflussen. Gegen Ende der Schwangerschaft sind verschiedene Sinnesorgane und die dazugehörigen Verschaltungen im Gehirn des Föten bereits so weit ausgereift, daß er damit seine ersten sinnlichen Wahrnehmungen macht. Er spürt das Schaukeln, schmeckt das Fruchtwasser, hört den Herzschlag der Mutter und andere Geräusche, auch Stimmen und Musik von außen. Alles, was in seine Welt vordringt und was es wahrzunehmen imstande ist, verbindet das ungeborene Kind mit der Sicherheit und Geborgenheit, die in dieser seiner Welt normalerweise herrscht. Plötzlich und möglicherweise wiederholt während der Schwangerschaft auftretende Störungen, etwa laute Geräusche, aber auch Angst und Streß der Mutter, die der Fötus als Veränderungen ihres Herzschlags wahrnimmt und die mit Veränderungen der mütterlichen Blutversorgung und der 72 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Ausschüttung verschiedener Hormone einhergehen, können dazu führen, daß dieses Gefühl von Geborgenheit bei manchen Kindern schon zum Zeitpunkt ihrer Geburt nur sehr schwach ausgeprägt ist. Sie kommen dann bereits unsicherer und ängstlicher zur Welt und sind weitaus schwerer durch mütterliche Zuwendung zu beruhigen als diejenigen, denen solche intrauterinen Erfahrungen erspart geblieben sind. Die erste tiefgreifende Angst und Streßreaktion erlebt jeder Mensch bei seiner Geburt. Verzweifelt muß er nach dieser dramatischen Veränderung seiner bisherigen Lebenswelt nach einem Weg suchen, um sein verlorengegangenes inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Die wichtigste Erfahrung, die jedes Neugeborene während der ersten Tage und Wochen in dieser neuen Welt machen kann und machen muß und die seinen weiteren Entwicklungsweg entscheidend prägt, wird als Gefühl in seinem Gehirn verankert. Es ist das Gefühl, daß es in der Lage ist, seine Angst zu bewältigen. Damit dieses Gefühl entstehen kann, muß das Neugeborene seine Angst zum Ausdruck bringen können, und es ist darauf angewiesen, daß sein Schreien gehört wird, daß sich jemand (normalerweise die Mutter) ihm zuwendet, es wiegt, es an die Brust nimmt, zu ihm spricht, es wärmt und beruhigt. Nur wenn das Baby jemanden findet, der es ihm ermöglicht, wieder möglichst viel von dem zu spüren und wahrzunehmen, was es bereits aus seinem bisherigen Leben im Mutterleib kennt und was es mit der dort vorgefundenen Sicherheit und Geborgenheit verbindet, kann es seine Angst überwinden und sein inneres emotionales Gleichgewicht wiederfinden. Je häufiger ihm das gelingt, um so tiefer wird die Erfahrung in seinem Gehirn verankert, daß es durch eine eigene Leistung in der Lage ist, seine Angst mit Hilfe dieser Mutter zu bewältigen. Sein Selbstvertrauen wächst dabei ebenso wie sein Vertrauen in die Fähigkeiten seiner Mutter, ihm Sicherheit und Geborgenheit bieten zu können. Das Kind entwickelt eine enge emotionale Bindung an diese Mutter (oder an eine andere primäre Bezugsperson) und übernimmt im weiteren Verlauf 73 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

seiner Entwicklung nicht nur all diejenigen Fähigkeiten und Fertigkeiten, Vorstellungen und Haltungen von ihr, die ihm zur eigenen Lebensbewältigung wichtig erscheinen. Es weitet auch seine emotionale Bindung auf all diejenigen Personen aus, die dieser Mutter wichtig sind, mit denen sie emotional verbunden ist und in deren Gegenwart das Kind sich ebenfalls sicher und geborgen fühlt. Das ist normalerweise zunächst der Vater, später kommen Großeltern, Verwandte und andere, den Eltern nahestehende Personen hinzu. Auch deren Fähigkeiten, Haltungen und Vorstellungen eignet sich das Kind um so leichter und besser an, je enger es sich mit diesen Menschen verbunden fühlt. Es geht einem Kind während dieser Phase nicht viel anders als einem auskeimenden Samenkorn, das zunächst mit einer sich immer stärker verzweigenden Wurzel in das Erdreich vordringt, sich dort fest verankert und die für die Ausbildung von Sproß und Blättern erforderlichen Nährstoffe sammelt. Kindern gelingt die Ausbildung solcher Wurzeln nur dann, wenn ihnen während ihrer ersten Lebensjahre Gelegenheit gegeben wird, enge, sichere und feste Bindungen zu möglichst vielen anderen Menschen mit sehr unterschiedlichen Fähigkeiten, Vorstellungen und Begabungen zu entwickeln. Bei einem Samenkorn entscheiden die genetischen Anlagen darüber, ob der Keim entweder eine Pfahlwurzel oder eine Flachwurzel ausbildet. Bei Kindern entstehen sehr tiefreichende, aber wenig verzweigte Wurzeln immer dann, wenn der Boden, auf dem sie aufwachsen, nur von einem oder sehr wenigen und sehr gleichartigen Menschen bestimmt wird. Sehr flache Wurzeln bilden sie immer dann aus, wenn sie zwar mit sehr vielen und sehr unterschiedlichen Menschen Beziehungen eingehen, es sich dabei aber um Personen handelt, die ihnen nur wenig Sicherheit und Geborgenheit bieten. Damit sie nicht beim kleinsten Sturm umfallen, brauchen Bäume auf sumpfigem Grund möglichst tiefreichende, auf felsigem Grund möglichst flach ausgebreitete Wurzeln. Was Kinder brauchen, sind Wurzeln, mit denen sie sich überall 74 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

und bei jedem Wetter festhalten können. Aus der Wiege der Menschheit, aus Afrika, stammt eine uralte Weisheit, die in einem Satz zusammenfaßt, welche Entwicklungsbedingungen Kinder vorfinden müssen, um die genetischen Anlagen zur Ausbildung eines zeitlebens lernfähigen, komplex verschalteten Gehirns in vollem Umfang nutzen zu können. »Um ein Kind richtig aufzuziehen«, sagt ein afrikanisches Sprichwort, »braucht man ein ganzes Dorf.« In einer dörflichen Gemeinschaft finden Kinder hinreichend viele und hinreichend unterschiedliche Anregungen und Herausforderungen, um sich ein möglichst breites Spektrum verschiedenster Kompetenzen anzueignen und die dabei in ihrem Gehirn aktivierten Verschaltungen zu bahnen und zu festigen. Und in einem Dorf können Kinder einen wachsenden Kreis fester, sicherer Bindungen zu sehr unterschiedlichen Menschen entwickeln und die Erfahrung machen, daß sie innerhalb dieser Gemeinschaft Schutz und Geborgenheit finden. Dörfer, in denen das funktioniert, sind selten geworden, auch in Afrika. Und wenn es solche Dörfer noch irgendwo gibt, reicht das, was sie bieten, heutzutage kaum noch aus, um ihren Kindern Gelegenheit zu geben, auch das so gut zu entwickeln, was sie ebenso dringend brauchen wie Wurzeln: Flügel. Flügel, mit denen sie über die Grenzen und Beschränktheiten der Gemeinschaft, in der sie nun einmal zufälligerweise aufgewachsen sind, hinwegfliegen können. Auch diese Flügel wachsen nicht von allein. Kinder, die sich in der Welt, in der sie aufgewachsen sind, nicht sicher fühlen, haben Angst vorm Fliegen. Die Pfahlwurzler sind so fest in ihren wenigen Bindungen verhaftet, daß sie nicht hochkommen, und die Flachwurzler laufen allzuleicht Gefahr, schon abzuheben und davonzuschweben, bevor ihre Flügel so weit entwickelt sind, daß sie damit auch die Richtung ihres Fluges bestimmen können. Ob ein Kind hinreichend tragfähige und handhabbare Flügel entwickeln konnte, läßt sich meist erst dann erkennen, wenn es erwachsen wird und seine Flügel zu benutzen be75 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

ginnt. Bei Ratten, die ein weit weniger plastisches, lernfähiges Gehirn besitzen als der Mensch, läßt sich jedoch recht gut nachweisen, was in diesem Gehirn passiert, wenn man sie unter Bedingungen aufwachsen läßt, die es ihnen ermöglichen, wenigstens ganz kleine Flügel, eben Rattenflügel, auszubilden: Ihre Hirnrinde ist dann dicker, sie enthält mehr synaptische Kontakte, die Nervenzellen besitzen längere und verzweigtere Fortsätze, es gibt dort mehr Gliazellen und sogar mehr und stärker verästelte Blutgefäße zur Versorgung der komplexer verschalteten Nervenzellen. Als Erwachsene bewältigen sie schwierige Aufgaben geschickter, sind kompetenter und haben weniger Angst vor Neuem als ihre unter »normalen« Bedingungen in den üblichen Käfigen aufgewachsenen Geschwister, die keine Gelegenheit hatten, in Sippen groß zu werden, vielfältige Kontakte mit den anderen Gruppenmitgliedern einzugehen, Baue zu graben und eine möglichst bunte Rattenwelt mit vielen unterschiedlichen Herausforderungen und Anregungen zu entdecken. Das Wichtigste sieht man jedoch erst dann, wenn die so aufgewachsenen Tiere alt geworden sind, also nach etwa zwei Jahren. Dann findet man im Gehirn der »normal« aufgezogenen Ratten bereits eine Vielzahl degenerativer Veränderungen, während das Gehirn dieser »Flügelratten« noch ganz normal aussieht. »MatthäusPrinzip« haben das die Hirnforscher genannt, nach dem Satz aus dem Evangelium: »Wer hat, dem wird gegeben.«

3.2 Mangelhaft gelungene Installationen Das menschliche Gehirn ist zum Zeitpunkt der Geburt noch sehr unreif. Hinreichend entwickelt sind nur diejenigen neuronalen Verschaltungen, die zum Überleben während der ersten Lebensphase unbedingt erforderlich sind, etwa für die Regulation basaler Körperfunktionen, für die Verarbeitung lebenswichtiger Sinneswahrnehmungen und für die Koordi76 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

nation erster motorischer Reaktionen. Ihre wichtigste Aufgabe ist es, bei Bedrohungen und Störungen der inneren Ordnung eine Reaktion in Gang zu setzen, die geeignet ist, das verlorengegangene innere Gleichgewicht wiederherzustellen. Das gelingt um so besser, je deutlicher ein Kind sowohl seinen Unmut über ein ungestilltes Bedürfnis wie auch seine Befriedigung über die erfolgreiche Stillung dieses Bedürfnisses zum Ausdruck bringen kann. Ersteres bringt normalerweise jemanden dazu, ihm beizustehen. Letzteres sorgt dafür, daß die Bereitschaft zur Hilfestellung auch in Zukunft erhalten bleibt. Beide Fähigkeiten sind nicht bei allen Kindern gleichermaßen ausgeprägt. Und nicht jede Mutter ist in der Lage, die Signale richtig zu deuten, mit denen ihr Kind seine jeweilige Befindlichkeit zum Ausdruck bringt. Ebensowenig sind alle Mütter gleichermaßen gut dazu befähigt, den jeweiligen Grund des Unbehagens ihres Babys zu erkennen und abzustellen. Auch die Freude, die ein Baby zeigt, wenn es ihm gelungen ist, sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden, wird nicht von allen Müttern gleich gut erkannt und, was noch wichtiger ist, durch eine eigene, für das Kind erkennbare Reaktion der Freude beantwortet und verstärkt. Es gibt Kinder, die bereits sehr viel ängstlicher zur Welt kommen als andere. Und es gibt Kinder, die nach ihrer Geburt Bedingungen vorfinden, die ihnen wenig Gelegenheit bieten, sich sicher und geborgen zu fühlen. Sie machen seltener als andere Kinder die Erfahrungen, daß sie durch eine eigene Leistung in der Lage sind, eine Störung ihres inneren Gleichgewichts durch die Mithilfe der Mutter (oder einer anderen Bezugsperson) zu beheben und sich gemeinsam mit ihr über die gelungene Aktion zu begeistern. Es gibt seelisch kranke Mütter, unreife Mütter, unglückliche und unzufriedene Mütter, von Selbstzweifeln geplagte, unsichere und ängstliche Mütter, launische und unbeständige Mütter, übermäßig selbstbezogene oder fremdbestimmte Mütter, es gibt geplagte und überlastete Mütter, harte und unsensible Mütter, haltlose und haltsuchende Mütter, es gibt ganz einfach sehr viele Mütter, die 77 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

ihren Kindern die für die optimale Entwicklung ihres Gehirns erforderlichen Bedingungen nicht bieten können. Zwischen ihnen und ihren Kindern entsteht anstelle einer sicheren, dem Kind Halt bietende Bindung eine sehr unsichere; das Kind wird entweder zu stark umklammert und an der Entfaltung seiner Fähigkeiten gehindert, oder aber es wird zu stark sich selbst überlassen und bei der Entfaltung seiner Fähigkeiten unzureichend stimuliert und gelenkt. Die Folgen derartiger unsicherer Bindungen an die primäre Bezugsperson für die weitere Entwicklung des kindlichen Gehirns sind um so schwerwiegender und nachhaltiger, je weniger das Kind im Lauf seiner weiteren Entwicklung Gelegenheit hat, enge emotionale Bindungen mit anderen Personen einzugehen. Das ist immer dann der Fall, wenn die Mutter selbst keine solchen Bindungen zu anderen Menschen besitzt, wenn also die Beziehung der Mutter zum Vater des Kindes, zu ihren eigenen Eltern und anderen Familienangehörigen ebenfalls nur unsicher geblieben ist und sie auch keine engen und sicheren emotionalen Bindungen zu anderen Personen entwickelt hat. Je weniger die Mutter als primäre Bezugsperson selbst in ein enges, ihr Sicherheit und Geborgenheit bietendes Beziehungsgeflecht mit möglichst vielen und möglichst unterschiedlichen anderen Menschen eingebettet ist, desto größer wird die Gefahr der Bahnung sehr einseitiger, ausschließlich von dieser Mutter bestimmter Grundmuster des Denkens, Fühlens und Handelns und der diesen Haltungen zugrundeliegenden neuronalen Verschaltungen im sich entwickelnden Gehirn dieses Kindes. Gelingt es einem Kind, neben der Mutter noch weitere Personen zu finden, die ihm bei der Überwindung seiner Ängste behilflich sind und ihm das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermitteln, so werden auch die Grundhaltungen, die Fähigkeiten und Fertigkeiten und die emotionalen Bindungen dieser Bezugsperson übernommen und im kindlichen Gehirn verankert.Nur so lassen sich allzu einseitige,ausschließlich von der primären Bezugspersonen kanalisierte Entwicklungen und 78 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

die damit einhergehenden frühen Programmierungen der im kindlichen Gehirn angelegten Verschaltungen vermeiden. Es ist dabei wichtig, daß sich der kanalisierende Einfluß dieser sekundären Bezugsperson vom kanalisierenden Einfluß der primären Bezugsperson, also der Mutter, hinreichend stark unterscheidet. Am besten eignet sich hierfür ein Vater. Aber ebenso, wie nicht alle Frauen optimale Mütter werden, sind nicht alle Männer gleichermaßen befähigt und in der Lage, als liebevolle, einfühlsame »Programmöffner« auf die Hirnentwicklung ihrer Kinder einzuwirken, indem sie ihnen Gelegenheit geben,eine Welt zu entdecken,die anders als die ihrer Mütter aussieht. Vielfach ist das, was Väter ihren Kindern bieten, ein Kontrastprogramm, das alternativ oder gar autoritär neben das der Mutter gesetzt wird und das Kind anstatt zu einer Synthese zu einer fatalen Entscheidung zwingt: entweder sein Gefühl oder seinen Verstand zu benutzen, sich entweder nach innen oder nach außen zu orientieren, entweder in Abhängigkeit gebunden zu bleiben oder bindungslos autonom zu werden. Ob das Kind sich so oder so, also für die Übernahme der vom Vater oder der von der Mutter vorgegebenen Verhaltensmuster entscheidet, hängt davon ab, bei wem es sich sicherer und geborgener fühlt und wessen Strategien ihm geeigneter erscheinen, um sich im Leben zurechtzufinden, seine Ängste und Unsicherheiten zu bewältigen und sein inneres Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Häufig ist das nicht ein und dieselbe Person. Dann muß sich das Kind durch einen Dschungel widerstreitender Gefühle zwischen der Zuneigung zu einer warmherzigen Mutter, die (laut Vater) nichts kann, und der Anlehnung an einen übermächtigen Vater, der (scheinbar) alles kann, hindurcharbeiten. Die frühe Ablösung von beiden Elternteilen ist dann meist der einzige Ausweg aus diesem Gestrüpp. Wenn einer der beiden Elternteile beides bietet oder beider Vorstellungen, Grundhaltungen und Kompetenzen sich nicht wesentlich unterscheiden, läuft das Kind Gefahr, diese Vorstel79 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

lungen, Grundhaltungen und Kompetenzen alternativlos zu übernehmen, auch wenn sie sich für die weitere Gestaltung seines eigenen Lebensweges später als unzulänglich, wenn nicht gar enorm hinderlich erweisen. Entkommen kann ein Kind dieser Gefahr der frühen Bahnung und Verfestigung ganz bestimmter Muster der Wahrnehmung und der Verarbeitung nur dann, wenn es ihm gelingt, innerhalb seines Lebensbereichs andere Menschen zu finden, die ihm ebenfalls ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermitteln, die aber anders denken, fühlen und handeln als seine Eltern, die über ein anderes Wissen verfügen, andere Erfahrungen gemacht und andere Fertigkeiten entwickelt haben. Die meisten Kinder wachsen jedoch in familiären, dörflichen, religiösen und kulturellen Gemeinschaften auf, deren Mitglieder ganz bestimmte gemeinsame, oft sehr einseitige Vorstellungen, Grundüberzeugungen und Haltungen teilen, die über ein weitgehend identisches, begrenztes Wissen verfügen und die einzelne Fähigkeiten auf Kosten anderer entwickelt haben. Kinder können in solchen Gemeinschaften Sicherheit und Geborgenheit nur finden – und ihre Ängste bewältigen –, indem sie sich die tradierten Denk-, Gefühlsund Verhaltensmuster der Mitglieder dieser Gemeinschaft aneignen. Die dabei immer wieder in ihrem Gehirn aktivierten neuronalen Verschaltungen werden auf diese Weise immer fester etabliert. Je früher es zu derartigen Programmierungen kommt, desto bestimmender werden sie für die weitere Lebensgestaltung und desto schwerer sind sie im Lauf des späteren Lebens wieder auflösbar. Prinzipiell ist die Gefahr der Bahnung sehr einseitiger neuronaler Verschaltungsmuster um so größer, je häufiger ganz bestimmte Strategien der Angstbewältigung von einem Menschen im Lauf seiner Entwicklung immer wieder eingesetzt und subjektiv als besonders erfolgreich bewertet werden. Beispiele für derartige bis zur psychischen Abhängigkeit gebahnte Bewältigungsstrategien sind Karrieresucht, Erfolgssucht, Geltungssucht, Streitsucht, Prunksucht, Vergnügungs-(Ab80 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

lenkungs-)sucht, Spiel-(Aufregungs-)sucht. Häufig werden auch bestimmte, durch die Nahrungsaufnahme ausgelöste Beruhigungseffekte zur Angstbewältigung genutzt und bis zur Abhängigkeit gebahnt (Eßsucht, Magersucht). Das gleiche gilt für Drogen und Medikamente, die aufgrund ihrer angstmindernden, sedierenden oder euphorisierenden Wirkungen zur Angstbewältigung eingesetzt werden (Medikamentensucht, Drogensucht). Je beschränkter das Spektrum an Bewältigungsstrategien ist, das sich eine Person im Lauf ihres bisherigen Lebens anzueignen imstande war, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns angesichts neuartiger psychosozialer Konflikte und seelischer Belastungen. Solche Menschen sind oft außerstande, adäquate Lösungsstrategien für neuartige Herausforderungen zu finden, und neigen aus diesem Grund dazu, ihre Ängste und die damit einhergehende unkontrollierbare Streßreaktion durch Rückgriff auf in ihren Augen bewährte, für den außenstehenden Betrachter jedoch oftmals schwer nachvollziehbare, Bewältigungsstrategien beherrschbar zu machen. Bei manchen Personen kommt es zu mehr oder weniger deutlichen Rückzugsversuchen in eigene, selbstgeschaffene Welten, die deshalb Sicherheit bieten, weil sie bestimmte Aspekte früh gebahnter und noch immer als erfolgreich bewerteter Lösungsstrategien beinhalten. Andere Personen neigen in solchen Konfliktsituationen zu aktiven, nach außen gerichteten Lösungsversuchen, zum Rückgriff auf alte, subjektiv als erfolgreich bewertete Strategien der Aneignung von Macht (Wutausbrüche) oder Zurschaustellung von Statussymbolen (Angeberei). Die Chancen, eine unkontrollierbare Angst- und Streßreaktion mit Hilfe einer dieser frühen, einmal gebahnten und nun unbewußt aktivierten Bewältigungsstrategien tatsächlich kontrollierbar machen zu können, sind jedoch normalerweise nur sehr gering. Aus diesem Grund versuchen viele Menschen, angesichts unbewältigbarer, diffuser Probleme ganz bestimmte Situationen herbeizuführen, die sie mit Hilfe ihrer 81 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

alten Bewältigungsstrategien kontrollieren können. Welche konkreten Situationen eine bestimmte Person durch ihr eigenes Verhalten heraufbeschwört, um sich selbst immer wieder zu bestätigen, daß sie in der Lage ist, die daraus resultierenden Probleme zu bewältigen, ist von ihren bisher bei der Bewältigung von Angst und Streß gemachten Erfahrungen abhängig. Manche Menschen inszenieren Situationen, in denen sie die Hilfsbereitschaft anderer wecken, andere verfolgen mit ihren Inszenierungen das Ziel, ganz bestimmte eigene Kompetenzen erneut unter Beweis stellen zu können. Manche versuchen aber auch, sich selbst mit Hilfe solcher Inszenierungen immer wieder zu beweisen, daß es ihnen nichts ausmacht und daß sie damit umgehen können, daß es also für sie kontrollierbar ist, von liebgewonnenen, Sicherheit bietenden Bezugspersonen abgelehnt zu werden oder erneute Bestätigungen ihrer eigenen Inkompetenz zu erfahren. Diese Verhaltensweisen können schließlich, je häufiger sie von einer Person zur Angstbewältigung eingesetzt und subjektiv als erfolgreich bewertet werden, bis zur Abhängigkeit gebahnt und in zwanghafter Weise immer dann eingesetzt werden, wenn sich die betreffende Person bedroht fühlt oder verunsichert wird.

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4 Korrektur von Installationsdefiziten

Hätten Sie das Gehirn eines Maulwurfs, so könnten Sie sich nicht vorstellen, wovon jemand redet, der Ihnen von der hellen Sonne, von all den Wiesen voller Blumen und den bunten Schmetterlingen erzählt, die da oben, nur wenige Zentimeter über Ihnen, umherflattern. Sie würden sich einfach umdrehen und so weiterbuddeln wie bisher, im Dunkeln, mit Ihren verkümmerten Augen und der dazugehörigen verkümmerten Sehrinde in Ihrem kleinen Maulwurfgehirn. Sie würden nicht einmal versuchen, sich vorzustellen, wie es da oben, nur ein kleines Stück über Ihnen, wohl aussehen mag. Sie haben aber kein Maulwurfgehirn, und selbst wenn Sie aufgrund eines genetischen Defekts oder durch eine andere Störung blind zur Welt gekommen wären, so könnten Sie sich doch in Gedanken irgendwie ausmalen, wie all die bunten Wiesen und Schmetterlinge um sie herum aussehen. All das hätten auch Sie nie gesehen, aber Sie hätten von anderen davon gehört und später darüber in Blindenschrift gelesen. Anstatt sich in ihre angeborenermaßen dunkle Welt einzubuddeln, hätten Sie versucht, das Unsichtbare durch besonders intensives Hören, Fühlen und Vorstellen doch irgendwie sichtbar zu machen. Und diejenigen Bereiche ihres Gehirns, die Sie dafür besonders intensiv benutzt hätten, wären dann auch viel komplexer und feiner herausgeformt worden. Im Gegensatz zu einem Maulwurfgehirn ist ein menschliches Gehirn eben in der Lage, selbst ein genetisch bedingtes Installationsdefizit auszugleichen. Wie überall im Leben gelingt eine solche Korrektur auch im Gehirn um so besser, je früher sie in Angriff genommen wird. Aber selbst im erwachsenen Gehirn kommt es nach einer Er83 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

blindung noch zu tiefgreifenden Veränderungen der für die Wahrnehmung und die Verarbeitung von Sinneseindrücken verantwortlichen neuronalen Verschaltungen. Manche dieser Veränderungen lassen sich sogar mit Hilfe bildgebender Verfahren darstellen, besonders eindrucksvoll in einem bestimmten Areal in der Hirnrinde, das für die Verarbeitung von Sinneseindrücken aus den Fingerkuppen zuständig ist. Es beginnt sich auszuweiten, wenn jemand nach einer Erblindung mit den Fingerspitzen die Blindenschrift zu lesen erlernt. Und am leichtesten fällt das Erlernen der Blindenschrift denjenigen, die ihren Tastsinn besonders gut bewahrt und geschärft haben. Aber nicht nur sensorische, auch motorische, für die Bewegungskoordination zuständige Netzwerke der Hirnrinde können sich an neue Nutzungsbedingungen anpassen, beispielsweise nach der Amputation von Gliedmaßen, etwa des Zeigefingers, oder nach Hirninfarkten, die zu partiellen Lähmungen führen, beispielsweise des rechten Arms. Nach dem Verlust eines Zeigefingers werden all die Verschaltungen weiter ausgebaut und verbessert, die man zur Bewegungssteuerung anderer Finger, besonders von Daumen und Mittelfinger, nunmehr verstärkt benutzt. Und wenn sich der rechte Arm nicht mehr bewegen läßt, werden die für die Bewegungskoordination des linken Arms zuständigen Areale in der Hirnrinde so lange modifiziert, bis man damit selbst als Rechtshänder perfekt schreiben kann. Noch besser wäre es freilich, den noch nutzbaren linken Arm daran zu hindern, all das zu übernehmen, was der rechte nicht mehr leisten kann. Das wird neuerdings bei bestimmten Rehabilitationsmaßnahmen versucht, und zum großen Erstaunen der Hirnforscher läßt sich auf diese Weise eine bisher unvorstellbare Neuverschaltung im Gehirn dieser Patienten erreichen.Der gelähmte Arm wird so wieder, sicher nicht für alles, aber doch für vieles nutzbar. Dieses nutzungsabhängige plastische Potential des menschlichen Gehirns wird jedoch nicht nur dann sichtbar, wenn es zu Ausfällen gekommen ist. Auch die besonders intensive Nutzung einzelner Bereiche eines ansonsten ganz normalen Ge84 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

hirns kann dazu führen, daß die für diese Aufgaben zuständigen neuronalen Netzwerke komplexer, dichter und bisweilen sogar größer werden. So ist die für die räumliche Orientierung zuständige Region im Gehirn von Taxifahrern in London (die diese Region offenbar besonders intensiv benutzen) um so größer, je länger sie dieser Tätigkeit bereits nachgehen. Die Hirnforscher, die all das herausgefunden haben, waren höchst verwundert über dieses Ausmaß an nutzungsabhängiger Veränderbarkeit des menschlichen Gehirns. Heißt es doch, konsequent zu Ende gedacht, daß unser Gehirn so wird, wie wir es benutzen. Diejenigen Verschaltungen, die wir besonders häufig und besonders erfolgreich aktivieren, um uns in der Welt zurechtzufinden, werden immer stärker ausgebaut, und diejenigen, die wir dazu nicht oder nur sehr selten einsetzen, bleiben entweder so, wie sie sind, oder beginnen allmählich zu verkümmern. Da es keine zwei Menschen gibt, die in ihrem bisherigen Leben exakt die gleichen Erfahrungen gemacht und ihr Gehirn auf exakt die gleiche Weise benutzt haben, ist jedes Gehirn, so wie es nun einmal bisher geworden ist, einzigartig. Und da jeder Mensch sich zu jedem Zeitpunkt seines Lebens dafür entscheiden kann, sein Gehirn künftig etwas anders zu benutzen als bisher, ist er auch in der Lage, die in seinem Gehirn bis dahin entstandenen Installationsdefizite zu korrigieren. Die meisten dieser Defizite sind durch ständige Wiederholung einmal eingeschlagener und entweder für richtig erachteter oder nie ernsthaft hinterfragter Strategien der Wahrnehmung, des Fühlens, Denkens und Handelns fest im Gehirn verankert worden. Es gibt nur einen Weg zur Wiedererlangung eines Gehirns, mit dem man sowohl sehen als auch fühlen, sowohl riechen als auch hören, sowohl tanzen als auch musizieren, sowohl rational denken als auch intuitiv erspüren kann. Diesen Weg kannten manche Menschen bereits vor ein paar tausend Jahren. Eine uralte chinesische Weisheit lautet: »Nicht dort, wo du es schon zur Meisterschaft gebracht hast, sollst du dich weiter erproben, sondern dort, wo es dir an solcher Meisterschaft mangelt.« 85 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

4.1 Ungleichgewichte zwischen Gefühl und Verstand Es gibt Menschen, die von ihren Gefühlen so sehr beherrscht werden, daß sie rationalen Argumenten kaum zugänglich sind. Sie treffen ihre Entscheidungen »aus dem Bauch« heraus. Ihre Beziehungen zu anderen Menschen kommen bei ihnen entweder »aus dem Herzen« oder gehen ihnen »zu Herzen«. Es fällt ihnen schwer, und sie lehnen es oft sogar kategorisch ab, ein Problem durch sachliche Analyse mit Hilfe ihres Verstandes zu lösen. Jemand, der das so versucht, ist ihnen zuwider. Sie sind stolz darauf, ein »Gefühlsmensch« zu sein. Sie finden sich so, wie sie sind, völlig in Ordnung und verspüren wenig Lust, darüber nachzudenken, weshalb sie so geworden sind, wie sie sind. Es nützt wenig, einen solchen Menschen daran zu erinnern, daß er möglicherweise während seiner Kindheit eine sehr enge Bindung zu einer primären Bezugsperson (meist war das die Mutter) eingegangen ist, die ihm sehr viel Sicherheit und Geborgenheit geboten hat, nicht weil sie besonders viel wußte oder viel konnte, sondern weil sie einfach immer da war und sich auch dann, wenn es Schwierigkeiten gab, die er als Kind selbst zu lösen imstande war, wie eine Glucke schützend über ihn gestellt hat. Ebenso vergeblich ist es, einen solchen Menschen darauf hinzuweisen, daß es durchaus nicht wünschenswert wäre, wenn alle Menschen so stark wie er von ihren Gefühlen geleitet würden, daß es auch Menschen gibt, deren Herzen von Haß, Habgier, Neid und Eifersucht erfüllt sind und die »aus dem Bauch« heraus andere Menschen vergewaltigen, verstümmeln oder umbringen und dabei größte Lust empfinden. Mit logischen Argumenten ist solchen »Gefühlsmenschen« deshalb so schwer beizukommen, weil ihnen die Erfahrung fehlt und nicht in ihrem Hirn verankert worden ist, daß sich Probleme mit Hilfe ihres Verstandes lösen lassen. Diese Erfahrung können sie nur machen, wenn sie jemanden finden, der 86 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

ihnen hilft, wieder so wie ein dreijähriges Kind Spaß daran zu haben und neugierig darauf zu sein, ihren Verstand zu benutzen, um all das zu begreifen, was um sie herum und in ihnen vorgeht. Sie müssen nicht belehrt, sondern sie müssen ermutigt werden, hinauszugehen und die Welt nicht nur einfach wahrzunehmen, sondern selbst zu entdecken. Es muß ihnen Gelegenheit geboten werden, sich Wissen anzueignen, das ihnen hilft, hinter die Fassade zu schauen, verborgene, von außen nicht sichtbare Zusammenhänge zu erkennen und sich auf diese Weise besser als bisher in der Welt zurechtzufinden. Hilfestellung kann dabei nur jemand bieten, der beides, Denken und Fühlen, gleichermaßen gut entwickelt hat und beides zusammen benutzen kann. Nicht viel anders ergeht es all jenen Menschen, die aufgrund ihrer persönlichen, meist ebenfalls schon sehr früh gemachten Erfahrungen zu der Überzeugung gelangt sind, daß ihr Verstand, ihr angeeignetes Wissen und ihre erworbenen kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten das einzige sind, worauf sie sich verlassen können. Solche Menschen lehnen alles, was aus dem Bauch oder aus dem Herzen kommt, meist kategorisch, ab. Sie mißtrauen ihren eigenen Gefühlen, haben wenig Verständnis für die Empfindungen anderer Menschen und versuchen, alles »mit kühlem Kopf« zu regeln. Sie sind meist sehr stolz auf ihre intellektuellen Fähigkeiten, betrachten sie als eine besondere Begabung, haben aber von sich aus genauso wenig Lust wie die »Gefühlsmenschen«, lange darüber nachzudenken, weshalb sie so geworden sind, wie sie sind. Man kann diese »Verstandesmenschen« aber leichter dazu überreden. Oft finden sie dann selbst heraus, daß es während ihrer Kindheit jemanden gab (meist war das der Vater), der vor allem deshalb großen Eindruck auf sie gemacht hat, weil er anscheinend alles wußte, alles so klar analysieren konnte und sich mit Hilfe seines Verstandes scheinbar bestens in der Welt zurechtfand. Worüber sie nicht gern nachdenken oder gar reden, sind die Gründe dafür, weshalb sie vor ihren Gefüh87 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

len Angst bekommen haben und seit wann sie deshalb begonnen haben, diese »aus dem Bauch« und »aus dem Herzen« kommenden Gefühle mit Hilfe ihres Verstandes zu kontrollieren, also zu unterdrücken. Manchmal gelingt es, einen solchen Menschen zu dem Eingeständnis zu bringen, daß es jemanden gab, der seine Gefühle verletzt hat. Jemand, der ihm ganz am Anfang sehr nahe stand, bei dem er sich bis dahin ganz sicher und geborgen fühlte, und daß er diese Person (meist ist das eine zur Gruppe der Gefühlsmenschen zählende Mutter) seitdem verachtet, ablehnt und vielleicht sogar haßt. Wie es dazu gekommen ist, weiß er nicht, nur daß sie ihm mit ihrer »Gefühlsduselei« furchtbar auf die Nerven gegangen ist, daran kann er sich erinnern. Es fällt diesen Menschen (meist handelt es sich um beruflich recht erfolgreiche Männer) sehr schwer zu begreifen, daß sie selbst es waren, die sich von ihrer engen Bindung an die Mutter gelöst haben, als sie zu merken begannen, daß diese Mutter zu wenig wußte und zu wenig verstand, um sich damit erfolgreich in der Welt draußen außerhalb der Familie behaupten zu können. Weil enttäuschte Liebe als Gefühl nicht auszuhalten ist, haben diese Menschen versucht, ihre Gefühle mit Hilfe ihres Verstandes zu unterdrücken. Je besser das einem enttäuschten Menschen gelungen ist, desto schwerer lassen sich diese vergrabenen Gefühle später wieder hervorholen. Und wenn sie aus irgendwelchen Gründen (meist in einer sexuellen Beziehung) plötzlich hochkommen, sind solche Menschen meist außerstande, damit umzugehen. Was sie wieder lernen müssen, ist nicht, daß es Gefühle gibt, sondern daß es möglich ist, seine Gefühle zuzulassen. Sie müssen wieder lernen, keine Angst mehr vor den eigenen Gefühlen zu haben. Dazu brauchen sie jemanden, der ihnen Gelegenheit gibt, die Erfahrung zu machen, daß die Fähigkeit zu fühlen und diesen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, ihr Leben bereichert, es bunt und abwechslungsreich und sie selbst reicher und liebenswerter macht. Auch diese Hilfestellung kann nur von solchen Menschen kommen, deren Fähigkeiten zum Denken und Fühlen gleichermaßen gut entwickelt sind. 88 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Ohne solche Unterstützung gibt es sowohl für »Gefühls-« wie auch für »Verstandesmenschen« nur noch eine Notlösung, um die in ihrem Gehirn entstandenen einseitigen Verschaltungsmuster aufzulösen: eine schwere seelische Krise. In deren Verlauf kommt es über die Aktivierung einer lang anhaltenden Streßreaktion zur Destabilisierung der in ihrem Hirn etablierten Verschaltungen. Eine solche Krise bietet bisweilen die Chance, die alten, eingefahrenen Denk- und Gefühlsmuster wieder zu verlassen. Sie kann aber allzuleicht zu einer Gefahr für die Aufrechterhaltung der gesamten inneren Ordnung eines Menschen werden. Gelingt es einem Menschen nicht oder nicht rasch genug, die sein bisheriges Denken, Fühlen und Handeln bestimmenden neuronalen Verschaltungen umzugestalten, so wird dieser Destabilisierungsprozeß zu einer lebensgefährlichen (krank machenden) Bedrohung.

4.2 Ungleichgewichte zwischen Abhängigkeit und Autonomie Wenn Kinder zur Welt kommen, sind sie auf die Hilfe Erwachsener angewiesen. Sie brauchen jemanden, der sie wärmt, nährt, sauberhält und sich mit ihnen beschäftigt. Und immer dann, wenn sie Angst haben, brauchen sie jemanden, der ihnen beisteht und ihnen zeigt, daß es möglich ist – und später auch, wie es möglich ist –, diese Angst zu überwinden. Wenn ein Kind das Glück hat, jemanden zu finden, der ihm immer dann, wenn es Angst hat, beisteht und ihm Geborgenheit und Sicherheit bietet, werden all die dabei aktivierten Verschaltungen in seinem Gehirn gebahnt. Auf diese Weise entsteht eine enge Bindung an die primäre Bezugsperson. Viele Mütter wissen das und festigen diese Bindung spielerisch, indem sie sich immer wieder kurzzeitig verstecken, um anschließend, genau dann, wenn das Kind Angst bekommt, 89 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

wieder aufzutauchen. Wenn Kindern das Gefühl vermittelt wird, daß sie in der Lage sind, die verschwundene Mutter durch eine eigene Reaktion wieder herbeizuholen, wächst ihr Vertrauen in ihre eigene Fähigkeit, bedrohliche Situationen meistern zu können. Auch die dabei aktivierten Verschaltungen werden gebahnt. So entsteht Selbstvertrauen, Vertrauen in die eigene Kompetenz bei der Bewältigung von Problemen. Im Verlauf der weiteren Entwicklung erweitert sich der Kreis sicherheitbietender Bezugspersonen, und das Kind eignet sich all die Kompetenzen, Grundhaltungen und Verhaltensweisen an, die diese Personen besitzen und die das Kind für die Aufrechterhaltung seiner inneren Ordnung, für die Bewältigung von Angst und Streß als wichtig bewertet. Indem es sein Wissen, seine Fähigkeiten und seine Kompetenzen erweitert und immer mehr eigene Erfahrungen macht, verlieren die frühen Bindungen ihre ursprüngliche sicherheitbietende Bedeutung. Dramatisch verschärft wird diese Entwicklung während der Pubertät, wenn die dabei einsetzende Produktion von Sexualhormonen zu tiefgreifenden Veränderungen des eigenen Körpers wie auch des bisherigen Denkens, Fühlens und Verhaltens führen. Am Ende dieses Entwicklungsweges ist aus dem anfänglich noch völlig abhängigen Baby ein selbstbestimmender, in ein komplexes Netz sozialer Beziehungen eingebundener Mensch geworden. Leider klappt das nicht immer. Es gibt nicht wenige erwachsene Menschen, denen es nicht gelungen ist oder die nicht genügend Gelegenheit hatten, sich während ihrer Kindheit und Adoleszenz hinreichend viele eigene Kompetenzen anzueignen, vielfältige eigene Erfahrungen zu machen und das für eine autonome Entwicklung erforderliche Selbstvertrauen auszubilden. Sie bleiben entweder in einer abhängigen Beziehung zu ihren primären Bezugspersonen oder suchen sich Partner, mit denen sie diese abhängige Beziehung weiterführen können. Bekommen sie Kinder, so entwickeln sie auch zu diesen eine abhängige und abhängig machende »Klammerbeziehung«. Was solche Menschen brauchen, ist jemand, 90 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

der ihnen Mut macht, eigene Kompetenzen zu entdecken und zur weiteren Lebensgestaltung einzusetzen. Das andere Extrem der Auslenkung des Gleichgewichts zwischen Abhängigkeit und Autonomie findet man bei all jenen Menschen, denen es nicht gelungen ist oder die keine Möglichkeiten hatten, während ihrer frühen Entwicklung stabile, sichere Bindungen zu primären Bezugspersonen herauszubilden. Eine Ursache hierfür ist Mißbrauch, eine andere, häufigere ist Vernachlässigung. Wenn ein Kind in eine Situation gerät, die in krassem Widerspruch zu all seinen bisher erworbenen Erfahrungen steht und an der es mit all seinen bisher angeeigneten und bisher erfolgreich eingesetzten Bewältigungsstrategien scheitert, so kann das zu einer psychischen Traumatisierung führen. Sie stellt den Extremfall einer unkontrollierbaren Belastung dar, die ein Mensch erleben kann. Am häufigsten geraten Mädchen in eine solche Situation, die von ihrem Vater oder einer engen Bezugsperson unter Duldung der Mutter mißhandelt werden. Gelingt es dem Kind nach einer solchen traumatischen Erfahrung nicht, diese unkontrollierbare Streßreaktion irgendwie anzuhalten, so ist es verloren, denn die dadurch ausgelösten Destabilisierungsprozesse können lebensbedrohliche Ausmaße annehmen. Jedes traumatisierte Kind spürt das und wird deshalb mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, die traumatische Erfahrung und die anschließend immer wieder aufflammenden Erinnerungen an das erlebte Trauma unter Kontrolle zu bringen. Bewährte Strategien, die es zur Bewältigung seiner Ängste eingesetzt hat, wurden angesichts des erlebten Traumas ad absurdum geführt. Auf elterliche Unterstützung kann es sich nicht mehr verlassen. Der Glaube an eine fremde, göttliche Macht ist ihm ebenso verlorengegangen wie der Glaube an seine eigene Kraft. Die einzige Strategie, die ihm nun noch Linderung verschaffen kann, ist die Abkoppelung der traumatischen Erfahrung aus dem Erinnerungsschatz, ihre Ausklammerung durch eine gezielt veränderte Wahrnehmung und assoziative Verarbeitung von 91 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Phänomenen der Außenwelt. Es ist gezwungen, innere Schutzmechanismen gegen die immer wieder aufflackernden Erinnerungen an das Trauma aufzubauen. Falls es eine Strategie findet,die es ihm ermöglicht,die traumatische Erinnerung und die damit einhergehende unkontrollierbare Streßreaktion kontrollierbar zu machen, hört der Destabilisierungsprozeß auf, und es werden nun all die neuronalen Verschaltungen gefestigt und gebahnt, die zur »erfolgreichen« Bewältigung seiner durch die traumatischen Erinnerung ausgelösten Ängste aktiviert werden. Auf diese Weise entstehen zunächst kleine, durch ihre wiederholte »erfolgreiche« Nutzung aber schließlich immer breiter und effektiver werdende zentralnervöse »Umgehungsstraßen« und »Umleitungen«, »Verbotszonen« und »Rastplätze«. Manchen mißhandelten Kindern gelingt es auf diese Weise, die Erinnerung an das erlebte Trauma zu unterdrücken. Manche spalten sich in zwei Personen, von denen nur eine mißbraucht, die andere aber unversehrt geblieben ist. Manche betrachten die mißhandelten Bereiche ihres Körpers als ihnen nicht mehr zugehörig und verlieren dort alle Empfindungen. Manche verfallen in stereotype Bewegungsmuster oder versuchen, sich immer wieder selbst zu verletzen. Gefunden werden diese Lösungen mehr oder weniger rasch und meist intuitiv, aber bis die dabei benutzten Verschaltungen hinreichend effektiv gebahnt sind, können Monate und Jahre vergehen. Die dabei ablaufenden Bahnungsprozesse können so tiefgreifend und weitreichend werden, daß die Erinnerung an das traumatische Erlebnis schließlich nicht mehr abrufbar ist. Zwangsläufig sind all diese gebahnten Abwehrstrategien daher individuelle Lösungen, die sich deutlich von den »normalen« Bewältigungsstrategien nicht traumatisierter Kinder unterscheiden. Damit geraten solche traumatisierten Kinder in ein »soziales Abseits« und werden oft als persönlichkeitsgestört oder antisozial bezeichnet. So schließt sich ein fataler Teufelskreis, aus dem das betroffene Kind auch dann, wenn es erwachsen geworden ist, aus eigener Kraft nicht mehr herausfindet. 92 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Eine zweite, weitaus häufigere Ursache für die Entstehung früher Bindungsstörungen ist ein Mangel an emotionaler Zuwendung. Es gibt viele Eltern, die noch sehr stark mit sich selbst beschäftigt sind, denen ihre berufliche Karriere enorm wichtig ist, die sich selbst verwirklichen, viel erleben und das Leben genießen wollen. Sie kümmern sich intensiv um ihr Aussehen, ihre Hobbys, ihre Wohnungseinrichtung und um die Anschaffung und Zurschaustellung unterschiedlicher Statussymbole. Kinder sind solch selbstbezogenen Eltern bei der Verwirklichung ihrer individuellen Ziele oft hinderlich, und sie werden ihnen mit ihrem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Geborgenheit und Zuwendung allzuleicht lästig. Meist tun diese Eltern ihre Pflicht, jedenfalls das, was sie für ihre Pflicht halten, und das bisweilen sogar besonders gut. Sie sorgen für eine richtige Ernährung, für Sauberkeit und hygienische Verhältnisse, ansprechende, modische Kleidung und allen möglichen äußerlichen Klimbim, von dem sie glauben, er sei wichtig für ihr Kind. Sie beruhigen ihr (schlechtes) Gewissen, indem sie das Kind nach Kräften verwöhnen. Was ihr Kind aber wirklich braucht, nämlich daß sie ganz und gar da sind, daß sie sich ihm voll und ganz, also emotional, geistig und körperlich zuwenden, wenn es verunsichert ist und Angst hat, schenken diese Eltern ihren Kinder nicht oder zumindest nicht dann, wenn sie es besonders dringend brauchen. Deshalb sind solche Kinder oft bereits sehr früh gezwungen, sich auf sich selbst zu verlassen. Bei ihnen ist die emotionale Bindung an primäre Bezugspersonen nur unzureichend entwickelt. Sie sind gezwungen, den daraus resultierenden Mangel an emotionaler Sicherheit durch verstärkte Selbstbezogenheit zu kompensieren. So schaffen sie sich eine eigene, von ihnen selbst bestimmte Lebenswelt und schirmen sich gegenüber fremden Einflüssen und Anregungen ab, die nicht mit ihren Vorstellungen übereinstimmen. In dieser Welt gibt es keine wirklichen Herausforderungen mehr. Es können keine vielfältigen neuen Erfahrungen gemacht und im sich entwickelnden Gehirn verankert 93 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

werden. Wichtige Entwicklungsprozesse im kindlichen Gehirn finden nicht mehr oder nur eingeschränkt statt. Für das Lernverhalten der Kinder bedeutet dies ein Rückgang an Motivation, Verstehen, Behalten, Erinnern, Erkennen von Zusammenhängen und eine eingeschränkte Fähigkeit beim Erkennen und Lösen von Konflikten. Ihr Sozialverhalten wird bestimmt von zunehmendem Rückzug in selbstgeschaffene Welten, Ablehnung fremder Vorstellungen und aggressiver Verteidigung ihrer eigenen Ansichten und Haltungen. Meist handelt es sich hierbei um sehr rigide, einseitige, pseudoautonome Strategien der Angstbewältigung. Die dabei aktivierten neuronalen Verschaltungen werden um so nachhaltiger gebahnt, je früher und je häufiger sie eingesetzt werden. Sie können schließlich das gesamte Fühlen, Denken und Handeln dieser Kinder bestimmen. Die betreffenden Kinder grenzen sich zunehmend von den Vorstellungen anderer ab, vor allem denen Erwachsener. Ihr mangelndes Einfühlungsvermögen behindert sie beim Erwerb einer Vielzahl unterschiedlicher sozialer Kompetenzen. Damit fehlt ihnen die Grundvoraussetzung dafür, um gemeinsam mit möglichst vielen, unterschiedlichen Menschen nach tragfähigen Lösungen suchen und Verantwortung für sich und andere übernehmen zu können. Die Auswirkungen früher Bindungsstörungen auf die Entwicklung des Gehirns und der Persönlichkeit sind im späteren Leben nur schwer korrigierbar. Menschen, die bereits als Kinder mißhandelt oder vernachlässigt worden sind, haben Angst vor körperlicher und emotionaler Nähe. Wenn es ihnen nicht gelingt, diese Angst zu überwinden, bleiben sie zeitlebens isoliert, ichbezogen und bindungsunfähig. Manche haben Glück und finden jemanden, der sie versteht und ihnen hilft, allmählich wieder Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen, das Vertrauen in menschliche Bindungen wiederzuerlangen und sich auf die gemeinsame Suche nach gemeinsamen Lösungen einzulassen. Manche scheitern irgendwann an den selbstzerstörerischen Folgen ihrer autonomen Bewältigungs94 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

strategien. Sie werden krank und durchlaufen eine schwere seelische Krise, die ihnen unter glücklichen Umständen Gelegenheit zu einem Neuanfang bietet. Aber auch dieser Neuanfang kann nur gelingen, wenn ihnen jemand dabei hilft, und zwar jemand, der selbst ein Gleichgewicht zwischen Autonomie und Abhängigkeit gefunden hat.

4.3 Ungleichgewichte zwischen Offenheit und Abgrenzung Manche Kinder kommen bereits mit einer unglaublichen Offenheit zur Welt, bei manchen entwickelt sie sich erst nach der Geburt. Sie sind bereits als Kleinkinder enorm wach und aufnahmefähig, allem Neuen interessiert zugewandt, schlafen wenig und scheinen vor nichts Angst zu haben. Sie besitzen einen ungeheuren Drang, sich zu bewegen und das, was in ihnen vorgeht, zum Ausdruck zu bringen. Diese Kinder neigen dazu, mehr in sich aufzunehmen, als sie tatsächlich verarbeiten, das heißt, zu konsistenten inneren Bildern der sie umgebenden äußeren Welt zusammenfügen können. Sie laufen deshalb allzuleicht Gefahr, in der auf sie einströmenden Flut von Informationen zu ertrinken, vor allem dann, wenn sie deren Bedeutungsgehalt noch nicht erschließen können. Wenn es ihren Eltern nicht gelingt, ein Umfeld zu schaffen, das hinreichend geordnet und strukturiert ist, kann ihnen ihre besondere Begabung zum Verhängnis werden. Die Strategien, die sie zur Abwehr dieser Reizüberflutung entwickeln, reichen von Verhaltensauffälligkeiten über Aufmerksamkeitsstörungen bis hin zur Ausbildung eines hyperkinetischen Syndroms (»Zappelphilipp«). Zu starker Offenheit läßt sich nur durch um so stärkere Strukturierung des Alltagsgeschehens begegnen, nicht um das Erleben des Kindes einzuschränken, sondern um ihm die Möglichkeit zu bieten, all das, was gleichzeitig auf sein Gehirn 95 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

einströmt, ordnen, sortieren und damit kontrollierbar machen zu können. Das andere Extrem findet man bei Menschen, die ebenfalls oft bereits als Babys oder Kleinkinder dadurch auffallen, daß sie sich nur extrem wenig von all dem beeindrucken lassen, was um sie herum geschieht. Sie wirken irgendwie abwesend und in sich gekehrt, sind nicht sehr neugierig und wenig begeisterungsfähig. Ihr Bedürfnis oder ihre Fähigkeit, all das, was in ihnen vorgeht, zum Ausdruck zu bringen, ist nicht besonders ausgeprägt. Wenn sie spielen, dann am liebsten immer das gleiche, und wenn sie sich bewegen, dann am liebsten nicht allzu wild und ungestüm. Diese Kinder sind nicht besonders ängstlich, sondern machen eher den Eindruck, als ruhten sie unerschütterlich in sich selbst wie ein Fels in der Brandung. Auch das ist eine besondere Begabung, aber zu starke Verschlossenheit kann sich ebenso nachteilig auf die weitere Entwicklung auswirken wie übermäßige Offenheit. Zu stark verschlossene Kinder laufen Gefahr, zu wenig von der Welt mitzubekommen. Da in ihrer Welt dann auch wenig passiert, können sie nur selten die Erfahrung machen, daß es wichtig ist, eigene Kompetenzen zu erwerben, von anderen Menschen bei der Lösung ihrer Probleme unterstützt zu werden und selbst für andere von Bedeutung zu sein. Sie entwickeln so weder hinreichend starke Bindungen zu anderen Menschen noch besonders viele eigene Kompetenzen. Was ihnen helfen kann und was sie brauchen, ist genau das Gegenteil von dem, was diejenigen brauchen, die zu aufnahmefähig und zu offen sind. Sie brauchen Menschen, von denen hinreichend starke Reize ausgehen, die etwas mehr Chaos in ihre Welt bringen, etwas mehr Unvorhersehbarkeit, Unregelmäßigkeit und Unstrukturiertheit, also Menschen, mit denen sie immer wieder etwas erleben, das ihnen unter die Haut geht, ihr emotionales Gleichgewicht erschüttert und sie zwingt, nach neuen Lösungen zu suchen.

