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German Pages 454 Year 2006
Schriften zum Völkerrecht Band 162
„Aut dedere – aut iudicare“ Herkunft, Rechtsgrundlagen und Inhalt des völkerrechtlichen Gebotes zur Strafverfolgung oder Auslieferung
Von
Christian Maierhöfer
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
CHRISTIAN MAIERHÖFER
„Aut dedere – aut iudicare“
Schriften zum Völkerrecht Band 162
„Aut dedere – aut iudicare“ Herkunft, Rechtsgrundlagen und Inhalt des völkerrechtlichen Gebotes zur Strafverfolgung oder Auslieferung
Von
Christian Maierhöfer
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Jahre 2005 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 3-428-11960-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Für Julienne und Myrian
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Oktober 2004 beendet und im Sommersemester 2005 von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Spätere Entwicklungen konnten nur noch vereinzelt berücksichtigt werden. So war es zwar noch möglich, die am 15. April 2005 abgeschlossene International Convention on the Suppression of Nuclear Terrorism sowie die Council of Europe Convention on the Prevention of Terrorism vom 16.5.2005 einzuarbeiten, die Nachweise aus Literatur und Rechtsprechung befinden sich aber überwiegend auf dem Stand von Herbst 2004. Einer Reihe von Personen gebührt mein Dank, da die Arbeit ohne sie nicht entstanden wäre. An erster Stelle möchte ich meinen verehrten Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Christian Hillgruber nennen, der die Arbeit mit großem Interesse betreut hat und immer für ein anregendes Gespräch zur Verfügung stand. Ebenso möchte ich Herrn Prof. Dr. Matthias Jestaedt danken, der mir in meinen beiden Erlanger Jahren „Asyl“ an seinem Lehrstuhl angeboten hat. Dort war für mich immer ein Ort, an dem ich frei meinen völkerrechtlichen Forschungsinteressen nachgehen und mein Verständnis des Rechts und der Rechtswissenschaft vertiefen konnte. Herrn Prof. Dr. Matthias Herdegen danke ich schließlich für die zügige Erstattung des Zweitgutachtens. Ferner möchte ich der Studienstiftung des Deutschen Volkes danken, ohne deren großzügige finanzielle Unterstützung diese Arbeit wahrscheinlich nie das Licht der Welt erblickt hätte. Weiter bin ich allen Kollegen an den Lehrstühlen in Bonn und Erlangen dafür zu Dank verpflichtet, dass sie immer für Diskussionen über allerlei Ideen und Gedanken zur Verfügung standen. Für das Korrekturlesen des nicht gerade dünnen Manuskripts möchte ich meinem ehemaligen Kommilitonen, Herrn Rechtsanwalt Dr. Michael Bast herzlich danken, für die kritische Durchsicht des historischen Kapitels ferner Herrn Studienassessor Timo Schuh. Zuletzt sollen aber diejenigen genannt werden, denen das größte Verdienst zukommt. Da sind zum einen meine Eltern, die mich von Anfang an ermuntert haben, mein Promotionsprojekt zu beginnen und zum Abschluss zu bringen. Vor allem aber meine Frau, Myrian Dietrich, und meine Toch-
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Vorwort
ter, Julienne Clara Maierhöfer – die zur „Halbzeit“ dieser Arbeit zu uns stieß: Ohne Eure Liebe und Aufmunterung, ohne Eure Bereitschaft, diverse Wochenenden ohne Ehemann und Papa zu verbringen, vor allem aber, Myrian, ohne Deine kritischen Anmerkungen und Deine Offenheit für völkerrechtliche Diskussionen, würde diese Arbeit sicherlich heute nicht vor dem Leser liegen. Euch möchte ich sie deshalb widmen. Bonn, im August 2005
Christian Maierhöfer
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Kapitel Die Funktionen des Satzes „aut dedere – aut iudicare“
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A. Die Abschaffung sicherer Zufluchtsorte für den Täter . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Die Ausdehnung der staatlichen Strafgewalt auf Auslandssachverhalte . I. Setzt das Völkerrecht dem Erlass von auf Auslandstaten anwendbaren Strafgesetzen Grenzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Erfordernis eines „genuine link“ in Literatur und Staatenpraxis 2. Die Rechtsprechung des IGH und des StIGH zur extraterritorialen Geltung von Strafrechtsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die allgemein anerkannten Prinzipien des internationalen Strafrechts. . 1. Das Territorialprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Flaggenprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das passive Personalprinzip und das Schutzprinzip . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das aktive Personalprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Das Weltrechtsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die Sonderstellung des Weltrechtsprinzips und der stellvertretenden Strafrechtspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Zuordnung des völkerrechtlichen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes zu den Prinzipien des internationalen Strafrechts. . . . . . . . 1. Das Territorialprinzip, das Flaggenprinzip, das Schutzprinzip und das passive Personalprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das aktive Personalprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Stellvertretende Strafrechtspflege und Weltrechtsprinzip . . . . . . . . . . IV. Die Rechtfertigung der Ausdehnung des nationalen Strafrechts auf Auslandstaten als Inhalt des Satzes „aut dedere – aut iudicare“ . . . . . . V. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Die Berechtigung zur Verweigerung der Auslieferung. . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Resümee: die Funktionen des „aut dedere – aut iudicare“ . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis 2. Kapitel Die historische Entwicklung des völkerrechtlichen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes
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A. Die Herkunft des Terminus „aut dedere – aut iudicare“ . . . . . . . . . . . . . . . . 54 B. Auslieferung und Asylrecht in der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 C. Grenzüberschreitende Strafverfolgung und christliches Gerechtigkeitsempfinden im mittelalterlichen Abendland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Grundlage materiellen Gerechtigkeitsdenkens: die christlichabendländische Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Weltweite Strafverfolgung als Verteidigung universeller Werte . . . . . 2. Die Einheit des christlichen Abendlandes und ihre Auswirkungen auf das mittelalterliche (Straf-)Rechtsdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Umsetzung des materiellen Gerechtigkeitsgedankens: Lückenlose Sühnung des Bösen als Aufgabe des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auslieferung als Instrument lückenloser Strafverfolgung. . . . . . . . . . . 2. Die Multiplikation der Gerichtsstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Gerichtsstandslehre des Accursius (1185–1263) . . . . . . . . . . . b) Die Gerichtsstandslehre des Bartolus de Sassoferato (1314–1357). III. Baldus de Ubaldis: die Verknüpfung von Auslieferung und Gerichtsstandslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Die wissenschaftliche Diskussion um ein allgemein gültiges „aut dedere – aut punire“ im 16. bis 18. Jahrhundert und ihre praktischen Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Befürworter eines allgemein gültigen völkerrechtlichen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Covarruvias y Leyva (1512–1577) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ayrault (1536–1601) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bodin (1529/30–1596) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gentili (1552–1608) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Grotius (1583–1645) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die „nachgrotianischen“ Befürworter eines „aut dedere – aut iudicare“ bis Vattel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Vattel (1714–1767) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. La Maillardière . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Gegner eines allgemein gültigen völkerrechtlichen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Pufendorf (1632–1694) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wolff (1679–1754). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Lehren Beccarias (1738–1794) vor dem Hintergrund der französischen Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Martens (1756–1821) und Moser (1701–1785) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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63 63 63 66 68 71 72 78 80 84 85 85 89 92 94
Inhaltsverzeichnis
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III. Die praktischen Auswirkungen der wissenschaftlichen Diskussion . . . .
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E. Vertrags- und gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut punire“ im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Entstehung des modernen Auslieferungsrechts und ihre Bedeutung für das Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot in der Vertragsund übrigen Staatenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der historische Hintergrund des modernen Auslieferungsrechts . . . . 2. „Aut dedere – aut punire“ und die Nichtauslieferung eigener Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Weitere Fälle eines „aut dedere – aut punire“ in der Vertragspraxis 4. Jenseits der Verträge: ein gewohnheitsrechtliches Auslieferungsoder Strafverfolgungsgebot auf dem Prüfstand der Staatenpraxis. . . II. Die wissenschaftliche Diskussion um ein gewohnheitsrechtliches „Auslieferungsgebot“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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F. Sonderfall Deutschland: Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebote im Heiligen Römischen Reich und im Deutschen Bund. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 I. Die Rechtslage im Heiligen Römischen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 II. Die Zusammenarbeit der Staaten des Deutschen Bundes in der Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 G. Exkurs: völkerrechtliche Besonderheiten von Piraterie und Sklavenhandel und ihre Abgrenzung zum „aut dedere – aut iudicare“ . . . . . . . . . . 113 I. Der Pirat: der älteste hostis humani generis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 II. Sklavenhandel: Gegenstand eines „aut dedere – aut iudicare“? . . . . . . 115 H. Kriegsverbrecher, Geldfälscher, Drogenhändler und Terroristen: die Zwischenkriegszeit (1918–1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Bemühungen zur Verfolgung deutscher Kriegsverbrecher nach 1918: Ein Anwendungsfall des „aut dedere – aut iudicare“? . . . . . . . . . 1. Die Versuche zur Bestrafung Kaiser Wilhelms II. . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Verfahren gegen weitere deutsche Kriegsverbrecher . . . . . . . . . . II. Falsche Francs, Drogen und ein toter König: der Durchbruch des „aut dedere – aut iudicare“ in Verträgen über „internationale Straftaten“ . . 1. Das Internationale Abkommen zur Bekämpfung der Falschmünzerei 2. Das Drogenhandelübereinkommen von 1936. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Abkommen zur Verhütung und Bestrafung des Terrorismus . . .
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3. Kapitel Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“ A. Vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Kampf gegen den Terrorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Terrorismus“ – Was ist Gegenstand der Untersuchung? . . . . . . . . . . 2. Der Schutz der Zivilluftfahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis a) Die Konvention von Tokio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Haager Übereinkommen gegen Flugzeugentführungen von 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Montrealer Konvention von 1971 und ihr Zusatzprotokoll von 1988 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Verfolgung von Angriffen gegen völkerrechtlich geschützte Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die OAS-Diplomatenschutzkonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die UN-Diplomatenschutzkonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die UN-Personalsicherheitskonvention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Bekämpfung der Geiselnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Schutz vor den Gefahren des Nuklearterrorismus . . . . . . . . . . . . . 6. Der Schutz der Seefahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die Bekämpfung von Sprengstoffattentaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Die Bekämpfung der Finanziers des Terrors. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Regionale Verträge zur Bekämpfung des Terrorismus auf breiterer Front . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Europäische Antiterrorkonvention und die Europäische Terrorismusvorbeugungskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Antiterrorkonvention der SAARC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Antiterrorkonventionen der OIC und der Arabischen Liga . . d) Die Afrikanische Antiterrorkonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Kampf gegen Völkermord, Kriegsverbrechen und andere schwere Menschenrechtsverstöße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kriegsverbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Genfer Konventionen vom 12. August 1949. . . . . . . . . . . . . . . b) Die Abkommen gegen das Söldnerwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Schutz von Kulturgütern in bewaffneten Konflikten . . . . . . . 2. Völkermord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Folter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwangsweises Verschwindenlassen von Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Bekämpfung der organisierten und sonstigen „gewöhnlichen“ Schwerkriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Bekämpfung des Drogenhandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Bekämpfung der Geldfälschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Versuch einer Bekämpfung der transnationalen organisierten Kriminalität insgesamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Bekämpfung der Korruption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Bekämpfung der „Cyberkriminalität“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Kodifizierung und Weiterentwicklung des Rechts der klassischen universellen Verbrechen Sklaven- und Menschenhandel sowie Piraterie 1. Piraterie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Sklaven- und Menschenhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
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V. „Aut dedere – aut iudicare“ in Auslieferungsverträgen . . . . . . . . . . . . . . 182 VI. Weltgemeinschaft oder bloßes „do ut des“: Motive vertraglicher Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten . . I. Die Staatenpraxis und Rechtsüberzeugung seit 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kriegsverbrechen, Völkermord und weitere schwere Menschenrechtsverstöße. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kriegsverbrechen in internen Konflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Innerstaatliche Gerichtsentscheidungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Dänemark: Saric . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Frankreich: Javor und Wenceslas Munyeshyaka . . . . . . (3) Niederlande: Knesevic . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Schweiz: Grabec und Niyonteze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Belgien: Ntezimana, Higaniro, Mukangango und Mukabutera. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (7) Die Verfolgung von Bürgerkriegsverbrechern durch Zufluchtsstaaten auf dem Balkan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (8) Kamerun: Bagosora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (9) Nigeria und Ghana: Taylor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (10) USA: das Zivilverfahren S. Kadic v. Radovan Karadzic (11) Weitere einschlägige Verfahren: Ungarn und Chile . . . bb) Sonstige Staatenpraxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) UN-Resolutionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Schaffung der internationalen Strafgerichtsbarkeit (3) Weitere Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Entscheidungen internationaler Gerichte und die völkerrechtliche Literatur als „Hilfsmittel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Rechtsprechung des ICTY . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die völkerrechtliche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Völkermord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Innerstaatliche Gerichtsentscheidungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Israel: Eichmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) USA: Demjanjuk v. Petrovsky; S. Kadic v. Radovan Karadzic . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Österreich: Cvjetkovic . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Frankreich: Javor und Wenceslas Munyeshyaka . . . . . . (6) Schweiz: Niyonteze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (7) Kanada: Mugesera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (8) Indien: Karakira . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (9) Kamerun: Bagosora; Fall der 19 bzw. 8 Ruander. . . . .
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Inhaltsverzeichnis (10) Belgien: Ntezimana, Higaniro, Mukangango und Mukabutera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (11) Australische und spanische obiter dicta zu einem „aut dedere – aut iudicare“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sonstige Staatenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) UN-Resolutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Schaffung der internationalen Strafgerichtsbarkeit (3) Weitere Erklärungen von Staaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Resümee. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Entscheidungen internationaler Gerichte und die völkerrechtliche Literatur als „Hilfsmittel“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Rechtsprechung des IGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die völkerrechtliche Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Schwere Menschenrechtsverstöße außerhalb bewaffneter Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Innerstaatliche Gerichtsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Letelier-Mörder Townley, Larios, Contreras und Espinoza. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Pinochet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Habré . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Cavallo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Einige weitere „Menschenrechtsverbrecher“, denen ihr Zufluchtsstaat bislang sichere Zuflucht einräumt . . . . . . . . . . cc) Das US-Zivilverfahren Filartiga v. Pena-Irala . . . . . . . . . . . . . dd) UN-Resolutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Resümee. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Die internationale Rechtsprechung (mit Ausnahme der internationalen Menschenrechtsgerichtsbarkeit) und völkerrechtliche Literatur als Hilfsmittel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Exkurs: Bestrafungspflichten aus den Menschenrechten? . . . 2. Terrorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Staatenpraxis von 1945 bis zum 11. September 2001 . . . . . . . . . . aa) Palästinensische Täter: Terroristen oder Freiheitskämpfer? . (1) Gewalttaten auf Flughäfen vor dem Zusatzprotokoll von 1988 zur Montrealer Konvention: die Attentäter von Rom (1973) in Kuwait . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Geiselnahme vor der UN-Geiselnahmekonvention: der Fall Abu Daud. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Bomben in Israel: „Terrorismus“ oder „Freiheitskampf“? – der Fall Abu Eain . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Die Achille Lauro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Das Verhalten Griechenlands gegenüber palästinensischen Terroristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Europäische Separatisten im Ausland: PIRA, ETA und PKK
235 235 236 236 237 238 239 240 240 243 244 245 246 248 249 251 252 254 255 256
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Inhaltsverzeichnis (1) Die Probleme der USA im Umgang mit Mitgliedern der PIRA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Belgien, Spanien und zwei ETA-Unterstützer: der Fall Garcia-Moreno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Der Fall Öcalan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Europäische Linksterroristen im Ausland: RAF und Rote Brigaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Ex-RAF-Mitglieder in der DDR und die Völkerrechtsauffassung beider deutscher Staaten . . . . . . . . . . . (2) Zuflucht für italienische Linksterroristen in Frankreich dd) Der islamistische Terrorismus: das Nachspiel der Bombenanschläge von Nairobi und Dar es Salam. . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Sonderfall Flugzeugentführungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) UN-Resolutionen und andere Erklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Auswirkungen des 11. Septembers 2001. . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Bemühungen um die Auslieferung bin Ladens . . . . . . . . bb) Allgemein gegen den Terrorismus gerichtete Erklärungen von Staaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die weitere Staatenpraxis bei der Auslieferung oder Strafverfolgung von Terroristen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die „aut dedere – aut iudicare“-Übereinkommen als Beweis für Gewohnheitsrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die internationale Rechtsprechung und völkerrechtliche Literatur als „Hilfsmittel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit des Zufluchtsstaates für die Tat als Grundlage eines „aut dedere – aut iudicare“? . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Unterlassung von Auslieferung bzw. Strafverfolgung als eigenständiger Zurechnungsgrund. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Pflicht zur Auslieferung oder Strafverfolgung als Rechtsfolge einer bereits aus anderem Grund dem Zufluchtsstaat zuzurechnenden Rechtsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Ableitung eines „aut dedere – aut iudicare“ direkt aus dem Gedanken einer „Weltgemeinschaft“ und ihren Grundwerten . . . . . . . . . 1. Das „civitas maxima“-Argument in der Literatur zum Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der größere Zusammenhang: die Ablösung der Prinzipien von Souveränität und Staatenkonsens in der neueren völkerrechtlichen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Verteidigung der klassischen Konzeption des Völkerrechts . . . . a) Das Bestimmtheits- und Rechtssicherheitsdefizit . . . . . . . . . . . . . . b) Das Legitimitätsdefizit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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270 272 273 274 274 275 276 276 280 286 287 287 289 292 296 298 299 300 301 301
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Inhaltsverzeichnis c) Das sich verschärfende Effizienzdefizit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Entzauberung des ius cogens-Arguments: vom Fehlen einer Normenkollision. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Der rechte Platz des Weltgemeinschaftsgedankens: die rechtspolitische Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Resümee und Einordnung gewohnheitsrechtlicher Vorschriften in Bezug auf das Strafrechtsanwendungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
C. Sicherheitsratsbeschlüsse nach Kapitel VII UN-Charta als Grundlage für ein „aut dedere – aut iudicare“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die völkerrechtsgemäße Nichtauslieferung und Nichtverfolgung eines Straftäters als Friedensgefahr im Sinne des Artikel 39 UN-Charta . . . . . II. Die Anordnung einer Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflicht als Maßnahme nach Artikel 41 UN-Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
316 317 319 320 322 322 329 335
4. Kapitel Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“ A. Der Eingang eines Auslieferungsersuchens als Voraussetzung des „iudicare“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verträge, die nach ihrem Wortlaut eindeutig den Eingang eines Auslieferungsersuchens zur Voraussetzung des „aut dedere – aut iudicare“ machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Haager Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Meinungstand in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Entstehungsgeschichte der Abkommen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Gerichtspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Theoretische Erklärungen und Begründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Prinzipien des internationalen Strafrechts und die unterschiedlichen Varianten des „aut dedere – aut iudicare“ . . . . . . . . . b) Theoretische Erklärungsmuster für die Verwendung von Weltrechtsprinzip und stellvertretender Strafrechtspflege. . . . . . . . . . . . c) Grenzen einer an Zielen und Motiven der Vertragsparteien orientierten Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Genfer Konventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die „Convention for the Suppression of the Traffic in Persons and of the Exploitation of the Prostitution of Others“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Gewohnheitsrechtliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen . . . . . . . B. Das Verhältnis zwischen „dedere“ und „iudicare“: Freie Wahl des Zufluchtsstaates oder Vorrang der Auslieferung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Meinungstand in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Kernpunkt: die Existenz einer Auslieferungspflicht . . . . . . . . . . . . . .
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337 338 338 340 341 342 342 346 348 349 350 351 352 352 353 354
Inhaltsverzeichnis
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Das Haager Modell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Genfer Konventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Europ. Antiterrorkonvention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . OAS-Diplomatenschutzkonvention; OAS-Folterkonvention; Afrikanische Antisöldnerkonvention; SAARC-Antiterrorkonvention; Convention for the Suppression of the Traffic in Persons; das Fakultativprotokoll betreffend Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie; die Verträge gegen organisierte Kriminalität, Drogenhandel, Korruption und Cyberkriminaliät; die Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Antiterrorkonventionen der Arabischen Liga und der OIC. . . . . 6. Die Auslieferungsverträge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Gewohnheitsrechtliche „aut dedere – aut iudicare“-Pflichten . . . . . IV. Die Relativität der gewonnenen Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Der Staat als Richter über sich selbst? Strafverfolgung in einem für die Straftat völkerrechtlich verantwortlichen Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
354 357 358
C. Was bedeutet „iudicare“? – Zum Inhalt des „Strafverfolgungsgebotes“ . I. Die Voruntersuchung und die Sicherung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Voruntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Sicherung der Anwesenheit des Verdächtigen . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Einschaltung der Strafverfolgungsbehörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Einstellung oder Anklageerhebung: die verfahrensabschließende Entscheidung der nationalen Strafverfolgungsbehörde. . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entscheidung unter dem Regime der Verträge, die „to submit the case to its competent authorities for the purpose of prosecution“ mit einer Pflicht der Strafverfolgungsbehörde „to take [its] decision in the same manner as in the case of any [in einigen Verträgen: ordinary] offence of a serious nature under the law of that State“ kombinieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sonderproblem Opportunitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Entscheidung unter dem Regime der Verträge, die von einer Strafverfolgung „if appropriate“ sprechen oder die zu 1. genannte Formulierung nicht mit einem „national treatment standard nach Haager Art“ verbinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Entscheidung unter dem Regime strikter formulierter Verträge. 4. Der „national treatment standard nach Haager Art“ als Ausdruck des allgemeinen Grundsatzes von Treu und Glauben? . . . . . . . . . . . . IV. Die Rechte des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ein eventuelles Urteil und sein Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die „Sicherung“ des „iudicare“: Informationspflichten, Streitbeilegung und Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Der Inhalt des gewohnheitsrechtlichen „iudicare“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
372 373 373 374 376
1. 2. 3. 4.
359 360 360 361 361 363 363
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385 386 387 391 393 395 398
18
Inhaltsverzeichnis 5. Kapitel Das Verhältnis des „aut dedere – aut iudicare“ zur Internationalen Strafgerichtsbarkeit
399
A. Überschneidungen von „aut dedere – aut iudicare“-Pflichten und internationaler Strafgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 B. Die Pflicht zur Überstellung an ein internationales Strafgericht und das Recht des Zufluchtstaates auf Ausübung seiner eigenen Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 I. Das Verhältnis zur Überstellung an die beiden ad-hoc-Tribunale . . . . . . 402 II. Das Verhältnis zur Überstellung an den ICC. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 C. Die das I. II.
Pflicht zur Überstellung an ein internationales Strafgericht und Recht des Zufluchtsstaates zur Auslieferung an einen Drittstaat . . . . Das Verhältnis zur Überstellung an die beiden ad-hoc-Tribunale . . . . . . Das Verhältnis zur Überstellung an den ICC. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auslieferung an einen Mitgliedstaat des Statuts von Rom . . . . . . . . . 2. Auslieferung an einen Nichtmitgliedstaat des Statuts von Rom. . . . .
404 404 404 404 405
D. Resümee und kurzer rechtspolitischer Ausblick auf die Zukunft des „aut dedere – aut iudicare“ neben der internationalen Strafgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 Schluss: „aut dedere – aut iudicare“ – ein Überblick über Herkunft, Grundlagen, Inhalte und Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Verzeichnis häufig zitierter Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450
Abkürzungsverzeichnis a. A. a. a. O. Abl. Abs. AdG a. E. a. F. Af. Ch. MR AFDI AFP afrik. ähnl. AILC AJIL ALL ER allg. amerik. AMRK Am. ULR Anm. arab. Art. ASEAN Aufl. ausdr. ausf. austral. AV AVR BayObLG Bd. BFSP BGBl. BGH BGHSt BR
andere Ansicht am angegebenen Ort Amtsblatt Absatz Archiv der Gegenwart am Ende alte Fassung Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker Annuaire français du droit international Agence France Press afrikanisch ähnlich American International Law Cases American Journal of International Law All England Law Reports allgemein amerikanisch Amerikanische Menschenrechtskonvention American University Law Review Anmerkung arabisch Artikel Association of South-East Asian Nations Auflage ausdrücklich ausführlich australisch Auslieferungsvertrag Archiv des Völkerrechts Bayerisches Oberstes Landesgericht Band British and Foreign State Papers Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Bundesrepublik
20 brit. Bsp. bspw. BT-Drs. Bull. BVerfG BVerfGE BYBIL bzgl. bzw. Cap. CETS Chap. Col. J. of Transnat. Law CPM CTS dän. DDR decl. Def. d. h. diesbzgl. diff. DJZ DÖV DPA DRiZ dt. DVBl. ECOSOC Ed. EG EGMR ehem. EJIL EMRK engl. EPIL ETA etc. EU EuGRZ EurAuslÜbk
Abkürzungsverzeichnis britisch Beispiel beispielsweise Drucksachen des Deutschen Bundestages Bulletin Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts British Yearbook of International Law bezüglich beziehungsweise Caput Council of Europe Treaty Series Chapitre/Chapter Columbia Journal of Transnational Law Code Pénal Militaire (Schweiz) Consolidated Treaty Series (Hrsg. Parry) dänisch Deutsche Demokratische Republik declaration/déclaration Definition das heißt diesbezüglich differenzierend Deutsche Juristen Zeitung Die Öffentliche Verwaltung Deutsche Presse Agentur Deutsche Richterzeitung deutsch Deutsche Verwaltungsblätter Economic and Social Council Editor(s)/Éditeur(s) Europäische Gemeinschaft(en) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte ehemalig European Journal of International Law Europäische Menschenrechtskonvention englisch Encyclopedia of Public International Law Euzkadi Ta Azkatasuna (Das Baskenland und seine Freiheit) et cetera Europäische Union Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europäisches Auslieferungsübereinkommen
Abkürzungsverzeichnis
21
Eur. J. Crime, Crim. L. & Crim. Just. European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice europ. europäisch EUV Vertrag über die Europäische Union f. Folgende FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung FBI Federal Bureau of Investigation FCA Federal Court of Appeal Decisions & Judgments (Kanada) ff. Folgende Fn. Fußnote franz. französisch FS Festschrift GA-Res. General Assembly Resolution GASP Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik GG Grundgesetz GIA Groupes Islamiques Armés GK I Genfer Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Streitkräfte im Felde GK II Genfer Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der Streitkräfte zur See GK III Genfer Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen GK IV Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten GLJ German Law Journal GYBIL German Yearbook of International Law Hk-EMRK EMRK-Handkommentar h. M. herrschende Meinung Hrsg. Herausgeber Hs. Halbsatz IAGMR Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte ICAO International Civil Aviation Organization ICC International Criminal Court ICJ Rep. International Court of Justice, Report of Judgements, Advisory Opinions and Orders ICLQ International and Comparative Law Quarterly ICRC International Committee of the Red Cross ICTR International Criminal Tribunal for Rwanda ICTY International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia IGH Internationaler Gerichtshof ILA International Law Association ILC International Law Commission ILM International Legal Materials ILR International Law Reports ind. indisch
22
Abkürzungsverzeichnis
insbes. insbesondere int. international Int. Aff. International Affairs IPbpR Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte i. S. d. im Sinne des/der israel. israelisch ISYHR Israel Yearbook on Human Rights i. V. m. in Verbindung mit JBl. Juristische Blätter JDI Journal du droit international Jhd. Jahrhundert JR Juristische Rundschau JZ Juristenzeitung Kap. Kapitel KK Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung Konv. Konvention Krim. Kriminalität krim. kriminell krit. kritisch lat. lateinisch Lib. Liber Lit. Literatur Liv. Livre LNTS League of Nations Treaty Series lt. laut McGill L. J. Mc Gill Law Journal MfS Ministerium für Staatssicherheit (DDR) Mich. J. of Int.’l L. Michigan Journal of International Law MJ Maastricht Journal of European and Comparative Law MRA Menschenrechtsausschuss (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte) m. V. a. mit Verweis auf m. w. N. mit weiteren Nachweisen n. F. neue Fassung NGO Non-governmental Organization NILR Netherlands International Law Review NJW Neue Juristische Wochenschrift Nr. Nummer NStZ Neue Zeitschrift für Strafrecht NYIL Netherlands Yearbook of International Law NZZ Neue Züricher Zeitung OAS Organization of American States OAU Organization of African Unity OECD Organization for Economic Co-operation and Development
Abkürzungsverzeichnis OGH OIC ÖJZ op. diss. op. ind. org. öster. PIRA PKK PLO polit. preuß. Q. B. Q. B. D. RAF RBDI RdC RdPC Rec. Res. Rev. Rev. de sc. crim. et de dr. pén. comp. RGBl. RGDIP RICR RIDP Rn. Rspr. S. s. SAARC schweiz. sep. op. s. o. sowjet. Sp. span. Stan. J. Int’l. L. StGB StIGH StPO Suppl.
Oberster Gerichtshof Organization of the Islamic Conference Österreichische Juristenzeitung opinion dissidente opinion individuelle organisiert österreichisch Provisional Irish Republican Army Kurdische Arbeiterpartei Palestine Liberation Organization politisch preußisch Queen’s Bench Quenn’s Bench Division Rote Armee Fraktion Revue Belge de Droit International Receuil des Cours de l’Académie de droit international de la Haye Revue de Droit Pénal et de Criminologie Receuil Resolution Revue/Review Revue de science criminelle et de droit pénal comparé Reichsgesetzblatt Revue générale de droit international public Revue internationale de la Croix-Rouge Revue Internationale de Droit Pénal Randnummer Rechtsprechung Seite/Satz siehe South Asian Association for Regional Cooperation schweizerisch separate opinion siehe oben sowjetisch Spalte spanisch Stanford Journal of International Law Strafgesetzbuch Ständiger Internationaler Gerichtshof Strafprozessordnung Supplement
23
24 SZ taz TICLJ Tit. türk. TWA u. a. UCLR UK UN ungar. UNTS US USA v. a. Va. J. Int. Law v. Chr. vgl. VN Vol. VStGB VV WKRK WVRK YBILC ZaöRV z. B. Ziff. ZÖR ZP. ZRP ZStW z. T. ZVölkR
Abkürzungsverzeichnis Süddeutsche Zeitung Tageszeitung Temple International and Comparative Law Journal Title/Titulus/Titre/Titel türkisch Trans World Airways und andere University of Colorado Law Review United Kingdom United Nations ungarisch United Nations Treaty Series United States United States of America vor allem Virginia Journal of International Law vor Christi Geburt vergleiche Vereinte Nationen (Zeitschrift) Volume Völkerstrafgesetzbuch Versailler Vertrag Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge Yearbook of the International Law Commission Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Ziffer Zeitschrift für Öffentliches Recht Zusatzprotokoll Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zum Teil Zeitschrift für Völkerrecht
Hinweis zur Zitierweise völkerrechtlicher Verträge Bei häufig zitierten völkerrechtlichen Verträgen wurde in den Fußnoten größtenteils auf den Nachweis der Fundstelle und des vollständigen Titels verzichtet. Vollständiger Titel, Datum und Ort des Vertragsschlusses sowie die Fundstelle sind am Ende der Arbeit in einem „Verzeichnis häufig zitierter Verträge“ aufgeführt
Einleitung Das Schlagwort „aut dedere – aut iudicare“ beziehungsweise seine Varianten „aut dedere – aut punire“ oder „aut dedere – aut prosequi“1 werden in Literatur und Rechtsprechung sehr häufig verwendet, meist ohne dass damit eine eingehende Reflektion über ihren Inhalt und ihre Bedeutung einherginge. Mehr als das, was sich aus diesen vier Worten schon unmittelbar ergibt, lässt sich so kaum feststellen: Irgendwie geht es bei dieser Maxime um die Auslieferung oder Verfolgung von Straftätern. In welchen Konstellationen aber greifen diese Pflichten ein? Enthält der Satz „aut dedere – aut iudicare“ noch weitere Aussagen? Wo liegen – abgesehen von einer immer wieder zitierten Stelle aus Grotius’ De iure belli ac pacis2 – seine historischen Wurzeln? Aus welchen Rechtsquellen ergibt sich im heutigen Völkerrecht hinsichtlich welcher Straftaten eine Pflicht zum „aut dedere – aut iudicare“? Was ist eigentlich mit „iudicare“ gemeint – einem Begriff, der im Gegensatz zu der mit dem „dedere“ umschriebenen Auslieferung keine klaren rechtlichen Konturen hat? Und schließlich: Was hat das „aut dedere – aut iudicare“ mit der heute die völkerrechtliche Diskussion beherrschenden Internationalen Strafgerichtsbarkeit zu tun? All diesen Fragen will die vorliegende Untersuchung nachgehen. Ihr Gang ist durch das Fehlen umfangreicher Forschungen über den Aussagegehalt des Schlagwortes „aut dedere – aut iudicare“ vorgezeichnet. Deswegen sind im 1. Kapitel zunächst die grundlegenden Funktionen, die alle gemeinhin mit diesem Terminus bezeichneten Rechtsnormen erfüllen, herauszuarbeiten, um dadurch eine Art „Arbeitsdefinition“ des „aut dedere – aut iudicare“ zu gewinnen, auf deren Grundlage in späteren Kapiteln seine konkreten Ausprägungen in einzelnen Epochen oder Verträgen untersucht werden können. Das zweite Kapitel ist der geschichtlichen Entwicklung des „aut dedere – aut iudicare“ gewidmet, und zwar zunächst ganz kurz der des 1 Der Verfasser wird im Folgenden die heute gebräuchlichste Variante „aut dedere – aut iudicare“ oder deren deutsche Übersetzung „Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot“ verwenden; im historischen Kapitel auch andere, in der jeweils untersuchten Epoche übliche Termini. Eine „Vorentscheidung“ hinsichtlich bestimmter Rechtsfragen, die einen Teil der Wissenschaft diese, einen anderen Teil jene Formulierung vorziehen lassen (dazu näher unten 4. Kap., Fn. 146), soll damit nicht zum Ausdruck kommen. 2 Es handelt sich um die Stelle § IV, 1 u. 3 im XXI. Kapitel des 2. Buches; dazu ausführlich unten, 2. Kapitel D. 5.
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Terminus als solchem, dann ausführlicher derjenigen des mit ihm bezeichneten Rechtssatzes. Dieser rechtshistorischen Betrachtung schließen sich dann im dritten, vierten und fünften Kapitel Ausführungen zum heute gültigen Völkerrecht an. Zu Anfang soll dabei geklärt werden, aufgrund welcher Rechtsgrundlagen – Vertrags- und Gewohnheitsrecht – für welche Straftaten Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebote bestehen. Nicht berücksichtigt werden dabei allerdings die Pflichten zur Verfolgung beziehungsweise zwischenstaatlichen Überstellung von Straftätern, die sich für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aus dem Gemeinschaftsrecht und den Rechtsakten der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen ergeben.3 Die Unterschiede zu den klassischen völkerrechtlichen Verfahren der Kooperation in Strafsachen sind hier inzwischen so groß geworden4, dass sich diese Vorschriften nur schwer in das „große“ Bild der allgemeinen Völkerrechtslage einfügen lassen würden. Im Anschluss an die Vorstellung der einschlägigen Rechtsgrundlagen werden dann im vierten Kapitel einige besonders umstrittene Fragen untersucht, die alle den Begriff des „iudicare“ betreffen. Muss das „iudicare“ nur durchgeführt werden, wenn ein anderer Staat ein Auslieferungsersuchen gestellt hat, oder auch aus eigener Initiative des Zufluchtsstaates? Kann der Zufluchtsstaat frei zwischen „dedere“ und „iudicare“ wählen, oder ist eine dieser beiden Möglichkeiten vorrangig? Welches Pflichtenbündel wird mit „iudicare“ eigentlich genau umschrieben? Dagegen können Inhalt und Grenzen des „dedere“ außer Acht gelassen werden. Dieser Terminus verweist auf das wissenschaftlich schon in anderen Zusammenhängen hinreichend untersuchte Rechtsinstitut der Auslieferung; die dort gewonnenen Forschungsergebnisse – beispielsweise hinsichtlich der menschenrechtlichen Grenzen der Auslieferung – sind ohne Einschränkung auch auf Auslieferungen im Rahmen eines „aut dedere – aut iudicare“ übertragbar.5 Ist beispielsweise eine Auslieferung wegen im „Zielstaat“ drohen3 Vgl. bspw. Art. 9 III Rahmenbeschluss des Rates vom 13.06.2002 zur Terrorismusbekämpfung (Abl. EG L 164/3). 4 Bereits das Übereinkommen über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 27.09.1996 (BGBl. 1998 II 2254) hatte das Ziel, die Auslieferungsregelungen innerhalb der EU im Vergleich zu dem international sonst Üblichen erheblich zu verändern. Der durch einen Rahmenbeschluss im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen nach Art. 34 II b) EUV eingeführte Europäische Haftbefehl (Abl. EG L 190/1) – der das vorgenannte Übereinkommen schon vor Inkraftreten wieder hinfällig machte – hat schließlich im Binnenverhältnis der EU-Mitgliedstaaten die Auslieferung als Instrument zur Rückführung flüchtiger Straftäter völlig abgeschafft und durch einen neuartigen Mechanismus sui generis ersetzt (vgl. Ziff. 5 und 11 der Präambel; dazu näher Laugier-Deslandes, AFDI 2002, S. 695 ff.). 5 Als Lit. sind hier insbes. die beiden großen englischsprachigen Lehrbücher zum Auslieferungsrecht von Geoff Gilbert, Transnational Fugitive Offenders in International Law – Extradition and other Mechanisms (The Hague, Boston, London 1998)
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der Folter aus menschenrechtlicher Sicht unzulässig, ergeben sich auf der Seite des „dedere“ keine Besonderheiten: die Auslieferung hat zu unterbleiben.6 Der einzige Unterschied zum „normalen“ Auslieferungsrecht ist, dass im Anwendungsbereich des „aut dedere – aut iudicare“ das Scheitern der Auslieferung nicht das „Ende“ des Falles bedeutet, sondern der Zufluchtsstaat nun zum „iudicare“ zu greifen hat – womit wir wieder bei der Frage wären, was „iudicare“ eigentlich bedeutet – dem Thema des vierten Kapitels. Ein weiterer Punkt wäre dagegen im Rahmen des vierten Kapitels durchaus noch von Interesse: Trifft es zu, dass – wie das House of Lords in der dritten Pinochet-Entscheidung behauptete7 – im Anwendungsbereich eines „aut dedere – aut iudicare“ die strafrechtliche Immunität ehemaliger Staatsoberhäupter beseitigt ist? Dieses Problem kann hier leider dennoch nicht erörtert werden. Es würde eine derart eingehende Auseinandersetzung mit den völkerrechtlichen Immunitäten erfordern, dass es sich nicht mehr sinnvoll in ein dem „aut dedere – aut iudicare“ insgesamt gewidmetes Werk des vorliegenden Umfangs einordnen ließe. Der Verfasser hat jedoch schon an anderer Stelle Zweifel hinsichtlich der These der Lordrichter geäußert. Die Entstehungsgeschichte der UN-Folterkonvention, um die es im Pinochet-Fall ging, enthält Hinweise darauf, dass die Staaten mit dem „aut dedere – aut iudicare“ keineswegs einen impliziten Immunitätsverzicht verbunden haben.8 Das fünfte und letzte Kapitel soll schließlich kurz erläutern, wo sich Überschneidungen zwischen „aut dedere – aut iudicare“-Regeln und der Gerichtsbarkeit der internationalen Strafgerichte ergeben und wie daraus eventuell entstehende Pflichtenkollisionen zu lösen sind. und (schon etwas älter) Ivan A. Shearer, Aspects of Extradition Law (Manchester 1971) zu empfehlen. Zum Einstieg eignen sich aber auch die Abschnitte zur Auslieferung, die fast alle größeren Lehrbücher des allgemeinen Völkerrechts enthalten (bspw. von Glahn, S. 220–255; Jennings/Watts, S. 948–972; Combacau/Sur, S. 360–362; Doehring, Rn. 904–926; Hailbronner, in: Graf Vitzthum, III Rn. 304– 313), bzgl. der menschenrechtlichen Grenzen der Auslieferung auch der Aufsatz von Dugard/van den Wyngaert, AJIL 92 (1998), S. 187 ff. 6 Seit Ende der 1970er Jahre geht die Tendenz dahin, solche auf humanitären Erwägungen beruhenden Auslieferungsschranken sogar ausdrücklich in „aut dedere – aut iudicare“-Verträgen vorzusehen (vgl. bspw. Art. 5 Europ. Antiterrorkonv. (der durch das noch nicht in Kraft getretene Zusatzprotokoll vom 15.05.2003, CETS No. 190 beträchtlich erweitert wird); Art. 21 Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention; Art. 9 UN-Geiselnahmekonvention; Art. 11 VI Schiffahrtssicherheitskonvention; Art. 12 Sprengstoffattentatekonvention; Art. 15 Terrorismusfinanzierungskonvention; Art. 16 Nuklearterrorismuskonvention). 7 Vgl. R v Bow Street Metropolitan Stipendiary Magistrate and others, ex parte Pinochet Urgate, [1999] 2 All ER, S. 97 (Lord Browne-Wilkinson, S. 114 f.; Lord Hope of Craighead, S. 148 ff.; Lord Hutton, S. 165; Lord Saville of Newdigate, S. 169 und Lord Phillips of Worth Matravers, S. 190). 8 Vgl. Maierhöfer, EuGRZ 2003, S. 545 (552) m. w. N.
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Ziel der Untersuchung ist zunächst einmal eine möglichst umfassende Darstellung existierender – und „Enttarnung“ angeblicher – „aut dedere – aut iudicare“-Vorschriften in ihren verschiedenen, im Detail höchst variantenreichen inhaltlichen Ausgestaltungen. Darüber hinaus sollen bislang weitgehend für einzelne Verträge oder Straftatbestände isoliert gedachte Gedanken in den Gesamtkontext des „aut dedere – aut iudicare“ eingeordnet und durch diese Einbettung in das „größere Ganze“ fortentwickelt werden. Eine solche umfassende Betrachtung des „aut dedere – aut iudicare“ könnte zu mehr Klarheit über die völkerrechtlichen Instrumente beitragen, die jenseits der internationalen Strafgerichtsbarkeit zur Durchsetzung von globalem Recht und globaler Gerechtigkeit zur Verfügung stehen. Sie kann aber an vielen Stellen auch als Beispiel dienen, um einige häufig als Fortschritt gepriesene, grundsätzliche Konzepte der heutigen Völkerrechtswissenschaft kritisch zu hinterfragen.