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5 Unterhaltungs- und Wartungsmaßnahmen

Hätten Sie das Gehirn eines Maulwurfs, so könnten Sie es zeitlebens nur so benutzen, wie es sich aufgrund der darin angelegten neuronalen Verschaltungen benutzen läßt: eben für ein Leben als Maulwurf. Und indem Sie so ein Maulwurfleben führten, hätten Sie auch schon alles getan, was an Unterhaltungs- und Wartungsmaßnahmen für ein solches Gehirn erforderlich ist. Ihr Gehirn ist aber nicht so fest verdrahtet wie das eines Maulwurfs, und Sie können es für viele, sehr verschiedene Aufgaben einsetzen. Wenn Sie es wollen, können Sie Ihr Gehirn durch jahrelange Übungen bei einem persischen SufiMeister so weit bringen, daß es Sie ohne zurückzuschrecken über glühende Kohlen laufen oder Pfeile durch ihre sensibelsten Körperteile stecken läßt. Sie können ihm bei einem indischen Jogi beibringen, Ihre Atmung, Ihren Herzschlag und eine Reihe anderer, normalerweise autonom von tieferen Zentren Ihres Gehirns gesteuerter Körperfunktionen so stark willentlich zu beeinflussen, daß Ihr Arzt, wenn Sie ihm diese Fähigkeiten vorführen, an allem zu zweifeln beginnt, was er in seinen westlichen Lehrbüchern bisher über autonome Regulation gelernt hat. Sie können auch bei den Inuit, den Eskimos, lernen, wie man zwanzig verschiedene Eissorten auseinanderhält, und bei den Eingeborenen des Amazonasgebiets, daß sich über hundert verschiedene Abstufungen der Farbe Grün erkennen und benennen lassen. Wenn Sie wollen, können Sie aber auch Jongleur werden und Ihr Gehirn dazu bringen, seine Fähigkeiten der Bewegungskoordination so lange auszubauen, bis Sie mit zwei Händen sieben Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten imstande sind. Und 97 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

wenn Ihnen nichts anderes einfällt, haben Sie auch die Möglichkeit, Ihr Gehirn besonders intensiv mit dem Betrachten bunter Bilder im Fernsehen, mit dem Lösen von Kreuzworträtseln, mit Computerspielen oder mit dem Auswendiglernen von Telefonbüchern zu beschäftigen. Auch dabei werden bestimmte neuronale Verschaltungen benutzt und stabilisiert. Der Mensch kann sich also im Unterschied zum Maulwurf nicht nur frei entscheiden, wofür er sein Gehirn benutzen will, sondern auch, was er daraus machen möchte. Immer dann, wenn er eine bestimmte Entscheidung gefällt hat und sie konsequent zu verwirklichen beginnt, braucht er sich um weitere Unterhaltungs- und Wartungsmaßnahmen für sein Gehirn eigentlich nicht mehr zu kümmern. Er darf sich nur nicht mehr von dem einmal eingeschlagenen Weg abbringen lassen. Sein Gehirn wird allein dadurch, daß er es künftig nur noch dafür benutzt, wofür er sich einmal entschieden hat, in seiner inneren Organisation immer besser an die von ihm verlangten Leistungen angepaßt. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, und wenn der Wille stark genug ist und derselbe Weg immer wieder benutzt wird, entsteht daraus allmählich eine Straße und irgendwann sogar eine Autobahn, auch im Hirn. Und weil es dann immer schwerer fällt, diese eingefahrenen Bahnen später wieder einmal zu verlassen, sollte die Entscheidung, wie und wofür man sein Gehirn benutzt, mit viel Umsicht und Bedacht gefällt werden. Es wäre beispielsweise nicht sehr klug, eine solche Entscheidung von irgendwelchen, zufälligerweise in seinem Leben eine Zeitlang vorgefundenen Möglichkeiten und Erfordernissen abhängig zu machen, denn sie muß auf lange Sicht tragfähig sein und zumindest alle absehbaren zukünftigen Entwicklungen einbeziehen. Eine solche Entscheidung sollte auch dann noch richtig bleiben, wenn man älter wird und sich die eigenen Bedürfnisse zu ändern beginnen. Und sie darf nicht hinderlich werden, wenn es später wieder einmal erforderlich wird, das eigene Fühlen, Denken und Handeln an die 98 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

immer wieder neuen Erfordernisse einer sich zwangsläufig verändernden Lebenswelt anzupassen. Es wäre auch recht kurzsichtig, die Entscheidung darüber, wie und wofür man sein Hirn benutzen will, lediglich von den jeweiligen Gegebenheiten, Möglichkeiten und Notwendigkeiten abhängig zu machen, die man dort, wo man lebt, also in einer bestimmten Familie, in einer bestimmten dörflichen oder städtischen Gemeinschaft, in einem bestimmten Kulturkreis, zu einem bestimmten Zeitpunkt vorfindet. Niemand kann ausschließen, daß er später einmal von dort wegzieht oder daß sich die Zeiten und damit auch die von ihm an einem bestimmten Ort vorgefundenen Verhältnisse ändern. Allzuleicht kann es einem dann so ähnlich ergehen wie einem Maulwurf, der aus irgendeinem Grund zwischen die duftenden Blumen einer sonnenbeschienenen Wiese geraten ist oder wie der Gans von Konrad Lorenz, die, weil sie nun einmal bei ihm aufgewachsen ist, für den Rest ihres Lebens denkt, daß die Welt des alten Mannes die einzig rechte Gänsewelt und jemand, der wie er aussieht, eine Gans wie sie sei. Aber weder Gänse noch Maulwürfe werden uns um unsere Entscheidungsfreiheit allzusehr beneiden. Sie können sich nämlich normalerweise sehr gut auf das verlassen, was in ihr Hirn einprogrammiert worden ist. Wir Menschen jedoch haben ein Gehirn, das sich erst durch die Art seiner Benutzung gewissermaßen selbst programmiert. Wir müssen uns also entscheiden, wie und wofür wir es benutzen. Entschließt sich ein Mensch, gar keine derartige Entscheidung zu treffen, so werden die endgültigen Verschaltungen in seinem Gehirn automatisch durch die genetischen Prädispositionen und die Gegebenheiten bestimmt, unter denen er aufwächst und lebt. Er bleibt so ein Gefangener seiner passiv übernommenen Anlagen und vorgefundenen Verhältnisse. Und wenn sich ein Mensch dafür entscheidet, sein Gehirn auf eine ganz bestimmte Weise für einen bestimmten Zweck zu benutzen, so läuft er Gefahr, daß sich die innere Organisation seines Gehirns an diese Art der einseitigen Nutzung immer besser an99 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

paßt. Er wird so zunehmend zu einem Gefangenen seiner einmal getroffenen Entscheidung. Frei können wir also nur bleiben, indem wir uns bereits so früh wie möglich und mit so viel Umsicht wie möglich entscheiden, wie und wofür wir unser Gehirn benutzen wollen. Das ist aus mehreren Gründen komplizierter und erfordert weitaus mehr, als man denkt. Beispielsweise kann kein Mensch eine freie Entscheidung darüber treffen, wie und wozu er sein Gehirn benutzen will, solange er hungert, friert, materielle Not leidet oder seelischen Qualen ausgesetzt ist. Das gleiche gilt aber auch für all jene Menschen, die ständig befürchten müssen, daß ihnen das, was sie haben, ihr Reichtum, ihre Macht, ihr Einfluß und ihre Sicherheit von denen weggenommen wird, die all das nicht haben. Menschen, deren Denken und Handeln ausschließlich von ihren Gefühlen beherrscht wird, können ebensowenig frei darüber entscheiden, wie sie ihr Gehirn benutzen wollen, wie solche, die sich ausschließlich von ihrem Verstand leiten lassen und dabei all ihre Gefühle unterdrücken. Und schließlich kann sich auch niemand frei entscheiden, wie und wozu er sein Gehirn benutzen will, solange er nicht die geringste Ahnung davon hat, was in seinem Hirn überhaupt vorgeht und auf welch unterschiedliche Weise er es überhaupt benutzen und strukturieren könnte. Das betrifft sowohl diejenigen, die bisher gar keine Gelegenheit hatten, sich solches Wissen anzueignen, wie auch diejenigen, die mit einer Flut von Informationen so lange überschüttet worden sind, bis ihnen irgendwann nicht nur die Übersicht, sondern auch die Fähigkeit verlorengegangen ist, Wichtiges von Unwichtigem und Falsches von Richtigem zu trennen. Eine solch umsichtige Entscheidung über die Benutzung des Gehirns, die all das einbezieht, was sich an Wichtigem bisher bereits ereignet hat und was sich in Zukunft noch ereignen kann, läßt sich also weder allein aus dem Bauch heraus noch allein vom Kopf her treffen, und schon gar nicht, solange einer von beiden entweder zu voll oder zu leer ist. 100 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Nicht nur jeder einzelne Mensch, sondern auch die Gesamtheit der Menschen eines bestimmten Kulturkreises durchlebt im Verlauf der Entwicklung immer zunächst eine Phase, in der das Gefühl aus dem Bauch stärker ist als der Verstand im Kopf. Um diese starken, aus dem Bauch kommenden Bedürfnisse zu befriedigen, gibt es für ein menschliches Gehirn auf Dauer nur eine Lösung, nämlich den Verstand stärker zu benutzen und damit auch besser zu entwickeln. Wenn Menschen damit beginnen, zunehmend auch ihren Kopf einzusetzen, um die aus ihrem Bauch kommenden Bedürfnisse zu befriedigen, gelangen sie über kurz oder lang auch zu der Erkenntnis, daß ihnen das gemeinsam besser gelingt als allein. Dazu müssen sich alle Beteiligten lediglich darüber einig werden, welches Gefühl von ihnen als besonders drängend erachtet wird und welche Strategien zur Befriedigung dieses Gefühls von allen als besonders aussichtsreich und erfolgversprechend bewertet werden. Je besser diese Einigung gelingt, um so größer werden die gemeinsamen Anstrengungen, und dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis das angestrebte Ziel auch tatsächlich erreicht wird. Diejenigen, die genug zu essen haben wollten, sind dann satt. Diejenigen, die sich von anderen bedroht fühlten, haben dann entweder schützende Mauern um sich herum gebaut oder alles, was sie bisher bedrohte, unterworfen. Und diejenigen, die ein bequemes Leben führen wollten, sitzen nun in ihren komfortablen Wohnstuben herum. Der Bauch ist gefüllt, aber das gemeinsame Ziel, das sie bisher bei der Benutzung ihres Gehirns so lange Zeit geleitet hatte, ist ihnen abhanden gekommen. Damit ist auch ihre gemeinsame Suche nach gemeinsamen Lösungen zu Ende. Jeder macht sich fortan wieder auf seinen eigenen Weg. Vieles von dem, was bis dahin bereits entstanden war, beginnt nun wieder zu zerfallen und in Vergessenheit zu geraten. Wichtige Erfahrungen, die diese Menschen über Generationen auf dem Weg zur Erreichung ihres gemeinsamen Ziels gesammelt und die ihr Gehirn und das ihrer Nachkommen ganz entscheidend geprägt hatten, können nicht mehr gemacht 101 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

werden und verlieren all ihren einstigen Wert. Orientierungslosigkeit macht sich breit. Da mit dem alten Denken angesichts der neuen Verhältnisse nicht mehr viel anzufangen ist, meldet sich irgendwann wieder das Gefühl der Unzufriedenheit zu Wort. Falls der Zerfall der Gesellschaft so weit fortgeschritten ist, daß es erneut am Nötigsten mangelt, daß man wieder von Feinden bedroht wird oder daß es inzwischen mit aller Bequemlichkeit vorbei ist, beginnt das alte Spiel wieder von vorn: Das gemeinsam empfundene Gefühl bestimmt das gemeinsam verfolgte Ziel, und wenn es erreicht ist, fällt alles wieder auseinander. Aber eben doch nicht ganz, denn jedesmal bleibt bei diesen scheinbar sinnlosen Zyklen etwas zurück: ein bißchen mehr Wissen, ein paar besondere Fähigkeiten und einige neue Erfahrungen. Vielleicht auch einige der Fähigkeiten und etwas von dem Wissen derjenigen Menschen aus anderen, ehemals fremden Kulturen, mit denen man bei seiner Suche in Berührung gekommen ist. Und solange all dieses Wissen und die daraus abgeleiteten Fähigkeiten und solange all diese Erfahrungen und die daraus abgeleiteten Erkenntnisse nicht in einem späteren Taumel der Orientierungslosigkeit wieder zerstört oder unbrauchbar gemacht werden, beginnt sich der von den Menschen in den unterschiedlichsten Kulturkreisen über viele Generationen hinweg gesammelte Erfahrungsschatz immer stärker auszuweiten und miteinander zu verschmelzen. Dieser Prozeß vollzieht sich in Stufen, es sind Stufen der Wahrnehmung, Stufen der Erkenntnis und Stufen des Bewußtseins. Auf jeder dieser Stufen werden neue Möglichkeiten für eine umfassendere, komplexere Nutzung des Gehirns eröffnet und damit auch immer bessere Voraussetzungen für die Entfaltung der Potenzen zur Herausbildung eines menschlichen Gehirns geschaffen. Unter besonders günstigen Bedingungen gelingt den Menschen eines bestimmten Kulturkreises bisweilen ein besonders großer Sprung auf dieser Stufenleiter. Doch neben diesen Sternstunden gibt es auch immer wieder Bedingungen, die 102 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

den Rückfall von einer bereits erreichten, komplexeren, aber noch instabilen Ebene auf eine einfachere, dafür aber stabilere Stufe der Benutzung des Gehirns begünstigen. Selbst unter den günstigsten Bedingungen sind es zunächst nur einzelne Vorreiter, denen der Sprung auf eine komplexere Ebene gelingt und die diesen Weg für viele andere begehbar machen. Und selbst unter den ungünstigsten Bedingungen gibt es immer einzelne, die nicht bereit sind, den anderen bei ihrem Abstieg auf eine einfachere Ebene der Wahrnehmung, der Erkenntnis und des Bewußtseins zu folgen. Was diese besonders weitsichtigen und umsichtigen, mutigen Menschen auszeichnet, ist nicht ihr Aussehen, ihre Macht oder ihr Einfluß, sondern die Art und Weise, wie sie ihr Gehirn benutzen: so ganzheitlich und so umfassend wie möglich. Denn was sie suchen, ist nicht etwas Bestimmtes, sondern so viel wie möglich. Und da sich dieses Ziel nie erreichen läßt, machen sie den Weg dorthin zu ihrem Ziel.

5.1 Auf der Stufenleiter der Wahrnehmung Sechs Sinne, so steht es in unseren Lehrbüchern, hat der Mensch. Er kann damit sehen, riechen, schmecken, tasten, hören und merken, wenn er aus dem Gleichgewicht gerät. Mit Hilfe dieser Wahrnehmungen finden wir uns in der äußeren Welt zurecht und entwickeln eine in Form bestimmter Verschaltungsmuster im Gehirn gespeicherte Vorstellung davon, wie diese Welt beschaffen ist, wie sie sich verändern kann und ab wann von dort draußen Gefahr droht. Das aus all diesen Sinneseindrücken zusammengesetzte Bild ist freilich kein wahres Abbild der tatsächlichen Beschaffenheit der äußeren Welt, sondern lediglich das Bild, das wir uns mit all unseren Beschränkungen von dieser Welt machen können. Wir können nur Licht bestimmter Wellenlänge sehen, Töne bestimmter Frequenzen hören, nicht alles riechen, schmecken und er103 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

tasten, was es dort draußen gibt, sondern nur das, was im Lauf der Evolution unserer Spezies für das Überleben und für die Fortpflanzung bedeutsam war. Trotz dieser Beschränkungen reicht das, was wir mit Hilfe unserer Sinne aus unserer Außenwelt mitbekommen, normalerweise aus, um in dieser Welt zu überleben und uns gelegentlich an ihr erfreuen zu können. Daß unser Gehirn in der Lage ist, noch eine ganze Menge zusätzlicher aus unserer Innenwelt kommender Signale wahrzunehmen und zur Regulation unserer inneren Ordnung zu benutzen, wird uns selten bewußt. Veränderungen des Blutzuckerspiegels, der Konzentration von Sauerstoff und Kohlendioxid, der Körpertemperatur, des Muskeltonus, des Blutflusses, der Aktivität unserer inneren Organe und der von ihnen produzierten Signale, Hormone und Mediatoren, all das und noch vieles mehr von dem, was in unserem Körper passiert, nimmt unser Gehirn ebenfalls wahr, aber ohne daß wir das merken. Es macht sich so ständig ein Bild davon, was in uns vorgeht. Und immer dann, wenn sich an diesem Bild unserer inneren Welt irgend etwas verschiebt und aus dem Rahmen zu fallen droht, leitet das Gehirn eine Gegenreaktion ein, um das ursprüngliche innere Gleichgewicht wiederherzustellen. Auch davon merken wir normalerweise nichts. Nur manchmal ist die Störung unserer inneren Ordnung besonders heftig, und die von unserem Gehirn in Gang gesetzte Gegenreaktion fällt dann etwas kräftiger und deutlicher aus. Dann spüren wir, daß irgend etwas nicht stimmt, dann schnappen wir nach Luft (weil Sauerstoff fehlt), uns wird übel (weil wir etwas Unverträgliches gegessen haben), wir haben Hunger, und uns wird mulmig oder gar schwindelig (weil der Blutzuckerspiegel zu stark gesunken ist), wir bekommen Gänsehaut und Schüttelfrost, oder aber wir schwitzen und drehen die Heizung ab (weil die Körpertemperatur abgefallen oder angestiegen ist), wir bekommen Durst (weil die Salzkonzentration im Blut nicht mehr stimmt), legen uns ins Bett (weil wir erschöpft sind), bekommen Lust auf Sex (weil der Testosteronspiegel an104 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

gestiegen ist), oder diese Lust vergeht uns (weil wir Angst haben und Streßhormone vermehrt ausgeschüttet werden, die die Testosteronproduktion unterdrücken), oder wir verspüren einen unwiderstehlichen Appetit auf Süßes und Fettiges (weil das Stoffwechselveränderungen in unserem Gehirn auslöst,die einen beruhigenden Effekt haben). Unser Gehirn ist also in der Lage, nicht nur all das wahrzunehmen, was in der äußeren Welt passiert und bedrohlich werden könnte, sondern auch das, was in uns passiert und die in unserer Innenwelt normalerweise bestehende Ordnung bedroht. Und immer dann, wenn diese Innenwelt in Unordnung gerät, löst das Gehirn Antworten und Reaktionen aus, die geeignet sind, die entstandenen Störungen unserer inneren Ordnung wiederherzustellen. Das ist nichts Besonderes, das machen alle Gehirne so, auch die von Tieren. Es handelt sich hier um die unterste, primitivste Stufe der Wahrnehmungsfähigkeit. Was Tiere nicht so gut beherrschen wie wir, ist die Kunst, diese Wahrnehmungen zu bewerten, ihnen also einen größeren oder geringeren Bedeutungsgehalt zuzuschreiben. Wir sind in der Lage, ganz bestimmte Veränderungen unserer äußeren, aber auch unserer inneren Welt als besonders wichtig zu erachten. Indem wir all diejenigen neuronalen Verschaltungen besonders häufig und intensiv aktivieren, die an der Aufnahme, Verarbeitung und Abspeicherung derartiger Veränderungen beteiligt sind, werden diese Verschaltungen auch besonders gut herausgeformt und sind leichter aktivierbar als andere. Wir können dann ganz bestimmte Phänomene besser und rascher wahrnehmen und erfassen als andere, sind gewissermaßen für bestimmte Wahrnehmungen sensibilisiert, haben unsere Sinne in einer ganz bestimmten Weise »geschärft«. Aber wir sind auch Meister, wenn es darum geht, unsere Sinne abzustumpfen, indem wir bestimmte Wahrnehmungen zunächst bewußt und später – wenn die dafür erforderlichen Verschaltungen hinreichend gebahnt sind – unbewußt unterdrücken. Das hat irgendwann meist recht fatale Folgen. Unse105 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

rer Fähigkeit, auf ganz Bestimmtes ganz besonders achten zu können, verdanken wir manche große Entdeckung, aber auch manchen blinden Alarm in der Menschheitsgeschichte. Einzelne Menschen haben es darin so weit gebracht, daß sie Dinge sehen können, für die alle anderen blind sind, und eintretende Veränderungen bereits erspüren und erahnen, von denen alle anderen noch keinen blassen Dunst haben. Und immer wieder gibt es neben diesen Wahrnehmungsspezialisten und Propheten auch solche, die »das Gras wachsen hören« und die Zukunft aus dem Stand der Gestirne und den Knochen verbrannter Ziegen vorherzusagen versuchen. Was die wahren Propheten und Seher von den falschen unterscheidet, ist der Umstand, daß es ihnen im Lauf ihrer Entwicklung gelungen ist, all ihre Sinne, und zwar sowohl die zur Wahrnehmung von Veränderungen in ihrer äußeren Welt als auch die zur Wahrnehmung dessen, was in ihnen geschieht, gleichzeitig zu schärfen, und daß sie die Fähigkeit entwickelt haben, all diese Sinne gleichzeitig und gleichgewichtig zu gebrauchen. Sie haben damit die höchste Stufe der Wahrnehmungsfähigkeit eines menschlichen Gehirns erreicht. Dorthin kann nur jemand gelangen, dem es im Lauf seines Lebens immer wieder gelungen ist, ein Gleichgewicht zwischen Gefühl und Verstand, zwischen Abhängigkeit und Autonomie sowie zwischen Offenheit und Abgrenzung zu finden. Um seine Sinne in dieser Weise zu schärfen, muß ein Mensch lernen, sowohl festhalten als auch loslassen zu können. Er muß die Fähigkeit entwickeln, sich einer bestimmten Wahrnehmung voll und ganz zu widmen, sie in sich aufzunehmen und zu spüren, was diese Wahrnehmung in ihm auslöst. Und er muß das dabei entstehende innere Bild mit all den dort bereits entstandenen Bildern zu einem einheitlichen ganzen Bild, das dann eher einer Empfindung gleicht, verschmelzen lassen. Dabei darf er nicht selbst vor Begeisterung über diese Empfindung »dahinschmelzen«, sondern er muß sich wieder davon lösen können und sie doch fortan in sich bewahren. Nur so ist er später in der Lage, neue, andere Wahrnehmungen über andere Sinnes106 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

eingänge aus seiner äußeren wie auch aus seiner inneren Welt mit der gleichen Intensität aufzunehmen und zu spüren, was dabei in ihm und mit ihm geschieht, und die dabei entstandenen »Empfindungsbilder« mit allen anderen, bereits abgespeicherten zu einem immer umfassenderen Bild seiner inneren und äußeren Wirklichkeit zusammenfügen. Jeder von uns hat das einmal zumindest in Ansätzen gekonnt, als er noch ein Kind war. Viele haben diese Fähigkeit später wieder verloren. Sie empfinden nur noch selten etwas, wenn sie eine Veränderung ihrer äußeren oder inneren Welt wahrnehmen, und es sind nur noch wenige und sehr verblaßte Bilder, die durch bestimmte Empfindungen in ihnen wachgerufen werden. Die verlorengegangene Fähigkeit, bestimmte Bilder, Gerüche oder Geräusche mit bestimmten Gefühlen zu koppeln, die Welt nicht mehr nur noch fortwährend abzuscannen oder ständig mit einer ganz engen Brille zu betrachten, sondern das, was dort draußen geschieht, in sich hineinzulassen und mit all den Bildern zu verknüpfen, die dort schon entstanden sind, diese für ein menschliches Gehirn charakteristische Fähigkeit kann wiedererlangt werden. Man kann sie wieder einüben. Aber man braucht dazu Muße, ein stabiles inneres Gleichgewicht, eine störungsfreie Umgebung und einen festen Willen. Wer letzteres nicht hat und ersteres nicht findet, dessen Wahrnehmungsfähigkeit wird zwangsläufig auch weiterhin von den Verhältnissen bestimmt, die ihn immer wieder dazu zwingen, bestimmte Sinne auf eine ganz bestimmte Art zu benutzen. Seine Wahrnehmungsfähigkeit wird dann eben ohne sein Zutun, sozusagen automatisch, an die Art und Weise angepaßt, wie er seine Sinne benutzt. Der Abstieg auf der Stufenleiter der Wahrnehmungen funktioniert von allein; hinauf jedoch geht es nur, wenn man auch dorthin will. Und um dorthin kommen zu wollen, braucht man einen Grund.

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5.2 Auf der Stufenleiter der Empfindungen Immer dann, wenn in der äußeren Welt oder aber in der vom Gehirn wahrgenommenen Körperwelt eine Veränderung auftritt, die zu einer Verschiebung des bisherigen Gleichgewichts, der bisherigen Harmonie der im Gehirn ablaufenden Informationsverarbeitungsprozesse führt, entsteht ein Gefühl. Dieses Gefühl sagt uns, daß irgend etwas draußen, um uns herum, oder innen, in uns selbst, nicht stimmt. Am häufigsten erleben wir dieses Gefühl, wenn wir etwas wahrnehmen, das nicht zu dem paßt, was wir erwarten, wenn Anforderungen an uns gestellt werden, die wir nicht erfüllen können, wenn uns jemand verletzt, enttäuscht oder betrogen hat. Wir haben viele Namen für dieses Gefühl: Verunsicherung, Verzweiflung, Ohnmacht, Hilflosigkeit. Aber auch dann, wenn wir es nicht wahrhaben wollen, bleibt es doch, was es ist: Angst. Und immer dann, wenn es uns auf irgendeine Weise gelungen ist, die bisherige innere Ordnung in unserem Gehirn und damit auch in unserem Körper wiederherzustellen, nehmen wir auch das als Gefühl wahr, dem wir ebenfalls verschiedene Namen geben: Hoffnung, Befriedigung, Zuversicht, manchmal sogar Lust. Aber auch das sind nur verschiedene Namen für das andere Grundgefühl, das in uns immer dann entsteht, wenn es uns gelungen ist, die Angst zu besiegen: Freude. Und es gibt noch ein drittes Grundgefühl, das sich immer dann einstellt, wenn wir noch nicht genau einschätzen können, ob das, was wir wahrgenommen haben als Bedrohung unserer inneren Ordnung oder aber als Gelegenheit zur Festigung und Wiederherstellung unserer inneren Ordnung zu bewerten ist: Überraschung. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß andere Lebewesen, die ein Gehirn besitzen, diese drei Grundgefühle nicht kennen und empfinden. Und ebenso wie wir können alle anderen in sozialen Verbänden lebenden Tiere diese Empfindungen ihren Artgenossen mitteilen, etwa indem sie einen bestimmten Duft produzieren und verbreiten, indem sie bestimmte Körperbe108 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

wegungen ausführen oder Körperhaltungen einnehmen, indem sie Laute produzieren, bei Gefahr rufen oder schreien und vor Zufriedenheit grunzen, lallen oder schnurren. Diejenigen, die ein ausdrucksfähiges Gesicht besitzen, sind zusätzlich noch in der Lage, ihre Gefühle durch eine charakteristische Mimik zum Ausdruck zu bringen. Diese Sprache der Gefühle wird von allen anderen Mitgliedern der jeweiligen Art generell und von denen einer bestimmten Sippe oder der Familie ganz besonders gut verstanden. Sie ist das wichtigste Instrument im Dienst der innerartlichen Kommunikation, und sie ist deshalb bei denjenigen Arten besonders weit entwickelt, deren Überleben in ganz besonderer Weise von ihrer Fähigkeit abhing, Bedrohungen früh zu erkennen und durch eine gemeinsame Aktion abzuwehren, neu entdeckte, gemeinsam nutzbare Ressourcen anderen bekanntzumachen und gemeinsam zu erschließen, und bei denen es nicht zuletzt darauf ankam, die emotionale Bindung zwischen den einzelnen Mitgliedern der Familie, der Sippe oder der Gruppe immer wieder zu festigen und zu verstärken. Diese Fähigkeit zur Kommunikation von Gefühlen, wohl weniger durch Gerüche, sondern vor allem durch Gestik, Mimik und nicht zuletzt durch Lautäußerungen, muß bei uns bereits während der Menschwerdung eine herausragende Rolle gespielt haben. Die Begabung, bestimmte Empfindungen zum Ausdruck zu bringen, wird uns deshalb noch heute in Form bestimmter, genetisch programmierter Verschaltungen in unserem Gehirn bereits bei unserer Geburt in die Wiege gelegt. Auch die Fähigkeit, besonders wichtige Gefühle, wie Furcht (Angst), Freude (Lust), Ekel, Trauer und Schmerz bei einem anderen Menschen zu erkennen, ist bereits als genetische Prädisposition angelegt. Diese Begabungen sind nicht bei allen Neugeborenen gleichermaßen gut entwickelt. Und was aus ihnen wird, ob sie fortentwickelt und weiter ausgebaut oder aber unterdrückt und zurückgebildet werden, hängt von den Bedingungen ab, 109 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

in die ein Kind hineinwächst. Kinder können dazu gebracht werden, ihre eigenen Gefühle entweder differenzierter oder weniger differenziert wahrzunehmen und ihren Gefühlen entweder stärkeren oder weniger starken Ausdruck zu verleihen. In unsicheren Bindungen gefangene Kinder lernen erstaunlich rasch, ihre Gefühle nicht zu zeigen, sie zu verstecken oder sogar bestimmte Gefühle zum Ausdruck zu bringen, die sie in Wirklichkeit gar nicht empfinden, von denen sie aber wissen, daß sie in einer bestimmten Situation von ihnen erwartet werden. Manche Menschen entwickeln sich auf diese Weise zu wahren Meistern des Spiels mit ihren eigenen Empfindungen und mit den Empfindungen anderer. Sie gehen dabei bisweilen äußerst schlau vor und lernen, andere sehr genau zu beobachten. Aber ihnen fehlt die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und deren Empfindungen mitzufühlen. Sie beherrschen die Klaviatur des Zurschaustellens einfacher Grundempfindungen perfekt, aber es gelingt ihnen nicht, sie zu differenzierten subtilen Empfindungen weiterzuentwickeln. Solche Menschen sind gewissermaßen in den untersten Sprossen der Leiter menschlicher Empfindungsfähigkeit hängengeblieben. Ihr Fühlen, und damit auch ihr Denken und Handeln, ist primär von Selbstbezogenheit bestimmt. Ihre Empfindungsfähigkeit wird dementsprechend von ihnen selbst begrenzt und durch sie selbst eingeengt. Um diese Beschränkungen aufzubrechen, muß diesen Menschen Gelegenheit gegeben werden, sich wieder auf enge emotionale Beziehungen zu anderen Menschen einzulassen. Nur so können sie die Erfahrungen machen, daß derartige Beziehungen Sicherheit bieten und daß es unter diesen Bedingungen möglich ist, seine eigene Gefühlswelt mit der eines anderen Menschen verschmelzen zu lassen. Sie müssen wieder lernen, daß es nicht nur ungefährlich, sondern ungemein bereichernd ist, sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen und das, was in ihm vorgeht, mitfühlen zu können. Die Fähigkeit, Mitgefühl, Empathie, zu empfinden, erfor110 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

dert eine enorm differenzierte Wahrnehmung und Verarbeitung der von anderen Menschen nonverbal zum Ausdruck gebrachten Gefühle. Sie kann nur von Menschen entwickelt werden, die sowohl die Bereitschaft mitbringen als auch die erforderliche Sensibilität besitzen, sich in die Gefühlswelt eines anderen Menschen hineinzuversetzen. Diese Fähigkeit ist das, was ein menschliches Gehirn gegenüber allen anderen Nervensystemen auszeichnet. Je besser sie entwickelt ist und je intensiver sie genutzt werden kann, um sich in die innere Welt nicht nur eines, sondern vieler verschiedener anderer Menschen (und anderer Lebewesen) hineinzufühlen, desto höher kann ein einzelner Mensch auf der Stufenleiter menschlicher Empfindungsfähigkeit emporsteigen.

5.3 Auf der Stufenleiter der Erkenntnis Primär hat ein Nervensystem keine andere Aufgabe, als alle Veränderungen der äußeren Welt, die zu Störungen der inneren Ordnung des Organismus führen, abzuwenden oder auszugleichen. Die fortschreitende Optimierung des Aufbaus und der Arbeitsweise des Nervensystems zu einer immer effizienteren Bewältigung dieser Aufgabe hat, wenn auch über unvorstellbar lange Zeiträume, so doch zwangsläufig zur Herausbildung von Gehirnen geführt, die es den betreffenden Lebewesen ermöglichten, Bedrohungen ihrer inneren Ordnung immer frühzeitiger wahrnehmen, die Auswirkungen bestimmter Veränderungen der äußeren Welt auf sich selbst immer besser abschätzen und immer spezifischer auf derartige Bedrohungen reagieren zu können. So sind aus anfänglich noch streng genetisch programmierten zunächst initial und später zeitlebens durch eigene Erfahrungen programmierbare Konstruktionen entstanden. Der Komplexitätsgrad und das Ausmaß der Vernetzung der im Gehirn angelegten Verschaltungen ist dabei zwar kontinu111 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

ierlich angewachsen, aber an der prinzipiellen Arbeitsweise des Gehirns hat sich wenig geändert. So wie jede einzelne Nervenzelle immer dann einen Impuls weiterleitet, wenn sie durch eintreffende Impulse anderer Nervenzellen stark genug erregt wird, so leitet auch das Gehirn erst dann eine gegenregulatorische Antwort ein, wenn die wahrgenommene Veränderung der äußeren oder inneren Welt so groß ist, daß es auch zu einer Erregung tiefer liegender Nervennetze innerhalb des Gehirns kommt. Diese Aktivierung limbischer Zentren empfinden wir als Störung unseres emotionalen Gleichgewichts. Worauf wir besonders achten, was uns besonders aufregt, wie wir die wahrgenommene Veränderung bewerten und wie wir letztlich darauf reagieren, hängt von den Erfahrungen ab, die wir im Lauf unseres bisherigen Lebens mit solchen oder ähnlichen Störungen gemacht haben. Manche dieser Erfahrungen sind so allgemeiner Natur, daß sie bereits im Lauf unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung in Form bestimmter, genetischer Programme ausgelesen wurden, die die Herausformung ganz bestimmter Verschaltungsmuster in unserem Gehirn lenken. Andere Erfahrungen werden erst dadurch, daß wir sie selbst im Lauf unseres eigenen Lebens machen, in unserem Gehirn verankert. Die meisten und meist auch wichtigsten eigenen Erfahrungen machen wir bereits während unserer frühen Kindheit, ohne darüber nachdenken oder sie gar in Worte fassen zu können. Sie sind und bleiben uns deshalb oftmals zeitlebens unbewußt. Initial oder auch zeitlebens lernfähige Gehirne waren deshalb von Vorteil und sind deshalb auch irgendwann entstanden, weil man damit zumindest initial oder auch zeitlebens für das eigene Überleben und für die eigene Reproduktion wichtige Erfahrungen machen konnte. Daß ein solches Gehirn auch genutzt werden kann, um damit zu erkennen, was in uns und um uns herum passiert, ist eine relativ späte Entwicklung. Sie ist nur einigen unserer nächsten tierischen Verwandten in Ansätzen und uns selbst bisher auch nur bis zu einer gewissen Stufe gelungen. 112 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Diese besondere Fähigkeit ermöglicht es manchen Affen und den meisten Menschen, aus all den unbewußten Erfahrungen, die sie gesammelt haben, eine allgemeine »Wenndann-Erkenntnis« abzuleiten. Sie bildet die primitivste und unterste Stufe der Erkenntnis. Die Grunderkenntnis, daß bestimmte Wirkungen auf bestimmte Ursachen zurückführbar sind, macht jedes Kind, und es sucht deshalb fortan nach immer neuen kausalen Zusammenhängen in der von ihm wahrgenommenen Welt. Wo es solche Zusammenhänge in seiner Lebenswelt entdeckt, hängt entscheidend von denjenigen Menschen ab, die ihm bei seiner Suche behilflich sind. Sie bestimmen, wie weit ihm der weitere Aufstieg auf der Stufenleiter der Erkenntnis gelingt. Viele dieser primären Bezugspersonen erliegen der Versuchung, die Aufmerksamkeit des Kindes ganz besonders oder sogar ausschließlich auf das Erkennen kausaler Zusammenhänge in ihrer äußeren Welt zu richten: »Wenn man auf diesen Knopf drückt, geht das Licht an.« »Wenn die Sicherung kaputt ist oder das Kraftwerk keinen Strom erzeugt oder die Leitung unterbrochen ist, geht es nicht an.« Und schließlich: »Elektrischer Strom entsteht immer dann, wenn . . . « Auf diese Weise lernt heutzutage jedes Kind, bestimmte beobachtbaren Phänomene der äußeren Welt auf ganz bestimmte Ursachen zurückzuführen. Wir verdanken dieser Fähigkeit all unsere Kenntnisse über Ursache-Wirkungs-Beziehungen in der uns umgebenden Welt. Erfolg macht blind, und die überstarke Kanalisierung des Denkens in einfachen Ursache-Wirkung-Beziehungen hat ihren Preis: Menschen, die auf dieser Stufe der Erkenntnis stehenbleiben, halten irgendwann die ganze Welt für erkennbar, und alles, was sie als einfache Ursache-Wirkung-Beziehung erkannt haben, auch für machbar. Das gilt für Gewaltverbrecher ebenso wie für skrupellose Geschäftemacher, Politiker und Wissenschaftler. Irgendwann entdecken die meisten Menschen jedoch, daß die Mehrzahl der beobachtbaren Phänomene der äußeren Welt dadurch zustande kommt, daß mehrere Ursachen in 113 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

bestimmter Weise zusammenwirken. Und so gelangt jeder Mensch normalerweise irgendwann zu der (oft schmerzlichen) Erkenntnis, daß eine bestimmte Ursache (die er selbst ausgelöst hat), um eine bestimmte Wirkung zu erreichen, eine ganze Kettenreaktion (von ihm nicht vorhergesehener Wirkungen) nach sich zieht. Daraus erwächst dann die Erkenntnis, daß die wahrgenommenen Phänomene der äußeren Welt das Resultat komplexer, schwer durchschaubarer und oftmals nicht genau vorhersehbarer Interaktionen sind. Auf dieser Stufe der Erkenntnis beginnt das Verständnis für komplexe, einander wechselseitig bedingender Zusammenhänge. Jeder Mensch, der diese Stufe erreicht hat, sieht sich dann auch zwangsläufig in seiner bisherigen Handlungsfreiheit beschränkt. Wem es gelingt, die unbeabsichtigten Folgen seines Handelns immer besser abzuschätzen, der muß fortan bei allem, was er tut, vorsichtiger und umsichtiger zu Werke gehen. Es gibt Menschen, die »Macher«, die eine derartige Einschränkung der eigenen Handlungsfreiheit nicht ertragen und die es aus diesem Grund vorziehen, auf der ersten Sprosse der Stufenleiter der Erkenntnis stehenzubleiben (und durch ihr einseitig zweckorientiertes Handeln nicht selten erheblichen Schaden anrichten). Alle anderen müssen sich fragen, ob sie auch dann, wenn sie die unbeabsichtigten Folgen ihres Handelns kennen, so weitermachen wollen wie bisher. Sie sind auf dem Weg zur dritten und höchsten Sprosse auf der Stufenleiter der Erkenntnis: der Selbsterkenntnis. Am leichtesten wird diese Stufe von all jenen erreicht, die bereits sehr früh Gelegenheit hatten, sich mit den Auswirkungen ihres nach außen orientierten Handelns auf sich selbst, auf ihren Körper ebenso wie auf ihr Gehirn, zu beschäftigen. Sie haben meist bereits sehr früh verstanden, daß alles, was man tut, Spuren hinterläßt, auch in einem selbst. Das ist eine ebenso schmerzliche wie heilsame Erkenntnis, zu der nur ein menschliches Gehirn befähigt ist. 114 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

5.4 Auf der Stufenleiter des Bewußtseins Den Hirnforschern ist es in den letzten Jahren gelungen, immer überzeugender nachzuweisen, daß alle unsere Verhaltensweisen, die höchsten rationalen Funktionen und emotionalen Reaktionen eingeschlossen, auf bestimmten, in unserem Gehirn ablaufenden neuronalen Verarbeitungsprozessen beruhen. Hochkomplexe Leistungen wie Wahrnehmen, Erinnern, Planen, Entscheiden, selbst intuitives Empfinden und Bewerten lassen sich auf eine, wenngleich hochkomplexe und enorm vernetzte, so doch letztlich aber »materielle« Grundlage zurückführen. Das gilt auch für das Phänomen, das gemeinhin als die entscheidende Errungenschaft betrachtet wird, die den Menschen vom Tier unterscheidet: unser Bewußtsein. Mit Bewußtsein meinen wir die Fähigkeit, uns unserer eigenen Empfindungen und Wahrnehmungen, unseres »Inder-Welt-Seins« gewahr zu werden. Hierbei werden die primären Verarbeitungsprozesse, die den Leistungen des Gehirns zugrunde liegen, ihrerseits zum Gegenstand kognitiver Prozesse gemacht und die Ergebnisse dieser Metaanalyse auf einer höheren Ebene erneut repräsentiert. Um Bewußtsein zu entwickeln, muß sich das Gehirn gewissermaßen selbst beobachten können. Durch den Aufbau von Metaebenen, auf denen interne Prozesse reflektiert und analysiert werden, kann ein Gehirn die Fähigkeit erlangen, sich seiner eigenen Wahrnehmungen und Intentionen bewußt zu werden, sich selbst, sein So-geworden-Sein und seine Rolle und seine Stellung in der Welt zu begreifen. Diese Fähigkeit ist bei verschiedenen Menschen unterschiedlich weit entwickelt. Welche Stufe des Bewußtseins ein einzelner Mensch erreichen kann, hängt zwangsläufig davon ab, wie weit er auf der Stufenleiter der Wahrnehmung, der Empfindungen und der Erkenntnis im Lauf seines Lebens bereits vorangekommen ist. Bezeichnenderweise beginnt die Stufenleiter des Bewußtseins sowohl während der gesamten Menschheitsgeschichte 115 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

als auch während der individuellen Geschichte eines jeden Menschen mit dem allmählichen Heraustreten eines kleinen, aber wachsenden und zunehmend klarer und unabhängiger werdenden Kerns innerer Erfahrung aus einem traumhaften Zustand faktischer Identität mit dem Leben des Körpers und seiner physischen Umwelt. Damit wird die ursprüngliche Stufe mythischen Bewußtseins verlassen. Erst durch die schrittweise Lösung aus der ursprünglichen, engen Bindung an die Natur (natürliche Umwelt, frühe Bezugspersonen) entsteht die Möglichkeit und Notwendigkeit des Nachdenkens über sich selbst. Die Entstehung dieses individuellen Bewußtseins ist gleichbedeutend mit dem Erwachen aus einer paradiesischen Empfindung der Einheit mit der Welt. Auf dieser Stufe beginnt der Mensch, sich als autonomes, freies, selbständig entscheidendes und wertendes Ich zu begreifen. Dieser Übergang ist ein schwieriger Prozeß, der in manchen Kulturen bis heute noch nicht vollständig abgeschlossen ist. Immer sind es zunächst einzelne, die den Sprung von der ursprünglichen kollektiven, mythischen Bewußtseinsstufe zu einem ichbezogenen (Selbst-)Bewußtsein zu vollziehen imstande sind. Kultur- und geistesgeschichtliche Zeugnisse deuten darauf hin, daß dieser Bewußtseinswandel im sogenannten abendländischen Kulturkreis vor etwa 6000 Jahren begonnen hat. Ersten deutlichen Ausdruck findet er im Gilgamesch-Epos, der vor über 3000 Jahren verfaßten Darstellung der Heldentaten und der persönlichen Lebensgeschichte des Königs von Uruk. Es hat bis zum Beginn der Aufklärung gedauert, bis diese Bewußtwerdung des eigenen Ich einer hinreichend großen Zahl von Menschen gelang und damit zur Grundlage des vorherrschenden (durchschnittlichen) Bewußtseins innerhalb des westlichen Kulturkreises werden konnte. In dem Maß, wie sich dieses ichbezogene (Selbst-)Bewußtsein in immer weiteren Kreisen der Bevölkerung auszubreiten begann, verkürzte sich die Zeitspanne, in der Kinder auf der Stufe des mythischen Bewußtseins verharren konnten. Anstel116 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

le des langsamen, allmählich einsetzenden Prozesses des Bewußtwerdens des eigenen Ich, seiner Rolle und seiner Stellung in der Welt, entwickelt eine wachsende Zahl von Kindern heutzutage eine pseudoautonome Selbstbezogenheit, die in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen inzwischen zu einer erheblichen Gefahr für die Stabilität aller westlichen Gesellschaften geworden ist. Diese Fehlentwicklung macht deutlich, wie sehr es für einen Menschen darauf ankommt, daß ein eigenes Bewußtsein allmählich in ihm selbst und aus ihm selbst heraus erwachsen und reifen kann. Wenn einem Menschen eine bestimmte Vorstellung über sich selbst und von seiner Stellung in der Welt durch die Verhältnisse, unter denen er aufwächst, aufgezwungen oder aufgedrängt wird, so entstehen lediglich ganz bestimmte Haltungen und Überzeugungen, aber kein eigenes Bewußtsein. Damit kann er zwar leben und sich in der Welt zurechtfinden, aber die Möglichkeiten eines menschlichen Gehirns ausschöpfen und sich seiner selbst, seines Sogeworden-Seins und seines In-der-Welt-Seins bewußt werden, kann er damit nicht. Schlimmer noch, einem Menschen, der bereits die Phase des mythischen Bewußtseins nur in sehr abgekürzter und abgeflachter Weise durchlaufen hat, wird es später kaum gelingen, ein autonomes, sich selbst reflektierendes Ich-Bewußtsein aus sich selbst heraus zu entwickeln. Er bleibt gewissermaßen ohne ein eigenes Bewußtsein gefangen in (und abhängig von) den Vorstellungen, die er von anderen Menschen unbewußt und unreflektiert übernommen hat. Er ist, um bei unserem Bild zu bleiben, auf der Stufenleiter des Bewußtseins gewissermaßen durch alle Sprossen gefallen, ist von anderen programmiert – und damit auch durch andere manipulierbar gemacht – worden. Nicht viel anders ergeht es all jenen, die in einem kulturellen und geistigen Umfeld aufgewachsen sind, das sie an der Entdeckung des eigenen Ich gehindert hat. In manchen Sprachräumen, beispielsweise dem Chinesischen, existiert gar 117 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

kein Wort für das, was wir so selbstverständlich »ich« nennen. Hier kann sich der einzelne nur über die Darstellung seiner Beziehung zu anderen beschreiben (und begreifen). Was sich hier allzuleicht herausbildet, ist ein unreflektiertes kollektives Bewußtsein, das den einzelnen ebenso wie ein egozentrisches Ich-Bewußtsein an der Entfaltung seiner Möglichkeiten hindert. Trotz dieser starken, das Denken der Mitglieder einer Gemeinschaft in die eine oder andere Richtung kanalisierenden Kräfte ist es immer wieder einzelnen Menschen gelungen, sich vom Druck der konkreten Verhältnisse der jeweils vorherrschenden Meinungen und Haltungen freizumachen und eine übergreifende Vorstellung vom Wesen des Menschen und seiner Stellung in der Welt zu entwickeln. Transzendenz nennt man das,und die Bewußtseinsstufe,die auf diese Weise erreicht wird, ist die des transzendentalen (oder transpersonalen oder kosmischen) Bewußtseins. Es ist gegenwärtig schwer vorstellbar, daß irgendwann einmal alle Menschen bis zu dieser höchsten Stufe des Bewußtseins gelangen. Aber der Umstand, daß sie immer wieder von einzelnen Menschen erreicht worden ist, zeigt uns bereits heute, daß ein menschliches – und nur ein menschliches Gehirn – prinzipiell dazu befähigt ist.

5.5 Praktische Hinweise Nachdem die Richtung gefunden ist, die ein menschliches Gehirn auf den Stufenleitern der Wahrnehmung, der Empfindungen, der Erkenntnis und des Bewußtseins nur einschlagen kann, bleiben noch zwei praktische Fragen offen. Die erste: Warum sollte ein Mensch sich darum bemühen, sich auf diesen schwierigen Weg zu machen? Warum sollte er seine Sinne schärfen und Veränderungen seiner äußeren wie auch seiner inneren Welt so sensibel und so präzise wie möglich wahrnehmen, warum die Fähigkeit entwickeln, sich in an118 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

dere Menschen hineinzuversetzen und ihre Empfindungen mitfühlen zu können, warum sollte er versuchen, sich selbst zu erkennen, und sich am Ende sogar darüber bewußt werden, was in ihm selbst vorgeht, wer er ist und wie er zu dem geworden ist, was er ist? Die Antwort auf diese erste Frage ist einfach. Wer sich auf einen schwierigen Weg macht, beginnt sein Gehirn wesentlich komplexer, vielseitiger und intensiver zu benutzen als jemand, der selbstzufrieden dort stehenbleibt, wo er entweder zufälligerweise gelandet oder vom Druck oder vom Sog der Verhältnisse hingespült worden ist, bis er dort untergeht. Und da die Art und die Intensität der Nutzung des Gehirns darüber entscheidet, wie viele Verschaltungen sich zwischen den Milliarden von Nervenzellen ausbilden, welche Verschaltungsmuster dort stabilisiert werden können und wie komplex diese neuronalen Verschaltungen sich miteinander verbinden, trifft man mit der Entscheidung, wie und wofür man sein Gehirn benutzen will, immer auch eine Entscheidung darüber, was für ein Gehirn man bekommt. Das ist eine recht unangenehme, weil äußerst unbequeme Erkenntnis, aber so funktioniert unser Gehirn nun einmal. Wir besitzen kein zeitlebens lernfähiges Gehirn, damit wir uns damit bequem im Leben einrichten, sondern damit wir uns mit Hilfe dieses Gehirns auf den Weg machen können, nicht nur am Anfang, sondern zeitlebens. Selbstverständlich haben wir die Freiheit, jederzeit dort stehenzubleiben, wo es uns gefällt, und fortan nur noch diejenigen Verschaltungen zu benutzen, die bis dahin in unserem Gehirn entstanden sind. Da diese Verschaltungen aber dann um so besser und effizienter gebahnt werden, je häufiger wir sie immer wieder auf die gleiche Weise benutzen, kann daraus sehr leicht die letzte freie Entscheidung geworden sein, die wir in unserem Leben getroffen haben. Wenn wir unser Gehirn auf diese Weise erst einmal selbst erfolgreich für eine ganz bestimmte Art seiner Benutzung programmiert haben, läuft der Rest, wenn nichts mehr dazwischenkommt, von allein ab. Bis zum Ende. Die Möglichkeit zur Ausbildung einer pro119 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

grammöffnenden Konstruktion, zur umfassenden Nutzung und komplexen Ausformung eines menschlichen Gehirns ist dann vertan. Wer nicht in seinen einmal eingefahrenen Bahnen der Wahrnehmung, der Empfindungen und der Erkenntnis stekkenbleiben und seine Freiheit verlieren will, muß den schwierigen Weg wählen und versuchen, sich schrittweise auf den Stufenleitern der Wahrnehmung, der Empfindungen, der Erkenntnis und des Bewußtseins dem anzunähern, was ein menschliches Gehirn auszeichnet: die Fähigkeit, sich selbst immer wieder neu in Frage zu stellen. Damit sind wir bei der zweiten praktischen Frage angekommen: Wie erlangt man und wie erhält man diese Fähigkeit? Sicher nicht, indem man, wie es als Quintessenz der jüngsten Erkenntnisse der Hirnforschung in manchen Medien angepriesen wird, gelegentlich mit geschlossenen Augen die Treppe hinabsteigt, an einer Blume riecht oder seine Kollegen mit einer neuen Verhaltensweise oder einer anderen Frisur überrascht. Indem man sich lediglich dazu entschließt, hin und wieder etwas zu tun, was man normalerweise nicht tut, ändert sich noch keine Verschaltung im Hirn. Vielmehr müßten Bedingungen geschaffen werden, die es nicht nur möglich, sondern zwingend erforderlich machen, künftig generell mehr von all dem wahrzunehmen, was um uns herum geschieht, diese Wahrnehmungen tiefer und intensiver zu empfinden, sie komplexer zu bewerten und vor allem sorgfältiger nachzudenken, bevor wir uns entscheiden, etwas Bestimmtes zu tun und dafür etwas anderes zu lassen. Es gibt nur zwei Wege, die wir einschlagen können, um derartige Bedingungen herbeizuführen, einen bequemen und einen unbequemen. Der bequeme ist der, den wir schon kennen und auf dem wir im Verlauf unserer bisherigen Entwicklung bereits reichlich Erfahrung zu sammeln Gelegenheit hatten. Es ist der Weg, auf dem man mit all seinen Fehlern und Beschränktheiten einfach immer so weiterzugehen versucht wie bisher. Leider wird dieser Weg mit der Zeit immer be120 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

schwerlicher, bis man irgendwann in dem immer dichter werdenden Gestrüpp all der vielen Probleme steckenbleibt, die man sich mit seiner eigenen Beschränktheit geschaffen hat. Erst dann, wenn es so wie bisher nicht mehr weitergeht, kann jemand, der diesen Weg gewählt hat, auch zu der Einsicht gelangen, daß er mit der bisherigen Art der Benutzung seines Gehirns endgültig gescheitert ist. Sich auf diese Weise selbst in Frage zu stellen, ist nicht nur recht schmerzvoll, sondern auch sehr gefährlich. Vor allem dann, wenn man noch andere Menschen auf diesem Weg mitgenommen hat und es zudem lange Zeit so schien, als käme man auf diesem Weg besonders gut voran. Erfolg macht blind, und gemeinsamer Erfolg verblendet allzuleicht auch diejenigen, die eigentlich am offensten sind und am besten sehen können. Das sind die in eine solche Gemeinschaft hineinwachsenden Kinder. Mit Hilfe ihres enorm plastischen, lernfähigen Gehirns sind diese Kinder prinzipiell in der Lage, alle möglichen Fähigkeiten und Fertigkeiten, Vorstellungen und Überzeugungen von denjenigen Menschen zu übernehmen, bei denen sie aufwachsen. Am leichtesten übernehmen sie freilich all das, was ihnen für die eigene Lebensbewältigung besonders wichtig erscheint. Je erfolgreicher sich also die Elterngeneration mit einer ganz bestimmten Strategie auf einen ganz bestimmten Weg gemacht hat, desto wahrscheinlicher ist es, daß ihnen ihre Kinder nicht nur auf diesem Weg folgen, sondern daß sie diesen Weg später als Erwachsene sogar noch effizienter ausbauen und noch konsequenter beschreiten. Und da man bei der Verfolgung eines bestimmten Ziels um so besser vorankommt, je stärker man sich ausschließlich auf dieses eine Ziel konzentriert, neigen diese Nachkommen noch stärker als ihre Eltern dazu, all das beiseite zu schieben, nicht wahrzunehmen oder zu verdrängen, was ihnen für das möglichst rasche Erreichen dieses Ziels als unnütz oder gar hinderlich erscheint. Was immer das Ziel sein mag, ob es um die Durchsetzung persönlicher Interessen, um das Erreichen von Macht und 121 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Einfluß, von Ruhm und Anerkennung geht, oder um die Vorherrschaft des eigenen Stammes, des Volkes oder der Nation, ob es um die Verbreitung eines bestimmten Glaubens, um den Kampf für eine politische Überzeugung oder um die Verwirklichung einer verrückten Idee geht, der Ausgang all dieser Bemühungen ist immer gleich. Nur der Weg ist unterschiedlich lang. Je rücksichtsloser ein bestimmtes Ziel verfolgt wird, desto schneller verfängt man sich im Gestrüpp der durch die eigene Kurzsichtigkeit und Unachtsamkeit erzeugten Probleme. Und wenn es nicht bereits die Väter trifft, so sind es deren Söhne oder Enkel, die irgendwann ratlos vor dem entstandenen Scherbenhaufen stehen und sich fragen müssen, was sie bei der Benutzung ihres Gehirns falsch gemacht haben. Immerhin sind sie auf diese Weise um eine Erfahrung reicher geworden. Und damit sind sie, ohne es zu wollen, einen Schritt auf dem anderen, dem zweiten Weg vorangekommen, der dort beginnt, wo der erste, zunächst so bequem erscheinende Weg so leidvoll endet: bei der Fähigkeit, sich selbst und damit die Art der bisherigen Benutzung des eigenen Gehirns erneut in Frage zu stellen. Diesen anderen mühsamen Weg geht niemand freiwillig, der sich nicht dazu verpflichtet fühlt. Er läßt sich auch nur beschreiten, indem man seine Haltungen und seine Einstellungen gegenüber sich selbst und all dem, was einen umgibt, immer wieder überprüft. Am besten gelingt das, indem man sich fragt, ob das, was man für besonders wichtig hält, wirklich so wichtig ist. Unsere einmal entstandenen Haltungen und Einstellungen sind uns meist ebenso wenig bewußt wie die Macht, mit der sie uns zu einer ganz bestimmten Art der Benutzung unseres Gehirns zwingen. Unachtsamkeit beispielsweise ist eine Haltung, die nicht viel Hirn beansprucht. Wem es gelingt, künftig etwas achtsamer zu sein, der wird automatisch bei allem, was er fortan wahrnimmt, was er in seinem Gehirn mit diesen Wahrnehmungen verbindet (aktiviert) und was er bei seinen Entscheidungen berücksichtigt, mehr »Hirn« benutzen als je122 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

mand, der weiterhin oberflächlich oder unachtsam mit sich selbst umgeht und mit all dem, was ihn umgibt. Achtsamkeit ist daher eine ganz wesentliche Unterhaltungs- und Wartungsmaßnahme für ein menschliches Gehirn. Was sich durch Achtsamkeit auf der Ebene der Wahrnehmung und Verarbeitung an grundsätzlichen Erweiterungen der Nutzung des Gehirns erreichen läßt, kann auf der Ebene der für unsere Entscheidungen und für unser Handeln verantwortlichen neuronalen Verschaltungen durch eine Haltung erreicht werden, die wir Behutsamkeit nennen. Mit mangelnder Behutsamkeit, also mit Rücksichtslosigkeit, läßt sich ein bestimmtes Ziel vielleicht besonders rasch erreichen. Komplexe Verschaltungen braucht man, benutzt man und festigt man mit dieser Haltung jedoch nicht. Beginnt man erst einmal darüber nachzudenken, welche Grundhaltungen man sich wohl zu eigen machen müßte, um sein Gehirn fortan umfassender, komplexer und vernetzter zu benutzen als bisher, so kommen einem noch eine ganze Reihe von Begriffen in den Sinn, die allesamt fast schon aus unserem gegenwärtigen Sprachgebrauch verschwunden sind: Sinnhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Bescheidenheit, Umsicht, Wahrhaftigkeit, Verläßlichkeit, Verbindlichkeit . . . all das sind Grundhaltungen, die Menschen bereits zu einer Zeit erstrebenswert erschienen, als es noch gar keine Hirnforscher gab, geschweige denn all die komplizierten bildgebenden Verfahren wie die computergestützte Positronen-Emissions-Tomographie, mit deren Hilfe wir heutzutage in das Gehirn eines achtsamen oder eines unachtsamen Menschen hineinschauen können, um den Unterschied bei der Benutzung beider Gehirne deutlich zu machen. Aus sich selbst heraus kann ein Mensch diese Haltungen ebenso wenig entwickeln wie die Fähigkeit, sich in einer bestimmten Sprache auszudrücken, ein Buch zu lesen oder eines zu schreiben. Er braucht dazu andere Menschen, die lesen und schreiben können und diese Haltungen zum Ausdruck bringen. Und, was noch viel wichtiger ist, er muß mit diesen Men123 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

schen in einer engen emotionalen Beziehung stehen. Sie müssen ihm wichtig sein, und zwar so, wie sie sind, mit allem, was sie können und wissen, auch mit dem, was sie nicht wissen und nicht können. Er muß sie mögen, nicht weil sie besonders hübsch, besonders schlau oder besonders reich sind, sondern weil sie so sind, wie sie sind. Kinder können einen anderen Menschen so offen, so vorbehaltlos und so um seiner selbst willen lieben. Sie übernehmen deshalb auch die Haltungen und die Sprache der Menschen, die sie lieben, am leichtesten. Und manchmal gelingt es auch noch Erwachsenen, einander so vorbehalt- und selbstlos zu begegnen, als wären sie Kinder. Liebe erzeugt ein Gefühl von Verbundenheit, das über denjenigen hinausreicht, den man liebt. Es ist ein Gefühl, das sich immer weiter ausbreitet, bis es schließlich alles umfaßt, was einen selbst und vor allem diejenigen Menschen, die man liebt, in die Welt gebracht hat und in dieser Welt hält. Wer so vorbehaltlos liebt, fühlt sich mit allem verbunden und dem ist alles wichtig, was ihn umgibt. Er liebt das Leben und freut sich an der Vielfalt und Buntheit dieser Welt. Er genießt die Schönheit einer Wiese im Morgentau ebenso wie ein Gedicht, in dem sie beschrieben oder ein Lied in dem sie besungen wird. Er empfindet eine tiefe Ehrfurcht vor allem, was lebt und Leben hervorbringt, und er ist betroffen, wenn es zugrunde geht. Er ist neugierig auf das, was es in dieser Welt zu entdecken gibt, aber er käme nie auf die Idee, sie aus reiner Wißbegierde zu zerlegen. Er ist dankbar für das, was ihm von der Natur geschenkt wird. Er kann es annehmen, aber er will es nicht besitzen. Das einzige, was er braucht, sind andere Menschen, mit denen er seine Wahrnehmungen, seine Empfindungen, seine Erfahrungen und sein Wissen teilen kann. Wer sein Gehirn auf diese umfassende Weise nutzen will, muß also lieben lernen.

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6 Verhalten bei Störfällen

Bei einem Maulwurfgehirn erkennt man eine Störung daran, daß es nicht mehr dafür sorgt, daß der Maulwurf ein richtiges Maulwurfsleben führen kann. Wenn er nicht mehr weiß, wo er buddeln soll, wenn er die Orientierung in seinen Gängen verliert und womöglich sogar ungenießbare Wurzeln mit eßbaren Regenwürmern zu verwechseln beginnt und ihm dann keiner hilft, so ist ein solcher Maulwurf verloren. Menschen sind keine Maulwürfe. Wenn es in ihrem Hirn zu einer Störung kommt, findet sich meist auch jemand, der ihnen zu helfen versucht. Am leichtesten lassen sich andere Menschen für eine solche typisch menschliche Hilfeleistung immer dann gewinnen, wenn die Störung besonders ausgeprägt, am besten lebensbedrohlich ist. Schwieriger gestaltet sich die Suche nach Hilfe aber schon dann, wenn es sich nur um eine sogenannte Teilleistungsstörung handelt. Das sind Störungen, die dazu führen, daß man manches noch kann, Bestimmtes aber nicht mehr, also Störungen, bei denen das Gehirn noch fast normal funktioniert. Aber selbst dann findet man meist doch noch jemanden, der einem hilft. Am schwierigsten gestaltet sich die Suche nach Hilfe jedoch für all diejenigen, deren Gehirn eigentlich ganz normal funktioniert, die aber damit ein Leben führen, das alles andere als menschlich ist. Das galt bereits für diejenigen, die ihr Leben als römische Sklavenhändler in Ägypten, als spanische Plünderer bei den Indios in Peru oder als Skalpjäger bei den Indianern in Nordamerika zugebracht haben. Nicht besser erging es all jenen, die ihr Gehirn in weniger fernen Zeiten als Nazischergen in Auschwitz, als Giftgashersteller in Leverkusen oder als Söldner im vietnamesischen Dschungel einge125 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

setzt haben. Und natürlich sind davon all jene betroffen, die ihr Gehirn noch heute als Waffenschieber, Kinderschänder, Umweltverpester, als Spekulanten, als Lügner, Hehler und Betrüger benutzen. Jemand, der ein Gehirn besitzt, das ihn immer wieder dazu bringt, seine eigenen Interessen auf Kosten anderer Menschen durchzusetzen, der damit also alles andere als menschlich fühlt, denkt und handelt, findet nur sehr schwer einen anderen Menschen, der ihm hilft, ein menschliches Leben zu führen. Ihm geht es damit eigentlich nicht viel anders als dem Maulwurf mit seinem gestörten Maulwurfgehirn. Trotzdem bleibt er am Leben, manchmal sogar länger als andere, die ein menschliches Gehirn besitzen und es deshalb auch immer wieder so benutzen. Das ist schwer zu verstehen. Entweder hilft diesen Personen doch jemand, um selbst als Unmenschen noch zu überleben, oder das, was wir Mensch nennen, ist gar keine biologische Bezeichnung für eine bestimmte, in ihrer Entwicklung an einem definierbaren stabilen Zustand angekommene Art. Beides ist richtig. Der Prozeß der Menschwerdung ist noch gar nicht abgeschlossen, und wir haben die Möglichkeiten der Entfaltung und Nutzung unseres Gehirns offenbar noch lange nicht ausgeschöpft. Wir sind noch unterwegs, halb schon Mensch und halb noch Tier, noch immer unschlüssig und suchend. Deshalb sind wir auch bereit, jeden mitzunehmen und als Artgenossen zu akzeptieren, der so ähnlich aussieht wie wir und ein prinzipiell ebenso lernfähiges Gehirn besitzt wie wir. Wirklich mitnehmen können wir aber nur dann jemanden, wenn wir auch wissen, welchen Weg wir eigentlich gemeinsam gehen wollen. Erst dann, wenn wir uns für einen Weg hin zu mehr Menschlichkeit entschieden haben, können wir auch versuchen, diesem Ziel durch gemeinsame Anstrengungen näherzukommen. Erst dann hat es Sinn, sich etwas genauer mit all jenen Störungen zu befassen, die verhindern, daß sich ein ansonsten normales Gehirn auch als ein menschliches Gehirn benutzen läßt. Erst dann ist es wichtig, derartige Störun126 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

gen so früh wie möglich und bereits an ihren ersten Anzeichen und Symptomen zu erkennen. Die Menschwerdung ist ein außerordentlich komplizierter und deshalb störanfälliger Prozeß, in dem wir ständig Gefahr laufen, daß die Störung dieses Prozesses zum Normalfall (erklärt) wird. Dann freilich stellt sich die Frage nach dem Wohin nicht mehr.

6.1 Bedienungsfehler »Nicht alle, die etwas zu sehen glauben, haben die Augen offen; und nicht alle, die um sich blicken, erkennen auch, was um sie herum und mit ihnen geschieht. Einige fangen erst an zu sehen, wenn nichts mehr zu sehen da ist. Erst wenn sie Haus und Hof zugrunde gerichtet haben, beginnen sie, umsichtige Menschen zu werden. Zu spät hinter die Dinge zu kommen, dient nicht zur Abhilfe, wohl aber zur Betrübnis.« Gracián

Diesen Hinweis auf einen recht häufigen Bedienungsfehler, den man bei der Benutzung seines Gehirns machen kann, verdanken wir nicht der modernen Hirnforschung. Er stammt schon aus dem 17. Jahrhundert und steht im »Oráculo manual«, einem Text, den der spanische Jesuitenpriester Baltasar Gracián (1601–1658) als Handspiegel zur Selbsterkenntnis verfaßt hat. Neben Kurzsichtigkeit und Blindheit beschreibt Gracián hier noch eine ganze Reihe weiterer Fehler, die allesamt dazu führen, daß die vielfältigen Möglichkeiten der Nutzung eines menschlichen Gehirns nicht ausgeschöpft werden können: Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit, Bequemlichkeit und Oberflächlichkeit, Einseitigkeit und Engstirnigkeit, Rücksichtslosigkeit und – immer wieder – Unachtsamkeit. Schaut man sich heute um, so stellt man fest, daß diese Hinweise offenbar wenig genützt haben. Ebensowenig wie all 127 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

die anderen Ratgeber, in denen uns in mehr oder weniger geistreichen, hintersinnigen, manchmal auch zynischen Bildern die Beschränktheit menschlichen Wahrnehmungs- und Denkvermögens vor Augen geführt wird. Man schaut sie sich an, amüsiert sich über die Kurzsichtigkeit und Unvernunft, mit der Menschen ihr Gehirn zu benutzen imstande sind, und freut sich mit großer Genugtuung über die Einfalt und Dummheit der anderen. Sobald es jedoch darum geht, sich selbst, das Ausmaß seiner eigenen Beschränktheit in diesen Bildern wiederzuerkennen, hat der Spaß ein rasches Ende. Und je besser ein solcher Spiegel zur Selbsterkenntnis geschliffen ist, je klarer und unabweisbarer er einem die Fehler vor Augen führt, die man bei der Benutzung seines eigenen Gehirns macht, desto rascher vergeht einem die Lust, sich darin zu betrachten. Was offensichtlich ist, ist also nicht immer leicht zu verstehen. Das gilt vor allem dann, wenn es um die wirklich wichtigen Dinge im Leben geht. Wirklich wichtig wird einem Menschen etwas nur dann, wenn es ihn selbst betrifft und ihn deshalb auch betroffen macht. Die größte Betroffenheit entsteht immer dann, wenn man sich selbst eingestehen muß, einen Fehler gemacht zu haben. Betroffenheit ist ein zutiefst unangenehmes Gefühl, weil es unser bisheriges Denken, Fühlen und Handeln in Frage stellt. Es zwingt uns nicht nur, uns selbst zu erkennen, sondern uns auch noch zu verändern. Und je weniger wir zu einer derartigen Veränderung bereit sind, desto weniger sind wir in der Lage, die Fehler zu begreifen, die wir bei der Benutzung unseres Gehirns machen, selbst dann, wenn sie noch so offensichtlich sind. Deshalb müssen die meisten Menschen mit ihren ichbezogenen, kurzsichtigen, einseitigen, oberflächlichen und rücksichtslosen Strategien erst scheitern, bevor sie in der Lage sind, sich selbst zu erkennen und die Fehler zu begreifen, die sie bisher gemacht haben. »Erst wenn sie Haus und Hof zugrunde gerichtet haben, beginnen sie, umsichtige Menschen zu werden.« Und auch das wußte schon Gracián: »Manche machen aus einem mißlunge128 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

nen Unternehmen eine Verpflichtung, und weil sie einen Irrweg eingeschlagen haben, meinen sie, es sei Charakterstärke, darauf weiterzugehen.« Etwas hat sich seit Graciáns Zeiten aber ganz entscheidend verändert. Damals waren es noch in erster Linie einzelne Menschen, die mit ihrer Beschränktheit Haus und Hof, bisweilen auch ganze Fürstentümer und Königreiche zugrunde richteten. Heute ist aus den vielen einzelnen eine anonyme Masse geworden, und diese vielen einzelnen sind nun mit kollektiver Blindheit dabei, unser aller »Haus und Hof« global zugrunde zu richten. Sie verpesten die Luft, verändern das Klima, verunreinigen Flüsse, Seen und Meere, zerstören die natürlichen Lebensräume und verschwenden die auf der Erde vorhandenen Ressourcen. Sie schauen zu, wie immer mehr Menschen ihre Lebensgrundlage verlieren, wie die Vielfalt natürlicher Lebensformen und menschlicher Kulturen verschwindet, wie Regenwälder abgeholzt, Meere leer gefischt und fruchtbare Böden in Wüsten verwandelt werden. All das können sie sehen, es wird ihnen sogar tagtäglich in Zeitschriften und Fernsehbildern vor Augen geführt, aber wirklich betroffen macht es sie nicht. Und solange es so vielen Menschen immer wieder gelingt, dieses Gefühl eigener Betroffenheit zu unterdrücken und abzuwehren, können und werden sie auch so weitermachen und ihr Gehirn weiterhin so benutzen wie bisher. Jeder Mensch kann Fehler machen. Er muß sogar immer wieder Fehler machen. Nur indem man etwas falsch macht, kann man erkennen, wie etwas richtig zu machen wäre. Jemand, der keine Fehler bei der Benutzung seines Gehirns machte, wäre auch nicht mehr in der Lage, sich zu ändern. Er gliche einem für die Erledigung bestimmter Aufgaben optimal programmierten, jedoch zu jeder Weiterentwicklung unfähigen Automaten. Aber auch jeder, dem es gelingt, alle Betroffenheit über seine eigenen Fehler zu unterdrücken und keinerlei Zweifel an der Richtigkeit seines bisherigen Denkens und Handelns aufkommen zu lassen, beraubt sich auf diese Weise der Möglichkeit, aus seinen eigenen Fehlern lernen zu 129 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

können. Auch er ist nicht mehr in der Lage, diese Fehler zu korrigieren, sich zu ändern und sich weiterzuentwickeln. Auch er wird einem leblosen und gefühllosen Automaten immer ähnlicher. Er hat damit genau das verloren, was ein menschliches Gehirn ausmacht: die Fähigkeit, einmal eingefahrene Wege wieder verlassen, einmal entstandene Programmierungen wieder auflösen zu können. Deshalb ist die Unterdrückung und Abwehr von Betroffenheit der einzige wirkliche Bedienungsfehler, den man bei der Benutzung seines Gehirns machen kann. Man kann zu kurzsichtig im Denken, zu eng in der Wahrnehmung sein und sein Gehirn unachtsam, oberflächlich, bequem, engstirnig, rücksichtslos und sonstwie beschränkt benutzen. Solange man noch fähig ist, angesichts all dieser eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten ein Gefühl tiefer Betroffenheit und Selbstzweifels zu entwickeln, ist man auch in der Lage, sich zu ändern. Gelingt es einem Menschen jedoch immer wieder, dieses Gefühl erfolgreich zu unterdrücken, dann kann und wird er sein Gehirn auch weiter so benutzen wie bisher, bis Haus und Hof zugrunde gerichtet sind. Das Fatale an diesem Bedienungsfehler ist der Umstand, daß Betroffenheit und Selbstzweifel äußerst unangenehme Gefühle sind. Niemand stellt sich gern und noch dazu freiwillig selbst in Frage. Nur allzu bereitwillig ergreift er jede sich bietende Möglichkeit, um eine derartige Verunsicherung abzuwehren. Besonders gut gelingt ihm das, wenn er in einer anonymen Masse vieler anderer Menschen untertauchen und deren Wünsche, Hoffnungen und Ängste teilen kann. Seit jeher lassen sich die Wünsche, Hoffnungen und Ängste dieser vielen einzelnen Menschen sehr gut zur Durchsetzung eigener Interessen ausnutzen. Immer wieder gibt es zudem einzelne, die das besonders klar erkennen und diese Möglichkeit geschickt nutzen, um sich selbst Sicherheit und Stabilität, Macht und Einfluß, Reichtum und Anerkennung zu verschaffen. Sie, die mit dieser Strategie besonders erfolgreich sind, haben am wenigsten Grund, an der Richtigkeit ihres Denkens und Han130 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

delns zu zweifeln und sich betroffen zu fühlen. Auch dann nicht, wenn die Art und Weise, wie sie ihren Erfolg erreicht haben, tiefe Betroffenheit auslösen müßte. Betroffenheit läßt sich also immer dann besonders gut unterdrücken, wenn es einem Menschen gelingt, sich selbst, die eigenen Ziele, die eigenen Vorstellungen besonders hoch zu bewerten, sich selbst wichtiger, richtiger und am Ende gar überlegener zu betrachten als andere Menschen mit anderen Zielen, Haltungen und Überzeugungen. Das fällt um so leichter, je mehr Gleichgesinnte er dabei findet. Wenn das sehr viele werden, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die anderen, »minderwertigen« Menschen zum gemeinsamen Volksfeind erklärt, verjagt und umgebracht werden. Das geschieht mit Überzeugung, ohne individuelle Betroffenheit und ohne Zweifel an der Richtigkeit des eigenen Handelns. Betroffenheit kann von einem Menschen eben nur dann empfunden werden, wenn er etwas zugrunde richtet oder zugrunde gehen sieht, das ihm selbst wichtig ist. Und wichtig kann einem Menschen nur das werden, womit er sich eng verbunden fühlt. Alles andere läßt ihn kalt. Es ist keine besondere Kunst, das Gehirn des Menschen so zu benutzen und so zu beeinflussen, daß es irgendwann die Fähigkeit verliert, so ein Gefühl wie Betroffenheit auszulösen oder zuzulassen. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts haben wir diese Kunst wie nie zuvor in der gesamten Menschheitsgeschichte zu beherrschen und an unsere Nachkommen weiterzugeben gelernt. Die Grundregeln sind recht einfach: Man muß lediglich dafür sorgen, daß einem Menschen (außer dem bequemen Leben, das er führen kann) nichts mehr wirklich wichtig ist. Damit das gelingt, muß er daran gehindert werden, enge Bindungen zu anderen Menschen, zu seiner Heimat, zur Natur, zu all dem, was ihn umgibt, zu entwickeln. Er darf keine festen Wurzeln mehr ausbilden und sollte nicht merken, daß er mit seinen gestutzten Flügeln gar nicht mehr fliegen kann. Er sollte mit lauter Belanglosigkeiten in einen Zustand ständiger Aufregung versetzt 131 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

werden, mit überflüssigen und nutzlosen Informationen überschüttet und mit so vielen unterschiedlichen Expertenmeinungen konfrontiert werden, bis er weder Wichtiges von Unwichtigem, noch Richtiges von Falschem unterscheiden kann. Um ihn am Nachdenken zu hindern, ist es ratsam, ihn so lange in fortwährender Hektik umherzutreiben, bis er außerstande ist, länger als fünf Minuten stillzusitzen, nichts zu sagen und nicht an das zu denken, was er als nächstes vorhat. Man kann sein Gehirn auch mit grellen und aufregenden Bildern, mit lauten und schrillen Geräuschen, mit aufdringlichen Gerüchen und mit pausenlosen Sensationsmeldungen so lange überreizen, bis seine Wahrnehmungsfähigkeit völlig abgestumpft ist. Und wenn man ihn mit immer neuen Katastrophenberichten, mit Darstellungen brutalster Gewalt und unmenschlicher Verbrechen in einen Zustand permanenter Aufgewühltheit versetzt, stirbt irgendwann auch das Gefühl. Je früher man einem Menschen all diese Möglichkeiten bietet und ihn dazu bringt, sein Gehirn in dieser Weise zu benutzen, je plastischer dieses Gehirn also noch ist, desto sicherer läßt sich das gewünschte Ergebnis erreichen. Und wenn dennoch bisweilen das Unvermeidliche geschieht und einzelne Menschen feststellen, daß das, was um sie herum passiert, sie doch persönlich angeht, wenn doch noch so ein Gefühl wie Betroffenheit in ihrem Gehirn entsteht und sie an der Richtigkeit ihrer bisherigen Haltungen und Überzeugungen zu zweifeln beginnen, dann braucht man ihnen nur einzureden, alles sei unter Kontrolle, man habe alles fest im Griff, alles sei machbar und deshalb auch reparabel. Nichts glauben sie lieber als das. Dankbar ergreifen sie jeden Strohhalm, um sich aus den Untiefen aufkommender Betroffenheit wieder in den alten, gewohnten Strom zu retten. Erleichtert kaufen sie sich ein Ticket für einen Kurzurlaub in Honolulu oder fahren zu einem Einkaufsbummel nach London, Paris oder New York. Sie besorgen sich das neueste Horrorvideo oder schauen sich die jüngsten Schreckensmeldungen im Fernseher an. Sie surfen stundenlang im Internet 132 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

herum, ohne zu wissen oder sich einzugestehen, was sie dort eigentlich suchen, oder sie tauschen in irgendeiner Chat-Box irgendwelche Belanglosigkeiten mit irgendwelchen Leuten aus, die sie weder kennen noch jemals kennenlernen möchten. Sie lesen in der Zeitung, daß es Menschen gibt, die sich so lange immer neuen Schönheitsoperationen unterziehen, bis ihr Gesicht zu einer grotesken Maske geworden ist, oder daß andere sich einen Ring um den Magen legen lassen, weil sie ihren Appetit nicht bremsen können und bereits so dick geworden sind, daß sie kaum noch zu laufen imstande sind. Und es verwundert sie auch nicht mehr, daß es Ärzte gibt, die solche Operationen ausführen und Journalisten, die mit dem Abfassen solcher Meldungen ihr Geld verdienen. Sie besorgen sich all die Pillen und Mittelchen, die ihnen zur Behebung von Problemen und zur Steigerung der Lust angepriesen werden, oder greifen einfach zur Flasche, wenn der Frust sie übermannt. Sie sind für weniger Verkehr auf den Straßen, kaufen aber alle möglichen Produkte, die aus weit entfernten Gegenden zu ihnen herangekarrt werden, Krabben, die in der Nordsee gefangen und in Marokko geschält, Möhren, die in Deutschland angebaut und in Sizilien gewaschen worden sind. Sie verbringen ihre Zeit als Zuschauer, zappen sich durch die Programme der Fernsehstationen oder verlieren sich im Blätterwald der Illustrierten und beklagen sich darüber, daß sie so wenig Zeit haben. Sie suchen fortwährend nach Meinungen, die ihnen bestätigen, daß sie so, wie sie sind, genau richtig sind. Und sie sind dankbar dafür, wenn sie einen Experten finden, der sie in ihren bisherigen Überzeugungen, Meinungen und Haltungen mit seinen objektiven wissenschaftlichen Befunden endgültig bestätigt. Und womöglich kaufen sie sich sogar noch eine Bedienungsanleitung für ihr Gehirn und lesen sie in der Erwartung durch, darin Tips zu finden, wie sie ihr vermeintlich wichtigstes Organ vor Bedienungsfehlern schützen können, ohne es grundsätzlich anders benutzen zu müssen als bisher.

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6.2 Störungsmeldungen und Schadensbegrenzung Bei einem technischen Gerät führen Bedienungsfehler dazu, daß das Gerät nicht so funktioniert, wie es funktionieren soll. Oft geht dabei sogar noch etwas kaputt, und wenn man Pech hat, verwandelt man den ganzen teuren Apparat durch einen kleinen Bedienungsfehler in Schrott. Das gilt auch für ein Gehirn. Man kann seine Blutzufuhr unterbrechen (durch Strangulieren), seine Sauerstoffversorgung unterbinden (durch Ersticken) oder seine Funktion so sehr stören, daß es nicht wieder zu sich kommt (durch Vergiften). Normalerweise reagiert das Gehirn aber auf solche Maßnahmen mit so alarmierenden Störungsmeldungen, daß man von derartigen Bedienungsfehlern abläßt, bevor es zu spät ist. Über diese Alarmsignale kann sich nur jemand hinwegsetzen, der den Glauben an die Zweckmäßigkeit der Leistungen seines oder überhaupt eines menschlichen Gehirns endgültig verloren hat. Auch in die etwas komplizierteren technischen Geräte wie ein Computer ist meist ein Schutzmechanismus eingebaut, der das Gerät vor allzu gravierenden Bedienungsfehlern seiner Nutzer schützt. Dann kann man zwar immer noch massenhaft Bedienungsfehler machen, die zerstören aber den Computer nicht, sondern führen lediglich dazu, daß er entweder nicht das macht, was er machen soll, oder daß man all das, was man eigentlich damit machen könnte, gar nicht ausschöpfen kann. Wer seinen Computer nicht richtig bedienen kann, wird ihn zwangsläufig zu einer etwas komfortableren Schreibmaschine oder einem etwas komplizierteren Gameboy reduzieren und ihn auch so betrachten. Mit seinem Gehirn geht es einem im Prinzip genauso. Der einzige Unterschied ist, daß es dabei nicht so bleibt, wie es ist, sondern allmählich auch noch so wird, wie man es benutzt. Eben wie ein Gameboy oder eine Schreibmaschine. Wie ein Computer löst auch das Gehirn keinen Alarm aus, um uns darauf aufmerksam zu machen, daß wir dabei sind, es auf das zu 134 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

reduzieren, wofür wir es aus Unkenntnis der ihm innewohnenden Möglichkeiten, aus Ignoranz oder Bequemlichkeit immer wieder benutzen. Dem Gehirn ist das im Prinzip ebenso egal wie einem Computer; solange es ihm gelingt, auch noch als Kümmerversion dessen, was es sein könnte, alle bedrohlichen Veränderungen der äußeren oder inneren Welt rechtzeitig wahrzunehmen und auszugleichen, meldet es sich nicht. Alarm schlägt es erst dann, wenn es dazu nicht mehr imstande ist, weil die in ihm selbst ablaufenden Verarbeitungsprozesse aus dem Gleichgewicht geraten. Erst wenn unser Gehirn diese Bedrohung seiner inneren Ordnung mit einer massiven Angst- und Streßreaktion beantwortet, bekommen wir normalerweise endlich mit, daß irgend etwas nicht mehr stimmt. Manche Menschen reagieren auch auf dieses Notsignal ihres Gehirns jedoch lediglich mit einem Schulterzucken und versuchen,genauso weiterzumachen wie bisher.Bis sie krank sind, körperlich oder psychisch. Das ist dann die letzte Notbremse, die das Gehirn noch zu ziehen imstande ist. Wer auch die nicht mehr als Chance zu einer Änderung der bisherigen Nutzung seines Gehirn begreifen kann oder will, ist am Ende seiner – und irgendwann auch aller ärztlichen – Möglichkeiten der Schadensbegrenzung angekommen. Um aus solch engen, eingefahrenen Bahnen herauszukommen, braucht ein Mensch die Hilfe und Unterstützung anderer Menschen, vor allem solcher, die anders denken, fühlen und handeln als er selbst. Je komplexer das Gehirn eines einzelnen Menschen mit denen anderer Menschen vernetzt ist, desto geringer wird die Gefahr, daß individuelle Bedienungsfehler unbemerkt bleiben und desto besser lassen sich die jedem einzelnen Gehirn innewohnenden, vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten auch wirklich ausschöpfen. Auch das gilt ebenso für einen Computer, und jeder, dem es gelungen ist, seinen eigenen Computer in ein komplexes Computer-Netzwerk einzubinden, weiß die vielfältigen neuen Optionen zu schätzen, die sich dadurch für die Bedienung seines eigenen Geräts eröffnen. Aber auch beim Aufbau und 135 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

der Gestaltung eines solchen Netzwerks kann man Fehler machen. Es kann allzuleicht passieren, daß einzelne oder ganze Gruppen ein solches Netzwerk als besonders gut geeignetes Instrument zur Durchsetzung ganz bestimmter, eigener Interessen und zur Verbreitung ganz bestimmter, eigener Vorstellungen zu nutzen beginnen. Wenn es ihnen gelingt, das ganze Netzwerk auf diese Weise immer stärker für ihre Zwecke und Ziele zu instrumentalisieren, wird es anstelle der vielfältigen Möglichkeiten, die es eigentlich bietet, am Ende vorrangig für einen Zweck benutzt: zur Manipulation des Denkens, Fühlens und Handelns all derer, die darin eingebunden sind. Man kann versuchen, dieser Gefahr zu begegnen, indem man ein Computernetzwerk oder all die anderen Kommunikationsmittel, mit denen Menschen einander beeinflussen, so gestaltet, daß jeder sie so benutzen kann, wie er will. Dann hat jeder Gelegenheit, damit all das anzupreisen, was er will. Was dabei herauskommt, bleibt abzuwarten. Was dabei jedoch nicht herauskommen kann, ist das, was ein menschliches Gehirn zur Entfaltung und Ausbildung seiner vielfältigen Möglichkeiten braucht. Das sind eben nicht möglichst viele Beziehungen zu möglichst vielen anderen Menschen, um möglichst viele verschiedene Vorstellungen oder Produkte auszutauschen, sondern vielleicht nur wenige, dafür aber intensive Begegnungen mit einzelnen Menschen, die es ermöglichen, die unterschiedlichen Erfahrungen, die jeder im Lauf seines bisherigen Lebens zu machen Gelegenheit hatte, zu einem immer größer und umfassender werdenden Erfahrungsschatz zu verschmelzen. Wenn immer mehr Menschen nur noch aneinander vorbeilaufen und miteinander verhandeln und sich alle Gehirne an diese Art ihrer Benutzung angepaßt haben, selbst wenn der gemeinsame Erfahrungsschatz einer ganzen Gesellschaft immer brüchiger wird und allmählich zu zerfallen beginnt, passiert nichts. Jedenfalls so lange nicht, wie das ganze Gebilde noch einigermaßen funktioniert. Einer ganzen Gesellschaft geht es nicht viel anders als einem 136 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

einzelnen Menschen,dem es im Lauf seines Lebens immer wieder gelungen ist, die unterschiedlichsten Probleme mit ein und derselben Verhaltensstrategie zu meistern: Auch sie verliert zunehmend an Flexibilität und Kreativität, auch sie wird immer unsensibler für all das, was sie bei der Verfolgung ihrer bisherigen Erfolgsstrategie stört. Auch sie zerbricht schließlich an ihrer eigenen Starrheit, wenn sie sich als unfähig erweist, eingefahrene Bahnen zu verlassen und nach neuen, geeigneteren Lösungen zu suchen, um die von ihr selbst verursachten Probleme zu bewältigen. Der einzelne muß die neuronalen Verschaltungen in seinem Gehirn reorganisieren. Die Gesellschaft muß die inneren Strukturen reorganisieren, die das Denken, Fühlen und Handeln ihrer Mitglieder bestimmen. Diese inneren Strukturen sind eigentlich nicht allzu schwer zu durchschauen: Zuunterst und tief verankert liegen die während der Kindheit vorgefundenen und übernommenen Haltungen und Überzeugungen mit all den mehr oder weniger deutlichen Spuren im Denken und Fühlen, die Elternhaus und Schule zurückgelassen haben, mit den von Altersgenossen, von Erwachsenen und den Medien übernommenen Vorstellungen davon, worauf es im Leben ankommt. Auf dieses Fundament werden alle weiteren Erfahrungen gepackt, die ein heranwachsender Mensch in der Auseinandersetzung mit der ihm übergebenen Welt machen kann, während der Ausbildung und im Berufsleben. Eingebaut wird all das, was brauchbar ist und sich bewährt, also das, was ihm hilft, Sicherheit und innere Stabilität zu finden. Die geeignetste Strategie, der effektivste Weg zum Erreichen dieser inneren Stabilität und Sicherheit, so lautet die gegenwärtig wohl wichtigste und deshalb am lautesten propagierte Lebenserfahrung der meisten Menschen, ist die Schaffung psychischer und materieller Unabhängigkeit durch die Aneignung von Macht und Reichtum oder – wenn das nicht geht – von entsprechenden Statussymbolen. Sehr an Attraktivität eingebüßt hat in den letzten Jahren ein anderer, zweiter Weg, der ebenfalls geeignet ist, mit der in137 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

dividuellen Angst umzugehen und ein Gefühl von Sicherheit zu schaffen: die Aneignung von Wissen und Kompetenz. Diese Strategie verliert jedoch zwangsläufig an Wert in einer Gesellschaft, die das Wissen jedes einzelnen in einer Informationsflut erstickt und individuelle Fähigkeiten und Fertigkeiten durch computergesteuerte Maschinen ersetzt, die immer mehr Menschen mit ihren Erfahrungen und ihren Kompetenzen arbeitslos herumsitzen läßt. Der dritte Weg, den ein Mensch einschlagen kann, um in seinem Leben Geborgenheit und Sicherheit zu finden, ist der Weg der sozialen Bindung, der Verankerung des einzelnen in der Gemeinschaft. Er kann nur von denjenigen gefunden werden, die im Lauf ihres Lebens die Erfahrung gemacht haben, daß sie selbst nur ein Teil eines größeren Ganzen sind und daß sie als solches nur Sicherheit finden können, indem sie dazu beitragen, den Zusammenhalt innerhalb dieser Gemeinschaft zu festigen. Auch dieser Weg wird inzwischen nur noch von wenigen Menschen, und was noch fataler ist, nur noch von sehr wenigen Menschen in einflußreichen Positionen beschritten. Ein Mensch muß möglichst viele unterschiedliche Erfahrungen im Zusammenleben mit anderen Menschen machen können und sich dabei ein so umfangreiches Wissen und so vielseitige Kompetenzen aneignen, daß er weder materiell noch psychisch von anderen abhängig gemacht werden kann. Nur so ist er auch in der Lage, sich frei zu entscheiden, wie und wofür er sein Gehirn benutzen will. Ändern und sein Gehirn künftig anders benutzen als bisher kann sich aber auch ein solcher Mensch nur dann, wenn er eine einmal getroffene Entscheidung als Fehler erkennt und er sich davon zutiefst betroffen fühlt. Damit sich eine ganze Gesellschaft ändern kann, müssen viele einzelne dieses tiefe Gefühl von Betroffenheit empfinden. Um einen anderen Weg einschlagen zu können, muß jeder Mensch wissen, worauf er künftig stärker als bisher zu achten hat. Wenn eine ganze Gesellschaft einen anderen Weg einschlagen will, müssen sich viele Menschen darüber einig werden, wohin sie gemeinsam gehen wollen. 138 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

»Der Übergang vom Affen zum Menschen, das sind wir.« Diese Erkenntnis hat uns Konrad Lorenz bereits vor Jahren mit auf den Weg gegeben. Noch haben wir die Möglichkeit, uns zu entscheiden – und unseren Kindern vorzuleben –, wo wir eigentlich hinwollen.

6.3 Reklamationen und Haftung Falls Sie nach dem Lesen dieser Bedienungsanleitung zu dem Schluß kommen, daß es bei der bisherigen Benutzung Ihres Gehirns gewisse Unzulänglichkeiten gegeben hat, so dürfen Sie das Gefühl der Verunsicherung, das sich mit dieser Erkenntnis in Ihrem Hirn auszubreiten beginnt, als untrügliches Zeichen dafür betrachten, daß Sie nicht nur lebendig sind, sondern auch ein menschliches Gehirn besitzen. Falls sich ein derartiges Gefühl nicht einstellt, so wenden Sie sich bitte an Ihren Arzt oder Apotheker, solange Sie noch dazu imstande sind, denn »Wer nichts begreift (– und nichts mehr fühlt, G. H.), der lebt auch nicht.« Gracián

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Gerald Hüther

Die Macht der inneren Bilder Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern

Vandenhoeck & Ruprecht

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Inhalt

Vorbemerkungen: Wenn innere Bilder lebendig werden . . . . . . . . . . .

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Bilder, die das Leben zeichnet . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gehirn als Bilder erzeugendes Organ . . . . . . . . Die Entwicklungsgeschichte der inneren Bilder . . . Das Leben als Bilder generierender Prozess . . . . . . .

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Bilder, die das Sein bestimmen . . . . . . . . . . . . . . . . Bilder formen lebendige Strukturen . . . . . . . . . . . . . Bilder strukturieren das Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . Bilder lenken die Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . Bilder bestimmen das Denken, Fühlen und Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Bilder prägen das Zusammenleben . . . . . . . . . . . . . 3.6 Bilder verändern die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49 51 58 73

4. Bilder, die das Werden lenken . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Bilder, die sich öffnen und erweitern . . . . . . . . . . . . 4.2 Bilder, die sich verengen, starr und

105 108

übermächtig werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

112

1.

2. 2.1 2.2 2.3 3. 3.1 3.2 3.3 3.4

81 88 97

4.3 Bilder, die verschwimmen, verblassen und

5.

6.

verloren gehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nachbemerkungen: Bilder, die immer lebendig bleiben . . . . . . . . . . . . .

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Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Vorbemerkungen: Wenn innere Bilder lebendig werden

ort, wo ich wohne, gibt es einen Felsen. Eigentlich ist es gar kein richtiger Felsen, eher ein Block aus Sandstein, der auf einem kleinen Hügel steht. Einst war er wohl viel größer, nun ragt er nur noch aus dem heraus, was Wind und Wetter im Lauf der Zeit von ihm abgeschabt und weggetragen haben. Übrig geblieben ist ein bizarres Gebilde, das aus einiger Entfernung wie ein sitzender Riese aussieht. Jedes Mal, wenn ich mit meinen Kindern hier heraufkomme, meinen sie, genau dies sei der Platz, an dem das tapfere Schneiderlein damals seinen Kampf mit den Riesen ausgefochten hat. Sie sammeln herumliegende Steine auf und versuchen sie auszupressen. Weil wir keinen feuchten Käse eingepackt haben, werden am Bach kleine Klöße aus Schlamm geformt, damit lassen sich die Riesen ebenso gut hereinlegen. Nur für den kleinen Vogel, den das Schneiderlein in die Luft geworfen hat, findet sich so schnell kein brauchbarer Ersatz … Meine Frau kommt nur selten mit zu diesem Felsen. Sie mag ihn nicht. Weil sie aus dieser Gegend stammt, kennt sie all die gruseligen Geschichten, die sich die Leute in den umliegenden Dörfern von diesem steinernen Riesen erzählen. Früher, als er noch lebendig war, soll er nämlich alle Kinder, die von zu Hause weggelaufen waren und sich im Wald verirrt hatten, brutal eingefangen und verspeist haben. »Kinderfresser-Stein« haben die Leute den Felsen deshalb genannt. Ein Fels ist kein Riese. Das weiß jedes Kind. Aber wenn man ihn betrachtet, entsteht im Gehirn ein bestimmtes Aktivierungsmuster. Dieses Geflimmer der Synapsen kann, wenn der Fels eine entsprechende Gestalt hat, bisweilen genau dem Muster ähneln,

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das immer dann aufgebaut wird, wenn man sich einen Riesen vorstellt.Falls nun nichts eintritt,das einen Menschen daran hindert, dieses im Gehirn entstandene innere Bild entstehen zu lassen und sich darauf einzulassen, so wird der Fels auch als Riese erkannt. Diese im Inneren geweckte Vorstellung von einem Riesen ist dann in der Lage, weitere Erinnerungsbilder wachzurufen, die als früher entstandene charakteristische Verschaltungsmuster im Gehirn mit dem Bild eines Riesen eng verknüpft und deshalb nun entsprechend leicht aktivierbar sind. So erweitert sich das Bild des Riesen um andere Bilder, die als Berichte, Geschichten und Erzählungen über Riesen und die Begegnung von Menschen mit Riesen ebenfalls im Gehirn in Form bestimmter synaptischer Verschaltungsmuster abgespeichert sind. Diese inneren Bilder können dann selbst wieder zur Vorlage für eigene Handlungen werden. Auf diese Weise kann bisweilen die Grenze zwischen Vorstellung und Wirklichkeit letztlich ganz verschwimmen. Das innere Bild ist dann so lebendig, dass es das Denken, Fühlen und Handeln der betreffenden Person zu bestimmen beginnt. Nun ist es allerdings nicht weiter bedenklich, wenn ein durch die Wahrnehmung eines bizarr geformten Felsens im Inneren erzeugtes gedankliches Bild eines Riesen kleine Kinder dazu bringt, das tapfere Schneiderlein zu spielen. Das regt ihre Phantasie an, festigt das Selbstvertrauen und gibt ihnen Gelegenheit, neue, eigene Erfahrungen zu machen. Innere Bilder können also lebendig werden, den Horizont erweitern und stark machen. Es gibt aber auch Bilder – manchmal sogar solche, die durch die gleiche Wahrnehmung einer bestimmten Erscheinung im Gehirn anderer Personen oder bei der gleichen Person in einem anderen Kontext wachgerufen werden –, die den Horizont von Menschen einengen, ihnen Angst einjagen, sie verunsichern und schwach machen. Das ist schon bedenklicher. Denn einmal entstanden und im Hirn verankert, sind solche Bilder nicht nur in der Lage, einen Menschen daran zu hindern, irgendeinen Hügel zu besteigen. Wenn sie grundsätzlicher Natur und tief genug ins Hirn eingebrannt sind, können sie unter 8 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Umständen sogar dazu führen, dass Menschen an sich selbst und an der Welt – das heißt an dem Bild, das sie von sich selbst und von der Welt haben – verzweifeln. Wenn wir über innere Bilder reden, geht es also nicht nur um bizarre Felsformationen, aus denen unser Gehirn einen Riesen macht. Es geht um viel mehr. Es geht um die Selbstbilder, um die Menschenbilder und um die Weltbilder, die wir in unseren Köpfen umhertragen und die unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen. Wie die Hirnforscher in den letzten Jahren zeigen konnten, ist die Art und Weise, wie ein Mensch denkt, fühlt und handelt, ausschlaggebend dafür, welche Nervenzellverschaltungen in seinem Gehirn stabilisiert und ausgebaut und welche durch unzureichende Nutzung gelockert und aufgelöst werden. Deshalb ist es alles andere als belanglos, wie die inneren Bilder beschaffen sind, die sich ein Mensch von sich selbst macht, von seinen Beziehungen zu anderen und zu der ihn umgebenden Welt, und nicht zuletzt von seiner eigenen Fähigkeit, sein Leben nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Von der Beschaffenheit dieser einmal entstandenen inneren Bilder hängt es ab, wie und wofür ein Mensch sein Gehirn benutzt und welche neuronalen und synaptischen Verschaltungen deshalb in seinem Gehirn gebahnt und gefestigt werden. Es gibt innere Bilder, die Menschen dazu bringen, sich immer wieder zu öffnen, Neues zu entdecken und gemeinsam mit anderen nach Lösungen zu suchen. Es gibt aber auch innere Bilder, die Angst machen und einen Menschen zwingen, sich vor der Welt zu verschließen. Es gibt Bilder, aus denen Menschen Mut, Ausdauer und Zuversicht schöpfen, und es gibt solche, die Menschen in Hoffnungslosigkeit, Resignation und Verzweiflung stürzen lassen. Wie sind diese verschiedenen inneren Bilder, die wir alle in unseren Köpfen haben, dort hineingekommen? Haben wir sie selbst hineingebaut, oder sind sie uns von anderen ins Hirn gepflanzt worden? Wer oder was ist ausschlaggebend dafür, welches Bild sich eine bestimmte Person über die sichtbaren Erscheinungen der Welt macht, wie sie sich selbst und ihre Be9 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

ziehungen zu anderen Menschen bewertet, welche Visionen sie hat und welche Möglichkeiten sie sieht, ihr Leben zu gestalten? All das sind Fragen, um deren Beantwortung wir uns lang – und vielleicht unnötigerweise viel zu lang – herumgedrückt haben. Viel zu lang haben wir ahnungslos zugelassen, dass unsere inneren Bilder als unbewusste Vorstellungen in unseren Köpfen herumschwirren und unser Leben, die Nutzung unserer Gehirne und die Gestaltung unserer Lebenswelt bestimmen. Es ist deshalb Zeit zu begreifen, was diese inneren Bilder sind, wie sie entstehen und woher sie kommen. Nur wenn wir uns der Herkunft und der Macht dieser Bilder bewusst werden, können wir auch darüber nachdenken, wie wir es anstellen, dass künftig wir die Bilder und nicht die Bilder uns bestimmen. Jedes Nachdenken ist immer auch eine Chance zum Umdenken. Nachgedacht haben Menschen nicht erst in den letzten zweitausend Jahren. Aber das Umdenken ist nicht nur unseren Vorfahren schwer gefallen, auch wenn es an bemerkenswerten Anlässen, die ein solches Umdenken hätten in Gang setzen können, nicht gefehlt hat. Die großen weltbewegenden Leistungen und Desaster der vergangenen Jahrhunderte – wir verbinden sie nach wie vor mit den Namen von Menschen, aber nicht mit den Bildern, die diese Menschen im Kopf hatten. Adolf Hitler, Napoleon, Caesar, Alexander der Große, Djingis-Khan und wie die »großen Eroberer« und »Weltveränderer« auch alle geheißen haben: Waren sie es, die das Antlitz der heutigen Welt geprägt haben, oder waren es die aus irgendwelchen Gründen in ihren Hirnen entstandenen Ideen und Visionen? Woher kamen diese inneren Bilder, die das Denken, Fühlen und Handeln dieser Männer bestimmt und ihre Taten und Untaten gelenkt haben? Hätte Kolumbus Amerika ohne dieses Geflimmer in seinem Kopf entdeckt, das ihm die Visionen eines direkten Seewegs nach Indien immer wieder vorgaukelte? Oder die großen »Entdecker« und Wissenschaftler wie Einstein, Freud, Darwin, Newton, Descartes. Wie würde unsere heutige Welt aussehen, wenn die Bilder in ihren Köpfen nie entstanden wären, wenn sich dort nichts zusammengefügt hätte, das ihr Denken zunächst als vage 10 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Idee und später als feste Überzeugung bestimmte? Waren nicht diese Geistesblitze der Ausgangspunkt all jener großen Theorien, die sich später als entscheidende Schlüssel unseres Weltverständnisses erwiesen haben und die als mächtige Werkzeuge zur Gestaltung unserer heutigen Welt benutzt worden sind? Wohl am deutlichsten offenbart sich die Macht der inneren Bilder am Beispiel der großen Religionsstifter. Vor über zweitausend Jahren in den Köpfen einiger besonders begabter Visionäre entstanden, erwuchsen daraus die mächtigen Ströme der heutigen Weltreligionen. Sie formten ein gewaltiges, geistiges Flussbett, in dem das Denken, Fühlen und Handeln von Menschen über Generationen hinweg wie Kieselsteine zu der für den jeweiligen Strom typischen Gestalt geformt worden ist. Die gesamte Menschheitsgeschichte – ist das vielleicht nur die zeitliche Abfolge von lauter segensreichen wie auch verheerenden Folgen, die alle aus dem Umstand resultierten, dass bestimmte Visionen Einzelner in die Hirne unzählbar vieler Menschen übergesprungen sind, dort mit anderen Vorstellungen vermischt wurden und zu handlungsleitenden, individuellen wie auch kollektiven inneren Orientierungen und Leitbildern ganzer Epochen und Kulturen geworden sind? Die historische Beweislast ist erdrückend: Soweit wir überhaupt nur zurückdenken können, haben Menschen offenbar innere Bilder über die Beschaffenheit ihrer äußeren Welt entwickelt und zur Gestaltung dieser Welt benutzt. Im Lauf der Menschheitsgeschichte zu unterschiedlichen Zeiten und unter unterschiedlichen Bedingungen in den Gehirnen einzelner Menschen erst einmal entstanden, haben bestimmte Visionen und Ideen als individuelle und kollektive Leitbilder die bisherige Lebens- und Weltgestaltung der Menschen auf dieser Erde bestimmt. Mit ihrer Hilfe wurde nicht nur das Gleisbett gelegt, auf dem der Zug, mit dem sich die Menschheit fortbewegt, schlingernd und mehr oder weniger rasch vorankam. Sie, diese selbst mit den modernsten bildgebenden Verfahren im Gehirn des Menschen kaum sichtbaren Aktivierungsmuster bestimmter Neuronenverbände und synaptischer Netzwerke, haben 11 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

auch die entscheidenden Weichen gestellt, über die dieser Zug in eine bestimmte Richtung dahinrollte. Was für eine ungeheure Vorstellung: Nichts weiter als nackte Bilder, bloße geistige Vorstellungen erweisen sich als die entscheidenden, die Menschheit bewegenden, die Menschheitsentwicklung bestimmenden Kräfte. Ein absurder Gedanke? Das bleibt abzuwarten. Noch haben wir Zeit über die Macht unserer inneren Bilder nachzudenken. Aber sie wird immer knapper, seitdem das Zeitalter der Aufklärung angebrochen ist und der Siegeszug des wissenschaftlich-technischen Fortschritts an Tempo gewonnen hat. Im Taumel der Begeisterung über die plötzliche Befreiung des Denkens von den engen Fesseln mittelalterlicher Weltbilder sind die Menschen nun schon seit einigen Generationen dabei, die Welt nach ihren Vorstellungen in einem Tempo zu verändern, das ihnen nicht nur die Luft zum Atmen, sondern auch die Zeit zum Nachdenken zu nehmen droht. Angesichts all dessen, was es in dieser sich so rasch wandelnden Welt zu entdecken, zu erleben und zu unternehmen gibt, scheint den Menschen neben der Zeit zum Nachdenken nun auch noch etwas anderes, viel Schwererwiegendes verloren zu gehen: Das Interesse, darüber nachzudenken, was die Menschen eigentlich dazu gebracht hat, genau diese und keine andere »schöne neue Welt« zu erschaffen. Wer hat die Vorlagen dafür geliefert? Woher kommen die inneren Überzeugungen, dass die Verwirklichung genau dieser Visionen erstrebenswert, dass die nach diesen inneren Bildern gestaltete Welt auch die einzig lebenswerte sei? Das sind schwierige Fragen. Wer sie beantworten will, braucht Mut. Denn nur so lässt sich die Tür zu einem Raum öffnen, den keiner gern und nur selten jemand freiwillig betritt. »Erkenne dich selbst«, steht an dieser Tür, »finde heraus, was für innere Bilder es sind, die deinen und unser aller bisherigen Lebensweg bestimmt haben. Versuche zu erkennen, woher sie kommen, was sie bewirken und wohin sie dich führen«. An der Tür zu diesem Raum hört der Spaß der bloßen Gedankenakrobatik schnell auf, denn dahinter herrscht eine beängstigende 12 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Finsternis. Seit dem großen Aufbruch aus dem Mittelalter ist es der Menschheit innerhalb weniger Generationen gelungen, fast überall auf der Erde, ja selbst auf dem Mond und in fernsten Galaxien so viel Licht zu machen, dass die Bilder immer deutlicher erkennbar wurden, die unsere äußere Welt ausmachen. Aber in der anderen Welt, in der Welt unserer inneren Bilder, kennen wir uns nach wie vor nicht aus. Es scheint sogar so, als sei es, je greller wir die äußere Welt beleuchtet haben, genau dort immer dunkler geworden. Wer allzu lange in stockdunkler Finsternis herumtappt, stößt nicht nur alles Mögliche um. Es vergeht ihm auch allzu leicht der Mut, sich jemals dort zurechtzufinden. Hat er erst einmal resigniert sein geistiges Auge geschlossen, so erkennt er selbst dann nichts mehr, wenn es dort gelegentlich wieder etwas heller wird. »Geistige Erblindungsphänomene« nennen die Psychologen so etwas, und die Hirnforscher haben in den letzten Jahren eine Vielzahl von Beispielen zusammengetragen, die belegen, dass all jene neuronalen Verschaltungen und synaptischen Netzwerke im menschlichen Gehirn, die lange Zeit nicht oder nur noch sehr selten benutzt werden, allmählich verkümmern. Was aber geschieht, wenn wir die Herkunft und die Gestaltungskraft unserer inneren Bilder nicht mehr verstehen, wenn wir womöglich sogar die Fähigkeit verlieren, darüber nachzudenken und uns bewusst zu machen, wie diese Bilder entstehen und was sie bewirken? Was wird dann aus all diesen unverstandenen, aber dennoch weiterlebenden inneren Bildern? Kann es sein, dass sie uns am Ende selbst beherrschen? Die Ereignisse des 11. September 2001 haben der Menschheit auf bestürzende Weise vor Augen geführt, was passieren kann, wenn Menschen zu Sklaven der in ihrem Gehirn aus irgendwelchen Gründen entstandenen inneren Bilder geworden sind. Es ist höchste Zeit, über die Macht unserer inneren Bilder nachzudenken. Noch sind wir in der Lage, die Tür zu diesem dunklen Raum der Selbsterkenntnis zu öffnen. Aber wie lange noch? Nur so viel scheint festzustehen: Die inneren Bilder, die das Leben zeichnet, leben länger als die jeweiligen Lebensformen, deren 13 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Lebensweg sie bestimmt haben und in Zukunft weiter bestimmen werden. Dieses Buch soll eine Anregung bieten, über die Herkunft und die Bedeutung dieser inneren Bilder nachzudenken. Was ich hier auf den folgenden Seiten in Worte zu fassen versucht habe, ist vergleichbar mit dem, was dabei herauskommt, wenn man ein Puzzle aus vielen Teilbildern zusammensetzt. Wenn man Glück hat, bringt man die Teile so zusammen, dass daraus ganz allmählich und Stück für Stück ein Bild entsteht. Manchmal wird dieses Bild in Ansätzen sogar schon dann erkennbar, wenn noch viele Teile fehlen. Bereits vor Jahren habe ich mit diesem Puzzlespiel begonnen. Zunächst als Biologe, dann als Hirnforscher und schließlich auch als Hochschullehrer. Immer wieder musste ich dabei erleben, wie manche Einzelteile, manche der bis dahin herrschenden Vorstellungen und der bis dahin gewonnenen Erkenntnisse auf einem bestimmten Gebiet auf den ersten Blick recht gut zueinander zu passen schienen. Aber dann kam eine neue Entdeckung hinzu, die einfach nicht zu den bis dahin bereits entstandenen Bildern passte. Bisweilen brachte sie sogar alles, was sich bis dahin so schön zusammengefügt hatte, wieder in Unordnung. Ich hätte diese Versuche wahrscheinlich irgendwann aufgegeben, wenn nicht mein eigenes Leben selbst auch genau so verlaufen wäre, dass sich immer wieder nur eine Zeit lang manches zusammenfügte. Zu oft musste ich erleben, dass all das, was ich zu wissen und zu können und damit zu beherrschen glaubte, sich dann doch wieder als Illusion und Trugbild erwies. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und hatte mich mit dem Eintritt ins Gymnasium plötzlich in einer großen Stadt zurechtzufinden. Ich habe in der DDR Kindergarten, Schule und Universität besucht, dabei ein bestimmtes Weltbild in Theorie und Praxis eingehend kennen gelernt und musste später, nach meiner Flucht in den anderen Teil Deutschlands, feststellen, dass ich in einer fremden Welt gelandet war. Hier wurde das Leben der Menschen von anderen Welt-, Menschen- und Feindbildern bestimmt. Diese Wechselbäder habe ich überstanden, ebenso 14 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