1. Kapitel
Die Funktionen des Satzes „aut dedere – aut iudicare“ Vor einer vertieften Auseinandersetzung mit Herkunft, Rechtsgrundlagen und Inhalt der Maxime „aut dedere – aut iudicare“ sollen zunächst kurz ihre grundlegenden Funktionen und Merkmale herausgearbeitet werden.
A. Die Abschaffung sicherer Zufluchtsorte für den Täter Wie schon der Wortlaut zum Ausdruck bringt, gebietet das „aut dedere – aut iudicare“, eine Person, die einer bestimmten Straftat verdächtigt wird, entweder an einen anderen Staat auszuliefern oder selbst strafrechtlich zu verfolgen.1 Dabei geht es allerdings immer nur um solche Personen, die im Gebiet des betreffenden Staates anwesend sind. Die Einleitung von Strafverfahren gegen sich im Ausland aufhaltende Personen gebietet diese Maxime nicht.2 Dies ergibt sich nicht nur deutlich aus den Formulierungen einzelner vertraglicher „aut dedere – aut iudicare“-Klauseln,3 sondern vor allem auch aus dem durch dieses Schlagwort selbst hergestellten Zusammenhang zwischen Auslieferung und Strafverfolgung: Unter Auslieferung versteht man die aufgrund des Ersuchens eines anderen Staates erfolgende Überstellung einer Person durch den Staat, in dessen Gebiet sie sich befindet, an den ersuchenden Staat zum Zwecke der Aburteilung und/oder Bestrafung;4 ein Staat kann also per Definition nur solche Personen ausliefern, 1
Vgl. Jennings/Watts, S. 953; Bassiouni/Wise, S. 64. Vgl. neben Fn. 1 auch IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000 (République Démocratique du Congo c. Belgique), Urteil vom 14.02.2002, sep. op. Higgins, Kooijmans, Buergenthal, Ziff. 57; Weiß, JZ 2002, S. 696 (699); Reydams, in: Fischer/Kreß/Lüder, S. 799 (812 f.); ILC, Commentary on the Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, ILC Report 1996, Chapter II, Art. 9 Rn. 3. 3 Vgl. bspw. Art. 7 Haager Konvention: „The State Party in whose territory the alleged offender is present shall, if it does not extradite him, submit [. . .] the case to its competent authorities for the purpose of prosecution, [. . .]“ (Hervorhebung nicht im Original). 4 Vgl. statt aller Nguyen/Daillier/Pellet, Rn. 337, Jennings/Watts, S. 948; Weston/Falk/Charlesworth, S. 1111; Gilbert, S. 15; Shearer, S. 21; Stein, EPIL II, 2
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1. Kap.: Die Funktionen des Satzes „aut dedere – aut iudicare“
die sich in seinem Gebiet aufhalten. Da ein Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot aber nur in Situationen Sinn macht, in denen beide Möglichkeiten jedenfalls grundsätzlich in Betracht kommen, kann sich das „aut dedere – aut iudicare“ insgesamt nur auf im Zufluchtsstaat Anwesende beziehen. Welchem Zweck dient nun dieses Gebot zur Auslieferung oder Strafverfolgung? Das Ziel des „iudicare“, also einer Strafverfolgung im Zufluchtsstaat, liegt auf der Hand: Es wird ein Strafverfahren eingeleitet, das zur Bestrafung des Verdächtigen führt, falls sich dessen Schuld erweisen sollte. Aber auch mit dem „dedere“, also der Auslieferung, wird nichts anderes bezweckt. Auslieferung ist kein Selbstzweck, sondern will nur die Durchführung eines Strafverfahrens im ersuchenden Staat ermöglichen, die durch die Flucht des Täters in fremdes Staatsgebiet vorübergehend vereitelt wurde.5 Ob es also zum „dedere“, das die Strafverfolgung in einem anderen Staat ermöglicht, oder zum „iudicare“, der Strafverfolgung im Zufluchtsstaat, kommt: im Ergebnis gibt es im Anwendungsbereich des völkerrechtlichen Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebotes keinen sicheren Zufluchtsort für Kriminelle.6 Aus diesen Überlegungen ergibt sich eine weitere Präzisierung der Konstellation, auf die das „aut dedere – aut iudicare“ gemünzt ist. Es geht nicht – oder jedenfalls nicht in erster Linie – um einen Täter, der sich nach wie vor in dem Staat, in dem die Straftat begangen wurde, befindet, sondern um denjenigen, der sich inzwischen in einem anderen Staat aufhält. Zwar sind viele „aut dedere – aut iudicare“-Klauseln dem Wortlaut nach auch auf den Tatortstaat anwendbar,7 doch ihr eigentliches Ziel ist es nicht, dort die Strafverfolgung sicherzustellen. Dazu würde auch eine „einfache“ S. 327; Ipsen, in: ders., § 50 Rn. 8 (Hervorhebung nicht in den Originalen). Die Überstellung eines Verdächtigen an den ICC ist dagegen keine „Auslieferung“ im rechtlichen Sinn (vgl. Art. 102 ICC-Statut; Poutiers, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 934; ausf. Swart, in: Cassese/Gaeta/Jones, S. 1639 [1678 ff.]). 5 Vgl. von Glahn, S. 220; Bassiouni/Wise, S. 26. Dies ist der wesentliche Unterschied zwischen der Auslieferung einerseits und der Ausweisung oder Verweigerung der Einreise, die nur eine unerwünschte Person vom Territorium des Zufluchtsstaates fernhalten sollen, andererseits (vgl. Shearer, S. 19 f.). 6 Vgl. Plachta, MJ 1999, S. 331; Frestone, in: Higgins/Flory, S. 43 (50); Cheng, in: FS Schwarzenberger, S. 25 (34); Tomuschat, EuGRZ 2001, S. 535 (537); Schachor-Landau, ICLQ 1980, S. 274 (275); Lambert, Hostages, S. 190 f.; Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1004; ILC, YBILC 1972, II, S. 309 (312); ILC, Commentary on the Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, ILC Report 1996, Chapter II, Art. 9 Rn. 2; IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000, Urteil vom 14.02.2002, sep. op. Higgings, Kooijmans and Buergenthal, Ziff. 51; op. ind. Guillaume, Ziff. 9. 7 Vgl. nochmals den Text des Art. 7 Haager Konvention (oben Fn. 3), in dem nicht danach unterschieden wird, ob der Tatort inner- oder außerhalb des Staatsgebietes liegt.
A. Die Abschaffung sicherer Zufluchtsorte für den Täter
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Strafverfolgungsklausel genügen, die nicht auch noch zusätzlich eine ausdrückliche Auslieferungsoption enthält.8 Der Tatortstaat als der vorrangig von der Straftat betroffene Staat wird den Täter, wenn er ihn einmal ergriffen hat, äußerst selten anderen Staaten zur Strafverfolgung überlassen. Ihm neben dem „iudicare“ auch die Variante des „dedere“ einzuräumen, wäre mithin fast immer überflüssig. Das Ziel der Kombination von Strafverfolgungs- und Auslieferungsmöglichkeit ist ein anderes: die Sicherstellung grenzüberschreitender Strafverfolgung.9 Deshalb wird es im weiteren Verlauf dieser Untersuchung nur um solche Zufluchtsstaaten gehen, die nicht gleichzeitig auch Tatort der betreffenden Straftat waren. Nur in dieser Konstellation stellen sich die für das „aut dedere – aut iudicare“ spezifischen Probleme und Fragen. Somit lässt sich die erste Funktion des Satzes „aut dedere – aut iudicare“ folgendermaßen zusammenfassen: Indem er den Staat, in dem sich der Täter einer in einem anderen Staat begangenen Straftat nun aufhält, verpflichtet, diesen entweder auszuliefern oder selbst strafrechtlich zu verfolgen, verhindert er, dass ein Straftäter sich durch Flucht ins Ausland der Strafverfolgung entziehen kann.10 8 Bsp. für lediglich auf den Tatortstaat bezogene „einfache“ Strafverfolgungsklauseln sind etwa Art. VI der Biowaffenkonvention von 1972 (BGBl. 1983 II 132) („Each State Party to this Convention shall [. . .] prohibit [. . .] the development, production, stockpiling, acquisition [. . .] of [Biowaffen] within the territory of such State [. . .]“) oder Art. VII Abs. 1 der Chemiewaffenkonvention von 1993 (BGBl. 1994 II 806; ILM 32 (1993), S. 800 ff.) („Each State party [. . ..] shall: (a) Prohibit [. . .] persons anywhere on its territory or in any other place under its jurisdiction [. . .] from undertaking any activity prohibited [. . .] under this Convention, including enacting penal legislation with respect to such activity;“) (Hervorhebungen nicht in den Originalen). Auch einige „aut dedere – aut iudicare“-Verträge enthalten neben den „aut dedere – aut iudicare“-Vorschriften solche einfachen Strafverfolgungsklauseln, so bspw. die Haager Konvention in Art. 2: „Each Contracting State undertakes to make the offence punishable by severe penalties.“ 9 Aus diesem Grund findet sich bspw. in der Haager Konvention neben der oben in Fn. 8 erwähnten, einfachen Strafverfolgungsklausel noch zusätzlich die „aut dedere – aut iudicare“-Vorschrift des Art. 7 (oben Fn. 3). Gerade in der internationalen Terrorismusbekämpfung – in deren Rahmen dieser Vertrag abgeschlossen wurde – ist die Sicherstellung der Bestrafung von außerhalb des Tatortstaates ergriffenen Tätern wichtig (vgl. zum Bedürfnis nach grenzüberschreitender Terrorismusbekämpfung auch Costello, 10 Journal of International Law and Economics [1975], S. 483; Vallée, AFDI 1976, S. 756; Fraysse-Druesne, RGDIP 1978, S. 969 [972]). 10 Eine andere Möglichkeit zur Erreichung desselben Ziels ist die Einrichtung internationaler Strafgerichte. In der Lit. wird dies als „direct enforcement“ völkerrechtlicher Strafverfolgungspflichten bezeichnet, da hier die Bestrafung unmittelbar auf völkerrechtlicher Ebene stattfindet, während die durch das „aut dedere – aut iudicare“ sichergestellte Strafverfolgung vor nationalen Behörden nach nationalem Recht als „indirect enforcement“ bezeichnet wird (vgl. Bassiouni/Wise, S. xi;
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1. Kap.: Die Funktionen des Satzes „aut dedere – aut iudicare“
B. Die Ausdehnung der staatlichen Strafgewalt auf Auslandssachverhalte Neben der Auslieferung, dem „dedere“, verweist das Schlagwort „aut dedere – aut iudicare“ auch noch auf eine weitere Variante, nämlich das „iudicare“, die Strafverfolgung im Zufluchtsstaat. Da der Satz „nulla poena sine lege“ praktisch universell anerkannt ist,11 kann ein solches „iudicare“ aber nur dann praktische Wirksamkeit erlangen, wenn die Tat auch im Zufluchtsstaat nach dem dortigen nationalen Strafrecht strafbar ist.12 Dies setzt nicht nur voraus, dass dort ein Tatbestand des materiellen Strafrechts existiert, unter den sich das Verhalten des Täters subsumieren lässt, sondern auch, dass das Strafrecht des Zufluchtsstaates überhaupt auf diesen Auslandssachverhalt anwendbar ist. Wenn es sich darauf beschränkt, Taten zu bestrafen, die in seinem Territorium oder gegen seine Bürger begangen wurden, bestünde dagegen eine Strafverfolgungslücke. Jemand, der in Staat A Straftaten gegen Angehörige des Staates A begangen hat, könnte dann in Staat B mangels Anwendbarkeit des Strafrechts des Staates B nicht abgeurteilt werden.13 Um dieses Problem zu bekämpfen, enthalten einige „aut dedere – aut iudicare“-Verträge so genannte „jurisdictional clauses“, in denen die Vertragsstaaten ermächtigt oder gar verpflichtet werden, ihr Strafrecht auf Auslandstaten zu erstrecken, deren Täter sich nun in ihrem Gebiet aufhalten.14 Allerdings beseitigt diese positivrechtliche Normierung der extraterritorialen Geltung des Strafrechts nicht die Notwendigkeit, im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nach Antworten auf folgende Fragen zu suchen: I.
Setzt das Völkerrecht der Ausdehnung des nationalen Strafrechts auf Auslandssachverhalte überhaupt Grenzen? Denn wenn jeder Staat eine unbeschränkte Freiheit besäße, sein Strafrecht auf jegliche Auslandssachverhalte zu erstrecken, hätten die Jurisdiktionsklauseln der „aut dedere – aut iudicare“-Verträge nur insofern Bedeutung, als sie zu dieser Ausdehnung verpflichten, nicht aber als
Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 998). Näher zum Verhältnis von „aut dedere – aut iudicare“ und internationaler Strafgerichtsbarkeit unten, 5. Kapitel. 11 Vgl. z. B. Art. 15 I IPbpR; Art. 7 I EMRK; Art. 9 AMRK; Art. 7 II Af. Ch. MR. 12 Vgl. auch de La Pradelle, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 908 ff.; Doehring, Rn. 1148 f. 13 Vgl. Gilbert, S. 8 und S. 323; Plachta, MJ 1999, S. 331 (358). 14 Vgl. bspw. Art. 4 II Haager Konvention; Art. 5 II Montrealer Konvention; Art. 6 I Europäische Antiterrorkonvention; Art. 6 IV Schiffahrtssicherheitskonvention; Art. 3 II UN-Diplomatenschutzkonvention.
B. Die Ausdehnung der staatlichen Strafgewalt auf Auslandssachverhalte
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völkerrechtliche Rechtfertigung einer ansonsten verbotenen Überdehnung der einzelstaatlichen Kompetenzen. II.
Falls Frage I. mit ja zu beantworten wäre: Wann ist die Ausdehnung des nationalen Strafrechts auf Auslandstaten völkerrechtlich zulässig?
III. Welchem dieser Zulässigkeitstatbestände ist das „aut dedere – aut iudicare“ zuzuordnen? IV. Ist die Erlaubnis oder Verpflichtung zur Ausdehnung des nationalen Strafrechts auf Auslandstaten untrennbarer Bestandteil einer jeden „aut dedere – aut iudicare“-Regelung? Die letzte Frage hat vor allem Bedeutung für ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“. Da dann nicht auf die „jurisdictional clause“ eines bestimmten Vertrages zurückgegriffen werden kann, stellt sich die Frage, ob eine Verpflichtung oder Erlaubnis zur extraterritorialen Anwendung des eigenen Strafrechts sich bereits aus dem „aut dedere – aut iudicare“ zwingend ergibt.
I. Setzt das Völkerrecht dem Erlass von auf Auslandstaten anwendbaren Strafgesetzen Grenzen? Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Frage muss der Begriff der Souveränität sein. Die Gesetze eines Staates können nur soweit reichen wie seine Souveränität.15 Da aber alle Staaten gleich souverän sind, korrespondiert mit der Souveränität eines Staates auch die Pflicht zur Achtung der Souveränität anderer Staaten16, die die extraterritoriale Geltung von Normen insofern beschränkt, als durch sie die Hoheit anderer Staaten über ihr Territorium verletzt würde.17 Eine Verletzung fremder territorialer Souveränität durch den bloßen Erlass eines auf Auslandssachverhalte anwendbaren Strafgesetzes ist durchaus möglich, denn mit ihm wird nicht nur die spätere Bestrafung des Täters im Inland ermöglicht, sondern auch „Verbotsgewalt“ ausgeübt, das heißt ein Verhalten rechtlich missbilligt, das sich im Hoheits- und damit Verantwortungsbereich eines anderen Staates abspielt.18 Dies ist eine rechtfertigungsbedürftige Einmischung in dessen innere Angelegenheiten.
15 16 17 18
Mann, RdC 1984 I, S. 9 (20). Vgl. GA-Res. 2625 (XXV), 6. Grundsatz c), d), und e). Mann, RdC 1984 I, S. 9 (20). Vgl. Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 78.
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1. Kap.: Die Funktionen des Satzes „aut dedere – aut iudicare“
1. Das Erfordernis eines „genuine link“ in Literatur und Staatenpraxis Die weltweit herrschende Meinung in der Literatur fordert deshalb, dass die Sachverhalte, auf die ein Staat sein (Straf-)Recht erstreckt, einen vernünftigen Anknüpfungspunkt („genuine link“) zu ihm aufweisen.19 Diese Forderung kann auf eine reichhaltige Staatenpraxis gestützt werden; die gegenteilige Ansicht israelischer Gerichte im Fall Eichmann20 ist vereinzelt geblieben. So verlangen beispielsweise die deutschen und mexikanischen Gerichte einen vernünftigen Anknüpfungspunkt zwischen geregeltem Sachverhalt und regelndem Staat.21 Die US-Gerichte erkennen das Erfordernis eines „genuine link“ zumindest implizit an, wenn sie immer wieder prüfen, ob das US-amerikanische Strafrechtsanwendungsrecht mit den Prinzipien des internationalen Strafrechts übereinstimmt, die die Völkerrechtswissenschaft zur Typisierung „vernünftiger Anknüpfungspunkte“ entwickelt hat.22 Gleiches gilt für die britische23 und österreichische24 Rechtsprechung. Doch nicht nur die Rechtsprechung, sondern auch die Regierung des Vereinigten Königreiches bekennt sich zum „geunine link“. Sie hat 1970 auf der Konferenz zur Ausarbeitung der Haager Konvention ausdrücklich erklärt, dass ihrer Ansicht nach die Anwendung des nationalen Strafrechts auf Auslands19 Vgl. aus der deutschen Lit. Jescheck/Weigend, S. 166; Lagodny, JR 1998, S. 475 (476); Oehler, Int. Strafrecht, S. 124; Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 81; Epping/Gloria, in: Ipsen, § 23 Rn. 88, 91; Weiß, JZ 2002, S. 696 (701); Doehring, Rn. 1154; Verdross/Simma, Rn. 1183 f.; Wolfrum, ISYHR 24 (1994), S. 182 f.; Tomuschat, in: FS Steinberger, S. 315 (327); Werle, Völkerstrafrecht, S. 70; Herdegen, Völkerrecht, § 26 Rn. 1; aus der brit. Lit. Mann, RdC 1984 II, S. 9 (28 f.), ders., RdC 1964 I, S. 82 f.; Gilbert, S. 326; Oxman, EPIL III, S. 55 (56); Brownlie, S. 305; aus der austral. Lit. Shearer, S. 68; aus der amerik. Lit. Franck/Lockwood, AJIL 68 (1974), S. 69 (83); Randall, Texas Law Rev. 66 (1988), S. 785 (791) aus der franz. Lit. Combacau/Sur, S. 343, Nguyen/Daillier/Pellet, Rn. 334; aus der schweiz. Lit. Henzelin, S. 235. 20 Vgl. die Urteile des israel. OGH (ILR 36, 277 (283)) und des Jerusalemer Bezirksgerichtes (ILR 36, 5 (57)). 21 Vgl. für Deutschland BGHSt 45, 64 (66); BGHSt 44, 52 (55); BGH, NStZ 1994, S. 232 (233); BGHSt 34, 334 (336); BGHSt 27, 30 (32); BayObLG, NJW 1998, S. 392 (393); BVerfG, JZ 2001, S. 975 (979); für das Abgabenrecht auch: BVerfGE 63, 343 (369); für Mexiko OGH, 10.06.2003, ILM 42 (2003), S. 888 (900). 22 Vgl. US v. Bin Laden, 92 F. Supp. 2, S. 189 (196); US v. Yunis, (Case Report bei Trooboff, AJIL 83 (1989), S 94 (95)). Vgl. auch: Lauritzen v. Larsen, 345 U.S. 571 (578); US v. McRary, 665 F.2d 674 (678, Fn. 8). Zu den Prinzipien des internationalen Strafrechts (Tatortprinzip, aktives und passives Personalprinzip et cetera) als Typisierung des „genuine link“ vgl. unten bei Fn. 41. 23 The Queen v. Jameson [1896] 2 Q.B., S. 425 (430). 24 OGH, JBl. 1983, S. 541 (543); OGH, ÖJZ 1987, S. 116 f.
B. Die Ausdehnung der staatlichen Strafgewalt auf Auslandssachverhalte
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taten durch den Nichteinmischungsgrundsatz völkerrechtlich beschränkt sei.25 Selbst Belgien, dessen Strafrecht bis vor kurzem in großem Umfang Auslandstaten erfasste, hat dies nicht grundsätzlich bestritten.26 Zwar erstrecken viele Staaten ihr Strafrecht auch dort auf Auslandstaten, wo weder ein vernünftiger Anknüpfungspunkt besteht noch eine vertragliche oder gewohnheitsrechtliche Ausnahme von diesem Erfordernis ersichtlich ist27, andere Staaten haben jedoch immer wieder protestiert, wenn ihre Bürger aufgrund solcher Gesetze strafrechtlich verfolgt wurden.28 2. Die Rechtsprechung des IGH und des StIGH zur extraterritorialen Geltung von Strafrechtsnormen Der IGH und sein Vorläufer, der StIGH, haben sich mit der extraterritorialen Geltung von Strafrechtsnormen bislang in drei Fällen befasst.29 Im ersten, dem 1927 entschiedenen Lotus-Fall, hatte der StIGH über die völkerrechtliche Zulässigkeit der Strafverfolgung eines französischen Schiffs25 ICAO, Doc. 8979-LC/165-1, S. 75; eine ähnl. Rechtsauffassung hat die Sowjetunion lt. IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000, Urteil vom 14.02.2002, sep. op. Higgings, Kooijmans, Buergenthal, Ziff. 37 1979 auf der Konferenz zur Ausarbeitung der UN-Geiselnahmekonvention geäußert. 26 Contre-Memoire du Royaume de Belgique, 28.09.2001, § 3.3.32 (http://www. icj-cij.org/cijwww/cdocket/cCOBE/cCOBEframe.htm). 27 Vgl. Council of Europe, Extraterritorial Criminal Jurisdiction, S. 15; Oehler, Int. Strafrecht, S. 147. 28 Vgl. bspw. den Cutting-Fall, in dem ein US-Bürger in Mexiko wegen einer Auslandstat strafrechtlich verfolgt wurde (hierzu Beckett, BYBIL VI (1925), S. 44 [46 f.]), den berühmten Lotus-Fall, in dem Frankreich sich gegen die Verurteilung eines franz. Seemannes durch türkische Gerichte wegen eines Verhaltens auf Hoher See wandte (abgedruckt in: Institut für int. Recht Kiel (Hrsg.), Entscheidungen des Ständigen Internationalen Gerichtshofes, Bd. 5 [1927], S. 71 ff.) oder aus der jüngsten Geschichte die Klage der Dem. Rep. Kongo gegen Belgien, das ihren Außenminister wegen im Kongo begangener Straftaten verfolgen wollte (hierzu Mémoire de la République Démocratique du Congo, 15.05.2001, http://www.icj-cij.org/ cijwww/cdocket/cCOBE/cCOBEframe.htm, S. 47–61, später wurde der Antrag bzgl. der Kompetenzüberschreitung allerdings fallengelassen vgl. (IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000, Urteil vom 14.02.2002, Ziff. 21)) oder die zur Zeit beim IGH anhängige ähnl. Klage der Republik Kongo gegen Frankreich, die ebenfalls nicht nur eine Immunitätsverletzung, sondern auch eine Überschreitung der franz. Strafkompetenzen rügt (vgl. Requête et demande d’indication de mesure provisoire, S. 4–6 (erhältlich unter http://www.icj-cij.org/cijwww/cdocket/ccof/ ccoforder/ccof_capplication_20020209.pdf)). 29 Daneben ist noch das Sondervotum des Richters Fitzmaurice im BarcelonaTraction-Fall, ICJ Rep. 1970, S. 105 zu nennen, nach der das Völkerrecht im Bereich der Setzung von Normen zur Regelung ausländischer Sachverhalte zwar keine „hard and fast rules“ vorgebe, aber den Staaten dennoch zumindest vage Grenzen setze.
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1. Kap.: Die Funktionen des Satzes „aut dedere – aut iudicare“
offiziers durch türkische Behörden für einen auf Hoher See begangenen Verstoß gegen Navigationsvorschriften, der zu einer Kollision mit einem türkischen Schiff führte, zu befinden.30 Er entschied, dass das Völkerrecht den Staaten die Anwendung ihres Strafrechts auf Auslandssachverhalte nicht grundsätzlich verbiete, sondern ihnen eine große, nur durch einzelne Verbotsregeln beschränkte Freiheit lasse.31 Diese Entscheidung weicht nur scheinbar von der in Literatur und nationaler Rechtsprechung erhobenen Forderung nach einem „genuine link“ ab. Auch letztere betonen überwiegend, dass die Staaten große Freiheiten besitzen.32 Nach wie vor bedürfen sie zur Vornahme von Hoheitsakten keiner völkerrechtlichen Ermächtigung, sondern müssen nur die bestehenden völkerrechtlichen Verbote beachten. Mit dem Nichteinmischungsgrundsatz besteht heute aber eine Norm, die es den Staaten verbietet, Sachverhalte ohne vernünftigen Anknüpfungspunkt dem nationalen Recht zu unterwerfen.33 Auch das Urteil des IGH vom 14. Februar 2002 zur „Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000“ stützt diese Auffassung. Der Gerichtshof als Ganzes hat die Frage der belgischen Kompetenz zur Verfolgung einer von einem Kongolesen im Kongo gegen Kongolesen begangenen Tat zwar auf Wunsch der Parteien nicht erörtert und sich stattdessen nur auf den Immunitätseinwand gestützt,34 jedoch sprechen sich mehrere Richter in ihren Einzelvoten, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten, für das Erfordernis eines „genuine link“ aus.35 30
Vgl. StIGH, Fn. 28, S. 82. StIGH, Fn. 28, S. 90; die abweichenden Ansichten befürworteten allerdings striktere Grenzen vgl. Loder (S. 108); Weiss (S. 124); Lord Finlay (S. 128); Nyholm (S. 136); Altamira (S. 176 f.). 32 Vgl. Jescheck/Weigend, S. 165; Shearer, S. 68; Schroeder, NJW 1969, S. 81; Gilbert, S. 87, Epping/Gloria, in: Ipsen, § 23 Rn 87 f. Aus der Rspr.: BGHSt 27, 30 (34); BGHSt 34, 334 (336); BVerfGE 63, 343 (369). 33 Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 76 und 81 f.; Weiß, JZ 2002, S. 696 (700 f.); krit. dazu, unter Rückgriff auf den Lotus-Fall eine unbeschränkte extraterritoriale Regelungskompetenz für das heutige Völkerrecht zu bejahen, auch Herdegen, Völkerrecht, § 26 Rn. 6. 34 Vgl. IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000, Urteil vom 14.02.2002, Ziff. 43. 35 Vgl. IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000, Urteil vom 14.02.2002, op. ind. Guillaume, Ziff. 15 f.; decl. Ranjeva, Ziff. 11; op. ind. Rezek, Ziff. 6; op. ind. Bula-Bula, S. 18. Der Hauptstreitpunkt war in diesem Fall nicht die grundsätzliche Existenz völkerrechtlicher Schranken für die Regelung von Auslandssachverhalten, sondern, ob das für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit völkerrechtlich ausnahmsweise zulässige Weltrechtsprinzip nur die Verfolgung eines im eigenen Staatsgebiet anwesenden Täters erlaubt, oder auch ein Vorgehen gegen Abwesende (vgl. op. ind. Bula-Bula, S. 30; op. ind. Guillaume, Ziff. 16; sep. op. Higgings, Kooijmans, Buergenthal, Ziff. 41, 57; decl. Ranjeva, Ziff. 7). Dies ist jedoch in den „aut dedere – aut iudicare“-Konstellationen irrelevant: dort geht es immer nur um im Staatsgebiet anwesende Täter (vgl. oben A.). 31
B. Die Ausdehnung der staatlichen Strafgewalt auf Auslandssachverhalte
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Es ist somit zu erwarten, dass der IGH in einem zurzeit noch anhängigen, ganz ähnlichen Fall – einer Klage der Republik Kongo gegen Frankreich – im Grundsatz das „genuine link“-Erfordernis bestätigen wird – unabhängig davon, ob er für die konkret streitgegenständlichen „internationalen Verbrechen“ eine Ausnahme bejaht.36 3. Resümee Fassen wir also zusammen: Die völkergewohnheitsrechtlichen Grundsätze der Nichteinmischung und der souveränen Gleichheit beschränken die Kompetenz einzelner Staaten zur Ausdehnung ihres Strafrechts auf Auslandssachverhalte insofern, als es dafür eines vernünftigen Anknüpfungspunktes bedarf. Wo genau die Grenzen der staatlichen Kompetenz liegen, ist aber oft unklar.
II. Die allgemein anerkannten Prinzipien des internationalen Strafrechts In der Literatur zum internationalen Strafrecht im engeren Sinne, das heißt zum Recht der Anwendbarkeit des nationalen Strafrechts auf Taten mit Auslandsbezug,37 wird immer wieder auf verschiedene so genannte „Prinzipien“ Bezug genommen. Es ist vom „Territorialprinzip“, vom „aktiven“ und vom „passiven“ „Personalprinzip“, vom „Flaggenprinzip“, vom „Weltrechtsprinzip“, vom „Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege“ und teilweise auch vom „Schutzprinzip“ die Rede.38 Diese Prinzipien sagen für sich allein noch nichts darüber aus, ob das Strafrecht eines bestimmten Staates auch wirklich auf eine konkrete Tat anwendbar ist; dies hängt davon ab, welche von ihnen das nationale Strafrecht des betreffenden Staates in welchem Umfang und in welcher konkreten Ausgestaltung anerkennt. Viele Staaten haben nur einen Teil davon in ihr Recht übernommen.39 Im 36 Der Ausgang dieses Falles ist völlig offen. In der einzigen bislang in diesem Fall ergangenen Entscheidung, derjenigen über einstweiligen Rechtsschutz, betonte der IGH ausdrücklich, dass er sich nicht zur Begründetheit der geltend gemachten Ansprüche äußere, sondern die von der Klägerin beantragten vorläufigen Maßnahmen nur deswegen ablehne, weil kein irreparabler Schaden drohe (vgl. IGH, Affaire relative à certaines procédures pénales engagées en France, Beschluss vom 27.06.2003, Ziff. 34, 37 f., 40). 37 Zur Terminologie vgl. Jescheck, in: FS Maurach, S. 579; Möller, Völkerstrafrecht, S. 11 f.; Oehler, EPIL I, S. 877 f.; Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 933 f. 38 Vgl. Council of Europe, Extraterritorial Jurisdiction, S. 9; Oehler, Int. Strafrecht, S. 124. 39 Vgl. Shearer, S. 68.
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1. Kap.: Die Funktionen des Satzes „aut dedere – aut iudicare“
anglo-amerikanischen Rechtskreis ist beispielsweise bis vor kurzem fast ausschließlich vom Territorialprinzip Gebrauch gemacht worden.40 Worin besteht also die (völker-)rechtliche Relevanz dieser Prinzipien, wenn sie nicht unmittelbar zur Anwendbarkeit eines bestimmten Strafrechts auf einen bestimmten Fall führen? Sie sind Typisierungen des „genuine link“ und somit von Bedeutung für die völkerrechtliche Zulässigkeit der vom nationalen Recht angeordneten extraterritorialen Anwendbarkeit des nationalen Strafrechts. Jedenfalls dann, wenn eines dieser Prinzipien greift, ist diese zu bejahen, da einer der typischen vernünftigen Anknüpfungspunkte gegeben ist.41 1. Das Territorialprinzip Das wichtigste dieser Prinzipien ist das Territorialprinzip, also die Anwendung des Strafrechts eines Staates auf alle innerhalb seines Territoriums begangenen Taten. Seine völkerrechtliche Grundlage ist die territoriale Souveränität, die es den Staaten erlaubt, alle Sachverhalte innerhalb ihres Gebietes zu regeln.42 Es wird von praktisch jedem Staat der Welt als Grundlage und Ausgangspunkt seines nationalen Strafrechtsanwendungsrechts gebraucht.43 2. Das Flaggenprinzip Ebenfalls praktisch universell verbreitet ist das Flaggenprinzip. Es erlaubt die Anwendung des nationalen Strafrechts auf alle Taten, die an Bord eines in dem betreffenden Staat immatrikulierten Schiffes oder Luftfahrzeuges begangen werden.44 40 Vgl. Shearer, S. 68; Gilbert, S. 86; Council of Europe, Extraterritorial Jurisdiction, S. 10; Brownlie, S. 299. Dieser traditionelle Unterschied von „common law“ und „civil law“ Ländern verwischt aber zunehmend. So folgt der US-amerikanische „Anti-Terrorism Act“ von 1986 dem Schutzprinzip (vgl. Gilbert, S. 101) und Part 111A („Child sex Tourism“) des Australian Crimes Act dem aktiven Personalprinzip (vgl. Dugard/van den Wyngaert, AJIL 92 [1998], S. 187 [209]), welches auch das Vereinigte Königreich schon seit längerem auf Mord, Hochverrat, Bigamie und Geheimnisverrat anwendet (vgl. Brownlie, S. 299). 41 Vgl. Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 88; Randall, Texas Law Rev. 66 (1988), S. 785 (786); Verdross/Simma, Rn. 1183 a. E.; Epping/Gloria, in: Ipsen, § 23 Rn. 92; Doehring, Rn. 1155. 42 Gilbert, S. 7; Oehler, Int. Strafrecht, S. 127; Brownlie, S. 299. 43 Vgl. Council of Europe, Extraterritorial Jurisdiction, S. 21, 25; Brownlie, S. 299. 44 Vgl. Council of Europe, Extraterritorial Jurisdiction, S. 11 f.
B. Die Ausdehnung der staatlichen Strafgewalt auf Auslandssachverhalte
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3. Das passive Personalprinzip und das Schutzprinzip Umstrittener ist dagegen das passive Personalprinzip, bei dem ein Staat sein Strafrecht auf alle Taten anwendet, die gegen seine Bürger begangen werden. Trotz vielfältiger Angriffe in der Literatur wird dieses Prinzip von einer beachtlichen Anzahl von Staaten angewandt und in letzter Zeit sogar verstärkt in internationalen Verträgen mit Bezug auf bestimmte Taten gefordert.45 Gleiches gilt für das Schutzprinzip, das es Staaten erlaubt, ihr Strafrecht auf gegen ihre elementaren Interessen gerichtete Taten – zum Beispiel den Verrat von Staatsgeheimnissen – anzuwenden. Obwohl in der Literatur ebenfalls häufig angegriffen, hält eine Vielzahl von Staaten an ihm fest.46 4. Das aktive Personalprinzip Zumindest außerhalb des angelsächsischen Rechtskreises weit verbreitet ist das aktive Personalprinzip.47 Es unterwirft einen Staatsbürger auch dann den Strafgesetzen seines Heimatstaates, wenn er sich im Ausland befindet.48 Hierfür lassen sich zwei ganz unterschiedliche Begründungen finden. Zum einen will der Staat seine völkerrechtliche Personalhoheit über seine Bürger ausüben und die daraus für diese resultierende besondere Treuepflicht zur heimischen Rechtsordnung auch während Auslandsaufenthalten durchsetzen.49 Zum anderen sollen Strafbarkeitslücken vermieden werden, die sonst aus dem vor allem im kontinentaleuropäischen Rechtskreis vorherrschenden Prinzip der Nichtauslieferung eigener Staatsbürger entstehen würden:50 Denn wenn ein Bürger eines Staates, der seine eigenen Bürger grundsätzlich nicht ausliefert, im Ausland eine nach dortigem Recht strafbare Tat begeht und danach in seine Heimat flüchtet, kann nur die Bestrafung im Heimatstaat verhindern, dass die Tat ungesühnt bleibt. 45 Vgl. Council of Europe, Extraterritorial Jurisdiction, S. 12; Yokaris, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 902. Krit. zur Völkerrechtskonformität Oxman, EPIL III, S. 55 (58); Doehring, Rn. 1157. 46 Vgl. Council of Europe, Extraterritorial Jurisdiction, S. 13. 47 Vgl. Council of Europe, Extraterritorial Jurisdiction, S. 10; Gilbert, S. 96. 48 Vgl. Council of Europe, Extraterritorial Jurisdiction, S. 10. Einige wenige Staaten unterstellen sogar alle Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt in ihrem Territorium ihrem nationalen Strafrecht; vgl. Council of Europe, Extraterritorial Jurisdiction, S. 11; Oehler, Int. Strafrecht, S. 448; Cassese, Int. Criminal Law, S. 282. 49 Council of Europe, Extraterritorial Jurisdiction, S. 10; Le Calvez, Rev. de sc. crim. et de dr. pén. comp. 1980, S. 13 (16); Cassese, Int. Criminal Law, S. 281; mex. OGH, ILR 24, S. 265 (266). 50 Vgl. hierzu Council of Europe, Extraterritorial Jurisdiction, S. 10; Gilbert, S. 96; von Glahn, S. 226; Damrosch/Henkin/Pugh/Schachter/Smit, S. 1182; Cassese, Int. Criminal Law, S. 281; mex. OGH, ILR 24, S. 265 (266).
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1. Kap.: Die Funktionen des Satzes „aut dedere – aut iudicare“
Entsprechend diesen beiden unterschiedlichen Zielsetzungen kommt das aktive Personalprinzip in den nationalen Rechtsordnungen in zwei unterschiedlichen Ausformungen vor: Sofern es darum geht, Verstöße gegen die Loyalitätspflicht zum Heimatstaat zu sanktionieren, spielt es keine Rolle, ob die betreffende Handlung am Tatort ebenfalls mit Strafe bedroht war. Sofern es dagegen um die Kompensation der Nichtauslieferung eigener Bürger geht, hängt die Strafbarkeit nach dem aktiven Personalprinzip davon ab, dass die Tat auch nach der lex loci strafbar war. Denn stellt das Tatortstrafrecht die betreffende Handlung gar nicht unter Strafe, entsteht von vornherein kein Spannungsverhältnis zwischen einem Strafanspruch des Tatortstaates und dem Grundsatz der Nichtauslieferung eigener Bürger.51 5. Das Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege Mit „stellvertretender Strafrechtspflege“ bezeichnet man die Ausübung der Strafgewalt des Zufluchtsstaates „für“ einen anderen Staat; dieser tritt also quasi „in die Fußstapfen“ eines mit der Tat enger verknüpften Staates.52 Er tut dies, weil er den Täter nicht an den eigentlich zur Bestrafung völkerrechtlich kompetenten Staat ausliefern kann oder will, die Tat aber dennoch nicht ungesühnt lassen möchte. Für dieses Prinzip ist es somit unabdingbare Voraussetzung, dass die Tat nach dem Recht eines originär verfolgungsberechtigten Staates – meist wird dies die lex loci sein – strafbar ist.53 6. Das Weltrechtsprinzip Das Weltrechtsprinzip erlaubt die Aburteilung der ihm unterliegenden Taten durch jeden beliebigen Staat, unabhängig vom Tatort sowie der Nationalität von Täter und Opfer. Es wird damit begründet, dass der Täter ein „hostis humani generis“, ein Feind der gesamten Menschheit, sei, da seine Tat ein international geschütztes, die gesamte Staatengemeinschaft betreffendes Rechtsgut verletzt habe.54 Diese Ratio bringt es auch mit sich, dass 51
Vgl. Council of Europe, Extraterritorial Jurisdiction, S. 10; Schultz, Rev. de sc. crim. et de dr. pén. comp. 1967, S. 305 (315); Cassese, Int. Criminal Law, S. 281. 52 Vgl. Council of Europe, Extraterritorial Jurisdiction, S. 14; Eser, JZ 1993, S. 875 (882 f.); Gilbert, S. 103; Jescheck/Weigend, S. 170; Lagodny, UCLR 60 (1989), S. 583 (587). 53 Vgl. Council of Europe, Extraterritorial Jurisdiction, S. 14; BGHSt 27, 30 (32); Jescheck/Weigend, S. 170; Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 93, 101; Oehler, Int. Strafrecht, S. 145. 54 Vgl. statt aller BVerfG, JZ 2001, S. 974 (980); BayObLG, NJW 1998, S. 392 (393/395); Herdegen, Völkerrecht, § 26 Rn. 13; Doehring, Rn. 1155; Verdross/ Simma, Rn. 1184; Gilbert, S. 323; Jescheck/Weigend, S. 170; Higgins, Problems
B. Die Ausdehnung der staatlichen Strafgewalt auf Auslandssachverhalte
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eine Bestrafung nach dem Weltrechtsprinzip im Zufluchtsstaat nicht davon abhängt, ob die Tat nach dem Recht des Tatortstaates strafbar war.55 7. Die Sonderstellung des Weltrechtsprinzips und der stellvertretenden Strafrechtspflege Im Vergleich zu den anderen hier dargestellten Prinzipien weisen das Weltrechtsprinzip und das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege eine Besonderheit auf: Sie können nicht als Nachweis eines vernünftigen Anknüpfungspunktes angesehen werden, sondern bedürfen noch weiterer Rechtfertigung. Bezüglich des Weltrechtsprinzips ist dies ohne weiteres einleuchtend. Es ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass keine besondere Beziehung des strafenden Staates zu Täter, Tat oder Opfer vorliegt.56 Es beruht stattdessen auf der Idee des „hostis humani generis“. Wer ein Feind der gesamten Staatengemeinschaft ist, kann aber nur diese selbst festlegen, nicht ein einzelner Staat unilateral in seinem Strafrecht.57 Die völkerrechtliche Zulässigkeit des Weltrechtsprinzips muss sich deshalb aus speziellen Normen des Völkervertrags- oder Gewohnheitsrechts ergeben, die bezüglich bestimmter Straftaten vom durch den Nichteinmischungsgrundsatz prinzipiell geforderand Process, S. 56 f.; Oehler, Int. Strafrecht, S. 532; Cassese, Int. Criminal Law, S. 284 f.; Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 999; Werle, Völkerstrafrecht, S. 68 f.; öster. OGH, ILR 28, 341 (obwohl in diesem Fall wohl eher das Stellvertretungsprinzip einschlägig war); Bassiouni, Va. J. Int. Law 42 (2001), S. 81 (88); Randall, Texas Law Rev. 66 (1988), S. 785 (788); Weiß, JZ 2002, S. 696 (698); de La Pradelle, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 905; Combacau/Sur, S. 354; Ipsen, in: ders., § 42 Rn. 7. Es gibt dabei eine gewisse Tendenz, zumindest die Anwesenheit des Täters im eigenen Territorium zum Zeitpunkt der Einleitung des Strafverfahrens zur Voraussetzung der Strafverfolgungskompetenz zu machen, also eine Ausübung des Weltrechtsprinzip gegenüber sich zu diesem Zeitpunkt im Ausland befindenden Personen nicht zuzulassen (vgl. IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000, Urteil vom 14.02.2002, op. ind. Bula-Bula, Ziff. 40; op. ind. Guillaume, Ziff. 17; decl. Ranjeva, Ziff. 12; op. ind. Rezek, Ziff. 6; Bungenberg, AVR 39 [2001], S. 170 [172]; BGH, NStZ 1994, S. 232 [233]; BGH, NStZ 1999, S. 236; BGHSt 45, 64 [68 f.]; zweifelnd aber in jüngerer Zeit wieder BGHSt 46, 292 [307]). Das dt. Völkerstrafgesetzbuch ermöglicht dennoch ein Vorgehen gegen Abwesende aufgrund des Weltrechtsprinzips (vgl. § 1 VStGB, § 153f StPO). Der Streit ist in den „aut dedere – aut iudicare“-Konstellationen jedoch irrelevant, da es dort immer nur um anwesende Täter geht (vgl. oben A.). 55 Vgl. Oehler, Int. Strafrecht, S. 519; Schultz, Rev. de sc. crim. et de dr. pen. comp. 1967, S. 305 (326); Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 92; BGH, NStZ 1994, S. 232 (233). 56 Gilbert, S. 102 und 323 f.; Oehler, Int. Strafrecht, S. 532; Jescheck/Weigend, S. 170. 57 Vgl. Oehler, Int. Strafrecht, S. 148 und 538.
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1. Kap.: Die Funktionen des Satzes „aut dedere – aut iudicare“
ten „genuine link“ dispensieren58 und die außer für den Forumsstaat auch zumindest für einen der mit der Tat unmittelbar verknüpften Staaten bindend sein müssen. Denn mit der Unterwerfung unter die das Weltrechtsprinzip erlaubende Norm hat der unmittelbar mit der Tat verknüpfte Staat quasi seine Strafgewalt allen anderen aus dieser Norm berechtigten Staaten zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung im eigenen Namen übertragen. Aber auch stellvertretende Strafrechtspflege ist nicht per se völkerrechtskonform. Einen „genuine link“ zur Tat weist der verfolgende Staat hier ebenso wenig auf wie beim Weltrechtsprinzip. Seine einzige Beziehung zu ihr besteht in der späteren Ergreifung des Täters, die nach quasi einhelliger Auffassung für sich allein noch keinen ausreichenden Anknüpfungspunkt darstellt.59 Man könnte zwar argumentieren, dass hier auch ohne „genuine link“ keine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Tatortstaates vorliege, da die Tat auch nach seinem Recht strafbar und die Bestrafung des Täters somit auch von ihm gewünscht sei.60 Dabei verkennt man jedoch, dass das materielle Strafrecht aller Staaten immer vor dem Hintergrund konzipiert ist, dass die eigenen Gerichte es unter Anwendung des eigenen Strafprozessrechts vollziehen.61 Das heißt, obwohl der Tatortstaat die Bestrafung einer Tat durch seine eigenen Gerichte wünscht, kann ihm ihre Aburteilung durch fremde Gerichte äußerst unerwünscht sein. Sein in irgendeiner Weise zum Ausdruck gebrachter Konsens mit der „stellvertretenden“ Verfolgung der Tat im Zufluchtsstaat ist somit unerlässlich, um vom Erfordernis eines „genuine link“ absehen zu können.62
58 Vgl. Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 86; Gilbert, S. 102, 324; Oehler, Int. Strafrecht, S. 148, 538; Ipsen, in: ders., § 42 Rn. 7; Higgins, Problems and Process, S. 58; Henzelin, S. 235. 59 Vgl. Oehler, Int. Strafrecht, S. 130; Council of Europe, Extraterritorial Jurisdiction, S. 15. Auch die oben in Fn. 54 zitierten Entscheidungen des BGH wollen – obwohl in dieser Hinsicht sicher etwas missverständlich formuliert – bei Lichte betrachtet nicht die Anwesenheit des Täters allein als Legitimation für die Bestrafung einer Auslandstat genügen lassen. Es geht dort vielmehr um die Frage, ob selbst im Anwendungsbereich des Weltrechtsprinzip – also dort, wo es eigentlich keines „genuine link“ bedarf – die Anwesenheit des Täters als Mindestanknüpfungspunkt erforderlich ist. 60 In diese Richtung Council of Europe, Extraterritorial Jurisdiction, S. 26, wo es heißt, die Ausdehnung des Strafrechts auf Auslandstaten aus Gründen der internationalen Solidarität bedürfe keiner völkerrechtlichen Rechtfertigung. 61 Vgl. hierzu auch Schroeder, NJW 1969, S. 81 (83); Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 98. 62 Auch Eser, JZ 1993, S. 875 (883) betont, dass der verfolgende Staat sich keinesfalls gegen den Willen des von der Tat unmittelbar betroffenen Staates zum Verfolger aufschwingen dürfe.
B. Die Ausdehnung der staatlichen Strafgewalt auf Auslandssachverhalte
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III. Die Zuordnung des völkerrechtlichen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes zu den Prinzipien des internationalen Strafrechts Nachdem unter I. festgestellt wurde, dass es zur Verfolgung einer Straftat durch einen bestimmten Staat eines vernünftigen Anknüpfungspunktes bedarf, und unter II. einige Prinzipien, die solche vernünftige Anknüpfungspunkte definieren, herausgearbeitet wurden, ist nun zu untersuchen, durch welche dieser Prinzipien die in Erfüllung einer „aut dedere – aut iudicare“-Verpflichtung im Zufluchtsstaat durchgeführte Strafverfolgung legitimiert sein kann. 1. Das Territorialprinzip, das Flaggenprinzip, das Schutzprinzip und das passive Personalprinzip Das Territorialprinzip hat als Grundlage für ein „iudicare“ im Zufluchtsstaat kaum Bedeutung. Oben unter A. wurde bereits dargetan, dass das „aut dedere – aut iudicare“ sich – jedenfalls in erster Linie – mit den Pflichten eines vom Tatortstaat verschiedenen Zufluchtsstaates befasst. Auch das Flaggen-, Schutz- und passive Personalprinzip dürften allenfalls höchst selten einschlägig sein. Der so mit der Tat verknüpfte Staat ist in aller Regel ein Ort, an dem der Täter auch ohne völkerrechtliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelung keine sichere Zuflucht erhoffen kann. Ihn hat das Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot deshalb ebenfalls weniger im Visier.63 2. Das aktive Personalprinzip Bezüglich des aktiven Personalprinzips ist dagegen zu differenzieren. In seiner vom Tatortrecht unabhängigen Spielart verfolgt der Heimatstaat ausschließlich sein eigenes Interesse an der Loyalität seiner Bürger zu seinem Strafrecht.64 Er bestraft hier nicht deshalb, weil er sein Territorium nicht von flüchtigen Verbrechern als „safe haven“ missbraucht sehen will, sondern deswegen, weil seine Bürger sich im Ausland nicht so verhalten haben, wie er es aus eigenem Interesse von ihnen verlangt. Insofern besteht kein Zusammenhang mit dem Ziel einer möglichst effektiven internationalen Zusammenarbeit in der Kriminalitätsbekämpfung, das dem Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot zugrunde liegt.65 Anders dagegen dort, wo ein Staat dem eingeschränkten aktiven Personalprinzip, das unter der 63 Dies kann in besonderen Fallkonstellationen aber auch durchaus einmal anders sein [vgl. etwa den „Achille-Lauro“-Fall, unten 3. Kapitel B. I. 2. a) aa) (4)]. 64 Vgl. Le Calvez, Rev. de sc. crim. et de dr. pen. Comp. 1980, S. 13 (16).
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1. Kap.: Die Funktionen des Satzes „aut dedere – aut iudicare“
Voraussetzung der Strafbarkeit der Tat am Tatort steht, folgt. Wie oben dargelegt, steckt hinter dieser Variante die Idee, die Nichtauslieferung eigener Bürger zu kompensieren und zu verhindern, dass die geglückte Flucht in den Heimatstaat zur Straflosigkeit führt. Dies deckt sich aber mit der unter A. angeführten ersten Funktion des Satzes „aut dedere – aut iudicare“: Der Täter einer Auslandstat soll keine sichere Zuflucht bekommen. Die Strafverfolgung, die ein Zufluchtsstaat in Erfüllung des „aut dedere – aut iudicare“ durchführt, kann also auf dem eingeschränkten aktiven Personalprinzip beruhen. 3. Stellvertretende Strafrechtspflege und Weltrechtsprinzip Dem Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege liegt ebenfalls das Ziel zugrunde, ein Scheitern der Auslieferung an den Tatort nicht automatisch zur Straflosigkeit des Täters führen zu lassen. Somit kann die Strafverfolgung im Zufluchtsstaat aufgrund eines „aut dedere – aut iudicare“ auch diesem Prinzip zugeordnet werden. Viele Autoren gehen sogar soweit, beides gleichzusetzen. Das Schlagwort „aut dedere – aut iudicare“ wird von ihnen als Synonym für das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege gebraucht.66 Diese Gleichsetzung von „aut dedere – aut iudicare“ und stellvertretender Strafrechtspflege übersieht jedoch den teilweise unterschiedlichen Regelungsgehalt beider Rechtsinstitute. Die stellvertretende Strafrechtspflege ist ein Strafrechtsanwendungsprinzip. Als solches regelt sie, inwiefern Staaten auf der abstrakt-generellen Ebene ihr Strafrecht auf Auslandstaten ausdehnen dürfen. Das „aut dedere – aut iudicare“ verpflichtet dagegen dazu, in jedem konkreten Einzelfall, in dem sich die Täter bestimmter Auslandstaten im eigenen Staatsgebiet aufhalten, auszuliefern oder selbst strafverfolgend tätig zu werden. Das Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege erlaubt also den Erlass von Normen des Strafrechtsanwendungsrechts, das „aut dedere – aut iudicare“ verpflichtet dagegen zu deren Vollzug (oder zur Auslieferung) im Einzelfall.67 Deswegen ist das „aut dedere – aut iudicare“ kein 65 Vgl. zu den unterschiedlichen Ausprägungen des aktiven Personalprinzips oben II. 4.; zu dem Ziel des „aut dedere – aut iudicare“, Strafverfolgung grenzüberschreitend sicherzustellen, vgl. oben A. 66 Vgl. bspw. Jescheck/Weigend, S. 170; Gilbert, S. 103; Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 104; Oehler, Int. Strafrecht, S. 497; Wolfrum, ISYHR 24 (1994), S. 182 (185); Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1004. 67 Vgl. zur Unterscheidung zwischen einem Recht zur Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Strafrechts und einer auf den Einzelfall bezogener Verfolgungspflicht auch de La Pradelle, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 913 f.; Randall, Texas Law Rev. 66 (1988), S. 785 (790 f.); Meron, AJIL 89 (1995), S. 554 (570); IGH,
B. Die Ausdehnung der staatlichen Strafgewalt auf Auslandssachverhalte
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Prinzip des Strafrechtsanwendungsrechts, und zwar weder das der stellvertretenden Strafrechtspflege noch ein anderes. Dem von ihm vorgesehenen „iudicare“ muss aber jeweils eines der anerkannten Prinzipien des Strafrechtsanwendungsrechts zugrunde liegen, wenn es völkerrechtsgemäß sein soll. Die Frage kann also nicht lauten: Ist „aut dedere – aut iudicare“ ein Synonym für das Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege, sondern nur: Ist das Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege das einzige Strafrechtsanwendungsprinzip, das der Ausübung eines „iudicare“ zugrunde liegen kann? Aufgrund der bisher gewonnen Ergebnisse müsste man diese Frage eigentlich sofort verneinen. Oben wurde ja bereits das eingeschränkte aktive Personalprinzip als mögliche Grundlage eines „iudicare“ bezeichnet. Man könnte sich allerdings auf den ersten Blick mit Recht fragen, ob das eingeschränkte aktive Personalprinzip überhaupt eine eigenständige Bedeutung hat, oder ob es nicht vielmehr ein Unterfall der stellvertretenden Strafrechtspflege ist. Beide Prinzipien wollen verhindern, dass Auslieferungshindernisse zur Straflosigkeit führen; die stellvertretende Strafrechtspflege allgemein, das eingeschränkte aktive Personalprinzip gerade mit Blick auf das Prinzip der Nichtauslieferung eigener Bürger. Ein Unterschied besteht allerdings insofern, als das aktive Personalprinzip wie oben dargelegt schon selbst den legitimierenden Anknüpfungspunkt beinhaltet, während das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege noch einer zusätzlichen völkerrechtlichen Rechtfertigung bedarf. Ist das Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege aber wenigstens dann die „exklusive“ Grundlage des „iudicare“, wenn der Zufluchtsstaat in keiner Weise – also auch nicht über die Staatsangehörigkeit des Täters – mit der Tat „genuinely“ verknüpft ist? Jedenfalls in der deutschen Literatur wird dies wohl überwiegend so gesehen.68 An dieser frühen Stelle der Untersuchung kann dem weder zugestimmt noch widersprochen werden. Mit dem Weltrechtsprinzip ist schließlich noch ein weiteres Strafrechtsanwendungsprinzip vorhanden, das dem Zufluchtsstaat des Täters auch ohne „genuine link“ eine Strafverfolgungsbefugnis verleiht und ebenfalls dem Ziel der Abschaffung von „safe havens“ dient. Die gegenseitige Abgrenzung Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000, Urteil vom 14.02.2002, op. diss. van den Wyngaert, Ziff. 60–62; Werle, Völkerstrafrecht, S. 74; Steven, Va. J. Int. Law 39 (1999), S. 425 (441 f.); Enache-Brown/Fried, McGill L. J. 43 (1998), S. 613 (625); Wise, Israel Law Review 27 (1993), S. 268 (283); Swart, in: Cassese/ Gaeta/Jones, S. 1639 (1659 f.). 68 So wohl bspw. von Oehler, in: FS Carstens, S. 435 (444); dems., Int. Strafrecht, S. 502; Lagodny, UCLR 60 (1989), S. 583 (589); Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 155; Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1006, 1115; Oeter, in: Koch, S. 29 (35); wohl auch von Stein, Auslieferungsausnahme, S. 72 und Doehring, Rn. 1160.
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1. Kap.: Die Funktionen des Satzes „aut dedere – aut iudicare“
beider Rechtsinstitute ist ein besonders schwieriges Problem.69 Bevor sie mit Blick auf das Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot durchgeführt werden kann, muss deshalb die eingehende Erörterung der einzelnen „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen im 3. und 4. Kapitel abgewartet werden. Für das Erkenntnisinteresse dieses Abschnitts reicht die Feststellung aus, dass die ein „iudicare“ erst ermöglichende Ausdehnung des Strafrechts des Zufluchtsstaates auf Auslandstaten insofern, als sie nicht nur dessen eigene Bürger betrifft, jedenfalls einer besonderen völkerrechtlichen Rechtfertigung bedarf. Denn sowohl stellvertretende Strafrechtspflege als auch Weltrechtsprinzip sind ohne eine solche nicht zulässig.
IV. Die Rechtfertigung der Ausdehnung des nationalen Strafrechts auf Auslandstaten als Inhalt des Satzes „aut dedere – aut iudicare“ Damit steht aber auch fest: Würde die Maxime „aut dedere – aut iudicare“ neben der Verpflichtung zur Auslieferung oder Strafverfolgung im Einzelfall den Zufluchtsstaat nicht auch ermächtigen, den Anwendungsbereich seines Strafrechts auf die betreffenden Straftaten auszudehnen, selbst wenn er zu ihnen keine andere Beziehung als die spätere Anwesenheit des Täters in seinem Territorium aufweist, dann liefe die Strafverfolgungsoption, das „iudicare“, letztlich in allen Fällen, in denen nicht die Staatsangehörigkeit des Täters dem Zufluchtsstaat Strafgewalt nach dem aktiven Personalprinzip verleiht, leer. Ihre Ausübung wäre mangels eines vom „genuine link“-Erfordernis dispensierenden völkerrechtlichen Erlaubnissatzes völkerrechtswidrig. Diejenigen Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten, die sich auch auf für den Zufluchtsstaat fremde Täter erstrecken,70 würden dann wenig Sinn machen. Der Unterschied zwischen ihnen und „einfachen“ Strafverfolgungsklauseln71 würde verwischt werden. Schon „einfache“ Strafverfolgungsklauseln sorgen dafür, dass jeder Vertragsstaat Straftatbestände zur Inkriminierung des betreffenden Verhaltens erlässt. Diese Strafbestimmungen beanspruchen dann allerdings nur im normalen Anwendungsbereich des Strafrechts dieser Staaten – in erster Linie also auf deren Territorium – Geltung.72 Sie versagen, wenn der Täter ins Ausland 69 Vgl. Oehler, Int. Strafrecht, S. 148, 506; Gilbert, S. 102; Bassiouni, Va. J. Int. Law 42 (2001), S. 81 (103); Wolfrum, ISYHR 24 (1994), S. 182 (185). Nach Dahm/ Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1004 unterscheidet nur das europäische, nicht aber das anglo-amerik. Recht zwischen beiden Prinzipien. 70 Als Bsp. für eine solche Klausel sei etwa der oben in Fn. 3 zitierte Art. 7 Haager Konvention genannt, der nicht danach unterscheidet, ob der Täter Staatsangehöriger des Zufluchtsstaates ist oder nicht. 71 Vgl. bspw. die oben in Fn. 8 abgedruckten Vorschriften.
B. Die Ausdehnung der staatlichen Strafgewalt auf Auslandssachverhalte
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flieht und die Auslieferung an den Tatortstaat scheitert. Denn dann kann der nicht mit der Tat verknüpfte Zufluchtsstaat mangels völkerrechtlicher Kompetenz auch nicht selbst strafverfolgend tätig werden; der Täter bleibt also straflos. Gerade dies soll aber die Maxime „aut dedere – aut iudicare“ verhindern. Deshalb wendet sie sich nicht nur an den (in deutscher Terminologie) „Besonderen Teil“ der nationalen Strafgesetzbücher – wie dies eine reine Inkriminierungsverpflichtung tut – sondern auch an das Strafrechtsanwendungsrecht. Sie ermächtigt die Staaten zumindest, ihr Strafrecht auf bestimmte Auslandstaten eines sich in ihrem Territorium befindenden Ausländers im Falle der Nichtauslieferung zu erstrecken. Fraglich ist aber, ob jede „aut dedere – aut iudicare“-Regelung auch eine Verpflichtung zu einer solchen Ausdehnung des Strafrechts auf Auslandstaten umfassen muss. Wie bereits einleitend gesagt: Viele „aut dedere – aut iudicare“-Verträge tun dies. Sie enthalten neben einer Pflicht zur Auslieferung oder Strafverfolgung im konkreten Einzelfall73 auch eine so genannte „jurisdictional clause“, die den Zufluchtsstaat verpflichtet, bestimmte Auslandstaten von in seinem Territorium anwesenden Personen in den Anwendungsbereich seines Strafrechts einzubeziehen.74 Es gibt aber auch „aut dedere – aut iudicare“-Verträge, die nur die erste Art von Klauseln enthalten, ohne den Zufluchtsstaat zur Ausdehnung des Anwendungsbereichs seines Strafrechts zu verpflichten. So ist beispielsweise die Verpflichtung des Zufluchtsstaates zur Strafverfolgung von Ausländern bei Scheitern der Auslieferung gemäß Artikel 9 der Falschmünzerkonvention von 1929 auf den Fall beschränkt, dass dessen nationales Strafrecht auf solche Auslandstaten anwendbar ist.75 Das „aut dedere – aut iudicare“ dient 72 Vgl. zur Unterscheidung zwischen internationalen Straftaten im materiellen Sinne, die jeder Staat nur im gewöhnlichen Anwendungsbereich seines Strafrechts (also v. a., wenn der Tatort in seinem Hoheitsgebiet liegt) zu verfolgen hat, und internationalen Straftaten im formellen Sinne, die er nach dem Weltrechtsprinzip oder dem Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege unabhängig vom Tatort verfolgen kann bzw. muss Oehler, Int. Strafrecht, S. 534. 73 Vgl. als typisches Bsp. für eine solche Klausel den oben in Fn. 3 zitierten Art. 7 Haager Konvention. 74 Vgl. oben bei Fn. 14. So heißt es etwa in Art. 4 II Haager Konvention: „Each Contracting State shall likewise take such measures as may be necessary to establish its jurisdiction over the offence in the case where the alleged offender is present in its territory and it does not extradite him [. . .].“ 75 Abs. 1: „Les étrangers qui ont commis à l’étranger [bestimmte Falschgeldstraftaten] et qui se trouvent sur le territoire d’un pays dont la législation interne admet, comme règle générale, le principe de la poursuite d’infractions commises à l’étranger doivent être punis de la même manière que si le fait avait été commis sur le territoire de ce pays.“ Abs. 2: „L’obligation de la poursuite est subordonnée à la condition que l’extradition ait été demandée et que le pays requis ne puisse livrer l’inculpé [. . .].“ (vgl. RGBl. 1933 II 913; Hervorhebung nicht im Original).
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1. Kap.: Die Funktionen des Satzes „aut dedere – aut iudicare“
hier nicht der Ausdehnung des Anwendungsbereichs des nationalen Strafrechts, sondern steht vielmehr unter dem Vorbehalt, dass dieses es nicht prinzipiell ablehnt, sich auf Auslandstaten von Ausländern zu erstrecken.76 Daraus kann geschlossen werden, dass ein „aut dedere – aut iudicare“ nicht immer zwingend auch eine Verpflichtung zur Ausdehnung des nationalen Strafrechts auf Auslandstaten nichtausgelieferter Ausländer enthält.77 Erlauben tut es eine solche aber auch hier. Die Formulierung der Falschmünzerkonvention von 1929 „dont la législation interne admet commme règle générale le principe de la poursuite d’infractions commises à l’étranger“ kann nur so zu verstehen sein, dass diese eigentlich verbotene Anwendung des Strafrechts auf Sachverhalte ohne „genuine link“ zum strafenden Staat konkludent für den Bereich der Falschgeldstraftaten ausnahmsweise78 zugelassen wird. Denn es wäre ja widersprüchlich, Staaten, die ihr Strafrecht auf im Ausland begangene Geldfälschung auch ohne legitimierenden Anknüpfungspunkt ausdehnen, ein „aut dedere – aut iudicare“ aufzuerlegen, ohne damit gleichzeitig diese ansonsten gegen das Einmischungsverbot verstoßende nationale Rechtslage völkerrechtlich zu rechtfertigen.79
76 Vgl. auch Bassiouni/Wise, S. 12 f.; Wise, Israel Law Review 27 (1993), S. 268 (273). 77 A. A. wohl Wood, ICLQ 1974, S. 791 (809), für den die Verpflichtung des Zufluchtsstaates zur Ausdehnung des Anwendungsbereichs seines Strafrechts nach Art. 3 II UN-Diplomatenschutzkonvention „necessary in order to implement the aut dedere – aut iudicare system“ war, sowie Swart, in: Cassese/Gaeta/Jones, S. 1639 (1660) und Plachta, MJ 1999, S. 331 (358), der folgendermaßen argumentiert: Wenn der Zufluchtsstaat nicht den Anwendungsbereich seines Strafrechts auf die betreffenden Auslandstaten erstrecken müsste, liefe das alternativ konstruierte „aut dedere – aut iudicare“ letztlich doch auf eine bloße Auslieferungsverpflichtung hinaus (zum Unterschied zwischen „aut dedere – aut iudicare“ und Auslieferungspflicht vgl. sogleich unten C.), da der Zufluchtsstaat unter Umständen gar nicht zum „iudicare“ in der Lage wäre. Dieser Einwand überzeugt aber nur auf den ersten Blick. Wie bspw. aus der Falschmünzerkonvention von 1929 eindeutig hervorgeht, kann der Zufluchtsstaat die Auslieferung auch dann ablehnen, wenn er sein Strafrecht nicht auf die betreffende Auslandstat des ausländischen Täters erstreckt hat. Eine Auslieferungspflicht besteht somit auch hier nicht. Ein „iudicare“ kann dann zwar ebenfalls nicht durchgeführt werden, so dass der Täter straflos bleibt und die Effizienz solcher „nur erlaubender“ „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen gering ist, dies war aber von den Parteien der entsprechenden Verträge so gewollt (vgl. zum Ganzen ausf. unten, 2. Kapitel H. II. 1.). 78 Dass die Staaten mit dieser Formulierung keinesfalls die – damals sehr umstrittene – Frage, ob das Völkerrecht der Anwendung des nationalen Strafrechts auf Auslandssachverhalte überhaupt Grenzen setzt, im Sinne einer allgemein unbeschränkten Freiheit hierzu beantworten wollten, macht Art. 17 der Falschmünzerkonvention deutlich, wonach „[. . .] la présente Convention ne doit pas être interprétée comme portant atteinte à son [=eines jeden Vertragsstaates] attitude sur la question générale de la compétence de la juridicition pénale.“
C. Die Berechtigung zur Verweigerung der Auslieferung
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V. Resümee Die zweite Funktion des Satzes „aut dedere – aut iudicare“ ist also die völkerrechtliche Rechtfertigung der Strafverfolgung durch einen nicht „genuinely“ mit der Tat verknüpften Zufluchtsstaat. Diejenigen Auslieferungsoder Strafverfolgungsgebote, die sich nur auf eigene Staatsbürger des Zufluchtsstaates beziehen, nehmen diesbezüglich allerdings eine Sonderstellung ein. Die von ihnen mit dem „iudicare“ anvisierte Strafverfolgung nach dem aktiven Personalprinzip ist auch ohne einen speziellen völkerrechtlichen Erlaubnissatz mit dem Nichteinmischungsgebot vereinbar, da die Staatsangehörigkeit des Täters hier für einen „genuine link“ zwischen Zufluchtsstaat und Tat sorgt. Deshalb kann und muss diese Art von „aut dedere – aut iudicare“-Vorschrift keine „Legitimierungsfunktion“ für die Strafverfolgung im Zufluchtsstaat erfüllen.
C. Die Berechtigung zur Verweigerung der Auslieferung Das Schlagwort „aut dedere – aut iudicare“ ist mit der „aut – aut“ Konstruktion in grammatikalischer Hinsicht nicht als Imperativ bezüglich einer bestimmten Handlung formuliert, sondern lässt dem Verpflichteten zwei Möglichkeiten im Sinne eines „entweder – oder“. Dort wo das Völkerrecht zwingend gerade die Auslieferung vorschreibt, liegt schon begrifflich kein „aut dedere – aut iudicare“, sondern eine „normale“ Auslieferungspflicht vor. Wieso bedarf es dieser für Rechtspflichten eher ungewöhnlichen Doppelkonstruktion, um flüchtigen Tätern eine sichere Zuflucht im Ausland abzuschneiden? Wäre dieses Ziel nicht auch durch eine Auslieferungspflicht zu erreichen gewesen? Theoretisch ist dies sicherlich wahr, nur: Es gibt bestimmte Fallgruppen, in denen nur sehr wenige Staaten zu einer Auslieferung bereit sind. Die beiden wichtigsten sollen hier kurz genannt sein: Zum einen werden die Täter „politischer Straftaten“ klassischerweise nicht ausgeliefert (so genannte „political offence exception“ oder „exception politique“),80 zum anderen liefern viele Staaten keine eigenen Staatsangehörigen aus.81 Ein Repressionssystem, das auf einer lückenlosen Pflicht zur Auslie79 So bzgl. des ähnl. formulierten Art. 10 der Antiterrorkonvention von 1937 auch Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (351). 80 Vgl. zur „political offence exception“ aus den Lehrbüchern zum Auslieferungsrecht Gilbert, S. 203–334; Shearer, S. 166–192; aus den allg. völkerrechtl. Lehrbüchern Doehring, Rn. 912–917; Weston/Falk/Charlesworth, S. 507 ff.; von Glahn, S. 229 ff.; monographisch: van den Wijngaert, Political Offence Exception; Stein, Die Auslieferungsausnahme bei politischen Delikten.
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1. Kap.: Die Funktionen des Satzes „aut dedere – aut iudicare“
ferung des Täters an den Tatortstaat beruht, ist deshalb rechtspolitisch undurchsetzbar.82 Allein eine „aut – aut“-Konstruktion, die auch die Variante der Strafverfolgung im Zufluchtsstaat zumindest unter bestimmten Umständen offen lässt, ist ein in der Staatengemeinschaft akzeptanzfähiges Mittel um zu verhindern, dass die Täter im Falle des Eingreifens der klassischen Nichtauslieferungsgründe völlig straflos bleiben.83 Man könnte diesbezüglich statt von einer alternativen Handlungspflicht auch von der Pflicht zur Herbeiführung eines Erfolges reden. Der Ergreifungsstaat muss auf die eine (dedere) oder andere (iudicare) Art ein Strafverfahren gegen den Beschuldigten herbeiführen. Es ist diese Pflicht zur Herbeiführung eines Strafverfahrens, die das „aut dedere – aut iudicare“ von der allgemein akzeptierten Aussage unterscheidet, dass kein Staat Straftäter ausliefern muss, sofern er sich nicht vertraglich dazu verpflichtet hat.84 Das Recht, Auslieferungen bei 81
Vgl. zur Nichtauslieferung eigener Staatsbürger aus den Lehrbüchern zum Auslieferungsrecht Gilbert, S. 175 ff.; Shearer, S. 94 ff.; aus den allg. völkerrechtl. Lehrbüchern Brownlie, S. 314; Combacau/Sur, S. 361; von Glahn, S. 226 f.; Doehring, Rn. 906; zu ihrer Geschichte vgl. auch unten 2. Kapitel E. 2. In den Beziehungen der EU-Mitgliedstaaten untereinander wurde diese traditionell gerade in Kontinentaleuropa besonders stark verwurzelte Auslieferungsausnahme durch Art. 7 des Übereinkommens vom 27.09.1996 über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (BGBl. 1998 II 2254) und schließlich durch den Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl (Amtsblatt EG L 190/1), der sie in seinen Art. 3 und 4 nicht mehr zu den Gründen für eine Verweigerung der Überstellung zählt, weitgehend beseitigt (zu letzterem vgl. Laugier-Deslandes, AFDI 2002, S. 695). In Deutschland führte dies dazu, dass durch das 47. Gesetz zur Änderung des GG das bislang strikte Verbot der Auslieferung von Deutschen nach Art. 16 II GG in Bezug auf die Auslieferung in andere EU-Staaten gelockert wurde (und in Bezug auf die Überstellung Deutscher an internationale Gerichte, die jedoch nach korrekter völkerrechtlicher Terminologie gar keine „Auslieferung“ ist; vgl. oben Fn. 4). 82 Vgl. Bassiouni/Wise, S. 64; Wise, Israel Law Review 27 (1993), S. 268 (271); Franck/Lockwood, AJIL 68 (1974), S. 69 (85); Guillaume, AFDI 1970, S. 35 (38); ders., in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 530; Lambert, Hostages, S. 191 f. Genauer hierzu unten, 4. Kapitel B. III. 1. 83 Vgl. Gilbert, S. 316; Shearer, S. 69; Damrosch/Henkin/Pugh/Schachter/Smit, S. 1182; von Glahn, S. 226 f. 84 Leider wurden beide Aussagen in einigen Sondervoten zum Beschluss des IGH vom 14.04.1992 über einstweilige Maßnahmen im Lockerbiefall (Case concerning the interpretation and application of the 1971 Montreal Convention arising from the aerial incident at Lockerbie (Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom), Provisional Measures, ICJ. Rep. 1992, S. 3 ff.) offensichtlich miteinander vermengt: vgl. op. diss. Weeramantry, ICJ Rep. 1992, S. 50 (69), wonach das Prinzip „aut dedere – aut iudicare“ ein Aspekt der staatlichen Souveränität sei, der von der Montreal Konvention von 1971 unberührt bleibe; ähnl. op. diss. Ranjeva, ICJ Rep. 1992, S. 72 und op. diss. Ajibola, ICJ Rep. 1992, S. 78 (81 f.). Diese Aussagen passen aber nur auf den Rechtsatz, dass Staaten nicht ohne vertragliche Verpflichtung ausliefern müssen (so auch Bassiouni/Wise, S. 64 f.; Wise, Israel Law Review 27 (1993), S. 268 (279 f.); Plachta, MJ 1999, S. 331 (333)).
C. Die Berechtigung zur Verweigerung der Auslieferung
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Nichtbestehen einer entsprechenden Vertragspflicht zu verweigern, folgt aus dem Fehlen einer gewohnheitsrechtlichen Auslieferungspflicht.85 Es steht einem Staat auch zu, wenn der betreffende Fall von keinem „aut dedere – aut iudicare“ geregelt wird. Um es an einem Beispiel deutlich zu machen: Auch ein Staat, der die bereits erwähnte Falschmünzerkonvention von 1929 nicht ratifiziert hat, darf selbstverständlich die Auslieferung eines Falschmünzers verweigern, sofern er sich nicht gegenüber dem ersuchenden Staat in einem anderen Vertrag zu ihr verpflichtet hat.86 Anders als für Vertragsstaaten, entsteht dadurch für ihn aber nie eine Pflicht, wenigstens selbst ein Strafverfahren durchzuführen.87 Die Funktion des „aut dedere – aut iudicare“ ist also nicht, den Zufluchtsstaat zur Verweigerung der Auslieferung zu berechtigen, sondern dieses schon zuvor aufgrund der staatlichen Souveränität bestehende Ablehnungsrecht um eine Strafverfolgungspflicht zu ergänzen. Ein Teil der Literatur will das souveräne Recht des Zufluchtsstaates, eine vertraglich nicht gebotene Auslieferung nach freiem Belieben zu verweigern, im Anwendungsbereich des „aut dedere – aut iudicare“ sogar empfindlich einschränken: Es wird vertreten, dass die Auslieferung an den Tatortstaat vorrangig sei und der Zufluchtsstaat nur ausnahmsweise die Strafverfolgung selbst übernehmen dürfe.88 Dies wird zumeist damit begründet, 85 Zur Nichtexistenz einer gewohnheitsrechtlichen Auslieferungspflicht vgl. statt vieler Shearer, S. 27; Gilbert, S. 14; Carter/Trimble, S. 795; Janis, S. 349, 351; Combacau/Sur, S. 360; Weston/Falk/Charlesworth, S. 501; Damrosch/Henkin/ Pugh/Schachter/Smit, S. 1177 f.; von Glahn, S. 222 ff.; Poutiers, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 937; Verdross/Simma, Rn. 580; Doehring, Rn. 905; Hailbronner, in: Graf Vitzhum, III Rn. 321; Ipsen, in: ders., § 50 Rn. 8 und IGH, Case concerning the interpretation and application of the 1971 Montreal Convention arising from the aerial incident at Lockerbie (Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom), Provisional Measures, decl. Evensen, Tarassov, Guillaume, Aguilar Mawdsley, ICJ Rep. 1992, S. 24; decl. Oda, ICJ Rep. 1992, S. 17 (18 f.); op. diss. Bedjaoui, ICJ Rep. 1992, S. 33 (38 f.) op. diss. El-Kosheri, ICJ Rep. 1992, S. 94 (10). Dies ist quasi einhellig anerkannt. Diskutiert (und im 3. Kapitel dieser Untersuchung unter B. ausführlich erörtert) wird lediglich eine gewohnheitsrechtliche Pflicht zur Strafverfolgung oder Auslieferung der Täter internationaler Verbrechen, keinesfalls aber eine gewohnheitsrechtliche Pflicht, diese unter allen Umständen gerade auszuliefern. 86 So zutreffend für die Montrealer Konvention auch IGH, Case concerning the interpretation and application of the 1971 Montreal Convention arising from the aerial incident at Lockerbie (Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom), Provisional Measures, decl. Oda, ICJ Rep. 1992, S. 17 (18 f.); Bassiouni/Wise, S. 64. 87 Vgl. auch IGH, Case concerning the interpretation and application of the 1971 Montreal Convention arising from the aerial incident at Lockerbie (Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom), Provisional Measures, decl. Evensen, Tarassov, Guillaume, Aguilar Mawdsley, ICJ Rep. 1992, S. 24; Bassiouni/Wise, S. 64. 88 So etwa von Labayle, in: Higgins/Flory, S. 185 (190); ähnl. auch Kreß, ISYHR 30 (2000), S. 103 (170 f.) sowie van den Wijngaert, Political Offence Ex-
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1. Kap.: Die Funktionen des Satzes „aut dedere – aut iudicare“
dass das Strafinteresse des Tatortstaates das des Zufluchtsstaates überwiege.89 Außerdem sei der Tatort auch aus praktischen Gründen der geeignetste Ort für die Durchführung des Strafverfahrens, da hier Beweise und Zeugen am einfachsten verfügbar seien.90 Nach dieser Ansicht kommen als Ausnahmefälle, in denen statt des „dedere“ auch die Strafverfolgung im Zufluchtsstaat zulässig ist, vorwiegend die bereits erwähnten Hauptauslieferungshindernisse „political offense exception“ und Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger sowie menschenrechtliche Auslieferungsverbote, etwa wenn dem Täter im ersuchenden Staat Folter droht,91 in Betracht. Geht man dagegen von einem freien Wahlrecht zwischen Auslieferung und Strafverfolgung aus, so sind diese Umstände lediglich der in der Praxis häufigste Grund für die Verweigerung der Auslieferung; rechtlich gesehen kann der Zufluchtsstaat jedoch auch in jedem anderen Fall nach freiem politischem Belieben eine Strafverfolgung durch seine eigenen Behörden vorziehen.92 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesem Streit wird im 4. Kapitel erfolgen. Hier bleibt lediglich vorläufig festzuhalten: Das „aut dedere – aut iudicare“ berechtigt nicht zur Verweigerung der Auslieferung, sondern verpflichtet den Zufluchtsstaat zur Strafverfolgung, falls er von seinem schon aus der Souveränität folgenden Recht zur Verweigerung einer vertraglich nicht gebotenen Auslieferung Gebrauch macht. Möglicherweise beschränkt es sogar dieses ansonsten freie Verweigerungsrecht auf die klassischen Ausception, S. 221 f. (die allerdings wohl eher dem Zufluchtsstaat aus polit. Gründen raten will, in aller Regel das „dedere“ zu wählen, als ihn rechtlich strikt dazu zu verpflichten). Vgl. zu dieser Auffassung auch Bassiouni/Wise, S. 57 und Gilbert, S. 322, die aber selbst eine Betrachtung beider Optionen als gleichrangig befürworten. 89 Vgl. Bassiouni/Wise, S. 57; Shearer, S. 69; Lambert, Hostages, S. 191; Kreß, ISYHR 30 (2000), S. 103 (170 f.). 90 Vgl. Shearer, S. 69 f.; Gilbert, S. 327; Dugard/van den Wyngaert, AJIL 92 (1998), S. 187 (209); Kreß, ISYHR 30 (2000), S. 103 (170 f.); Koering-Joulin/ Labayle, Semaine Juridique 1988, 3349; Lambert, Hostages, S. 191; Stein, Auslieferungsausnahme, S. 167. 91 Vgl. zu solchen menschenrechtlichen Grenzen der Auslieferung Dugard/van den Wyngaert, AJIL 92 (1998), S. 187 ff. 92 Der vor dem IGH verhandelte Lockerbie-Fall, in dem Libyen mit Verweis auf sein „iudicare“-Recht aus Art. 7 Montrealer Konvention die Auslieferung von zwei Terrorverdächtigen an die USA oder das Vereinigte Königreich ablehnte, gehört entgegen einer teilweise in der Lit. geäußerten Ansicht (vgl. bspw. Plachta, MJ 1999, S. 331 [335]) nicht zum Problemkreis der Subsidiarität oder Alternativität der Strafverfolgungspflicht. Es handelte sich bei den Verdächtigen um libysche Staatsangehörige, so dass einer der klassischen Fälle vorlag, in denen auch ein als subsidiär verstandenes „iudicare“ eingreifen würde. Die in diesem Fall strittige Frage lautete vielmehr: Steht auch einem Staat, der die Tatbegehung selbst befohlen hat, die Möglichkeit zur Strafverfolgung des ausführenden Amtswalters offen? (vgl. Bassiouni/Wise, S. 63 sowie unten, 4. Kapitel B. VI.).
D. Resümee: die Funktionen des „aut dedere – aut iudicare“
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lieferungshindernisse „political offence exception“ und Nichtauslieferung eigener Staatsbürger sowie auf menschenrechtliche Auslieferungsverbote.
D. Resümee: die Funktionen des „aut dedere – aut iudicare“ Das Schlagwort „aut dedere – aut iudicare“ bezeichnet Rechtsnormen, die den Staat, in dem sich der Täter einer in einem anderen Staat begangenen Straftat jetzt aufhält, verpflichten, diese Person entweder auszuliefern oder selbst strafrechtlich zu verfolgen, so dass im Ergebnis jedenfalls ein Strafverfahren gegen sie durchgeführt wird. Es handelt sich dabei also immer um Normen, die den Zufluchtsstaat nicht strikt zur Auslieferung verpflichten, sondern ihm – zumindest unter bestimmten Umständen – auch die Option der Strafverfolgung durch eigene Behörden offen lassen. Gleichzeitig wird der Zufluchtsstaat durch diese Normen berechtigt – in manchen Fällen sogar verpflichtet – sein Strafrecht auf solche Auslandstaten auch dann zu erstrecken, wenn der völkerrechtlich hierfür eigentlich erforderliche „genuine link“ fehlt. Diese Funktion ist bei jenen „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen, die sich nur auf eigene Bürger des Zufluchtsstaates beziehen, hinfällig, denn Auslandstaten eigener Bürger darf jeder Staat auch ohne spezielle völkerrechtliche Ermächtigung seinem Strafrecht unterstellen, da die Staatsangehörigkeit des Täters ihm den erforderlichen vernünftigen Anknüpfungspunkt verschafft.