wie noch so manch andere Begegnung mit Vorstellungen und Ideen, die mir zunächst fremd waren. Nach wie vor bin ich davon überzeugt, dass es nicht nur möglich, sondern immer wieder notwendig ist, Brücken zu bauen, die das scheinbar Getrennte miteinander verbinden. Ich weiß aber auch, dass das nicht geht, solang man allzu sehr an den einmal gewonnenen eigenen Vorstellungen und Überzeugungen klebt. Dann wird es unmöglich, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und deren Vorstellungen und Überzeugungen nachzuempfinden. Dann hat man auch keine Lust, nach etwas zu suchen, das all diese verschiedenen Vorstellungen davon, worauf es im Leben ankommt, letztlich doch wieder verbindet. Dass es so etwas geben müsse, davon war ich schon als Kind überzeugt. Ohnehin scheinen kleine Kinder bei diesem Puzzlespiel den Erwachsenen irgendwie überlegen zu sein. Erst wenn diese Kinder größer werden, lernen sie, dass vieles, das in der Welt der Erwachsenen geschieht, nicht so recht zusammenpasst. Manche finden sich damit ab und fragen nicht länger, warum dies und das so sein muss, wie es ist; andere aber fragen doch. Ich gehöre wohl eher zu den Letzteren. Bei meiner Suche nach den Ursachen für die vielen Probleme, die das Zusammenleben von Menschen so schwer machen, bin ich immer wieder darauf gestoßen, dass das, was nicht so recht zusammenpasst, nicht die Menschen sind, sondern die zum Teil recht unterschiedlichen, oft sogar sehr widersprüchlichen und gänzlich unvereinbaren Vorstellungen und Überzeugungen, die sie im Kopf haben. Es gibt Idealisten und Materialisten, Gläubige und Ungläubige, solche, die sich am Althergebrachten orientieren, und solche, die alles, was neu ist, für einen Fortschritt halten. Es gibt Nationalisten und Internationalisten, Globalisierungsbefürworter und Globalisierungsgegner, sogar solche, die bereit sind, für ihre Ideen in den Krieg zu ziehen, und solche, die jeden Krieg aus Überzeugung ablehnen. Es gibt Naturwissenschaftler, die glauben, dass nur das existiert, was sie mit ihren Methoden nachweisen können, und es gibt Geisteswissenschaftler, die diese Haltung als kleinkariert 15 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

und anmaßend abtun. Es gibt so ziemlich alles, was man sich an gegensätzlichen Auffassungen nur vorstellen kann, aber einen gemeinsamen Namen für das, was Menschen dazu bringt, so zu denken, zu fühlen und zu handeln, wie sie das nun einmal tun, gibt es nicht. Manchmal nennen wir es Ideen und Vorstellungen, manchmal Überzeugungen und Haltungen, manchmal Traditionen und Überlieferungen, manchmal auch Glaubensbekenntnisse oder einfach nur puren Blödsinn. Für mich als Hirnforscher verbirgt sich hinter all diesen unterschiedlichen Bezeichnungen für das, was Menschen antreibt und sie dazu bringt, ihr Leben auf eine bestimmte Weise zu gestalten, immer das Gleiche: Es sind in den Gehirnen dieser Menschen in Form hochkomplexer Nervenzellverschaltungen herausgeformte, ihr Denken, Fühlen und Handeln bestimmende Muster, also im Lauf des Lebens erworbene und im Gehirn verankerte Verschaltungsmuster zwischen den Nervenzellen. Immer dann, wenn eine solche Verschaltung aktiviert wird, entsteht ein bestimmtes Erregungsmuster, das sich auf andere Bereiche ausbreiten und auf diese Weise das Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen in eine bestimmte Richtung lenken kann. »Rückgriff auf handlungsleitende, Orientierung bietende innere Muster« wäre also die beste Bezeichnung für das, was Menschen dazu bringt, genau so zu denken, zu empfinden oder zu handeln, wie sie das nun einmal immer dann tun, wenn diese inneren Muster aktiviert werden. Wenn Psychotherapeuten sich darum bemühen, die bisherigen Überzeugungen, Haltungen und Einstellungen eines Menschen zu verändern, so arbeiten sie an diesen inneren Mustern und versuchen sie umzuformen. Therapeuten versuchen, andere Menschen in die Lage zu versetzen, Sicherheit bietende innere Bilder wachzurufen, wenn Angst erzeugende Bilder übermächtig und damit denk- und handlungsbestimmend zu werden drohen. Und sie versuchen, zu eng und übermächtig gewordene innere Bilder, die das Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen in immer enger werdende Sackgassen leiten, wieder zu öffnen, aufzulösen, weiter und lockerer zu machen. 16 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Schriftsteller, Künstler und viele andere Menschen, die ihre Erfahrungen an andere weitergeben, bemühen sich ebenfalls darum, neue innere Bilder zu erzeugen, und erreichen bisweilen, dass sich der Blick derer, die ihre Bücher oder Gedichte lesen und ihre Bilder oder Skulpturen betrachten, weitet und verändert, dass die inneren Bilder der Leser und Betrachter wieder lockerer und offener werden. In gewisser Weise tun das Gleiche auch Wissenschaftler, und zwar sowohl Natur- wie auch Geisteswissenschaftler, wenn sie anderen Menschen mit ihren Erkenntnissen vor Augen führen, dass das Bild, das diese sich bisher von der Welt oder vom Menschen gemacht haben, noch zu eng und zu beschränkt war, um all das zu fassen, was dort draußen, zwischen ihnen und in ihnen geschieht. Nun bin ich aber selbst (Natur-)Wissenschaftler und kenne daher nur allzu gut die Argumente, mit denen sich jeder exakte Wissenschaftler gegen die Verwendung eines so unpräzisen, »schwammigen« Begriffes wie dem eines inneren Bildes wehren muss. Wenn die Begrifflichkeiten verschwimmen, verschwimmen auch die Grenzen, innerhalb derer geprüft werden kann, ob eine Beobachtung oder eine Entdeckung gültig, also »wahr« ist. Aber ebenso gut weiß ich als Biologe und Hirnforscher, dass man, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, genau das tun muss: Grenzen überspringen. Nicht nur Grenzen des bisherigen Denkens, also der bisher zugrunde gelegten Vorstellungen (der inneren Bilder) davon, was als wissenschaftlich betrachtet wird, sondern auch all jene Grenzen, die zwischen den unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen entstanden sind und den Austausch von Erkenntnissen verhindern. Genau aus diesem Grund, nämlich um über den Tellerrand verschiedener Einzeldisziplinen hinausschauen und nach Gemeinsamkeiten auf allen Ebenen der Organisation des Lebendigen suchen zu können, verwende ich in diesem Buch den Begriff des »inneren Bildes«. Ich benutze ihn zur Beschreibung all dessen, was sich hinter den äußeren, sichtbaren und messbaren lebendigen Phänomenen verbirgt und die Reaktionen und Handlungen eines Lebewesens lenkt und steuert. Alle ande17 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

ren, auf den ersten Blick präziser erscheinenden Bezeichnungen – Schema, Muster, Information, Programm und so weiter – erweisen sich bei näherer Betrachtung als entweder ebenso schwammig oder sind im Sprachgebrauch einzelner Teildisziplinen bereits ebenso besetzt wie der Begriff des inneren Bildes in der Psychotherapie. Ausschlaggebend ist aber für mich ein anderes Argument: Inneres Bild ist ein lebendiger Begriff, der von den meisten Menschen (auch ohne besondere wissenschaftliche Vorbildung) mit dem eigenen Erfahrungsschatz verknüpft und daher leicht verstanden werden kann. Wer einmal auf diese Weise, gewissermaßen aus sich selbst heraus zu ahnen beginnt, was seine inneren Bilder sind, der wird nicht wieder aufhören können, danach zu suchen, wie die inneren Bilder anderer Menschen beschaffen sind. Er wird sich fragen, ob auch Tiere, vielleicht sogar einzelne Zellen solche inneren, handlungsleitenden Muster besitzen und wo sie herkommen. Vielleicht wird er sich, ähnlich wie ich – nur eben mit seinen speziellen Erfahrungen und seinem Wissen und seinen Kenntnissen – aufmachen, um die Welt der inneren Bilder zu erkunden und deren Herkunft und deren Macht zu begreifen versuchen. Und wie immer, wenn sich jemand auf eine solche Reise begibt, wird er als ein anderer zurückkehren, mit neuem Wissen und neuen inneren Bildern. Ich lade Sie also ein, mich auf meiner Reise durch die Welt der inneren Bilder zu begleiten. Streckenweise kann das eine bisweilen auch etwas beschwerliche Reise werden, denn sie führt von den Anfängen des Lebens bis in unsere heutige Zeit. Zwar beginnen wir diese Reise dort, wo wir noch am besten zu Hause sind (oder doch sein sollten), in der Bilderwelt in unserem Kopf. Aber sie führt uns schnell in die Entstehungsgeschichte dieser inneren Bilder zurück, bis zu den ersten Lebewesen, und dann wieder zur gemeinsamen Bilderwelt ganzer menschlicher Gemeinschaften. Am Ende werden Sie merken, dass es bei dieser Reise nicht darum geht, zu verstehen, wie das Hirn funktioniert, sondern darum, sein Hirn zu benutzen, um 18 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

zu verstehen, wie das Leben funktioniert, oder besser: Wie schön und kostbar es ist, eine Zeit lang lebendig zu sein. Kommen Sie mit und verzweifeln Sie nicht, wenn es unterwegs bisweilen holpert. Es ist eben ein noch nicht ganz fertiges Puzzle, durch das diese Reise führt …

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2. Bilder, die das Leben zeichnet

in warmer Sommertag am See geht zu Ende. Rotglühend versinkt die Sonne weit draußen im Wasser. Hier und dort tanzt ein Mückenschwarm im Schatten der Uferweiden. Vergeblich versuchen einige Wasserläufer die spiegelnde Oberfläche des Sees mit ihrem hektischen Gerenne zu zerkratzen. Im Schilf singt ein Teichrohrsänger sein geschwätziges Lied. Die Seerosen schließen bereits ihre Blütenköpfe und machen sich fertig für die Nacht. Auf einem ihrer schwimmenden Blätter sitzt ein kleiner Frosch. Er wartet noch auf sein Abendbrot. Obwohl seine großen Augen weit geöffnet sind, sieht er so gut wie nichts von alldem, was um ihn herum geschieht. In seinem kleinen Sehzentrum im Gehirn entsteht nur dann ein für ihn erkennbares Bild, wenn sich draußen etwas bewegt, am besten direkt vor seiner Nase, in Reichweite seiner Zunge. Wenn das auch noch die richtige Größe hat, gibt sein Gehirn das Kommando zum Zuschnappen. Der Rest geht dann blitzschnell: Zunge raus, Zunge rein und weg ist die Fliege. Blind für die bezaubernde Schönheit dieses Sommerabends sind auch die beiden Landvermesser, die eben ihre Karten und Gerätschaften zusammenpacken und sich auf den Heimweg machen. Für heute ist Feierabend. Morgen, so hoffen sie, wird die Kartierung des Ufergeländes abgeschlossen sein. Dann sollen die Erdarbeiten für die Umgestaltung des Geländes zu einem Freizeitpark beginnen. Der staubige Feldweg, der um den See führt, wird dann mit einer glatten Asphaltdecke bedeckt. Der junge Mann, der hier noch eben in der Abendsonne eine Runde mit seinem Fahrrad dreht, wird sich darüber freuen. Keuchend saust er am Ufer entlang. Auch er sieht weder die Frösche noch die Wasserläufer. Er muss sich beeilen, denn bald

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wird es dunkel, und dann sieht er gar nichts mehr. Verirren wird er sich deshalb nicht, denn diesen Weg ist er schon oft genug gefahren. Hier ist er zu Hause, hier kennt er sich aus. In seiner Wohnung angekommen, wird er duschen und noch etwas essen, vielleicht noch ein wenig fernsehen und dann früh zu Bett gehen, denn morgen erwartet ihn ein anstrengender Tag. Kaum hat er das Licht ausgeschaltet, beginnen die Bilder des vergangenen Tages noch einmal an ihm vorbeizuziehen. Er fällt in Schlaf und beginnt irgendwann zu träumen. Unbemerkt tauchen in seinem Kopf ganze Bilderwelten auf, mischen sich wild durcheinander und verschwinden wieder, ganz wie es ihnen gefällt. Nur einen letzten Zipfel davon kann er beim Aufwachen am Morgen noch erfassen. Es scheint ihm, als sei er soeben von einer weiten Reise nach Hause geflogen.

2.1 Das Gehirn als Bilder erzeugendes Organ er Augen hat zum Sehen, Ohren zum Hören, eine Nase zum Riechen, Haut zum Fühlen, für den ist die Welt voller Bilder. Allerdings braucht er dazu noch ein Gehirn, und das muss möglichst offen sein für alles, was über die Sinnesorgane dort, in den sensorischen Arealen der Hirnrinde, ankommt. Das in diesen Arealen entstehende, für jeden Sinneseindruck charakteristische Erregungsmuster wird anschließend in assoziative Rindenareale weitergeleitet. Dort führt das neu eintreffende Erregungsmuster zur Aktivierung von älteren, bereits durch frühere Sinneseindrücke herausgeformten und stabilisierten Nervenzellverschaltungen. Durch die Überlagerung beider Erregungsmuster, des neu eingetroffenen mit dem bereits vorhandenen, entsteht dann ein neues, für die betreffende Sinneswahrnehmung spezifisches, erweitertes Aktivierungsmuster. Dieses charakteristische Geflimmer der Synapsen repräsentiert nun als inneres Bild das jeweils neu Wahrgenommene. Aus dem bisher bereits Gesehenen und dem nun noch neu Hinzugekommenen wird so ein bestimmtes inneres »Sehbild«, aus dem Gehörten

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ein inneres »Hörbild«, aus dem Gerochenen ein inneres »Geruchsbild«, aus dem Ertasteten ein inneres »Tastbild«. Wenn eines dieser Erregungsmuster stark genug ist, um sich auch auf solche Hirnbereiche auszubreiten, die für die Bewertung von im Gehirn erzeugten Erregungszuständen verantwortlich sind, so wird die Aufmerksamkeit der betreffenden Person auf das in den assoziativen Arealen entstandene innere Bild gelenkt: Jetzt erst wird es bewusst wahrgenommen. Tatsächlich ist das, was auf diese Weise ins Bewusstsein gelangt, nur ein verschwindend kleiner Anteil der vom Gehirn generierten inneren Bilder. Maßgeblich dafür, ob ein Sinneseindruck bewusst wahrgenommen wird, ist auch nicht der Umstand, wie »wahr« er tatsächlich ist, sondern wie (wichtig) er von einer bestimmten Person in einer bestimmten Situation eingeschätzt wird. Im Gehirn wirkt ein entstandenes sensorisches Erregungsmuster umso »mächtiger«, je stärker es sich auf andere Bereiche des Gehirns ausbreiten und die dort normalerweise generierten Erregungsmuster überlagern kann. Das gilt vor allem dann, wenn sich die Erregung auf ältere, tiefer liegende Hirnregionen ausbreitet, deren Nervenzellverschaltungen für die Regulation körperlicher Funktionen zuständig sind. Dazu muss entweder der Sinneseindruck besonders unerwartet, einschneidend oder neuartig sein – wie beim Griff auf die heiße Herdplatte oder beim ersten Kuss – oder das Gehirn muss sich in einem für neue Eingänge ganz besonders offenen Zustand befinden – in freudiger Erwartungshaltung wie beim Start zur ersten Fahrt im Heißluftballon oder vor einer lang ersehnten Kreuzfahrt. Solche erschütternden oder beglückenden Ereignisse kommen im täglichen Routinebetrieb des Gehirns allerdings nur recht selten vor. Die inneren Bilder, die in solchen emotional aufgeladenen Situationen in Form bestimmter Aktivierungsmuster in den assoziativen Bereichen des Gehirns entstehen, bleiben eng mit dem für die Regulation körperlicher Funktionen zuständigen Aktivierungsmustern in subkortikalen, limbischen Hirnbereichen verbunden und werden deshalb besonders 23 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

komplex und nachhaltig stabilisiert und durch Bahnungsprozesse strukturell verankert. Es sind Bilder, die nie wieder »aus dem Sinn« gehen, weil sie so sehr »zu Herzen« gegangen sind oder so stark »auf den Magen« geschlagen haben. Häufiger erreicht ein durch einen Sinnesreiz im Gehirn entstandenes inneres Bild das Bewusstsein allein dadurch, dass es nicht so recht zu dem Bild passen will, das man bereits im Kopf hat. Dazu braucht der neue Sinneseindruck nur besonders neuartig zu sein oder in Verbindung mit anderen Sinneseindrücken aufzutauchen, die bisher in dieser Kombination noch nicht zusammen vorgekommen sind. Jedes Mal, wenn das passiert, wird ein bereits vorhandenes, früher entstandenes Erregungsmuster durch Überlagerung mit dem neu eintreffenden Muster vorübergehend durcheinander gebracht. Bis das neue Bild in das alte Muster integriert ist, herrscht in den betreffenden Bereichen des Gehirns eine gewisse Unruhe. Diese Unruhe breitet sich auf tiefer liegende, subkortikale Zentren aus, die ihrerseits durch die Ausschüttung bestimmter Botenstoffe in der Lage sind, die Erregbarkeit der höheren, kortikalen Nervenzellen zu verändern. Dadurch stellt sich ein Zustand ein, den man »fokussierte Aufmerksamkeit« nennt. Jetzt ist das Gehirn wach und kann das neue Aktivierungsmuster mit dem bereits vorhandenen, älteren Mustern abgleichen und zu einem neuen inneren Bild zusammenfügen. Je häufiger dieses zusammengeflossene Aktivierungsmuster dann anschließend wieder in Erregung versetzt wird, weil derselbe oder ein ähnlicher Sinneseindruck erneut auftritt, desto stärker werden die am Zustandekommen des betreffenden Aktivierungsmusters beteiligten Nervenzellverbindungen gebahnt, gefestigt und stabilisiert. Das neue innere Bild kann dann auch ohne eine äußere sinnliche Wahrnehmung »aus dem Gedächtnis« abgerufen werden. Etwas ist an all diesen im Gehirn ablaufenden Bilder generierenden und Bilder speichernden Prozessen besonders bemerkenswert: Sowohl für die relativ flache Verankerung eines wahrgenommenen Bildes in der inneren Vorstellungswelt wie auch für die wesentlich tiefer reichende Einbettung eines erlebten 24 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Bildes in die innere Gefühls- und Körperwelt müssen immer schon ältere, früher entstandene innere Muster da sein, an die das neue Muster gewissermaßen angehängt werden kann. Woher kommen diese alten Bilder? Sicher, sie sind entstanden durch das, was ein Mensch in seinem bisherigen Leben an immer wieder Neuem gesehen, gehört, gerochen oder gespürt und wahrgenommen hat. Im Alter ist weniger Neues hinzugekommen als während der Jugend oder gar während der frühen Kindheit, als ja noch so ziemlich alles neu war. Aber auch das musste ja an irgendwelche Bilder angehängt werden, die schon da waren, auch schon vor der Geburt. Tasten, schmecken und hören kann ein Mensch bereits im Mutterleib, und dass es dort bereits eine ganze Menge zu tasten, zu schmecken und zu hören gibt, daran besteht kein Zweifel. Aber in der Zeit davor, als überhaupt noch kein Sinnesorgan soweit entwickelt war, dass es seine Signale zum Gehirn weiterleiten konnte? Muss es nicht zu diesem Zeitpunkt auch schon irgendwelche charakteristischen Aktivierungsmuster im sich entwickelnden Gehirn des Embryos gegeben haben, an die dann alle später von den erwachenden Sinnesorganen eintreffenden Erregungsmuster angehängt, assoziativ verknüpft werden konnten? Sicher gab es die, denn lang bevor das Gehirn damit beginnt, sich mit Hilfe der Sinnesorgane ein eigenes inneres Bild von der Beschaffenheit der äußeren Welt zu machen (die ja vor der Geburt eine von der äußeren Welt abgeschirmte innere Welt im Bauch der Mutter ist), wird es bereits mit einer Fülle von Veränderungen konfrontiert. Die kommen allerdings weniger von außen, sondern vielmehr von innen. Sie entstehen während der Entwicklung des Gehirns allein dadurch, dass durch die fortwährende Teilung von Nervenzellen und das Auswachsen von Fortsätzen ständig zum bereits Vorhandenen etwas Neues hinzukommt. Die jeweils neu gebildeten Zellen werden in das bereits entstandene Gefüge der bisher gebildeten Nervenzellen eingebettet und eingefügt. Das bisher entwickelte Strukturmuster aus Nervenzellen und Fortsätzen wird so zur Matrix, an der sich alle nun noch weiter hinzukommenden Nervenzellen und 25 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Fortsätze ausrichten. Hat sich einmal ein Neuralrohr geformt, so kann daraus nur noch ein immer dickeres rohrförmiges Gebilde und schließlich ein Rückenmark werden. Haben sich im vorderen Bereich dieses Rohrs einmal Gruppen von Nervenzellen zu Ganglien gruppiert, so können daraus nur noch die immer größeren Kerngebiete des sich entwickelnden Gehirns werden. Haben die in Ventrikelnähe dieses Gehirns neu gebildeten Nervenzellen damit begonnen, in die äußeren Bereiche auszuwandern, so können die nachfolgenden Zellen nur noch in die sich dabei nacheinander herausbildenden Schichten der sich formierenden Großhirnrinde einwandern. Das Gleiche gilt für alle von diesen Nervenzellen auswachsenden Fortsätze. Jede neu gebildete Zelle, jeder neu entstehende Fortsatz findet also ein bereits vorhandenes, charakteristisches Strukturmuster vor, das darüber bestimmt, wohin die Zelle wandert oder wohin der Fortsatz weiter auswächst. So organisieren und ordnen sich die Nervenzellen während der frühen Phasen der Hirnentwicklung in bestimmten Gruppen, verbinden sich untereinander auf eine bestimmte Weise mit Fortsätzen und passen ihre innere Organisation immer besser und immer wieder neu an die vorgefundenen und sich ständig in bestimmter Weise verändernden Verhältnisse an. Ihre Anordnung und ihre Beziehungen werden also durch die im Gehirn zu jedem Entwicklungszeitpunkt bereits geschaffenen Voraussetzungen und Bedingungen geprägt. So wird das sich entwickelnde Gehirn – bereits lange Zeit vor der Geburt – zu einem sich fortwährend ergänzenden und vervollständigenden Abbild der Verhältnisse, unter deren Einfluss es sich herauszuformen hat. Und in dem Maß, wie das Gehirn über in das Blut abgegebene Neurohormone oder über periphere Nervensignale selbst Einfluss auf die Ausbildung körperlicher Strukturen und Funktionen nimmt, wird auch der Körper, wird die Ausbildung der verschiedenen Organe und deren Zusammenwirken an die vom Gehirn ausgehenden, dort entstandenen oder erzeugten Muster angepasst. Daher »passt« auch der jeweilige Körper exakt zu dem Gehirn, unter dessen Einfluss er sich entwickelt und strukturiert hat. 26 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Jetzt erst kommt der nächste Schritt: Zu den bisher bereits vorhandenen »Eingängen«, mit deren Hilfe sich das Gehirn ein Bild vom Zustand des Körpers machen konnte, also aus der Zusammensetzung des ankommenden Bluts oder den von Muskeln, Darm und anderen inneren Organen über Nervenverbindungen zum Gehirn weitergeleiteten Signalen, kommen mit der Ausreifung der »echten« Sinnesorgane (Haut, Augen, Ohren, Gleichgewichtsorgan, Nasen- und Mundhöhle) noch weitere Signale im sich entwickelnden Hirn an.Über sensorische Eingänge übertragen sie nun Informationen über Veränderungen der äußeren Welt des sich entwickelnden Embryos. Diese äußere Welt ist aber zunächst noch eine, durch den mütterlichen Organismus abgeschirmte, kontrollierte Welt innerhalb der Gebärmutter. Zu sehen gibt es dort noch nichts. Aber fühlen, hören oder schmecken kann das ungeborene Kind dort schon eine ganze Menge. Tastempfindungen, Geräusche oder der Geschmack (Geruch) des Fruchtwassers werden als charakteristische Impulsmuster über sensorische Nervenbahnen an das Gehirn weitergeleitet. Die in den sensorischen Arealen der Hirnrinde regelmäßig und immer wieder ankommenden Erregungsmuster führen zur Stabilisierung der dabei aktivierten synaptischen Verschaltungen und werden auf diese Weise als innere Bilder im Gehirn des ungeborenen Kindes verankert. Neue Reize, etwa die Veränderung des Geschmacks des Fruchtwassers durch bestimmte Aromastoffe in der mütterlichen Nahrung (z. B. Zimt oder Knoblauch) führen – je häufiger sie auftreten – zur fortschreitenden Erweiterung der jeweiligen inneren Repräsentanzen für die aus den einzelnen Sinneskanälen ankommenden Signale über die Beschaffenheit der äußeren Welt. So lernt das Ungeborene all das kennen, was an Veränderungen bis in seine vom mütterlichen Organismus abgeschirmte und kontrollierte Welt vordringt. Zum Zeitpunkt der Geburt verfügt jedes Kind daher schon über einen beträchtlichen Schatz an inneren Bildern. Dazu zählen nicht nur die inneren Repräsentanzen und assoziativen Verknüpfungen über die Beschaffenheit all jener Teilaspekte der 27 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Welt, die es bis dahin durch sinnliche Wahrnehmungen bereits kennen gelernt hat. Zu diesem Schatz gehören auch all jene Repräsentanzen, die als charakteristische Verschaltungsmuster bereits lange vor der Geburt in all jenen Bereichen des Gehirns herausgeformt und stabilisiert wurden, die für die Wahrnehmung von Veränderungen innerhalb des eigenen Körpers sowie für die Regulation von Organfunktionen und Stoffwechselprozessen zuständig sind. Dazu zählen Verschaltungsmuster, mit deren Hilfe der Blutdruck, die Sauerstoffsättigung (angeschlossen an das Atemzentrum), der Blutzuckerspiegel, die Ausschüttung von Hormonen und damit die Funktion und das Zusammenwirken innerer Organe gesteuert wird. Aber auch die grundlegenden Verschaltungsmuster für die Koordination und Steuerung zunächst reflexartig funktionierender, später auch willkürlich beeinflussbarer Bewegungen und Handlungen werden bereits vor der Geburt angelegt. Die in den so genannten motorischen Rindenfeldern entstehenden Repräsentanzen zur Steuerung komplexer Bewegungsabläufe müssen dazu in einem komplizierten Prozess erfahrungsabhängigen Lernens mit den sich im sensorischen Kortex ausbildenden Mustern des für spezifische Stellungen und Bewegungen charakteristischen Muskeltonus von Kopf, Rumpf und Extremitäten vernetzt werden. Dieser Prozess der Herausformung komplexer sensomotorischer Verschaltungsmuster zur Steuerung komplizierter Bewegungsabläufe setzt sich noch lang nach der Geburt fort. Im Verlauf dieses Prozesses entstehen immer präzisere und immer genauer aufeinander abgestimmte innere Repräsentanzen ganzer Handlungsabläufe, die als ganzheitliches inneres »Handlungsbild« abgerufen werden, wenn eine komplizierte Bewegung ausgeführt werden soll, etwa beim Fangen eines Balls oder beim Greifen und Zum-Mund-Führen einer Tasse, beim Laufen oder Springen, beim Schreiben und Lesen, und natürlich auch beim Formen von Wörtern und Sätzen, also beim Sprechen. Ähnlich verhält es sich mit dem Erkennen und Wiedererkennen optischer Eindrücke. Auch diese in der Sehrinde allmählich 28 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

immer präziser herausgeformten Repräsentanzen entstehen nach der Geburt durch die erfahrungsabhängige Weiterentwicklung und Spezifizierung bestimmter, zum Zeitpunkt der Geburt bereits angelegter und noch sehr einfacher Grundmuster der Anordnung und Verknüpfung all jener Nervenzellverbände, die an der Verarbeitung optischer Eindrücke beteiligt sind. Erst indem das Neugeborene das Gesicht der Mutter immer wieder intensiv betrachtet, entsteht in all jenen Hirnbereichen, die dabei aktiviert werden, ein zunehmend deutlicheres und präziseres inneres Bild dieser Mutter, das dann auch immer besser und sicherer wiedererkannt wird. Im weiteren Entwicklungsverlauf wird dieses durchaus nicht nur in der Sehrinde lokalisierte, sondern auch mit einer bestimmten Stimme, einem bestimmten Duft, bestimmten Bewegungen der Mutter und den eigenen Erfahrungen und Gefühlen verbundene »ganzheitliche innere Mutterbild« weiter geschärft und gleichzeitig erweitert um all das, was diese Mutter noch so zu bieten hat: Gefühle, die sich in Mimik und Gestik äußern, Fähigkeiten und Fertigkeiten, auch Schwächen und Unvollkommenheiten, die zum Erreichen des eigenen Wohlbefindens nutzbar sind, später wohl auch Grenzen mütterlicher Geduld, die rechtzeitig erkannt und respektiert werden müssen. Schließlich gehört zu dem Schatz an inneren Bildern, mit dem jedes Kind zur Welt kommt, auch das gesamte Repertoire an inneren Bildern, die immer dann wachgerufen und als handlungsleitende Reaktionsmuster aktiviert werden, wenn es zu einer Bedrohung des inneren Gleichgewichts kommt. Diese für den Notfall bereitgehaltenen Reaktionsmuster reichen von der Aktivierung neuroendokriner Kaskaden zur Kontrolle der Synthese und Ausschüttung von Stresshormonen (hypothalamohypophyseo-adrenokortikale Achse, sympathiko-adrenomeduläre Achse) über die Stimulation autonomer, sympathische und parasympathische Nervenbahnen benutzender Reaktionen bis hin zur Aktivierung so genannter Notfall-Handlungen (Flucht, Angriff, Verteidigung, Schreien, Erstarren etc.). Diese Reaktionsmuster sind sehr alt. Man findet sie bei allen Tieren in 29 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

mehr oder weniger starker Ausprägung. Die ihnen zugrunde liegenden neuronalen Verschaltungsmuster werden bei allen Säugetieren weitgehend identisch und unter dem Einfluss früher genetischer Programmierungen herausgeformt. Das gilt auch für all jene inneren Muster, deren Aktivierung zur Auslösung dieser Notfallreaktionen führt, etwa beim Anblick einer Schlange, bei plötzlich eintretender Dunkelheit oder greller Beleuchtung, beim Alleingelassenwerden oder beim Blick aus großer Höhe. Auch diese, zum Zeitpunkt der Geburt bereits vorhandenen, eine Notfallreaktion auslösenden Verschaltungsmuster können durch spätere Erfahrungen (Reaktionen der jeweiligen Bezugspersonen) entweder abgeschwächt und überformt oder auch noch weiter (bis hin zu phobischen Reaktionsmustern) geschärft und verstärkt werden. Die wichtigsten Erfahrungen macht jedes Kind als Beziehungserfahrung anhand der von seinen Bezugspersonen bezogenen »Vorbilder«. Sie können seinen Blick weiter öffnen, seine Neugier und seine Lust an der Entdeckung der Welt und seiner eigenen Gestaltungsmöglichkeiten weiter fördern. In ungünstigen Fällen können diese Vorbilder aber auch ihre eigenen Ängste und Unsicherheiten auf das Kind übertragen, seinen Blick verengen und ihm sein Vertrauen und damit seine Neugier und seine Gestaltungslust rauben. Von allen Lebewesen, die im Lauf der letzten Jahrmillionen auf der Erde entstanden sind, ist der Mensch die einzige Lebensform, der es gelungen ist, einen ständig sich vergrößernden Schatz an selbst entworfenen inneren Bildern über die Beschaffenheit der Welt und über seine eigene Beschaffenheit anzusammeln und von einer Generation zur nächsten weiterzugeben. Und nur der Mensch ist – wenngleich nicht immer, so doch prinzipiell – in der Lage, seine Handlungen auf der Grundlage dieses inneren Bilderschatzes bewusst und vorausschauend zu planen. Nur wir können uns fragen, woher die inneren Bilder kommen, die unsere Wahrnehmung, unser Denken, Fühlen und Wollen, und damit letztlich unser Handeln bestimmen. Mit 30 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Hilfe unseres Verstandes können wir versuchen, uns ein Bild von dem zu machen, was innere Bilder überhaupt sind, wie sie entstehen und auf welche Weise sie ihre strukturierende Kraft entfalten. Es mag sein, dass wir noch weit davon entfernt sind, dass dieser Versuch auch wirklich gelingt. Möglicherweise ist unser gegenwärtiges Wissen noch immer zu bruchstückhaft, um daraus ableiten zu können, was uns selbst bisher angetrieben und unsere bisherigen Entscheidungen bestimmt hat. Vielleicht fehlt uns aber auch nur der Mut, um den Vorhang aufzuziehen und unser Bewusstsein auf die inneren Bilder zu richten, mit deren Hilfe wir unser bisheriges Leben gestaltet haben. Am leichtesten lässt sich dieser Vorhang öffnen, wenn wir uns zunächst dort umsehen, wo es uns selbst noch nicht all zu sehr betrifft: in der Entwicklungsgeschichte der inneren Bilder.

2.2 Die Entwicklungsgeschichte der inneren Bilder ir können nicht wissen, wie die ersten Lebensformen entstanden sind, aber wir können uns vorstellen, welche Fähigkeiten entwickelt werden mussten, damit diese ersten lebendigen Wesen überhaupt entstehen und überleben konnten. Vielleicht waren sie zunächst nichts anderes als durch besonders günstige Umstände, unter besonders günstigen Bedingungen in Gang gekommene Reaktionsketten und -zyklen, also komplexe chemische Reaktionen, die zufälligerweise so zusammenwirkten und aufeinander abgestimmt waren, dass der ganze Prozess gewissermaßen aus sich selbst heraus am Laufen gehalten wurde. Diese ersten chemischen Reaktionssysteme konnten allerdings nicht sehr lang funktionieren. Sie brachen immer dann zusammen, wenn sich die äußeren Rahmenbedingungen oder inneren Voraussetzungen zu verändern begannen, die für das Ingangkommen und den störungsfreien Ablauf dieser rückgekoppelten chemischen Prozesse erforderlich waren. Zufälligerweise wird es hin und wieder zu einer Anlagerung und Integration weiterer Reaktionsketten und -zyklen in ein

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solches chemisches Reaktionssystem gekommen sein. Auf diese Weise gewann das ganze Gebilde immer mehr Komplexität. Die in ihm ablaufenden chemischen Prozesse wurden durch vielfältige Rückkopplungen immer besser steuerbar und aufeinander abstimmbar. Dadurch verringerte sich die Anfälligkeit dieses komplexen chemischen Reaktionssystems gegenüber äußeren Störungen, es wurde stabiler und blieb entsprechend länger erhalten. Auf diese Weise müssen die ersten offenen, sich selbst optimierenden und stabilisierenden Systeme entstanden sein. Aber lebendig waren diese Gebilde deshalb noch immer nicht. Nach wie vor konnte das ganze komplizierte chemische Reaktionsgebilde in sich zusammenbrechen, wenn einer der darin ablaufenden chemischen Prozesse durch eine äußere oder innere Störung ins Stottern geriet. Es ging diesem Gebilde voneinander abhängiger chemischer Reaktionen ähnlich wie dem Wellenmuster, das auf der Oberfläche einer gefüllten Teetasse entsteht, wenn man die gesamte Wasseroberfläche mit einer bestimmten Frequenz in Schwingung versetzt, zum Beispiel indem man einen Lautsprecher darüber hängt, der einen bestimmten Ton erzeugt. Dann überträgt sich die Schwingung auf den Inhalt, und auf der Oberfläche entstehen wunderbar filigrane und beeindruckend komplizierte Wellenmuster, so genannte stehende Wellen. Sobald aber ein Krümel in die Tasse fällt und auf der Oberfläche schwimmt, so wird das ganze Muster gestört und es herrscht wieder das, was immer herrscht, wenn die Ordnung voneinander abhängiger Prozesse gestört wird: Chaos. Es hat vielleicht lange gedauert, bis es wirklich dazu kam, aber irgendwann muss es passiert sein: Zufälligerweise muss sich innerhalb eines dieser komplizierten Gebilde eine Reaktionskette herausgebildet haben, die nun ihrerseits in der Lage war, das ganze komplexe Gebilde zunächst teilweise wieder zu ordnen und später sogar vollständig wieder neu aufzubauen, wenn es durch eine Störung durcheinander geraten oder zusammengebrochen war. Damit war der entscheidende Durchbruch geschafft. Aus einem sich selbst organisierenden und sta32 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

bilisierenden chemischen System war nun ein lebendes System geworden, das in der Lage war, sich selbst zu erhalten und zu reproduzieren. Inzwischen kennen wir die chemische Matrix, die es diesen ersten Lebensformen ermöglicht hat, ihre einmal entwickelte innere Organisation anhand dieses Musters immer wieder neu aufzubauen. Wir wissen auch, wie gut sich die dazu benutzten Nukleinsäuresequenzen für diesen Zweck eignen, wie zuverlässig sich mit ihrer Hilfe Anleitungen für den Aufbau komplexer Reaktionsmuster auch über viele Generationen hinweg übertragen lassen und wie erweiterungsfähig diese Informationsträger für die Verankerung neuer, für das Überleben des von ihnen strukturierten Lebewesens vorteilhafter Reaktionsmuster und Baupläne sind. Aber eines wird uns erst jetzt allmählich bewusst: Was ein lebendes System auszeichnet, ist nicht die Kompliziertheit der in ihm ablaufenden Prozesse, sondern seine Fähigkeit, all diese Prozesse so zu steuern und zu lenken, dass das betreffende System auch noch dann erhalten bleibt, wenn es nach den Gesetzen der Physik oder Chemie eigentlich zerfallen müsste. Die alte und noch immer weit verbreitete Vorstellung, ein Lebewesen sei lediglich eine besonders kompliziert aufgebaute Form von Materie, die sich mit physikalischen oder chemischen Gesetzmäßigkeiten beschreiben lässt, ist daher für das Verständnis und die Analyse lebender Strukturen unbrauchbar. Lebende Systeme müssen vielmehr als Gebilde betrachtet werden, die in der Lage sind, ganz bestimmte physikalische und chemische Eigenschaften ihrer materiellen Bausteine zu nutzen, um anhand eines einmal entwickelten oder von Vorläufern übernommenen inneren Musters ein bestimmtes inneres Beziehungsgefüge aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Was also jedes Lebewesen besitzen muss, und was es erst lebendig macht, ist ein in seinem Inneren angelegter Plan, eine seine innere Organisation lenkende und seine Strukturierung leitende Matrix, also ein inneres Bild von dem, wie es sein müsste oder werden könnte. Aus diesem Grund ist auch jede Weiterentwicklung einer solchen einmal entstandenen Lebensform nur dann möglich, 33 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

wenn es zu einer Erweiterung, Modifikation oder Neuordnung dieser einmal gefundenen inneren Bilder kommt. Die als Informationsträger zuerst benutzten Nukleinsäureketten boten hierfür optimale Voraussetzungen. Durch Verdopplung bereits entstandener Sequenzen, durch Kettenverlängerungen, durch Mutation und Rekombination ließen sich die einmal entstandenen inneren Bilder auf vielfältige Weise erweitern, abwandeln und ergänzen. So konnten immer neue Bilder erzeugt, im Genom festgehalten und an die jeweiligen Nachkommen überliefert werden. Die meisten dieser neu entstandenen Bilder wurden jedoch für den Aufbau und den Erhalt des betreffenden Lebewesens, also beispielsweise einer Zelle, nicht gebraucht. Sie wurden als modifizierte Kopien der ursprünglichen DNA-Sequenzen sozusagen beiseite gelegt und dienten lediglich als Reservoir noch nicht benötigter und daher auch noch nicht umgesetzter Handlungsanweisungen. Erst dann, wenn sich die inneren oder äußeren Bedingungen des betreffenden Lebewesens so zu verändern begannen, dass das bisher genutzte Spektrum von DNA-Sequenzen nicht mehr ausreichte, um das Überleben der betreffenden Lebensform zu sichern, konnte auf diesen über viele Generationen hinweg angelegten Schatz an inneren Bilder zurückgegriffen und so möglicherweise eine neue Lösung für ein Überleben – vielleicht nicht der erwachsenen Formen, aber möglicherweise ihrer Nachkommen – auch unter diesen neuen Bedingungen gefunden werden. Über einen sehr langen Zeitraum hinweg blieb das Genom mit den dort abgespeicherten und bereitgehaltenen DNA-Sequenzen die einzige Ebene, auf der die zum Aufbau und zur Erhaltung der unterschiedlichsten Lebensformen benutzten inneren Bilder erzeugt und abgerufen wurden. Durch Erweiterung dieser Nukleotid-Sequenz-Muster konnten immer kompliziertere und immer feiner aufeinander abgestimmte chemische Reaktionen, Reaktionszyklen und Reaktionsketten aufgebaut und gelenkt werden. Auf dieser Grundlage wurde es später möglich, die unterschiedlichsten zellulären Strukturen aufzubauen, zunächst als frei lebende Einzeller und später auch als vielzellige 34 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Organismen. Wie ein Bauplan wurden diese DNA-Muster von Vielzellern benutzt, um das Zusammenwirken und die Anordnung von Zellen während der Embryonalentwicklung zu lenken, um zelluläre Spezialisierungs- und Differenzierungsprozesse innerhalb des Embryos in Gang zu setzen und so zu steuern, dass sich Organanlagen und schließlich funktionsfähige Organe und Organsysteme herausbilden konnten. Beides, das innere Handlungsmuster und das für diese Umsetzung erforderliche Rüstzeug, wurde von den jeweiligen Vorfahren übernommen und an die jeweiligen Nachfahren überliefert. Bei dieser Überlieferung kam es immer wieder zu Fehlern, so dass sich die von Generation zu Generation weitergegebenen Baupläne allmählich veränderten. Bei all jenen Lebensformen, die sich geschlechtlich fortpflanzen, vermischten sich zudem die vom väterlichen und mütterlichen Organismus an die Nachkommen überlieferten genetischen Programme in einer kaum vorhersehbaren Weise. Von der so erzeugten Vielfalt an genetisch verankerten inneren Bildern blieben jedoch nur diejenigen erhalten, die sich als Vorlagen für den Aufbau eines Organismus eigneten, der nicht nur überlebte, sondern der vor allem auch in der Lage war, diese inneren Bilder selbst wieder an entweder möglichst viele oder an einige wenige, dafür aber besonders überlebensfähige Nachkommen weiterzugeben. Prinzipiell haben sich beide Überlieferungsstrategien bewährt, um einmal entstandene und in Form bestimmter Nukleinsäuresequenzen gespeicherte innere Bilder über Generationen hinweg zu erhalten und weiterzugeben. All jene Lebensformen, denen die Weitergabe ihrer genetischen Anlagen durch massenhafte Vermehrung gelang, waren allerdings darauf angewiesen, dass ihre Lebenswelt auch weiterhin so blieb, wie sie einmal gewesen war, als ihre inneren Bilder entstanden. Ihre Lebensbedingungen und damit die Voraussetzungen für ihre hohe Reproduktionsrate durften sich nicht verschlechtern. Für die Bewältigung von bisher nicht aufgetretenen Veränderungen, für Not, Dürre, Klimaveränderungen, für die Auseinandersetzung mit neu auftauchenden Fressfeinden oder Nahrungskonkur35 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

renten fehlten ihnen die dafür erforderlichen Voraussetzungen. Sie besaßen keinen ausreichend großen Schatz innerer Bilder, um neuartigen, bedrohlichen Veränderungen ihrer äußeren Verhältnisse entgegenzuwirken oder gar ihre eigenen Lebensbedingungen selbst zu gestalten. Ihre Überlebensstrategie war es, alle vorhandenen Ressourcen zur Steigerung ihrer Reproduktionsrate einzusetzen. Das Mitschleppen von Bildern, die nicht unmittelbar diesem Zweck dienten, war ein Luxus, den sich diese Lebensformen nicht leisten konnten. Anders verhält es sich mit all jenen Lebensformen, denen es gelungen war, sich nicht in erster Linie durch massenhafte Vermehrung, sondern durch ein immer größer und komplexer werdendes Repertoire an unterschiedlichsten Verhaltensreaktionen und Überlebensstrategien zu behaupten. Durch Vervielfältigung, Abwandlung und Durchmischung genetischer Sequenzen sind ihre inneren Bilder im Verlauf der Evolution zunehmend erweitert, modifiziert und ergänzt und zum Aufbau immer komplexerer vielzelliger Organismen verwendet worden. Am Ende dieser langen Entwicklungsreihe innerer (DNA-)Bilder entstanden schließlich auch solche genetischen Muster, die die Herausbildung eines besonders komplex aufgebauten Organs ermöglichten. Dieses Organ, das Gehirn, erwies sich selbst wiederum als geeignet, handlungsleitende innere Bilder in Form bestimmter Aktivierungs- und Interaktionsmuster zwischen besonders »interaktionsfreudigen« Zellen zu generieren, diese in Form neuronaler Verschaltungsmuster abzuspeichern und zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung des Gesamtsystems zu nutzen. Mit Hilfe dieses neuen »Bilder generierenden Apparates« wurde es nun auch erstmals möglich, im Lauf des eigenen Lebens gemachte Erfahrungen in Form bestimmter neuronaler und synaptischer Verschaltungen fest zu verankern und zur Bewältigung neuer Probleme und Herausforderungen einzusetzen. Mit Hilfe der Sprache wurden diese handlungsleitenden inneren Bilder später, auf der Stufe des Übergangs zum Menschen, sogar von einer Person zur anderen übertragbar, kommunizier36 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

bar. Subjektive Erfahrungen konnten nun auch an andere Individuen weitergegeben, mit den Erfahrungen anderer vermischt, ergänzt und erweitert werden. Auf diese Weise entstand ein ständig wachsender, kulturell tradierter Schatz kollektiver Bilder von im Verlauf der bisherigen Entwicklung einer Gemeinschaft bei der Bewältigung innerer und äußerer Probleme gemachten Erfahrungen. Diese im kollektivem Gedächtnis bewahrten und weitergegebenen inneren Bilder erwiesen sich als mächtige Werkzeuge zur Gestaltung der äußeren Welt (Weltbilder) und der eigenen Entwicklungsbedingungen (Menschenbilder). Bereits sehr früh haben Menschen offenbar damit begonnen, ihre bloße Vorstellungskraft zu nutzen, um sich ein Bild von der unsichtbaren Kraft zu machen, die die vielfältigen Lebensformen auf der Erde und damit auch sie selbst hervorgebracht hat. Die Überreste dieser frühen Vorstellungen finden sich in Form unterschiedlicher Schöpfungsmythen in allen Kulturen. Überall auf der Erde haben Menschen dieser Kraft einen Namen, oftmals sogar eine konkrete Gestalt gegeben, und immer verbarg sich dahinter das Bild einer geistigen, über alle menschliche Vernunft hinausreichenden, schöpferischen Kraft. Von diesem übergeordneten, alles Sein und Werden beschreibenden Bild wurden alle weiteren Vorstellungen über die beobachtbaren Phänomene und die hinter diesen Phänomenen wirkenden Kräfte abgeleitet. Es wirkte als zentrale Orientierung bietende und Ordnung stiftende Matrix, als Matrix, die das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen lenkte und an der sie alle anderen Bilder von der Welt und von sich selbst ausrichteten. Sie nutzten diese Matrix, um ihr individuelles und gemeinschaftliches Leben zu organisieren, um sich selbst und ihr Gemeinwesen zu strukturieren. Dieses zentrale Bild lieferte ihnen auch die Richtschnur, mit deren Hilfe sie die Möglichkeiten – aber auch die Grenzen – ihrer Bemühungen zur Gestaltung ihrer eigenen Lebenswelt ausloteten. Jahrtausendelang wurde dieses Bild einer vom Schöpfergeist geschaffenen und aufrechterhaltenen natürlichen Ordnung von 37 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Generation zu Generation weitergegeben, und zwar nicht aus Gewohnheit, sondern wegen der Bedeutung, die es für die Menschen als entscheidende, Halt und Orientierung bietende, Ordnung stiftende und bewahrende Kraft besaß: Es war ihre wichtigste Ressource zur Überwindung von Verunsicherung und Angst. Und je besser es einer Gemeinschaft gelang, diese Ressource zu nutzen und zu festigen, desto angstfreier und zuversichtlicher konnten sich die Mitglieder dieser Gemeinschaft allen Bedrohungen entgegenstellen, desto mutiger und unbekümmerter waren sie in der Lage, nach neuen kreativen Lösungen für immer neue Herausforderungen zu suchen. Nachdem die Menschen erst einmal entdeckt hatten, dass sie selbst imstande waren, die Welt nach ihren Vorstellungen zu verändern und zu gestalten, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis das alte Bild einer vom Schöpfergeist geschaffenen und getragenen Weltordnung durch ein neues ersetzt wurde, in dem sie selbst als Entdecker und Gestalter der Welt erschienen. Dieser Vorstellungswandel hat sich in der westlichen Welt seit der Aufklärung und dem Beginn des Industriezeitalters unglaublich schnell innerhalb weniger Generationen vollzogen. Inzwischen ist die alte, Halt bietende Matrix nur noch in Resten vorhanden. Ihre einstige Sicherheit bietende, Orientierung stiftende, ordnende und strukturierende Funktion hat sie für den überwiegenden Teil der Bevölkerung in den hochtechnisierten Industriestaaten weitgehend eingebüßt. Aber das neue zentrale Bild vom Menschen selbst als Schöpfer und Ordnungsstifter konnte bisher nicht leisten, was das alte Bild noch vermochte. Wohl bot es vielen Menschen einen gewissen Halt, aber im Grund nur so lang sie noch erfolgreich waren und es ihnen auf diese Weise immer wieder gelang, dieses Selbstbild zu bestätigen und zu befestigen. Um ihren Halt nicht zu verlieren, sind diese Menschen gezwungen, erfolgreich zu sein. Aber eine auf den Menschen selbst als Schöpfer und Lenker zentrierte innere Vorstellungswelt hat ein entscheidendes, auch durch fortwährenden Erfolg nicht überwindbares Manko. Weil dieses Bild nicht über den Menschen hinausgeht und auf etwas 38 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

verweist, das außerhalb dessen liegt, was er selbst ist und kann, bietet es ihm auch keine Möglichkeit, sich an irgendetwas anderem zu orientieren als an dem, was er bereits ist und was er bereits kann. Ebenso wenig wie ein Spiegel, in dem man sich betrachtet, ist dieses Bild in der Lage, brauchbare Orientierungen für die eigene Lebensgestaltung zu bieten. Es gibt keine Antwort auf die Frage, warum man so ist, wie man ist. Es sagt nicht, wie man sein Leben gestalten, wofür man es einsetzen soll, weshalb man überhaupt lebt. Ein inneres Bild, das keinen Sinn stiftet und das dem Menschen keinen Ort der Geborgenheit zeigt, ja noch nicht einmal einen Weg zu einem solchen Ort weist, eignet sich offenbar auch nicht als Orientierung stiftende Matrix für die Zuordnung und Einordnung all der vielen anderen inneren Bilder, die das menschliche Gehirn ständig aus alten Erinnerungen und neuen Wahrnehmungen hervorbringt.Menschen ohne Orientierung bietende innere Leitbilder sind verloren. Um sich in der Vielfalt der auf sie einprasselnden Wahrnehmungen und der von ihrem Gehirn erzeugten Bilderwelten zurechtzufinden, bleibt ihnen am Ende nur eine Möglichkeit: Sie müssen sich wieder stärker auf das verlassen und sich an dem orientieren, was auch schon ihre tierischen Vorfahren durchaus erfolgreich benutzt hatten, um sich im Leben zurechtzufinden. Sie müssen zurückgreifen auf alte, nicht kulturell, sondern biologisch überlieferte und sehr früh im Hirn programmartig herausgeformte neuronale Verschaltungsmuster. Die Aktivierung dieser alten inneren Bilder, entweder in Form früher Kindheitserfahrungen oder in Form angeborener Triebstrukturen und Instinktprogramme, lenkt dann automatisch alle weiteren Entscheidungen und Handlungen. So werden diese alten Bilder, wenn andere nicht mehr oder noch nicht verfügbar sind, zu den entscheidenden Organisatoren des Denkens, Fühlens und Handelns der betreffenden Menschen. In Ermangelung anderer, über sie selbst und ihre individuelle Existenz hinausreichender Orientierung bietender innerer Leitbilder sind in den hoch entwickelten Industriestaaten immer mehr Menschen gezwungen,auf diese alten,früh geformten oder 39 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

angeborenen Handlungsmuster zurückzugreifen. Viele der dadurch im 20. Jahrhundert immer stärker zutage tretenden animalischen oder infantilen Verhaltensweisen widersprachen jedoch dem idealisierten Bild vom Menschen,das von den vorangegangenen Generationen entwickelt und weitergegeben worden war. Die daraus resultierende allgemeine Verunsicherung wurde zu einem mächtigen Motor, der mehrere Forschergenerationen antrieb, nach dem zu suchen, was der Mensch eigentlich ist, was ihn ausmacht und wofür er »natürlicherweise geschaffen« ist – objektiv und losgelöst von all den erst von ihm selbst im Geist entworfenen Bildern. Systematisch begannen diese Human- und Biowissenschaftler die Stufenleiter der die Menschen bestimmenden inneren Bilder hinabzusteigen. Von der Ebene der noch schwer messbaren menschlichen Wünsche und Bedürfnisse gelangten sie auf die Ebene der frühen Prägungen, die sich auch schon bei manchen Tieren beobachten und erforschen ließen. Parallel dazu entdeckten sie die Triebe und Instinkte, die auch alle Säugetiere besitzen. Diese ließen sich ihrerseits recht gut aus den einfachen Reiz-Reaktions-Schemata ableiten, die überall dort zu finden sind, wo es überhaupt ein Nervensystem gibt. Auf ihrer Suche nach den Kräften, die die Herausformung der diesen Reaktionen zugrunde liegenden Nervenzellverschaltungen lenken, gelangten die Forscher schließlich auf die unterste Ebene Bilder generierender Systeme: die Gene. Diese die Herausformung bestimmter Merkmale lenkenden Muster wurden in Form von Nukleinsäuresequenzen isoliert, sequenziert, transferiert und exprimiert. Zu Beginn des dritten Jahrtausend war das menschliche Genom weitgehend entschlüsselt. Das große Projekt, der Versuch, mit Hilfe der Naturwissenschaft ein objektives Bild von dem zu zeichnen, was der Mensch wirklich ist, war nun endlich ganz unten angekommen.Die selbst in manchen Tageszeitungen abgedruckten Buchstabenfolgen aus A, T, C und G markierten das Ende einer langen und aufwendigen Suche nach einem Ersatzbild für die zentrale Matrix, die seit dem Beginn der Aufklärung verloren gegangen war. 40 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Die nun entschlüsselten DNA-Sequenzen bieten jedoch keinen geeigneten Ersatz für diesen Verlust. Sie lassen sich einfach nicht zu einem Bild zusammenfügen, das dem Menschen Sicherheit und Orientierungshilfen bieten kann. Vielleicht ist dieses erfolgreich abgeschlossene, im Kern aber letztlich doch gescheiterte Projekt, den Menschen bis in seine letzten Teile zu zerlegen, um ihn auf diese Weise begreifen zu können, auch nur das vorläufige Ende einer noch länger währenden Kreuzfahrt. Die auf allen Ebenen der den Menschen konstituierenden inneren Bilder betriebene Suche nach dem, was der Mensch »objektiv« ist, hat als Beiwerk einen immensen Schatz an neuem Wissen und Erkenntnissen, an neuen Fähigkeiten und Fertigkeiten, an neuen Verfahren und Technologien zutage gefördert. Diese Erfolge stärkten das in der industrialisierten Welt entwickelte und propagierte Bild vom Menschen als ein zum Durchschauen der Schöpfung nicht nur begabtes, sondern auch befähigtes Wesen. Gleichzeitig war dieser neu entstandene Schatz an Knowhow nutzbar – nicht nur zur Optimierung der bisherigen Lebensbedingungen von Menschen, also zur Verbesserung der Nahrungsproduktion oder der medizinischen Versorgung, sondern auch zur »Optimierung« des Menschen selbst. Bisher ungeahnte Möglichkeiten zur Manipulation von Menschen bieten sich nunmehr auf allen Ebenen, auf denen innere Bilder ihre strukturierende Kraft entfalten. Das neue Wissen lässt sich nicht nur auf der Ebene des Genoms zur gezielten Veränderung genetischer Muster im Erbgut des Menschen verwenden. Es ist ebenso gut auch zur Manipulation der auf der Ebene des Gehirns erzeugten inneren Bilder geeignet, etwa durch die gezielte Beeinflussung der Herausformung neuronaler Verschaltungsmuster während der Hirnentwicklung oder durch die gezielte Manipulation des Denkens, Fühlens und Handelns von Menschen durch psychoaktive Substanzen oder andere psychomanipulative Verfahren. Und schließlich lässt sich dieses im 20. Jahrhundert über den Menschen gesammelte Wissen auch einsetzen, um bestimmte Vorstellungen als kollektive Welt- und Menschenbilder in großen Bevölkerungsgruppen zu erzeugen 41 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

und zu verbreiten und andere, ältere oder unerwünschte Vorstellungen zu unterdrücken oder zu überdecken. Was sich also seit der Abschaffung des jahrhundertelang tradierten Leitbildes eines über alles menschliche und irdische hinausreichenden schöpferischen Geistes angedeutet hat, ist nun, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, greifbare Wirklichkeit geworden: Der Mensch hat sich selbst zum Schöpfer gemacht. Aber was er zu erschaffen imstande war, blieb auf seltsame Weise hohl und leblos. Es war genauso rückbezogen und auf die Befriedigung biologischer Bedürfnisse ausgerichtet wie die inneren Bildern, an denen sich dieses Schöpfertum orientierte. Der Prozess der Evolution von immer komplexer werdenden inneren Bildern ist an diesem kritischen Punkt der Menschwerdung in eine Krise geraten. Die über mehrere Generationen hinweg vernachlässigte Weitergabe und Weiterentwicklung langfristiger, gemeinsamer Orientierungen hat zu einer tief greifenden Störung des inneren Beziehungsgefüges der Gesellschaft geführt, die sich nun in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens auszuwirken beginnt. Auf der Suche nach den Ursachen für diese krisenhaften Entwicklungen finden nun auch verstärkt die Erkenntnisse solcher Wissenschaftsdisziplinen Beachtung, die sich bis dahin weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit mit Fragen der Entwicklung lebender Systeme, mit der Erforschung von Beziehungsmustern und mit der Analyse von Kommunikationsstrukturen befasst haben. Noch ist diese Suche nach dem Kitt, der einzelne Lebensformen oder auch ganze Gesellschaften zusammenhält, nicht abgeschlossen. Aber es beginnt sich abzuzeichnen, wie dieser Kitt in Form gemeinsamer innerer Bilder auf den unterschiedlichsten Ebenen der Organisation lebender Systeme entsteht.

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2.3 Das Leben als Bilder generierender Prozess as Leben selbst«, so hatte bereits Konrad Lorenz treffend formuliert, »ist ein erkenntnisgewinnender Prozeß.« All das, was im Lauf der Evolution des Lebendigen an Erkenntnissen gewonnen worden ist, wurde auf unterschiedlichen Ebenen in Form innerer Bilder festgehalten und an die jeweiligen Nachfahren weitergegeben. Das Leben ist also immer auch ein innere Bilder generierender Prozess. Die für jedes Lebewesen charakteristische innere und äußere Struktur entsteht dadurch, dass seine Bestandteile auf eine bestimmte Art und Weise miteinander in Beziehung stehen. Aufgebaut und aufrechterhalten wird dieses für jedes Lebewesen charakteristische innere Beziehungsgefüge anhand von Vorlagen. Überliefert werden diese Vorlagen oder inneren Bilder auf der Ebene von Zellen in Form bestimmter DNA-Sequenzen, auf der Ebene von Organismen in Form der die Expression dieser DNA-Sequenzen lenkenden Rahmenbedingungen, auf der Ebene des Gehirns durch individuell gemachte Erfahrungen und auf der Ebene menschlicher Gemeinschaften durch kollektiv akzeptierte und transgenerational kommunizierte Regeln, Vorstellungen und Rituale. Das einmal mit Hilfe dieser inneren Bilder herausgeformte und aufrechterhaltene innere Beziehungsgefüge eines jeden Lebewesens ist mehr oder weniger labil. Jede Veränderung der bisher vorherrschenden äußeren Verhältnisse, die zu einer Veränderung der bisherigen inneren Ordnung und des inneren Beziehungsgefüges eines Lebewesens führt, ist eine Störung, die durch den Rückgriff auf ein zur Beseitigung dieser Störung geeignetes, präformiertes Handlungsmuster beantwortet wird. Im Prinzip unterscheidet sich das, was eine einzelne Zelle tut, nicht von dem, was ein Mensch oder eine ganze Gesellschaft unternimmt, wenn die innere Ordnung und der Fortbestand dessen gefährdet ist, was sich bisher als eine geeignete Lebensform erwiesen hat: Es werden bewährte, im Inneren bereit gehaltene Bilder wachgerufen und als handlungsleitende Reak-

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tionsmuster, als erinnerte Vorstellungen oder in die Zukunft entworfene Visionen benutzt, um die eingetretene Gefährdung abzuwenden. Ohne den Rückgriff auf solche inneren Bilder ist kein Leben möglich. Deshalb stirbt auch alles, was lebendig ist, sobald es keine eigenen inneren Bilder mehr erzeugen kann, die geeignet sind, seine einmal entstandene Struktur und Ordnung aufrechtzuerhalten. Und deshalb muss auch alles, was lebt, seine inneren Bilder immer wieder ergänzen, neu ordnen und weiterentwickeln, sobald sich die äußeren oder inneren Verhältnisse verändern, unter deren Einwirkung die jeweiligen inneren Bilder entstanden, weiterentwickelt und optimiert worden sind. Zwangsläufig muss daher auch die Entwicklung der Lebensformen auf der Erde Ausdruck der zunehmenden Komplexität der inneren Bilder sein, die diese Formen hervorgebracht haben. Die Evolution des Lebendigen hat also einen Motor: die mit Hilfe ihrer inneren Bilder von den bereits existierenden Lebensformen hervorgebrachten Veränderungen der Welt. Und sie hat eine Richtung: vom Einfachen hin zu immer komplexer werdenden inneren Bildern, von bloßen Handlungsanleitungen zum Überleben hin zu Visionen über die individuelle und kollektive Gestaltbarkeit der Welt. Diese zuletzt entstandenen kollektiven Bilder erwiesen sich nicht nur als geeignet, die in den Gehirnen der einzelnen Mitglieder der betreffenden Gemeinschaft generierten handlungsleitenden inneren Vorstellungsbilder zu lenken und zu beeinflussen. Mit Hilfe der in einem bestimmten Kulturkreis entstandenen Welt- und Menschenbilder wurde es schließlich auch möglich, die dem Aufbau des Organismus zugrunde liegenden inneren DNA-Bilder gezielt zu verändern und nach eigenem Gutdünken zu manipulieren. Dieser Schritt markiert einen Wendepunkt in der Entwicklungsgeschichte der von lebenden Systemen generierten inneren Bilder: Die auf den höchsten Organisationsstufen entstandenen komplexesten Bilder (kollektive Bilder) sind zur gezielten Manipulation derjenigen Bilder nutzbar geworden, die den Aufbau der inneren Ordnung in den darunter liegenden Organisationsstufen lenken. 44 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Jedes Tier, jede Pflanze, jeder primitive Vielzeller und sogar jeder frei lebende Einzeller und jedes Bakterium ist in der Lage, seine eigenen Lebensbedingungen in gewissem Umfang zu kontrollieren und zumindest teilweise selbst zu gestalten. Unsere krankheitserregenden Bakterien beispielsweise können Stoffe produzieren, die sie vor dem Angriff von Immunzellen schützen. Frei lebende Einzeller können sich mit Hilfe von Geißeln oder Wimpern dorthin bewegen, wo für ihr Überleben und ihre Vermehrung günstigere Bedingungen herrschen. Pflanzen richten ihr Wachstum und die Stellung ihrer Blätter so aus, dass sie genug Sonnenlicht für die Fotosynthese einfangen. Außerdem verfügen sie über unterschiedlichste Tricks, mit deren Hilfe sie verhindern, dass sie allzu sehr von Tieren abgefressen werden. Noch viel größer ist das Repertoire von Strategien, das Tiere zur Nahrungsbeschaffung, zur Abwehr von Feinden oder zur Sicherung ihrer Nachkommenschaft entwickelt haben. Das Spektrum an inneren Bildern zur Lenkung und Steuerung all dieser verschiedenen Leistungen und zur Aufrechterhaltung und aktiven Gestaltung der eigenen Existenzbedingungen ist im Verlauf der Evolution des Lebendigen immer breiter, bunter und reichhaltiger geworden. Aber selbst die in dieser Beziehung am weitesten entwickelten Tiere, die Menschenaffen, sind außerstande, ihre Lebenswelt so effektiv zu kontrollieren und so umfassend zu gestalten, wie das den Menschen im Verlauf ihrer bisherigen Entwicklung gelungen ist. Es gibt heute kaum einen Lebensraum auf dieser Erde, den Menschen nicht erschlossen, kaum eine Ressource, die sie nicht für sich nutzbar gemacht haben. Die von Menschen entwickelten Vorstellungen, Ziele und Visionen und die zu deren Umsetzung eingeschlagenen Strategien und praktischen Lösungen haben die bisherige Lebenswelt fast aller anderen Lebewesen in den letzten Jahrhunderten einschneidend verändert. All jene Lebensformen, denen es nicht rasch genug gelungen ist, ihre starren, genetisch verankerten inneren Bilder an diese neuen, von Menschen gestalteten Lebensbedingungen anzupassen, sind entweder ausgestorben oder in noch verbliebene, von menschlichen Einwirkungen verschonte 45 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Bereiche oder in von Menschen bewusst geschaffene Reservate zurückgedrängt worden. Nur wenige Lebensformen waren in der Lage, ihre inneren Bilder in Form genetisch verankerter Programme oder erworbener Verhaltensmuster an die von Menschen geschaffenen neuen Lebenswelten anzupassen. So ist der Mensch immer stärker zum Gestalter der auf der Erde von lebendigen Wesen entwickelten, genutzten und verbreiteten inneren Bilder geworden. Dem Menschen ist es mit Hilfe seiner inneren Bilder, seiner Vorstellungen, Ideen und Visionen aber nicht nur gelungen, die von anderen Lebensformen entwickelten, genutzten und verbreiteten inneren Bilder zu verändern. Er hat auch die seine eigene Entwicklung lenkenden inneren Bilder in immer stärkeren Maß verändert. Er hat Kriege geführt und den jeweils Besiegten seinen Stempel aufgedrückt. Die Unterlegenen waren gezwungen, ihre alten Vorstellungen, Rituale und Lebensziele aufzugeben und diejenigen der Sieger zu übernehmen. Wer dazu nicht bereit oder in der Lage war, ist mitsamt seinen inneren Bildern untergegangen. Auf etwas subtilere Weise haben aber auch die jeweils Erwachsenen seit jeher den in die von ihnen geschaffene Welt hineinwachsenden Kindern ihren Stempel aufgedrückt und dafür gesorgt, dass die jeweiligen inneren Bilder von einer (Sieger-)Generation zur nächsten überliefert wurden. Seit der Entwicklung geeigneter Medien in Form von Büchern, Zeitschriften, Rundfunk, Fernsehen und des Internets ist es all jenen Menschen, die mit ihren Vorstellungen, Strategien und Visionen bis dahin besonders erfolgreich waren, auch immer besser gelungen, ihre jeweiligen inneren Bilder zu verbreiten und in den Hirnen einer wachsenden Zahl anderer Menschen zu verankern. Zu diesen vielfältigen Möglichkeiten zur Beförderung, Überlieferung und Ausbreitung von auf der Ebene des individuellen Gehirns und des kollektiven Bewusstseins verankerten inneren Bildern ist nun eine weitere hinzugekommen: die inzwischen möglich gewordene, gezielte Veränderung der in den genetischen Anlagen verankerten inneren Bilder, und zwar nicht nur 46 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

derjenigen von anderen Lebewesen, sondern auch der eigenen. Auch hier gab es Vorstufen. Hierzu zählt die gezielte Zuchtwahl, die seit jeher von Menschen zur Herausbildung besonders erwünschter und nutzbarer Merkmale bei Pflanzen und Tieren betrieben worden ist. Hierzu zählt aber auch die gezielte Partnerwahl, die ebenfalls seit jeher, wenngleich selten bewusst, dazu beitrug, dass all jene genetischen Anlagen bevorzugt ausgelesen und an die Nachkommen weitergegeben worden sind, die die Ausbildung von Merkmalen lenkten, die in den Augen der jeweiligen Partner als besonders wünschenswert und attraktiv erschienen. Mit der gezielten Manipulation des menschlichen Erbguts ist es dem Menschen nunmehr zumindest theoretisch möglich geworden, die seine eigene Strukturierung lenkenden inneren Bilder nach seinen eigenen Vorstellungen zu verändern. Damit hat sich der Mensch eine neue, bisher noch nie dagewesene Möglichkeit zur gezielten Veränderung der auf der Ebene seines Genoms bisher entwickelten, genutzten und weitergegebenen inneren Bilderwelt geschaffen. Wie und wozu er diese Möglichkeit nutzt, wird jedoch nicht mehr von einzelnen Menschen bestimmt, sondern von den gemeinsamen Vorstellungen, Zielen und Visionen all derer, die diese Möglichkeit erschlossen und einsetzbar gemacht haben. Ursprünglich handelte es sich bei den inneren Bildern um nicht mehr als in Form innerer Muster entstandene und verankerte Hypothesen bestimmter Lebensformen über die Beschaffenheit der Welt und über die sich in dieser Welt bietenden Möglichkeiten zur Lebensbewältigung. Jetzt sind die von der am höchsten entwickelten Lebensform generierten Bilder zu deterministischen Instrumenten der Welt- und Selbstgestaltung geworden. Die Folgen dieser Entwicklung sind gegenwärtig noch nicht absehbar.

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3. Bilder, die das Sein bestimmen

ort, wo ich aufgewachsen bin, gab es einen riesigen Obstgarten. Jedenfalls kam er mir damals riesig groß vor. Im Frühling, wenn die Bäume blühten, war der ganze Garten vom Duft der Apfelblüten erfüllt. Wenn der Sommer kam, konnte ich es kaum erwarten, bis die ersten Kirschen reif wurden, denn die süßen saftigen Kirschen mochte ich am liebsten. Die Besten hingen leider ganz oben, wo nur die Stare hinkamen. Die fraßen sie mitsamt den Kernen und sorgten auf diese Weise dafür, dass sich die Kirschbäume in unserer Gegend verbreiteten. Aber die Kirschen, die an diesen wilden Bäumen wuchsen, waren klein und schmeckten bitter. Später zeigte mir mein Großvater, wie man einen solchen Wildkirschenbaum dazu bringt, richtige Kirschen zu tragen, indem man einfach einen Zweig oder eine Knospe eines veredelten Kirschbaumes auf den wilden Baum aufpflanzt. Wir haben uns damals lange darüber unterhalten, weshalb der Samen eines Obstbaumes allein nicht in der Lage ist, einen Baum hervorzubringen, der selbst wieder richtiges Obst trägt. Der Kirschkern, so meinte mein Großvater, brauche ja eigentlich nur zu wissen, wie ein Kirschbaum gemacht wird, der dann selbst wieder Kirschbäume hervorbringt, mit einem steinernen Gehäuse, das sie schützt, und mit etwas Fleisch darum, damit sie die Vögel fressen und verbreiten. »Ob die Kirschen uns Menschen besonders gut schmecken, ist den Kirschkernen völlig schnuppe«, sagte mein Großvater. »Falls aus einem dieser Kerne aber dann doch zufälligerweise einmal ein Baum hervorgeht, der solche Früchte trägt, wie wir sie mögen, so gelangt das Wissen davon, wie dem Baum das gelungen ist, aber nicht in die Samen seiner Kirschen. Für die ist es nur wichtig, dass die Früchte

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nach wie vor den Vögeln möglichst gut schmecken. Wenn wir also große, süße Kirschen haben wollen, so müssen wir einen Baum finden, dem es irgendwie gelungen ist, solche Früchte hervorzubringen. Wenn wir dann aus einem Ast oder einer Knospe davon einen neuen Baum ziehen, so bleibt diese Fähigkeit erhalten, denn die Knospen dieses Baums wissen ja, wie große süße Kirschen gemacht werden …« »Und die Äpfel, Opa, wie ist es bei den Äpfeln?«, fragte ich, und der Großvater sagte: »Genau so, ohne uns gäbe es keine dicken Äpfel und Birnen, keine saftigen Pflaumen, auch keine großen duftenden Rosen. Genau genommen gäbe es so gut wie nichts von alledem, was wir in unseren Gärten und auf unseren Feldern anbauen. Die Kartoffeln machen es uns leicht, da können wir gleich diejenigen Knollen aussuchen und im nächsten Jahr in die Erde pflanzen, die uns am besten schmecken. Bei vielen Pflanzen ist es uns sogar gelungen, das Wissen davon, wie sie wachsen müssen, damit sie oder ihre Früchte so werden, wie wir sie haben wollen, in den Samen zu bringen. Dann brauchen wir nur noch dafür zu sorgen, dass die betreffenden Pflanzen auch alles vorfinden, was sie zur Entfaltung dieser Anlagen brauchen. Auf einem Unkrautacker kann kein großer Blumenkohl wachsen.« »Und die Tiere, Opa, haben wir die Tiere auch selbst gemacht?«, fragte ich weiter. Geduldig erklärte mir der Großvater, wie es mit den Tieren war, warum wir die einen so, die anderen aber so haben wollten, und wie wir es mit viel Mühe geschafft haben, dass sie am Ende auch wirklich so geworden sind, wie wir uns das vorgestellt hatten: Hunde, Pferde, Rinder, Schafe, Katzen, Vögel für jeden nur erdenklichen Zweck und jeden noch so ausgefallenen Geschmack. »Und die Menschen, Opa, haben wir uns denn selbst auch so gemacht, wie es uns gefiel?«, fragte ich weiter. Aber da meinte der Großvater, es sei jetzt an der Zeit, endlich heimzugehen.

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3.1 Bilder formen lebendige Strukturen ine einzelne Zelle ist ein lebendiges Wesen. Ein Pilz, eine Pflanze oder ein Tier auch. In Wirklichkeit sind diese Lebensformen aber aus vielen Zellen zusammengesetzt, die miteinander in einer besonderen, voneinander abhängigen Beziehung stehen. Sie alle zusammen formen das jeweilige lebendige Wesen, das wir dann als Hefeteig oder Fliegenpilz, als Brennnessel oder Gänseblümchen, als Schnecke oder Schimpanse, als Indianer oder Chinese bezeichnen. Wenn viele Pflanzen zusammenstehen, bilden sie eine Wiese oder einen Wald. Aber eine Wiese oder einen Wald bezeichnen wir normalerweise nicht als ein Lebewesen, ebenso wenig wie einen Schwarm Fische oder ein Rudel Wölfe. Selbst dann, wenn viele Lebewesen derselben Art so eng zusammenleben und zusammenwirken und in so hohem Maß voneinander abhängig sind, dass sie, ähnlich wie die einzelnen Zellen eines Vielzellers, gar nicht mehr allein überleben könnten, betrachten wir das Gebilde, das sie alle zusammen hervorbringen, dennoch nicht als ein eigenständiges lebendiges Wesen, egal, ob es sich dabei um einen Bienen-, Ameisen- oder Termitenstaat handelt, um eine Affenhorde oder um eine menschliche Gemeinschaft. Weshalb wir das so machen, ist schwer einzusehen. Logisch ist es nicht. Es mag damit zusammenhängen, dass unsere begrifflichen Vorstellungen für all das, was wir heute als »Lebewesen« bezeichnen, zu einer Zeit entstanden sind, als die Menschen noch keine Ahnung davon hatten, dass jeder dieser Organismen selbst wieder aus einer Vielzahl kleinerer Lebewesen, also Zellen, gebildet wird. Aber obwohl wir das inzwischen besser wissen, widerstrebt es uns doch, nun auch all jene Gebilde, die viele Organismen zusammen hervorbringen und in die sie alle als Einzelne eingebettet sind, als Lebewesen zu bezeichnen. Das gilt vor allem für das von uns selbst geformte Gebilde einer menschlichen Gemeinschaft. Es fällt uns schwer, uns einzugestehen, dass wir von dieser Gemeinschaft letztlich ebenso in bestimmter Weise geprägt und zu bestimmten Spezialisierungen gezwungen werden, wie

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die Zellen eines vielzelligen Organismus. Wie diese sind auch wir abhängig von den Erfordernissen, die sich innerhalb dieses größeren, von uns geformten Gebildes zwangsläufig ergeben, und wie bei den vielzelligen Lebewesen bleibt die einmal entstandene Gestalt dieses Gebildes, wie von unsichtbarer Hand gesteuert, erhalten, obwohl doch immer wieder einzelne Zellen oder in unserem Fall einzelne Menschen neu hinzukommen und dafür andere vergehen. Was aber ist diese unsichtbare Kraft, die unser gesellschaftliches Gemeinwesen zusammenhält und die darüber bestimmt, welche Formen es annimmt und in welche Richtungen es sich weiterentwickelt? Wie ist diese strukturierende Kraft beschaffen und woher kommt sie? Das sind schwierige Fragen. Leichter lassen sie sich beantworten, wenn man zunächst bei den einfacheren Lebensformen nach entsprechenden Antworten sucht. Eine Zelle beispielsweise wird nicht davon zusammengehalten, dass sie mit ihren Bestandteilen von einer Haut, der Zellmembran umgeben ist. Dass sie nicht auseinander fällt, verdankt sie dem Umstand, dass all diese Teile im Inneren einer Zelle, also der Zellkern, die Mitrochrondrien, Ribosomen, Lysosomen, der Golgi-Apparat oder das endoplasmatische Retikulum, nur gemeinsam funktionieren können, also ganz voneinander abhängig sind. Aber diese wechselseitige Abhängigkeit der Einzelteile einer Zelle ist ebenso wie die sie umschließende und von der äußeren Welt abgrenzende Zellmembran lediglich die Voraussetzung dafür, dass eine Zelle funktionieren kann. Wo aber ist die strukturierende Kraft, die das Zusammenwirken der Einzelteile aufeinander abstimmt und die Reaktionen des ganzen Gebildes auf existenzgefährdende oder existenzsichernde Veränderungen der äußeren Verhältnisse lenkt und bestimmt? Auf was greift diese Zelle zurück, wenn es draußen unwirtlich wird und ihre innere Organisation bedroht ist, wenn Signale von draußen anzeigen, dass sich die Lebensbedingungen zum Guten oder zum Schlechten zu verändern beginnen? Einer einzelnen Zelle geht es in solchen Situationen nicht anders als uns. Sie greift zurück auf Erfahrungen, die sie oder ihre Vorfahren in solchen 52 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

oder ähnlichen Situationen gemacht hat. Diese Erfahrungen sind als innere Bilder in Form bestimmter Nukleinsäuresequenzen im Zellkern angespeichert. Sie können als überlieferte Handlungsmuster abgerufen und benutzt werden, um die Reaktionen und Leistungen oder auch die Struktur und die innere Organisation von Zellen an neue Erfordernisse anzupassen und ihr Überleben zu sichern. Ein anschauliches Beispiel hierfür bieten freilebende Einzeller, die im Sommer massenhaft in jedem Tümpel herumschwimmen. Wenn der Tümpel auszutrocknen beginnt, geraten sie in Not. Ihr Stoffwechsel funktioniert nun nicht mehr so wie bisher. Bestimmte Stoffe werden vermehrt gebildet oder können nur unzureichend abgebaut werden. Diese Substanzen reichern sich im Innern der Zellen an, und manche davon gelangen auch in den Zellkern. Dort kommt es unter dem Einfluss dieser Stoffe zu einer Veränderung der Genexpression, bestimmte DNA-Sequenzen können jetzt vermehrt abgelesen werden, andere weniger und manche überhaupt nicht mehr. Durch diesen veränderten Abruf der im Zellkern bereitgehaltenen inneren Bilder kommt es zu Stoffwechselumstellungen, die tief greifende Veränderungen der bisherigen Struktur und Funktion dieser Einzeller auslösen: Sie hören auf, sich weiter zu teilen, und beginnen sich abzukapseln. So gelingt es diesen Zellen, sich vor weiterer Austrocknung zu schützen und gegebenenfalls auch eine längere Trockenzeit zu überleben. Wenn es irgendwann wieder zu regnen beginnt, erwachen sie zu neuem Leben, ihr Stoffwechsel kommt allmählich wieder in Gang, und es werden nun all jene Gensequenzen erneut aktiviert, die vorher abgeschaltet waren. Wenn alles wieder optimal funktioniert, setzt auch die Zellteilung wieder ein. Mit einem ähnlichen Rückgriff auf im Zellkern bereitgehaltene innere Bilder reagieren auch die ersten, noch sehr primitiven Vielzeller auf bedrohliche Veränderungen ihrer Lebensbedingungen. Ein Schleimpilz beispielsweise besteht aus vielen gleichartigen Zellen, die aneinander haften und ein schleimartiges Gebilde formen. So lange alle Zellen noch optimale Bedin53 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

gungen für Wachstum und Zellteilung vorfinden, wird der Schleimpilz immer größer. Beginnen sich diese Bedingungen für einzelne Zellen in bestimmten Bereichen dieses Gebildes jedoch zu verschlechtern, zum Beispiel weil die Nährstoffe knapp werden, so verändert sich deren Stoffwechsel in einer charakteristischen Weise, was dazu führt, dass in diesen Zellen nun eine Substanz vermehrt entsteht und abgesondert wird. Die benachbart liegenden Zellen beginnen dann automatisch ebenfalls mehr von dieser Substanz zu produzieren, so dass in kurzer Zeit der gesamte Schleimpilz von diesem Stoff innerlich durchflutet wird. Übersteigt die Konzentration dieses »Signalstoffs« einen kritischen Wert, so werden in den Zellkernen der betreffenden Zellen die bisher zur Steuerung von Wachstum und Vermehrung genutzten DNA-Sequenzen abgeschaltet. Dafür wird nun ein für die Bewältigung von Notlagen bereitgehaltenes, genetisch verankertes Handlungsmuster aktiviert. Von außen sieht man, wie sich das ganze schleimige Gebilde zusammenzuziehen beginnt. In der Mitte entsteht ein langer Stiel. An dessen Spitze bildet sich eine kugelförmige Sporenkapsel. Das Ganze sieht nun aus wie ein Miniaturfernsehturm. Wenn die Kapsel aufplatzt, werden die darin enthaltenen, abgekapselten Zellen als Sporen freigesetzt und vom Wind verweht. Gelangt eine dieser Sporen an einen für weiteres Wachstum günstigen Ort, so wird das alte Programm für Wachstum und Vermehrung wieder reaktiviert. Innerhalb weniger Stunden entsteht dann ein neuer Schleimpilz. Es hat lang gedauert, bis aus den ersten Schleimpilzen richtige vielzellige Organismen und am Ende sogar so komplizierte Wesen wie Regenwürmer, Schmetterlinge oder gar Menschen entstanden sind. Aber die entscheidende Erfindung hatten die Schleimpilze bereits gemacht: Ihnen war es nicht nur gelungen, einen hinreichend klebrigen Kitt zu entwickeln, um die einzelnen Zellen nach der Teilung zusammenzuhalten. Sie hatten vor allem einen Mechanismus gefunden, mit dessen Hilfe jede Zelle dieses Verbands in der Lage war, einer anderen, benachbarten Zelle etwas mitzuteilen. Durch die Absonderung eines be54 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

stimmten Stoffwechselprodukts konnte eine Zelle eine andere Zelle über eine bedeutsame Veränderung der äußeren Welt in Kenntnis setzen. Und durch die Wirkung dieses Signalstoffs wurden die benachbarten Zellen sogar dazu gebracht, auf eine äußere Veränderung zu reagieren, von der sie selbst noch gar nicht betroffen waren. Der abgesonderte Stoff diente somit als Symbol für etwas Wichtiges und Bedeutsames, das anderen benachbarten Zellen zugestoßen war. Seit dieser großartigen Erfindung einer stofflich kodierten Symbolsprache durch die ersten Vielzeller haben deren Zellen immer feinere und genauere Mechanismen gefunden, um sich mit Hilfe derartiger »Botenstoffe« zu unterhalten und sich ein Bild von all dem zu machen, was die Produzenten der jeweiligen Botschaften in immer weiter entfernt liegenden Bereichen eines vielzelligen Organismus bewegt, stört oder bedroht. Bis heute können diese Sprache jedoch nur diejenigen sprechen und verstehen, die direkte Abkömmlinge derjenigen Zellen sind, die diese Symbolsprache entwickelt und die dafür erforderlichen Voraussetzungen in ihrem Genom verankert haben. Nur die aus einer solchen Urzelle (einer Stammzelle oder einer befruchteten Eizelle eines vielzelligen Organismus) hervorgegangenen Tochterzellen können die in dieser Sprache vermittelten Signale deuten und entsprechend darauf reagieren. Die im Zellkern abgespeicherten DNA-Sequenzen allein sind als innere Bilder für den Aufbau eines vielzelligen Organismus jedoch noch nicht ausreichend. Sie liefern lediglich ein bestimmtes Repertoire an »Wörtern« und »grammatikalischen Regeln« für den Aufbau dessen, was eine Zelle ausmacht und was diese in die Lage versetzt, mit anderen Zellen auf eine bestimmte Weise in Beziehung zu treten. Der komplette Zellkern enthält bereits wesentliche komplexere Bilder. Aber auch er kann diese Bilder nicht allein lesen und umsetzen. Dazu ist nur eine intakte Zelle imstande, die das zur Realisierung dieser genetischen Anlagen erforderliche Repertoire an Mechanismen besitzt. Bei höher entwickelten Organismen ist das eine befruchtete Eizelle. Je komplizierter der Aufbau und die innere 55 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Organisation des daraus hervorgehenden vielzelligen Organismus beschaffen sind, desto stärker ist die Entwicklung der aus dieser Eizelle hervorgehenden Tochterzelle von der Aufrechterhaltung bestimmter Rahmenbedingungen abhängig. Keine befruchtete menschliche Eizelle oder eine sonstwie als Urzelle für die Ausbildung eines Menschen geeignete Zelle kann das, was sie an inneren Bildern mitbringt, auf einer grünen Wiese oder im Reagenzglas verwirklichen. Innerhalb der normalerweise im Uterus herrschenden Rahmenbedingungen geraten einzelne Zellen des durch Teilung der Eizelle entstandenen embryonalen Zellverbands zwangsläufig in ein Bedingungsgefüge, das es ihnen ermöglicht, bestimmte Leistungen stärker zu entwickeln und die dafür erforderlichen DNA-Sequenzen intensiver zu nutzen als andere. Indem sie ihren Stoffwechsel an die jeweils vorgefundenen unterschiedlichen Bedingungen, beispielsweise im inneren oder äußeren Bereich des embryonalen Zellhaufens anpassen, erzeugen sie selbst wieder bestimmte Signal- und Botenstoffe, die ihrerseits wieder andere Zellen zu bestimmten Leistungen zwingen. So werden in den Zellkernen mancher Zellen bestimmte DNA-Sequenzen kaum noch benutzt und sind über kurz oder lang auch nicht mehr abrufbar. Andere Sequenzen werden für bestimmte Leistungen besonders intensiv abgelesen. Sie lassen sich dann nur noch schwer für andere Zwecke einsetzen. Auf diese Weise verlieren die sich in den verschiedenen Bereichen des Embryos entwickelnden Zellgruppen ihre ursprüngliche Fähigkeit, auf alle von der befruchteten Eizelle übernommenen inneren Bilder zurückzugreifen. Sie können fortan nur noch zu immer spezielleren Haut-, Knochen-, Nieren- oder Muskelzellen werden und bilden die entsprechenden Organanlagen innerhalb des Embryos. Über die Zusammensetzung des Cocktails der von anderen Zellen erzeugten Signalstoffe erfahren sie gewissermaßen, wo sie sind und wie es anderen Zellen in anderen Bereichen des Embryos geht. Sie können auf charakteristische Veränderungen dieser stofflichen Signale mit dem Abruf der dazu passenden inneren Bilder in Form bestimmter DNA-Sequenzen reagieren. Gleichzeitig teilt jede em56 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

bryonale Zelle mittels der von ihr produzierten Signalstoffe ihren Nachbarzellen ständig mit, wie es ihr geht und womit sie gegenwärtig beschäftigt ist. Auf diese Weise erfährt zwar nicht jede Zelle alles, was innerhalb des sich entwickelnden Embryos geschieht, aber jede ist zumindest über all das informiert, worauf es im weiteren Entwicklungsverlauf besonders ankommt, und kann sich »ein Bild davon machen«, worauf sie besonders zu achten hat und welche ihrer noch verfügbaren inneren Bilder in Form bestimmter DNA-Sequenzen sie verstärkt abrufen muss, wenn die Bedingungen, in die sie bisher hineingewachsen ist, sich zu verändern beginnen. Das gilt auch für diejenigen Zellen, die sich von Anfang an in besonderer Weise darauf spezialisiert haben, bestimmte Signalstoffe zu erkennen und das betreffende Signal über lange Fortsätze an andere Zellen weiterzuleiten. Keine der Milliarden neu gebildeten Nervenzellen im künftigen Gehirn »weiß«, wann sie aufhören muss, sich zu teilen, wohin sie anschließend zu wandern und ihre Fortsätze auszuwachsen hat, mit welchen anderen Nervenzellen sie Verbindung aufnehmen und Synapsen ausbilden soll. Ihr genetisches Programm versetzt sie lediglich in die Lage, sich zu teilen, solange die äußeren Bedingungen dafür günstig sind, entlang bestimmter Signalstoffgradienten zu wandern, Fortsätze auszuwachsen und synaptische Verbindungen herzustellen. Es handelt sich um ein Programm von Optionen, das lediglich festlegt, was unter gewissen Bedingungen möglich ist und was zu geschehen hat, wenn sich diese Gegebenheiten ändern, entweder als zwangsläufige Folge der eigenen Wachstumsdynamik (Gradienten von Nährstoffen, Metaboliten, Signalstoffen, Adhäsionsmolekülen etc.) oder durch äußere Faktoren (sensorische Eingänge, äußere Störungen des inneren Bedingungsgefüges). Jede Veränderung der äußeren Welt, die stark genug ist, um das in der »Innenwelt« des sich entwickelnden Gehirns herrschende Bedingungsgefüge zu verschieben, kann daher die dort stattfindenden Wachstums- und Differenzierungsprozesse in eine bestimmte (ohne diese Störung nicht oder noch nicht eingeschlagene) Richtung lenken. 57 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

3.2 Bilder strukturieren das Gehirn m Lauf der Evolution haben sich die Beziehungen der verschiedenen Lebensformen immer wieder verändert. Dabei konnten sich diejenigen Arten am erfolgreichsten durchsetzen, deren Hirnentwicklung und deren Verhalten nicht durch starre genetische Muster bestimmt wurde, deren genetische Programme also so beschaffen waren, dass sie nachträgliche Veränderungen der das Verhalten bestimmenden neuronalen Verschaltungsmuster zuließen. Die fortschreitende Öffnung der ehemals starren genetischen Programme wurde zu einer Voraussetzung für spätere Anpassungsleistungen und der Fähigkeit, lernen zu können, Erfahrungen machen zu können, und die dem Denken, Fühlen und Handeln zugrunde liegenden biologischen Strukturen verändern zu können. Einerseits bot diese Öffnung genetischer Programme eine einzigartige Chance zu immer neuen Anpassungsleistungen. Andererseits lag in dieser Öffnung aber auch eine Gefahr. In dem Maß, wie die genetischen Programme nicht mehr genau festlegten, wie sich das Nervensystem zu entwickeln hat, mussten andere Regelmechanismen gefunden werden, die diesen Prozess lenken. Für dieses Problem gab es nur eine Lösung: Die Rahmenbedingungen hierfür mussten von den jeweiligen Eltern bereits pränatal (als charakteristische intrauterine Entwicklungsbedingungen) und in noch stärkerem Maß postnatal (als familiär tradierte nachgeburtliche und juvenile Entwicklungsbedingungen) bestimmt werden. Dieses Prinzip, wonach die Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Nachkommen von der jeweiligen Elterngeneration festgelegt werden, ist bereits bei den ersten Vielzellern nachweisbar. Beispielsweise bei den kugelförmigen Volvox-Algen. Sie vermehren sich, indem eine Mutterkugel eine einzelne Zelle in den Innenraum fallen lässt, aus der sich eine neue Tochterkugel bildet. Niemals könnte eine neue Tochterkugel entstehen, wenn sie sich außerhalb dieses lenkenden Rahmens der Mutterkugel entwickeln müsste. Damit Tochterkugeln entstehen, braucht es den geschützten Raum, das von der Mutterku-

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gel vorgegebene Milieu, die von ihr festgelegten Rahmenbedingungen. Diese sind nicht nur bei Volvox, sondern bei allen Vielzellern normalerweise genau so beschaffen, dass sich das neu entwickelnde Lebewesen optimal entfalten und seine genetischen Potenzen auch wirklich »programmgemäß« umsetzen kann. Neue Erfahrungen, die ein Mensch im Lauf seines Lebens macht – dafür haben die Molekularbiologen inzwischen zahlreiche Belege zusammengetragen – wirken bis auf die Ebene der Gene. Sie führen dazu, dass zum Beispiel Nervenzellen damit beginnen, neue Gensequenzen abzuschreiben und andere stillzulegen. Neue Erfahrungen verändern also die Genexpression. Im Gehirn geschieht das bis in hohe Alter und bildet die Grundlage für die lebenslange Plastizität und Lernfähigkeit dieses Organs. Allerdings machen wir die meisten Erfahrungen nicht am Ende, sondern am Anfang unserer Entwicklung. Während dieser Phase ist die erfahrungsabhängige Neuroplastizität – und damit die erfahrungsabhängige Modulation der Genexpression – zumindest im Gehirn am stärksten ausgeprägt. Schon vor der Geburt sammelt der sich entwickelnde Fetus reichlich neue Erfahrungen. Allerdings sind die weitgehend durch den mütterlichen Organismus bestimmt. Und es sind auch weniger kognitive und emotional bewegende Einflüsse, die die Genexpression embryonaler Zellen verändern, sondern zunächst eher metabolische, nutritive, hormonelle und sensorische. Während der frühen Phasen der embryonalen Entwicklung werden fast alle Veränderungen des lokalen Milieus, die die Genexpression embryonaler Zellen in eine bestimmte Richtung lenken, von diesen Zellen selbst erzeugt. Am Beginn dieser Entwicklung steht die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, durch die eine Kettenreaktion von sich wechselseitig bedingenden Veränderungen der Genexpression und daraus resultierenden Veränderungen der Leistungen und Wirkungen embryonaler Zellen in Gang gesetzt wird. Im Verlauf dieses Prozesses entstehen in verschiedenen Regionen des Embryos unterschiedliche lokale Bedingungen, die die Genexpression der dort befindlichen Zellen in eine 59 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

bestimmte Richtung verschieben. Es kommt so zu einer fortschreitenden Spezialisierung der Genexpression, zur Differenzierung der in verschiedenen Bereichen des Embryos befindlichen Zellen und damit zur Herausbildung spezifischer Gewebe und Organanlagen. Gekennzeichnet ist dieser Prozess durch eine enorme Eigendynamik (verursacht durch die Teilung embryonaler Zellen) und durch eine sehr gut funktionierende interne Selbstorganisation, die auf die Einhaltung gewisser äußerer Rahmenbedingungen (intrauterines Versorgungsmilieu) angewiesen ist. Während dieser Phasen führen unvorhergesehene Abweichungen der intrauterinen Versorgung des Embryos meist zu so erheblichen Veränderungen der Genexpression, dass es entweder zu schwerwiegenden morphogenetischen Fehlentwicklungen oder zum Abort kommt. Diejenigen Organe und Organsysteme, die zunächst weniger überlebenswichtig sind und deren Ausreifung deshalb besonders langsam erfolgen kann (und sich auch noch nach der Geburt fortsetzt), sind in ihrer endgültigen Strukturierung in besonderer Weise durch intrauterine oder postnatale Veränderungen der intrauterinen Rahmenbedingungen beeinflussbar. Das gilt vor allem für die so genannten »lernfähigen« Systeme (integrative Regelsysteme zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung angesichts äußerer Veränderungen, zum Beispiel autonomes und zentrales Nervensystem, endokrines System, kardiovaskuläres System, Immunsystem). In all diesen, durch eigene Erfahrungen beziehungsweise individuell vorgefundene Nutzungsbedingungen strukturierten Systemen dienen die genetischen Programme der Zellen lediglich noch als ein Repertoire von Handlungsoptionen. Bestimmte DNA-Sequenzen werden immer dann aktiviert, wenn es durch innere oder äußere Einflüsse zu Veränderungen des lokalen Milieus dieser Zellen kommt. Durch den Abruf ihrer genetisch überlieferten, präformierten Reaktionsmuster sind die betreffenden Zellen in der Lage, ihre bisherige innere Organisation an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Damit verändern sie sich selbst, schaffen eine neue innere Ordnung, entfalten neue 60 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Wirkungen und werden auf diese Weise funktionell und auch strukturell an die neuen Bedingungen angepasst. Oft bleiben sie sogar fortan von diesen einmal entstandenen und selbst mitgestalteten Bedingungen abhängig. Tasten, schmecken und hören kann ein Mensch bereits im Mutterleib, und dass es dort bereits eine ganze Menge zu tasten, zu schmecken und zu hören gibt, daran besteht kein Zweifel. Aber bereits lange bevor das Gehirn damit beginnt, sich mit Hilfe der Sinnesorgane ein eigenes inneres Bild über die Beschaffenheit der äußeren Welt zu machen (die ja vor der Geburt eine von der äußeren Welt abgeschirmte innere Welt im Bauch der Mutter ist), wird das sich entwickelnde Gehirn bereits mit einer Fülle von Veränderungen konfrontiert. Die kommen allerdings weniger von außen, sondern vielmehr von innen, aus dem eigenen Körper. Aber sie sind für die im Hirn bereits entstandenen Muster des Zusammenwirkens der Nervenzellen genau so Unruhe stiftend und Anpassung erzwingend wie die später aus den Sinnesorganen eintreffenden Erregungsmuster. Die bereits entstandenen Nervenzellverbände im Gehirn des Embryos müssen ihr Zusammenwirken an die aus dem Körper kommenden und innerhalb des Gehirns durch Wachstums- und Ausreifungsprozesse selbst erzeugten Veränderungen anpassen. Sie wandern und ordnen sich in bestimmten Gruppen, verbinden sich untereinander auf eine bestimmte Weise mit Fortsätzen und passen ihre innere Organisation immer besser und immer wieder neu an die vorgefundenen und sich ständig in bestimmter Weise verändernden Verhältnisse an. Ihre Anordnung und ihre Beziehungen werden also durch die im Gehirn und im Körper herrschenden Bedingungen geprägt. So wird das sich entwickelnde Gehirn bereits lange vor der Geburt zu einem sich fortwährend ergänzenden und vervollständigenden Abbild der Verhältnisse, unter deren Einfluss es sich herausformt. Jede einzelne Nervenzelle muss für alle Veränderungen, die ihr inneres Gleichgewicht bedrohen, eine Lösung finden. Typischerweise handelt es sich bei diesen Veränderungen um von anderen Zellen weitergeleitete Erregungen, die die betreffende 61 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Zelle über vermehrt ausgeschüttete Botenstoffe (z. B. Glutamat) erreichen. Wenn sie die eingetretene Störung nicht beseitigen kann, stirbt sie. Die beste Lösung, die sie finden kann, besteht darin, die Störung zumindest teilweise an andere Nervenzellen weiterzuleiten. Die Störung breitet sich dann als Impuls über mehr oder weniger komplexe Netzwerke aus und erreicht am Ende dieser Reaktionskette entweder eine Muskelzelle, die sich zusammenzieht, oder eine Drüsenzelle, die ein Hormon abgibt, oder irgendeine andere Effektorzelle, die etwas macht, was dazu beiträgt, die am Anfang der Kette aufgetretene Störung zu beseitigen. Blutdruckschwankungen, Veränderungen des Blutzuckerspiegels oder der Sauerstoffsättigung, ansteigende oder abfallende Hormonspiegel, all das kommt allein über die Kreislaufversorgung auch schon lange vor der Geburt im Hirn an und erzeugt dort in bestimmten, für derartige Störungen besonders empfindlichen Nervenzellverbänden ein charakteristisches Aktivierungsmuster. Das Gleiche gilt auch für Signale, die das Gehirn aus verschiedenen Bereichen des Körpers über Nervenfasern erreichen und die Veränderungen des Muskeltonus oder des Zustands innerer Organe als charakteristische Erregungsmuster zum Gehirn weiterleiten. Wenn diese eintreffenden Erregungsmuster nicht deutlich von dem abweichen, was die davon betroffenen Nervenzellen als unbedrohlich für ihr inneres Gleichgewicht kennen gelernt und im Gedächtnis gespeichert haben, wird die betreffende Erregung einfach so weitergleitet, wie sich das bereits in der Vergangenheit angesichts ähnlicher Störungen bewährt hat, weil am Ende dieser Kette eine Reaktion ausgelöst wird, die bisher immer zur Beseitigung der Störung geführt hat. Genau das, nämlich die Aufrechterhaltung und Wiederherstellung der inneren Ordnung des Körpers, also der Schutz der inneren Organisation des Organismus gegenüber von außen kommenden oder im inneren entstehenden Störungen der bisherigen Ordnung, ist die eigentliche Aufgabe des Gehirns. Deshalb sind auch die wichtigsten Bilder, die das Gehirn als innere Repräsentanzen erzeugt, Bilder über den Zustand des Körpers, 62 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Körperbilder. Wenn im Körper an irgendeiner Stelle etwas passiert, das zu einer Abweichung oder Störung dieser Muster führt, so wird im Gehirn eine Reaktionskette ausgelöst, die erst dann zum Stillstand kommt, wenn das ursprüngliche Körperbild wieder erreicht oder ein neues stabilisiert worden ist. Eigentlich braucht das Gehirn dazu gar keine Sinnesorgane, denn es ist über vielfältige Nervenfasern mit allen Bereichen des Körpers verbunden. Aber es kann diese Aufgabe natürlich wesentlich besser erfüllen, wenn es im Verlauf seiner weiteren Entwicklung an Sinnesorgane angeschlossen wird, die auffällige Veränderungen in der äußeren Welt bereits weitermelden, bevor sie den Körper erreicht und zu einer ernsthaften Bedrohung seiner inneren Ordnung geführt haben. Auf diese Weise können die Bilder aus der Innenwelt nunmehr fortschreitend ergänzt werden mit Bildern über all das, was aus der Außenwelt an bedeutsamen Veränderungen für die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung wahrgenommen wird. Je vollständiger und je weiter reichend die Wahrnehmungskanäle beschaffen sind, über die das Gehirn seine Informationen aus der Außenwelt bezieht, desto »wahrer« wird das daraus im Gehirn entstehende innere Bild der äußeren Welt. Je genauer diese inneren Bilder wahrgenommen werden und ins Bewusstsein gelangen, desto weiter vorausschauend kann bereits nach Lösungen für Bedrohungen gesucht werden, bevor sie den Organismus erreicht haben. Bei oberflächlicher Betrachtung erscheint es so, als entwickle sich das menschliche Gehirn von allein. Wie von einer unsichtbaren Hand gesteuert, teilen sich die Nervenzellen in den verschiedenen Bereichen des Gehirns mit einer bestimmten Geschwindigkeit, die so entstandenen Neuronen und Neuronengruppen wandern anschließend entlang unsichtbarer Gradienten und Wegweiser zu ihren späteren Lokalisationen. Von dort wachsen von diesen Zellen Fortsätze aus und bilden ein komplexes Muster von Verbindungen und Verschaltungen zwischen den verschiedenen Kerngebieten innerhalb des sich entwickelnden Gehirns. Von den Sinnesorganen in das Gehirn einwach63 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

sende Nervenfasern erreichen die sich herausformenden Kerngebiete und regionalen Netzwerke. Diese stellen ihrerseits über Fortsätze Verbindungen zu anderen Bereiches des Gehirns her, in denen die ankommenden Informationen verarbeitet, mit bereits vorhandenen Mustern verglichen und als Handlungsmuster an die peripheren Organe und die Körpermuskulatur weitergeleitet werden. Nervenzellen, die nicht in solche funktionellen Netzwerke integriert werden können, werden durch »programmierten Zelltod« (Apoptose) eliminiert. Was für die endgültige Anzahl an Neuronen gilt, mit denen das menschliche Gehirn zum Zeitpunkt der Geburt ausgestattet ist, gilt auch für die zwischen den Nervenzellen der verschiedenen Hirnbereiche und der innerhalb der sich herausformenden regionalen Netzwerken entstehenden Verschaltungen. In jeder dieser Regionen wird zunächst von den auswachsenden Nervenzellfortsätzen ein erheblicher »Überschuss« an Vernetzungen und synaptischen Verbindungen produziert. Anschließend werden all jene »synaptischen Angebote« wieder aufgelöst und eliminiert, die nicht in funktionelle Netzwerke integriert und durch synaptische Erregungsübertragung stabilisiert werden können. Auf diese Weise bleiben nur diejenigen Verschaltungsmuster zwischen den Nervenzellen erhalten, die häufig genug benutzt, das heißt, immer wieder aktiviert werden. Dieser Prozess der Überproduktion und nachfolgenden nutzungsabhängigen »Ausdünnung« synaptischer Verschaltungen ist zum Zeitpunkt der Geburt nur in den älteren Hirnregionen (Hirnstamm, Thalamus, Hypothalamus) bereits weitgehend abgeschlossen. Die hier angelegten Verschaltungen sind für all das zuständig, was bereits zum Zeitpunkt der Geburt gut funktionieren muss: die Regulation von Atmung, Kreislauf und anderen Körperfunktionen, angeborene Reflexe und innere frühe Reaktionsmuster zur Lebensbewältigung. In jüngeren, sich später und langsamer entwickelnden Regionen (jüngere Bereiche des limbischen Systems, Kortex) dauert er noch länger nach der Geburt an. In den jüngsten, besonders plastischen und durch postnatale Erfahrungen formbaren Bereichen des Neokortex 64 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