2. Kapitel
Die historische Entwicklung des völkerrechtlichen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes A. Die Herkunft des Terminus „aut dedere – aut iudicare“ Das lateinische „aut dedere – aut iudicare“ als Schlagwort für eine völkerrechtliche Pflicht zur Strafverfolgung oder Auslieferung lässt vermuten, dass dieses Rechtsinstitut schon vor langer Zeit – möglicherweise gar in der römischen Antike – entwickelt wurde. Tatsächlich ist der Terminus „aut dedere – aut iudicare“ aber ein Produkt unserer Tage. Erst seit Anfang der 1970er Jahre finden sich Hinweise auf seinen Gebrauch in Wissenschaft und Praxis.1 So benutzte die ILC ihn 1972 in ihrem Kommentar zum Entwurf der UN-Diplomatenschutzkonvention.2 Er taucht in den Folgejahren auch beispielsweise im Abschlussdokument der Konferenz von Syrakus über Terrorismus und politische Verbrechen (1973)3 und in mehreren wissenschaftlichen Beiträgen über die Bekämpfung des Terrorismus auf.4 Wenn dagegen oft Grotius als Urheber des „aut dedere – aut iudicare“ genannt wird,5 so ist dies schon sprachlich nicht ganz korrekt. Grotius sprach von „dedere“6 und „punire“,7 nicht aber von „iudicare“. Ist somit der Be1 Bassiouni/Wise, S. 4 Fn. 8; Wise, Israel Law Review 27 (1993), S. 268 (277 Fn. 36). 2 Vgl. YBILC 1972, S. 219 (318). 3 Abgedruckt bei Bassiouni, International Terrorism and Political Crimes, S. XIX. 4 Nachweise bei Bassiouni/Wise, S. 4 f. Fn. 8; Wise, Israel Law Review 27 (1993), S. 268 (277 Fn. 36). 5 So bei IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000 (République Démocratique du Congo c. Belgique), Urteil vom 14.02.2002, op. ind. Guillaume, Ziff. 4; Guillaume, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 531; ders., ICLQ 2004, S. 537 (542); Freestone, in: Higgins/Flory, S. 43 (45); Bantekas/Nash, Int. Criminal Law, S. 9. 6 Neben „dedere“ waren für unser heutiges „ausliefern“ noch bis ins 18. Jahrhundert hinein die Ausdrücke „remittere“, „transmittere“ beziehungsweise „restituere“ gebräuchlich (vgl. von Martitz, S. 444 Fn. 41). Die Begriffe „ausliefern“, „(ex-)tradere“ und „extrader“ kommen dagegen erst etwa ab dem 18. Jahrhundert vor, „to extradite“ galt im englischen Sprachgebrauch noch im 19. Jahrhundert teilweise als „an un-English word to express an un-English thing“ und konnte sich nur schwer
B. Auslieferung und Asylrecht in der Antike
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griff „aut dedere – aut iudicare“ eine Schöpfung des ausgehenden 20. Jahrhunderts, reichen die Wurzeln des mit ihm bezeichneten Rechtsinstituts doch weit in die Geschichte zurück: Dass ein Herrscher dem in der Fremde straffällig Gewordenen nicht Zuflucht bieten darf, sondern ihn durch Auslieferung oder Strafverfolgung der gerechten Strafe zuführen muss, ist eine alte Vorstellung. Und obgleich in modernen Texten hauptsächlich Grotius als früher Verfechter einer solchen Rechtspflicht – allenfalls noch im Verein mit einigen wenigen anderen Mitstreitern oder Gegnern – genannt wird,8 ist doch bei genauerer Betrachtung die Zahl derjenigen Juristen, die sich über die Jahrhunderte zu dieser Frage geäußert haben, fast unüberschaubar.9 Die folgenden Ausführungen können daher nur die wichtigsten Schritte der Entwicklung völkerrechtlicher Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebote präsentieren. Bedarf hierzu besteht, da die wenigen zum Thema „aut dedere – aut iudicare“ bislang erschienen Werke einen größeren entwicklungsgeschichtlichen Abschnitt vermissen lassen.10
B. Auslieferung und Asylrecht in der Antike Die Auslieferung von flüchtigen Straftätern ist schon seit mehr als 3000 Jahren bekannt. Das wohl älteste Dokument hierüber ist der 1280 v. Chr. zwischen dem ägyptischen Pharao Ramses II. und dem Hethiterfürsten Hatdurchsetzen (vgl. von Martitz, S. 444 Fn. 41; Shearer, S. 12; Bassiouni/Wise, S. 4 Fn. 7; ausf. Wise, RIDP 62 [1991], S. 109 [125 ff.]). 7 Vgl. Grotius, De iure belli ac pacis, Lib. II, Cap. XXI, § IV, 1, S. 534 und 3, S. 535. 8 Neben den oben in Fn. 5 angeführten Stellen, vgl. bspw. Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 103 ff.; Lilich/Paxman, Am. ULR 26 (1977), S. 217 (300); Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1006; IGH, Case concerning the interpretation and application of the 1971 Montreal Convention arising from the aerial incident at Lockerbie (Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom), Provisional Measures, decl. Evensen, Tarassov, Guillaume, Aguilar Mawdsley, ICJ Rep. 1992, S. 24; Plachta, MJ 1999, S. 331; Gilbert, S. 320 f.; Swart, in: Cassese/Gaeta/Jones, S. 1639 (1658); Vest, Genozid, S. 68; de La Pradelle, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 906; van den Wijngaert, Political offence exception, S. 218 f.; Schachor-Landau, ICLQ 1980, S. 274 (275); Lambert, Hostages, S. 190; v. a. aber Bassiouni/Wise, S. 26–42: In dieser umfangreichsten modernen Abhandlung zum Thema „aut dedere – aut iudicare“ werden hauptsächlich Grotius, Bodin und Vattel als Vordenker dieses Prinzips dargestellt, Baldus und Covarruvias werden nur kurz als weitere seiner Befürworter (S. 27), Wolff und Beccaria als seine Gegner erwähnt (S. 29 und 37). 9 Vgl. für weitere wissenschaftliche Abhandlungen aus früheren Jahrhunderten zu diesem Thema die Nachweise in zwei Büchern aus dem 19. Jhd.: Lammasch, Auslieferungspflicht, S. 20 f., 36 (Fn. 9); von Martitz, S. 459–62. 10 Vgl. die nur sehr kurzen historischen Hinweise, die sich bei Bassiouni/Wise verstreut auf S. 26–42 finden.
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2. Kap.: Die historische Entwicklung
tusili III. abgeschlossene Friedensvertrag, der auch Bestimmungen über die Auslieferung der jeweils in das Reich des Vertragspartners geflohenen Straftäter enthielt.11 Diese Übereinkunft ist insofern typisch für frühe „Auslieferungsverträge“, als die Auslieferungsbestimmungen nur einen kleinen Teil eines umfangreichen Vertragswerks bilden, das hauptsächlich anderen Zwecken – hier der Beendigung des „syrischen Kriegs“ – dient.12 Ein gezieltes Bemühen um eine rechtlich abgesicherte internationale Zusammenarbeit in der Verbrechensbekämpfung spiegelt er somit nicht wider.13 Auch in Israel und Indien war die Auslieferung schon in antiker Zeit bekannt; die Römer praktizierten sie seit mindestens 100 v. Chr.14 Jedoch war in der gesamten Antike der Auslieferungsverkehr zahlenmäßig sehr gering und basierte eher auf gutem politischen Willen als auf Rechtspflichten.15 Dagegen wurde das Recht zur Gewährung von Asyl hochgehalten, welches den Flüchtling sowohl vor der Auslieferung als auch vor der Bestrafung am Zufluchtsort schützte.16 Schon im alten Israel waren im Gebiet bestimmter Städte zwar nicht hinterlistige Mörder, aber doch bloße Totschläger – und zwar Fremde wie Israeliten – vor Strafe oder Blutrache sicher.17 Das weitreichendste Asylrecht aber besaß Griechenland. Dort war selbst der schlimmste Verbrecher, dessen Schuld zweifelsfrei erwiesen war, an bestimmten Orten vor Strafverfolgung und Auslieferung geschützt.18 Waren diese Asyle ursprünglich örtlich eng auf bestimmte Tempel begrenzt, wuchsen sie später sowohl an Zahl als auch an räumlicher Ausdehnung; sie konnten sogar das ganze Gebiet einer Stadt umfassen.19 Das Asylrecht entwickelte sich vom religiösen Asyl, d. h. der Gnade, die ein Gott den in seinen Tempel Geflohenen gewährte, zum territorialen Asyl, das auf der Unabhängigkeit der einzelnen Stadtstaaten beruhte. Es kam bereits der auch heute noch teilweise gegen ein „aut dedere – aut iudicare“ angeführte Gedanke zum Tragen, dass ein Gemeinwesen einen Fremden nicht nach seinen eigenen Gesetzen für ein in der Fremde begangenes Verbrechen bestrafen dürfe.20 Daneben begünstigten 11
Shearer, S. 5; Mettenberg, ZVölkR 23 (1939) S. 23 ff.; Poutiers, in: Ascensio/ Decaux/Pellet, S. 933 (der den Vertrag allerdings auf 1269 v. Chr. datiert). 12 Shearer, S. 6. Allgemein zu diesem Umstand: Stein, EPIL II, S. 335. 13 Shearer, S. 6. 14 Gilbert, S. 17. 15 Vgl. Shearer, S. 5 f.; Stein, EPIL II, S. 328. 16 Vgl. Siebold, S. 17. Wenn heute einige „aut dedere – aut iudicare“-Verträge davon reden, dass das „Asylrecht“ bzw. die zwischen einigen Vertragsparteien bestehenden „Asylverträge“ unangetastet bleiben, ist dagegen höchst strittig, ob dies den Straftäter nur vor der Auslieferung oder auch vor der Strafverfolgung im Zufluchtsstaat schützen kann (vgl. dazu unten 4. Kap., Fn. 227). 17 Siebold, S. 17 f. 18 Reale, RdC 1938 I, S. 470 (496); Siebold, S. 24. 19 Vgl. Reale, RdC 1938 I, S. 470 (496); Siebold, S. 24.
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die hohe Stellung der Gastfreundschaft im antiken Wertekanon sowie – daran anknüpfend – humanitäre Erwägungen, die auf den Härten des damaligen Strafrechts und der Üblichkeit der Blutrache beruhten, die Herausbildung des Asylrechts.21 Oft wurde schon der bloße Zwang, als Flüchtling fern der Heimat leben zu müssen, als ausreichende Strafe empfunden.22 Aus diesem letztgenannten Grund akzeptierten auch die Römer weitgehend, dass flüchtige Römer bei fremden Völkern sichere Zuflucht fanden, und gewährten diese umgekehrt auch den ins Römische Reich geflüchteten Fremden.23 Eine Pflicht zur Kooperation in der Strafverfolgung im Sinne eines „aut dedere – aut iudicare“ konnte sich unter diesen Umständen nicht entwickeln. Darüber sollte auch nicht die Tatsache hinwegtäuschen, dass spätere Autoren wie Ayrault oder Grotius antike Begebenheiten als „Präzedenzfälle“ für ein völkerrechtliches Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot zitierten.24 Sofern es sich dabei überhaupt um historisch nachweisbare Tatsachen und nicht bloß um Mythen oder literarische Erzählungen handelt, geht es ausnahmslos um die Bestrafung oder Auslieferung feindlicher Heerführer und politischer Widersacher, nicht dagegen um „echte“ Verbrecher.25
C. Grenzüberschreitende Strafverfolgung und christliches Gerechtigkeitsempfinden im mittelalterlichen Abendland I. Die Grundlage materiellen Gerechtigkeitsdenkens: die christlich-abendländische Gemeinschaft 1. Weltweite Strafverfolgung als Verteidigung universeller Werte Das „aut dedere – aut iudicare“ soll Straftätern die Möglichkeit abschneiden, im Ausland sichere Zuflucht zu finden. Ein mögliches Motiv dafür ist die Vorstellung von einer allen Staaten gemeinsamen moralischen oder sozialen Ordnung, deren Verteidigung das gemeinsame Ziel aller natio20 Vgl. zu diesem Motiv für das Asylrecht des antiken Griechenlands Reale, RdC 1938 I, S. 470 (495 f.). Zu ähnl. Überlegungen aus heutiger Zeit vgl. bspw. die unten im 3. Kapitel A. II. 2. dargestellte Entstehungsgeschichte der Völkermordkonvention. 21 Vgl. Reale, RdC 1938 I, S. 470 (496 f.); Siebold, S. 22. 22 Reale, RdC 1938 I, S. 470 (497). 23 Vgl. Reale, RdC 1938 I, S. 470 (501). 24 Vgl. zu diesen Autoren unten D. I. 2. und 5. 25 Ähnlich bzgl. Grotius Lammasch, Auslieferungspflicht, S. 4. Zur Sonderstellung dieser hochpolitischen „Straftäter“ in der ansonsten eher auslieferungsfeindlichen Antike vgl. auch Reale, RdC 1938 I, S. 470 (499 ff.).
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2. Kap.: Die historische Entwicklung
nalen Strafrechtsordnungen darstellt. Der Staat erscheint hier nur als Zwischenstufe in einer größeren sozio-politischen Ordnung, welche die gesamte Menschheit umfasst und beispielsweise „civitas maxima“, „world community“ oder „Weltgemeinschaft“ genannt wird.26 Wird diese „Weltordnung“ durch Straftaten verletzt, ist die gesamte Menschheit betroffen und jeder Staat zur Strafverfolgung berechtigt und verpflichtet.27 2. Die Einheit des christlichen Abendlandes und ihre Auswirkungen auf das mittelalterliche (Straf-)Rechtsdenken Diese ethisch-moralische Basis für ein „Weltstrafrecht“ war im christlichen Abendland des Mittelalters vorhanden. Sein Zusammengehörigkeitsund Gemeinschaftsbewusstsein wurde ab der Zeit Karls des Großen geprägt und gründete auf der gemeinsamen römischen Kirche, der überall gepflegten lateinischen Sprache und Kultur sowie Gemeinsamkeiten in der politischen und sozialen Ordnung, wie etwa dem nationenübergreifenden Standesbewusstsein von Rittern, Städten und Geistlichkeit.28 Dabei darf man sich jedoch die „civitas dei“, „res publica sub deo“ oder „civilitas et politia christiana“29 nicht als ein unitarisches Gebilde vorstellen. Die abendländische Christenheit bildete zwar nach Außen eine Einheit, blieb im Innern aber in verschiedene weltliche Herrschaftsbereiche gegliedert.30 Nichts desto trotz war sie nach dem mittelalterlichen Rechtsdenken einem einheitlichen Recht, der lex naturalis, unterworfen, das als Abbild der göttlichen Ordnung galt und beispielsweise den biblischen Dekalog umfasste.31 Diese Normen standen im Rang über dem von Menschen gesetzten Recht der einzelnen Herrschaftsverbände.32 Für die Rechtsunterworfenen bedeutete dies, 26
Vgl. Bassiouni/Wise, S. 28; Wise, RIDP 62 (1991), S. 109 (111). Bassiouni/Wise, S. 36; zu solchen oder ähnl. Gedanken als Grundlage des Völkerstrafrechts vgl. ferner neben Art. 5 I ICC-Statut bspw. Gilbert, S. 7; Ipsen, in: ders., § 42 Rn. 4; Jescheck/Weigend, S. 119; Steven, Va. J. Int. Law 39 (1999), S. 425 (446); Schmitdt, Externe Strafpflichten, S. 28; Weston/Falk/Charlesworth, S. 503 f.; Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 996; Combacau/Sur, S. 319; Möller, Völkerstrafrecht, S. 281 und 420–423. 28 Grewe, Epochen, S. 72 f. 29 Vgl. zu diesen von zeitgenössischen Denkern benutzten Begriffen für die Einheit der abendländischen Christen Grewe, Epochen, S. 77. Der heute für eine staatenübergreifende Gemeinschaft oft gebrauchte Begriff der „civitas maxima“ wurde dagegen erst im 18. Jahrhundert von Christian Wolff geprägt (vgl. Bassiouni/Wise, S. 29). 30 Grewe, Epochen, S. 76. 31 Grewe, Epochen, S. 111. Einen obersten weltlichen Rechtssetzer, der für alle christlichen Könige und Fürsten verbindliche Normen erlassen konnte, kannte das Mittelalter aber dennoch nicht. Weder Papst noch Kaiser konnten einen solchen Anspruch praktisch durchsetzen (vgl. Grewe, Epochen, S. 114 f.). 32 Grewe, Epochen, S. 110. 27
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dass sie unabhängig von den menschlichen Gesetzen ihrer Heimat oder ihres Aufenthaltsortes die Gebote der lex naturalis zu befolgen und das durch sie Gebotene zu tun, das durch sie Verbotene aber zu unterlassen hatten.33 Für die Richter folgte daraus, dass sie unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einem bestimmten Gemeinwesen dazu aufgerufen waren, dieses übergeordnete, allgemeingültige, höchste und unabänderliche Recht anzuwenden.34 Damit war die theoretische Basis für eine die weltlichen territorialen Grenzen überschreitende Verfolgung von Straftaten gelegt. Die Zehn Gebote und andere christliche Werte bildeten eine gemeinsame Grundlage für das (Straf-)Recht aller Herrschaftsverbände. Jene Taten, die hiergegen verstießen, waren nicht nur Verstöße gegen die lex humana des Tatortes und deshalb dort zu bestrafen, sie verstießen gegen die universelle, gottgewollte lex naturalis. Schon in den fränkischen Kapitularien kam der Gedanke zum Ausdruck, dass die materielle Gerechtigkeit und der Wille Gottes es nicht dulden, wenn Straftaten ungesühnt bleiben.35 Und auch das italienische Strafrecht des Mittelalters versuchte aus diesen Gründen, Strafverfolgungslücken zu vermeiden.36 Es stellt sich nun folgende Frage: Mit welchen Instrumenten löste das mittelalterliche Recht diese Aufgabe? Kannte es schon eine Pflicht der Herrschaftsverbände zur Auslieferung oder Bestrafung flüchtiger Straftäter?
II. Die Umsetzung des materiellen Gerechtigkeitsgedankens: Lückenlose Sühnung des Bösen als Aufgabe des Strafrechts 1. Auslieferung als Instrument lückenloser Strafverfolgung Das schon der Antike bekannte Rechtsinstitut der Auslieferung geriet auch im Mittelalter nicht in Vergessenheit.37 Es wurden jedoch nur sehr wenige Auslieferungsverträge geschlossen; Auslieferungen kamen höchst selten vor, beruhten meist auf reiner „courtoisie“ und betrafen eher politische Feinde als „echte“ Verbrecher.38 So schreibt etwa der zeitgenössische italie33
Vgl. Grewe, Epochen, S. 110. Vgl. von Martitz, S. 442. 35 Zu diesem Aspekt der Kapitularien vgl. Oehler, Int. Strafrecht, S. 59. 36 Oehler, Int. Strafrecht, S. 64 f. 37 Auslieferungsbestimmungen – die allerdings wie schon in der Antike meist nur Teil eines umfassenderen Vertragswerkes waren – sind bspw. in einem 1174 zwischen England und Schottland, in einem 1303 zwischen England und Frankreich sowie in einem 1376 zwischen Frankreich und Savoyen abgeschlossen Vertrag zu finden (vgl. dazu Gilbert, S. 18 f.). 38 Shearer, S. 5 f.; Stein, EPIL II, S. 328; Weston/Falk/Charlesworth, S. 503; Damrosch/Henkin/Pugh/Schachter/Smit, S. 1177; von Glahn, S. 223. 34
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2. Kap.: Die historische Entwicklung
nische Strafrechtler Gandinus: „[. . .] hodie non fiat transmissio de uno loco ad alium, quia licet non videamus hoc peti nec fieri, [. . .].“39 Und auch Bartolus musste feststellen: „secundum consuetudinem Italiae remissio non fit.“40 Obwohl Papst Clemens V. sich 1311 auf dem Konzil von Vienne für eine „mos remittendi delinquentes“ aussprach und die Vorstellung von einer die weltlichen Grenzen überspannenden „universitas christiana“ viele Gelehrte eine allgemeine Rechtshilfepflicht befürworten ließ, war die Auslieferung im Mittelalter in der Praxis von geringer Bedeutung.41 Als im 16. Jahrhundert der große Staats- und Rechtsgelehrte Jean Bodin eine allgemeine Auslieferungspflicht forderte, erkannte er rückblickend an, dass es im Mittelalter eine solche nicht gegeben habe.42 2. Die Multiplikation der Gerichtsstände Mangels praktischer Relevanz der Auslieferung schien das geeignetere Mittel zur Durchsetzung der universellen göttlichen Gerechtigkeit die Aburteilung am Zufluchtsort zu sein. Das Strafrecht der oberitalienischen Städte beispielsweise kannte im 13. Jahrhundert mehrere Gerichtsstände, so dass ein Täter auch für außerhalb des jeweiligen Stadtgebietes begangene Taten bestraft werden konnte.43 Die neu entstandene Wissenschaft vom römischen Recht beschäftigte sich ebenfalls mit den Gerichtsständen. Ihre beiden bedeutendsten Vertreter sollen hier vorgestellt werden. a) Die Gerichtsstandslehre des Accursius (1185–1263) In der „glossa ordinaria“ des Accursius, dem für Jahrhunderte wichtigsten Kommentarwerk der europäischen Rechtswissenschaft und Praxis,44 wurde die Stelle Lib. 3, XV. Ubi de criminibus, 1 des Codex als Anknüpfungspunkt für die Vervielfältigung der Gerichtsstände gewählt.45 Neben 39 Gandinus, Tractatus de Maleficiis, in: Kantorowicz, Albertus Gandinus und das Strafrecht der Scholastik, Band II, S. 421. 40 Bartolus de Sassoferato, ad l. 6 Dig., De seulcro viol. 41 Vgl. hierzu auch: Kohler, Int. Strafrecht, S. 144. 42 Vgl. Bodin, Les Six Livres de la République, S. 471. 43 Oehler, Int. Strafrecht, S. 65. Der Sachsenspiegel und die deutschen Stadtrechte kannten dagegen zwar die Gerichtsstände des Wohn- und des Tatortes, nicht jedoch den eine lückenlose „universelle“ Strafverfolgung erst ermöglichenden Gerichtsstand des Ergreifungsortes (vgl. Oehler, Int. Strafrecht S. 84 ff.). 44 Zur Bedeutung der „glossa ordinaria“ vgl. Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, S. 107; Stolleis, Juristen, S. 18 f. 45 Der Text der Stelle lautet: „Quaestiones eorum criminum, quae legibus aut extra ordinem coercentur, ubi commissa vel inchoata sunt vel ubi reperiuntur qui rei
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dem Gerichtsstand des Tatortes ließ Accursius auch die Strafverfolgung am Wohnort des Täters, bei wohnsitzlosen Vagabunden sogar an jedem beliebigen Ergreifungsort zu.46 Damit waren die Strafverfolgungsmöglichkeiten zwar schon recht weit ausgedehnt, aber noch immer gab es „Lücken“: Der Täter, der einen festen Wohnsitz hatte, konnte nur dort oder am Tatort, nicht aber an einem dritten Ergreifungsort abgeurteilt werden.47 b) Die Gerichtsstandslehre des Bartolus de Sassoferato (1314–1357) Der in Todi, Pisa und Perugia als Richter und Rechtsgelehrter tätige Bartolus de Sassoferato48 lehnte die Bestrafung eines flüchtigen Fremden am Ergreifungsort für eine in der Fremde gegen einen Fremden begangene Straftat grundsätzlich ab.49 Seine Begründung widerspricht dem im Mittelalter weit verbreiteten „universellen“ Rechtsdenken. Er ist nämlich der Ansicht, die Gesetze seien immer nur das Recht des sie erlassenden Staates und könnten daher nicht für fremde Bürger in fremdem Gebiet gelten.50 Bartolus verlangte daher einen vernünftigen Anknüpfungspunkt für die Erstreckung des Strafrechts auf Auslandstaten,51 so wie dies auch das heutige Völkerrecht tut.52 Als Ausnahme vom Territorialitätsgrundsatz befürwortete er deshalb die Bestrafung eigener Untertanen für Auslandstaten, die er als einer der Ersten wissenschaftlich ausführlich mit dem Interesse eines Staates an „guten“ Untertanen begründete.53 Allerdings akzeptierte Bartolus auch für Ausländer viele Ausnahmen. So hielt er die Aburteilung am Ergreifungsort bei Vagabunden, bei Bestehen eines entsprechenden Vertrages zwischen Tat- und Ergreifungsort und – was die wohl wichtigste Ausnahme war – in großem Umfange beim Dieb für zulässig. Tatort des Diebstahls – und somit möglicher Gerichtsstand – war für Bartolus nämlich jeder Ort, an dem sich der Dieb mit seiner Beute aufhält.54 esse prohibentur criminis, perfici debere satis notum est.“ (zitiert nach Krueger, Corpus Iuris Civilis, Vol. II, Codex Iustitianus, S. 128). 46 Vgl. Oehler, Int. Strafrecht, S. 65. 47 Dies kritisierte bspw. im 18. Jahrhundert Matthaeus, der für die Zulässigkeit des Gerichtsstandes des Ergreifungsortes gegenüber allen Tätern – also auch solchen mit festem Wohnsitz – plädierte (vgl. Matthaeus, De Criminibus, Lib. 48, Tit. XIII, Cap. V, § 4). 48 Zu Bartolus de Sassoferato vgl. Kleinheyer/Schröder, S. 43–47. Speziell zu seiner Bedeutung für das internationale Strafrecht vgl. Oehler, Int. Strafrecht, S. 66. 49 Bartolus de Sassoferato, In primam Codicis partem Commentaria, Nr. 44. 50 Bartolus de Sassoferato, In primam Codicis partem Commentaria, Nr. 44: „statua sunt ius proprium civitatis“. 51 Oehler, Int. Strafrecht, S. 69. 52 Vgl. oben, 1. Kapitel B. 53 Oehler, Int. Strafrecht, S. 70.
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2. Kap.: Die historische Entwicklung
III. Baldus de Ubaldis: die Verknüpfung von Auslieferung und Gerichtsstandslehre Waren die Idee einer „universellen“ Strafverfolgung sowie Auslieferung und Strafverfolgung am Ergreifungsort als ihre Instrumente auch schon früher bekannt; auf den Gedanken, beide Methoden miteinander zu verknüpfen, verfiel erst im späten Mittelalter Baldus de Ubaldis (1319/27–1400), ein Schüler des Bartolus.55 Ihm dürfte somit die wahre „Vaterschaft“ für das Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot zuzusprechen sein. Als dessen Urheber und bis dahin einziger Vertreter wurde er noch im 16. Jahrhundert von Covarruvias und Bodin zitiert.56 Danach geriet sein Beitrag zu dieser Frage jedoch anscheinend in Vergessenheit57, während sein Werk auf vielen anderen Rechtsgebieten weiterhin großen Einfluss ausübte.58 Baldus erörtert das Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot im Kommentar zum dritten Buch des Codex, unter „ubi de criminibus agi oportet“, der Stelle, an der in seiner Zeit üblicherweise die Gerichtsstandslehre festgemacht wurde. Seine Idee, hier nun erstmals auch die Auslieferung als Alternative mit ins Spiel zu bringen, entspringt wahrscheinlich nicht einem gestiegenen Vertrauen in die Effektivität und Praktikabilität dieses Rechtsinstituts. Im Gegenteil: Baldus beklagt – wie vor ihm schon Gandinus, Bartolus und andere – ausdrücklich die extreme Seltenheit von Auslieferungen.59 Er begriff aber, dass es gerade die zurückhaltende Auslieferungspraxis war, die die Notwendigkeit für die damals übliche Vervielfältigung der Gerichtsstände geschaffen hatte, da beide letztlich nur zwei Seiten derselben Medaille sind. 54
Oehler, Int. Strafrecht, S. 69 f. Vgl. Baldus, In primum, secundum et tertium Codicis Praelectiones, S. 178: „. . . debet remitti,. . ., tamen non remittitur, quis, quin separatim cognoscatur, an delinquerit. que cognitio pertinet ad eum, ad quo petitur remissio. . .. Ista opinio est vera in se.“ 56 Bodin, Les Six livres de la Republique, lat. Ausgabe, S. 326; Covarruvias, Practicarum Quaestionum, Cap. XI, § 10, in: Didaci Covarruvias Opera Omnia, S. 568. 57 Erst in neuster Zeit haben Bassiouni/Wise, S. 27 und Wise, Israel Law Review, 27 (1993), S. 268 (276 f.); ders., RIDP 62 (1991), S. 109 (110 Fn. 3) angedeutet, dass das Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot wohl auf Baldus zurückzuführen sei. Sie begnügen sich für diese Feststellung allerdings mit dem entsprechenden Zitat bei Bodin, ohne bei Baldus selbst nachzuforschen. 58 Vgl. zur Bedeutung des Baldus Kleinheyer/Schröder, S. 40 ff.; Stolleis, Juristen, S. 58 f. 59 Baldus, In primum, secundum et tertium Codicis Praelectiones, S. 178: „sed nunquid hodie fiunt iste remissiones? . . . Non nisi in his iudicibus qui subsunt uni superiori, non autem in his qui non subsunt uni superiori.“ Ebenso Baldus, Consilia, Sive Responsa, Bd. I, Consilium 393: „quas tamen remissiones civitates non faciunt de consuetudine.“ 55
D. Die wissenschaftliche Diskussion im 16. bis 18. Jahrhundert
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Dort, wo die Auslieferung stattfinden kann, ist nämlich die Aburteilung am Zufluchtsort überflüssig, während umgekehrt auf die Auslieferung dann relativ bedenkenlos verzichtet werden kann, wenn die Strafverfolgung am Zufluchtsort gesichert ist.
D. Die wissenschaftliche Diskussion um ein allgemein gültiges „aut dedere – aut punire“ im 16. bis 18. Jahrhundert und ihre praktischen Auswirkungen Die Zeit vom 16. bis 18. Jahrhundert war die „große Zeit“ der wissenschaftlichen Diskussion um ein völkerrechtliches Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot. Unzählige Schriften beschäftigten sich damals mit dieser Materie. Dabei stand die Frage im Vordergrund, ob ein solches Gebot auch unabhängig von vertraglichen Verpflichtungen besteht. Dies ist nicht verwunderlich, bedenkt man, dass noch bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts Auslieferungsverträge eine Seltenheit blieben60 und die Mehrzahl der Fälle deswegen nach allgemeinen Regeln gelöst werden musste. Im Folgenden sollen die wichtigsten Stimmen in dieser Debatte gehört werden. Abschließend wird dann zu untersuchen sein, ob und gegebenenfalls wie der wissenschaftliche Diskurs die damalige Staatenpraxis beeinflusst hat.
I. Die Befürworter eines allgemein gültigen völkerrechtlichen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes 1. Covarruvias y Leyva (1512–1577) Nach Baldus wird es zunächst für circa zweihundert Jahre still um das Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot. Erst Diego de Covarruvias (oder Covarubias) y Leyva sollte Mitte des 16. Jahrhunderts diese Idee wieder aufgreifen und damit eine Diskussion anstoßen, die über Jahrhunderte unter Beteiligung der wichtigsten Völker- und Strafrechtler erbittert fortgeführt wurde. Allerdings steht sein Beitrag hierzu – ebenso wie der aller anderer vorgrotianischer Autoren – bis heute im Schatten des Hugo Grotius, auf den seit dem 17. Jahrhundert die Idee des „aut dedere – aut punire“ meist allein zurückgeführt wird. Erst in neuerer Zeit findet auch Covarruvias als ein weiterer (Mit-)Begründer dieses Instituts wieder langsam Erwähnung in Rechtsprechung und Literatur.61 Die hierzu maßgeblichen Ausführungen 60 Vgl. zur Zahl der Auslieferungsverträge in dieser Zeit Shearer, S. 5 f., Gilbert, S. 18; Stein, EPIL II, S. 355.
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2. Kap.: Die historische Entwicklung
dieses oft als „spanischer Bartolus“ bezeichneten Gelehrten62 finden sich in dem König Phillip II. gewidmeten „Practicarum Quaestionum Librum unum“ von 1556. Seiner Auffassung nach hat sich der Zufluchtsstaat eines Straftäters folgendermaßen zu verhalten: „[. . .], ubi Iudex requisitus diversi principatus est,63 tenetur remittere: quod omnes negent & nos itidem eidem accessimus; vel punire debet delinquentem quem offensus accusat.“64 Covarruvias gibt also unumwunden zu, dass er sich gegen die seinerzeit noch „herrschende Meinung“ stellt („quod omnes negent“). Erst im Anschluss an Grotius scheinen sich die Gewichte in der Literatur dergestalt verschoben zu haben, dass – sofern sich dies aus mehr als 300 Jahren Abstand überhaupt sagen lässt – wohl eher die Befürworter eines allgemein gültigen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes die Oberhand in der Völkerrechtswissenschaft erlangten.65 Für Covarruvias fußt das Auslieferungsoder Strafverfolgungsgebot auf demselben Gedanken, mit dem auch heute einige Autoren ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“ begründen. Die „internationale Gemeinschaft“ könne es nicht dulden, dass Verstöße gegen ihre zentralen Werte ungestraft bleiben.66 Es ist deshalb für ihn kein Gebot der von Menschen gemachten Gesetze, sondern entspringt dem zu allen Zeiten gültigen Naturrecht.67 Die in der späteren Diskussion zumindest neben dem „Gemeinschaftsargument“ bedeutsame Vorstellung, 61 So bspw. bei IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000 (République Démocratique du Congo c. Belgique), Urteil vom 14.02.2002, op. ind. Guillaume, Ziff. 4; IGH, Case concerning the interpretation and application of the 1971 Montreal Convention arising from the aerial incident at Lockerbie (Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom), Provisional Measures, decl. Evensen, Tarassov, Guillaume, Aguilar Mawdsley, ICJ Rep. 1992, S. 24; Bassiouni/Wise, S. 27. 62 Vgl. zu Leben, Werk und Bedeutung des Covarruvias Stolleis, Juristen, S. 148 f. 63 Die Betonung des „diversi principatus est“ kommt daher, dass zur damaligen Zeit der Begriff „remissio“ sowohl die einfache Überstellung von einem Gerichtsbezirk zum anderen innerhalb desselben Herrschaftsverbandes als auch die „internationale“ Auslieferung umfasste (vgl. zu dieser Terminologie Lammasch, Auslieferungspflicht, S. 17 f. Fn. 5). 64 Covarruvias, Practicarum Quaestionum, Cap. XI, § 10, in: Didaci Covarruvias, Opera Omnia, S. 568. 65 Vgl. die weitere Darstellung der Diskussion im Verlauf dieses Kapitels. 66 Covarruvias, Fn. 64, Cap. XI, § 10, S. 568: „[. . .] totius Reipublicae universalis intersit crimen hoc quod defertur, non relinqui impunitum. Nec enim hoc obtinebit in quibuscumque criminibus, sed tamen in illis, quae adeo atrocia sunt, ut eorum impunitas, propter scandalum grave, exemplum insigne vel suspicionem repentendi sceleris, sit cuilibet Reipub. & denique totius orbis universali detrimentum allatur.“ (Hervorhebungen nicht im Original). Zu dieser Argumentation im heutigen Völkerrecht vgl. oben, C. I. 1. und unten 3. Kapitel A. VI. 67 Vgl. Covarruvias, Fn. 64, Cap. XI, § 10, S. 568: „[. . .] Etenim utroq; casu delictum manet impunitum adversus rationem naturalem [. . .]“ und „[. . .] saltem eam
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der Zufluchtsstaat müsse sich das vom Täter begangene Unrecht zurechnen lassen, wenn er ihm Asyl gewährt,68 spielt dagegen für Covarruvias anscheinend keine Rolle. Auch das Verhältnis von Aburteilung am Zufluchtsort und Auslieferung beschäftigt Covarruvias. Nur der Richter, der zur Aburteilung der Tat nach den gewöhnlichen Gerichtsstandsvorschriften zuständig ist, hat ihm zufolge die freie Wahl zwischen beiden. Derjenige Richter dagegen, bei dem nach allgemeinen Regeln kein Gerichtsstand begründet ist, müsse den Täter zwingend ausliefern.69 Eine neue Zuständigkeit zur Verfolgung einer im Ausland begangenen Straftat begründet sein Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot für den Zufluchtsstaat also nicht. In dieser Hinsicht unterscheidet es sich vom modernen „aut dedere – aut iudicare“, das – mit Ausnahme der rein auf eigene Bürger des Zufluchtsstaates beschränkten Variante, bei der dieser ohnehin originäre Strafgewalt besitzt – den Zufluchtsstaat zumindest ermächtigt, sein Strafrecht auch ohne „genuine link“ auf Auslandstaten von Ausländern zu erstrecken.70 Bei Covarruvias’ Modell handelt es sich dagegen eigentlich um eine Auslieferungspflicht, die lediglich dem ohnehin schon zur Aburteilung des Täters zuständigen Staat auch die Wahl der eigenen Strafverfolgung offen lässt – insofern ähnlich heutiger Auslieferungsverträge, die den Zufluchtsstaat generell verpflichten, Straftäter auszuliefern, ihm aber bezüglich seiner eigenen Bürger auch die Wahl der Strafverfolgung lassen.71 Sie trifft den Zufluchtsstaat auch nicht schon automatisch allein wegen der Anwesenheit des Täters in seinem Territorium – wie dies teilweise heute bezüglich des „aut dedere – aut iudicare“ vertreten wird72 –, sondern nur, wenn der Verletzte auch Klage erhebt (quem offensus accusat). Also hat es zwar nicht der Tatortstaat, wohl aber das verletzte Individuum in der Hand, auf die Bestrafung des Täters zu verzichten.
quae jure naturali ei debetur ab offendente [. . .].“ sowie „[. . .] quae [das Unbestraft bleiben von Straftaten] nullo temporis usu tolli potest.“ 68 Dies vertraten in der Folgezeit bspw. Ayrault (vgl. unten 2.), Gentili (vgl. unten 4.), Grotius (vgl. unten 5.) und Vattel (vgl. unten 7.). 69 Covarruvias, Fn. 64, Cap. XI, § 10, S. 568: „Igitur sicut non valeret consuetudo impediens remissionem, ubi Iudex requisitus delictum punire non potest, etiam nec valebit ubi Iudex requirens & requisitus sunt sub diversis principibus, quoties non potest delictum puniri à judicio, qui remissionem negat [. . .].“ Der Gerichtsstand des Ergreifungsortes war seit Accursius nach h. M. nur bei Vagabunden allgemein zulässig [vgl. oben C. II. 2. a)]. 70 Vgl. oben 1. Kapitel B. IV. 71 Vgl. zu solchen „aut dedere – aut iudicare“-Klauseln in modernen Auslieferungsverträgen unten 3. Kapitel A. V. und 4. Kapitel B. III. 6. 72 Vgl. dazu unten, 4. Kapitel A.