(präfrontaler Kortex, so genannter Stirnlappen) ist dieser Prozess der Synapsenbildung und der nachfolgenden funktionellen Stabilisierung komplexer synaptischer Verschaltungsmuster bis zur Pubertät nicht abgeschlossen. Möglicherweise bleibt die erfahrungs- und nutzungsabhängige Plastizität in diesen Bereichen des menschlichen Gehirns zeitlebens erhalten. In zahlreichen Untersuchungen sind diese sequenziellen Reifungsprozesse und die schrittweise Anpassung der sich herausformenden synaptischen Verschaltungsmuster an die während der weiteren Hirnreifung immer komplexer werdenden Anforderungen und Nutzungsmuster inzwischen nachgewiesen worden. Solang dieser Prozess noch in einer gegenüber äußeren Einflüssen weitgehend abgeschirmten »inneren Welt« abläuft (frühe Phasen der Embryonalentwicklung), wird seine Dynamik und seine Richtung weitgehend von Verschiebungen des lokalen Bedingungsgefüges bestimmt, die sich innerhalb des sich entwickelnden Systems automatisch (durch Zellteilung und Wachstum) einstellen. Je stärker mit fortschreitender Entwicklung äußere, nicht vom sich entwickelnden Embryo selbst erzeugte und gelenkte Faktoren auf das sich entwickelnde neuronale System einwirken, desto deutlicher wird die Dynamik und Richtung der weiteren Entwicklung durch diese »Störungen« aus der äußeren Welt bestimmt. Die Hirnentwicklung muss daher als ein sich selbst organisierender, durch Interaktionen mit der äußeren Welt gelenkter Prozess verstanden werden. Erst in den letzten Jahren haben Forscher einen Weg gefunden, um herauszufinden, welche Verhaltensweisen erworben und welche vererbt sind. Man benutzt dazu eine Technik, die als Cross-Fostering bezeichnet wird. So kann man beispielsweise unmittelbar nach der Geburt die Jungen von Rattenmüttern vertauschen, die sich bei der Aufzucht vorangegangener Würfe als entweder besonders kompetent und umsichtig oder aber als eher inkompetent und nachlässig erwiesen haben. Das Ergebnis derartiger Versuche ist eindeutig: Um eine kompetente Rattenmutter zu werden, kommt es nicht auf die genetischen Anlagen an, sondern auf die frühen Erfahrungen. Ein »Rattenmädchen« 65 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

kann also auch von einer »schlechten« Mutter abstammen und wird – wenn es das Glück hat, unmittelbar nach der Geburt bei einer »guten« Mutter zu landen – selbst eine gute Rattenmutter. Um zu erfahren, ob bestimmte Verhaltensmerkmale bereits intrauterin angelegt und geprägt werden, kann man nicht nur die Neugeborenen, sondern inzwischen auch die Embryonen von Mäusemüttern vertauschen, die aus Inzuchtstämmen mit unterschiedlichen Verhaltensmerkmalen stammen. Auch solche Experimente sind inzwischen gemacht worden. Man wählte dazu Tiere eines Stammes aus, die in einer neuen Umgebung vorsichtiger sind und mehr Zeit brauchen, um sich dort zurechtzufinden. Die Tiere des anderen Stammes zeichneten sich dadurch aus, dass sie sich räumlich besser orientieren können und eine gut ausgeprägte Impulskontrolle aufweisen. Wurden nun die Embryonen unmittelbar nach der Befruchtung vertauscht, also durch Embryotransfer den weiblichen Tieren des jeweils anderen Stammes eingepflanzt, so verhielten sich die Tiere später, wenn sie geboren und erwachsen geworden waren, genau so wie die Maus, die sie ausgetragen und aufgezogen hatte, und nicht so wie die Tiere des Stammes, von denen sie eigentlich abstammten. Das scheinbar genetisch bedingte und programmierte Verhalten eines Mäusestammes, zum Beispiel in einer neuen Umgebung ängstlich zu sein, Orientierungsschwierigkeiten zu haben und schlechter zu lernen, ist also offenbar durch ein komplexes Zusammenwirken früher intrauteriner Prägungen und späterer postnataler Erfahrungen bestimmt. Es reicht nicht, wenn die Jungen nur bei dieser Mutter aufwachsen, sie müssen bereits intrauterin in dieser Mutter heranwachsen, um die Verhaltensmerkmale des neuen Stammes zu übernehmen. Angesichts dieser Befunde müssen wir uns fragen, wie viele Eigenschaften, die bisher der Macht genetischer Programme zugeschrieben worden sind, in Wirklichkeit durch frühe intrauterine Erfahrungen geprägt und angelegt werden. Die Zwillingsforschung hat eine Vielzahl von phänotypischen Eigenschaften insbesondere auf der Ebene des Verhaltens gefunden, die offenbar angeboren sind. Ob sie aber auch wirklich ver66 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

erbt, also genetisch weitergegeben, oder durch weitgehend gleichartige intrauterine Entwicklungsbedingungen eineiiger Zwillinge nur in gleicher Weise erworben werden, lässt sich mit den Methoden der Zwillingsforschung nicht klären. Zum frühen Erfahrungsspektrum, das auf den sich entwickelnden Fetus einwirkt und seine Entwicklung bestimmt, gehören auch sensorische Einflüsse. Im letzten Schwangerschaftsdrittel hört das ungeborene Kind bereits die Stimme der Mutter, es kann bestimmte Melodien, die ihm vorgespielt werden, wiedererkennen, es lässt sich durch Geräusche aufschrecken und durch das Vorsingen oder Vorspielen häufig gehörter Lieder oder Musikstücke beruhigen. Das ist inzwischen allgemein bekannt. Weniger bekannt ist, dass der sich entwickelnde Fetus auch über Geruchs- und Geschmacksempfindungen verfügt, die bereits vor der Geburt aktiviert werden. Alle neugeborenen Säugetiere suchen nach der Geburt instinktiv die Brustwarze der Mutter. Kaninchen beispielsweise kriechen nach der Geburt am Bauchfell der Mutter entlang und finden auf diese Weise die Brustwarzen. Wenn man die Brustwarzen einer Kaninchenmutter mit Seife abwäscht, so finden die Neugeborenen die Brustwarzen nicht mehr. Träufelt man nun das Fruchtwasser der betreffenden Kaninchenmutter auf ihren Rücken, so suchen die neugeborenen Kaninchen die Brustwarzen auf dem Rücken der Mutter. Das heißt, die Neugeborenen suchen in Wirklichkeit keine Brustwarzen, sondern sie suchen einen bestimmten Geruch, den sie bereits intrauterin kennen gelernt und mit der dort herrschenden Geborgenheit assoziiert haben. Wenn sie auf die Welt kommen, suchen Kinder das, was sie bereits kennen und was ihnen bis dahin Sicherheit und Geborgenheit vermittelt hat – nicht nur das Schaukeln der Mutter, nicht nur ihre Stimme, sondern eben auch ihren Duft. An den Brustwarzen der Mutter werden dieselben Pheromone abgegeben, die auch im Fruchtwasser enthalten sind. Ändert man die »Duftstruktur« des Fruchtwassers, beispielsweise indem man vor der Geburt durch eine Injektion Zitronenaroma hinzufügt, so suchen die neugeborenen Kaninchen die Brustwarzen nach der Geburt 67 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

überall dort, wo es nach Zitronenaroma riecht. Auch beim Menschen gibt es Hinweise darauf, dass bereits intrauterin kennen gelernte Aromastoffe, also beispielsweise Zimt oder Knoblauch, vom ungeborenen Kind wahrgenommen und mit der im Mutterleib herrschenden Geborgenheit assoziiert werden. Das Ungeborene erkennt also gewissermaßen, was zum normalen Ernährungsspektrum der Mutter gehört, und es findet dann in der Muttermilch bekannte Geschmacksnoten wieder, die es aus seinem vorgeburtlichen Leben im Mutterleib bereits kennt. So wird das Kind bereits vor der Geburt darauf vorbereitet, wie die Milch der eigenen Mutter schmeckt. Mit der Geburt verlässt jedes Kind eine bis dahin schützende, geborgene Welt. Wie wir alle noch immer als Erwachsene, versucht auch ein Neugeborenes, sich in dieser fremden Welt zurechtzufinden, indem es das aussucht und wiederfindet, was es bereits kennt, womit es bereits vertraut ist. Wenn es schreit und sein inneres Bedürfnis nach Geborgenheit zum Ausdruck bringt, so löst es auf diese Weise bei der Mutter eine Reaktion aus, die ihm hilft, mit seiner Angst umzugehen und sie zu überwinden. Jedes Mal, wenn das gelingt, macht das Kind zwei wichtige Erfahrungen. Es lernt, dass es in der Lage ist, Probleme zu bewältigen, und dass es jemanden gibt, der ihm bei der Bewältigung dieser Probleme behilflich ist. Diese Erfahrung festigt die emotionale Bindung zur Mutter und das Vertrauen in die mütterlichen Kompetenzen. Je häufiger Kinder die Erfahrung machen können, dass Probleme auf diese Weise lösbar werden, desto sicherer werden die Bindungsbeziehungen zu den betreffenden Bezugspersonen. Wer keine Probleme hat, kann weder sichere Bindungen ausbilden noch die Erfahrung machen, dass die Aneignung eigener Kompetenzen Spaß macht und das Selbstwirksamkeitskonzept stärkt. In gewisser Weise gilt das auch schon für Tiere. Ein Beispiel aus der Hundezucht: Wenn man einen Wurf Welpen nicht an der Mutterbrust, sondern mit einer Flasche großzieht, kann man diese Flaschen mit unterschiedlich großen Öffnungen versehen, mit kleinen Öffnungen, die dazu führen, dass die Tiere deutlich länger als 68 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

an der Mutterbrust saugen müssen, mit sehr großen Öffnungen, die dazu führen, dass die Tiere bereits innerhalb von wenigen Minuten satt sind, und mit Öffnungen, die so beschaffen sind, dass die Welpen mit diesen Flaschen etwa genauso schnell satt werden wie auch an der Mutterbrust. Zieht man nun die Welpen eines Wurfs Jagdhunde unter diesen drei verschiedenen Bedingungen auf, so stellt man fest, dass diejenigen Tiere später die besten Ausbildungsleistungen erbringen, denen man das Leben während der frühen Entwicklung mit dem kleinen Loch in der Flasche besonders schwer gemacht hatte. Offenbar hatten sie besonders früh gelernt, Probleme zu bewältigen, ohne daran zu verzweifeln. Ein Kind, das eine sichere Bindungsbeziehung entwickelt hat, übernimmt all das, was diese Bindungspersonen selbst an Kompetenzen, Fähigkeiten und Haltungen überliefern. Sogar die angeborene Furcht vor Schlangen beispielsweise kann völlig überlagert werden, wenn ein Kind bei einem Vater aufwächst, der ihm in schwierigen Situationen zur Seite steht, mit dem es gemeinsam viele Probleme lösen, aber auch viel Freude teilen kann und der eben zufälligerweise auch noch ein großer Schlangennarr ist. Worauf es für eine erfolgreiche Stabilisierung hochkomplexer Verschaltungsmuster ankommt, lässt sich besonders eindringlich anhand der Herausformung des »Gesangszentrums« im Gehirn von Singvögeln beobachten. In dieser Region entsteht ein riesiges Überangebot an Nervenzellkontakten, wenn der kleine Vogel, also beispielsweise eine Nachtigall, noch im Nest sitzt. Wenn nun der Vater in der Nähe des Nests seine bezaubernd vielfältigen Lieder singt, entstehen im Gesangszentrum der Jungvögel entsprechend komplexe Aktivierungsmuster. Je komplizierter der Gesang, desto komplexer werden diese Muster und umso mehr Verschaltungen und Verbindungen können dann auch »benutzt« und stabilisiert werden. Wenn der Nachtigallenhahn keine Lust zum Singen hat, vertrieben oder gar totgeschossen wird, so kann im Gesangszentrum seiner Jungen auch kein so kompliziertes Netzwerk von Verbindungen 69 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

stabilisiert werden. Dann geht der größte Teil der »synaptischen Angebote« zugrunde, und mit dem, was übrig bleibt, wird im nächsten Jahr kaum noch ein Sängerstreit um eine hübsche Nachtigallenbraut zu gewinnen sein. »Nutzungsabhängige Stabilisierung synaptischer Netzwerke« heißt das, was nicht nur im Gesangszentrum der Singvögel, sondern in noch viel stärkerem Maß und über noch viel längere Zeiträume im menschlichen Gehirn passiert. Die Region, in der sich während der frühen Kindheit besonders intensive Nervenzellkontakte herausbilden und darauf warten, dass sie möglichst komplex benutzt und stabilisiert werden, ist freilich nicht das Gesangszentrum, sondern die Hirnrinde, und hier ganz besonders der vordere, zuletzt ausreifende Bereich, der so genannte Stirnlappen. Diese für unser menschliches Hirn besonders typische Region brauchen wir, wenn wir uns ein Bild von uns selbst und unserer Stellung in der Welt machen wollen (Selbstwirksamkeitskonzepte), wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Wahrnehmungen richten, Handlungen planen und die Folgen von Handlungen abschätzen (Motivation, Impulskontrolle) oder wenn wir uns in andere Menschen hineinversetzen und Mitgefühl entwickeln (Empathiefähigkeit, soziale und emotionale Kompetenz). Genau diese Fähigkeiten brauchen Kinder mehr als alles andere, wenn sie sich später in der Schule und im Leben zurechtfinden, lernbereit, wissensdurstig und neugierig bleiben und mit anderen gemeinsam nach brauchbaren Lösungen suchen wollen. Die für diese Fähigkeiten verantwortlichen hochkomplizierten Nervenzellverschaltungen in ihrem Hirn, und dort speziell im Frontallappen, stabilisieren sich jedoch nicht von allein. Sie müssen – wie im Gesangszentrum der kleinen Nachtigallen – durch eigene Erfahrungen anhand entsprechender Vorbilder herausgeformt und gefestigt werden. In allgemeinen Worten lassen sich all diese neueren Erkenntnisse über den Einfluss äußerer Faktoren auf die Hirnentwicklung etwa zusammenfassen: Die kritischen Entwicklungsphasen sind besonders gut gegenüber äußeren Störungen geschützt, und die jeweiligen Ent70 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

wicklungsschritte werden primär durch das bis dahin entwickelte Beziehungsgefüge (lokales Mikroenvironment) bestimmt. Überall dort, wo die Ausreifung langsamer erfolgt, gelangt die endgültige Ausdifferenzierung einzelner Teilsysteme zunehmend unter den Einfluss äußerer Faktoren, die auf das bis dahin entwickelte Beziehungsgefüge einwirken (und das lokale Mikroenvironment, die Bereitstellung von Wachstumsfaktoren, Signalstoffen, Hormonen und Transmittern verändern) und die weiteren Entwicklungsprozesse in eine bestimmte Richtung lenken (Modulation der Genexpression). Die in solchen Bereichen des Gehirns ablaufenden Differenzierungsprozesse sind dann für einen bestimmten Zeitraum besonders leicht durch äußere Einflüsse modifizierbar.Während derartiger kritischer,sensibler Phasen ist die Ausreifung der Nervenzellverschaltungen durch die Einwirkungen äußerer Faktoren besonders leicht beeinflussbar. Einmal entstanden, sind diese Verschaltungsmuster später nur noch in begrenztem Umfang kompensierbar und (durch Normalisierung der äußeren Störung) korrigierbar. Gegenüber älteren, noch immer weit verbreiteten Vorstellungen einer autonom ablaufenden, im Wesentlichen durch genetische Programme gesteuerten Hirnentwicklung ist diese neue Sicht der Entwicklungsneurobiologie insbesondere für das Verständnis vorgeburtlicher Einflüsse auf die Ausformung und Strukturierung neuronaler Netzwerke und synaptischer Verschaltungen ein wichtiger Schritt. Wie immer in solchen Übergangsphasen wirft aber auch hier das neue Paradigma zunächst mehr Fragen auf, als es Antworten zu geben in der Lage ist. Das gilt vor allem dann, wenn es um die Identifikation der spezifischen Ursachen für die Ausbildung eines besonderem Merkmals geht, mit dem ein bestimmtes Kind zur Welt kommt. Ebenso unbefriedigend und unpräzise bleiben die Antworten, wenn es um die genaue Abschätzung der Folgen eines spezifischen Ereignisses geht, das während der pränatalen Entwicklung stattgefunden und möglicherweise die weitere Entwicklung des ungeborenen Kindes beeinflusst hat. Zwar lässt sich aus den hier beschriebenen Zusammenhängen ableiten, dass jedes 71 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Ereignis, das bis in die innere Welt des sich entwickelnden Gehirns vordringt und das dort bis dahin aufgebaute Beziehungsgefüge nachhaltig stört, entsprechende Spuren hinterlässt, die nachfolgende Entwicklungsprozesse beeinflussen. Aber es ist im Einzelfall kaum abschätzbar, wie diese Spuren beschaffen sind, welche Folgen sie haben, ob und wie sie im Verlauf der weiteren Entwicklung kompensiert werden. Alles, was auf den Einfluss vergangener Erfahrungen zurückzuführen ist, muss als eine in der Struktur des sich entwickelnden Organismus festgehaltene Erinnerung an das betreffende Ereignis verstanden werden. Das Gedächtnis ist also nicht allein an ein erinnerungsfähiges Gehirn gebunden, das die betreffende Erfahrung als innere Repräsentanz verankert und später symbolisch, bildhaft oder verbal wieder zum Ausdruck bringen kann. Das Gedächtnis wären dann all die vielen Spuren, die sich als Folge der Interaktion eines Lebewesens mit der äußeren Welt in seiner Struktur und seiner inneren Organisation eingegraben haben. So betrachtet hat jede Zelle, jedes Organ, jedes Individuum, ja sogar jede Lebensgemeinschaft ihr eigenes, durch die jeweiligen bisher gemachten Erfahrungen herausgeformtes Gedächtnis. Das menschliche Gehirn zeichnet sich dabei nur durch eine Besonderheit aus: Es kann die spezifischen Verschaltungsmuster, die durch bestimmte Erfahrungen als innere Repräsentanzen dort herausgeformt worden sind, zu späteren Zeitpunkten wieder aktivieren und damit ein inneres Erinnerungsbild der betreffenden Erfahrungen erzeugen. Dieses Erinnerungsbild lässt sich jedoch erst dann »in Worte fassen«, wenn auch die Fähigkeit zur verbalen Beschreibung des wachgerufenen inneren Bildes hinreichend entwickelt ist. Erst relativ spät erwerben Kinder die Fähigkeit, gemachte Erfahrungen in Form innerer Bilder zu erinnern und in einer Weise mitzuteilen, die von anderen verstanden wird. Alle davor, also bereits im Säuglingsalter oder gar intrauterin gemachten Erfahrungen sind daher zwar im Gedächtnis der Zellen, einzelner Organe, einzelner Hirnbereiche oder des ganzen Körpers gespeichert. Sie können jedoch nicht bewusst erinnert oder mit72 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

geteilt werden, kommen jedoch bisweilen auf andere, zum Beispiel körperliche Weise zum Ausdruck. Die Gedächtnisforscher haben aus dieser Beobachtung eine »frühkindliche Amnesie« abgeleitet, für die sie ein nicht ausgereiftes Gedächtnissystem verantwortlich machen. Da sie unter »Gedächtnissystem« all jene Strukturen verstehen, die für die Zuordnung, Stabilisierung und Reaktivierung bestimmter Gedächtnisinhalte innerhalb des Gehirns zuständig sind, ist diese Vermutung sicher zutreffend. Weder Hippokampus und Zwischenhirn, noch Kortex und alle höheren Zentren sind zum Zeitpunkt der Geburt so weit entwickelt und miteinander verschaltet, dass spezifische Erfahrungen als entsprechende innere Repräsentanzen abgespeichert und bewusst aktiviert werden könnten. Während der ersten drei Lebensjahre, wenn die Fähigkeit zur bewussten Erinnerung allmählich herausgeformt wird, kommt es im Gehirn, insbesondere in den höheren assoziativen Zentren des Kortex, zu tief greifenden Reorganisationsprozessen. Möglicherweise werden von diesen Umbauprozessen auch solche Verschaltungsmuster mit erfasst, die durch vorher gemachte, frühe Erfahrungen entstanden sind. Dann ließen sich auch später, wenn die Fähigkeit zum bewussten Erinnern voll ausgereift ist, diese früh entstandenen inneren Bilder unter Umständen zumindest noch bruchstückhaft und verschwommen abrufen.

3.3 Bilder lenken die Wahrnehmung edes Lebewesen, also eine Zelle, eine Pflanze, ein Schleimpilz, ein Mensch oder eine ganze menschliche Gemeinschaft, reagiert auf eine bestimmte Veränderung in der äußeren Welt mit einer bestimmten Antwort. Diese Reaktion ist Ausdruck der Tatsache, dass das betreffende Lebewesen oder die betreffende Gemeinschaft diese Veränderung als Störung ihrer bisherigen inneren Ordnung erfahren und damit im weitesten Sinne auch wahrgenommen hat. Die Wahrnehmungsfähigkeit ist also eine

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Grundeigenschaft aller Lebewesen. Sie ist weder an das Vorhandensein spezifischer Sinnesorgane, noch an einen bewussten Wahrnehmungsprozess gebunden. Nicht die Sinnesorgane, sondern die für den Aufbau des inneren Beziehungsgefüges eines Lebewesens genutzten inneren Bilder sind also entscheidend dafür, welche Veränderungen der äußeren Welt von den betreffenden Lebewesen wahrgenommen und gegebenenfalls auch beantwortet werden können. Eine Veränderung der äußeren Welt, die die bisher entwickelte innere Ordnung, das bisher herrschende innere Beziehungsgefüge eines Lebewesens nicht zu stören imstande ist, kann auch nicht wahrgenommen werden. Frei lebende Einzeller besitzen an ihrer Oberfläche eine ganze Reihe unterschiedlicher »Monitore«, so genannte membranständige Rezeptoren. Das sind relativ kompliziert aufgebaute Eiweißmoleküle, deren Grundstruktur durch die Übersetzung bestimmter DNA-Sequenzen bestimmt wird. Alle für die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung einer Zelle besonders wichtigen Veränderungen der äußeren Welt werden von diesen Rezeptoren registriert und in ein Signal übersetzt, das ins Zellinnere weitergeleitet wird. Dort setzt es dann eine Reaktionskette in Gang, die so lange aktiv bleibt, bis das ursprüngliche innere Gleichgewicht wiederhergestellt ist. Bei vielzelligen Organismen wird diese Wahrnehmung wichtiger Veränderungen der äußeren oder inneren Verhältnisse von speziellen Sinneszellen übernommen. Sie wandeln die durch einen physikalischen oder chemischen Reiz ausgelöste Störung ihrer inneren Ordnung in ein Signal um, das sie an andere Zellen weiterleiten, entweder als elektrischen Impuls über einen langen Fortsatz oder als einen auf den betreffenden Stimulus hin produzierten und an andere Zellen abgegebenen Botenstoff. Dieses elektrisch oder chemisch weitergeleitete Signal löst dann eine mehr oder weniger lange Kettenreaktion von weiteren Signalen und Antworten der Zellen innerhalb des Organismus aus, an deren Ende so genannte Effektorzellen »irgendetwas« tun, was zur Beseitigung der eingetretenen Störung führt. Durch 74 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

weitere Spezialisierungen und die Zusammenlagerung dieser Sinneszellen sind bei den Tieren zunehmend komplexere Sinnesorgane entstanden. Die dort erzeugten Signalmuster werden über Fortsätze, die so genannten sensorischen Nervenbahnen, zum Gehirn weitergeleitet. Dort lösen diese eintreffenden Signale in den für die Verarbeitung sensorischer Eingänge spezialisierten Nervennetzwerken ein für den betreffenden Sinnesreiz charakteristisches Erregungsmuster aus. Das auf diese Weise im Gehirn erzeugte Aktivierungsmuster wird anschließend mit bereits vorhandenen und in Form bestimmter Verschaltungsmuster stabilisierten Erregungsmustern, also den bereits im Hirn angelegten inneren Bildern überlagert und verglichen. Bei manchen Tieren sind einzelne Sinnesorgane, wie auch diejenigen Hirnbereiche, in denen die zum Abgleich mit den neu eintreffenden Sinnesorganen genutzten inneren Bilder bereitgehalten werden, zum Teil bereits angeborenermaßen besser entwickelt und feiner ausdifferenziert als bei uns Menschen. Solche Tiere können dann bestimmte Aspekte ihrer äußeren Welt und deren Veränderungen weitaus empfindlicher wahrnehmen als wir. Die neuronalen Verschaltungsmuster, die ihr Hirn für den Vergleich mit den durch die jeweilige Sinneswahrnehmung erzeugten »Wahrnehmungsmustern« benutzt, werden durch die lenkende und steuernde Wirkung ihrer genetischen Programme während der Hirnentwicklung herausgeformt. Sie haben deshalb angeborenermaßen bereits ein grobes Bild von all dem im Kopf, was für das Überleben ihrer Vorfahren über sehr lange Zeiträume und viele Generationen hinweg ganz besonders wichtig gewesen war. So erkennt der Bussard die Maus, das Huhn den Habicht, der Frosch die Fliege oder das Schaf den Wolf sozusagen »a priori«. Diese genetisch verankerten Bilder bleiben – wie bei den Schafen – selbst dann noch über viele Generationen erhalten, wenn das reale Objekt, das sie repräsentieren – wie bei uns der Wolf – längst ausgestorben ist. Bei manchen Tieren ist das Gehirn jedoch bereits plastisch genug, um diese genetisch verankerten inneren Bilder durch später angelegte, aus eigener Erfahrung entwickelte innere Bil75 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

der zu ergänzen. Unsere Störche und Reiher bieten hierfür ein anschauliches Beispiel. Da das, was sie am liebsten fressen und wovon sie ein recht präzises inneren Bild im Kopf haben – Fische und Frösche –, immer seltener zu finden ist, lernen die Jungen nun von ihren Eltern nicht nur, dass man auch Mäuse fressen kann, sondern sie entwickeln in ihrem Hirn auch ein nunmehr erlerntes inneres Bild davon, wie Mäuse aussehen und wo sie am besten zu fangen sind. Diese Fähigkeit, neue Wahrnehmungen zu machen und diese neuen Wahrnehmungen für die Herausformung neuer innerer Bilder in Form bestimmter synaptischer Verschaltungsmuster im Gehirn zu verankern, ist beim menschlichen Gehirn besonders gut entwickelt. Wir sind mit unserem Gehirn in der Lage, die bereits angelegten inneren Bilder mit den neuen, über die verschiedenen Sinneskanäle ankommenden und im Gehirn erzeugten Aktivitätsmustern zu vergleichen und unsere bisherige Vorstellung von dem zu verändern, was eine Maus oder ein Schwein, ein Freund oder ein Feind, eine Hose oder ein Rock ist. Wie diese Abstimmung erfolgt, ist noch nicht endgültig geklärt. Die Hirnforscher vermuten, dass die ankommenden Sinnesdaten auch bei uns im Gehirn zunächst ein inneres »Wahrnehmungsbild« erzeugen. Gleichzeitig werden dazu passende, in den höheren Arealen der Hirnrinde bereits angelegte innere Bilder benutzt, um ein bestimmtes »Erwartungsbild« in Form eines charakteristischen Aktivierungsmusters zu generieren. Falls diese beiden Erregungsmuster identisch sind, bleibt alles beim Alten. Da das neue Bild das vorhandene nur bestätigt, sind die eingegangenen Sinnesdaten für das Hirn uninteressant und können routinemäßig so wie die alten bisher auch beantwortet werden. Wenn keinerlei Übereinstimmung zwischen dem durch eine bestimmte Wahrnehmung im Gehirn entstehenden neuen Erregungsmuster und dem von den assoziativen Rindenbereichen generierten »Erwartungsbild« hergestellt werden kann, passiert gar nichts. Die eingegangenen Sinnesdaten werden dann als unsinniges und daher belangloses »Trugbild« verworfen. Wirklich interessant wird es nur dann, wenn das alte 76 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

bereits vorhandene Muster und das neue, eben entstandene Aktivierungsmuster zumindest teilweise übereinstimmen und überlagerbar sind.Das im Kortex entstandene »Erwartungsbild« muss dann geöffnet und entsprechend modifiziert werden. Anschließend wird es erneut mit den von den eintreffenden Sinnesdaten erzeugten Erregungsmustern verglichen. Dieser Prozess wiederholt sich solange, bis ein neues, erweitertes inneres »Erwartungsbild« entstanden ist, das sich nun endlich mit dem tatsächlichen Wahrnehmungsbild deckt. Die neue Wahrnehmung ist dann in den Schatz der bereits vorhandenen inneren Bilder integriert worden. Man hat etwas dazugelernt. Die im Gehirn angelegten und bereitgehaltenen inneren Repräsentanzen über die in der äußeren Welt wahrnehmbaren Erscheinungen werden auf diese Weise im Lauf des Lebens ständig erweitert und überformt, jedenfalls solange ein Mensch noch Neues wahrzunehmen und sich auf diese neuen Wahrnehmungen einzulassen imstande ist, das heißt, solange ein solcher Abgleich zwischen neu entstandenen und bereits vorhandenen synaptischen Aktivierungsmustern erfolgen kann. Diese Bereitschaft und die damit einhergehende Offenheit zur Modifikation und Erweiterung bereits vorhandener innerer Erwartungsbilder ist während der Phase der Hirnreifung, also bei Kindern und Jugendlichen, besonders groß. Das gilt nicht nur für die visuelle Wahrnehmung und die Verankerung optischer Eindrücke, sondern ebenso für das Tasten und die Herausbildung innerer »Tast- und Körperbilder«, für das Hören und die Entstehung entsprechender akustischer innerer Bilder und das damit einhergehende Verstehen und Verankern von Sprache, letztlich auch für das Interesse am Zuhören. Auf gleiche Weise entwickelt sich die Fähigkeit, aus Gerochenem innere »Geruchsbilder« anzulegen und mit anderen Sinneswahrnehmungen und den dadurch erzeugten inneren Bildern zu verbinden. Ja sogar die von den Muskeln bei Veränderungen ihres Tonus zum Gehirn weitergeleiteten Signale werden benutzt, um innere Repräsentanzen von komplexen Bewegungsabläufen, gewissermaßen innere »Bewegungs- und Handlungsbilder« in 77 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

bestimmten Bereichen des Gehirns anzulegen und bei Bedarf abzurufen. Nichts anderes geschieht beim Training optimierter Bewegungsabläufe im Sport, aber auch bei jeder komplexen, behutsamen Bewegung, mit der wir eine Tasse zum Mund führen. Die anfangs noch sehr große Bereitschaft, die bereits in den assoziativen Bereichen des Kortex vorhandenen inneren Bilder mit den aus diesen unterschiedlichen Sinneskanälen neu eintreffenden Eindrücken und »Wahrnehmungsbildern« abzugleichen, verschwindet (leider) in dem Maß, wie ein Mensch zu der inneren Überzeugung gelangt, alles, was es nun noch an Neuem wahrzunehmen gibt, bereits zu kennen. Er meint dann, dass er neue Wahrnehmungen zur Aufrechterhaltung seines inneren Gleichgewichts nicht mehr braucht. Das Neue, Fremde interessiert ihn nicht mehr. Bisweilen weigern sich einzelne Menschen auch, sich überhaupt noch auf neue Wahrnehmungen einzulassen, weil sie zu der Überzeugung gelangt sind, dass alles Neue und Fremde ihr bis dahin entwickeltes inneres Gleichgewicht nur erneut stört und bedroht. Oft haben solche Menschen die wiederholte Erfahrung gemacht (oder machen müssen), dass ihre Offenheit für Neues und Fremdes für sie nutzlos oder gar gefährlich geworden ist. Diese Erfahrung ist dann in Form komplexer Verschaltungsmuster in den höchsten assoziativen Bereichen ihres Frontalhirns als ein übergeordnetes und nun ihre gesamte Wahrnehmungsfähigkeit leitendes, das heißt ihre Offenheit bestimmendes, inneres Bild verankert. Dieses übergeordnete innere Bild hemmt als einmal angeeignete Haltung und Überzeugung fortan die Projektion von »Erwartungsbildern« aus den anderen assoziativen Netzwerken des Kortex in das Zwischenhirn. Solche Menschen hören auf, die in ihnen selbst oder in ihrer Lebenswelt stattfindenden Veränderungen wahrzunehmen. Ihre einmal entwickelten Haltungen und Überzeugungen sind dann als so starke innere Bilder in ihrem Frontalhirn verankert, dass sie den Abruf und damit den Abgleich einzelner, oft sogar aller anderen in den assoziativen Rindenbereichen bereits angelegten Wahrnehmungsbilder verhindern. 78 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Sie lassen sich dann im wahrsten Sinn des Wortes durch nichts mehr »beeindrucken«. Umgekehrt gibt es auch Menschen, die bereits während ihrer Kindheit und dann auch in ihrem späteren Leben die wiederholte Erfahrung machen und als innere Überzeugung in ihrem Frontalhirn verankern konnten, dass der fortwährende Abgleich ihrer bereits angelegten inneren Wahrnehmungsbilder mit neuen Sinnesdaten zu einer für sie bedeutsamen und für ihre Lebensbewältigung hilfreichen Verbesserung und Erweiterung ihrer Wahrnehmungsfähigkeit geführt hat. Dieses übergeordnete innere Bild erleichtert ihnen im weiteren Leben den Abruf und den Abgleich ihrer in den assoziativen Rindenfeldern bereits vorhandenen inneren Erwartungsbilder für einzelne oder sogar mehrere Wahrnehmungsbereiche. Sie lassen sich deshalb auch durch sehr viele, subtile Veränderungen sowohl ihres Körpers als auch ihrer äußeren Welt weiter »bilden«. Sehr spezielle Anforderungen an die Fähigkeit zur Wahrnehmung eines bestimmten Phänomens, wie sie mit bestimmten Kindheitserfahrungen und später mit vielen beruflichen Tätigkeiten einhergehen, können auch dazu führen, dass die Fähigkeit zur Wahrnehmung ganz bestimmter Phänomene bei einzelnen Personen enorm gut entwickelt wird. Solche Menschen werden dann zu wahren Wahrnehmungskünstlern, die in der Lage sind, optische, akustische, gustatorische oder taktile Sinneseindrücke so fein auszudifferenzieren und so sicher einzuordnen, dass »normale« Menschen angesichts dieser Fähigkeiten zu ahnen beginnen, wozu ein menschliches Gehirn imstande ist. Das gilt nicht nur für Experten der Weinverkostung oder für musikalische Genies, sondern beispielsweise auch für einen Arzt, der eine Röntgenbildaufnahme betrachtet. Das komplexe innere Bild, das er benutzt, um in diesen Schwärzungsverteilungen Anzeichen einer pathologischen Veränderung wahrzunehmen, wird erst durch intensive Beschäftigung und jahrelange Erfahrung mit derartigen Aufnahmen allmählich herausgeformt. Im Lauf seiner Ausbildung und seiner späteren Tätigkeit muss er sich auf einen immer neuen Abgleich 79 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

des durch das Betrachten einer solchen Röntgenaufnahme erzeugten optischen Wahrnehmungsbildes mit all den anderen inneren Bildern einlassen, die er in seinem Gehirn über die anatomischen und klinischen Merkmale von gesunden und kranken Menschen angelegt hat. Nur so erlernt er, in diesen Röntgenbildern etwas zu sehen, was jedem, der das nicht gelernt hat, verborgen bleibt. Normalerweise geben diese Radiologen, ebenso wie alle anderen Experten, Künstler, Wissenschaftler, Politiker, Unternehmer, Lehrer, Arbeiter, Angestellte, Junge und Alte, Männer und Frauen – also im Grunde alle Mitglieder einer menschlichen Gemeinschaft –, ihre Wahrnehmungen an andere Menschen weiter und überliefern sie sogar von einer Generation zur nächsten. Auf diese Weise entsteht eine sich innerhalb dieser Gemeinschaft ausbreitende kollektive Vorstellung davon, wie die Welt, in der diese Menschen leben, beschaffen ist. Ähnlich wie die im Gehirn jedes einzelnen Menschen durch seine jeweiligen Erfahrungen herausgeformten inneren Erwartungsbilder werden diese innerhalb einer Gesellschaft oder eines Kulturkreises kommunizierten und tradierten kollektiven Bilder benutzt, um alle neu in diese Gemeinschaft eindringenden Wahrnehmungen und Erkenntnisse einzelner besonders begabter oder besonders exponierter Mitglieder zu bewerten. Handelt es sich, wie beispielsweise bei den von Albert Einstein wahrgenommenen und in Form der Relativitätstheorie mathematisch formulierten Phänomenen, um etwas Neues, das kritischer Überprüfung standhält und sich als praktisch nutzbar erweist, so wird das alte Bild – die Newton’sche Physik – entsprechend ergänzt, erweitert und so lange umgestaltet, bis es mit den neuen Beobachtungen der Physiker kompatibel geworden ist. Auf diese Weise wird jede Gemeinschaft durch die von einzelnen Mitgliedern gemachten Wahrnehmungen und durch die aus diesen Wahrnehmungen abgeleiteten Erkenntnisse dazu gebracht, ihre bisherigen, in Märchen, Mythen, Gesetzes- oder Lehrbüchern festgehaltenen und überlieferten, anfangs meist noch sehr bruchstückhaften, oft auch widersprüchlichen Vor80 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

stellungen, Hypothesen und Visionen über die Beschaffenheit der Welt allmählich zu ergänzen und zu erweitern. So kann schließlich manches, was bisher als Getrenntes galt, verbunden und anderes, was bisher zusammenzugehören schien, getrennt werden. Wie die einmal angelegten inneren Bilder im Hirn eines einzelnen Menschen können auch einmal entwickelte kollektive Vorstellungen bisweilen sehr stabil und rigide werden. Sie lassen sich dann oftmals selbst dann nicht mehr öffnen und erweitern, wenn sie mit dem unvermeidlichen Zustrom neuer Wahrnehmungen und Erkenntnisse längst nicht mehr vereinbar sind. Und ebenso wie die einmal entstandenen inneren Bilder im Hirn des Einzelnen können auch die von einer Gemeinschaft gehegten kollektiven Vorstellungen, Überzeugungen und Erwartungen dazu führen, dass die Wahrnehmungen und die Suche nach neuen Erkenntnissen ihrer Mitglieder zumindest über einen gewissen Zeitraum hinweg in eine ganz bestimmte Richtung gelenkt werden, so dass manche Phänomene von den Mitgliedern einer solchen Gemeinschaft besonders intensiv verfolgt und beachtet, andere aber kaum wahrgenommen werden.

3.4 Bilder bestimmen das Denken, Fühlen und Handeln s ist beeindruckend, unter dem Mikroskop eine Amöbe dabei zu beobachten, wie vorsichtig dieser Einzeller seine Filipodien als feine Ausstülpungen seines Zellplasmas herausstreckt und damit tastend seine Umgebung erkundet. Trifft die Amöbe dabei auf etwas Fressbares, so schließt sie es mit diesen Füßen ein und bugsiert den Nahrungsbrocken in ihr Inneres. Enthält dieser Brocken eine Substanz, die der Amöbe nicht schmeckt, so schüttelt sie sich und spuckt ihn wieder aus. Bewegt man einen größeren Gegenstand, beispielsweise eine Nadelspitze, auf die Amöbe zu, so zieht sie ihre Fortsätze ein, kugelt sich ab und wartet, bis die Gefahr vorbei ist. Wer dem Treiben eines solchen Einzellers einige Zeit zugeschaut hat,

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muss all seine Vernunft zusammennehmen, um das Gefühl zu unterdrücken, dass auch schon Amöben denken, fühlen und gezielt handeln können. Ähnlich muss es jedem begeisterten Angler gehen, der sich darüber ärgert, wie vorsichtig die Fische seinen Köder umschwimmen, bis sich endlich einer ein Herz fasst und daran zupft. Falls ihm der Köder schmeckt, wächst sein Appetit. Falls der stärker wird als die Angst, beißt er zu – und wird herausgezogen. Der Angler kann dann einpacken und nach Hause gehen, denn an dieser Stelle wird eine Zeit lang erst einmal kein weiterer Fisch anbeißen, es sei denn, die Köder sind gar zu verlockend oder der Hunger der anderen Fische ist so groß, dass sie sich selbst von der nun innerhalb des Schwarmes entstandenen Unruhe und Angst nicht anstecken lassen. Was die Fische den Anglern hier vorführen, sind widersprüchliche handlungsleitende Motive, die wir – wenn sie Menschen wären – ohne zu zögern »Gefühle« nennen würden: Einerseits die vorwärts treibende Neugier, der Appetit oder Hunger der Fische, die sie zum Zubeißen verleiten, andererseits die zurückhaltende Angst, die – solange sie stark genug ist – zur Vorsicht rät, aber offenbar auch schon bei Fischen durch andere stärkere Bedürfnisse verdrängt werden kann. Das Gleiche erleben Vögel während der Paarung im Frühjahr, wenn sie vor lauter Begeisterung bei der Begattung oder voller Zorn und Kampfeslust beim Streit mit Rivalen bisweilen so unvorsichtig werden, dass sie von den Bäumen purzeln. Was sie so stark vorwärts treibt, dass sie dabei alle Angst vergessen, ist ein handlungsleitendes Motiv, das noch stärker ist als der Hunger. Das eine nennen wir »Trieb«, das andere »Bedürfnis«. Aber mit dieser Begrifflichkeit kommt man gänzlich durcheinander, wenn man eine Bezeichnung für das Motiv sucht, das Eltern (auch schon Vogeleltern) dazu bringt, sich selbst – um ihre Nachkommen zu retten – in Lebensgefahr zu bringen und dabei gegebenenfalls ihr Leben für das ihrer Jungen zu opfern. Dieses Gefühl ist stärker als der Hunger, stärker als der Geschlechtstrieb und ganz offenkundig auch stärker als die Angst, aber einen entspre82 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

chend starken Namen haben wir dafür nicht. Wenn diese Tiereltern Menschen wären, würden wir es »Liebe« nennen. Wichtiger als all die Namen, die wir diesen inneren Impulsen geben, ist das, was all diese Beispiele deutlich machen: Es gibt Kräfte, die nicht nur uns, sondern auch alle Tiere, sogar schon die Einzeller antreiben und zu bestimmten Reaktionen oder Handlungen bewegen, und solche, die uns, ebenso wie alle anderen Lebewesen, zurückhalten. Gelenkt, gesteuert und koordiniert werden diese Reaktionen oder Handlungen durch mehr oder weniger komplexe Reaktions- und Handlungsschemata, die in der inneren Organisation des betreffenden Lebewesens bereits angelegt sind und nur noch durch einen entsprechenden inneren Impuls ausgelöst und umgesetzt werden müssen. Dieser entscheidende, eine bestimmte Handlung in Gang setzende Impuls wird von dem betreffenden Lebewesen immer dann erzeugt, wenn es zu einer Störung seines bisher aufgebauten und aufrechterhaltenen inneren Beziehungsgefüges kommt. Eine derartige Störung der inneren Ordnung eines Lebewesens kann entweder in seiner Innenwelt selbst entstehen, also endogen verursacht sein (z. B. durch Aktivitätsveränderungen und daraus resultierende Diskrepanzen zwischen Bedarfs- und Versorgungslage in einzelnen Bereichen, durch Kommunikationsstörungen und veränderte Signalflüsse etc.). Sie kann aber auch durch einen äußeren, die bisherige innere Ordnung irritierenden, exogenen Reiz ausgelöst werden. In beiden Fällen muss die aufgetretene Störung der bisherigen inneren Ordnung von dem betreffenden Lebewesen zunächst wahrgenommen und anschließend bewertet werden. Eine Zelle, ein Organismus oder eine Gesellschaft muss also nicht nur »merken«, dass »irgendetwas nicht mehr stimmt«, sondern muss auch in der Lage sein, anhand eines bereits vorhandenen Messfühlers oder Maßstabs – also anhand eines inneren Bildes davon, wie es sein sollte – zu »entscheiden«, ob und wie jetzt zu reagieren oder zu handeln ist. Jedes Lebewesen besitzt also zu jedem Zeitpunkt seiner Entwicklung nicht nur bestimmte, seine Reaktionen und Handlungen lenkende, sondern auch bestimmte, den betreffenden 83 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Handlungsimpuls auslösende innere Bilder. Im einfachsten Fall handelt es sich hierbei um primitive Reiz-Reaktions-Schemata, die automatisch zu einer bestimmten Antwort führen, wenn sie durch einen hinreichend starken, mehr oder weniger spezifischen Stimulus in Gang gesetzt werden. Ein typisches Beispiel hierfür ist die durch den Eintritt eines Spermiums in eine Eizelle ausgelöste Veränderung der Eihülle, die das Eindringen eines weiteren Spermiums verhindert. Aber die Beobachtung, dass eine Eizelle sich nicht durch jedes beliebige Spermium befruchten lässt, sondern gezielt eines davon für den Befruchtungsakt »auswählt« und »zulässt«, macht bereits deutlich, dass es sich hierbei um einen aktiven Prozess handelt, den die Eizelle nur dann in Gang setzt, wenn das betreffende Spermium bestimmte Kriterien erfüllt, wenn es also ihren »Vorstellungen« entspricht. Wir wissen nicht, welche Kriterien die Eizelle benutzt, um von den ankommenden Kandidaten den für sie passenden auszusuchen. Später, wenn aus dieser Verschmelzung ein erwachsener und geschlechtsreifer Organismus hervorgegangen ist, wird auch der seinen Fortpflanzungspartner auswählen, und zwar ebenfalls nach einem bestimmten Bild, das er nun aber in Form bestimmter Verschaltungsmuster in seinem Kopf hat. Dieses Muster kann entweder noch sehr streng genetisch determiniert sein, wie beispielsweise bei den Spinnenweibchen, die immer denjenigen Spinnenmann für die Begattung auswählen, der das verlockendste Geschenk in Form einer mit Spinnfäden eingewickelten möglichst großen Fliege anschleppt. Es kann aber auch, wie bei den Vögeln, erst durch frühe Prägungen entstanden und so fest im Hirn verankert worden sein, dass eine von Gänsen aufgezogene Ente sich später alljährlich im Frühjahr vergeblich mit Gänsen zu paaren versucht. Schließlich kann dieses innere Bild davon, wie ein optimaler Partner für die Fortpflanzung auszusehen hat, zwar ebenfalls zunächst durch genetische Programme und durch frühe Erfahrungen angelegt sein, aber im Lauf des späteren Lebens ganz entscheidend durch eigene Erfahrungen überformt werden. Da genau das bei uns Menschen der Fall ist, geraten wir bei der Partnerwahl leider 84 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

allzu häufig in einen inneren Konflikt: Dann passt zwar der Geruch, aber nicht das Aussehen oder es passt das Aussehen, aber nicht das Wesen oder es passt das Wesen aber nicht die Haltungen und Vorstellungen. Jeder kennt diese Qual der Wahl. Sie macht uns immer dann zu schaffen, wenn zu viele und zu widersprüchliche Vorstellungen in unserem Kopf herumspuken und uns daran hindern, ein einmal entstandenes Bedürfnis oder einen inneren Impuls in eine entsprechende Handlung umzusetzen. Wir versuchen dann im Geist, die verschiedenen inneren Bilder als mögliche Handlungsoptionen gegeneinander abzuwägen, um auf diese Weise herauszufinden, wofür wir uns entscheiden sollen. Wenn das nicht gelingt, können wir sogar noch eine Stufe weitergehen und die Ernsthaftigkeit des Bedürfnisses hinterfragen, das uns in dieses Entscheidungsdilemma geführt hat. Ist dieses Bedürfnis jedoch so stark, dass es sich auch durch eine derartige geistige Anstrengung nicht unterdrücken lässt, so wählen wir schließlich eine der an unserem inneren Auge vorbeiziehenden Handlungsoptionen aus – und sagen später (wenn sich die Entscheidung als falsch herausgestellt hat), wir hätten unsere Wahl »wider alle Vernunft« getroffen. Was in solchen Situationen in uns vorgeht, gleicht in mancher Hinsicht dem, was auch Tiere erleben, wenn sie in Situationen geraten, in denen sie gezwungen sind, sich für eine von mehreren Handlungsoptionen zu entscheiden. Ein Wachhund beispielsweise hat ein inneres Bild im Kopf, das immer dann aktiviert wird und eine entsprechende Verhaltensreaktion auslöst, wenn ein »Fremdling« in »sein Revier« eindringt. Unabhängig davon weiß er aber auch, wie eine Wurst aussieht und vor allem wie sie riecht und schmeckt. Jeder Einbrecher, der sich dem Revier des Hundes mit einer vorgehaltenen Wurst nähert, bringt ihn in ein Entscheidungsdilemma. Die Wahrnehmung des Einbrechers löst das eine Bedürfnis aus, der Geruch der Wurst das andere. Der Hund bleibt nun so lange handlungsunfähig und mit einem unschlüssigen Gesicht stehen, bis eines dieser beiden Bedürfnisse in ihm stärker geworden ist als das andere. Dann wird der entsprechende Handlungsimpuls ausgelöst und er 85 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

frisst entweder die Wurst oder verbellt den Einbrecher. Was in dieser Phase der Entscheidungsfindung im Hirn eines Hundes vorgeht, können wir nur vermuten. Von uns selbst wissen wir, dass wir in solchen Situationen in der Lage sind nachzudenken. Wenn es sich um besonders schwierige Probleme handelt, die wir dabei in Gedanken hin- und herbewegen, verlieren wir dabei – wie der Hund – bisweilen sogar die Kontrolle über unsere Mimik und Gestik. Dann runzeln wir die Stirn, kratzen uns am Kopf oder sperren den Mund auf, weil wir vor lauter Denkanstrengung schließlich sogar die Kontrolle über jenen Muskel verlieren, der den Unterkiefer hochhebt. Wenn wir so etwas bei anderen Menschen beobachten, gehen wir zwar meist davon aus, dass auch sie gerade angestrengt nachdenken, aber sichere Indizien sind das nicht. Manche Menschen ziehen solche Grimassen auch absichtlich, um den Eindruck zu erwecken, sie dächten angestrengt nach, und andere haben ihre Mimik und Gestik so gut unter Kontrolle, dass man ihnen überhaupt nicht ansehen kann, ob sie tatsächlich denken oder nicht. Mit Hilfe bildgebender Verfahren ist es inzwischen möglich geworden, die im Hirn eines Menschen beim Denken generierten Erregungsmuster darzustellen. Aber dieses in Form bunter Bilder sichtbar gemachte Geflimmer zeigt lediglich, dass bestimmte Bereiche des Gehirns stärker, andere weniger stark aktiviert werden, wenn eine Versuchsperson in Gedanken verschiedene Handlungsoptionen durchgeht oder sich etwas Bestimmtes vorstellt. Ob eine Handlung lediglich als inneres Bild in der Vorstellungswelt gedanklich vollzogen oder aber tatsächlich ausgeführt wird, lässt sich auch mit Hilfe dieser bildgebenden Verfahren nicht eindeutig klären. In beiden Fällen werden weitgehend identische innere Vorstellungsbilder wachgerufen. Das innere Bild des jeweils vorgestellten Handlungsablaufs, auch des erwarteten Ergebnisses einer bestimmten Handlung oder der Folgen einer zu treffenden Entscheidung, muss also, damit es gedanklich wachgerufen werden kann, bereits in Form spezifischer Verschaltungsmuster im Hirn vorhanden sein. Deshalb können wir 86 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

nur das denken und uns nur das vorstellen, was wir bereits erfahren und erlebt und als inneres Bild in unserem Hirn verankert haben. Je häufiger diese einmal entstandenen Verschaltungsmuster durch eigene Erfahrungen und Erlebnisse aktiviert, durch eigenes Handeln erneut abgerufen oder in der bloßen Vorstellung wieder wachgerufen werden, desto stärker werden die daran beteiligten synaptischen Verbindungen und neuronalen Verschaltungen gefestigt und stabilisiert. Das gilt insbesondere dann, wenn die Aktivierung des betreffenden Verschaltungsmusters mit einer emotionalen Erregung und der dadurch ausgelösten vermehrten Freisetzung neuroplastischer Signalstoffe einhergeht. Deshalb können im Hirn eines Menschen, der mit starker emotionaler Beteiligung etwas erlebt, der immer wieder mit emotionaler Erregung an das Gleiche denkt oder der immer wieder auf die gleiche Weise emotional erregt reagiert und handelt, enorm starke innere Bilder in Form der dabei gebahnten Verschaltungsmuster entstehen. Diese sind dann besonders leicht wachrufbar und können unter Umständen bestimmend für das gesamte Denken, Fühlen und Handeln der Person werden. Dann wird nicht mehr nachgedacht, sondern reflexartig gehandelt – und zwar genau so, wie immer in solchen Situationen gedacht und gehandelt worden ist. Je größer der Druck ist, unter dem ein Mensch steht, desto wahrscheinlicher wird es, dass er in solch alte, eingefahrene Denk-, Gefühls- oder Handlungsmuster zurückfällt. Deshalb braucht man immer dann, wenn es wirklich bedrohlich wird – zum Glück –, nicht allzu lang nachzudenken. Dann fällt einem gewissermaßen von selbst ein, was jetzt zu tun und zu lassen ist. Lange abwägen und mögliche Entscheidungsoptionen im Kopf immerfort hin- und herwälzen kann man eigentlich immer nur dann, wenn es nicht ums nackte Überleben geht, wenn es also im Grund ziemlich egal ist, ob man in dieser Situation so oder auch anders handelt. Immer dann, wenn das der Fall ist, denken wir aber meist sehr angestrengt nach. Dann lassen wir die verschiedenen Handlungsoptionen wieder und wieder im Geist an uns vorüberziehen, versuchen uns auszumalen, was passieren 87 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

kann, wenn wir uns so oder so entscheiden. Manche Menschen verlassen sich dabei in erster Linie auf ihren Verstand, andere eher auf ihr Gefühl, die meisten versuchen es mit einer Mischung aus beidem. Richtig Spaß macht das Denken aber erst dann, wenn es dabei um gar nichts geht, wenn man nichts zu entscheiden hat und einfach nur so, ohne Druck und ohne innere Unruhe vor sich hin denken und sich alles Mögliche vorstellen und zusammenreimen kann. Dieser spielerische, kreative Umgang mit unterschiedlichsten Bildassoziationen wird von fast allen Menschen als sehr entspannend und genussvoll empfunden. Das Denken selbst (also die in der Vorstellungswelt auftauchenden oder wachgerufenen Bilder) wird dann zum Impuls für das Weiterdenken. Auch hier haben manche Menschen eine besondere Freude daran, mit dem nacktem Verstand das eine Bild zum anderen zu fügen und dabei rein logische Kriterien einzuhalten. Anderen macht es mehr Spaß, sich intuitiv von einem assoziativen Bild zum nächsten tragen zu lassen. Leider findet sowohl die beglückende Gedankenakrobatik wie auch jeder beschauliche Spaziergang durch die Welt der eigenen inneren Bilder über kurz oder lang ein jähes Ende, sobald wieder ein Problem auftaucht, das tatsächlich irgendwie gelöst werden muss: ein brüllendes Kind, ein knurrender Magen oder – am häufigsten – Zeitmangel. So bleibt dann oftmals nur noch die Nacht, in der wir – wenn uns nicht auch dorthin die Probleme des Tages noch verfolgen – ungestört träumen können.