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2. Ayrault (1536–1601) Der heutzutage kaum bekannte französische Jurist Pierre Ayrault – ein Schüler des berühmten Jacques Cujas – hat sich in seinem Buch „L’Ordre, formalité et instruction dont les grecs et romains ont usé és accussations publiques“73 ausführlich mit völkerrechtlichen Pflichten zur Auslieferung oder Strafverfolgung auseinandergesetzt. Seine Ausführungen beziehen sich zunächst allerdings nicht auf die eigentliche „aut dedere – aut iudicare“-Konstellation. Es geht nicht um die Pflichten eines Staates, in den sich der Täter nach Begehung einer Straftat in einem anderen Staat flüchtet, sondern um den Staat, in dem ein Einheimischer eine Straftat gegen einen Franzosen begangen hat.74 Nicht ein Verbot, den Tätern von Auslandstaten sichere Zuflucht zu gewähren, wird an dieser Stelle thematisiert, sondern die heute völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Pflicht der Staaten, ausländische Rechtsgüter auf ihrem Territorium mit „due dilligence“ zu schützen und Verletzer gegebenfalls zu bestrafen.75 Dennoch ist Ayraults Werk hier von Interesse, denn die Rechtsfolgen, die es an diesen Tatbestand knüpft, entsprechen dem heutigen „aut dedere – aut iudicare“: „[. . .] le Prince est tenu de faire iustice de son subiect, ou le livrer aux offencez.“76 Auch sonst sind in ihm – wenn auch mit Bezug auf eine andere Konstellation – bereits die wesentlichen Merkmale der später vor allem von Grotius berühmt gemachten Lehre vom „aut dedere – aut punire“ enthalten. So beruft sich Ayrault beispielsweise ebenfalls weniger auf die zeitgenössische Strafverfolgungs- und Auslieferungspraxis, als vielmehr vorwiegend auf die antike Mythologie und Literatur. Sofern diese „Präzedenzfälle“ überhaupt historische Tatsachen sind, handelt es sich überwiegend um Fälle, in denen nicht „echte“ Straftäter, sondern politische Widersacher oder feindliche Heerführer ausgeliefert beziehungsweise bestraft wurden.77 Ayrault begründet – wie später Grotius und andere – die Pflicht zur Auslieferung oder Strafverfol73
Erstausgabe: Paris 1575. Im Folgenden zitiert: Edition Seconde, Paris 1598. Ayrault, Liv. 1, 4ème partie, Nr. 9, S. 62 i. V. m. Nr. 10 S. 64. 75 Vgl. zur heutigen Rechtslage in dieser Hinsicht unten, 3. Kapitel II. 1., ab Fn. 820. 76 Ayrault, Liv. 1, 4ème partie, Nr. 10, S. 66. 77 Vgl. die vielen von Ayrault, Liv. 1, 4ème partie, Nr. 10, S. 64 ff. zitierten Bsp.: Nur drei von ihnen, die ausnahmslos „hochpolitischer“ Natur sind, entstammen nicht der Antike, nämlich die Forderung Kaiser Heinrichs an den Papst nach Bestrafung des Königs von Sizilien, die Forderung des franz. Königs Karl III. nach Bestrafung zweier dem engl. König unterstehender Adliger, die franz. Offiziere angegriffen hatten, sowie die Aufforderung König Ludwigs XI. an den Herzog von Burgund zur Auslieferung eines burgundischen Beamten, der unberechtigterweise ein Mitglied der franz. Königsfamilie festgenommen hatte (vgl. Ayrault, Liv. 1, 4ème partie, Nr. 10, S. 65 f.). 74
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gung damit, dass der Staat sich ansonsten das vom Täter begangene Unrecht zurechnen lassen müsse.78 Damit ist für ihn die Auslieferung- oder Strafverfolgungspflicht eine reine Frage bilateraler Rechtsbeziehungen zwischen Tatortstaat und Heimatstaat des Geschädigten. Anspielungen auf den „Weltgemeinschaftsgedanken“, der zuvor bei Covarruvias allein tragend, später bei Grotius immerhin noch mitentscheidend für das „aut dedere – aut punire“ war,79 finden sich bei Ayrault nicht. Stärker der Lehre des Grotius als der des Covarruvias enstpricht auch, wie sehr Ayrault das Recht des ersuchten Staates zur freien Wahl zwischen Auslieferung und Bestrafung betont und damit den Unterschied zwischen einem „aut dedere – aut iudicare“ und einer reinen Auslieferungspflicht hervorhebt.80 Jedoch nicht nur hinsichtlich Inhalt und Begründung des Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebotes, sondern auch hinsichtlich der Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung nimmt Ayrault schon wesentliche Merkmale späterer Lehren vorweg: „S’il [= der Tatort- und Täterstaat] ne faict ny l’un, ne l’autre [=ausliefern oder aburteilen]: il y a matiere de guerre [. . .].“81 Die bis ins 18. Jahrhundert hinein immer wieder anzutreffende Verbindung zwischen der Gewährung von „safe havens“ für Straftäter und einem Recht zum „gerechten Krieg“ wird hier bereits deutlich. In Anbetracht dieser „Vorläuferwirkung“ für spätere „aut dedere – aut punire“-Lehren verwundert es, dass Ayrault in diesem Zusammenhang bis auf den heutigen Tag keine Erwähnung mehr fand.82 Dies liegt möglicherweise daran, dass seine AusführunVgl. Ayrault, Liv. 1, 4ème partie, Nr. 10, S. 64 f., wo er über die Fidenater, die der Sage nach trotz entsprechender Aufforderung durch Romulus die Mörder durchreisender Römer weder ausgeliefert noch bestraft hatten, urteilt: „Mais que n’ayans gardé ny l’un ny l’autre, d’une inuire privée ils en avoient faict une publique: [. . .].“ 79 Vgl. zu Covarruvias oben 1. und zu Grotius unten 5. 80 Vgl. Ayrault, Liv. 1, 4ème partie, Nr. 10, S. 64: „Il est bien certain quand nous ne tenons pas le coupable, qu’il fault en aller demander iustice à son Seigneur. Car la sommation que nous luy voudrions faire de nous delivrer son subiect pour en faire la iustice nous mesmes, seroit iniuste, ou autant ridicule qu’iniuste. Ce seroit entreprendre de l’auctorité où nous n’avons droict ne puissance.“ Dies begründet er mit einer Art Fürsorgepflicht des Souveräns gegenüber seinen Untertanen, die deren Auslieferung an das Ausland entgegenstehe: „est-il beau & honneste d’abandonner nos subiectz, & les delaisser à nos ennemis, sans cognoissance de cause, ny iugement preallable?“. An anderer Stelle bezeichnet er den Richter des Wohnortes als „iuge naturel“ und beklagt, der Angeklagte müsse sich sonst in einem ihm unbekannten Land verteidigen, wo die Zeugen des Verbrechens nicht vorgeladen werden könnten und niemand Partei für den fremden Angeklagten und gegen den verletzten Landsmann ergreifen wolle (vgl. Ayrault, Liv. 1, 4ème partie, Nr. 11, S. 67 ff.). 81 Ayrault, Liv. 1, 4ème partie, Nr. 10, S. 66. 82 So wird Ayrault weder bei Lammasch, Auslieferungspflicht, noch bei von Martitz oder Bassiouni/Wise erwähnt; Oehler, Int. Strafrecht, S. 79 f. beschäftigt sich mit ihm lediglich in Bezug auf das Strafrechtsanwendungsrecht, nicht aber hinsichtlich einzelfallbezogener Bestrafungspflichten. 78
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gen zur eigentlichen „aut dedere – aut iudicare“-Konstellation, also zu der Frage, wie ein Zufluchtsstaat mit dem Täter einer im Ausland begangenen Straftat umzugehen hat, weniger umfangreich und originell sind. Ohne ausführliche Begründung befürwortet Ayrault für diese Fallgestaltung eine Auslieferungspflicht des Zufluchtsstaates. Dies gelte jedenfalls unter benachbarten und befreundeten Staaten sowie dann, wenn der Täter ein Untertan des ersuchenden Staates sei.83 Die Bestrafung im Zufluchtsstaat lässt er dagegen nur für den Spezialfall gelten, dass der Täter bereits im Tatortstaat in Abwesenheit verurteilt ist, und die Strafe nun im Zufluchtsstaat lediglich vollstreckt werden soll.84 Damit bewegt er sich in einem ähnlichen Fahrwasser wie vor ihm Covarruvias und (noch deutlicher) fast zeitgleich Bodin,85 die beide ebenfalls der Auslieferung größeres Gewicht zumaßen als der Aburteilung in einem Staat, dessen einzige Verbindung zur Tat die Ergreifung des Täters ist. 3. Bodin (1529/30–1596) Jean Bodin gilt als der Begründer der Souveränitätslehre.86 Sein Hauptwerk „Les Six Livres de la Republique“, 1576 zunächst auf Französisch, 1586 auf Latein erschienen, geht auch auf die Frage ein, ob die Staaten zur Zusammenarbeit in der Strafverfolgung verpflichtet sind. Wie von einem Verfechter der Souveränität zu erwarten, ist der Ausgangspunkt, dass souveräne Fürsten und ihre Magistrate nicht an ausländische Entscheidungen gebunden seien.87 Jedoch sei hier entgegen der seit 300 Jahren herrschenden Auffassung zwischen dem „ius gentium“ – womit Bodin das für den Souverän nicht strikt verbindliche, zwischen den Staaten beziehungsweise aus rechtsvergleichender Perspektive in allen Staaten geltende Recht bezeichnet88 – und dem Naturrecht zu unterscheiden.89 Auf dieses Naturrecht stützt Bodin im Folgenden eine Pflicht zur Auslieferung in ihrer Heimat straffällig Vgl. Ayrault, Liv. I, 4ème partie, Nr. 11, S. 71: „Si c’estoit entres proches voisins, lesquels en ce faisant la paix negocient & communiquent ensemble: i’estimerois que le renvoy se devroit faire. S’ils estoient grandement elongnez, qu’on le pourroit desnier: sinon que le Prince mesme demandast son subiect, & est offirst en faire la iustice.“ Auch in diesen Fällen lässt Ayrault allerdings Ausnahmen zu, wenn der Täter sich innerhalb des Zufluchtsstaates an einen speziellen Ort geflüchtet hat, der dort auch für einheimische Straftäter als besonderes „Asyl“ anerkannt ist (vgl. Ayrault, Liv. I, 4ème partie, Nr. 11, S. 72). 84 Vgl. Ayrault, Liv. I, 4ème partie, Nr. 11, S. 72. 85 Hierzu sogleich. 86 Vgl. Quaritsch, S. 39; Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, S. 165; Grewe, Epochen, S. 198. 87 Bodin, Les Six Livres de la République, S. 471. 88 Vgl. – auch zu Zweifeln an dieser Auffassung – Quaritsch, S. 368–83. 83
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gewordener fremder Untertanen an ihren „Heimatfürsten“,90 wie sie im Ergebnis nahezu zeitgleich auch von seinem Landsmann Ayrault vertreten worden war.91 Dies ist keineswegs mit der Souveränitätslehre Bodins unvereinbar. Diese schließt nur aus, dass Fürsten an die menschlichen „Gesetze“ (loy/lex) anderer Fürsten gebunden sind, nicht aber ihre Unterwerfung unter ein nicht von Menschen gemachtes „ius“.92 Letzteres ist für Bodin das Instrument, um die durch den Souveränitätsbegriff juristisch entfesselte Macht des Staates in den Grenzen des Guten und Richtigen zu halten.93 Die untereinander gleichgeordneten Souveräne können also nicht durch andere Menschen gegen ihren Willen gebunden werden, wohl aber kann ihnen das Gottes- und Naturrecht echte Rechtspflichten auferlegen,94 wie hier die Auslieferungspflicht. Trotz ihrer Herleitung aus einem überpositiven Recht ist die Auslieferungspflicht bei Bodin aber nicht Ausfluss einer den Staaten übergeordneten „internationalen Gemeinschaftsidee“, deren Verteidigung gemeinsames Ziel aller Strafrechte ist,95 sondern eine Frage bilateraler Rechtsbeziehungen zwischen ersuchtem und ersuchendem Staat.96 Obwohl auch er letztlich dem flüchtigen Straftäter „safe havens“ abschneiden will, propagiert Bodin dennoch kein „aut dedere – aut iudicare“. Es findet sich bei ihm kein Hinweis darauf, dass der Zufluchtsstaat seiner Auslieferungspflicht durch eine Strafverfolgung des Täters entgehen kann. Er erwähnt zwar, dass Baldus diese Wahlmöglichkeit einräumte97, ohne dem aber ausdrücklich zuzustimmen. Seine Argumente für die Auslieferungspflicht – die in geradezu erstaunlicher Weise den heute gegen die 89 Bodin, Les Six Livres de la République, S. 471. Der Hinweis auf die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen „ius gentium“ und Naturrecht findet sich nur in der lat. Ausgabe von 1586 auf S. 325. 90 Bodin, Les Six Livres de la République, S. 471. 91 Vgl. oben 2. 92 Vgl. Quaritsch, S. 41 und 252; Stolleis, Juristen, S. 91. 93 Quaritsch, S. 393. 94 Vgl. Quaritsch, S. 253 und 383 f. 95 Vielmehr erkennt er die Vielgestaltigkeit der einzelnen Strafrechte ausdrücklich an: „. . . les loix des peuples sont quelquesfois si repugnantes, que les uns donnent loyer, les autres punissent pour mesmes faict.“ (Les Six Livres de la République, S. 416). 96 Dass die unrechtmäßige Verweigerung der Auslieferung lediglich die Rechte des ersuchenden Staates berührt, wird in Bodin, Les Six Livres de la République, S. 472, deutlich: „Ie tient que c’est [die Verweigerung der Auslieferung] une iniure faite à l’estat d’autruy, s’il appert que le fuitif soit coulpable.“ (Hervorhebung nicht im Original). So im Ergebnis auch Bassiouni/Wise, S. 38; Wise, RIDP 62 (1991), S. 109 (118). 97 Bodin, Les Six Livres de la République, S. 471: „. . . n’y en ai qu’un qui mette une condition, pourveu que le Prince où s’est retiré le coulpable en face la iustice.“ Aus S. 326 der lat. Ausgabe geht hervor, dass damit Baldus gemeint war.
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Strafverfolgung am Zufluchtsort angeführten gleichen98 – lassen eher vermuten, dass Bodin die Alternative des „iudicare“ ablehnte: Die Auslieferung erleichtere die Aufklärung der Tat, da bei einem Prozess am Tatort Zeugenvernehmungen einfacher seien, und ermögliche die Bestrafung dort, wo ihr Zweck am Besten erfüllt werde.99 Nur in einer Hinsicht gesteht er dem Zufluchtsstaat eine eigene Prüfung des Sachverhaltes zu: Wenn der ersuchte Fürst feststellt, dass der Flüchtige zu Unrecht verfolgt werde, darf er dessen Auslieferung verweigern.100 Diese auf den ersten Blick modern anmutende Sorge um den unschuldig Verfolgten findet sich auch bei anderen Autoren dieser Epoche, während in der heutigen Diskussion eine eigene Prüfung der Schuldfrage durch den ersuchten Staat eher als ein die Effektivität der Auslieferung verminderndes Ärgernis kritisiert wird.101 Wenn aber bereits der Heimatstaat des Täters kein Interesse an Strafverfolgung hat und deshalb kein Auslieferungsersuchen stellt, bleibt der Täter – aus Bodins Sichtweise, die die Auslieferungspflicht als Gebot, keine fremden Strafansprüche zu vereiteln ansieht, verständlicherweise – straffrei.102 Dies ähnelt in gewisser Weise der Auffassung von Covarruvias, der trotz der Betonung des Weltgemeinschaftsgedankens dem Verletzten eine ähnliche Dispositionsbefugnis einräumte, ist beim modernen „aut dedere – aut iudicare“ aber höchst strittig. Fassen wir also zusammen: Bodin vertrat eine naturrechtliche Auslieferungspflicht, die allerdings auf von ihrem Heimatstaat per Auslieferungsersuchen verlangte Täter beschränkt war. Er war aber weder Befürworter eines alternativen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes noch Verfechter eines universellen Gemeinschaftsgedankens als Grundlage eines „Weltstrafrechts“.
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Siehe oben 1. Kapitel bei Fn. 90. Vgl. Bodin, Les Six Livres de la République, S. 471. 100 Vgl. Bodin, Les Six Livres de la République, S. 473. Gleiches gilt demnach übrigens auch, wenn dem Zufluchtsstaat bei einer Auslieferung ein schwerer Nachteil drohen würde. 101 So unterscheidet auch Grotius, De iure belli ac pacis, Lib. II, Cap. 21, V 1 zwischen echten Straftätern und zu Unrecht verfolgten. Zur modernen Kritik an einer Überprüfung der Beweislage durch den ersuchten Staat vgl. bspw. Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (371); Wise, Israel Law Review 27 (1993), S. 268 (278). 102 Dies geht bspw. aus Bodin, Les Six Livres de La République, S. 473 hervor, wo er von der Pflicht zur Übergabe des Schuldigen „aux Princes & seigneures qui en font instance [. . .]“ spricht (Hervorhebung nicht im Original). 99
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4. Gentili (1552–1608) Alberico Gentili gilt als der bedeutendste Vorgänger des Grotius. Er begründete nicht nur die Selbständigkeit der Völkerrechtswissenschaft von der Theologie, sondern legte auch sonst in vielerlei Hinsicht den Grundstein für das Werk des bekannteren Grotius.103 Sein knapper Beitrag zur Frage eines völkerrechtlichen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes weist einige der für diese Epoche typischen Merkmale auf, wie wir sie bereits bei Ayrault antrafen und wie sie uns gleich auch noch bei Grotius begegnen werden. So wird auch von Gentili die Frage der Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflicht im Rahmen der Zurechnung rechtswidrigen Privatverhaltens zum Staat erörtert.104 Solches Verhalten könne dem Heimatstaat des Handelnden nicht nur dann zugerechnet werden, wenn dieser die Tat befohlen habe105 – ein Zurechnungstatbestand, den auch das heutige Völkerrecht kennt –,106 sondern auch noch im Nachhinein, wenn der Staat das Unrecht nicht durch Aburteilung des Täters oder dessen Auslieferung an den Staat, dessen Rechtsgüter oder Bürger verletzt wurden, sühnt.107 Diese Strafverfolgungs- oder Auslieferungspflicht trifft anscheinend nur den Heimatstaat des Täters. Von fremden Bürgern als Tätern redet Gentili nie, so dass diese wohl unbestraft bleiben dürfen. Es ist ohnehin sehr zweifelhaft, ob er überhaupt die moderne „aut dedere – aut iudicare“-Konstellation vor Augen hatte, bei der der momentane Aufenthaltsort des Täters in einem anderen Staat liegt als der Tatort. Die von ihm herangezogenen antiken „Präzendenzfälle“ – eine Argumentationstechnik, die uns schon bei Ayrault, der sogar teilweise dieselben Beispiele verwendete, begegnete, und die auch für Grotius typisch ist – betreffen eher die bereits von Ayrault vorwiegend an103 Vgl. zu Gentili Stolleis, Juristen, S. 235 f.; Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, S. 167; Grewe, Epochen, S. 230. 104 Vgl. die Kapitelüberschrift in Gentili, De iure belli, Lib. I, Cap. XXI, S. 160: „De malefactis privatorum“ und die einleitenden Sätze: „Imo & si peccavit privatus atque emedare peccatum neglexit princeps aut populus. [. . .] Et illud primum, quod privati nocere universitati non possint iuste, etenim nec quaerunt universitati. Non imputatur universitati delictum singulorum.“ 105 Vgl. Gentili, Fn. 104, S. 160: „Si qui vere habent mandatu a publico, dicant tamen, non ex mandato fecisse se, sed sponte sua, ego putarim, non esse publicum excusatu.“ 106 Vgl. Art. 8 der ILC-Artikel zur Staatenverantwortlichkeit (GA-Res. 56/83), wo von Handeln „im Auftrag“ eines Staates die Rede ist. Näher zur heutigen Rechtslage unten, 3. Kapitel B. II. 1. 107 Vgl. Gentili, Fn. 104, S. 161 f.: „Et hic dico ego, duas esse quaestionies: alteram, si factum privatorum ilico illaqueat universitatem, altera, si universitas negligit illud factum emendare, iam nunc illaquaet ipsa se.“ und Gentili, Fn. 104, S. 162: „Satisfaciendum fuit Romanis quod factum fuisset, aut poena soluta criminis, de quo agebatur, aut eo deditio, qui deliquerat.“
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gesprochene Bestrafungspflicht des Tatortstaates bei einer Verletzung ausländischer Bürger.108 Verletzt der Tatortstaat diese Pflicht, tritt dieselbe Rechtsfolge ein, die schon Ayrault befürwortete und die später Grotius an die Verletzung der Strafverfolgungs- oder Auslieferungspflicht des Zufluchtsstaates knüpfte, nämlich das Recht des verletzten Staates, einen „gerechten Krieg“ zu führen.109 Gentilis Ausführungen entsprechen somit der Sache nach denen Ayraults und unterscheiden sich vom späteren Werk des Grotius hauptsächlich in zweierlei Hinsicht: Sie betreffen (wahrscheinlich) eine andere Konstellation und nehmen jedenfalls nicht ausdrücklich auch noch auf den Weltgemeinschaftsgedanken als zweite Begründung der Strafverfolgungspflicht (neben dem Zurechnungsgedanken) Bezug. Möglicherweise lag dieser Gedanke jedoch unausgesprochen auch seinem „aut dedere – aut iudicare“ zu Grunde. Gentili steht ihm nämlich an anderen Stellen seines Werkes durchaus positiv gegenüber, etwa wenn er ausführt, Kannibalen versündigten sich an der menschlichen Natur, weshalb jeder gegen sie vorgehen dürfe.110 5. Grotius (1583–1645) Über Hugo Grotius, sein Werk und sein Leben sind schon ganze Bibliotheken geschrieben worden. Wurde er früher als „Vater des Völkerrechts“ gefeiert, so mehren sich in jüngster Zeit kritische Stimmen, die seinem Werk Selbständigkeit und Originalität absprechen.111 Uns interessiert von seinem umfangreichen Œuvre nur jener relativ geringe Teil, der sich mit dem völkerrechtlichen Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot befasst. Es gibt hier jedoch gewisse Parallelen zu der allgemeinen Diskussion über die Bedeutung des Hugo Grotius. So wie dieser als „Vater des Völkerrechts“ bezeichnet wurde, wird er heute noch oft als der Urheber des völkerrechtlichen Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebotes genannt.112 Und 108 Vgl. Genitili, Fn. 104, S. 162, wo es um verschiedene antike und biblische Fälle geht, in denen im Gebiet eines Volkes ein Angehöriger eines anderen Volkes getötet worden war. 109 Vgl. Gentili, Fn. 104, S. 162: „[. . .] alioqui inferri universitatati bellum possit.“ 110 Vgl. Gentili, Fn. 104, Lib. I, Cap. 25, 198 f.: „[. . .] qui carnes contra humanas, hominibus in id mactatis, comedebant. Sunt enim haec peccata contra naturam humani generis. [. . .] Sic in civitate ad publicum crimen accusandum quilibet admittitur: etiam qui de civtate non est, quum res defenditur non civitatis propria, sed universlis omnium [. . .]“; dazu auch Tießler-Marenda, S. 222. 111 Vgl. zu diesem Streit Grewe, Epochen, S. 227–32 m. w. N.; ausf. hierzu Haggenmacher, in: Dufour/Haggenmacher/Toman, S. 115–43; Bull, in: ders./Kingsbury/ Roberts, S. 65–93. 112 Vgl. z. B. die Nachweise oben bei Fn. 5 und 8.
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ebenso wie Grotius’ „Vaterschaft“ bezüglich des allgemeinen Völkerrechts zunehmend angezweifelt wird, wirft das bisher in diesem Kapitel Erörterte die Frage auf, ob nicht auch seine Rolle für das „aut dedere – aut punire“ überschätzt wird. Die Idee, dass der Zufluchtsstaat eines Straftäters diesen entweder ausliefern oder selbst aburteilen muss, ist als solche nicht neu. Wir haben sie oben schon bei Baldus und Covarruvias nachgewiesen. Neu ist auch nicht, dass Grotius die Frage nach Auslieferungs- und Bestrafungspflichten im Kontext der Zurechenbarkeit privaten Fehlverhaltens zum Staat erörtert113. Dass eine solche Zurechnung nicht nur an ein staatliches Verhalten im Vorfeld einer Straftat anknüpfen kann,114 sondern auch an das nachträgliche Nichtbestrafen beziehungsweise Nichtausliefern des Täters,115 hatten schon Ayrault und Gentili bejaht.116 Ebenso wie diese beiden, stützt auch er sich zur Begründung auf die römischen und griechischen Klassiker, wobei er teilweise dieselben Begebenheiten anführt, teilweise aber auch neue hinzufügt.117 Allerdings passen die von Ayrault und Gentili übernommen antiken Präzedenzfälle bei näherer Betrachtung oft gar nicht recht in das Werk des Grotius. Anders als seine beiden Vorgänger, erörtert Grotius nämlich nicht nur die Bestrafungs- oder Auslieferungspflichten des Tatortstaates einer gegen ausländische Rechtsgüter gerichteten Straftat – worum es aber in einigen dieser Beispiele geht –118, sondern die Pflichten des Staates, in den sich der Täter nach seiner Straftat geflüchtet hat.119 Grotius bedient sich also weitgehend der Argumentationsweise Ayraults und Gentilis, 113 Vgl. die Überschrift des 21. Kapitels des Zweiten Buches von De iure belli ac pacis, in dem Grotius das „aut dedere – aut punire“ erörtert: „De poenarum communicatione“, also sinngemäß „Über die Ausdehnung der Bestrafung auf andere“ (so bspw. die Übersetzung bei Schätzel, S. 366); vgl. auch Tießler-Marenda, S. 119 und 128. 114 Vgl. hierzu Grotius, De iure belli ac pacis, Lib. II, Cap. XXI, § II, 2–6, S. 531–34, wo es um das Dulden einer Straftat durch einen Staat geht, der von ihr wußte und sie hätte verhindern können. 115 Grotius, De iure belli ac pacis, Lib. II, Cap. XXI, § II, 2, S. 531; § III, 1, S. 534 und v. a. § IV, 1, S. 534. 116 s. o. 2. und 4. 117 Vgl. Grotius, De iure belli ac pacis, Lib. II, Cap. XXI, § IV, 2, S. 534 bis § V, 4, S. 541 mit den oben in Fn. 77 und 108 angeführten Stellen bei Ayrault bzw. Gentili. 118 Vgl. die Forderung der Römer nach der Auslieferung oder Aburteilung Hannibals, auf die sich Gentili, Fn. 104, S. 162 ebenso bezieht wie Grotius, De iure belli ac pacis, Lib. II, Cap. XXI, § IV, 2, S. 535 oder die bei Grotius, a. a. O. erwähnte Auslieferung derjenigen, die den Gesandten Kathargos in Rom Gewalt angetan hatten, durch Rom an Kathargo. 119 Deutlich wird dies daran, dass Grotius vom „Flüchtigen“ spricht und davon, dass die Strafverfolger des Tatortstaates dem Täter nicht über die Landesgrenzen hinweg folgen dürfen (vgl. Grotius, De iure belli ac pacis, Lib. II, Cap. XXI, § IV, 1, S. 534 und 8, S. 537).
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wendet sie aber erstmals auf die zuvor von Covarruvias120 und – in Teilaspekten – von Bodin erörterte eigentliche „aut dedere – aut iudicare“-Konstellation an, in der sich der Täter nicht mehr im Tatortstaat aufhält.121 Deshalb kann er auch noch ein weiteres Argument anführen: Er stellt eine Verbindung her zwischen der territorialen Souveränität des Zufluchtsstaates, die es dem durch die Tat verletzten Staat verbietet, den Täter ins Ausland zu verfolgen, und der Pflicht dieses Zufluchtsstaates, selbst durch Auslieferung oder Aburteilung für die Bestrafung des Täters zu sorgen.122 Der Zufluchtsstaat des Täters dürfe sich nicht dem Bestrafungsrecht des durch die Straftat verletzten Staates entgegenstellen.123 Das Auslieferungs- und Strafverfolgungsgebot ist also quasi das Korrelat der territorialen Souveränität des Zufluchtsstaates; es soll die negativen Auswirkungen von dessen ausschließlicher Gebietshoheit auf die Effektivität der Strafverfolgung mindern. Auch dieser Gedanke ist allerdings nicht völlig neu. Bodins Auslieferungspflicht war letztlich wohl ebenfalls Ausfluss des Rechts des ersuchenden Staates zur Bestrafung seiner Bürger.124 Seine Lehre wich aber in wichtigen Punkten von Grotius ab: Sie betraf nur den Fall, dass der Heimatstaat des Täters den Zufluchtsstaat um Auslieferung ersucht. Grotius daggegen wendet sein „aut dedere – aut punire“ ausdrücklich auch auf Fälle an, in denen der Täter Angehöriger des ersuchten oder eines dritten Staates ist.125 Für Bodin war das Bestrafungsrecht, dem der Zufluchtsstaat nicht entgegentreten darf, also in erster Linie an die Person des Täters gebunden, ähnlich dem heutigen aktiven Personalprinzip, für Grotius ist es dagegen von der Staatsangehörigkeit des Täters unabhängig und allein an die Verletzung von Rechtsgütern des ersuchenden Staates geknüpft. Deshalb gilt bei ihm das Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot auch nicht für alle Straftaten, sondern ist auf zwei Fallgruppen beschränkt, in denen 120
Auch bei Covarruvias, Fn. 64, Cap. XI, § 10, S. 568 ist von „fuga“ die Rede. Ayrault hat sich mit dieser Konstellation zwar auch beschäftigt, aber nur am Rande und ohne eine umfangreiche Begründung für die von ihm hier befürwortete Auslieferungspflicht zu liefern (vgl. oben 1. bei Fn. 83 f.). 122 Grotius, De iure belli ac pacis, Lib. II, Cap. XXI, § IV, 1, S. 534: „Cum vero non soleant civitates permittere ut civitas altera armata intra fines suos poenae expetendae nomine veniat, neque id expediat, sequitur ut civitas apud quem degit qui culpa est compertus alterum facere debeat, aut ipsa interpellata pro merito puniat nocentem, aut eum permittat arbitrio interpellantis. hoc enim illud est dedere, quod in historiis saepissime occurit.“ 123 Grotius, De iure belli ac pacis, Lib. II, Cap. XXI, § III, 2, S. 534: „Multoque minus illud plenum arbitrium habent in delictis quibus alia civitas aut ejus rector peculariter laesus est, et quo proinde nomine ille illave ob dignitatem aut securitatem suam jus habent poenae exigendae secundum ea quae ante diximus. Hoc ergo ius civitas apud quem nocens degit eiusve rector impedire non debet.“ 124 Vgl. oben Fn. 90 und 96. 125 Grotius, De iure belli ac pacis, Lib. II, Cap. XXI, § IV, 8, S. 537. 121
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eine Betroffenheit des ersuchenden Staates entweder handfest besteht oder aber fingiert wird, nämlich einerseits auf gegen den ersuchenden Staat selbst gerichtete Straftaten, andererseits auf Straftaten, die wegen ihrer Schwere alle Staaten gleichermaßen verletzten, so dass alle ein gemeinsames Interesse an ihrer Verfolgung hätten.126 Grotius zieht für die letzte Fallgruppe die Popularklage des innerstaatlichen Rechts vergleichend heran. So wie im innerstaatlichen Recht manche Taten nicht nur vom Verletzten, sondern von jedermann angeklagt werden könnten, so könne auch auf internationaler Ebene gegen Straftaten, die die gesamte menschliche Gesellschaft betreffen, jeder Staat vorgehen.127 Ähnlich „gemeinschaftsbezogen“ war schon das Streben des Mittelalters nach „universeller“ Strafverfolgung gewesen, in dessen Kontext Baldus erstmals ein Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot formuliert hatte, und ähnlich hatte am Übergang zur Neuzeit auch Covarruvias argumentiert. Allerdings ist die grotianische „communitas humani generis“ nicht mit der christlich-abendländischen Gemeinschaftsvorstellung des Mittelalters identisch. Papst und Kaiser hatten zur Zeit des Grotius längst ihre integrative Funktion verloren; religiöse Spaltung, koloniale Rivalitäten und das Souveränitätsstreben der frühmodernen Staaten hatten die mittelalterliche „res publica sub deo“ zerrissen.128 Denen, die nun entweder die internationalen Beziehungen als einen rechtsfreien, nur vom Egoismus der Staaten gesteuerten Naturzustand ansahen, oder aber die mittelalterliche Einheit wieder herstellen wollten, setzte Grotius ein drittes Modell entgegen: Eine rudimentäre Gemeinschaft unabhängiger und souveräner Staaten, die zwar keinen übergeordneten Herrscher und keine zentralen Institutionen, aber dennoch rechtliche Bindungen kennt.129 Im Zentrum dieser Völkerrechtskonzeption steht das Naturrecht, welches die allen vernunftbegabten Wesen bekannten moralischen Normen 126
Grotius, De iure belli ac pacis, Lib. II, Cap. XXI, § III, 2, S. 534 und § V, 5, S. 541. Bezüglich kleinerer Vergehen kann ein Aburteilungs- oder Auslieferungsgebot seiner Ansicht nach dagegen nur vertraglich begründet werden (Grotius, a a. O.). Etwas grotesk klingt für uns heute eine weitere Ausnahme vom „aut dedere – aut punire“: Wenn See- und Straßenräuber so mächtig geworden seien, dass der Zufluchtsstaat sie fürchten muss, darf er ihnen Asyl gewähren (Grotius, a. a. O.; dazu näher Tießler-Marenda, S. 236, die auf Parallelen zur oben in Fn. 100 erwähnten Auffassung Bodins verweist, nach der der Zufluchtsstaat die Auslieferung verweigern darf, um Gefahren von sich abzuwenden). 127 Grotius, De iure belli ac pacis, Lib. II, Cap. XXI, § III, 1 f., S. 534: „in delictis quae ad societatem humanam aliquo modo pertinent.“ Als Bsp. für solche, die ganze Menschheit betreffende Verbrechen führt er an anderer Stelle (Lib. II, Cap. XX, § XL, 3, S. 510) gottloses Behandeln der Eltern, die Tötung von Gastfreunden, den Kannibalismus und die Piraterie an (vgl. dazu auch Tießler-Marenda, S. 221). 128 Vgl. zu diesen desintegrativen Faktoren: Bull, in: ders./Kingsbury/Roberts, S. 65 (71 f.); Grewe, Epochen, S. 168 ff. 129 Bull, in: ders./Kingsbury/Roberts, S. 65 (71 f.).
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umfasst130 und Kraft dessen bestimmten Handlungen von Natur aus eine sittliche Verwerflichkeit innewohnt.131 Grotius ging von einer überall und für alle Zeiten gültigen rechtlich-moralischen Ordnung aus, die für die gesamte Menschheit verbindlich sei,132 und zu deren Durchsetzung es entscheidend auf die Solidarität der einzelnen Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft ankomme.133 Diese theoretische Basis erlaubt es ihm, sein „aut dedere – aut punire“ trotz des Auseinanderfallens der mittelalterlichen Weltordnung nicht ausschließlich aus einer Pflicht zur Respektierung der Rechtsgüter anderer Staaten abzuleiten, sondern gleichberechtigt auch auf die Idee einer Art „world community“ zu stützen, die ein den einzelstaatlichen Interessen übergeordnetes gemeinsames Interesse an der Verfolgung schwerer Straftaten hat.134 Noch in einer weiteren Hinsicht weicht Grotius von Bodin, aber auch von Covarruvias ab. Bodin wollte den Zufluchtsstaat gerade zur Auslieferung des Täters verpflichten, ohne ihm – jedenfalls ausdrücklich – auch die Wahl der Strafverfolgung durch seine eigenen Gerichte zu lassen. Covarruvias gestand diese Wahlmöglichkeit nur dem Staat zu, in dem nach allgemeinen Vorschriften ohnehin ein Gerichtsstand zur Verfolgung des Täters begründet war. Grotius dagegen betont die freie Wahl des ersuchten Staates zwischen der Auslieferung und der Aburteilung.135 Wie schon beim Zurechnungsgedanken, wendet er auch hier eine zuvor schon von Ayrault für den Tatortstaat einer gegen ausländische Rechtsgüter gerichteten Straftat angestellte Überlegung auf die von Covarruvias und Bodin erörterten Pflichten des bloßen Zufluchtsstaates an. Dieses Wahlrecht soll wohl nicht nur im Interesse des Zufluchtsstaates liegen, denn Grotius unterscheidet zwischen dem unschuldig Verfolgten, dem Asyl 130 Bull, in: ders./Kingsbury/Roberts, S. 65 (78); ähnl. Haggenmacher, in: Dufour/Haggenmacher/Toman, S. 115 (120). 131 Vgl. Grotius, De iure belli ac pacis, Lib. I, Cap. I, § X, 1, S. 34. 132 Haggenmacher, in: Dufour/Haggenmacher/Toman, S. 115 (137). 133 Vgl. Bull, in: ders./Kingsbury/Roberts, S. 65 (87). 134 Neben Fn. 126 f. zeigt dies auch Lib. II, Cap. XX, § XL, 1, S. 509, wo auf eine Verletzung des „jus naturae aut gentium“ durch manche Straftaten Bezug genommen wird, die dann auch von Staaten ohne „genuine link“ – um die moderne Terminologie zu benutzen – zur Tat bestraft werden könnten. Anderer Ansicht aber Bassiouni/Wise, S. 39; Wise, Israel Law Review, 27 (1993), S. 268 (278); ders., RIDP 62 (1991), S. 109 (117 ff.) und wohl auch Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1006, die alle den Zurechnungsgedanken als einzigen Grund des grotianischen „aut dedere – aut punire“ nennen. 135 Vgl. Grotius, De iure belli ac pacis, Lib. II, Cap. XXI, § IV, 3, S. 535. Etwas befremdlich erscheint es dagegen, wenn Grotius in De iure belli ac pacis, Lib. II, Cap. XXI, § V, 4, S. 541 ohne nähere Erläuterung noch die Vertreibung als dritte Variante nennt. Diese Möglichkeit hatte er zuvor nie erwähnt: Anders als die Auslieferung garantiert die Ausweisung nicht, dass gegen den Täter ein Strafverfahren durchgeführt wird (vgl. zu dieser Schwäche der Ausweisung oben 1. Kapitel Fn. 5).
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gewährt werden darf, und dem wahren Verbrecher, der ausgeliefert oder bestraft werden muss.136 Er betont, dass der Zufluchtsstaat niemanden ohne vorherige Prüfung des Falles ausliefern dürfe und dem Flüchtigen bis zum Abschluss dieser Untersuchung Asyl gewähren könne.137 Hier trifft sich der auf die Gleichberechtigung von „dedere“ und „punire“ bedachte Grotius mit dem auslieferungsfreundlicheren Bodin, der ebenfalls aus Sorge um den Verdächtigen die heute umstrittene Prüfung der Beweislage durch den ersuchten Staat vor Gewährung der Auslieferung befürwortete.138 Grotius stellt es ferner in die Dispositionsbefugnis des verletzten Staates, ob der Täter bestraft wird. Wünscht keiner der an einer Bestrafung primär interessierten Staaten die Auslieferung, darf der Zufluchtsstaat den Täter nach Belieben straffrei lassen.139 Auch dies ähnelt den Lehren von Covarruvias – bei dem freilich noch das verletzte Individuum dispositionsbefugt war – und Bodin. Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot ist für Grotius, wie auch schon zuvor auch für Ayrault und Gentili, das Recht zum „gerechten Krieg“. Grotius benennt diese Rechtsfolge zwar nicht explizit, sie ergibt sich aber aus dem Gesamtzusammenhang seines Werkes, denn das zweite Buch des „De iure belli ac pacis“, in dem das „aut dedere – aut punire“ behandelt wird, beschäftigt sich ausschließlich mit der Frage nach den „gerechten“ Kriegsgründen.140 Die Nichtauslieferung beziehungsweise Nichtbestrafung des Täters durch den Zufluchtsstaat führt dazu, dass die Tat letzterem zugerechnet wird und auch er „bestraft“ werden kann.141 Bestrafung ist aber, wie Grotius an anderer Stelle ausführt, ein Grund für einen „gerechten Krieg.“142 In seinem gesam136 Vgl. Grotius, De iure belli ac pacis, Lib. II, Cap. XXI, § V, 1, S. 537. Grotius dürfte übrigens nicht aus ganz uneigennützigen Gründen zwischen wahren Verbrechern und unschuldig Verfolgten unterschieden haben. Immerhin war er zu der Zeit, als er sein „De iure belli ac pacis“ schrieb, selbst vor einer ihm aus politischen Gründen auferlegten lebenslangen Gefängnisstrafe nach Paris geflüchtet (vgl. zu dieser Episode seines Lebens Bull, in: ders./Kingsbury/Roberts, S. 65 [68]). 137 Vgl. Grotius, De iure belli ac pacis, Lib. II, Cap. XXI, § IV, 1 Anmerkung zu „qui culpa est compertus“, in der Ausgabe Amsterdam 1646, S. 380 „deditionem enim praecedere debet causae cognitio; non decet [. . .] homines dedere causa non cognita.“; auch Grotius, De iure belli ac pacis, Lib. II, Cap. XXI, § VI, 1, S. 542. 138 Vgl. dazu oben Fn. 100. 139 Vgl. Grotius, De iure belli ac pacis, Lib. II, Cap. XXI., § IV, 7, S. 537: „[. . .] possit [. . .] puniri aut non puniri, [. . .].“ 140 Zum Inhalt des zweiten Buches Haggenmacher, in: Dufour/Haggenmacher/ Toman, S. 115 (124 f.). 141 Vgl. auch die allg. Vorbemerkung des Grotius zum betreffenden Kapitel, De iure belli ac pacis, Lib. II, Cap. XXI, § I, 2, S. 530: „[. . .], hi omnes puniri possunt [. . .].“; ferner Tießler-Marenda, S. 236. 142 Grotius, De iure belli ac pacis, Lib. II, Cap. I, § II, 2, S. 170.
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ten Werk steht die Vorstellung vom Verbrechen als Ursache des Krieges und der Strafe als dessen Rechtfertigung im Vordergrund.143 Die „Strafe“, die den Zufluchtsstaat bei Gewährung sicherer Zuflucht trifft, ist also der „gerechte Krieg“.144 Betrachten wir das bisher Dargelegte noch einmal im Überblick, so deckt sich das Urteil über die Bedeutung des Hugo Grotius für die Entwicklung des Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes weitgehend mit der Einschätzung Grewes bezüglich seiner Bedeutung für das Völkerrecht überhaupt: Grotius baute auf Vorgängern auf. Er hat keine die bisherige Sichtweise radikal umstoßenden Gedanken geäußert, aber dennoch eine eigenständige Leistung von großer Bedeutung erbracht.145 Bezüglich des „aut dedere – aut punire“ besteht sie darin, dass er die von seinen Vorläufern für unterschiedliche Situationen erdachten Gedanken zu einer einheitlichen, auf den bloßen Zufluchtsstaat eines Straftäters anwendbaren Theorie zusammengefasst, sie kombiniert und miteinander verwoben hat. Er hat somit zwar nicht die erste, aber sicherlich die bis dahin am umfassendsten begründete Lehre vom Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot geschaffen. Mit ihr prägte er die Diskussion für Jahrhunderte, denn, wie im Folgenden gezeigt werden wird, übernahmen viele derjenigen Wissenschaftler, die bis zum Erscheinen von Vattels „Droit des Gens“ Mitte des 18. Jahrhunderts ein „aut dedere – aut punire“ befürworteten, pauschal die Thesen des Grotius und fügten nur noch sehr wenige eigene Gedanken bei. Grotius hatte also eine größere Publikumswirkung als alle bisher in diesem Kapitel vorgestellten Gelehrten. Ihn aber als Urheber des Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebotes zu bezeichnen, ist ebenso ein Mythos, wie es wohl auch die Vorstellung vom „Vater des Völkerrechts“146 ist. 6. Die „nachgrotianischen“ Befürworter eines „aut dedere – aut iudicare“ bis Vattel In der folgenden Zeit wurde die Diskussion um das „aut dedere – aut punire“ meist als Streit zwischen Grotius und Pufendorf dargestellt und in den von diesen vorgegebenen Bahnen geführt.147 Es waren vor allem die 143
Grewe, Epochen, S. 255. Dazu ausf. Tießler-Marenda, S. 237 ff. (v. a. S. 239). 145 Ähnl., wenn auch etwas zurückhaltender, beurteilt Grewe, Epochen, S. 231 das Werk des Grotius allgemein. 146 Der Ansicht, dass die „Vaterschaft“ des Grotius für das Völkerecht eine „Legende“ sei, sind bspw. Grewe, Epochen, S. 231 und Haggenmacher, in: Dufour/ Haggenmacher/Toman, S. 115. 147 Vgl. Barbeyrac, Le Droit de la Nature et des Gens, Tome II, Liv. III, Chap. VI, § 12, Note 2, S. 466; Barbeyrac, Les Devoirs de l’Homme et du Citoyen, 144
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herausragenden Pufendorf- und Grotius-Kommentatoren – etwa Johann Gottlieb Heineccius, Jean Barbeyrac oder Heinrich von Cocceij – die die Debatte prägten. Die soeben genannten Autoren – aber auch Barbeyracs Schüler Jean-Jacques Burlamaqui, dessen „Principes du Droit Politique“ keine kommentierte Ausgabe von „De iure belli ac pacis“, sondern ein eigenständiges Völkerrechtslehrbuch sind – pflichteten im Ergebnis Grotius bei und hielten den Zufluchtsstaat eines Straftäters auch ohne besondere vertragliche Regelung unter den von Grotius genannten Bedingungen für zur Auslieferung oder Strafverfolgung verpflichtet.148 Zur Begründung werden im Wesentlichen die Ausführungen des Grotius übernommen.149 Die Autoren dieser „nachgrotianischen“ Epoche des Streits um ein Auslieferungs- oder Strafverfolgungsverbot fügen dem Werk ihres großen Vorgängers nur hier und da ein ergänzendes eigenes Argument hinzu oder betonen den ein oder anderen Punkt noch einmal besonders.150 Es bedurfte erst eines Emer de Vattel, um der Diskussion wieder neue Akzente zu geben. Tome II, Liv. II, Chap. XVI, § 9, Note 1, S. 166; Burlamaqui, Principes du Droit Politique, Tome II, 4ième partie, Chap. 3, § 23 f. Zur Ablehnung einer allgemeinen Aburteilungs- oder Auslieferungspflicht bei Pufendorf vgl. unten II. 1. 148 Vgl. Heineccius, Praelectiones Pufendorf, S. 520 f.; ders., Praelectiones Grotius, S. 692; Barbeyrac, Le Droit de la Nature et des Gens, Tome II, Liv. III, Chap. VI, § 12, Note 2, S. 466: „Il vaut mieux dire donc, qu’indépendamment de toute Convention particulière, on doit livrer celui qui s’est réfugié sur nos terres, supposé qu’il soit veritablement coupable, ou du moins le punir soi-même.“; ders., Les Devoirs de l’Homme et du Citoyen, Tome II, Liv. II, Chap. XVI, § 9, Note 1, S. 166. „S’il est véritablement coupable, on doit le livrer ou le punir soi-même.“; Cocceji, Grotius illust., Tomus II, Lib. II, Cap. XXI, § IV, 1, Anm. a.), S. DXC: „Hoc enim rector civitatis requiri ab extraneo laeso debet, ut vel puniat ipse, vel dedat.“; Burlamaqui, Principes du Droit Politique, Tome II, 4ième partie, Chap. 3, § 24. 149 Bei den Grotius-Kommentaren ergibt sich dies schon aus der insoweit unwidersprochenen Reproduktion der einschlägigen Stellen des Orginaltextes. Aber auch in seinen kommentierten Pufendorf-Übersetzungen „Les Devoirs de l’Homme et du Citoyen“ und „Le Droit de la Nature et des Gens“ schließt sich Barbeyrac pauschal den Argumenten von Grotius an (vgl. die in Fn. 148 angeführten Stellen). Die von seinem Schüler Burlamaqui angeführten Gründe für ein Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot sind der Sache nach ebenfalls nur eine französische Übersetzung der Argumente des Grotius (vgl. Burlamaqui, Principes du Droit Politique, Tome II, 4ième partie, Chap. 3, §§ 24-29). In dessen – ebenfalls posthum – 1768 in Yverdon erschienenen „Principes du Droit de la Nature et des Gens“ entsprechen die Ausführungen über das völkerrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot dagegen praktisch wörtlich der sogleich zu erläuternden Auffassung Vattels in seinem 1758 erschienen „Droit des Gens“, Liv. II,§§ 72–77 (vgl. Burlamaqui, Principes du Droit de la Nature et des Gens, Tome VII, 3ième Partie, Chap. II, §§ IV – VII, S. 160–66), was ein Indiz für die zu beobachtende Ablösung von Grotius durch Vattel als einflussreichster Vertreter des „aut dedere – aut punire“ ist (dazu näher unten 8.). 150 So unterstreichen sie meist die Tatsache, dass der Zufluchtsstaat frei zwischen der Auslieferung und der Strafverfolgung durch eigene Behörden wählen dürfe, und betonen seine Pflicht (und Befugnis), sich auch im Falle der Auslieferung zuvor
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7. Vattel (1714–1767) Emer de Vattel trennt die bei Grotius gemeinsam erörterten Fallgruppen des flüchtigen Ausländers151 und des eigenen Bürgers des Zufluchtsstaates, der sich nach einer Auslandstat in seine Heimat flüchten konnte,152 wieder. Beides sind aber echte „aut dedere – aut iudicare“-Konstellationen, da beidesmal der momentane Aufenthalt des Täters außerhalb des Tatortstaates liegt. Nur die zweite Fallgruppe stellt Vattel in den Kontext der Zurechnung rechtswidrigen Verhaltens Privater zu Staaten, in dem Grotius und andere das Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot erörtert haben.153 Und nur für diesen Fall befürwortet er – sofern es sich um ein schwerwiegendes Verbrechen wie Mord, Brandstiftung oder Diebstahl handelt154 – ein „aut dedere – aut punire“,155 da der Heimatstaat sich sonst für die von seinem selbst von der Schuld des Flüchtlings zu überzeugen (vgl. Heineccius, Praelectiones Pufendorf, S. 520 f.; ähnlich auch ders., Praelectiones Grotius, S. 692; inzident Barbeyrac, Le Droit de la Nature et des Gens, Tome II, Liv. III, Chap. VI, § 12, Note 2, S. 466 und ders., Les Devoirs de l’Homme et du Citoyen, Tome II, Liv. II, Chap. XVI, § 9, Note 1, S. 166, wo er die Aburteilungs- oder Strafverfolgungspflicht auf den Straftäter beschränkt, der „veritablement coupable“ ist; Cocceji, Grotius illust., Tomus II, Lib. II, Cap. XXI, § IV, 1, Anm. c.), S. DXC und § IV, 3, Anm. *), S. DCXI.). 151 Vgl. zu der bei Vattel, Droit des Gens, Tome I, Liv. I, § 232 f. erörterten Konstellation § 232: „Si un exilé ou un banni a été chassé de sa partie pour quelques crimes [. . .]“ (Hervorhebung nicht im Original). 152 Vgl. zu der in Vattel, Droit des Gens, Tome I, Liv. II, §§ 75–77 behandelten Konstellation die Überschrift des einschlägigen Chap. VI: „De la part que la nation peut avoir aux actions de ses citoyens.“ (Hervorhebung nicht im Original) und § 75: „Si le coupable est échappé & retourné dans sa patrie [. . .]“ (Hervorhebung nicht im Original). Im Ergebnis gehen auch Bassiouni/Wise, S. 40 und Wise, RIDP 62 (1991), S. 109 (120) davon aus, dass diese Stelle nur eigene Bürger des Zufluchtsstaates betrifft. 153 Vgl. die Überschrift des einschlägigen Chap. VI des Liv. II von Droit des Gens: „De la part que la nation peut avoir aux actions de ses citoyens.“ 154 Vattel, Droit des Gens, Tome I, Liv. II, § 76. Bezüglich leichterer Straftaten nimmt Vattel nur zwischen eng befreundeten Nachbarstaaten eine Rechtshilfepflicht an, die dann den Charakter einer reinen Auslieferungspflicht hat. Hier dürfe der ersuchte Staat aus Respekt vor der Justiz des ersuchenden Staates auch nicht die Schuldfrage selbst prüfen, es sei denn die Anklage sei nachweisbar rechtsmissbräuchlich. Diese im krassen Gegensatz zu Grotius und seinen Nachfolgern stehende Einschränkung des zufluchtsstaatlichen Prüfungsrechts begründet Vattel damit, das diese Staaten „semblent ne former qu’une même république“. (Vgl. § 76) Das einzige von ihm genannte Beispiel sind die schweizerischen Kantone, die sich im 19. Jhd. tatsächlich zu Gliedern eines Bundesstaates entwickelten. 155 Vattel, Droit des Gens, Tome I, Liv. II, § 76: „Et puisque celui-ci [der Zufluchtsstaat] ne doit point souffrir que ses sujets molestent les sujets d’autrui, ou leur fassent injure, beaucoup moins qu’ils offensent audacieusement les puissances étrangeres, il doit obliger le coupable à réparer le dommage ou l’injure, si cela se
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Bürger begangene Verletzung ausländischer Rechtsgüter (mit-)verantwortlich mache.156 Voraussetzung scheint allerdings zu sein – wie wir es schon zuvor bei Bodin, Grotius und ähnlich auch bei Covarruvias gesehen haben –, dass der Tatortstaat ein entsprechendes Begehren stellt.157 Ist der Flüchtling dagegen kein Bürger des Zufluchtsstaates, besteht nach Vattel keine alternative Strafverfolgungs- oder Auslieferungspflicht. Im Gegenteil, er lehnt hier schon die bloße Zulässigkeit der Aburteilung am Zufluchtsort grundsätzlich ab.158 Da der staatliche Strafanspruch für Vattel eine Art „verstaatlichtes Notwehrrecht“ ist,159 gesteht er nur dem unmittelbar von der Tat betroffenen Staat ein Recht zur Bestrafung zu.160 Allerdings macht Vattel hiervon eine wichtige Ausnahme: Täter, die besonders häufig schwerste Straftaten begehen, können an jedem beliebigen Ergreifungsort „ausgelöscht“ werden.161 Eine Bestrafungspflicht lässt sich dem Text allerdings nicht entnehmen; Vattel spricht ausdrücklich nur von können (peuvent).162 Sofern der Tatortstaat in diesen Fällen aber eine Auslieferung verlangt, muss diese gewährt werden.163 Vattel kennt für den Fall des flüchtigen ausländischen Straftäters also kein „aut dedere – aut iudicare“, peut, ou le punir exemplairement, ou enfin, selon les cas & les circonstances, le livrer à l’Etat offensé, pour en faire justice.“ Die Möglichkeit zur Leistung von Schadensersatz, die vom klassischen zweigeteilten Schema „aut dedere – aut punire“ abweicht, wird von Vattel nicht näher erläutert. Es findet sich lediglich in § 77 die Formulierung: „Mais s’il [der Zufluchtsstaat] livre, ou les biens du coupable en dédommagement, dans les cas susceptibles de cette réparation, ou la personne pour lui faire subir la peine [. . .]“, die darauf hindeutet, dass diese Lösung nur in Betracht kommt, wenn der Täter einen rein materiellen Schaden verursacht hat. 156 Vattel, Droit des Gens, Tome I, Liv. II, § 77: „Le souverain qui refuse de faire réparer le dommage causé par son sujet, ou de punir le coupable, ou enfin de le livrer, se rend en quelque façon complice de l’injure, & il en devient responsable.“ 157 Vgl. Vattel, Droit des Gens, Tome I, Liv. II, § 76: „[. . .] à la réquisition du Souverain, dans les terres de qui le crime a été commis, [. . .].“ 158 Vgl. Vattel, Droit des Gens, Tome I, Liv. I, § 232: „. . . il n’appartient point à la nation chez laquelle il se réfugie de le punir pour cette faute commise dans un pays étranger.“ 159 Vgl. Vattel, Droit des Gens, Tome I, Liv. I, § 169. 160 Vattel, Droit des Gens, Tome I, Liv. I, § 232: „Car la nature ne donne aux hommes & aux nations le droit de punir, que pour leur défense & leur sûreté (§ 169); d’où il suit que l’on ne peut punir que ceux par qui on a été lésé.“ 161 Vattel, Droit des Gens, Tome I, Liv. I, § 233. Vattel nennt dort als Bsp. berufsmäßige Brandstifter, Giftmischer und Mörder. 162 Vgl. Vattel, Droit des Gens, Tome I, Liv. I, § 233 (Hervorhebung nicht im Original). 163 Vattel, Droit des Gens, Tome I, Liv. I, § 233 (Hervorhebung nicht im Original).
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sondern eine auf berufsmäßige Schwerverbrecher beschränkte reine Auslieferungspflicht. Wird aber vom Tatortstaat kein Ersuchen diesbezüglich gestellt, steht es wohl im Belieben des Zufluchtsstaates, ob er von seinem eigenen Bestrafungsrecht gegenüber solchen ausländischen Schwerverbrechern Gebrauch macht oder nicht – so wie er ja auch den eigenen Bürger nur dann aburteilen oder ausliefern muss, wenn der Tatortstaat dies von ihm verlangt. In der Unterscheidung Vattels zwischen Ausländern und Bürgern des Zufluchtsstaates ist in gewisser Weise schon das im 19. Jahrhundert im kontinentalen Rechtskreis allgemein üblich gewordene Prinzip der Nichtauslieferung eigener Bürger164 angelegt. Denn während ein ausländischer „Berufsschwerstverbrecher“ auf Verlangen des Tatortstaates zwingend ausgeliefert werden muss, kann ein Auslieferungsersuchen bezüglich eines eigenen Bürgers abgelehnt werden. Letzteren muss der ersuchte Staat dann allerdings auch bei mittelschweren und nicht berufsmäßig begangenen Straftaten selbst strafrechtlich verfolgen. Wie begründet Vattel nun diese Pflichten des Zufluchtsstaates theoretisch? Die Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflicht hinsichtlich eigener Bürger leitet sich bei ihm – wie bereits gesehen – in erster Linie aus dem Zurechnungsgedanken ab. Ein Verstoß gegen sie stellt letztlich einen Verstoß gegen das Verbot zur Schädigung anderer Staaten und ihrer Bürger dar. Teilweise wird behauptet, Vattels Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot beruhe ausschließlich auf diesem gegenseitigen „neminem laedere“; die Idee einer übergeordneten internationalen Gemeinschaft, die ihre gemeinsamen Wertvorstellungen durch eine internationale Strafverfolgung verteidige, habe er dagegen rundheraus abgelehnt.165 Dies begegnet schon deswegen Bedenken, weil Vattel nur die eine Seite der Medaille – nämlich die des eigenen Bürgers des Zufluchtsstaates – im Kontext der Zurechnung erörtert, nicht aber die andere Seite – den flüchtigen Fremden. Dort heißt es über die berufsmäßigen Schwerstverbrecher, die der Zufluchtsstaat verfolgen darf und auf Ersuchen des Tatortstaates ausliefern muss, sie „violent toute sûreté publique, & se déclarent ennemis du genre humain“ beziehungsweise „attaquent & outragent toutes les nations, en foulant aux pieds les fondement de leur sûreté commune“.166 Die Anklänge an den Weltgemeinschaftsgedanken sind hier nicht zu übersehen. Und auch an der Stelle, die Auslandstaten eigener Bürger betrifft, schreibt er, schwere Verbrechen verstießen nicht nur gegen das Recht des Tatortstaates, sondern 164
Vgl. dazu unten E. I. 2. So Bassiouni/Wise, S. 41; Wise, RIDP 62 (1991), S. 109 (117 f.). 166 Vattel, Droit des Gens, Tome I, Liv. I, § 233 (Hervorhebungen nicht im Original). 165
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seien „également contraires aux loix de sûreté de toutes les nations.“167 Würde man den „Weltgemeinschaftsgedanken“ als tragendes Element der vattelschen Strafverfolgungs- oder Auslieferungspflicht vollkommen zurückweisen, stünde dies nicht nur im Widerspruch zu den soeben zitierten Stellen, sondern auch zu Vattels Gesamtwerk. Sicherlich hat Vattel die „civitas maxima“ seines Lehrers Wolff abgelehnt,168 da diese für Wolff die Rolle einer den Staaten übergeordneten Rechtssetzungs- und Rechtsdurchsetzungsinstanz spielte, für deren Existenz Vattel in der Realität keine Anzeichen fand.169 Damit muss aber nicht zwingend auch die Ablehnung eines gemeinsamen Sicherheitsinteresses aller Staaten einhergehen, aus dem sich unmittelbar naturrechtliche Pflichten zur Verfolgung von Schwerstverbrechen ableiten lassen.170 Vattel geht durchaus davon aus, dass die Staaten das ihnen Mögliche zum gemeinsamen Wohl beitragen müssen.171 Er bezeichnet die europäischen Staaten gar als „une espèce de république“, mit einem „interêt commune“ und dem gemeinsamen Zweck, „l’ordre et la liberté“ zu erhalten.172 Die Argumentationsstränge des gemeinsamen Interesses der Staaten an der Verteidigung bestimmter Rechtsgüter und der Zurechnung des vom Täter begangenen Unrechts zum Zufluchtsstaat sind bei Vattel also – wie auch schon bei Grotius – nebeneinander vorzufinden.173 Es handelt sich bei ihnen zwar um durchaus trennbare, selbstständige Ansätze. Wie bei Vattel deutlich wird, soll dem Zufluchtsstaat über den Zurechnungsgedanken ja zunächst einmal nicht eine Verletzung von „Gemeinschaftsrechtsgütern“ aller Staaten zugerechnet werden, sondern die Verletzung der Rechtsgüter des unmittelbar von der Tat betroffenen 167 Vattel, Droit des Gens, Tome I, Liv. II, § 76 (Hervorhebungen nicht im Original). 168 Vgl. bei Vattel selbst Droit des Gens, Tome I, Préface, S. XXIII, aus der Sekundärliteratur Onuf, AJIL 88 (1994), S. 280 (282); Grewe, Epochen, S. 419. 169 Vattel, Droit des Gens, Tome I, Préface, S. XXIII: „Il est l’essence de toute société civile (civitas) [. . .] qu’il y ait une authorité capable de commander à tous les membres, de leur donner des loix, de contraindre ceux qui refuseroient d’obéir. On ne peut rien concevoir, ni rien supposer de semblable entre les nations. Chaque Etat souverain se prétend, & est effectivement, indépendant de tous les autres.“ Vgl. auch Onuf, AJIL 88 (1994), S. 280 (297). Zu Wolffs Konzept vgl. unten II. 2. 170 Dazu, dass auch Vattel – wie Pufendorf und Wolff – an der für seine Zeit typischen naturrechtlichen Völkerrechtskonstruktion, bei der Normen im Wege der „Vernunft“ aus abstrakten Prinzipien abgeleitet wurden, festhielt vgl. Grewe, Epochen, S. 332 f. 171 Vattel, Droit des Gens, Tome I, Préliminaires, § 13 f. Die Kernstelle lautet: „La premiere loi générale, que le but même de la société des nations nous découvre, est que chaque nation doit contribuer au bonheur & à la perfection des autres, tout ce qui est en son pouvoir.“ (Hervorhebung nicht im Original). 172 Vattel, Droit des Gens, Tome II, Liv. III, § 47. 173 Vgl. oben bei Fn. 113 und 134.
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Staates.174 Allerdings schließen sie sich nicht gegenseitig aus,175 denn die Verfolgung oder Auslieferung eines Straftäters kann ohne Weiteres zugleich ein Akt der Wiedergutmachung gegenüber dem unmittelbar betroffenen Staat und ein Beitrag zur Verteidigung des Gemeinwohls aller Staaten sein. 8. La Maillardière Der „Précis du Droit des Gens, de la Guerre, de la Paix et des Ambassades“ des Vicomte de La Maillardière wollte die Ansichten der damals bekanntesten Völkerrechtler Grotius, Vattel, Barbeyrac, Pufendorf, Wolff und Burlamaqui zu den wichtigsten Fragen zusammenfassen und Widersprüche zwischen ihren Werken auflösen.176 Ziel war es, den Diplomaten des französischen Königs einen praktischen Leitfaden zur Hand zu geben.177 Obwohl er auch Grotius als einen der für sein Werk grundlegenden Autoren nennt, sind die Ausführungen La Maillardières zum Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot am meisten von Vattel geprägt, dessen §§ 72–76 des 2. Buches von „Droit des Gens“ sie nahezu wörtlich gleichen.178 Zusammen mit den 1768 posthum erschienenen „Principes du Droit de la Nature et des Gens“ Burlamaquis, die sich im Gegensatz zu den älteren, grotianisch beeinflussten „Principes du Droit Politique“179 bezüglich des Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes ebenfalls eng an Vattel anlehnen,180 beweist dies, dass Vattel nun Grotius als wichtigste Referenz für ein „aut dedere – aut punire“ verdrängt hatte – eine Position, die er ihm in der heutigen Literatur wieder zurückgeben musste.181
174 Vgl. Vattel, Droit des Gens, Tome I, Liv. II, § 76: „Et puisque celui-ci [der Zufluchtsstaat] ne doit point souffrir que ses sujets molestent les sujets d’autrui, ou leur fassent injure, beaucoup moins qu’ils offensent audacieusement les puissances étrangeres, [. . .].“ 175 Einen solchen Gegensatz sehen aber wohl Bassiouni/Wise, S. 38. 176 Vgl. La Maillardière, Droit des Gens, Avertissement, S. IX f. 177 Vgl. La Maillardière, Droit des Gens, Epitre dédicatoire au Roi, S. VI. 178 Siehe La Maillardière, Droit des Gens, S. 92 f. 179 Vgl. dazu oben Fn. 149. 180 Vgl. Burlamaqui, Principes du Droit de la Nature et des Gens, Tome VII, ième Partie, Chap. II, §§ IV – VII, S. 160–66. 3 181 Vgl. für die dominierende Stellung des Grotius in der heutigen Lit. als historische Referenz für das „aut dedere – aut iudicare“ oben Fn. 5 und 8.
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II. Die Gegner eines allgemein gültigen völkerrechtlichen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes 1. Pufendorf (1632–1694) Samuel Freiherr von Pufendorf gilt nicht nur als Verfasser der führenden Darstellungen des Natur- und Völkerrechts in der Zeit nach Grotius, er wurde damals auch als der Gegner schlechthin eines allgemeinen „aut dedere – aut punire“ angesehen.182 Betrachtet man sein Hauptwerk „De Iure Naturae et Gentium Libri octo“, so verwundert dies. Man sucht in diesem Opus nämlich vergeblich nach einer Absage an ein allgemeingültiges Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot. Im Gegenteil: Bei der Frage, wann die Straftat eines Privaten einem Staat zugerechnet werden könne und damit Grund zum Krieg gegen diesen gebe183 – dem Gesichtspunkt, unter dem damals das „aut dedere – aut punire“ üblicherweise abgehandelt wurde – erkennt Pufendorf nicht nur das Zurechnungskriterium des wissentlichen Nichtverhinderns einer Straftat an184, das an ein staatliches Verhalten vor Tatbegehung anknüpft, sondern verweist für die Frage der Zurechnung durch nachträgliche Gewährung sicherer Zuflucht zustimmend auf Grotius,185 der bekanntlich in diesem Rahmen ein „aut dedere – aut punire“ befürwortete. Sollte also der nach verbreiteter Ansicht exponierteste Gegner eines allgemeinen Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebotes in Wahrheit dessen Befürworter gewesen sein? Die Lektüre des „De Iure Naturae et Gentium“ scheint diesen Schluss nahe zu legen. Nur für den Sonderfall des Kriegsverbrechers, der in einen neutralen Staat geflüchtet ist, rät Pufendorf dem Zufluchtsstaat, den Täter unbehelligt zu lassen,186 nicht nur „weilen 182
Vgl. Fn. 147. Vgl. Pufendorf, De Iure Naturae et Gentium, Lib. VIII, Cap. VI, § XII, S. 938: „So hat man nun zu untersuchen, auf was Weise in einer Bürgerlichen Gesellschaft die Schuld einer Injurie, welche von andern unmittelbahr verübt worden, über die ganze Gesellschaft kommen, und eine Ursach sie zu bekriegen geben kann.“ 184 Vgl. dazu Pufendorf, De Iure Naturae et Gentium, Lib. VIII, Cap. VI, § XII, S. 938. 185 Pufendorf, De Iure Naturae et Gentium, Lib. VIII, Cap. VI, § XII, S. 939: „Wiefern Bürgerliche Gesellschaft durch Auffnehmung und Schützung dererjenigen, welche sich an andern versündiget haben, Ursache zum Krieg wider sich gebe, lehret Grotius ausführlich.“ Mit diesem Verweis enden der entsprechende Paragraph und damit auch die Ausführungen zur Zurechnungsfrage. 186 Pufendorf, De Iure Naturae et Gentium, Lib. VIII, Cap. VI, § XVI, S. 943. Daneben spricht Pufendorf noch bzgl. zweier weiterer Spezialfälle Fragen der Auslieferung bzw. Bestrafung von Auslandstaten an. Zum einen geht es um das Verhältnis von „verbundenen Republiquen“ untereinander: hier muss der Zufluchtsstaat den Straftäter zwar nicht automatisch ausliefern oder bestrafen, wohl aber dann, wenn die „gemeine Versammlung“ der Bundesgenossen auf Antrag des verletzten Staates 183
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uns nichts daran gelegen ist, was einer andernwärts verschuldet hat“187, sondern auch, weil man sich nicht „freventlich in fremde Händel mengen“ solle.188 Das letzte Argument passt aber nur für diesen Sonderfall, in dem die Aburteilung oder Auslieferung des Täters gleichzeitig ein Urteil über die Kriegführung seines Heimatstaates beinhaltet189 und damit in gewisser Weise als „Parteinahme“ zugunsten von dessen Kriegsgegner verstanden werden könnte. Aus dieser Stelle Pufendorfs allgemeine Ansicht über ein „aut dedere – aut punire“ oder die Verfolgung von Auslandstaten abzuleiten, geht dagegen wohl zu weit.190 Wieso aber galt er dann in den folgenden Jahrhunderten geradezu als der Prototyp des Leugners eines allgemeingültigen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes? Dies wird erst deutlich, wenn man neben den „Acht Büchern über das Natur- und Völkerrecht“ auch Pufendorfs Frühwerk „Elementorum Jurisprudentiae Universalis Libri duo“ und die später unter dem Titel „De Officio Hominis et Civis iuxta Legem Naturalem“ erschienene Kurzfassung der „Acht Bücher“ in die Betrachtung einbezieht. In den „Elementorum Jurisprudentiae Universalis“ heißt es klar und unmissverständlich: „[. . .] quando quis in una civitate peccans in alteram confugerit, Magistratus hujus civitatis tenetur quidem curare, ut iste de damno dato satisfaciat; ad supplicium autem ut eum dedat, aut ut ipse eum plectat, necessum non est, [. . .]“.191 Der Zufluchtsstaat muss also nur dafür sorgen, dass der Geschädigte Schadenersatz erhält, den Täter aber weder bestrafen noch ausliefern. Angesichts dieses Widerspruches zwischen dem frühen Pufendorf und seinem späteren Hauptwerk könnte man denken, Pufendorf habe zwar anfänglich ein „aut dedere – aut punire“ abgelehnt, diese Auffassung aber später wieder revidiert. Jedoch spricht er sich auch in dem wiederum späteren „De Officio über die Sache beraten und die Beschuldigung für wahr erachtet habe (vgl. Pufendorf, De Iure Naturae et Gentium, Lib. VII, Cap. V, § XIIX, S. 587). Zum anderen ist Pufendorf der Ansicht, gegen den Land- oder Seeräuber könne jeder Staat, ja sogar jeder Privatmann, vorgehen (vgl. Pufendorf, De Iure Naturae et Gentium, Lib. VIII, Cap. III, § XIII, S. 785). Er bezeichnet dies aber ausdrücklich als eine nicht straf- sondern kriegsrechtliche Befugnis (vgl. Pufendorf, De Iure Naturae et Gentium, Lib. VIII, Cap. III, § XIII, S. 785; auch Oehler, Int. Strafrecht, S. 102), so dass sich aus dieser Stelle für eine Pflicht zur strafrechtlichen Verfolgung von Auslandstaten nichts entnehmen lässt. 187 Pufendorf, De Iure Naturae et Gentium, Lib. VIII, Cap. VI, § XVI, S. 943. 188 Pufendorf, De Iure Naturae et Gentium, Lib. VIII, Cap. VI, § XVI, S. 943. 189 Vgl. auch Pufendorf, De Iure Naturae et Gentium, Lib. VIII, Cap. VI, § XVI, S. 943: „[. . .] es scheinet, daß die Völcker sich gleichsam stillschweigends untereinander verglichen haben, die Entscheidung fremder Kriegs-Händel nicht zu sich zuziehen.“ 190 So aber anscheinend Oehler, Int. Strafrecht, S. 102 Fn. 5a. 191 Pufendorf, Elementorum Jurisprudentiae Universalis, Lib. I, Def. XXI, § 12, S. 242.
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Hominis et Civis“, das sich als Kurzfassung eben jenes Hauptwerkes versteht, gegen ein allgemein gültiges Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot aus. Am Ende der im Übrigen aus den „Acht Büchern“ übernommenen Stelle über die Verantwortlichkeit eines Staates für privates Fehlverhalten verweist er nun nicht auf Grotius, sondern beschränkt das Recht, gegen den Zufluchtsstaat eines flüchtigen Verbrechers Krieg zu führen, auf die Fälle, in denen dieser mit der Nichtauslieferung/Nichtbestrafung gegen spezielle Verträge verstößt.192 Diese Einschränkung gelte nur dann nicht, wenn der Flüchtling in seinem Exil weitere Straftaten gegen andere Staaten plane;193 ein Fall, in dem die repressive Bestrafungspflicht mit der bereits erwähnten präventiven Pflicht zum Verhindern geplanter Straftaten gegen das Ausland zusammenfällt. Dieses Zitat hat Barbeyrac in seiner sehr populären Übersetzung der „Acht Bücher“ ins Französische an die Stelle der dort im Orginaltext zu findenden Zustimmung zu einem „aut dedere – aut punire“ gesetzt,194 was wohl mit dazu beitrug, Pufendorf den Ruf eines kompromisslosen Gegners dieses Rechtsinstituts zu verschaffen. Trotz gewisser Widersprüche im Gesamtwerk Pufendorfs ist dies im Ergebnis berechtigt gewesen, denn angesichts der übereinstimmenden Ablehnung eines allgemein gültigen „aut dedere – aut punire“ sowohl in seinem Früh- als auch in seinem Spätwerk, scheint das auf eine andere Ansicht hindeutende Grotiuszitat in „De Iure Naturae et Gentium“ wohl eher ein Redaktionsversehen gewesen zu sein. Welche Gründe haben Pufendorf zu dieser Ablehnung veranlasst? Die Stellen, an denen er ein allgemeines Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot ablehnt, bringen darüber wenig Aufschluss. Sie sind eher knapp und enthalten außer dem bereits erwähnten „weilen uns nichts daran gelegen ist, was einer andernwärts verschuldet hat“ keine über den Sonderfall des Kriegsverbrechers hinaus verallgemeinerbaren Begründungen. Ein Blick auf die pufendorfsche Gesamtkonzeption des Rechts lässt hier jedoch Rückschlüsse zu: Für ihn gibt es keine von Natur aus schändlichen menschlichen Handlungen. Die Schlechtigkeit einer Handlung kann immer nur anhand eines Gesetzes beurteilt werden, welches wiederum der Befehl einer oberen Autorität ist. Ohne ein solches Gesetz – also sozusagen aus sich heraus – 192 Pufendorf, De Officio Hominis et Civis, Lib. II, Cap. 16, § 9, S. 156: „Ut tamen, qui noxium ad se confugientem poenae duntaxat declinandae causa recipit & protegit, bello peti possit, id magis ex pecuiari pacto inter vicinos & socios, quam communi aliqua obligatione provenit; [. . .]. 193 Pufendorf, De Officio Hominis et Civis, Lib. II, Cap. 16, § 9, S. 156: „[. . .] nisi iste profugus apud nos hostilia in eam civitatem, quam deseruit, machinetur.“ 194 Vgl. Barbeyrac, Le Droit de la Nature et des Gens, Tome II, Liv. III, Chap. VI, § 12, S. 466 und dort Note 2: „J’ai tiré ceci de l’Abrégé des Devoirs de l’homme et du Citoyen, Liv. II, Chap. XVI, § 9.“
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ist eine menschliche Handlung sittlich indifferent.195 Wie in vielen anderen Punkten seines Werkes – etwa bei der Leugnung eines positiven Völkerrechts und der Gleichsetzung des Völkerrechts mit dem nur in abgeschwächter Form verbindlichen Naturrecht –196 ist Pufendorf auch hier von Thomas Hobbes beinflusst, der die Sätze prägte „Civil Law ceasing, crimes cease“ und „Soveraign Power ceaseth, Crime also ceaseth“197. Für Hobbes – der sich nicht zur Frage eines Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebotes geäußert hat – war ein Verstoß gegen das Naturrecht bloße „Sünde“, während „Verbrechen“ nur gegenüber staatlichem Gesetz und staatlicher Gewalt möglich ist.198 Der mittelalterliche Stufenbau der Rechtsordnung, in dem menschliches, natürliches und göttliches Recht miteinander verknüpft sind, ist bei Hobbes verschwunden.199 In dieser Tradition steht es, wenn nach Pufendorf menschliche Handlungen von Natur aus sittlich indifferent sind und Verstöße gegen das Natur- und Völkerrecht200 letztlich nur moralisch201, nicht aber strafrechtlich sanktioniert werden können. Es ist dann kein Platz dafür, aus materiellen Gerechtigkeitserwägungen eine lückenlose internationale Strafverfolgungspflicht im Stile eines „aut dedere – aut punire“ zu fordern, denn Straftaten sind nichts als Verstöße gegen das nationale Recht des Tatortes.202 Statt der „Weltgemeinschaft“ steht für Pufendorf das Nebeneinander der souveränen Staaten im Vordergrund. Der im Zusammenhang mit flüchtigen Kriegsverbrechern gefallene Satz „weilen uns nichts daran gelegen ist, was einer andernwärts verschuldet hat“ ist auf195
Vgl. Pufendorf, De Iure Naturae et Gentium, Lib. I, Cap. 2, § VI, S. 41 f. „Unterdessen halten wir nicht dafür, [. . .] zu behaupten, daß gewisse Dinge an und für sich selbst ohne alle Satz oder Stifftung ehrbar oder schändlich seyen [. . .]; so ist nicht abzusehen, wie beydes die Gut- und Bosheit noch eher als das Gesetz, ja eher als des Gesetzgebers Wille, der es also determinieret habe, seyn können.“ 196 Zum Verhältnis von Pufendorf und Hobbes, die beide auch zu den so genannten „Leugnern des Völkerrechts“ gezählt werden, und ihrer Völkerrechtskonzeption vgl. Grewe, Epochen, S. 408-14, insbes. S. 410 und 413. 197 Hobbes, Leviathan, Chap. 27, 3. Abs., S. 224 f. 198 Vgl. Hobbes, Leviathan, Chap. 27, 3. Abs., S. 224. 199 Grewe, Epochen, S. 408; zu diesem Stufenbau vgl. oben C. I. 2. 200 Pufendorf setzt wie Hobbes Natur- und Völkerrecht gleich, da es diesem an einer den Völkerrechtssubjekten übergeordnete Instanz, die Voraussetzung für positives Recht sei, fehle (vgl. Pufendorf, De Iure Nature et Gentium, Lib. 2, Cap. 3, § XXIII, S. 390 f.; Grewe, Epochen, S. 412). 201 Zu göttlicher Strafe oder individueller Rache als einzige Rechtsfolgen eines Naturrechtsverstoßes bei Pufendorf vgl. Grewe, Epochen, S. 413; vgl. auch Pufendorf, Elementorum Jurisprudentiae Universalis, Lib. I, Def. XXI, § 9, S. 240. 202 Zur Ablehnung von „Völkergemeinschaft“ und Bestrafung aus reinen Gerechtigkeitserwägungen bei Pufendorf vgl. Oehler, Int. Strafrecht, S. 101 f.; zur Unvereinbarkeit der hobbesianischen Konstruktion der internationalen Beziehungen als „bellum omnium contra omnes“ mit dem Konzept „universeller Verbrechen“ auch Bassiouni/Wise, S. 31.
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grund dieser Konzeption nur folgerichtig und wohl die Quintessenz der Gründe, die Pufendorf auch bezüglich aller anderen Straftatkategorien ein „aut dedere – aut punire“ ablehnen lassen. 2. Wolff (1679–1754) Auch Christian Wolff gilt in der modernen Literatur als Gegner eines völkerrechtlichen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes.203 Dies ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass das auf ihn zurückzuführende Modell der „civitas maxima“ von denselben Autoren als Grundlage eines „aut dedere – aut iudicare“ bezeichnet wird.204 Betrachten wir das wolffsche Konzept der „civitas maxima“ zunächst einmal näher. Die „civitas maxima“ ist für ihn der größte Verband in einer Reihe von Gemeinwesen, die mit der Stadt beginnt und – nach aufsteigender Größe geordnet – über die einzelnen Staaten hin zu einem aus diesen zusammengesetzten universellen Gebilde führt.205 Dieses Modell ist weder mit modernen Ideen eines unmittelbar aus den Einzelmenschen zusammengesetzten Weltstaates noch mit der alten Idee einer in Freundschaft und gegenseitigem Respekt verbundenen Welt identisch.206 Die „civitas maxima“ dient Wolff nicht nur dazu, die einzelnen Staaten zur Verfolgung eines übergeordneten Gemeinwohls zu verpflichten,207 sie soll auch den Geltungsgrund für das „ius gentium voluntarium“ liefern, welches die zweite Stufe in seinem vierstufigen Völkerrechtsaufbau darstellt.208 Dieses „ius gentium voluntarium“ ist letztlich nichts anderes als die Gesetze der „civitas maxima“.209 Es beruht auf einem als naturnotwendig vorausgesetzten Konsens. Aus den Notwendigkeiten der Natur folgt für Wolff nämlich, dass die Staaten sich zur „civitas maxima“ zusammenschließen mussten;210 würden sie ihre rechte Vernunft gebrauchen, würden sie in jene Regeln einwilligen, die ihnen das „ius gentium voluntarium“ dieser „civitas maxima“ vorschreibt.211 Deshalb sind diese Regeln auch dem tatsächlichen Willen der einzelnen Staaten, der ausdrücklich in Verträgen oder stillschweigend im Gewohnheitsrecht zum Ausdruck 203
Vgl. Bassiouni/Wise, S. 29. Vgl. Bassiouni/Wise, S. 29 f. 205 Onuf, AJIL 88 (1994), S. 280 (296). 206 Onuf, AJIL 88 (1994), S. 280 (296). 207 Vgl. zu dieser Verpflichtung aller Staaten auf das Gemeinwohl der gesamten Menschheit Wolff, Jus Gentium, § 8. 208 Die erste Stufe war das Naturrecht, die dritte und vierte Stufe bildeten Vertrags- und Gewohnheitsrecht. Vgl. zum Ganzen Grewe, Epochen, S. 418. 209 Grewe, Epochen, S. 418. 210 Grewe, Epochen, S. 418. 211 Grewe, Epochen, S. 419. 204
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kommt, überlegen.212 Der Gipfel dieser oft als eigentümlich und weltfremd kritisierten Konstruktion war der von Wolff selbst als Fiktion bezeichnete „rector civitas maximae“, der als Oberhaupt dieser Gemeinschaft durch Anwendung seiner Vernunft den Inhalt des „ius gentium voluntarium“ bestimmen sollte.213 Wenden wir uns nun nach diesem allgemeinen Überblick über das Völkerrechtskonzept des Christian Wolff seinen Ausführungen über das „aut dedere – aut punire“ zu. Trotz der Betonung des den Staaten übergeordneten Gemeinschaftsinteresses gesteht er jedem Flüchtling das Recht zu, fremde Völker und Herrscher um Asyl zu bitten.214 Die derart um Zuflucht Ersuchten können aus Gründen des eigenen Wohles – über deren Vorliegen sie frei und ohne Kontrolle von Außen selbst entscheiden – das Asyl verweigern.215 Daraus folgt aber im Umkehrschluss, dass sie es eben auch frei gewähren dürfen, ohne dadurch ihre Pflichten gegenüber anderen Staaten oder die Gesetze der „civitas maxima“ zu verletzen. Zwei Begründungen führt Wolff für diese asylfreundliche Haltung an, von denen die erste humanitärer Art ist: Der Flüchtling verdiene Mitleid, selbst wenn er aus Furcht vor Bestrafung für ein Verbrechen geflohen sei und damit sein Unglück selbst verschuldet habe. Mitleid beruhe auf Liebe, lieben müsse man aber alle Menschen, selbst wenn sie Schuld auf sich geladen haben. Wolff unterscheidet ausdrücklich zwischen der Tat, die man zwar verabscheue, aber auch durch Bestrafung des Täters nicht mehr ungeschehen machen könne, und dem Täter, den man als Menschen dennoch lieben müsse.216 Wenn Wolff an dieser Stelle betont, dass die Gewährung sicherer Zuflucht keineswegs eine Billigung der vom Flüchtling begangenen Straftat bedeute, ist dies auch eine Absage an den Zurechnungsgedanken, für den die nachträgliche Aufnahme des Täters der aktiven Förderung der Tat beziehungsweise ihrem wissentlichen Dulden gleichsteht, obwohl nur in den beiden letztgenannten Fällen das staatliche Verhalten für den Taterfolg kausal ist. Die zweite Begründungslinie ist uns bereits von Pufendorf sowie den französischen Aufklärern her bekannt und will nicht so Recht zu dem Begründer der „civitas maxima“ passen: Wolff scheint ein gemeinsames Strafverfolgungsinteresse aller Staaten geradezu abzulehnen, wenn er schreibt, die in einem Staat begangene Tat gehe einen anderen Staat nichts an, da nur derjenige Staat, dessen Bürger oder Rechtsgüter durch die Tat verletzt wurden, von der Natur ein Recht zu deren Bestrafung eingeräumt bekommen 212 213 214 215 216
Grewe, Epochen, S. 418. Grewe, Epochen, S. 419. Wolff, Jus Gentium, § 148. Wolff, Jus Gentium, § 149. Vgl. zu dieser „humanitären Argumentation“ Wolff, Jus Gentium, § 150.