3.5 Bilder prägen das Zusammenleben as nicht durch eine anziehende Kraft zusammengeführt wird, findet nicht zueinander; und was nicht durch hinreichend starke Kräfte zusammengehalten wird, fällt wieder auseinander. Dieses banale Prinzip gilt für die kleinsten Strukturen der unbelebten Welt, für Atome und Moleküle ebenso wie für so riesige wie unser Sonnensystem. Es gilt für so feste und starke

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Gebilde wie Steine und Felsen, aber auch für so hauchzarte wie eine filigrane Schneeflocke oder eine bizarr geformte Zirruswolke. Und natürlich gilt es auch für die vielfältigen Formen des Lebendigen, für all jene subzellulären Strukturen, die erst durch ihr Zusammenwirken eine Zelle bilden, für die Ansammlungen vieler Zellen, die sich zu einem Organismus formieren und für alle von vielzelligen Organismen in bestimmter Weise herausgeformten Gemeinschaften, sei es in Gestalt einer Flechte auf einem Felsen, eines Termitenstaates in der Savanne oder einer Affenhorde im tropischen Regenwald. Aber das Banale ist nicht immer leicht zu verstehen. Mit viel Mühe und großem apparativem Aufwand ist es den Physikern und Chemikern inzwischen gelungen, all jene Kräfte einigermaßen zu beschreiben, die Elementarteilchen dazu bringen, sich zu Atomen zusammenzuschließen, die die so geformten Atome zu Molekülen verbinden und die diese Moleküle anschließend so gruppieren und ordnen, dass daraus so etwas Kompliziertes wie ein als Schneeflocke geformtes Gebilde aus Eiskristallen entstehen kann. All dieses Wissen über die Beschaffenheit und die Wirkungen anziehender und abstoßender Kräfte im Bereich der unbelebten Natur eignet sich jedoch nicht zur Beschreibung jener unsichtbaren Kräfte, die subzelluläre Strukturen zu Zellen, Zellen zu Organismen und Organismen zu Gemeinschaften zusammenfügen und zusammenhalten. Schon die Suche nach Antworten auf die allereinfachsten, uns selbst betreffenden Fragen macht die Grenzen und Beschränktheiten der bisher so erfolgreichen, von den Physikern geprägten, »objektiven« Denk- und Vorgehensweisen deutlich: Was ist das für eine Kraft, die zwei Menschen zusammenführt, die eine Familie, eine Sippe, eine Dorfgemeinschaft oder einen Sportverein zusammenhält? Wie lässt sich diese Kraft messen und woher kommt sie? Erwächst diese Kraft aus Gefühlen? Oder sind es sogar nur bloße Vorstellungen, die – weil sie ein gemeinsames Gefühle wecken – eine zusammenführende und zusammenhaltende Kraft entfalten? Kann man das, was Menschen miteinander verbindet, überhaupt von außen, als objektiver Beobachter erkennen oder gar messen? 89 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Lassen sich innerhalb einer Gemeinschaft Bedingungen schaffen, die den Zusammenhalt ihrer Mitglieder stärken? Gibt es äußere Voraussetzungen, die das Entstehen solcher Bedingungen erleichtern oder erschweren? Das sind nicht nur lauter spannende Fragen, sondern angesichts der in allen westlichen Gesellschaften zu verzeichnenden Auflösungs- und Destabilisierungsprozesse immer drängender werdende Fragen, die aber keine einzelne Wissenschaftsdisziplin mehr allein beantworten kann. Dort, wo es uns selbst betrifft, müssten die Antworten auf diese Fragen noch am leichtesten zu finden sein. Bekanntermaßen schließen sich Menschen immer dann besonders eng zusammen, wenn sie in Not geraten, in eine Not, die von außen kommt, die jeden Einzelnen in seiner Existenz bedroht und die nur durch eine gemeinsame Anstrengung zu überwinden ist. Aber Notlagen oder äußere Bedrohungen sind keine Kräfte, sie lösen lediglich etwas in uns aus, nämlich Angst. Angst aber ist keine Kraft, die Menschen zusammenführt. Eher ist die durch einen äußeren Feind, eine Naturkatastrophe oder eine andere allgemeine Gefahr ausgelöste Angst die Voraussetzung dafür, dass Menschen die Bereitschaft entwickeln, ihre bisherigen Ängste voreinander, vor der Aufgabe ihrer Autonomie und dem Verlust ihrer Freiheit vorübergehend zurückzustellen. Erst dadurch kann das hervortreten, was uns Menschen dazu bringt, aufeinander zuzugehen, uns zusammenzuschließen und gemeinsam nach einer Lösung zu suchen. Was das bewirkt, ist nicht die von allen empfundene Angst, sondern die von allen Menschen irgendwann im Leben, zumindest aber während der frühen Kindheit gemachte gemeinsame Erfahrung: dass sich die Angst überwinden lässt, wenn man näher zusammenrückt und zusammenhält. Dass man gemeinsam stärker ist als allein, scheint eine Grunderfahrung aller Menschen zu sein. Aber es gibt Menschen, die sich kaum noch daran erinnern können, diese Erfahrung in ihrem bisherigen Leben je gemacht zu haben. Auch sie geraten bisweilen in Not. Auch sie empfinden Angst. In ihren 90 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Augen jedoch bietet das Zusammenrücken keine Lösung. Zu oft sind sie von anderen Menschen allein gelassen, verletzt und enttäuscht worden. Sie können sich deshalb nicht mehr vorstellen, dass es möglich ist, einer Gefahr durch eine gemeinsame Anstrengung zu begegnen oder ein Problem durch die gemeinsame Suche nach einer Lösung zu bewältigen. Aber darunter, unter all diesen im Lauf ihres Lebens erlittenen Verletzungen und den daraus abgeleiteten Überzeugungen, existiert auch in ihrem Hirn ein älteres, sehr früh entstandenes Bild. Es ist eine in Form bestimmter neuronaler Verschaltungsmuster verankerte Erfahrung, die nur noch als Ahnung vorhanden ist und die erst dann wachgerufen und aus der Erinnerung hervorgeholt wird, wenn auch diese Menschen merken, dass es allein nicht mehr weitergeht. Dann formen sie mit ihren vor Verzweiflung und Schmerz verkrampften Lippen fast alle das gleiche Wort: Mutter. So bringen auch diese vereinsamten und verletzten Menschen auf sehr eindringliche Weise zum Ausdruck, dass es auch für sie noch etwas gibt, was sie mit anderen Menschen verbindet: ein tief im Hirn verankertes inneres Bild, das eine zu allen Zeiten und von allen Menschen gleichermaßen gemachte Erfahrung hinterlassen hat. Jeder Mensch hat eine Mutter, die ihn zur Welt gebracht hat, und mit der er enger verbunden war, als er sich das später als Erwachsener noch vorstellen kann. Genau genommen reicht die Abfolge der durch solche frühe Bindungen geprägten, zusammenführenden und zusammenhaltenden Bilder sogar noch viel tiefer hinab in unsere Entwicklungsgeschichte. Jeder Mensch ist aus embryonalen Zellen entstanden, die sich im Verlauf der Embryonalentwicklung zu Gruppen formiert, zu Organanlagen und Organen, zu einem Neuralrohr und schließlich sogar zu einem Bilder generierenden Gehirn zusammengefügt haben. Auch all diese unterschiedlich ausdifferenzierten und spezialisierten Zellen sind ja ebenfalls aus einer einzigen, gemeinsamen »Mutter«, der befruchteten Eizelle hervorgegangen. Auch sie besitzen eine gemeinsame Geschichte und gemeinsame, verbindende »Erfahrungen«, also in ihrem Inneren festgehaltene Re91 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

aktions- und Handlungsmuster, die ihren Entwicklungsweg bestimmt und sie immer wieder zusammengeführt und zusammengehalten haben. Wir können sogar noch eine Stufe weiter in die eigene Lebensgeschichte hinabsteigen. Dann wird deutlich, dass auch die Eizelle und die Samenzelle, durch deren Verschmelzung diese Urmutter unserer Körperzellen entstanden ist, nicht vom Himmel gefallen sind. Auch sie haben ihre je eigene Geschichte, aber auch diese Geschichte knüpft nur erneut an die Geschichte einer befruchteten Eizelle und an die von ihr überlieferten inneren Bilder an. Ganz zuunterst stößt man dann auf Grundmuster, die die Zellen aller vielzelligen Organismen zusammenhalten: Gensequenzen für Adhäsionsmoleküle, für die Synthese und Bereitstellung von Signalstoffen und Rezeptoren und für all den anderen molekularen Kitt, der die Zellen eines Vielzellers nach jeder Teilung zusammenklebt. Diese unvorstellbare lange, bis zu den ersten Vielzellern zurückreichende Kette aufeinander aufbauender und sich dabei ständig erweiternder und die betreffende Lebensform zusammenhaltender innerer Bilder ist also eigentlich – zumindest für alle Lebewesen, die heute noch den Erdball bevölkern – niemals abgerissen. Aus allen Richtungen, von allen heute lebenden Menschen ebenso wie von allen Tieren, Pflanzen und Pilzen führt sie zurück bis dorthin, wo die ersten lebendigen Wesen mit der Fähigkeit entstanden sind, die Reaktionen, die ihren Aufbau steuern, an ihre Nachkommen weiterzugeben. Was lebendig ist, wie immer es auch gestaltet und beschaffen sein mag, muss also nicht erst durch irgendwelche Kräfte zusammengefügt und zusammengehalten werden. In allem Lebendigen steckt bereits eine eigene zusammenhaltende, durch die fortwährende Überlieferung innerer Bilder gelenkte und geleitete Kraft. Diese durch innere Bilder vermittelte, informative, die physischen und chemischen Prozesse steuernde und deshalb meta-physische Kraft ist bis heute in allem, was lebt, wirksam. Nur die Bilder, über die diese Kraft sich in den verschiedenen Lebensformen realisiert, haben sich im Lauf der Evolution immer wieder verändert. 92 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Die entscheidende Triebfeder für die Weiterentwicklung und Veränderung dieser Bilder waren die zwangsläufig immer wieder auftretenden Störungen des inneren Zusammenhalts der sich entwickelnden Lebensformen. Solche Störungen entstehen automatisch durch Wachstum und Vermehrung und die dadurch bedingte Verknappung von Ressourcen, durch Fehler bei der Weitergabe einmal entwickelter innerer Bilder von einer Generation zur nächsten, aber auch die Wirkungen äußerer, auseinander treibender Kräfte, durch Klimaveränderungen, durch die Entstehung natürlicher Barrieren oder durch Verknappung des Nahrungsangebots. Die Folge derartiger Störungen war eine Verschärfung des Wettbewerbs und die daraus resultierende Auslese der am besten an die jeweiligen Lebensverhältnisse angepassten Lebewesen. In diesem Wettbewerb ging es nicht nur um das individuelle Überleben, sondern vor allem um den Fortpflanzungserfolg, also um die Fähigkeit, die von den Vorfahren übernommenen und durch zufällige Veränderungen oder eigene Erfahrungen weiterentwickelten inneren Bilder an die Nachkommen zu überliefern. Die sexuelle Vermehrung erwies sich als eine für diesen Zweck besonders geeignete Strategie. Die Durchmischung des väterlichen und mütterlichen Erbgutes und die später vor allem bei den Säugetieren immer bedeutsamer werdende gemeinsame Aufzucht der aus dieser Vereinigung hervorgegangenen Nachkommen sicherte nicht nur die Weitergabe der von beiden Eltern mitgebrachten genetischen Anlagen und der von ihnen erworbenen eigenen Erfahrungen. Sie ermöglichte auch eine immer neue Durchmischung und daraus resultierende Erweiterung dieser art-, familien- und kulturspezifischen inneren Bilder. Die dazu erforderliche Vereinigung und Verbindung der beiden Geschlechtspartner konnte jedoch nur gelingen, wenn es eine zusammenführende Kraft gab, die stärker war als alles Trennende, stärker als die Angst voreinander, stärker als die Fremdheit, stärker als die Konkurrenz, auch stärker als natürliche Barrieren und trennende Vorschriften und Traditionen. Diese enorm starke, die Geschlechter zusammenführende Kraft 93 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

entsteht durch das Zusammenwirken von drei Komponenten: Einem »Motor«, der den Antrieb für eine sexuelle Vereinigung liefert, einem »Einschalter«, der diesen Motor in Gang setzt, und einem »Ausrichter«, der diese Kraft auf ein bestimmtes Objekt, also auf einen entsprechenden Geschlechtspartner hinlenkt. Es gibt Tiere, deren sexueller »Antriebsmotor« ständig aktiv ist, aber durch im Gehirn generierte hemmende Signale normalerweise an der Entfaltung einer entsprechenden Wirkung gehindert wird. Besonders gut lässt sich das bei männlichen Insekten, zum Beispiel bei Küchenschaben, beobachten. Deren Begattungsorgan wird immer dann automatisch »ausgefahren« und »aufgerichtet«, wenn man sie durch Abschneiden des Kopfes »hirnlos« macht. »Enthemmung« scheint also der ursprüngliche »Einschalter« für den Antrieb nach sexueller Vereinigung zu sein. Die Auslöser für die Enthemmung oder Aktivierung spezifischer sexueller Reaktions- und Handlungsmuster sind bei den verschiedenen Tierarten sehr unterschiedlich. Am häufigsten wirken zyklus-, jahreszeit- oder nahrungsbedingte Veränderungen der Synthese und Ausschüttung bestimmter Hormone stimulierend oder hemmend auf die zentralnervösen Kontrollmechanismen. Es gibt auch bestimmte sinnliche Wahrnehmungen, die besonders effektiv in diese Mechanismen hineinwirken. Hier reicht das Spektrum der Auslöser von sexuellen Düften und Lockstoffen über sexuell anregende optische Eindrücke bis hin zu den sexuellen Phantasien, die den Antriebsmotor bei uns Menschen bisweilen ebenso »enthemmen« wie die Einnahme sexuell enthemmender Drogen (Aphrodisiaka). Der die sexuelle Vereinigung antreibende Motor ist also auch bei uns Menschen in Form bestimmter innerer Reaktionsmuster angelegt. Die Aktivierung bestimmter, diesen Motor in Gang setzender oder enthemmender Verschaltungsmuster in unserem Gehirn durch entsprechende »Auslöser« weckt das Bedürfnis nach sexueller Vereinigung und die Suche nach einem geeigneten Partner. Diese Suche wiederum wird von mehr oder weniger klar vor Augen stehenden inneren Bildern geleitet. 94 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Diese, die Partnerwahl lenkenden inneren Bilder waren ursprünglich ebenfalls als angeborene Verschaltungsmuster im Gehirn angelegt. Sie wurden aber mit der Herausbildung immer lernfähigerer Gehirne zunehmend durch Prägungen während der frühen Kindheit überformbar und präzisierbar. Beim Menschen werden diese während der Kindheit entstandenen inneren Bilder eines »idealen« Partners für die sexuelle Vereinigung durch im späteren Leben gemachte eigene Erfahrungen ständig weiter modifiziert und an die jeweils vorgefundenen Gegebenheiten und die (noch) vorhandenen Möglichkeiten angepasst. Die von diesen inneren Bildern gelenkte Partnerwahl hat wesentlich weiter reichende Folgen, als man zunächst glauben mag. Wenn nämlich sehr viele Individuen einer Art oder einer Population ein ganz bestimmtes inneres Bild benutzen, um zu entscheiden, wer als geeigneter Fortpflanzungspartner betrachtet und zur Reproduktion ausgewählt wird, so verringern sich automatisch die Fortpflanzungschancen all jener Individuen der betreffenden Population, die diesem Bild nicht so recht entsprechen. Sexuelle Selektion nennen die Evolutionsbiologen diesen Auslesemechanismus, der innerhalb relativ kurzer Zeitspannen dazu führt, dass nicht nur bestimmte körperliche Merkmale (und die für die Herausformung dieser Merkmale verantwortlichen DNA-Sequenzen und Gen-Kombinationen) innerhalb einer Population immer stärker und von immer mehr Individuen herausgebildet werden. Ein besonders anschauliches Beispiel hierfür ist die selektive Vergrößerung und die spezifische Strukturierung der Schwanzfedern von Pfauenhähnen. Die dafür erforderlichen Anlagen haben sich nur deshalb bei den Vorfahren der heutigen Pfauen durchgesetzt und ausgebreitet, weil die Pfauenhennen ihre Partner über viele Generationen hinweg immer wieder gezielt danach auswählten, welcher der um sie werbenden Hähne dem in ihrem Hirn angelegten inneren Bild von einem »optimalen Hahn« am besten entsprach. Das war derjenige, der in ihren Augen den größten und schönsten Schwanz im Balztanz präsentieren konnte. Auch die Herausbildung einiger markanter körperlicher Merkmale, mit denen wir 95 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Menschen ausgestattet sind, verdanken wir offenbar diesem sehr wirksamen sexuellen Ausleseverfahren. Neben der Nacktheit und der gleichzeitigen Erhaltung einer auffälligen Körperbehaarung an bestimmten Stellen zählen hierzu die typischen, von den Männern noch heute besonders hoch bewerteten sexuellen Attribute von Frauen – große Brüste, schmale Taille, knackiger Po – ebenso wie einige körperliche Merkmale von Männern, die von Frauen offenbar seit jeher zumindest in unserem Kulturkreis besonders geschätzt worden sind – breite Schultern, kantiges Kinn, stählerner Blick und – wenngleich heute oft abrasiert – ein Bart. Die jeweiligen Vorlieben und damit die Ausprägung dieser Merkmale variieren in den verschiedenen Kulturkreisen erheblich, und natürlich ist es immer wieder im Verlauf der Entwicklung in einzelnen Kulturkreisen zu gewissen Veränderungen dieser allgemeinen Kriterien für die Partnerwahl – und damit zur entsprechenden Änderungen der Ausprägung dieser geschlechtsspezifischen körperlichen Merkmale – gekommen. Innere Bilder haben jedoch nicht nur die Herausbildung besonders attraktiv bewerteter körperlicher Merkmale bestimmt. Auch von Männern und Frauen gehegte Vorstellungen über bestimmte psychische, also seelische oder gar moralische Qualitäten, mit denen der jeweilige Fortpflanzungspartner ausgestattet sein sollte, waren für die Partnerwahl von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Männer, die eine hohen sozialen Status erworben hatten oder über Fähigkeiten verfügten, die das Erreichen eines solchen Status möglich erschienen ließen, hatten seit jeher bessere Chancen bei Frauen und damit bessere Voraussetzungen, um die diesen Eigenschaften zugrunde liegenden genetischen Anlagen oder erworbenen Verhaltensmuster an Nachkommen weiterzugeben. Und Frauen wurden immer dann bevorzugt für die Reproduktion ausgewählt, wenn sie all jene psychischen Qualitäten besaßen, die den Männern eines bestimmten Kulturkreises für die Aufrechterhaltung oder Verbesserung des eigenen Status besonders günstig erschienen. Gleichzeitig – und das war möglicherweise das wirklich ent96 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

scheidende und während der gesamten Menschheitsgeschichte in allen Kulturen für den Fortpflanzungserfolg bedeutsame Kriterium der Partnerwahl sowohl von Männern als auch von Frauen – musste der jeweilige Fortpflanzungspartner die für eine gelingende Aufzucht der gemeinsamen Kinder erforderlichen psychoemotionalen Eigenschaften besitzen: Einfühlungsvermögen, Umsicht und Verlässlichkeit, also das, was wir heute als emotionale und soziale Kompetenz bezeichnen. Diese hochkomplexen, während der frühen Kindheit durch Erziehung und Sozialisation erworbenen Fähigkeiten und die ihnen zugrunde liegenden Anlagen sind durch den Prozess der sexuellen Selektion während der gesamten Phase der Menschheitsentwicklung bevorzugt ausgelesen worden – anhand von inneren Bildern, die aufgrund eigener Erfahrungen in den Gehirnen der jeweiligen Männer und Frauen entstanden waren. Je stärker die Partnerwahl von der klaren Vorstellung oder dem dumpfen Gefühl geleitet wurde, welche psychischen Qualitäten eine gute Mutter oder ein guter Vater zu besitzen hatte, desto stringenter konnten diese Merkmale in einem bestimmten Kulturkreis herausgebildet und zur Erziehung und Sozialisation der jeweiligen Kinder genutzt werden.

3.6 Bilder verändern die Welt mmer dann, wenn Getrenntes verbunden und Auseinanderstrebendes zusammengehalten wird, kann auch etwas wachsen. Kristalle wachsen auf diese Weise, Pilze auch, Pflanzen und Tiere sowieso, aber auch Ameisenstaaten, Vogelkolonien oder menschliche Gemeinschaften. Selbst das, was Menschen gemeinsam hervorbringen, Siedlungen, Unternehmen oder Bibliotheken, auch Netzwerke, Vorschriften und Visionen, wachsen unter solchen Bedingungen. Was aber durch dieses Wachstum entsteht und welche sichtbaren materiellen Formen, aber auch unsichtbaren immateriellen Phänomene sich dabei herausbilden, hängt von der Art und Weise ab, wie sich Mole-

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küle, Zellen, Individuen oder auch deren Kenntnisse, Vorstellungen und Ideen zusammenfügen. Zusammenfügen kann sich nur, was zueinander passt. Passend kann etwas deshalb sein, weil es über die gleichen Grundstrukturen, die gleichen Muster, also über identische innere Bilder verfügt. Das ist immer dann der Fall, wenn das eine sehr unmittelbar aus dem anderen hervorgegangen ist. Ein Kind aus einer elterlichen Familie, Menschen aus einem Dorf, Gemeinschaften aus einem Kulturkreis. Eine gemeinsame Herkunft oder nahe Verwandtschaft und die dadurch bedingte Passgenauigkeit der übernommenen gemeinsamen Muster, Ideen und Vorstellungen ist also eine wichtige Voraussetzung dafür, dass sich etwas zusammenfügt und somit wachsen kann. Zueinander passen kann aber auch etwas, was sich zwar zuerst aus einer gemeinsamen Wurzel, dann aber in unterschiedliche Richtungen weiterentwickelt hat, so dass es dabei zur Ausbildung komplementärer, einander ergänzender Grundstrukturen, Muster, Vorstellungen und Ideen gekommen ist. Dann passt etwas nicht deshalb zusammen und kann wachsen, weil es identisch ist, sondern weil es sich gut ergänzt. Auch dafür gibt es in der Natur zahlreiche Beispiele. Hierzu zählen nicht nur die vielfältigen Lebensgemeinschaften zwischen Einzellern und Vielzellern, Pflanzen und Tieren, Tieren und Menschen. Auch innerhalb menschlicher Gemeinschaften gibt es sehr unterschiedliche, einander ergänzende Konstitutionen, Fähigkeiten und Vorstellungen, zum Beispiel zwischen Alten und Jungen, zwischen Männern und Frauen, zwischen Theoretikern und Praktikern. Auch die oft sehr gegensätzlichen Vorstellungen und Erwartungen von Zulieferern und Herstellern, Produzenten und Konsumenten, Verkäufern und Kunden passen bisweilen sehr gut zusammen. Dann wächst die Wirtschaft. Und wenn all das, was Parteien, Vereine und Verbände anzubieten haben, genau zu dem passt, was breite Bevölkerungsschichten wünschen, dann wächst auch deren Anhängerschaft und Einfluss. Alles was lebt, kann also auf die eine oder andere Weise wachsen. Aber es wächst nicht immer gleich. Beim Wachsen kommt es immer wieder zu Fehlern. Und durch solche Fehler entsteht 98 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

immer wieder etwas, was nicht mehr so recht zu dem passt, was bisher da war. Das kann ein mutierter DNA-Strang sein, eine in ihrer Struktur oder Funktion von allen anderen abweichende Zelle, ein etwas anders ausgebildeter Organismus, eine eigentümlich organisierte Gesellschaft oder Gemeinschaft oder auch eine neue Idee oder eine zunächst abstrus erscheinende Vorstellung. Meist gehen diese neuartigen Muster und Gebilde zugrunde. Aber manchmal sind entweder die aufgetretenen Veränderungen der inneren Struktur oder die äußeren Umstände so beschaffen, dass das Neue doch zu etwas anderem, das schon da ist, passt und es so selbst wachsen und sich vermehren kann. Indem es beim Wachsen Fehler macht, schafft also alles, was lebendig ist, selbst immer wieder die Voraussetzung dafür, dass es – wenn nicht mehr so wie bisher, dann eben auf andere Weise – weiterwachsen kann. Da jedes Wachstum zwangsläufig zu einer Verknappung der erforderlichen Ressourcen führt, verändern sich automatisch immer auch die Bedingungen, die darüber entscheiden, ob und wie gut nun noch etwas zusammenpasst. Ein Kristall kann in einer Salzlösung nur so lange wachsen, bis die Konzentration der darin befindlichen Bausteine so weit abgesunken und damit deren »Bewegungsfreiheit« so groß geworden ist, dass weitere passgenaue Anlagerungen immer unwahrscheinlicher werden. Auch alles Lebendige verändert, indem es wächst, die für sein weiteres Wachstum erforderlichen Voraussetzungen. Durch die Fehler, die bei der Weitergabe der seine Struktur bestimmenden inneren Bilder auftreten, verändert sich aber die betreffende Lebensform immer auch selbst. Von den auf diese Weise entstehenden Variationen können all jene Formen weiterwachsen und ihre jeweiligen inneren Bilder an die nachfolgende Generation weitergeben, die unter den durch das eigene Wachstum veränderten Lebensbedingungen immer noch am besten zueinander passen. Deshalb ist Leben immer auch Veränderung, und diese Veränderung vollzieht sich in einem ständig fortschreitenden Entwicklungsprozess. Die Richtung dieses Prozesses wird einerseits durch die beim Wachsen von den jeweiligen Lebensformen erzeugten Ver99 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

änderungen ihrer eigenen, bisherigen Lebenswelt, andererseits durch die ebenfalls beim Wachsen auftretenden Veränderungen der inneren Bilder und Muster bestimmt, die die Strukturierung der betreffenden Lebensformen lenken. Je weiter die Entwicklung des Lebens auf unserer Erde in dieser Weise voranschritt, desto differenzierter und vom zuvor erreichten Entwicklungsstand abhängiger wurden die jeweils neu hinzukommenden Lebensformen. Aus den anfangs noch sehr einfachen Bauplänen für die schnell wachsenden und sich rasch vermehrenden Einzeller entstanden so immer kompliziertere genetische Muster für den Aufbau langsamer wachsender und sich weniger rasch vermehrender, dafür aber immer komplexer strukturierter Vielzeller. Aus den primitiven Nervensystemen der ersten Tiere entstand das komplizierte, lernfähige Gehirn des Menschen mit der Fähigkeit, selbst innere Bilder in Form von Ideen und Vorstellungen zu erzeugen, diese an andere Menschen weiterzugeben und an nachfolgende Generationen zu überliefern. Aus dem ursprünglich noch von DNA-kodierten Mustern gelenkten, noch rein stoffliche Wachstum ist auf diese Weise ein nichtstoffliches, durch die Verbreitung von inneren, das Denken, Fühlen und Handeln bestimmenden Bildern gelenktes, geistiges Wachstum geworden. Die von den ersten Lebensformen entwickelte Fähigkeit, innere Bilder zu übernehmen, zu erweitern und zur Lenkung des eigenen Wachstums und zur Aufrechterhaltung der eigenen inneren Ordnung zu nutzen, hat damit eine neue Qualität angenommen: Das bis dahin sichtbare und messbare Wachstum ist in ein immaterielles, nicht sichtbares und nicht messbares Wachstum umgeschlagen. Leben ist – wenngleich noch immer an materielle Strukturen gebunden – zu einem geistigen Wachstumsprozess geworden. Jeder, der sich heute auf der Welt umschaut, wird schnell bemerken, dass dieser Prozess durchaus noch nicht dort angekommen ist, wo er einmal ankommen könnte. »Der Übergang vom Affen zum Menschen sind wir«, mit dieser knappen Feststellung hat bereits Konrad Lorenz sehr bildhaft den gegenwärtigen Stand dieses Entwicklungsprozesses beschrieben: Wir ha100 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

ben zwar schon eine Ahnung, ein blasses Bild davon im Kopf, was aus uns werden könnte. Gleichzeitig schleppen wir aber noch immer eine Vielzahl unterschiedlicher, aus unserer Vergangenheit mitgebrachter und fest im Hirn verankerter Bilder mit uns herum, die uns daran hindern, zu dem zu werden, was wir werden könnten. Wir wissen, dass wir die Probleme, die wir mit diesen alten, unser bisheriges Denken, Fühlen und Handeln bestimmenden Vorstellungen erzeugt haben, nur noch durch eine gemeinsame Anstrengung bewältigen können. Aber diese alten, von unseren jeweiligen Vorfahren entwickelten und über Generationen hinweg erfolgreich benutzten Welt-, Feind- und Menschenbilder haben sich tief in die Gehirne der Nachkommen eingegraben, sie sind noch immer so fest im kollektiven Gedächtnis von Familien, Sippen, Stämmen und Volksgruppen verankert und werden durch Gesetze, Glaubens- und Verhaltensregeln und Vorschriften so stark befestigt, dass sie die inzwischen notwendige über alle Unterschiede hinausgehende, gemeinsame Suche nach Lösungen bis heute weitgehend verhindern. Es ist schwer, diese alten Bilder loszuwerden. Schließlich haben die Menschen verschiedener Herkunft diese teilweise sehr unterschiedlichen Bilder über Generationen hinweg als gemeinsame, familien-, gruppen-, schichten- und kulturspezifische innere Orientierungen erfolgreich zur Organisation ihres Zusammenlebens und zur Gestaltung ihrer jeweiligen Lebenswelten genutzt. Getragen und geleitet von diesen Vorstellungen wurden zum Teil sehr unterschiedliche familien-, gruppenschichten- und kulturspezifische Lebensbedingungen geschaffen, die nun ihrerseits wieder zur Stabilisierung und Aufrechterhaltung der ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen, auch der jeweiligen Welt-, Feind- und Menschenbilder beitragen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute … Glücklicherweise enden so nur die Märchen. Im tatsächlichen Leben bestimmen die Vorstellungen, Ziele und Orientierungen, mit denen wir uns auf den Weg machen, ja lediglich die Richtung, die wir einschlagen. Was wir bei dem Versuch, 101 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

in eine bestimmte, von irgendwelchen inneren Bildern geleitete Richtung voranzuschreiten, tatsächlich anrichten, auf welche konkrete Weise und in welchem Ausmaß wir unsere bisherige Lebenswelt verändern, hängt von dem jeweiligen Wissen, den Fähigkeiten und Fertigkeiten ab, über die wir verfügen und die wir zum Erreichen dieser Ziele einsetzen. Die Orientierung bietenden Vorstellungen von Familien, Sippen oder Kulturgemeinschaften bleiben oft über Generationen hinweg so, wie sie einmal waren. Die einer Gemeinschaft zur Verfügung stehenden Kenntnisse, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten wachsen jedoch ständig weiter. Das Wissen vermehrt sich, die Fähigkeiten werden verbessert, die Fertigkeiten vervollkommnet. Dieses Wachstum vollzieht sich in unterschiedlichen Gesellschaften in Abhängigkeit von der jeweiligen Ausgangssituation – also dem bis dahin erreichten Wissensstand und den bis dahin bereits entwickelten technischen Möglichkeiten – unterschiedlich rasch und erstreckt sich – in Abhängigkeit von der jeweiligen Zielorientierung – auf ganz bestimmte Bereiche. Aber die Folgen des unvermeidlichen Erkenntniszuwachses und des damit einhergehenden technologischen Fortschritts sind immer und überall gleich: Das neu hinzugekommene Wissen und die neu erlangten Fähigkeiten passen über kurz oder lang nicht mehr zu den alten tradierten Weltbildern und den daraus abgeleiteten Orientierungen. Die alten Bilder müssen erweitert und die Ziele müssen neu definiert werden. Vor allem dann, wenn ein Orientierung bietendes Ziel einigermaßen klar umschrieben ist und der betreffenden Gemeinschaft als deutliches inneres Bild vor Augen steht, kann der technische Fortschritt auch dazu führen, dass dieses Ziel über kurz oder lang auch wirklich erreicht wird. Dann freilich hat die betreffende Gemeinschaft ihre gemeinsame bisherige Orientierung verloren. Gleichzeitig verursacht aber der Einsatz neuer, effizienterer Technologien zwangsläufig eine Reihe weiterer, zunächst nicht beabsichtigter und auch nicht vorausgesehener Veränderungen der bisherigen Lebenswelt. Diese treten nun als neue Probleme zutage und müssen ebenfalls gelöst werden. Zu diesem Zweck werden neue Vorstel102 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

lungen entwickelt, neue Ziele definiert und neue Visionen entworfen, die fortan ihrerseits als neue innere Orientierungen die weitere Entwicklung der betreffenden Gemeinschaft und der von ihr zum Erreichen dieser Ziele eingesetzten Mittel und Technologien bestimmen. Abermals kommt es nun zu erneuten, zunächst nicht bedachten oder nicht vorausgesehenen Veränderungen der bisherigen Lebenswelt und damit zu neuartigen Problemen, die ihrerseits gelöst werden müssen, und so weiter. Die betreffende Gemeinschaft ist so schließlich irgendwann nur noch mit der Behebung der von ihr selbst erzeugten Probleme befasst. Je zahlreicher und verschiedenartiger diese Probleme werden, desto stärker wächst auch die Gefahr der Auflösung ihrer sozialen Strukturen aufgrund eines fortschreitenden Verlustes zusammenhaltender, ihre innere Organisation und Ordnung lenkender, Orientierung bietender innerer Bilder. Wenn dieser Zustand erreicht ist, kann die betreffende Gesellschaft dem drohenden Kollaps nur durch drei unterschiedliche Strategien begegnen: Sie kann erstens versuchen, ein ganz bestimmtes Problem aus der Vielzahl der tatsächlich vorhandenen Probleme herauszugreifen und in den Mittelpunkt aller gemeinsamen Anstrengungen der Mitglieder dieser Gemeinschaft zu stellen (Ablenkung durch Schaffung eines neuen Feindbildes oder einer neuen Vision, z. B. eines Fluges zum Mars). So wird eine neue Orientierung in Form einer gemeinsamen Vorstellung zur Lösung genau dieses Problems geschaffen. Mit dieser Strategie lässt sich die drohende Auflösung der Gesellschaft jedoch allenfalls eine Zeit lang aufhalten, aber nicht dauerhaft verhindern. Das Gleiche gilt auch für die zweite Strategie. Sie erschöpft sich in dem Versuch, zu expandieren, also die Lösung der selbst erzeugten Probleme auf eine immer größer werdende Gemeinschaft zu verteilen und die dort noch vorhandenen unterschiedlichen Ressourcen zur Lösung oder Abschwächung ebendieser Probleme zu nutzen (Globalisierung). Die dritte Strategie ist die schwierigste, aber dafür die einzige, die Stabilität, Wachstum und Weiterentwicklung dauerhaft ermöglicht. Sie ist aber auch 103 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

die banalste: Es ist der Versuch, eine gemeinsame, für alle Menschen und alle Gemeinschaften unterschiedlichster Herkunft und unterschiedlichster Entwicklungsstandards gleichermaßen gültige und attraktive Visionen zu schaffen, ein sich global verbreitendes und im Gehirn aller Menschen verankertes inneres Bild zu erzeugen. Ein Bild, das zum Ausdruck bringt, worauf es im Leben, im Zusammenleben und bei der Gestaltung der Beziehungen zur äußeren Welt wirklich ankommt: auf Vertrauen, auf wechselseitige Anerkennung und Wertschätzung, auf das Gefühl und das Wissen, aufeinander angewiesen, voneinander abhängig und füreinander verantwortlich zu sein.

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4. Bilder, die das Werden lenken

s gibt Begegnungen, die man so schnell nicht wieder vergisst. Es sind schon einige Jahre vergangen, aber ich erinnere mich noch genau. Ich saß allein in einem Abteil im Zug nach Zürich und war mit der Durchsicht der Druckfahnen eines Buches beschäftigt. Als in Frankfurt ein Mann mit einem Koffer zustieg, begann ich, meine auf die leeren Sitze verteilten Papiere zusammenzukramen, um Platz für ihn zu machen. Er wartete geduldig, bis ich meine Blätter wieder geordnet hatte, und setzte sich dann auf den freigeräumten Fensterplatz mir gegenüber. Auf dem Deckblatt meines Papierstapels stand mit großen Buchstaben der geplante Buchtitel: »Kinder brauchen Wurzeln«. Das schien den Herrn zu interessieren, denn er erkundigte sich, was das denn heißen solle, »Kinder brauchen Wurzeln«. Ich erklärte ihm, dass das ein Buch über die Bedeutung Sicherheit bietender Bindungsbeziehungen während der frühen Kindheit werden solle und dass darin beschrieben werde, wie die frühen Bindungserfahrungen eines Kindes seine gesamte weitere Entwicklung bestimmen. »Und wenn man als Kind keine Gelegenheit hatte, solche sicheren Bindungen zu seinen Eltern oder irgendwelchen anderen Bezugspersonen zu entwickeln«, fragte er skeptisch, »dann …?« »Ja, genau«, fiel ich ihm ins Wort »dann haben diese Kinder große Probleme, sich später im Leben zurechtzufinden. Sie bleiben unsicher und ängstlich, klammern sich an allen möglichen Vorstellungen fest, viele werden sogar drogensüchtig oder kriminell.« »Aha«, sagte der Herr, »das ist ja sehr interessant«. »Ja«, fügte ich noch an, »das ist durch eine ganze Reihe neuer wissenschaftlicher Untersuchungen inzwischen sehr gut dokumentiert«. »So, so«, sagte der Herr, »sehr interessant, aber ich glaube nicht, dass das

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stimmt. Ich glaube es nicht nur, ich weiß, dass das nicht stimmen kann. Ich selbst bin der lebende Beweis dafür.« Jetzt begann ich mich für diesen Mann zu interessieren. Er wollte auch nach Zürich. Dort hatte er eine große international erfolgreiche Rechtsanwaltskanzlei aufgebaut.Gerade kam er von einer Besprechung des Währungsfonds aus Frankfurt und übermorgen hatte er seinen nächsten Termin in New York. Er war etwa so alt wie ich. Jetzt begann er, mir seine Gesichte zu erzählen. Seine Mutter war nach der Geburt nicht mit ihm zurechtgekommen und psychotisch geworden. Ein Vater war nicht da. Auch später hat er nie etwas über ihn erfahren. Er kam gleich nach der Geburt zu einer Tante, die sich ein halbes Jahr als Amme mit ihm abmühte. Er war ein so genanntes »Schreibaby«, an dessen Gebrüll die Tante schließlich verzweifelte. Sie gab ihn an eine andere Verwandte weiter, die ebenfalls nicht mit ihm zurechtkam. So wurde er über mehrere Stationen weitergereicht, bis er im Alter von etwa drei Jahren als »schwer erziehbares Kind« im Kinderheim landete. Hier begann für ihn eine Odyssee, von Heim zu Heim, quer durch Deutschland. Bis zur Pubertät hatte er ein Dutzend dieser Einrichtungen durchlaufen. In keiner war er länger als ein Jahr geblieben. Er bestätigte, dass für die meisten seiner Mitinsassen, die er in all diesen Heimen kennen gelernt hatte, auch wirklich das zutreffe, was ich da in diesem Buch geschrieben hatte. Sie seien schwierige Menschen geworden, oft ohne Schulabschluss, und manche von ihnen waren tatsächlich später dissozial, kriminell oder drogenabhängig geworden. Er aber nicht. Er hatte sein Abitur gemacht, Jura studiert und sein Leben ja doch recht gut gemeistert. Das schien mir auch so. Ich war etwas ratlos. Mein ganzes schönes Theoriegebäude war heftig ins Schwanken geraten. »Aber irgendetwas«, fragte ich, etwas kleinlaut geworden, »irgendein positives Erlebnis muss es doch in Ihrer Kindheit gegeben haben, das sie so stark gemacht hat und das Ihnen die Kraft gegeben hat, diesen ganz anderen Weg als Ihre Mitschüler für sich zu entdecken und dann auch zu gehen?« »Ja«, sagte der Herr, »da haben sie Recht. So etwas gab es. Als ich etwa zehn Jahre alt war, traf ich in einem 106 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

dieser Heime auf einen Lehrer. Der war ganz anders als all die anderen. Er war der erste Mensch, dem ich bis dahin begegnet war, der mich wirklich angeschaut und mich – so, wie ich war – einfach angenommen hat. In welchen Fächern er mich damals unterrichtete, weiß ich nicht mehr. Es war nur so, dass mir die Schule – oder besser: das Lernen überhaupt – nun auf einmal richtig Spaß zu machen begann. Irgendwie hat es dieser Lehrer geschafft, in mir das Gefühl zu wecken, wirklich wichtig zu sein. Er hat mir zum ersten Mal gezeigt, dass ich etwas konnte und dass es irrsinnig viel Freude macht, neugierig zu sein und die Welt zu entdecken. Auch in Büchern. Ich begann viel zu lesen und fand auf einmal alles, was in diesen Büchern stand, unglaublich spannend. So wurde ich auch in der Schule immer besser. Nach einem halben Jahr kam ich allerdings schon wieder in ein anderes Heim. Dort hatte ich wieder andere Lehrer, aber meine Lust am Lernen habe ich nicht wieder verloren. Irgendwie habe ich das Bild von diesem einen, entscheidenden Lehrer seither immer in mir getragen. Es ist, als hätte er mich damals auf ein anderes Gleis gesetzt, meinem Leben eine neue Richtung oder erstmals überhaupt eine Richtung gegeben. Ich habe ihn übrigens vor einigen Jahren in der Stadt, wo dieses Heim war, ausfindig gemacht und besucht. Mit einem großen Blumenstrauß und einer Flasche Wein wollte ich mich bei ihm bedanken. Er war inzwischen schon über achtzig, aber immer noch hellwach. Ich habe ihm gesagt, wie dankbar ich bin, dass er mich damals so offen und so warmherzig angenommen und auf den Weg geschickt hat. Aber er wollte davon nichts wissen. Er habe in all den Jahren so viele Schüler gehabt. An mich könne er sich gar nicht mehr so recht erinnern.« »In Kürze, meine Damen und Herren, erreichen wir Zürich. Wir wünschen ihnen einen schönen Aufenthalt und bedanken uns, dass sie mit uns gefahren sind. Auf Wiedersehen!«, tönte es aus den Lautsprechern. Dem Anwalt mit seiner außergewöhnlichen Heimkarriere bin ich leider nie wieder begegnet. Aber auf der letzten Seite meiner Druckfahnen habe ich nach dieser Begegnung noch einen Satz angefügt: »Es ist nie zu spät.« 107 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

4.1 Bilder, die sich öffnen und erweitern s gibt kaum etwas Beglückenderes als diese leider viel zu seltenen Momente im Leben, in denen man spürt, wie der von all den tagtäglich zu lösenden Problemen gar zu eng gewordenen Blick sich plötzlich wieder zu weiten beginnt, wie einem das Herz aufgeht und die Ideen übersprudeln. Solche Momente sind Sternstunden, in denen man eine Ahnung davon bekommt, wie es wäre, wenn …, ja, genau …, wenn man die Welt wieder so unbefangen und so vorurteilslos betrachten könnte wie ein Kind. Als ob jemand einen alten Vorhang beiseite gezogen hätte, sind all die festgefahrenen und festgezurrten Bilder, die man als Erwachsener im Kopf hat, in solchen Augenblicken verschwunden. Der Kopf ist plötzlich wieder frei, man kann tief durchatmen und spürt auf der nun nicht mehr durch einen Vorhang verdeckten inneren Bühne der eigenen Phantasie seine Flügel wieder wachsen. Was in diesen außergewöhnlichen Momenten im Gehirn passiert, ist jedoch durchaus nichts Ungewöhnliches. Eigentlich tritt hier etwas nur zutage, was in der Konstruktion des menschlichen Gehirns von Anfang an angelegt ist: Die Fähigkeit zur Öffnung und Erweiterung der großen Bühne, auf der die von bestimmten inneren Bildern gelenkten Stücke aufgeführt werden. Bei etwas genauerer Betrachtung stellt sich sogar heraus, dass es sich bei dieser Fähigkeit zur Öffnung und Erweiterung handlungsleitender innerer Bilder um eine Fähigkeit handelt, die sich zwangsläufig aus der Beschaffenheit der für die Erzeugung, Speicherung und Weitergabe innerer Muster genutzten »Matrix« ergibt. Das gilt nicht nur für das Gehirn, sondern auch schon für das Genom, also für die im Zellkern verankerten Nukleinsäuresequenzen. Und es gilt ebenso für das kollektive Gedächtnis, also die Gesamtheit der von einer menschlichen Gemeinschaft tradierten und genutzten handlungsleitenden Kenntnisse, Vorschriften und Orientierung bietenden Ideen und Visionen.

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All diese, auf den verschiedenen Ebenen der Organisation lebender Systeme benutzten »Informationsträger« sind so beschaffen, dass sie die Fähigkeit zur Öffnung und Erweiterung der von ihnen hervorgebrachten, genutzten und weitergegebenen inneren Bilder automatisch in sich tragen. Die Neigung zur Verlängerung und Verdopplung von Gensequenzen ist eine immanente Eigenschaft der als Informationsträger genutzten DNA. Die Erzeugung neuer Ideen und Vorstellungen ist eine immanente Eigenschaft lernfähiger Gehirne, und die Tendenz zur ständigen Erweiterung des kollektiven Gedächtnisses ist eine zwangsläufige Folge des Wissenszuwachses jeder Gemeinschaft. Auf keiner dieser Entwicklungsstufen entsteht aber durch solche Erweiterungen ein wirklich neues Bild. Es wird immer nur ein bereits vorhandenes, handlungsleitendes Muster durch ein weiteres, aus einem alten Bild abgeleitetes, irgendwie modifiziertes oder aus verschiedenen älteren Bildern neu zusammengefügtes Muster ergänzt. Deshalb ist jede neue DNA-Sequenz, jeder neue Gedanke und jede kollektive Vorstellung auf einen entsprechenden Vorläufer, auf ein bestimmtes inneres Bild, das schon vorher da war, rückführbar. Umgekehrt ist – allerdings nur theoretisch – jedes bereits vorhandene Bild in beliebiger Weise erweiterbar. Praktisch jedoch sind solchen Erweiterungen enge Grenzen gesetzt. Diese Grenzen treten vor allem dann besonders deutlich zutage, wenn es sich um Erweiterungen handlungsleitender Muster handelt, die selbst in ein größeres, übergreifendes oder gar übergeordnetes inneres Bild integriert sind. Eine einzelne DNA-Sequenz kann sich nur dann verdoppeln oder verlängern, wenn dadurch nicht das »Gesamtbild« aller DNA-Sequenzen einer Zelle, also die generelle Steuerungsfähigkeit der in diese Zelle ablaufenden Prozesse, in Frage gestellt wird. Das genetische Muster der einen vielzelligen Organismus hervorbringenden befruchteten Eizelle kann sich nur dann erweitern oder verändern, wenn dadurch nicht die Entwicklung und Differenzierung aller anderen diesen Organismus konstituierenden Zellen gestört und damit dessen Überleben 109 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

gefährdet wird. Eine neue handlungsleitende Vorstellung kann im Gehirn nur dann entstehen und verankert werden, wenn sie nicht all das unmöglich macht, wozu das Hirn sonst noch gebraucht wird. Sie darf das, was der betreffende Mensch bisher gedacht, wie er gefühlt und gehandelt hat, was ihn also »ausmacht«, nicht in Frage stellen. Und auch eine neue gemeinsame Vision, ein neues Welt-, Feind- oder Menschenbild kann eine menschliche Gemeinschaft nur dann entwickeln und als kollektives Bild verbreiten, wenn es mit all dem vereinbar ist, was die Mitglieder dieser Gemeinschaft bisher zusammengehalten und ihnen eine gemeinsame Orientierung geboten hat. Einerseits kommt es also auf allen Ebenen der Organisation lebender Systeme zwangsläufig immer wieder dazu, dass bereits vorhandene Bilder erweitert und neu zusammengefügt werden. Andererseits kann keine dieser Erweiterungen in den bereits vorhandenen Schatz an inneren Bildern einer Zelle, eines Gehirns oder einer Gemeinschaft integriert und an nachfolgende Generationen weitergegeben werden, wenn sie dazu führt, dass der Aufbau und der Fortbestand der betreffenden Lebensform in Frage gestellt wird. Das betreffende erweiterte Bild ist dann ebenso schnell aufgetaucht und wieder verschwunden wie eine Sternschnuppe. Dauerhaft erweitern lassen sich daher nur solche Bilder, die relativ unwichtig sind, auf die es für den Aufbau und den Fortbestand der betreffenden Lebensform nicht besonders ankommt. Bereits auf der Ebene des Genoms lässt sich nachweisen, dass sich Nukleinsäuremuster immer wieder verdoppeln, verlängern und auf vielfältige Weise verändern. Erhalten bleiben davon aber nur diejenigen, die nicht für den Aufbau und die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung der betreffenden Zellen oder – im Fall befruchteter Eizellen – für den Aufbau eines vielzelligen Organismus gebraucht werden. »NonsensDNA« oder »Junk-DNA«, also sinnlose, nicht benutzte Sequenzmuster, nennen die Molekularbiologen diesen Teil des Genoms, der bei den höher entwickelten Lebensformen den überwiegenden Teil aller im Zellkern gespeicherten DNA-Sequenzen ausmacht. Tatsächlich ist dieser nicht zum unmittelba110 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

ren Überleben angelegte und bereitgehaltene »unnütze« Pool an inneren Bildern aber so etwas wie ein kreatives Schatzlager, aus dem immer dann bestimmte handlungsleitende Muster entnommen werden können, wenn sich die bisherigen Lebensverhältnisse in einer bestimmten Weise zu verändern beginnen. Bereits eine Zelle, auch eine befruchtete Eizelle, »weiß« also erheblich mehr, als sie zum tatsächlichen Überleben oder zum Aufbau eines vielzelligen Organismus braucht. Nicht anders geht es uns mit unserem phantasiebegabten lernfähigen Gehirn. Auch hier werden weitaus mehr innere Bilder erzeugt und bereitgehalten, als es tatsächlich zum nackten Überleben erforderlich ist. Auch wir entwickeln einen individuellen Schatz an völlig unnützem Wissen und im täglichen Leben kaum als handlungsleitende Muster verwendbaren Ideen und Vorstellungen. Dennoch sind all diese, auf den ersten Blick unsinnigen und unzweckmäßigen, von unserem Gehirn hervorgebrachten Bilder kein Nonsens. Wir können bestimmte, auf dieser Spielwiese unserer Phantasie gewachsene Blumen abpflücken und zu einem neuen Blumenstrauß innerer Bilder zusammenbinden, wenn sich die Verhältnisse ändern und neue Anforderungen auf uns zukommen, zu deren Bewältigung größere und weitere Ideen und Vorstellungen gebraucht werden. Nicht anders ist es auf der Ebene des kollektiven Gedächtnisses. Wie viel zur unmittelbaren Lebensbewältigung und zur kurzfristigen Sicherung ihres Fortbestands nicht direkt nutzbares, aber dennoch kollektiv tradiertes Wissen trägt jede menschliche Gemeinschaft, jede Familie, jede Sippe und jede Kulturgemeinschaft mit sich herum? Wozu brauchen wir all die Familienchroniken, Geschichtsbücher, Sagen und Märchen, alten Gesetzesblätter, überholten Rituale und verstaubten Bibliotheken? Auch sie sind nichts weiter als ein sich ständig erweiterndes Reservoir gemeinsamer innerer Bilder. Auch sie brauchen wir nicht zum nacktem Überleben. Dennoch sind sie möglicherweise das Wertvollste, was wir besitzen. Wenn sich die Verhältnisse ändern und die bisherigen sozialen Strukturen zusammenzubrechen drohen, kann dieser kollektive Bilderschatz 111 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Rettung bringen. Es könnte sein, dass wir bestimmte, aus diesem Schatz entnommene innere Bilder auf neue Weise zusammenfügen und als Orientierung bietende gemeinsame Vorstellungen zur Aufrechterhaltung oder Neugestaltung unserer sozialen Beziehungen und unserer bisherigen Lebenswelt nutzen.

4.2 Bilder, die sich verengen, starr und übermächtig werden ie Welt unserer Phantasie ist der einzige Ort, an dem wir tun und lassen können, was wir wollen. Ob wir die buntesten Bilder hervorzaubern oder die verrücktesten Ideen entwickeln – hier gibt es nichts, was unser Denken und Fühlen in eine bestimmte Richtung zwingt. Wem es gelingt, ganz unbefangen in diese Welt der Phantasie abzuheben, ist wirklich frei. Aber das reale Leben spielt sich leider nicht in der Bilderwelt unserer Phantasie ab. Allzu rasch fällt man von dort wieder auf den Boden der Realitäten zurück. Irgendwann bekommt man Hunger und muss sich etwas zu Essen besorgen, und wenn es nicht der Hunger ist, dann erwacht mit Sicherheit ein anderes, ebenso dringliches Bedürfnis, das den kurzen Ausflug in das Reich der Träume jäh beendet. Und wenn der Ruf zur Rückkehr in die Realität nicht aus uns selbst kommt, dann sind genügend andere da, die uns mit ihren ganz realen, bisweilen sogar handgreiflichen Wünschen, Forderungen und Erwartungen unweigerlich dorthin zurückholen, wo das Leben stattfindet. Dann wird die Bühne der Phantasie wieder mit einem Vorhang zugezogen und auf diesem Vorhang steht unübersehbar geschrieben, worauf es hier und jetzt im Leben ankommt. Das ist zunächst noch kein Unglück. Jeder, der noch einigermaßen offen für dieses reale Leben mit all seinen bunten Facetten und vielfältigen Herausforderungen ist, findet auch vor diesem Vorhang noch genügend Raum zum Agieren. Er kann die anstehenden Probleme zunächst nach unterschiedlichen Ge-

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sichtspunkten ordnen und sortieren, und er kann versuchen, für jedes dieser Probleme eine optimale Lösung zu finden. Das gelingt umso besser, je breiter und je vielfältiger das Spektrum an handlungsleitenden und Orientierung bietenden inneren Bildern ist, das ein Mensch auf der Suche nach der geeignetsten Bewältigungsstrategie vor seinem geistigen Auge als mögliche Handlungsoptionen ausbreiten kann. Was auf diese Weise abgerufen und aktiviert wird, sind all die unterschiedlichen, bei der Lösung ähnlicher Probleme bisher gemachten Erfahrungen, die in Form bestimmter neuronaler und synaptischer Verschaltungsmuster im Gehirn abgespeichert worden sind. Dabei handelt es sich aber keineswegs nur um nackte Vorstellungen davon, wann man wie zu reagieren hat. Diese Vorstellungen sind auch immer mit einem Gefühl verbunden. Waren die bisherigen Erfahrungen bei der Nutzung einer bestimmten Lösungsstrategie überwiegend positiv, so entsteht auch jetzt wieder ein gutes Gefühl, wenn man sich fragt, ob auch das nun anstehende Problem auf genau diese Weise gelöst werden könnte. Alle anderen Handlungsoptionen, die ein weniger gutes oder gar ein unangenehmes Gefühl auslösen, werden dann schnell verworfen. Man tut am liebsten das, was sich bisher immer bewährt hat. Je besser es funktioniert, je erfolgreicher sich diese Strategie nun auch zur Lösung des betreffenden neuen Problems einsetzen lässt, desto positiver wird das dafür genutzte innere Handlungsmuster bewertet. Alle dabei aktivierten synaptischen Verschaltungen werden entsprechend gebahnt und gefestigt. Das betreffende Bild ist dann beim nächsten Mal umso leichter abrufbar. Je erfolgreicher ein Mensch die in seinem Leben auftretenden Schwierigkeiten immer wieder mit einer bestimmten Strategie zu meistern imstande ist, desto effizienter werden die dabei aktivierten Nervenzellverbindungen miteinander verknüpft, desto besser gelingt die von diesen Netzwerken gesteuerte Leistung und desto schärfer werden auch die Konturen des jeweiligen inneren Bildes herausgeformt, das die betreffenden Reaktionen und Handlungen lenkt. Das entsprechende hand113 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

lungsleitende oder Orientierung bietende Bild rückt auf diese Weise immer stärker in den Vordergrund. Es wird immer leichter aktivierbar und immer häufiger zur Lösung anstehender Probleme eingesetzt. Wenn man Pech hat und mit einer bestimmten Strategie gar zu erfolgreich ist, kann das dieser Strategie zugrunde liegende innere Bild – oder das dieses Bild erzeugende synaptische Verschaltungsmuster – allerdings auch so mächtig und so leicht aktivierbar werden, dass irgendwann ein Fingerschnipsen ausreicht, um es wachzurufen. Dann handelt man so, wie es dieses immer enger, starrer und übermächtiger gewordene innere Bild gebietet – auch dann, wenn gar nichts passiert ist, was eine entsprechende Reaktion erforderlich machen würde. Womöglich wird der betreffende Mensch von dieser, in seinem Hirn verfestigten Vorstellung sogar dazu getrieben, ständig neue Situationen herbeizuführen, die ihm Gelegenheit bieten, seine überstark gewordenen Denk- und Handlungsmuster immer wieder einzusetzen. Dann ist er von seiner einmal gefundenen und allzu häufig mit allzu großem Erfolg eingesetzten Bewältigungsstrategie abhängig geworden. Aus den anfangs noch dünnen und verschlungenen Nervenwegen ist in seinem Hirn eine Autobahn geworden, von der er nicht so leicht wieder herunterkommt. Bekanntermaßen werden sogar die richtigen Autobahnen nicht einfach deshalb gebaut, weil es viele Autofahrer gibt, sondern weil sehr viele Menschen ein besonderes Interesse daran haben, mit Hilfe eines Autos möglichst schnell und bequem von hier nach dort zu gelangen. Ähnlich verhält es sich mit den überstarken Bahnungsprozessen bestimmter Nervenzellverschaltungen im Gehirn. Auch hier entstehen solche »Autobahnen« immer dann, wenn der betreffende Mensch einen triftigen Grund hat, sein Gehirn so und nicht anders zu benutzen. Eine andauernde Bedrohung, beispielsweise durch Hunger und Elend, Not und Armut, auch durch Konkurrenten oder Feinde ist zum Beispiel ein sehr triftiger Grund, sein Hirn auf eine ganz bestimmte Weise zum Erreichen ganz bestimmter Ziele – nämlich zur Abwendung der betreffenden Bedrohung – zu nutzen. 114 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Aber auch die bloße Vorstellung, dass eine solche Gefahr eintreten könnte, stellt für viele Menschen bereits ein ausreichendes Motiv dar, um entsprechende Vorsichtsmaßnahmen zu treffen und dabei bestimmte Verschaltungen in ihrem Hirn stärker zu bahnen und zu festigen als andere. In ihrer Wirkung nicht zu unterschätzen ist auch die strukturierende Kraft der sozialen Beziehungen, in die Menschen hineinwachsen und die sie miteinander eingehen, weil sie in diesen Gemeinschaften Sicherheit und Geborgenheit, Halt und Orientierung finden. Um all das nicht zu verlieren, sind Menschen bisweilen allzu leicht bereit, ihr Denken, Fühlen und Handeln an die oft genug sehr einseitigen Vorstellungen, Erwartungen oder Forderungen derjenigen Menschen anzupassen, denen sie sich zugehörig, in deren Nähe sie sich sicher fühlen. Zwangsläufig bilden sich dann in ihrem Gehirn die gleichen Autobahnen heraus, die bereits all jene besitzen, an deren einseitigen Vorstellungen und Zielen sie sich orientieren. Zusätzlich unterstützt wird dieser Anpassungsprozess meist noch durch Belohnung gruppenkonformer und Bestrafung aller den Zusammenhalt der Gruppe gefährdenden Verhaltensweisen, Vorstellungen und Haltungen. Je attraktiver die in Aussicht gestellte Belohnung oder aber je furchtbarer die angedrohte Bestrafung in den Augen der betreffenden Person erscheint, desto besser gelingt die auf diese Weise erzwungene Dressurleistung, desto effektiver werden die dazu erforderlichen und unter entsprechend starker emotionaler Aktivierung genutzten Nervenzellverschaltungen gebahnt, gefestigt und ausgebaut. Das gilt nicht nur für all jene Verschaltungsmuster, die für die Lenkung und Steuerung all jener Fähigkeiten und Fertigkeiten gebraucht werden, die man beherrschen muss, wenn man zu einer bestimmten Gruppe oder Gemeinschaft gehören, die Anerkennung anderer finden und sich in dieser Gemeinschaft sicher fühlen will. Das gilt auch für all das Wissen, das man erwerben, und all die Kenntnisse, die man sich aneignen muss, um sich mit den anderen Mitgliedern dieser Gruppe verständigen und austauschen zu können. Und nicht zuletzt 115 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

führt das Bedürfnis, zu einer wie auch immer beschaffenen und wodurch auch immer zusammengehaltenen Gemeinschaft dazuzugehören, zwangsläufig dazu, dass auch die von den Mitgliedern dieser Gemeinschaft geteilten Überzeugungen, deren Menschen-, Feind- und Weltbilder, die von ihnen verfolgten Ziele und die von ihnen entworfenen Visionen ebenso übernommen werden wie die diesen kollektiven Bildern zugrunde liegenden und zu ihrer praktischen Umsetzung erforderlichen Haltungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Diejenigen, die sich am wenigsten gegen derartige soziale Strukturierungsprozesse und die damit einhergehende Kanalisierung und Bahnung bestimmter neuronaler Verschaltungsmuster in ihrem Gehirn wehren können, sind die in die jeweiligen sozialen Gemeinschaften, in eine Familie, eine Sippe, eine dörfliche oder städtische Lebens- und Kulturgemeinschaft hineinwachsenden Kinder. Die in den höheren, assoziativen Bereichen ihres Gehirn erst nach der Geburt ausreifenden Verschaltungen sind in fast beliebiger Weise durch die jeweils von Eltern, Verwandten, Freunden vorgelebten oder vorgeschriebenen, durch Belohnung oder Bestrafung bekräftigten Reaktionsmuster formbar. Diese immense Formbarkeit des sich entwickelnden menschlichen Gehirns ist die entscheidende Voraussetzung für die transgenerationale Weitergabe der von einer Gemeinschaft entwickelten und von den erwachsenen Mitgliedern dieser Gemeinschaft für bedeutsam erachteten Fähigkeiten und Fertigkeiten, Kenntnisse und Überzeugungen, Vorstellungen und Ideen. Ohne diese Formbarkeit gäbe es keine Erziehung und Sozialisation, keine Bildung und keine Kultur. Aber alles, was formbar ist, ist auch verformbar. Die von den Mitgliedern einer Gemeinschaft überlieferten, genutzten und weitergebenen kollektiven Bilder können unter bestimmten Bedingungen eben auch immer enger und starrer werden. Das ist vor allem dann der Fall, wenn sich einzelne, meist recht einfache Vorstellungen, Überzeugungen und Haltungen über mehrere Generationen hinweg als besonders erfolgreich für das Erreichen eines bestimmten Ziels oder für die Befriedigung eines 116 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

bestimmten Bedürfnisses der meisten Mitglieder dieser Gemeinschaft erweisen. Allzu leicht kommt es in solchen Phasen zu einer kollektiven Überbewertung des jeweiligen »Erfolgsrezepts« und zu einer Abwertung aller anderen, nicht zum Erreichen des angestrebten Ziels und zur Befriedigung des jeweiligen Bedürfnisses geeigneten Überzeugungen. Auf diese Weise kann bisweilen das gesamte Denken, Fühlen und Handeln der Mitglieder einer solchen Gemeinschaft auf eine durch Erfolg gebahnte Autobahn geraten. Die in eine solche Gemeinschaft hineinwachsenden Kinder werden dann zu immer früheren Zeitpunkten und mit zunehmend stärkerem Druck ermutigt, angehalten, erzogen oder gezwungen, ihr Hirn auf die von den Mitgliedern dieser Gemeinschaft für »richtig« befundene Weise zu nutzen. So entstehen in ihrem formbaren Gehirn die gleichen, wenn nicht gar noch stärkere Verschaltungen, also innere Bilder, die noch enger angelegt und noch starrer sind als die in den Gehirnen ihrer Vorbilder bereits verankerten. Langfristig haben derartige transgenerational fortschreitenden Blickverengungen katastrophale Folgen: Was von den Vorvätern einmal mit viel Mut und Engagement entworfen und in Gang gebracht wurde, sei es durch die Gründung einer Religionsgemeinschaft, einer Siedlung, eines Wirtschaftsunternehmens oder eines Staates, wird von den Söhnen und Enkeln zunächst so lange immer stärker befestigt, wie das jeweilige Gebilde noch kräftig und vielversprechend weiter wächst und gedeiht, also alles erfolgreich verläuft. Die Ideen der Gründergeneration werden dabei immer stärker idealisiert und schließlich sogar zu dogmatischen Leitbildern stilisiert, bis sie so starr und unflexibel geworden sind, dass sie notwendige Anpassungen an neue Entwicklungen zunehmend behindern. Dann kommt das, was bisher wachsen konnte, zwangsläufig zum Stillstand. An die Stelle des Erfolgs tritt nun der Misserfolg. Über kurz oder lang wird dann das alte Leitbild vom Sockel gestoßen. Das Projekt ist gescheitert und ein Ausweg ist – in Ermangelung alternativer, Orientierung bietender und handlungsleitender innerer Bilder – nicht in Sicht. Nun breitet sich eine zuneh117 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

mende Verunsicherung aus, und der damit einhergehenden Angst kann schließlich nur noch durch den Rückgriff auf ältere, primitivere »Notfallreaktionen« zur Sicherung des eigenen Überlebens begegnet werden: durch Angriff (in seiner kollektiven Ausprägung ist das Krieg) oder durch Flucht (wenn Menschen die Flucht ergreifen oder sich nur noch um ihre persönlichen Belange kümmern, bedeutet das die Auflösung des bisherigen Gemeinwesens). Notfallreaktionen, das sagt schon der Name, sind keine Strategien zur Lebensbewältigung, sondern angesichts einer existenziellen Bedrohung zur Sicherung des nackten Überlebens abgerufene Reaktions- und Handlungsmuster. Auf allen Ebenen der Organisation lebender Systeme werden solche inneren Bilder für die Bewältigung von Notfällen bereitgehalten. Sie sind älter und daher auch fester verankert als alle anderen reaktions- und handlungsleitenden Muster. Aktiviert werden sie immer dann, wenn die später entwickelten und meist auch differenzierteren Muster angesichts der durch eine Bedrohung ausgelösten Erschütterung der inneren Ordnung nicht mehr abrufbar oder nutzbar sind. Auf zellulärer Ebene handelt es sich bei diesen Notfallbildern um bestimmte DNA-Sequenzen, die als »early-immediate-genes« bezeichnet werden. Ihre Aktivierung führt dazu, dass der gesamte Zellstoffwechsel umgestellt wird. Die betreffende Zelle stellt dann alle hoch spezialisierten Leistungen ein, mobilisiert die noch verfügbaren Reserven und stabilisiert all jene Funktionen, die für ihr Überleben von entscheidender Bedeutung sind. Auf der Ebene des Gehirns entsteht im Fall einer solchen Bedrohung eine sich von den Wahrnehmungs- und Assoziationszentren rasch ausbreitende Unruhe und unspezifische Erregung. Da dadurch vor allem die hochkomplexen und deshalb besonders labilen Verschaltungsmuster in den jüngeren, zuletzt herausgeformten Bereichen der Großhirnrinde in Unordnung geraten, können in diesen Regionen keine handlungsleitenden Aktivierungsmuster mehr aufgebaut werden. Stabiler, einfacher und fester verankert – und damit weniger anfällig für das bei einer Bedrohung im Gehirn 118 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

ausgelöste Chaos – sind all jene inneren Bilder, die bereits während der frühen Kindheit angelegt und besonders stark gebahnt worden sind. Deshalb werden sie unter solchen Bedingungen nunmehr handlungsbestimmend. Der betreffende Mensch reagiert dann mit dem Rückfall in diese aus seiner frühen Kindheit stammenden Muster. Bisweilen ist die mit einer Bedrohung einhergehende Erregung so stark, dass sie auch auf diese früh erworbenen Verschaltungsmuster übergreift und sie unbrauchbar macht. Dann geht es auf der Stufenleiter der im Gehirn angelegten inneren Bildern noch weiter hinab. So bleiben schließlich als einzige noch aktivierbare und zur Lebensrettung nutzbare innere Bilder all jene sehr stabilen Verschaltungsmuster übrig, die aus der Stammesgeschichte mitgebracht und in älteren Hirnregionen bereits vor der Geburt unter dem steuernden Einfluss genetischer Programme herausgeformt worden sind. Dann reagiert der betreffende Mensch mit einer dieser archaischen Notfallhandlungen, in die auch alle anderen Säugetiere in lebensbedrohlichen Situationen zurückfallen: Flucht oder Angriff oder – wenn weder das eine noch das andere funktioniert – Erstarrung, Stereotypien und unterschiedlichste Formen so genannter Übersprungshandlungen (Kopulation, Fressen, Selbstverletzung etc.). Den stärker instinktgeleiteten Tieren gelingt es jedoch im Allgemeinen besser als den meisten Menschen, eine existenzielle Gefahr durch die Aktivierung eines derartigen Notfall-Reaktionsmusters abzuwenden und ihr Leben auf diese Weise zu retten. Die ihre Flucht- oder Angriffsreaktionen lenkenden inneren Bilder sind eindeutiger und werden konsequenter – eben »bedenkenloser« – umgesetzt. Den Tieren fehlen all jene, durch eigene Erfahrungen so stark gebahnten und deshalb selbst bei starker Erregung noch immer abrufbaren inneren Bilder, die die meisten Menschen an der effektiven Umsetzung einer solchen Notfallreaktion hindern. Ihnen steht in solchen Momenten nicht gleichzeitig das Bild eines drohenden Verlusts von Hab und Gut, von Normen und Werten oder von sozialen Bindungen vor Augen. Beim Menschen können diese eigenen, im Lauf 119 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

des Lebens erworbenen inneren Bilder sogar so stark und so stabil werden, dass sie als handlungsleitende Muster die Aktivierung einer zur Rettung des eigenen Lebens notwendigen Notfallreaktion unterdrücken. Deshalb sind manche Menschen eher bereit, ihr Leben zu opfern, als auf ihren Besitz, ihre Ideen oder ihre Liebsten zu verzichten. Fast alle geraten in solchen Situationen aber zumindest in ein Entscheidungsdilemma. Sie müssen abwägen, was ihnen wichtiger ist: ihr nacktes Überleben oder das, was dieses Leben in ihren Augen erst lebenswert macht. Entscheidet sich ein Mensch für Letzteres, so kann ihn der Versuch, all das zu retten, was ihm lieb und wert ist, das Leben kosten. Entscheidet er sich für eine konsequente Umsetzung einer lebensrettenden Notfallreaktion – und bleibt er auf diese Weise tatsächlich am Leben –, so geht ihm dabei möglicherweise all das verloren, was sein Leben bisher lebenswert gemacht hat. Das Hab und Gut mag noch ersetzbar sein, die Freunde und Angehörigen aber – und vor allem deren Achtung – sind wohl unwiederbringlich verloren. Am schlimmsten jedoch ist der Verlust der Selbstachtung, den ein Mensch aushalten muss, der sich selbst auf Kosten dessen gerettet hat – und das dabei verleugnet hat –, was ihm lieb und wert war. Ein solcher Mensch kann sich nur noch schwer im Spiegel betrachten. Sein Selbstbild ist nicht mehr mit dem in Deckung zu bringen, was er getan und wie er gehandelt hat. Kein Mensch kann über längere Zeit mit einem solchen inneren Widerspruch und dem dadurch in ihm ausgelösten Gefühl von Scham und Selbstzweifel leben. Deshalb bleibt einem Menschen in einer solchen Situation nur eine Möglichkeit: Er muss das gesamte Bild in Frage stellen, das er sich bisher von sich selbst gemacht hat, in dem all das enthalten war, was ihm bisher wichtig war, und das sein bisheriges Fühlen, Denken und Handeln bestimmt hat. Solch ein Zusammenbruch des Selbstbildes ist nicht lang auszuhalten. Jeder Gedanke, jede Idee, jedes Bild, alles, was einem solchen Menschen nun in den Kopf kommt oder ihm eingeredet wird, kann ihm jetzt allzu leicht wie ein Halt bietender Rettungspfahl erscheinen. An dem versucht er nun mit aller 120 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Macht das führerlos gewordene, auf sturmgepeitschter offener See dahintreibende Schiff seines gekenterten Selbstbildes festzuzurren. Dass andere Menschen diesen zufälligerweise gefundenen und oft auch außerhalb der so genannten Realität liegenden Rettungspfahl als Hirngespinst, als Wahngedanke, Wahnidee oder Wahnbild bezeichnen und darin kein brauchbares, handlungsleitendes und Orientierung bietendes inneres Bild erkennen können, macht die Situation für den Betroffenen nicht besser. Im Gegenteil! Weil er nichts anderes als diesen Pfahl zur Stabilisierung seines Selbst, zur Einordnung seiner Wahrnehmungen und zur Lenkung seiner Gedanken und Handlungen mehr besitzt, bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als sich mit aller Macht daran zu klammern. Je mehr ihn die anderen deshalb ablehnen oder verhöhnen, desto intensiver muss er sich an genau diesem Halt bietenden und dabei immer übermächtiger werdenden Bild festhalten und orientieren.

4.3 Bilder, die verschwimmen, verblassen und verloren gehen eine Lebensform, also keine Zelle, keine Pflanze, kein Tier, kein Mensch und auch keine Gemeinschaft kann auf Dauer so bleiben, wie sie ist. Ihre jeweilige innere Organisation und äußere Gestalt werden mit Hilfe der von den Vorfahren überlieferten und durch eigene Erfahrungen modifizierten inneren Muster immer wieder an sich ständig weiter verändernde äußere oder innere Bedingungen angepasst. Gehen einem Lebewesen die dafür erforderlichen inneren Bilder aus irgendeinem Grund verloren, so kann es auch seine bisherige innere Organisation und äußere Gestalt nicht mehr wie bisher aufbauen und aufrechterhalten. Das muss jedoch nicht automatisch zum Untergang der betreffenden Lebensform führen. Tatsächlich finden sich in der lebendigen Welt zahlreiche Beispiele, die deutlich machen, dass der Verlust bestimmter innerer Bilder offenbar recht gut mit dem Überleben vereinbar ist, ja bisweilen

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sogar gewisse Vorteile im Wettbewerb um begrenzte Ressourcen bietet. Allerdings – und das ist sehr entscheidend – kann sich ein Lebewesen den Verlust eines bestimmten handlungsleitenden inneren Musters nur dann »leisten«, wenn es die von einem solchen inneren Bild gesteuerten Reaktionen, Fähigkeiten oder Verhaltensweisen nicht mehr zum Überleben braucht. Das ist immer dann der Fall, wenn sich seine bisherigen Lebensbedingungen in einer Weise verändern (oder es ihm gelingt, diese Bedingungen so zu gestalten), dass manches von dem, was vorher noch erforderlich und überlebensnotwendig war, fortan unnötig, überflüssig oder gar hinderlich wird. Den Vorfahren aller Parasiten, beispielsweise den heutigen Bandwürmern, ist es mit Hilfe ihrer ursprünglich noch recht komplexen und vielfältigen inneren Bilder gelungen, ein wahres Schlaraffenland – ihren jeweiligen Wirt – zu besiedeln. Dort war vieles von dem vorhanden, was sie (als frei lebende Würmer) ehemals noch selbst leisten mussten: optimaler Schutz vor Feinden, eine ausreichende Nahrungsversorgung, sogar eine passive Fortbewegung und Verbreitung, eine ständig konstante »Außentemperatur« und was es sonst noch alles an Bequemlichkeiten für ein unbeschwertes (Wurm-)Leben geben kann. Die Folgen dieses von vielen Generationen genossenen unbeschwerten Lebens kann heute jeder besichtigen, der im Kopf eines solchen Bandwurmes nach dem sucht, was dort normalerweise zu finden ist (und was bei den Vorfahren der heutigen Bandwürmer auch noch zu finden war): ein Gehirn – oder wie es bei den Würmern heißt – ein Frontalganglion. Dieses Organ mit den darin in Form spezifischer Nervenzellverschaltungen angelegten inneren Bildern zur Lösung von Problemen ist diesen Würmern ebenso abhanden gekommen wie die Probleme, die sie damit ursprünglich zu lösen hatten. So weit muss es freilich nicht immer kommen, aber dieses extreme Exempel macht doch eines sehr deutlich: Das Spektrum an Reaktionen steuernden, Handlungen leitenden und Orientierung bietenden inneren Mustern schrumpft offenbar auf diejenigen Bilder zusammen, die zum Überleben in einer Welt des 122 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Überflusses und der Bequemlichkeit schließlich noch unbedingt erforderlich sind. Im Fall der Bandwürmer ist das die Fähigkeit, sich und ihre Nachkommen in dieser einmal eroberten Lebenswelt zu erhalten. Grundlage dieser Fähigkeit ist ein genetisches Programm, das die Ausbildung eines Hakenkranzes am Kopf steuert (mit dem sie sich in ihrer Welt festhalten können) und das dafür sorgt, dass möglichst viele befruchtete Eizellen produziert werden. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass diese letzten, aber noch immer erfolgreich nutzbaren Reste ihrer inneren Bilderwelt nicht auch noch verschwinden. Was die Bandwürmer geschafft haben, kann auch jedes andere Lebewesen schaffen, dem es auf irgendeine Weise gelingt, in einer Welt unbegrenzter Ressourcen und von anderen gelöster Probleme zu leben. Glücklicherweise sind immer nur sehr wenige Lebewesen in der Lage, eine solch »paradiesische« Lebenswelt für sich zu entdecken und zu erschließen. Ein Leben auf Kosten anderer ist langfristig auch keine besonders tragfähige Strategie, denn sie macht das eigene Überleben von eben diesen anderen abhängig. Stirbt der Wirt, so stirbt auch der Parasit. Findet der Wirt gar einen Weg, um den Parasiten für immer loszuwerden, erholt sich der Wirt und hat sogar noch etwas hinzugelernt. Der Parasit aber geht zugrunde, weil ihm all die zur Lebensbewältigung außerhalb seines Wirtes benötigten inneren Bilder während der langen Zeit ihrer Nichtbenutzung durch Kopierfehler bei der Weitergabe seiner Erbinformation von einer Generation zur nächsten zunächst folgenlos und deshalb unmerklich verloren gegangen sind. All jene Lebensformen, die sich auf Kosten anderer ein bequemes Leben machen, gehören also nicht zu denen, die ihren Schatz an inneren Bildern erhalten und erweitern und sich daher weiterentwickeln können. Aber auch all jene Lebensformen, denen die Probleme über den Hals wachsen, die über Generationen hinweg nicht genug zu fressen finden, die ständig von Feinden bedroht sind oder sich gegen Nahrungskonkurrenten behaupten müssen, haben kaum eine Chance, ihren bisherigen Schatz an inneren Bildern 123 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

zu erhalten oder gar zu erweitern. Sie leben in einer Welt, in der der Notfall zum Normalfall geworden ist. Wer hier keinen Ausweg findet, ist verloren, denn die Aktivierung der für solche Notfälle bereitstehenden inneren Reaktionsmuster führt bei allen Tieren und auch beim Menschen über die damit einhergehende Stimulation der Ausschüttung von Stresshormonen zur Destabilisierung der inneren Bilder, die zur Steuerung komplexer Regelkreise und Verhaltensweisen notwendig sind, und führt damit auch zur Unterdrückung der Fortpflanzungsfähigkeit. Eine Möglichkeit, dem Druck durch Fressfeinde und Nahrungskonkurrenten zu entgehen, ist die Flucht. Wer aber versucht, sich dorthin zurückzuziehen, wo der Konkurrenzdruck weniger stark ist, kann am Ende nur dort landen, wo die Lebensbedingungen für diese Konkurrenten oder Fressfeinde gar zu unwirtlich sind. Wer dort überleben will, muss ein Spezialist für Extrembereiche werden. Er muss das Glück haben oder – wenn er das kann – selbst dafür sorgen, dass einzelne, für das Überleben unter derartigen Extrembedingungen besonders geeignete innere Reaktions- und Handlungsmuster immer besser herausgeformt werden. Wenn das gelingt, kann eine solche Lebensform schließlich auch dort existieren, wo sich keiner ihrer Konkurrenten mehr zurechtfindet: im ewigen Eis, in der Wüste, in der Tiefsee, im felsigen Gebirge, oder in den Höhen der Lüfte. Wem diese Anpassung seiner inneren Bilder gelungen ist, und wer sich mit deren Hilfe als Spezialist in eine für alle Nichtspezialisten unbesiedelbare ökologische Nische zurückziehen konnte, hat nun allerdings ein Problem: Er kommt so leicht nicht wieder aus dieser Spezialwelt heraus, in die er sich hineinmanövriert hat. Wenn sich die Verhältnisse dort verändern, wenn es, wo es kalt war, wieder wärmer, und wo es feucht war, wieder trockener wird oder wenn es in der Wüste wieder regelmäßig zu regnen beginnt, ist er gezwungen, sich nun auch in dieser – wieder wirtlicher gewordenen – Lebenswelt zurechtzufinden. Dann freilich werden ihm seine Spezialisierungen allzu leicht zum Verhängnis. Die inneren Bilder, die die Herausbil124 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

dung seiner extremen Leistungen oder Verhaltensweisen steuern, erweisen sich nun als nutzlos, wenn nicht gar hinderlich. Und all jene inneren Muster, die für ein Überleben in dieser wieder bunter und vielfältiger gewordenen Lebenswelt gebraucht werden, sind im Verlauf dieses Spezialisierungsprozesses entweder nicht weiterentwickelt worden oder – weil sie dabei nutzlos oder gar hinderlich waren – verloren gegangen oder zur Steuerung anderer Leistungen genutzt und entsprechend weiterentwickelt worden. Rückzug und Flucht in einsame Refugien ist also langfristig auch keine geeignete Strategie, um den einmal entstandenen Schatz an inneren Bildern zu erhalten oder gar zu erweitern. Eine Alternative zum Rückzug ist der Angriff oder zumindest eine wirksame Verteidigung. Wer dem Druck von Fressfeinden und Nahrungskonkurrenten nicht ausweichen kann, dem bleibt nur die Möglichkeit, sich zu wehren. Er muss das Glück haben oder selbst dafür sorgen, dass bestimmte, für den Angriff oder für die Verteidigung besonders geeignete innere Reaktions- und Handlungsmuster besser und effektiver herausgeformt wurden oder werden. Den Vorfahren der noch heute lebenden »Verteidigungskünstler« ist das offenbar über viele Generationen hinweg gelungen. Igel und Stachelschweine, Schildkröten und Stinktiere, Myriaden wehrhafter Insekten, Krustentiere, Gehäuseschnecken und Muscheln, aber auch die zahlreichen mit Stacheln und Dornen, Nesseln und Giften bewehrten Pflanzen sind auf diese Weise sehr erfolgreiche Verteidigungsspezialisten geworden. Zu reinen Angriffsspezialisten haben sich allerdings nur sehr wenige Tiere entwickelt. Ihre in Form bestimmter Nukleinsäuresequenzen herausgeformten, die Ausbildung möglichst großer Klauen, Zähne oder anderer tödlicher Angriffswaffen oder besonders aggressiver Verhaltensweisen lenkenden inneren Bilder mussten nämlich mit den für die Arterhaltung benötigten, die Paarung und Aufzucht der Nachkommen steuernden inneren Bildern einigermaßen kompatibel bleiben. Dabei sind bisweilen recht bizarr anmutende Kompromisslösungen gefunden worden. Sie reichen von Spin125 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

nenweibchen, die ihre Männer nach der Begattung auffressen, bis zu Löwenmännchen, die die Jungen ihres Harems totbeißen – vor allem dann, wenn sie ihnen irgendwie »fremd« vorkommen, beispielsweise weil sie von einem anderen Vater stammen. Die Frage, was bestimmte innere Bilder so scharf geschliffen hat, dass sich all diese Spezialisten für Angriffe oder Verteidigung, für den Rückzug in entlegene Biotope oder für sonstige, zum Teil atemberaubende Fähigkeiten und Fertigkeiten, Tricks und Kunstfertigkeiten herausbilden konnten, ist leicht zu beantworten. Es war der Wettbewerb um begrenzte Ressourcen. All jene, die sich in diesem Wettbewerb behaupten konnten, bevölkern heute die Erde. Viele sind mitsamt den ihren jeweiligen Aufbau, ihre Gestalt und ihre Leistungen steuernden inneren Bildern ausgestorben. Anderen steht dieses Schicksal noch bevor. Abgesehen von den ständig neuen Krankheitserregern und anderen sehr wandlungsfähigen Mikroorganismen ist die Artenvielfalt und damit die Vielfalt der auf der Erde für den Aufbau lebendiger Wesen geeigneten inneren Bilder seit der Entstehung und Ausbreitung unserer eigenen Spezies beträchtlich zurückgegangen. Auch das ist eine Folge des Wettbewerbs. Die größten Verlierer dieses Wettstreits um die noch verbliebenen Ressourcen waren – und bleiben wohl auch in Zukunft – die Spezialisten, die sich durch extreme Anpassungen in extrem beschaffene Lebenswelten zurückgezogen haben. Die großen Gewinner in diesem Wettstreit waren vor allem solche Lebewesen, die nicht durch allzu starken Druck in derartige Nischen abgedrängt worden sind und die nicht besonders erfolgreich bei der Besiedelung spezieller Teilwelten waren: Die Generalisten, allen voran der Mensch. Sie, diese Alles-ein-bisschen-Könner, denen nicht das Wasser ständig bis zum Hals stand, denen es aber auch nicht gelungen war, einzelne Fähigkeiten besonders gut herauszubilden, waren die Einzigen, die immer und überall genug Probleme hatten, die sie auf die eine oder andere Weise auch tatsächlich – mit Glück oder durch geschicktes Kombinieren – irgendwie lösen konnten. Sie waren diejenigen, die in der Lage waren, ihren Schatz an inneren Bildern immer stärker zu er126 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

weitern und zu vergrößern. Ihre Nichtspezialisiertheit bot die besten Voraussetzungen für die Verschmelzung, Vermischung, Ergänzung und Erweiterung unterschiedlichster DNA-Sequenzmuster, später auch komplexer Verhaltensmuster und der ihnen zugrunde liegenden neuronalen Verschaltungsmuster und schließlich auch der von verschiedenen Gruppen genutzten kollektiven Muster. Entstehen konnte dieser immense Bilderschatz auf all diesen Ebenen nur dadurch, dass alle noch weitgehend undifferenzierten Lebensformen besser als alle Spezialisten in der Lage sind, Verbindungen zu knüpfen, Beziehungen einzugehen und damit Auseinanderstrebendes und bereits Getrenntes auf immer neue Weise zusammenzufügen. Geschliffen und ausgefeilt wurden einzelne der so entstandenen Bilder erst danach. Dann erst wurde all das, was ursprünglich einen gemeinsamen Ursprung hatte und zusammengehörig war, durch den Wettbewerb in unterschiedliche Spezialisierungen auseinander getrieben und dadurch immer weiter voneinander getrennt. Generalisten zeichnen sich dadurch aus, dass sie sehr viele und sehr unterschiedliche innere Bilder miteinander kombinieren, voneinander lernen und sich austauschen können. Spezialisten tun das nur im Notfall. Und was sie dann voneinander lernen und miteinander austauschen, bleibt begrenzt, ist eben nur ihr spezifisches Wissen, sind nur ihre spezifischen Bilder über die Beschaffenheit ihrer speziellen Lebenswelt. Das Beispiel der Entwicklungsgeschichte unserer eigenen Spezies macht jedoch deutlich, dass auch geborene Generalisten, wenn es um die Bewältigung des realen Lebens geht, nicht vom Wettbewerb und den dadurch erzwungenen Spezialisierungen verschont bleiben. Jedes Kind muss sich, wenn es in eine Familie, eine Sippe, eine bestimmte Kultur- und Lebensgemeinschaft hineinwächst, den spezifischen dort herrschenden Erfordernissen anpassen. Es kann nur überleben, indem es sich all das aneignet und verinnerlicht, was es braucht, um sich in dieser Gemeinschaft zurechtzufinden, dazuzugehören, Nahrung und Schutz zu finden. Das war damals, vor Hunderttausenden von Jahren, als die ersten menschlichen Gemeinschaften in der 127 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Wiege der Menschheit, in Afrika, entstanden etwas anderes als heute. Es war auch damals schon sehr viel. Aber das, was diese Kinder damals an Fähigkeiten zu erlernen, an Regeln zu befolgen, zu wissen und zu können hatten, war eben nur das, was in dieser Region der Erde von diesen frühen Gemeinschaften an inneren Bildern bereits entwickelt worden war. In dem Maß, wie sich die lokalen Gegebenheiten änderten und diese Gemeinschaften wuchsen, begannen die Ressourcen knapper und der Wettbewerb schärfer zu werden. Manche entkamen dem Druck durch Flucht, wanderten aus und wichen immer weiter aus. Sie erschlossen und besiedelten im Lauf der letzten einhunderttausend Jahre jeden nur einigermaßen zum Überleben geeigneten Lebensraum auf dieser Erde und vollbrachten dabei die erstaunlichsten Anpassungsleistungen. All jene inneren Bilder, die sich in diesen neuen Welten als nützlich und brauchbar erwiesen, wurden von Generation zu Generation zunehmend schärfer herausgeformt. Alle anderen, weniger brauchbaren oder in dieser speziellen Lebenswelt sogar hinderlich gewordenen handlungsleitenden und Orientierung bietenden Muster verschwanden allmählich. Sie wurden von den jeweiligen Eltern zunächst nicht mehr so eindringlich und so früh wie zuvor und schließlich überhaupt nicht mehr an die nachfolgenden Generationen weitergegeben. Ähnlich ging es all jenen Gruppen, die sich an Stelle von Flucht durch Angriff oder wehrhafte Verteidigung dem wachsenden Konkurrenzdruck zu entziehen versuchten. Auch sie brachten ihren Kindern all das, was zur Durchsetzung dieser Überlebensstrategien erforderlich war, besonders früh und damit entsprechend nachhaltig bei. Alle anderen Handlungsmuster und inneren Bilder für die Herausbildung weniger nützlich erscheinender Fähigkeiten und Fertigkeiten wurden von diesen späteren Generationen ebenso wenig an ihre Nachkommen überliefert, wie die noch von ihren Vorfahren verfolgten Ziele, die von ihnen gepflegten Bräuche und die von ihnen geteilten Überzeugungen und Haltungen. So lange sich diese verschiedenen Strategien als erfolgreich 128 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

erwiesen, wurden auch die von den jeweiligen Gemeinschaften tradierten, Orientierung bietenden und zur Aufrechterhaltung ihrer spezifischen Struktur und ihrer speziellen Leistungen benutzten inneren Bilder zunächst von Generation zu Generation weiter geschärft, das heißt immer besser an die spezifischen Gegebenheiten und Erfordernisse der von jeder dieser Gemeinschaften erschlossenen Lebenswelt angepasst. Aus den ursprünglich noch recht undifferenzierten, relativ unscharfen und damit sehr offenen inneren Bildern der ersten menschlichen Gemeinschaften ist so im Verlauf der letzten einhunderttausend Jahre ein immer bunteres Kaleidoskop unterschiedlichster, hoch spezialisierter und zum Teil extrem ausdifferenzierte Leistungen steuernder, Handlungen leitender und Orientierung bietender Muster entstanden. Aber ebenso wie der bereits zuvor abgelaufene und in die Generierung einer enormen Artenvielfalt ausufernde Prozess der Weiterentwicklung und extremen Ausdifferenzierung genetischer Muster erreichte auch diese, sich auf der Ebene der im Gehirn von Menschen und im kollektiven Gedächtnis spezialisierter menschlicher Gemeinschaften abspielende Ausdifferenzierung und Diversifizierung innerer Bilder einen Höhepunkt. Vergleichbar mit dem nach dem Zenit der Artenvielfalt einsetzenden und rasch voranschreitenden Verlust der von besonders hoch spezialisierten Arten genutzten, genetisch verankerten inneren Bilder, gingen nun auch die von Menschen in hoch spezialisierten Gemeinschaften genutzten inneren Bilder zunehmend verloren. Auch hier wurden (und werden noch immer) die Spezialisten von denjenigen ausgerottet, verjagt oder absorbiert, die nicht versucht hatten oder denen es bisher nicht so recht gelungen war, sich in eine weit abgelegene Nische zurückzuziehen oder sich durch extreme Spezialisierungen die zu ihrem Überleben erforderlichen Ressourcen zu erschließen. Auch hier, das wird nun, zu Beginn des dritten Jahrtausends, immer deutlicher, sind es die Generalisten, die sich in diesem Wettbewerb am besten behaupten können, also all jene menschlichen Gemeinschaften, die zu Künstlern des Austausches, der Vermischung, der Integration und des 129 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Knüpfens von Beziehungen geworden sind. Besser als alle anderen waren und sind diese Menschen in der Lage, ihren Schatz an inneren Bildern nicht nur zu erhalten, sondern auch stetig zu erweitern und ihn als transfamiliäre, transnationale, transkulturelle Muster an die jeweils nachfolgenden Generationen weiterzugeben.

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5. Nachbemerkungen: Bilder, die immer lebendig bleiben

er gewaltige Felsbrocken, der von fern wie ein sitzender Riese aussieht, steht noch immer auf seinem Hügel. Aus den Kindern, die damals »tapferes Schneiderlein« mit ihm gespielt hatten, sind inzwischen tapfere Väter und Mütter geworden. Die alten gruseligen Geschichten, die sich die Menschen in dieser Gegend einst von diesem bizarr geformten Felsen erzählt haben, kennt heute kaum noch jemand. Aus dem Furcht erregenden »Kinderfresserstein« ist ein ganz normaler Buntsandsteinblock geworden. Vor einiger Zeit haben Mitglieder des Wandervereins leicht begehbare Stufen hineingeschlagen. Sie führen hinauf zu einer umzäunten Plattform, von der man weit hinaus ins Land schauen kann. Eine Zeit lang kamen viele Besucher hierher. Im vergangenen Jahr aber ist ein Kind dort oben beim Spielen ausgerutscht und abgestürzt. Seitdem ist der Aufstieg abgesperrt. Auf einer großen Tafel steht jetzt: »Betreten verboten! Lebensgefahr.« Nun machen Eltern mit ihren Kindern wieder einen großen Bogen um den Felsen. So verschwinden bisweilen die Bilder, mit denen wir all das zu fassen versuchen, was uns gefährlich erscheint und Angst macht. Aber wenn die Bedrohung in anderer Form wieder auftaucht, werden auch die alten Angst machenden Bilder in neuer Form wieder lebendig. Da es kein Leben ohne Bedrohungen und die damit einhergehenden Angst geben kann, werden auch die Bilder nie verschwinden, mit deren Hilfe Menschen all das begreifbar und mitteilbar zu machen versuchen, was sie bedroht. Auch den einsamen See mit seinem grünen Schilfgürtel, den Seerosen und den in der Abendsonne tanzenden Mückenschwärmen gibt es noch. Aus dem holprigen Feldweg, auf dem

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einst nur wenige Wanderer und verwegene Radfahrer dorthin gelangten,ist nun eine breite Zufahrtstraße geworden.Der große Parkplatz am Ufer ist an den Wochenenden im Sommer voll gepfropft mit den Autos der vielen Besucher, die zum Brunch in das neu errichtete Strandcafé kommen und anschließend noch einen kleinen Verdauungsspaziergang auf dem asphaltierten Rundweg absolvieren oder eine halbstündige Ruderpartie mit einem der quietschenden Ruderboote vom Bootsverleiher machen. Die Seerosen sind nicht mehr so zahlreich wie früher, vom Schilfgürtel sind nur noch wenige Reste übrig geblieben, und die Teichrohrsänger sind ganz verschwunden. Aber ich mag diesen See immer noch. Am liebsten besuche ich ihn jetzt im Frühjahr, wenn das Eis und der Schnee geschmolzen sind und das Leben wieder erwacht, wenn die Hummelköniginnen nach einem verlassenen Mauseloch für ihren neu zu gründenden kleinen Hummelstaat suchen und die ersten Lerchen aus den benachbarten Feldern aufsteigen und den Himmel mit ihren Liedern füllen. Es ist nicht mehr der alte See, dessen Bild ich nur noch aus meiner Erinnerung hervorzaubern kann. Es ist ein neuer See, ein anderer, und ich sammle an diesen Frühlingstagen nun eben neue, andere Bilder.Aber diese neuen Bilder verbinden mich mit dem See nicht auf eine neue andere Weise. Sie bereichern, erweitern und vervollständigen lediglich das alte Bild, machen es größer und noch ein Stück bunter. Weil auf Dauer nichts so bleibt, wie es war, verändern sich auch immer wieder die Bilder, mit denen wir das zu fassen und mitzuteilen versuchen, was einen bestimmten Aspekt der Welt für uns so bezaubernd und anziehend macht. Wenn es wirklich der See ist, den wir lieben, und nicht das alte Bild, das wir uns von diesem See gemacht haben, dann bleibt der See auch dann weiter anziehend und bezaubernd, wenn er sich verändert. Da es in der Welt, in der wir leben, für unsere Sinne so vieles an Anziehendem und Bezauberndem gibt, werden auch die Bilder immer weiterleben, mit deren Hilfe wir auf immer neue Weise all das zu beschreiben und anderen mitzuteilen versuchen, was diese Welt in unseren Augen eben so anziehend und bezaubernd macht. 132 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Auch den alten Obstgarten, in dem ich als Kind zu Hause war, gibt es noch. Von den Bäumen, an denen einst die süßesten Kirschen der Welt wuchsen, steht nur noch einer. Die anderen sind durch neue ersetzt worden. Der Großvater ist lange tot. Trotzdem gehe ich jedes Mal Hand in Hand mit ihm durch den Garten, wenn ich hier vorbeikomme. Er war nicht besonders belesen und hatte auch nichts studiert. Und doch hat er mir etwas mitgegeben, was wichtiger war als all das, was in den vielen Büchern stand, die ich inzwischen gelesen habe. Es ist die feste Überzeugung, dass es Spaß macht, die Welt gemeinsam zu entdecken und dabei Stück für Stück zu begreifen und fassbar zu machen, was um mich herum, in mir, mit mir und den anderen geschieht. Dieses innere Bild hat er in mir geweckt und mich damit auf den Weg geschickt. Ich versuche es nun weiterzutragen. So sterben wohl die Personen, aber die inneren Bilder, die sie an andere weitergeben, bleiben so lange lebendig, wie es Menschen gibt, die sie lebendig halten. Das gilt für die Mut machenden und Vertrauen stiftenden Bilder ebenso wie für all jene inneren Bilder, die von solchen Menschen überliefert und verbreitet werden, die ihre Lust am Leben, ihre Neugier und ihr Vertrauen, mit dem sie ursprünglich einmal zur Welt gekommen sind, im Lauf ihres Lebens verloren haben. Wir leben in einer Welt, die sich weder bis in alle Einzelheiten planen noch in jeder Hinsicht beherrschen lässt. Deshalb ist es unvermeidbar, dass Menschen bisweilen auch scheitern. Immer wieder wird es Einzelne geben, die vergeblich versuchen, sich in der Welt, in die sie hineinwachsen, zurechtzufinden, die von Ereignissen überrollt werden und Erfahrungen machen müssen, die ihr Vertrauen erschüttern und ihnen den Mut rauben. Es ist deshalb auch wichtig und wird immer notwendig bleiben, dieses eigene Scheitern in Worte zu fassen oder mit Hilfe eines Bildes zu beschreiben, das diesen Menschen und all jenen, an die sie dieses Bild weitergeben, als inneres Muster hilft, solche Erfahrungen künftig zu vermeiden. Aber bisweilen geben diejenigen, die beim Versuch, sich in der Welt zurechtzufinden gescheitert sind, auch wenig hilfreiche Überzeugungen und Vor133 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

stellungen an all jene weiter, die ebenso wie sie in Zukunft noch scheitern könnten. Dazu zählen all jene inneren Bilder, die den Blick verengen und auf diese Weise verhindern,dass künftig noch neue, andere und damit möglicherweise auch bessere Lösungen gefunden werden können. Das sind solche inneren Bilder, die entweder Angst auch dort erzeugen, wo keine Gefahr droht, oder die Sicherheit bietende Lösungen selbst dann noch vorgaukeln, wenn es tatsächlich gefährlich zu werden beginnt. Es gibt Zeiten, in denen sich solche, den Blick verengende Bilder ungemein rasch ausbreiten. Dann scheint es so, als gäbe es nichts, was einzelne Menschen oder auch menschliche Gemeinschaften vor derartigen inneren Bildern schützen kann. Tatsächlich haben über Generationen hinweg tradierte Vorstellungen von dem, was gefährlich ist, und dem, was Sicherheit bietet, das Leben von Familien, Sippen, ja sogar ganzen Völkern und Kulturgemeinschaften maßgeblich bestimmt. Sie haben dazu geführt, dass die einen von diesen überlieferten, Angst erzeugenden Bildern zurückgehalten worden sind, wo es möglich gewesen wäre, nach Auswegen zu suchen, und dass die anderen von ihren kollektiv tradierten, Sicherheit vorgaukelnden Bildern vorangetrieben worden sind, wo es besser gewesen wäre, innezuhalten. Auf den ersten Blick scheint es so, als gehörten auch diese inneren Bilder zu jenen, die immer weiterleben. Aber bei genauerer Betrachtung erweist sich diese Vermutung als Irrtum, denn es gibt ein sehr effektives und vor allem nachhaltig wirksames Mittel, das all diese falschen inneren Bilder gleichermaßen – wenn auch nur sehr langsam und daher kaum spürbar – aufzulösen vermag. Es ist ein ganz einfaches und unaufhaltsam wachsendes, sich ständig ausbreitendes Mittel: Wissen. Es ist das Wissen, das jeder Mensch im Lauf seines Lebens und jede menschliche Gemeinschaft im Lauf ihrer gemeinsamen Geschichte sammelt. Es ist das Wissen, das Menschen hilft, sich im Leben zurechtzufinden, sich selbst, ihre Rolle in ihrer Gemeinschaft und in der Welt zu begreifen. Dazu gehört auch das Wissen, das ihnen zu verstehen hilft, woher die inneren Bilder kommen, die sie in sich tragen und was diese Bilder bewirken. 134 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

So langsam sich dieses Wissen auch ausbreitet und so groß die Hürden auch sein mögen, die seiner Ausbreitung immer wieder in den Weg gestellt werden – es lässt sich auf Dauer nicht verhindern, dass es irgendwann auch dort ankommt, wo Menschen noch immer in dumpfer Ohnmacht hinnehmen, dass ihnen mit Angst machenden Bildern der Mut genommen wird, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Und es wird – so unbequem das auch sein mag – irgendwann auch all jene Menschen erreichen, die noch immer glauben, sie besäßen das einzig richtige Bild davon, worauf es im Leben wirklich ankommt und wie die Probleme auf dieser Welt zu lösen sind. Was dann geschieht, wenn die alten, unnötige Angst schürenden und falsche Sicherheit suggerierenden Bilder ihre aus Nichtwissen gespeiste Kraft verlieren, ist leicht voraussehbar. Dann geht den Kindern, die in diese mit etwas mehr Wissen ausgestattete und gestaltete Welt hineinwachsen, all das nicht mehr verloren, was sie mit ihrer Geburt immer wieder neu auf die Welt bringen: die Neugier, die Entdeckerfreude, die Lust am Gestalten und nicht zuletzt das Vertrauen und der Mut, das Leben zu lieben. So wird auch das entscheidende innere Bild lebendig bleiben, ohne das kein Mensch leben kann: Zuversicht.

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6. Literaturhinweise

Hier finden Sie kein Verzeichnis von Schriften, aus denen ich zitiert hätte oder die ich für eine weiterführende, vertiefende Lektüre empfehlen würde. Vielmehr handelt es sich um eine sehr persönliche Auswahl von Lesefrüchten aus allen Epochen der Geistesgeschichte. Es sind Werke, die mich beeindruckt und zu diesem Buch inspiriert und ermutigt haben. Hannah Arendt (1951): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1970): Die gesellschaftliche Konstitution der Wirklichkeit. Ludwig von Bertalanffy (1949): Das biologische Weltbild. Ernst Bloch (1954–59): Das Prinzip Hoffnung. 3 Bände. Martin Buber (1923): Ich und Du. Georg Büchner (1839): Lenz. Ernst Cassirer (1923–29): Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bände. 1: Die Sprache. 2: Das mythische Denken. 3: Phänomenologie der Erkenntnis. Miguel de Cervantes Saavedra (1621): Don Quijote. Noam Chomsky (1965): Aspekte der Syntax-Theorie. Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Wilhelm Dilthey (1960): Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie. Norbert Elias (1969): Über den Prozess der Zivilisation. 2 Bände. Erik H. Erikson (1966): Identität und Lebenszyklus. Moshé Feldenkrais (1978): Bewußtheit durch Bewegung. Viktor E. Frankl (1979): Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. Erich Fromm (1956): Die Kunst des Liebens. Jean Gebser (1995): Einbruch der Zeit. Hg. v. R. Hämmerli. Gilgamesch-Epos. Wolfgang von Goethe: Schriften zur Naturwissenschaft. Wolfgang von Goethe (1819): West-östlicher Divan. Ernest Hemingway (1952): Der alte Mann und das Meer. Hermann Hesse (1922): Siddharta. Homer: Odyssee. Übers. in Prosa von W. Schadewaldt.

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Hans Jonas (1979): Das Prinzip Verantwortung. Gottfried Keller (1851–55): Der grüne Heinrich. Søren Kierkegaard (1844): Philosophische Brosamen. Heinrich von Kleist (1805): Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Jiddu Krishnamurti (1996): Die Wahrheit ist ein pfadloses Land. Thomas S. Kuhn (1967): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Laotse: Tao te king. Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Claude Lévi-Strauss (1967): Der Zauber und seine Magie. In: Claude LéviStrauss, Strukturale Anthropologie. Übers. v. H. Naumann. Astrid Lindgreen (1977): Das entschwundene Land. Ivar Lissner (1966): Wir sind das Abendland. Humberto Maturana und Francisco Varela (1987): Der Baum der Erkenntnis. Friedrich Nietzsche (1886): Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Ovid: Metamorphosen. Helmuth Plessner (1924): Die Grenzen der Gemeinschaft. Jean Piaget (1969): Nachahmung, Spiel und Traum. Die Entwicklung der Symbolfunktion beim Kinde. Ilya Prigogine und Isabelle Stengers (1981): Dialog mit der Natur – Neue Wege wissenschaftlichen Denkens. Rainer Maria Rilke (1923): Duineser Elegien. Antoine de Saint-Exupéry, A. (1943): Der kleine Prinz. Albert Schweitzer (1924): Die Macht des Ideals. In: Albert Schweitzer, Aus meiner Kindheit und Jugendzeit. Jonathan Swift (1726): Gullivers Reisen. Pierre Teilhard de Chardin (1959): Der Mensch im Kosmos. Thomas von Aquin: Wesen und Ausstattung des Menschen. Paul Watzlawick (1981): Die erfundene Wirklichkeit. Viktor von Weizäcker (1943): Der Gestaltkreis. Ken Wilber (1984): Halbzeit der Evolution.

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Gerald Hüther bei V&R

Gerald Hüther Wie aus Stress Gefühle werden Betrachtungen eines Hirnforschers

Photographien von Rolf Menge. 4. Auflage 2012. 76 Seiten, mit 26 Farbfotos und 2 s/w Fotos, gebunden ISBN 978-3-525-45838-9

Gerald Hüther lädt ein zur Besinnung, zum Innehalten und zur Einstimmung in eine neue Gedankenwelt. Die Kernaussagen seines erfolgreichen Buches Biologie der Angst und die ruhige Art seiner Argumentation werden in diesem Band zusammengeführt mit meisterhaften Fotografien.

Gerald Hüther Die Evolution der Liebe Was Darwin bereits ahnte und die Darwinisten nicht wahrhaben wollen

7. Auflage 2012. 104 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-01452-3

Falls es der Wissenschaft vom Leben gelingt, ihre analytische, zerspaltene Denkweise durch eine Gesamtschau zu ersetzen, könnte aus dem Prinzip der Konkurrenz eine Biologie der Liebe werden.

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Gerald Hüther bei V&R

Gerald Hüther Männer – Das schwache Geschlecht und sein Gehirn 2009. 142 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-40420-1

Wie wird ein Mann ein Mann? Wie wird aus dem, was ein Mann werden könnte, schließlich das, wofür sich der Betreffende aufgrund seines Geschlechts hält? Auf diese Frage gibt Gerald Hüther tiefgründige und inspirierende Antworten. Das menschliche Gehirn ist weitaus formbarer als bisher gedacht. Nervenzellen verknüpfen sich so, wie man sie benutzt. Das gilt vor allem für das, was man mit besonderer Intensität tut. Da sich kleine Jungs, halbstarke Jugendliche und dann auch die erwachsenen Vertreter des männlichen Geschlechts für so ganz andere Dinge begeistern als Mädchen und Frauen, bekommen sie zwangsläufig auch ein anderes Gehirn. So geht es also in diesem Buch eigentlich gar nicht um die Schwächen der Männer, sondern vielmehr um deren Transformation auf dem Weg zur Mannwerdung unter Nutzung der in ihnen angelegten Potentiale – und darum, was das für ihr Gehirn bedeutet oder bedeuten könnte.

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516

Mit jedem Schritt achtsam bei dem sein, was ist

Friedrich D. Hinze Acht Schritte zur Achtsamkeit Ein Buch zum Tun und Lassen

2011. 158 Seiten mit 19 Abb. und 23 farbigen Karten, kartoniert in Schuber ISBN 978-3-525-40432-4

Das Buch ist mehr als ein Buch. Es besteht aus zwei Teilen: Einem Lesebuch und den »Einsichtskarten der Achtsamkeit«. Die alltagsnahe, handlungsorientierte und leicht verständliche Darstellung des Themas regt zum Weiterdenken an. Farbige Abbildungen erweitern den Blick. Vielseitige Übungen setzen achtsames Verhalten in Gang. Die Einsichtskarten vermitteln Einsichten, die zum Tun bewegen und zum Lassen raten. Mit den wegweisenden Karten in der Hand hat der Leser gute Aussichten, in acht Schritten zum achtsamen Umgang mit sich selbst und seinen Mitmenschen zu gelangen. »Das Buch steckt an: mit Freude, guter Laune und mit Zuversicht.« Norbert Copray, Publik-Forum

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525404515 — ISBN E-Book: 9783647404516