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habe. Eine Bestrafung des Bösen um seiner selbst Willen sei dagegen nicht erforderlich.217 Anders als für den soeben erörterten Fall eines aus Sicht des Zufluchtsstaates „Fremden“, erkennt Wolff eine Bestrafungs- oder wohl auch Auslieferungspflicht dann an, wenn ein eigener Bürger den Bürger eines anderen Staates verletzt hat.218 Wolff stellt hier ausdrücklich einen Bezug zur „civitas maxima“ her: mit dem Zusammenschluss zur „civitas maxima“ hätten sich die Nationen zur Förderung des Gemeinwohls des Ganzen verpflichtet, wozu auch gehöre, seinen Untertanen nicht die Schädigung fremder Untertanen zu erlauben.219 Allerdings lässt sich dem Werk von Wolff nicht mit Sicherheit entnehmen, ob nur er den Fall betrachtet, in dem der Ausländer im Territorium des zur Bestrafung verpflichteten Staates verletzt wurde – womit wir nicht in einer „aut dedere – aut iudicare“-Konstellation, sondern bei der von Ayrault und Gentili erörterten Frage einer Schutzpflicht des Tatortstaates bezüglich ausländischer Rechtsgüter wären – oder ob er davon ausgeht, dass der Bürger des Zufluchstaates die Tat im Ausland begangen hatte und dann in seine Heimat geflüchtet ist – eine echte „aut dedere – aut iudicare“-Situation. Wolff klärt dies nirgends ausdrücklich auf. Daraus, dass er den Tatort mit keinem Wort erwähnt, kann man im Umkehrschluss vielleicht folgern, dass es für seine Ausführungen bedeutungslos ist, wo die Tat verübt wurde, so dass die Bestrafungspflicht jedenfalls auch den Zufluchtsstaat trifft, der nicht zugleich Tatortstaat ist. Deshalb erfolgt die Einordnung Wolffs als Gegner eines „aut dedere – aut punire“ im Rahmen der vorliegenden Untersuchung mit gewissen Vorbehalten. Möglicherweise hat er ein „aut dedere – aut punire“ bejaht, wenn der Täter Bürger des Zufluchtsstaates war. Für aus Sicht des Zufluchtsstaates fremde Straftäter hat er es aber mit großer Entschiedenheit verneint. Wie dies zu seiner „civitas maxima“ und der damit zusammenhängenden Pflicht aller Staaten zur Verfolgung des „Weltgemeinwohls“ passt, bleibt letztlich ein Rätsel. Es zeigt sich hier, wie schnell die rationalistische Ableitung konkreter Rechtspflichten aus unspezifischen „Weltgemeinwohlvorstellungen“ in den Bereich der 217 Vgl. zu dieser Argumentation Wolff, Jus Gentium, § 151. Wolff geht in Jus Gentium, § 249 übrigens ähnlich wie Grotius davon aus, dass kein Staat mit seinen Sicherheitskräften in fremdes Territorium eindringen darf, um dort einen flüchtigen Verbrecher zu verhaften, ohne aber anscheinend auch nur daran zu denken, als Korrelat hierzu dem Zufluchtsstaat ein „aut dedere – aut punire“ aufzuerlegen. 218 Wolff, Jus Gentium, § 317 f. Obwohl Wolff sich nicht darüber äußert, ob der Heimatstaat des Täters diesen auch an den Opferstaat ausliefern kann, anstatt ihn selbst abzuurteilen, spricht vieles dafür, dass er dies erlaubt hätte: Dadurch wäre sogar die Bestrafung des Täters durch das verletzte Gemeinwesen sichergestellt, die Wolff an anderer Stelle im Vergleich zur Strafverfolgung am bloßen Zufluchtsort bevorzugt (vgl. oben Fn. 217). 219 Wolff, Jus Gentium, § 317.
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von subjektiven Wertvorstellungen geprägten philosophisch-juristischen Spekulation abgleitet.220 Auf das „internationale Gemeinwohl“ kann man theoretisch ebensogut eine universelle Verfolgungspflicht stützen – wie dies Covarruvias, Grotius oder Vattel taten und auch heute wieder einige Autoren tun221 – wie man sie mit Wolff unter Hinweis auf die Schutzbedürftigkeit des Flüchtigen weitgehend verneinen kann. 3. Die Lehren Beccarias (1738–1794) vor dem Hintergrund der französischen Aufklärung Die Schriften der französischen Aufklärer Montesquieu und Rousseau, die kompromisslos den Territorialitätsgrundsatz als einzig legitimen Anknüpfungspunkt der Strafgewalt vertraten, bedeuteten einen radikalen Einschnitt in das internationale Strafrecht222 und kollidierten zwangsläufig mit der Idee eines allgemeinverbindlichen „aut dedere – aut punire“, das auf universelle Strafverfolgung abzielt223 – obwohl sie sich zu dieser Maxime nicht ausdrücklich geäußert haben. Für Montesquieu waren Gesetze im Allgemeinen – und damit auch Strafgesetze – nicht Ausdruck universell gültiger Ge- und Verbote, sondern lediglich Verhaltensregeln, die sich eine bestimmte Gesellschaft in Abhängigkeit von ihren konkreten Lebensumständen224 für ihr eigenes Zusammenleben selbst gegeben hat und die deshalb nur in deren Gebiet Geltung beanspruchen können: „Une société particulière ne fait point des lois pour une autre société.“225 Folglich ist die Anwendung des nationalen Strafrechts auf eine im Ausland begangene Straftat – wie sie erfolgt, wenn der Zufluchtsstaat die Variante des „punire“ wählt – für Montesquieu „le comble de la stupidité“.226 Gleiches gilt der Sache nach auch für Rousseau, der das Verbrechen als Bruch des Gesellschaftsvertrages des Tatortstaates ansieht227, denn dann hat der Zufluchtsstaat – der nur seinen eigenen Gesellschaftsvertrag verteidigen muss – keinerlei Grund, 220 Den Vorwurf der philosophisch-juristischen Spekulation erhebt Tomuschat, AVR 33 (1995), S. 1 (7 f.) gegen Wolff. 221 Zu solchen Erwägungen im heutigen Völkerrecht vgl. unten 3. Kapitel B. III. 222 Oehler, Int. Strafrecht, S. 110 ff. 223 So auch IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000 (République Démocratique du Congo c. Belgique), Urteil vom 14.02.2002, op. ind. Guillaume, Ziff. 4. 224 Vgl. Montesquieu, De l’esprit des lois, Liv. XVIII, Chap. VIII, in: Œuvres Complètes, Tome 4, S. 264 und Liv. I, Chap. III, in: Œuvres Complètes, Tome 3, S. 99 f. 225 Montesquieu, De l’esprit des lois, Liv. XXVI, Chap. XVI, in: Œuvres Complètes, Tome 5, S. 223. 226 Montesquieu, De l’esprit des lois, Liv. XXVI, Chap. XXII, in: Œuvres Complètes, Tome 5, S. 232.
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durch ein „dedere“ oder „punire“ zur Bestrafung einer Auslandtstat – also der Verteidigung eines fremden Gesellschaftsvertrages – beizutragen.228 Der Italiener Cesare Beccaria übertrug diese Ideen in die Strafrechtswissenschaft.229 Trotz einer bekannten Stelle, in der er die Auffassung vertritt, dass es keine Orte geben dürfe, an denen ein Verbrecher straflos bleibe, da die Aussicht auf Straflosigkeit zu neuen Straftaten verleite,230 lehnt er eine allgemeine Pflicht des Zufluchtsstaates zur Auslieferung oder Bestrafung des Täters einer Auslandstat ab. Beccaria bezieht die vorgenannte Aussage ausdrücklich nur auf sogenannte „Freistätten“ innerhalb ein und desselben Staates.231 Bei grenzüberschreitender Flucht tritt er dagegen für die Ausschließlichkeit des Territorialprinzips ein.232 Strafe solle nicht die „einer Handlung zu Grunde liegende Schlechtigkeit [. . .] rächen“ oder „die Richter zu Rächer[n] der Empfindsamkeit der Menschen“ machen, sondern den Bruch des Gesellschaftsvertrags des Tatortstaates ahnden.233 Straftaten verstoßen also für ihn nicht gegen universelle, von allen Staaten zu verteidi227 Vgl. zu dieser Vorstellung Rousseaus vom Verbrechen Rousseau, Du Contrat Social, Liv. II, Chap. V, S. 55 f. Rousseau lässt es an dieser Stelle allerdings zu, dass auch Ausländer nach dem Territorialprinzip für Inlandstaten abgeurteilt werden, da man sich durch Betreten eines Staates dessen Gesellschaftsvertrag unterwerfe. Locke ging dagegen in Two Treatises of Government, II, § 9, S. 273 noch weiter: Er ließ nur die Aburteilung von Inländern für Inlandstaten zu, da der Tatortstaat für den Ausländer nicht der Souverän sei. Damit erhielt jeder Ausländer quasi Strafverfolgungsimmunität. 228 Anders als die französischen Aufklärer argumentierte Kant – allerdings ohne direkten Bezug zur extraterritorialen Strafrechtsanwendung oder einem „aut dedere – aut punire“ – für eine „Weltgemeinschaftsidee“, die zur Betroffenheit aller Staaten im Falle von Rechtsverletzungen führt. Vgl. dazu die heute im Zusammenhang mit der universellen Strafverfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit häufig zitierte (siehe Manske, S. 336; Möller, Völkerstrafrecht, S. 421) Stelle am Ende des dritten Definitivartikels von „Zum ewigen Frieden“ (zitiert nach Kants Werke, Bd. VIII, S. 360): „Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: [. . .].“ 229 Vgl. IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000 (République Démocratique du Congo c. Belgique), Urteil vom 14.02.2002, op. ind. Guillaume, Ziff. 4. 230 Beccaria, Über Verbrechen und Strafe, § 22, S. 124. 231 Beccaria, Über Verbrechen und Strafe, § 22, S. 124: „Innerhalb der Grenzen eines Landes darf kein Ort sein, der nicht den Gesetzen untersteht.“ (Hervorhebung nicht im Orginal.) 232 Beccaria, Über Verbrechen und Strafe, § 22, S. 124: „Der Ort der Strafe ist auch der Ort des Verbrechens, denn dort allein, und nirgends sonst, sind die Menschen gezwungen, einem einzelnen ein Leid zuzufügen, um der Verletzung aller vorzubeugen.“ (Hervorhebung nicht im Original.) 233 Beccaria, Über Verbrechen und Strafe, § 22, S. 124 f.
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gende Werte und Normen, sondern nur gegen das nationale Recht des Tatortes.234 Schon die Möglichkeit des „iudicare“ oder „punire“ entfällt für den Zufluchtsstaat damit; von einer Pflicht dazu kann erst recht keine Rede sein. Aber auch das „dedere“, also die Auslieferung, sieht Beccaria skeptisch. Trotz ihrer Vorteile235 überwiegen für Beccaria die humanitären Bedenken, solange Willkürherrschaft, Tyrannei und überharte Strafen nicht abgeschafft sowie der Schutz von unterdrückter Unschuld und angefeindeter Tugend sichergestellt seien.236 4. Martens (1756–1821) und Moser (1701–1785) Auch die Positivisten Georg Friedrich Martens und Johann Jakob Moser, die „ihr“ Völkerrecht vorwiegend aus Verträgen und Staatenpraxis ableiteten237, sprachen sich gegen ein allgemein gültiges „aut dedere – aut punire“ aus. Gemäß der Staatenpraxis müsse der Zufluchtsstaat den flüchtigen Täter einer Auslandstat – sofern keine vertragliche Bindung besteht – weder aburteilen noch ausliefern.238 Über eine Beobachtung der Staatenpraxis hinausgehende theoretische Begründungsmuster für diese Auffassung fehlen bei beiden erwartungsgemäß.
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Vgl. dazu auch Bassiouni/Wise, S. 37. Vgl. Beccaria, Über Verbrechen und Strafe, § 22, S. 125: „Gleichwohl wäre die Überzeugung, daß auch nicht eine Spanne Landes zu finden sei, wo wirkliche Verbrechen straflos bleiben, ein höchst wirksames Mittel, diese zu verhindern.“ 236 Beccaria, Über Verbrechen und Strafe, § 22, S. 125. 237 Vgl. Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, S. 199 ff. 238 Vgl. Martens, Précis du Droit des Gens Moderne, § 100 f.: „[. . .] il n’y a point d’obligation parfaite de punir, même à la sollicitation d’une puissance étrangère, celui qui, après s’être rendu suspect ou coupable d’un crime contre elle, se réfugie chez nous, [. . .]“ und „[. . .] dans aucun des cas dont il vient d’être parlé, un État libre n’est rigoureusement obligé de consentir à l’extradition d’un criminel ou prévenu de crimes, à la requisition d’une puissance étrangère, [. . .].“; Moser, Völckerrecht in Friedenszeiten, 5. Buch, 2 Kap., § 53, („Ob gleich ferner billig Laster niemahlen ohngestraft bleiben sollten, wollen doch Souverainen nicht gehalten seyn, einen, der andernwärts ein Verbrechen begangen hat, auszuliferen“) und § 56, („Ja sie verlangen noch über dises öfters einen solchen wissenden Delinquenten nicht einmahl selbst zu bestraffen“). Nur für den Tatortstaat einer gegen ausländische Rechtsgüter gerichteten Straftat erkennen sie eine Pflicht an, diese nicht milder zu behandeln als eine gleichartige Tat gegen inländische Rechtsgüter (Vgl. Martens, Précis du Droit des Gens Moderne, § 100) bzw. den Täter „auf eine proportionirte Art“ zu bestrafen (Moser, Völckerrecht in Friedenszeiten, 5. Buch, 3. Kap. § 6), eine Pflicht, die wir im Verlauf dieses Kapitels bereits mehrmals antrafen und die auch noch dem heutigen Völkerrecht bekannt ist (vgl. zu letzterem unten 3. Kapitel B. II. 1. bei Fn. 822). 235
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III. Die praktischen Auswirkungen der wissenschaftlichen Diskussion Nach dieser breiten Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Debatte über ein „aut dedere – aut punire“ muss nun noch ein kurzer Blick auf die Praxis der fraglichen Zeit geworfen werden. Wenn dieser Blick nur „kurz“ sein wird, dann aus einem einzigen Grund: Sowohl die zeitgenössischen Quellen als auch die späteren rechtshistorischen Abhandlungen sprechen eine eindeutige Sprache. Zu keinem Zeitpunkt haben die Staaten sich in der Praxis als zur Strafverfolgung oder Auslieferung von flüchtigen Straftätern verpflichtet angesehen, sofern sie eine solche Verpflichtung nicht vertraglich übernommen hatten. Sowohl Auslieferungen als auch Gerichtsverfahren am Zufluchtsort wegen im Ausland begangener Straftaten erfolgten eher sporadisch.239 Auslieferungsverträge wurden, wie schon in Antike und Mittelalter, nur vereinzelt abgeschlossen und nahmen erst ab dem 18. Jahrhundert langsam an Bedeutung zu.240 Eher erfolgten Auslieferungen aus bloßer „courtoisie“ zwischen befreundeten Herrschern, wobei es meist nicht um echte Kriminelle, sondern um politische Feinde ging.241 Selbst im letztgenannten Fall kam es aber vor, dass Auslieferungsersuchen zurückgewiesen wurden. So berichtet Voltaire, dass Peter der Große es nach der Schlacht von Pruth abgelehnt habe, den vom Osmanischen Reich abtrünnig gewordenen moldawischen Fürsten Cantemir an die Türken auszuliefern.242 Was das „punire“ am Zufluchtsort anging, ist ebenfalls keine allgemeine Völkerrechtspflicht hierzu festzustellen. Im absolutistischen Frankreich beispielsweise wurden zwar Ausländer für im Ausland gegen andere Ausländer begangene Straftaten abgeurteilt oder ausgeliefert, wenn sie im Inland aufgegriffen wurden,243 dies geschah jedoch nur auf Privatklage des Opfers hin244 und scheint nach der Wortwahl des Advocat-Général Talon in einem entsprechenden Verfahren vor dem Parlément de Paris eher als großmütiger 239
Vgl. Oehler, Int. Strafrecht, S. 70 f.; aus Sicht der Zeitgenossen: Clarus, Sententiarum Receptarum Liber Quintus, item Practica Criminalis, § Fi, qu. 38 f.; Farinacius, Praxis et theorica criminalis, Lib. I, Tit. 1, qu. 7, Nr. 28; bzgl. der Auslieferung auch Shearer, S. 5 f.; Weston/Falk/Charlesworth, S. 503, Damrosch/Henkin/ Pugh/Schachter/Smit, S. 1177; Stein, EPIL II, S. 328. 240 Shearer, S. 5 f.; Gilbert, S. 18 f.; Stein, EPIL II, S. 335. 241 Shearer, S. 5 f.; Weston/Falk/Charlesworth, S. 503; Damrosch/Henkin/Pugh/ Schachter/Smit, S. 1182; von Glahn, S. 223; Stein, EPIL II, S. 328. 242 Vgl. Voltaire, Histoire de la Russie sous Pierre le Grand, in: Œuvres complètes, Tome 3, S. 64. 243 Vgl. Oehler, Int. Strafrecht, S. 80 f., Fn. 13; Lammasch, Auslieferungspflicht, S. 22 f. (wonach es kurioserweise der Angeklagte war, der wählen durfte, ob er in Frankreich abgeurteilt oder an den Tatort ausgeliefert werden möchte). 244 Lammasch, Auslieferungspflicht, S. 22 f.
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Akt eines auf Gerechtigkeit bedachten französischen Königs denn als Rechtspflicht verstanden worden zu sein.245 Nach der französischen Revolution machte ein von den Gedanken Rousseaus und Montesqieus inspiriertes Dekret der Assemblée Legislative vom 3./7. September 1792 dieser Praxis ein Ende und ordnete die Freilassung aller für Auslandstaten verurteilten Ausländer an. Die Bestrafung solcher Fälle nach französischem Recht sei „une atteinte à la souverainité des peuples“ gewesen.246 Man hielt eine Aburteilung flüchtiger ausländischer Straftäter durch den Zufluchtsstaat nun also nicht nur für völkerrechtlich nicht geboten, sondern sogar für völkerrechtlich verboten. In England hatte sich schon seit jeher nur das Territorialitätsprinzip durchgesetzt, das auch eine gewisse Garantiefunktion für den Täter hatte. Man war dort der Ansicht, eine aus Männern der Umgebung des Tatortes bestehende Jury sei mit den örtlichen Gegebenheiten am Besten vertraut und könne deshalb allein ein gerechtes Urteil sprechen.247 Die Aburteilung eines in England ergriffenen Täters für eine Auslandstat war somit nicht möglich. Da man aber auch die Auslieferung in England lange äußerst kritisch beurteilte und zurückhaltend handhabte248, war meist Straffreiheit die Folge. Wie aus einer Erklärung Jeffersons von 1791 hervorgeht249, behielten sich die neu entstandenen Vereinigten Staaten von Amerika ebenfalls das Recht vor, flüchtigen Straftätern sichere Zuflucht zu gewähren, sofern nicht vertragliche Verpflichtungen entgegenstanden. In Italien – wo der Gerichtsstand des Ergreifungsortes schon im Mittelalter teilweise bekannt war –, Deutschland und Holland setzte sich zwar ab dem 17. Jahrhundert allgemein die Möglichkeit einer Aburteilung des Täters am Zufluchtsort durch, die angesichts des geringen Auslieferungsverkehrs Strafbarkeitslücken verhindern sollte,250 ebenso wie in Bezug auf Frankreich gibt es aber auch hier keine Hinweise darauf, dass man in der Praxis die tatsächliche Durchführung eines Strafverfahrens am Ergreifungsort als 245 Vgl. das Zitat bei Oehler, Int. Strafrecht, S. 80 f., Fn. 13: „[. . .] cependant comme nos Rois ouvrent et prêtent l’oreille à tous ceux qui implorent leur autorité et invoquent leur Justice qu’ils font administrer également et indifféremment tant à leurs Sujects qu’aux Etrangers [. . .]“ 246 Vgl. zu diesem Dekret Oehler, Int. Strafrecht, S. 113. 247 Oehler, Int. Strafrecht, S. 61, dort auf S. 59 ff. auch zu den eng begrenzten Möglichkeiten, Taten auf Hoher See, Taten im Zusammenhang mit Kriegshandlungen im Ausland und Taten, bei denen der Täter im Ausland handelte, der Erfolg aber in England eintrat, vor englischen Spezialgerichten abzuurteilen. 248 Vgl. Shearer, S. 8 f.; Gilbert, S. 19; Lammasch, Auslieferungspflicht, S. 25; Wise, RIDP 62 (1991), S. 109 (128). 249 „The laws of the United States, like those of England, receive every fugitive, and no authority has been given to our executive to deliver them up.“ (abgedruckt in: Holmes v. Jennison, AILC, Vol. 15, S. 282 [299] und Wheaton, S. 191). 250 Vgl. Oehler, Int. Strafrecht, S. 91 f.
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völkerrechtliche Rechtspflicht angesehen hat. Für Italien beispielsweise musste im Gegenteil der französische Jurist Pierre Ayrault Ende des 16. Jahrhunderts feststellen, dass in der Praxis ein in ein benachbartes Territorium geflüchteter Straftäter meist unbehelligt blieb.251 Auch die oben dargestellte wissenschaftliche Kontroverse gibt hier einen Anhaltspunkt. Es waren nämlich gerade die auf große Nähe zur Staatenpraxis bedachten Martens und Moser, die ein allgemein verbindliches „aut dedere – aut punire“ abgelehnt haben. Selbst diejenigen Autoren, die im 19. und 20. Jahrhundert eine gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflicht für ihre Zeit bejahten, räumten gleichzeitig ein, dass diese eine neue Erscheinung sei. Im 16., 17. und 18. Jahrhundert habe das „aut dedere – aut punire“ entgegen der Auffassung von Grotius und anderen dagegen noch nicht allgemein gegolten.252 Die späteren Gegner eines „aut dedere – aut punire“ haben diese Betrachtung der historischen Rechtslage natürlich erst recht geteilt.253 Es mag uns heute verwunderlich erscheinen, dass ein allgemein gültiges Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot in der Literatur des 16. bis 18. Jahrhunderts so große Verbreitung finden konnte, obwohl die Praxis diesem Gebot zu keinem Zeitpunkt folgte. Tatsächlich vermittelt aber die völkerrechtsgeschichtliche Literatur häufig den Eindruck, als habe vor allem in der so genannten „französichen Epoche“ des Völkerrechts von 1648 bis 1815 allgemein eine gewisse Kluft zwischen der diplomatischen Praxis und einer an Vernunft und Naturrecht orientierten Wissenschaft bestanden.254 Sieht man, wie unbeeindruckt von der im Schrifttum weit verbreiteten, möglicherweise gar herrschenden Forderung nach einem allgemeingültigen „aut dedere – aut punire“ sich die Praxis damals zeigte, muss man schon hier dem Satz zustimmen, mit dem Coleman Philipson im frühen 20. Jahrhundert in Wheaton’s Elements of International Law ein Resümee in dieser jahrhundertealten Debatte zog: „A State is not likely to change its law or practice in this respect, because it is not in accordance with the theories of text-writers.“255
251
Vgl. Ayrault, Liv. I, 4ème partie, Nr. 11, S. 72. Vgl. aus dem 19. Jhd. Lammasch, Auslieferungspflicht, S. 4; aus dem 20. Jhd. Bassiouni/Wise, S. 41 f. 253 So etwa von Martitz, S. 457 und 461 f.; Shearer, S. 24. 254 Vgl. Grewe, Epochen, S. 419 f., der dieser Auffassung allerdings krit. gegenübersteht. 255 Wheaton, S. 189. 252
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E. Vertrags- und gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut punire“ im 19. Jahrhundert I. Die Entstehung des modernen Auslieferungsrechts und ihre Bedeutung für das Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot in der Vertrags- und übrigen Staatenpraxis 1. Der historische Hintergrund des modernen Auslieferungsrechts Wie bereits erwähnt, war schon im 18. Jahrhundert eine Zunahme von Auslieferungen und Auslieferungsverträgen zu verzeichnen. Das moderne Auslieferungsrecht entstand jedoch erst etwa ab den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts.256 Neue technische Entwicklungen, wie etwa das Dampfschiff, die Eisenbahn und die Telegraphie trugen allgemein zu einem gesteigerten Bedürfnis nach zwischenstaatlicher Kooperation bei, was zum Abschluss einer bis dahin noch nicht da gewesenen Vielzahl völkerrechtlicher Verträge über zumeist praktische Fragen führte.257 Hierzu gehörten auch viele Auslieferungsabkommen, denn die bereits erwähnten technischen Fortschritte hatten sowohl den Verbrechern die Flucht ins Ausland erleichtert, als auch den Behörden des Tatortstaates größere Möglichkeiten gegeben, Flüchtige im Ausland aufzuspüren und von der dortigen Regierung ihre Rückschaffung zu verlangen.258 Hinzu kamen noch soziale Veränderungen, die den Reiz der Flucht erhöhten. In den neuen industriellen Großstädten konnte sich ein ausländischer Flüchtling leichter integrieren als in der sesshaften und Fremden gegenüber misstrauischen Gesellschaft früherer Zeiten.259 Auch die humanitären Bedenken gegen die Auslieferung schwanden zusehends, da die Brutalität des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Strafrechts nun endgültig überwunden war.260 2. „Aut dedere – aut punire“ und die Nichtauslieferung eigener Bürger Die als Antwort auf diese Entwicklungen in ganz Europa, bald aber auch darüber hinaus, geschlossenen Auslieferungsverträge wiesen häufig gewisse Parallelen auf. So vereinbarten beispielsweise die kontinentaleuropäischen 256
Vgl. Gilbert, S. 19; Jennings/Watts, S. 950; Lammasch, Auslieferungspflicht,
S. 26. 257
Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, S. 224. Shearer, S. 11 f.; Gilbert, S. 19; Lammasch, Auslieferungspflicht, S. 5; Damrosch/Henkin/Pugh/Schachter/Smit, S. 1177; Jennings/Watts, S. 950. 259 Vgl. Gilbert, S. 19; Shearer, S. 11 f. 260 Vgl. Shearer, S. 10 f.; Lammasch, Auslieferungspflicht, S. 9 f. 258
E. Vertrags- und gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut punire“
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und lateinamerikanischen Staaten überwiegend, dass sie ihre eigenen Staatsangehörigen nicht an das Ausland ausliefern müssen.261 Die Üblichkeit dieser Klausel hatte aber eine missliche Folge: Der nach einer Auslandstat in seine Heimat zurückgekehrte Täter blieb straffrei, da er nicht an den nach dem Territorialprinzip zur Aburteilung zuständigen Tatortstaat ausgeliefert werden konnte. Dies entsprach nicht einmal den Interessen des Heimatstaates, und sei es nur deswegen, weil wegen des Reziprozitätsgrundsatzes auch die Bürger des Vertragspartners im umgekehrten Fall ungeschoren davonkamen. Abhilfe ließ sich dadurch schaffen, dass sich die Vertragspartner eines Auslieferungsvertrages verpflichteten, ihre eigenen Bürger für die im Gebiet des Vertragspartners begangenen Straftaten im Falle der Nichtauslieferung gemäß dem aktiven Personalprinzip zu bestrafen. Der belgisch-französische Auslieferungsvertrag vom 22. November 1834262, der in Art. 1 das Prinzip der Nichtauslieferung eigener Bürger enthält, sah allerdings noch kein solches „aut dedere – aut punire“ vor. Dieses scheint sich als auslieferungsvertragliche Klausel zuerst im italienischen Raum entwickelt zu haben, wo man schon seit dem Mittelalter eher großzügig mit der extraterritorialen Anwendung des Strafrechts war.263 Bis etwa 1868 findet es sich nur in solchen Auslieferungsverträgen, bei denen zumindest ein Vertragspartner von dort stammt.264 Erst danach trifft man es auch in Auslieferungsverträgen zwischen anderen „civil law“-Staaten häufiger an.265 Eine Pflicht zur 261 Shearer, S. 18 f. und 96 f. Anders dagegen die Staaten des common law. Dennoch scheitert die Auslieferung von Bürgern eines common law-Staates an einen kontinentaleuropäischen Staat häufig daran, dass letzterer nicht zu versprechen bereit ist, im Gegenzug seine eigenen Staatsbürger ebenfalls auszuliefern: Strikte Gegenseitigkeit ist nämlich ein weiteres Merkmal des modernen Auslieferungsrechts (vgl. zu diesem Problem Gilbert, S. 181). 262 CTS 84, S. 457 ff. 263 Vgl. dazu oben C. II. bei Fn. 43. 264 Bspw. Art. VI Auslieferungsvertrag (AV) Sardinien – Toskana, 14.01.1836, CTS 85, S. 465 ff.; Art. IV AV Lucca – Sardinien, 14.03.1838, CTS 87, S. 385 ff.; Art. 3 AV Österreich – Sardinien, 06.06.1838, CTS 87, S. 483 ff.; Art. VI AV Heiliger Stuhl – Sardinien vom 10/17.03.1842, CTS 93, S. 91 ff.; Art. IV AV Österreich – Königreich beider Sizilien, 24.12.1845, CTS 99, S. 253 ff.; Art. IV AV Österreich – Heiliger Stuhl, 5.12.1856, CTS 116, S. 103 ff.; Art. VIII Nachbarschaftsvertrag Italien – San Marino, 22.03.1862, CTS 125, S. 417 ff.; Art. V AV Italien – Argentinien, 25.7.1868, CTS 137, S. 457 ff.; Art. VI AV Italien – Bayern, 18.09.1868, CTS 138, S. 59 ff. 265 Vgl. bspw. Art. II AV Bayern – Russland, 14.02.1869, CTS 139, S. 111 ff.; Art. XI AV Chile – Argentinien, 09.07.1869, CTS 139, S. 391 ff.; Art. II AV Russland – Hessen (Darmstadt), 03.11.1869, CTS 140, S. 95 ff.; Art. V AV Spanien – Belgien, 14.06.1870, CTS 141, S. 281 ff.; Art. III Abs. 2 AV Russland – Italien, 1 (13).05.1871, CTS 143, S. 199 ff.; Art. III AV Belgien – Russland, 23.08.1872, CTS 145, S. 85 ff.; Art. 2 AV Russland – Schweiz, 17.11.1873, CTS 146, S. 455 ff.; Art. III § 2 AV Östr.-Ungarn – Russland, 03.10.1874, CTS 148, S. 211 ff.; Art. II § 2
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Durchführung der Strafverfolgung trat aber nach diesen Regelungen meist nur dann ein, wenn der andere Vertragspartner zuvor durch ein entsprechendes Ersuchen sein Interesse an ihr deutlich gemacht hatte. Einige in Lateinamerika abgeschlossene Verträge regeln sogar zumindest ansatzweise das „Wie“ der Strafverfolgung im Heimatstaat, in dem sie vorschreiben, diese müsse nach den gleichen Maßstäben erfolgen, die der Zufluchtsstat bei ähnlichen, in seinem Gebiet begangenen Straftaten anlegt.266 Der Gefahr einer besonders laxen Verfolgung der Tat allein wegen des ausländischen Tatortes wird durch diesen „national treatment standard“ vorgebeugt; namenlich ist sichergestellt, dass der Zufluchtsstaat auch wirklich in seinem nationalen Recht die Zuständigkeit seiner Gerichte für die Verfolgung von Auslandstaten eigener Bürger verankert. Anders als das Prinzip der Nichtauslieferung eigener Staatsbürger selbst, wurden „aut dedere – aut iudicare“-Klauseln jedoch nie eine in praktisch jedem Auslieferungsvertrag anzutreffende Standardbestimmung. Immer wieder finden sich selbst im „civil law“-Rechtskreis Verträge, die zwar die Nichtauslieferung eigener Bürger vorsehen, sie aber nicht durch eine Strafverfolgungspflicht kompensieren.267 In Verträgen der „civil law“-Staaten mit dem „common law“-Rechtskreis findet sich eine solche kompensatorische Strafverfolgungspflicht sogar fast nie,268 obwohl auch hier auf Betreiben Ersterer fast AV Argentinien – Paraguay, 06.03.1877, CTS 151, S. 365 ff.; Art. V AV Spanien – Luxemburg, 05.09.1879, CTS 155, S. 221 ff.; Art. VII AV Belgien – Rumänien, 15.08.1880, CTS 157, S. 65 ff.; Art. III § 2 AV Spanien – Argentinien, 7.05.1881, CTS 158, S. 202 ff.; Art. X AV Schweiz – El Salvador, 30.10.1883, CTS 162, S. 481 ff.; Art. III AV Spanien – Uruguay, 23.11.1885, CTS 167, S. 41 ff.; Art. IX AV Bolivien – Peru, 16.04.1886, Parry, CTS 167, S. 413 ff.; Art. I a. E. AV Portugal – Russland, 10.05.1887, CTS 169, S. 243 f.; Art. XIX § 3 AV Liberia – Spanien, 12.12.1894, CTS 180, S. 445 ff.; Art. X Abs. 1 AV Schweiz-Serbien, 16. (28).11.1887, CTS 170, S. 71 ff.; Art. 5 AV Belgien – Serbien, 04.01.1896, CTS 182, S. 264 ff.; Art. 20 AV Costa Rica – Guatemala – Honduras – Nicaragua – El Salvador, 17.06.1897, CTS 185, S. 252 ff.; Art. IV AV Belgien – Chile, 29.05.1899, CTS 187, S. 329 ff. Die Liste ließe sich noch um viele weitere Verträge verlängern. 266 Beispiele hierfür sind Art. VII § 2 AV Spanien – Chile, 30.12.1895, CTS 182, S. 244 ff.; Art. VII AV Chile – Uruguay, 10.05.1897, CTS 184, S. 417 ff.; Art. VII § 2 AV Chile – Ecuador, 10.11.1897, CTS 186, S. 60 ff. 267 Bsp. hierfür sind etwa der AV Deutschland – Italien, 31.10.1871, CTS 143, S. 367 ff.; AV Deutschland – Uruguay, 12.02.1880, CTS 157, S. 245 ff.; AV Belgien – Mexiko, 12.05.1881, CTS 158, S. 223 ff.; AV Mexiko – Spanien, 17.11.1881, CTS 159, S. 225 ff.; AV Niederlande – Rumänien, 13.09.1881, CTS 159, S. 81 ff.; AV Öster.-Ungarn – Luxemburg, 11.02.1882, CTS 160, S. 51 ff.; AV Belgien – Peru, 23.11.1888, CTS 171, S. 291 ff.; AV Niederlande – Luxemburg, 10.03.1896, CTS 178, S. 225 ff.; AV Öster.-Ungarn – Schweiz, 10.03.1896, CTS 182, S. 336 ff.; AV Niederlande – Serbien, 11.03.1896, CTS 182, S. 346 ff. Auch diese Liste erhebt bei weitem keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 268 Ausnahmen sind einige von Großbritannien mit indischen Fürsten geschlossene Verträge, nach denen Großbritannien eigene Bürger und Angehörige von Dritt-
E. Vertrags- und gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut punire“
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nie die Auslieferung eigener Bürger vorgeschrieben wurde. Der weitreichende Ausschließlichkeitsanspruch des Territorialprinzips im angelsächsischen Raum, der dort die Verfolgung von Auslandstaten ausschloss, stand einem „iudicare“ unüberwindbar entgegen.269 3. Weitere Fälle eines „aut dedere – aut punire“ in der Vertragspraxis Neben einem solchen „aut dedere – aut punire“ für eigene Bürger des Zufluchtsstaates findet sich nur noch für einen weiteren Fall der Nichtauslieferung ab etwa 1870 recht häufig eine kompensatorische Strafverfolgungspflicht in Auslieferungsverträgen. Diese steht ebenfalls in engem Zusammenhang mit dem (aktiven oder passiven) Personalprinzip: Der Zufluchtsstaat verpflichtet sich, Bürger des Vertragspartners, die in einem Drittstaat straffällig geworden sind, oder Drittstaatsangehörige, die in einem Drittstaat Bürger des Vertragspartners verletzt haben, selbst zu bestrafen oder nach seiner Wahl an den Vertragspartner beziehungsweise den Tatortstaat auszuliefern.270 Neben dem Tatortstaat hat in diesen Fällen auch der Vertragspartner des Zufluchtsstaates nach dem aktiven beziehungsweise passiven Personalprinzip ein originäres Recht zur Verfolgung der Tat.271 Er ermächtigt272 und verpflichtet den Zufluchtsstaat nun, in stellvertretender staaten für schwere Verbrechen im Gebiet des Vertragspartners aburteilt und nur dessen Bürger an ihn ausliefert. Allerdings musste der Vertragspartner, wie für die ungleichen Kolonialverträge dieser Zeit typisch, jedermann – selbst seine eigenen Bürger – an Großbritannien ausliefern, ohne die Möglichkeit zu einem „punire“ zu haben (vgl. CTS 133, S. 377–386 und 136, S. 55–82). Keine echte „aut dedere – aut iudicare“-Konstellation betrifft Art. XII AV USA – Mexiko vom 22.02.1899, CTS 187, S. 208 ff.: die dort vorgesehene Strafverfolgungspflicht gilt in der von Ayrault und Gentili (s. oben bei Fn. 74 f. und 108) angesprochenen Situation, in der der Täter in seinem Heimatstaat eine gegen ausländische Rechtsgüter gerichtete Straftat begeht. Dieser ist hier also nicht bloßer Zufluchts-, sondern Tatortstaat. 269 In Art. 1 § 2 AV Schweiz – Großbritannien, 26.11.1880, CTS 157, S. 213 ff. wurde diesen unterschiedlichen Rechtstraditionen in vorbildlicher, aber leider die Ausnahme gebliebener Weise Rechnung getragen: Unter Auflösung des strengen Reziprozitätsgrundsatzes verpflichtet sich Großbritannien zur Auslieferung seiner in der Schweiz straffällig gewordenen Bürger, während die Schweiz im umgekehrten Fall zwar die Auslieferung ihrer Bürger ausschließt, aber deren Aburteilung in der Schweiz verspricht. 270 Vgl. bspw. Art. VI AV Italien – Russland, 01.05.1871, CTS 143, S. 199 ff.; Art. XX AV Spanien – Venezuela, 22.1.1894, CTS 179, S. 399 ff.; Art. XIX § 1 f. AV Liberia – Spanien, 12.12.1894, CTS 180, S. 445 ff. 271 Vgl. oben, 1. Kapitel, B. II. 3. und 4. 272 Zur völkerrechtlichen Notwendigkeit einer solchen Ermächtigung s. oben, 1. Kapitel B. II. 7.
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2. Kap.: Die historische Entwicklung
Strafrechtspflege für ihn tätig zu werden, falls dieser nicht durch Auslieferung bei der Durchsetzung der originären Strafansprüche helfen will. Nie jedoch wurde in Auslieferungsverträgen des 19. Jahrhunderts versucht, das „aut dedere – aut punire“ zur Kompensation des Prinzips der Nichtauslieferung politischer Straftäter einzusetzen.273 Die so genannte „exception politique“ oder „poltical offence exception“ war ab etwa 1840 die absolute Regel in der Vertragspraxis geworden.274 Den dadurch entstehenden Strafbarkeitslücken versuchte man, soweit sie als ungerechtfertigt empfunden wurden, durch restriktive Fassungen des Begriffs der „politischen Straftat“, wie beispielsweise dem ausdrücklichen Ausschluss von Attentaten auf Staatsoberhäupter aus dieser Kategorie, Herr zu werden.275 Die Idee, dem Zufluchtsstaat bei politisch motivierten Straftätern die Wahl zwischen Aburteilung und Auslieferung zu lassen und dadurch die Belange der Strafverfolgung und des Asylrechts in Einklang zu bringen276 stammt erst aus dem 20. Jahrhundert. 4. Jenseits der Verträge: ein gewohnheitsrechtliches Auslieferungsoder Strafverfolgungsgebot auf dem Prüfstand der Staatenpraxis Wie aber sah es dort, wo keine vertragliche Regelung bestand, mit dem „aut dedere – aut punire“ aus? Konnte dieses Rechtsinstitut nun im 19. Jahrhundert endlich gewohnheitsrechtlichen Status und damit jene allgemeine Geltung, die ihm schon seit Jahrhunderten in der Literatur teilweise zugemessen wurde, erlangen? Betrachten wir zunächst einmal die Variante des „dedere“. Trotz der inhaltlichen Ähnlichkeit vieler Auslieferungsverträge darf nicht übersehen werden, dass das Auslieferungsrecht immer rein vertraglicher Natur blieb.277 Die Staatenpraxis belegt, dass die Staaten sich ohne entsprechende Verträge nicht als zur Auslieferung ver273
Zwei Verträge Argentiniens sind hier möglicherweise eine Ausnahme: Sie erstrecken ihrem Wortlaut nach die Aburteilungspflicht auf alle in ihren jeweiligen Art. III vorgesehenen Ausnahmen von der Auslieferungspflicht und damit eigentlich auch auf die in den jeweiligen Art. III Nr. 2 vorgesehene „poltical offence exception“ (Art. IV AVArgentinien – Belgien, 12.08.1886, CTS 168, S. 151 ff.; Art. 7 AV Argentinien – Niederlande, 07.09.1893, CTS 179, S. 123 ff.). Es verwundert jedoch, dass eine im Vergleich zur übrigen Vertragspraxis so „revolutionäre“ Regelung nicht deutlicher hervorgehoben wird. Näher liegt deshalb ein Redaktionsversehen: Man wollte wohl eigentlich nur auf die in den jeweiligen Art. III Nr. 1 vorgesehene Nichtauslieferung eigener Staatsbürger verweisen. 274 Vgl. Weston/Falk/Charlesworth, S. 507; Damrosch/Henkin/Pugh/Schachter/ Smit, S. 1182; von Glahn, S. 223; Jennings/Watts, S. 962; Gilbert, S. 208 ff. 275 Vgl. hierzu bspw. Damrosch/Henkin/Pugh/Schachter/Smit, S. 1182 f. 276 Vgl. zu dieser heutigen Konzeption das Lehrbuch von Gilbert, das das „aut dedere – aut iudicare“ im Kapitel über die „political offence exception“ erörtert.
E. Vertrags- und gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut punire“
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pflichtet ansahen.278 Dass im Falle der Nichtauslieferung eine gewohnheitsrechtliche Pflicht bestanden hätte, den Gesuchten dann wenigstens im Zu277 Vgl. Shearer, S. 24 ff.; Jennings/Watts, S. 950; Carter/Trimble, S. 795; Combacau/Sur, S. 360; Damrosch/Henkin/Pugh/Schachter/Smit, S. 1177 f. 278 Vgl. aus der US-amerikan. Rspr. bspw. Holmes v. Jennison (1840), AILC, Vol. 15, S. 281 (288, 290, 298 f.); United States v. Rauscher (1886), AILC 15, S. 324 (326 f.). Aus der diplomat. Praxis der Vereinigten Staaten vgl. den Fall des Deutschen Carl Vogt, der in Belgien wegen Mordes gesucht wurde und in die USA geflohen war: die USA lehnten 1873 seine Auslieferung nach Belgien ab, da sie mit diesem keinen Auslieferungsvertrag geschlossen hatten. Die Auslieferung nach Deutschland lehnten sie ebenfalls ab, da sie das aktive Personalprinzip nicht als legitime Grundlage einer Aburteilung ansahen (vgl. Wheaton, S. 192 und Lammasch, Auslieferungspflicht, S. 62). Schon die bloße Zulässigkeit einer Auslieferung ohne entsprechenden Vertrag bezweifelte US-Außenminister John Quincy Adams im Jahre 1818 in einem Brief an die brit. Regierung: „[. . .] no conventional agreement between the United States and Great Britain in force for the mutual extradition of individuals, [. . .] the authority of [. . .] the United States or any of the State governments, to exercise an act of such important effect on the rights of personal security, is more than questionable [. . .]“ (abgedruckt bei Wise, RIDP 62 [1991], S. 108 [128 Fn. 81]). Diese sehr restriktive Position wurde von US-Außenminister John Forsyth 16 Jahre später mit fast exakt den gleichen Worten wiederholt (diese Erklärung ist ebenfalls bei Wise, a. a. O. abgedruckt), während 1842 der Secretary of State Webster zwar die Zulässigkeit einer Auslieferung ohne vertragliche Basis nicht mehr bestritt, aber immer noch das Bestehen einer entsprechenden Pflicht: „Although [. . .] extradition is sometimes made, yet in the absence of treaty stipulations, it is always a matter of comity or courtesy.“ (abgedruckt bei Wise, RIDP 62 [1991], S. 108 [129 Fn. 84]). In Frankreich bezeichnete der Justizminister in einem Rundschreiben vom 30.07.1872 die Auslieferung ohne Auslieferungsvertrag zwar als zulässig, aber auch als nicht völkerrechtlich geboten (vgl. Shearer, S. 25 f.). Aus der britischen Praxis wäre bspw. das Gutachten der brit. „law officers“ im Fall des Sklavenschiffes The Creole, dessen Sklaven nach einer Meuterei auf die brit. Bahamas geflohen waren, von 1842 zu nennen: „It is the practice of some States to deliver up persons charged with crimes who have taken refuge [. . .] within their dominions, but such practice does not [. . .] generally prevail, nor is there any rule of the Law of Nations rendering it imperative on an independent State to give up persons [. . .] taking refuge within its territory“; (abgedruckt bei Shearer, S. 25). Auch in den Niederlanden verwarf Justizminister van Lynden van Sandenburg in einer Debatte der 2. Kammer des Parlamentes vom 10.03.1875 die Idee einer gewohnheitsrechtlichen Auslieferungspflicht (vgl. Lammasch, Auslieferungspflicht, S. 61 Fn. 16). Das türkische Außenministerium lehnte in einer diplomat. Note an Russland vom 16.12.1879 (CTS 156, S. 407 f.) sogar schon die Zulässigkeit einer Auslieferung ohne vertragliche Grundlage ab („Le Minstère des Affaires Etrangères pense qu’à défaut d’un cartel d’extradition [. . .], il n’est pas possible de livrer les individus [deren Auslieferung Russland gefordert hatte] aux Autorités limitrophes.“) und bot Russland den Abschluss einer ad-hoc-Auslieferungsvereinbarung an. Die russische Botschaft stimmte in ihrer Antwortnote vom 08.05.1880 (CTS 156, S. 407 f.) diesem türkischen Rechtstandpunkt zu und nahm das Angebot einer ad-hoc-Vereinbarung an. Beide Staaten gingen somit davon aus, dass ohne diese Vereinbarung Russland jedenfalls keinen Anspruch auf Auslieferung der Gesuchten gehabt hätte. Auch die deutsch-russische Vertragspraxis lässt Rückschlüsse auf das Fehlen einer gewohnheitsrechtlichen Aus-
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2. Kap.: Die historische Entwicklung
fluchtsstaat vor Gericht zu stellen, ist ebensowenig ersichtlich. Im angloamerikanischen Rechtskreis beispielsweise, wo nach wie vor das Territorialprinzip weitgehende Ausschließlichkeit beanspruchte,279 war ein Vorgehen der heimischen Justiz gegen den Täter einer Auslandstat meist schon gar nicht möglich.280 Anders im kontinentaleuropäischen Rechtskreis: Nach innerstaatlichem Recht zulässig war die Aburteilung von Auslandstaten hier häufig. In Frankreich – wo zu Anfang des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss von Montesquieu und Rousseau die extraterritoriale Strafgerichtsbarkeit noch sehr eingeschränkt war281 – war es seit 1866 möglich, Franzosen für im Ausland begangene Straftaten zu bestrafen.282 Das Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege – welches auch die Aburteilung von Ausländern für Auslandstaten ermöglicht – blieb hier aber verschwunden.283 Die deutschen Partikularstrafgesetzbücher des 19. Jahrhunderts und das StGB des Reiches von 1871 sahen neben dem aktiven Personalprinzip auch unter bestimmten Umständen die Bestrafung von Ausländern für Auslandstaten vor.284 Auch beispielsweise in Österreich,285 der Schweiz,286 lieferungspflicht zu: Nach Art. 2 AV Russland – Deutschland, (08.03.1885, CTS 166, S. 59 ff.) wird in Fällen, in denen der Vertrag keine Auslieferungspflicht stipuliert, ein Auslieferungsersuchen nur „in Erwägung genommen und demselben, wenn nichts entgegensteht, mit Rücksicht auf die freundnachbarlichen Beziehungen [. . .] Folge gegeben“ (Hervorhebung nicht im Original; gleichlautend die jeweiligen Art. II der russ. und bayer. Erklärungen vom 19.09.1885 über die Auslieferung [CTS 166, S. 391 ff.]). Zur h. M. in der Lit. s. unten II. 279 Zum Strafrechtsanwendungsrecht des anglo-amerikanischen Rechtskreises bis in die jüngste Zeit siehe oben 1. Kapitel B. II. bei Fn. 40. Auch Kohler, Int. Strafrecht, S. 83, 85 beklagte im Jahre 1917 das Fehlen stellvertretender Strafrechtspflege in Großbritannien und den USA. 280 Vgl. hierzu auch bspw. The Queen v. Wilson, 02.11.1877, 3 Q. B. D. 42, wo die Richter keinen Zweifel lassen, dass die von ihnen angeordnete Nichtauslieferung eines in der Schweiz straffällig gewordenen brit. Bürgers (der damals zwischen Großbritannien und der Schweiz bestehende Auslieferungsvertrag sah die Nichtauslieferung eigener Bürger vor, ohne sie durch eine Aburteilungspflicht zu kompensieren, vgl. Art. III AV Großbritannien – Schweiz, 31.03.1874, CTS 147, S. 365 ff.) die Straflosigkeit der Tat zur Folge haben wird. Eine Bestrafung in Großbritannien wird dort nicht einmal erwogen. 281 Vgl. Oehler, Int. Strafrecht, S. 114; zu den Lehren Rousseaus und Montesquieus oben D. II. 3. 282 Oehler, Int. Strafrecht, S. 115. 283 Oehler, Int. Strafrecht, S. 116. 284 Vgl. Oehler, Int. Strafrecht, S. 119 f., 122; Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 106; ausführlich Kohler, Int. Strafrecht, S. 70 ff. (dort auf S. 72 insbes. zum preuß. StGB von 1851 und dem auf ihm aufbauenden dt. StGB von 1871). 285 Vgl. §§ 30, 34 StGB 1803 und §§ 30, 40, 235 StGB 1852; auch: Oehler, Int. Strafrecht, S. 109. 286 Dazu ausführlich und mit Abdruck vieler Normen Kohler, Int. Strafrecht, S. 75 f.
E. Vertrags- und gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut punire“
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Norwegen,287 Belgien,288 Italien,289 Mexiko,290 Uruguay291 und Russland292 waren das aktive Personalprinzip und die stellvertretende Strafrechtspflege bekannt. War es somit im „civil law“-Bereich nach innerstaatlichem Recht weitgehend möglich, Auslandstaten von In- und Ausländern am Zufluchtsort abzuurteilen, so gab es doch zu keinem Zeitpunkt in diesen Staaten eine „opinio iuris“, dass eine Ausübung dieser Kompetenz im Einzelfall völkerrechtlich geboten sei. Vor allem die Vertragspraxis spricht hier eindeutig dagegen: Selbst wenn man nicht mit dem überwiegenden zeitgenössischen Schrifttum schon die bloße Existenz von vertraglichen „aut dedere – aut punire“-Regelungen als Indiz gegen eine gewohnheitsrechtliche Geltung dieser Maxime werten will,293 hätten jedenfalls Brasilien und Uruguay es wohl kaum für nötig befunden, ihren Auslieferungsvertrag vom 12. Oktober 1851 durch Art. IV des Änderungsvertrages vom 25. November 1878294 um eine „aut dedere – aut punire“-Klausel zu ergänzen, wenn sich dieselben Rechtsfolgen schon aus dem Gewohnheitsrecht ergeben hätten. Auch die in einigen Auslieferungsverträgen stipulierte Pflicht des Tatortstaates, dem Heimatstaat des Täters alle prozessrelevanten Informationen und Beweisstücke zur Verfügung zu stellen, falls dieser nach seinem Recht ein Strafverfahren durchführt,295 erkennt durch die konditionale Formulierung implizit an, dass eine solche Verfolgung eigener Bürger für Auslandstaten völker287
Dazu ausführlich Kohler, Int. Strafrecht, S. 78. Dazu ausführlich Kohler, Int. Strafrecht, S. 80 f. 289 Dazu ausführlich Kohler, Int. Strafrecht, S. 81 f. 290 Dazu ausführlich Kohler, Int. Strafrecht, S. 87. 291 Dazu ausführlich Kohler, Int. Strafrecht, S. 87. 292 Dazu ausführlich Kohler, Int. Strafrecht, S. 88. 293 So damals bspw. Wheaton, S. 88; von Martitz, S. 453 f. 294 CTS 153, S. 395 ff. 295 Vgl. Art. VI § 2 AV Belgien – Peru, 23.11.1888, CTS 171, S. 291 ff.: „Mais si, conformément aux lois en vigueur dans l’Etat auquel appartient le coupable, celui-ci doit faire l’objet d’une procédure pénale pour infraction commise dans l’autre Etat, le Gouvernement de ce dernier Etat sera tenu [. . .] de fournir tous les [. . .] éclaircissement ou genres de preuves nécessaires à la prompte expédition de la justice et la punition du délinquant.“ oder, um eine engl. Sprachfassung zu erwähnen, Art. 5 AV USA – El Salvador, 23.05.1870, CTS 141, S. 199 ff.: „If in conformaty with the laws in force in the State to which the accused belongs, he ought to be submitted to criminal procedure for crimes committed in the other State, the latter must communicate the information [. . .].“(Hervorhebungen nicht in den Orginalen). Gleichlautende oder ähnl. Klauseln enthalten bspw. Art. V § 2 AV Italien – Monaco, 19.05.1866, CTS 132, S. 259 ff.; Art. 5 AV Italien – Schweiz, 22.07.1868, CTS 137, S. 446 ff.; Art. V AV Östr.-Ungarn – Schweden-Norwegen, 02.06.1868, CTS 137, S. 279 ff.; Art. II § 2 AV Deutschland – Italien, 31.10.1871, CTS 143, S. 367 ff.; Art. II § 2 AV Deutschland – Schweiz, 24.01.1874, CTS 147, S. 223 ff.; Art. 1 § 2 AV Frankreich – Peru, 30.09.1874, CTS 148, S. 415 ff.; Art. XX AV Honduras – El Salvador, 31.03.1878, CTS 152, S. 463 ff.; Art. VI § 2 AV Belgien – 288
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2. Kap.: Die historische Entwicklung
rechtlich nicht geboten, sondern eine Frage des innerstaatlichen Rechts ist. Damit bleibt es auch für das 19. Jahrhundert bei der oben für die vorangegangene Zeit festgestellten Rechtslage: Außer in den vertraglich vorgesehenen Fällen traf den Zufluchtsstaat eines Straftäters keine Pflicht zur Auslieferung oder Strafverfolgung.
II. Die wissenschaftliche Diskussion um ein gewohnheitsrechtliches „Auslieferungsgebot“ Wenn die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts sich mit der Frage nach einer gewohnheitsrechtlich gebotenen universellen Strafverfolgung befasste, sprach sie statt von „aut dedere – aut punire“ – einer Formel, die sowohl die Auslieferung als auch die Bestrafung im Zufluchtsstaat als adäquat ansieht – meist nur von einer „Auslieferungspflicht“, deren gewohnheitsrechtliche Geltung dann je nach Standpunkt bestritten oder befürwortet wurde.296 Trotz dieser terminologischen Verschiebung ging es der Sache nach aber unverändert um ein Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot. Besonders deutlich wird dies bei jenen Autoren, die ausdrücklich erklären, ein Staat könne „Auslieferungspflichten“ auch durch Bestrafung des Täters erfüllen.297 Die Gegner einer gewohnheitsrechtlichen „Auslieferungspflicht“ geben wiederum offen zu, dass es einem Staat damit freistehe, fremden Straftätern sichere Zuflucht zu gewähren.298 Dies kann aber nur bedeuten, dass ihm auch keine Strafverfolgungspflicht obliegt.299 Dafür, dass man im 19. Jahrhundert unter „Auslieferungspflicht“ der Sache nach weitgehend ein Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot verstand, spricht ferner, dass als Befürworter einer „Auslieferungspflicht“ Autoren wie Grotius zitiert Peru, 23.11.1888, CTS 171, S. 29 ff.; Art. XIV AV Mexiko – Italien, 22.05.1899, CTS 187, S. 324 ff. Auch diese Aufzählung ließe sich noch verlängern. 296 Vgl. Mittermaier, § 55; Heffter, S. 118; Kent, S. 36; Wheaton, S. 188; Klüber, § 66. 297 Vgl. Lammasch, Auslieferungspflicht, S. 37 f.; Mittermaier, § 54. Zur Frage, ob die in heutigen Auslieferungsverträgen angeordneten Auslieferungspflichten generell auch die Möglichkeit der Strafverfolgung im Zufluchtsstaat einräumen siehe unten 4. Kapitel B. III. 6. 298 Heffter, S. 121; Wheaton, S. 193. Klüber erörtert beide Varianten separat: In § 64 f. lehnt er eine Pflicht der Staaten zur Aburteilung von Auslandstaten bzw. Vollstreckung ausländischer Strafurteile, in § 66 eine Auslieferungspflicht ab. 299 Vielmehr wird die Aburteilung von Auslandstaten durch den Zufluchtsstaat lediglich unter dem Aspekt ihrer Zulässigkeit diskutiert, die überwiegend nur noch für Auslandstaten eigener Staatsbürger und für Spezialfälle wie Piraterie oder Sklavenhandel bejaht wird (vgl. Wheaton, S. 184; Heffter, S. 67; Mittermaier, S. 216; Kent, S. 36). Da nach dieser Ansicht in allen anderen Fällen eine Strafverfolgung im Zufluchtsstaat sogar völkerrechtlich verboten war, konnte eine Pflicht zum „iudicare“ von ihren Vertretern erst Recht nicht angenommen werden.
E. Vertrags- und gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut punire“
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wurden,300 die – wie wir oben gesehen haben – gerade die Wahlmöglichkeit zwischen Auslieferung und Strafverfolgung betonten.301 Diese terminologische Ungenauigkeit ist kein Zufallsprodukt, sondern Ausdruck einer historischen Entwicklung. Denn aufgrund der starken Zunahme des Auslieferungsverkehrs302 lag es für die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts nahe, sprachlich gerade die Auslieferungsalternative besonders zu betonen, war sie doch inzwischen in der Praxis das übliche Mittel zur Bekämpfung des Problems flüchtiger Straftäter geworden. Im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrhunderten trat nun eine Wende in der wissenschaftlichen Diskussion ein. Hatten im 17. und 18. Jahrhundert wahrscheinlich die Befürworter eines allgemein gültigen „aut dedere – aut punire“ die Oberhand gehabt, so dominiert jetzt eindeutig die Ablehnung einer gewohnheitsrechtlichen „Auslieferungspflicht“.303 Sowohl dieses Ergebnis als auch die dafür bemühte Begründung spiegeln einen allgemeinen Paradigmenwechsel in der Völkerrechtslehre wider. Rationalistische und naturrechtliche Ausführungen, wie sie für das 17. und 18. Jahrhundert typisch waren, traten im 19. Jahrhundert in den Hintergrund. Man orientierte sich stattdessen an der Staatenpraxis und wollte den durch diese entstandenen positiven Rechtszustand beschreiben.304 So fallen auch die Begründungen für die Ablehnung einer allgemeingültigen „Auslieferungspflicht“ im Ver300
Vgl. Wheaton, S. 188; Heffter, S. 118 f. Lediglich Kent schließt mit dem Terminus „Auslieferungspflicht“ eine Aburteilung im Zufluchtsstaat ausdrücklich aus, obwohl auch er sich auf Grotius, Heineccius, Burlamaqui und Vattel beruft, die allesamt dem Zufluchtsstaat die Möglichkeit des „punire“ einräumten (vgl. Kent, S. 36). Dies dürfte sich aus seinem kulturellen Hintergrund erklären: Als US-Amerikaner gehört er einem Rechtskreis an, der traditionell der Ausübung extraterritorialer Strafgewalt ablehnend gegenübersteht (siehe oben, 1. Kapitel B. II. bei Fn. 40). 302 Siehe zu diesem Fakt oben I. 1. 303 Vgl. bspw. die Stellungnahmen von Heffter, S. 118 und 121; Mittermaier, § 55; Schmalz, S. 158 f.; von Martitz, S. 461; Klüber, § 64–66. In Wheaton, S. 189 wird diese Ansicht als die ganz h. M. bezeichnet, der sich der Autor Coleman Phillipson auf S. 193 auch selbst anschließt. Überwiegend bejaht wurde dagegen eine Pflicht des Staates, in dessen Territorium eine gegen ausländische Rechtsgüter gerichtete Tat begangen wurde, zur Strafverfolgung des Täters – ein Fall, der keine echte „aut dedere – aut iudicare“-Konstellation ist (vgl. oben 1. Kapitel A. und unten, 3. Kapitel B. II. 1. bei Fn. 823) – sowie – eng mit der vorherigen Fallgruppe zusammenhängend – eine Auslieferungs- bzw. Strafverfolgungspflicht des Zufluchtsstaates für den Sonderfall, dass der Täter von dort aus weitere Taten gegen einen ausländischen Staat plant (vgl. Schmalz, S. 159 f.; Klüber, § 65; Heffter, S. 121; Lammasch, Auslieferungspflicht, S. 58, wobei letzterer ohnehin allgemein eine gewohnheitsrechtliche „Auslieferungspflicht“ befürwortete). In diesen Fällen hatten auch früher scharfe Gegener eines „aut dedere – aut punire“ wie Pufendorf oder Martens eine ähnliche Position vertreten (siehe oben Fn. 193 und 238). Zur heutigen Rechtslage vgl. unten 3. Kapitel B. II. 1. bei Fn. 825 ff. 301
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2. Kap.: Die historische Entwicklung
gleich zu den weitschweifigen theoretischen Ausführungen früherer Autoren eher dünn aus; meist wird schlicht und einfach auf die empirische Beobachtung der Praxis verwiesen.305 Sofern daneben überhaupt noch weitere Argumente angeführt werden, bestehen sie überwiegend in der Ablehnung einer weltweiten Wertegemeinschaft mit grenzüberschreitendem Interesse an der Strafverfolgung. Straftaten werden nun – in der Tradition Pufendorfs, Montesquieus, Rousseaus und Beccarias – als reine Verstöße gegen nationales Recht begriffen, deren Repression dann auch allein dem Staat obliegt, dessen Recht verletzt wurde. Andere Staaten seien – vorbehaltlich einer anderen vertraglichen Regelung – höchstens moralisch, nicht aber rechtlich verpflichtet, fremdem Strafrecht zur Durchsetzung zu verhelfen.306 Die wenigen Befürworter einer „Auslieferungspflicht“307 konzentrieren sich dann im Gegenzug ebenfalls hauptsächlich auf diesen Punkt: Eine Straftat ist für sie eben doch mehr, als der Verstoß gegen ein englisches, deutsches oder französisches Gesetz. Mord oder Diebstahl verstoßen ihrer Auffassung nach gegen ein universell und unabhängig von staatlichem Recht gültiges Verbot, weshalb jeder zivilisierte Staat ein Interesse an und eine Pflicht zu ihrer Verfolgung habe.308 Um mit dem positivistischen Zeitgeist kompatibel zu sein, wurde daneben teilweise versucht, die Staatenpraxis so „umzudeuten“, 304
Vgl. zu diesem Paradigmenwechsel Grewe, Epochen, S. 591 f.; Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, S. 214. 305 So etwa bei von Martitz, S. 457; Heffter, S. 117; Wheaton, S. 189 und 193; Schmalz, S. 158 f.; Mittermaier, § 55; Klüber, § 66. 306 Vgl. Mittermaier, § 55; Schmalz, S. 155, 157; von Martitz, S. 448 f.; Heffter, S. 67 f. 307 Neben dem bereits oben erwähnten US-Amerikaner Kent (Fn. 301), sind dies aus der deutschen Literatur vor allem Lammasch und von Mohl gewesen (vgl. sogleich Fn. 308). Lammasch wollte die gewohnheitsrechtliche „Auslieferungspflicht“ aber nicht nur in der Tradition des Grotius auf schwere Straftaten beschränken, sondern sie auch nur zwischen solchen Staaten gelten lassen, die diese Pflicht entweder anerkannt haben oder aber „auf der gleichen Kulturstufe“ stehen bzw. dem west-/ mitteleuropäischen Kulturkreis angehören (vgl. Lammasch, Auslieferungspflicht, S. 57–59). Selbst dann sollte seiner Ansicht nach eine „strenge Rechtspflicht“ zur Auslieferung oder Strafverfolgung aber nur aufgrund Vertrages bestehen (vgl. Lammasch, Auslieferungspflicht, S. 59), eine Einschränkung, deren Bedeutung von ihm nicht näher erläutert wird. 308 Lammasch, Auslieferungspflicht, S. 28–30 und 34–36; von Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Band I, S. 711–14. Obwohl heute wie damals auf die Verletzung universeller Werte abgestellt wird, besteht allerdings ein gewichtiger Unterschied zwischen dieser Auffassung und dem heutigen Universalitätsprinzip: Dass die Tat am Tatort nach der lex loci strafbar war, wurde im 19. Jhd. unstreitig als Voraussetzung einer Bestrafung des Täters im Ausland angesehen (vgl. Lammasch, Auslieferungspflicht, S. 30), während heute das Universalitätsprinzip unabhängig von der lex loci ist und gerade auch Fälle staatlicher oder staatlich gebilligter Kriminalität erfassen soll, in denen die Tat am Tatort nicht strafbar ist (s. oben 1. Kapitel B. II. 6.).
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dass sie doch noch die Annahme einer „Auslieferungspflicht“ stützt. Die Ergebnisse vermögen jedoch nicht zu überzeugen. So wird etwa bei Lammasch aus der Tatsache, dass Auslieferungen auch ohne vertragliche Grundlage immer wieder vorkamen, kurzerhand auf eine diesbezüglichen Rechtspflicht geschlossen.309 Bei näherer Betrachtung der angeführten Präzedenzfälle stellt sich jedoch heraus, dass dort nicht die Existenz einer gewohnheitsrechtlichen Auslieferungspflicht anerkannt wurde, sondern nur die Zulässigkeit einer Auslieferung ohne vertragliche Grundlage. Damit beweist die angeführte Staatenpraxis lediglich, dass eine Auslieferung auch ohne vertragliche Grundlage als freundschaftlicher Akt gewährt werden durfte und auch gelgentlich gewährt wurde.310 Überzeugender bleibt somit die damals herrschende Meinung, die es einem Staat bei Fehlen vertraglicher Bindungen gestattete, den Tätern von Auslandstaten sichere Zuflucht zu gewähren.
F. Sonderfall Deutschland: Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebote im Heiligen Römischen Reich und im Deutschen Bund I. Die Rechtslage im Heiligen Römischen Reich Aufgrund von Verträgen oder auch aufgrund guten Willens kamen Auslieferungen zwischen den Territorien des Heiligen Römischen Reiches gelegentlich vor.311 Auch die Möglichkeit der Bestrafung eines Flüchtigen am Ergreifungsort bestand, seit sich im 17. Jahrhundert in Deutschland der Gerichtsstand des Ergreifungsortes allgemein durchgesetzt hatte.312 Eine allgemeine Pflicht, flüchtige Straftäter abzuurteilen oder auszuliefern, gab es jedoch selbst innerhalb des Reiches nicht.313 Deshalb unternahm es der Reichstag, durch entsprechende Beschlüsse die reichsweite Verfolgung bestimmter außergewöhnlich schwerer Straftaten sicherzustellen. Wir haben es hier – bei aller Vorsicht, die mit solchen Vergleichen immer geboten ist 309
Vgl. Lammasch, Auslieferungspflicht, S. 59–64. Gleiches gilt teilweise für die von Lammasch zitierte Literatur. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der in Lammasch, Auslieferungspflicht, S. 59 Fn. 1 zitierten Resolution des Institut du Droit International: „[. . .] elle [=l’extradition] peut s’en opérer même en absence de tout lien contractuel.“ (Hervorhebung nicht im Original). 311 Moser, Teutsches Nachbarliches Staatsrecht, 4. Buch, 3. Cap., § 21, S. 556 f.; Martens, Précis du Droit des Gens, § 101. 312 Vgl. oben D. III. bei Fn. 250. 313 Vgl. Moser, Teutsches Nachbarliches Staatsrecht, 4. Buch, 3. Cap., § 21, S. 556; Martens, Précis du Droit des Gens, § 101, Mittermaier, § 55. 310
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– in gewisser Weise mit einem Vorläufer der Vertragspraxis des 20. Jahrhunderts zu tun, die einige wenige Verhaltensweisen (beispielsweise Drogenhandel, Kriegsverbrechen oder Flugzeugentführungen) aus dem weiten Feld der Schwerkriminalität herausgreift und als für die gesamte Weltgemeinschaft besonders gefährliche „internationale“ Verbrechen einem speziellen „universellen“ Verfolgungsregime unterwirft. Für die Zeitgenossen des Heiligen Römischen Reiches waren es Friedensbrecher, Duellanten und Falschmünzer,314 die als für die gesamte Reichsgemeinschaft besonders gefährliche Verbrecher reichsweit zu verfolgen waren. So sah der Augsburger Landfriede von 1548 vor: „Es soll auch solche Thäter und Friedbrecher niemand hausen, herbergen [. . .], träncken, [. . .] in seiner Obrigkeit, Eigenthum oder Gebieten, sondern [. . .] zu ihnen mit dem Ernst, von Amts wegen richten, und auch auf männiglichs Klag, Rechts ungesäumt gegen ihnen verhelffen [. . .].“315 Die Reichsmünzordnung von 1559 sah für den Ergreifungsort eines Falschmünzers eine ähnliche Bestrafungspflicht vor.316 Beide Male stand die Aburteilung am Ergreifungsort im Vordergrund, während das Instrument der Auslieferung nicht erwähnt wird. Anders dagegen im Reichsabschied von 1670 zur Bekämpfung des Zweikampfes. In ihm wird das Territorium, in das der Täter nach einem Duell flieht, verpflichtet, diesen an seinen Wohnort oder an den Tatort auszuliefern, die wiederum durch selbigen Reichsabschied zu dessen Bestrafung verpflichtet sind.317 Keines dieser Reichsgesetze sah also ein „aut dedere – aut punire“ vor, bei dem der Zufluchtsstaat zwischen Auslieferung oder eigener Strafverfolgung wählen kann. Stattdessen wurde in zwei Fällen gerade das „punire“ und in einem Fall gerade das „dedere“ zur Pflicht gemacht. Das Ergebnis 314 Letztere sind auch heute noch im Rahmen der internationalen Strafverfolgung relevant (vgl. das unten unter H. II. 1. erörterte Internationale Übereinkommen zur Bekämpfung der Falschmünzerei von 1929, das noch heute in Kraft ist.). 315 Neue Sammlung der Reichsabschiede, Theil II, Neudruck der Ausgabe von 1747, Osnabrück 1967, Tit. XVI, § 1, S. 581. 316 Vgl. Neue Sammlung der Reichsabschiede, Theil III, § 162, S. 197. 317 Reichsabschied Num. XXXVII, 26.06.1670, Neue Sammlung der Reichsabschiede Theil IV, S. 68 ff.; Continuatio den Punctum Duellorum betreffend, 24.09.1670, S. 71 zur Bestrafungspflicht des Tatortes, S. 72 zu den Pflichten des Zufluchtsstaates: „Und demnach die Erfahrung nur, leyder ! zu viel bezeugt, wie sich mancher den eitlen Ehrgeiz, eingebildete Ehren-Rettung, Privat-Neid, oder Rachgier mit solchem Eifer angelegen seyn läßt, daß er zu Erfüllung seines bösen Vorhabens, damit er nicht daran gehindert werde, oder auch denen ausgesetzten Straffen desto mehr entgehen möge, in des Dritten Territorio den Kampf veranlassen und anstellen, oder sich nach vollbrachter That dorthin salvieren thut; So solle, wann der Kampf in Teutschland vorgangen, und der Verbrecher intra fines Imperii zu betreten ist, die Obrigkeit desselben Ortes, wo er anzutreffen ist, selbigen dem Judici Domicilii, seu commissi delicti auf Begehren unweigerlich zu liefern, und abfolgen zu lassen schuldig, seyn.“
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ist jedoch dasselbe: Wohin die Täter dieser drei Schwerstverbrechen auch flüchteten, sie konnten innerhalb des Reiches der Strafe nicht entgehen. Ob diese Pflichten des Zufluchtsstaates völkerrechtliche Gebote zur Strafverfolgung oder Auslieferung waren, hängt davon ab, wie man die Rechtsqualität des Heiligen Römischen Reiches allgemein interpretiert. Für die Zeit nach dem Westfälischen Frieden stehen sich hier eher am Staatsrecht orientierte Vorstellungen und völkerrechtliche Deutungsversuche gegenüber.318 Der Versuch einer Klärung dieser Grundsatzfrage würde den Rahmen dieser Abhandlung bei weitem sprengen. Betrachtet man die weitgehende Selbständigkeit der Reichsterritorien – insbesondere deren Fähigkeit, Verträge mit ausländischen Mächten zu schließen und Botschafter zu entsenden beziehungsweise zu empfangen – erscheint es jedoch jedenfalls gut vertretbar, das Reich in dieser Zeit als eine partikulare Völkerrechtsgemeinschaft anzusehen319 und somit die oben genannten reichsrechtlichen Regelungen für die Zeit nach 1648 als völkerrechtliche Bestrafungs- beziehungsweise Auslieferungspflichten zu begreifen.320
II. Die Zusammenarbeit der Staaten des Deutschen Bundes in der Strafverfolgung Im zeitgenössischen Schrifttum herrschte quasi Einigkeit, dass auch zwischen den Gliedern des Deutschen Bundes keine allgemeine Pflicht zur Auslieferung oder Aburteilung von Straftätern bestand.321 Da die Bundesakte von 1815 keine Vorschriften über die Auslieferung oder Aburteilung von Straftätern enthielt, galt auch in Deutschland der oben allgemein für das 19. Jahrhundert festgestellte Völkerrechtszustand.322 Dieser wurde allerdings später durch den „Bundesbeschluß über Bestrafung von Vergehen gegen den Deutschen Bund und Auslieferung politischer Verbrecher auf deutschem Bundesgebiete“ vom 18. August 1836 modifiziert. Nach dessen 318 Für eine völkerrechtliche Sichtweise vgl. Randelzhofer, insbes. S. 202, während sich bspw. Laufs, S. 142 f. für eine staatsrechtliche Deutung ausspricht. Einen guten Überblick über die in dieser Debatte zwischen dem 17. Jhd. und 1967 vertretenen Auffassungen bietet Randelzhofer, S. 67–109. Besondere Berühmtheit erlangte Pufendorfs Ausspruch vom irregulären Staatsgebilde „aliquod monstro simile“ (vgl. hierzu Randelzhofer, S. 81–84). 319 Vgl. Randelzhofer, S. 202. 320 Zur Fortgeltung älterer Reichsgesetze – wie hier des Augsburger Landfriedens und der Reichsmünzordnung – als Völkerrecht ab 1648 gemäß Art. VIII, § 4 Instrumentum Pacis Osnabrugensis vgl. Randelzhofer, S. 60–62 und 200; zum bereits ursprünglich völkerrechtlichen Charakter des später erlassenen Reichsrechts – wie hier des Reichsabschieds von 1670 – vgl. Randelzhofer, S. 200 f. 321 Vgl. Mittermaier, § 55; Wheaton, S. 188; Martens, § 101. 322 Mittermaier, § 55; Wheaton, S. 188.
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Art. 2 sind „Individuen, welche der Anstiftung eines gegen einen Souverain, oder gegen die Existenz, Integrität, Verfassung oder Sicherheit eines anderen Bundesstaates gerichteten Unternehmens [. . .], der Theilnahme daran, [. . .] bezichtigt sind, dem verletzten oder bedrohten Staate auf Verlangen auszuliefern [. . .]“, sofern der Beschuldigte nicht Untertan des ersuchten Staates ist.323 Die dadurch in Deutschland geschaffene Auslieferungsverpflichtung gerade für politische Straftäter widerspricht in auffälliger Weise der Entwicklung des Auslieferungsrechts im übrigen Europa, wo solche Taten üblicherweise aus dem Anwendungsbereich der Auslieferungsverträge ausgenommen wurden.324 Sie passt aber in das Bild des Deutschen Bundes als Instrument der Restauration, des Kampfes gegen den liberalen und nationalen Geist.325 Neben den Karlsbader Beschlüssen vom August 1819 und ähnlichen Maßnahmen326 war die Pflicht zur Auslieferung flüchtiger politischer „Verbrecher“ nur ein weiteres Glied einer Kette von Repressionen. Die 10 Artikel der allgemeinen Vereinbarung des Bundes von 1853327 betreffen dagegen flüchtige gewöhnliche Verbrecher. Nach Art. I sind diese generell auszuliefern.328 Die Vereinbarung ähnelt vom Aufbau und Inhalt den damals üblichen Auslieferungsverträgen. Ein gewichtiger Unterschied zu den Gepflogenheiten im übrigen Europa besteht allerdings darin, dass eigene Bürger des Zufluchtsstaates nicht ausdrücklich von der Auslieferungspflicht ausgenommen werden. Eine Möglichkeit des Zufluchtsstaates, anstelle der Auslieferung den Beschuldigten vor eigene Gerichte zu stellen, enthalten weder die Vereinbarung von 1853 noch der Beschluss von 1836. Damit ging die von ihnen geschaffene Rechtslage noch über ein „aut dedere – aut punire“ hinaus: Innerhalb Deutschlands war jeder (von 1836 bis 1853: politische und nicht dem Zufluchtsstaat angehörige) flüchtige Verbrecher auf Verlangen auszuliefern. Dass diese Pflicht in ihrer Rechtsqualität jedenfalls nicht rein staats-, sondern auch völkerrechtlich war, dürfte kaum zu bestreiten sein.329 323 Der Text des Bundesbeschlusses ist abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 1, S. 152. 324 Siehe oben Fn. 274. 325 Nipperdey, S. 356. 326 Einen guten Überblick bietet hier Huber, Verfassungsgeschichte, Band II, S. 125–184. 327 Abgedruckt bei Heffter, S. 119 Fn. 1. 328 „Individuen, die wegen gemeiner Verbrechen von einem Staate verurtheilt oder zur Untersuchung gezogen sind, müssen in der Regel von dem anderen Staate, sofern das Vergehen auch dort strafbar ist, auf Verlangen ausgeliefert werden.“ 329 Vgl. zur Rechtsqualität des Deutschen Bundes Art. 1 der Wiener Schlussakte vom 15.05.1820: „Der deutsche Bund ist ein völkerrechtlicher Verein der deutschen souveränen Fürsten und freien Städte [. . .]“ (abgedruckt in: Huber, Dokumente, Band 1, S. 91; Hervorhebung nicht im Original); zu den ihm in der Literatur dane-
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G. Exkurs: völkerrechtliche Besonderheiten von Piraterie und Sklavenhandel und ihre Abgrenzung zum „aut dedere – aut iudicare“ Die Piraterie330 wird häufig als das älteste internationale Verbrechen bezeichnet,331 dessen Verfolgung schon früh völkerrechtlichen Besonderheiten unterlag. Der Sklavenhandel soll nach teilweise vertretener Ansicht im 19. Jahrhundert eine ähnliche Sonderstellung erlangt haben.332 Bedeutet dies, dass für jene beiden Verbrechen bereits damals ein „aut dedere – aut iudicare“ galt?
I. Der Pirat: der älteste hostis humani generis Eines der dem „aut dedere – aut iudicare“ zugrunde liegenden Motive – die Vorstellung vom Täter als einem Feind der gesamten Weltgemeinschaft – lässt sich beim Piraten schon seit der Antike beständig nachweisen. Die Bezeichnung „hostis humani generis“ – also: Feind der Menschheit – geht für ihn auf Cicero zurück333 und blieb seither ein üblicher Terminus.334 Folglich war jeder Staat völkergewohnheitsrechtlich berechtigt, Piraten zu bestrafen.335 Ein „aut dedere – aut iudicare“ begründete dies aber noch nicht. Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass der Zufluchtsstaat den Täter ben auch zugeschriebenen staatsrechtlichen Aspekten vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Band I, S. 664 f. 330 Piraterie in diesem Sinne ist ein rechtswidriger Gewaltakt, der von einem privaten Schiff aus auf Hoher See gegen ein anderes privates Schiff in der Absicht, dieses zu plündern, begangen wird (vgl. Jennings/Watts, S. 746; Brownlie, S. 229 f.; Gloria, in: Ipsen, § 54 Rn. 16; Momtaz, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 505 f.; ähnl. Nguyen/Daillier/Pellet, Rn. 441; Dohering, Rn. 522; Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1101; ferner Art. 101 UN-Seerechtskonvention und Art. 15 Genfer Übereinkommen über die Hohe See). Tatort muss die Hohe See sein; dieselbe Tat im Territorialmeer eines Staates wäre völkerrechtlich gesehen nur ein gewöhnlicher Raub (vgl. Jennings/Watts, S. 753). 331 Vgl. Nguyen/Daillier/Pellet, Rn. 441; Ipsen, in: ders., § 42 Rn. 10; Bassiouni, Va. J. Int. Law 42 (2001), S. 81 (110 f.). 332 Zur Qualifikation des Sklavenhandels als „internationales Verbrechen“ vgl. Nguyen/Daillier/Pellet, Rn. 441; Mahiou, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 41; krit. Jennings/Watts, S. 979; IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000 (République Démocratique du Congo c. Belgique), Urteil vom 14.02.2002, op. ind. Guillaume, Ziff. 5. 333 Vgl. Rubin, EPIL III, S. 1036; ausführlich ders., Law of Piracy, S. 10; Grewe, Epochen, S. 355; Bassiouni, Va. J. Int. Law 42 (2001), S. 81 (108). 334 Vgl. Oehler, Int. Strafrecht, S. 317; Grewe, Epochen, S. 355; Momtaz, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 506 f.; Jennings/Watts, S. 746; Randall, Texas Law Review 66 (1988), S. 785 (791).
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2. Kap.: Die historische Entwicklung
in jedem Einzelfall ausliefern oder strafrechtlich verfolgen muss.336 Eine solche Verfolgungspflicht wurde nur sehr vereinzelt in der Literatur vertreten.337 Die Staatenpraxis zeichnet dagegen ein anderes Bild. Die aufstrebenden Seemächte England und Frankreich duldeten lange Zeit die sich vor allem gegen spanische Schiffe richtende Piraterie auf dem Atlantik und in der Karibik. Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts nahmen sie ernsthaft den Kampf gegen das Seeräubertum auf.338 Aber selbst danach widersetzten sie sich noch von Fall zu Fall einem konzertierten internationalen Vorgehen zu seiner Bekämpfung.339 Darüber hinaus wird bis auf den heutigen Tag immer wieder betont, dass die einzelstaatlichen Gesetze gegen Piraterie durchaus hinter der völkerrechtlich zulässigen universellen Verfolgung zurückbleiben dürfen und dies teilweise auch tatsächlich tun.340 Die Verfolgung von Piraten war also nach Völkergewohnheitsrecht immer nur eine jedem Staat fakultativ offen stehende Option.341 Eine Strafverfolgung und Auslieferung verknüpfende Repressionspflicht bestand für die klassischen „Feinde der Menschheit“ dagegen nie.
335 Vgl. Nugyen/Daillier/Pellet, Rn. 433; Ipsen, in: ders., § 42 Rn. 10; Beckert/ Breuer, Seerecht, S. 108; Oehler, Int. Strafrecht, S. 316; Grewe, Epochen, S. 356; Momtaz, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 506 f.; Jennings/Watts, S. 746; Brownlie, S. 230; US v. Smith (1820), 18 US 153 (161 ff.); Hannoch Tel Oren v. The Libyan Arab Republic (1984), 726 F2d 774 (781) (Hervorhebung nicht in den Originalen). 336 Vgl. zu dieser Unterscheidung oben 1. Kapitel. 337 Grewe, Epochen, S. 356 f. Er verweist dort auf Pufendorf und Grotius, wobei zu berücksichtigen ist, dass letzterer sowieso ein allgemeines „aut dedere – aut punire“ für schwere Straftaten befürwortete und ersterer das Vorgehen gegen Piraten als Sache des Kriegs-, nicht des Strafrechts begriff (siehe oben D. I. 5. und Fn. 186). 338 Vgl. Grewe, Epochen, S. 362. 339 Als Beispiel kann ihr Verhalten auf dem Wiener Kongress dienen, wo sie ein gemeinsames Vorgehen der europäischen Mächte gegen die Seeräuberstaaten Nordafrikas zunächst behinderten, da ihnen deren in erster Linie gegen die Schiffe kleinerer Nationen gerichtetes Unwesen durchaus gelegen kam (vgl. hierzu Grewe, Epochen, S. 648 f.). Auch Rubin, Law of Piracy, S. 341–346 äußert sich sowohl für die Vergangenheit als auch für die Gegenwart sehr skeptisch hinsichtlich der tatsächlichen Bereitschaft der Staaten zur Bekämpfung der Piraterie. 340 Vgl. Jennings/Watts, S. 754; Oehler, Int. Strafrecht, S. 317. 341 Vgl. auch Schmidt, Externe Strafpflichten, S. 127; Doehring, Rn. 1149 und für Art. 105 UN-Seerechtskonvention – der als Ausdruck des althergebrachten Gewohnheitsrechts angesehen werden kann (Nguyen/Daillier/Pellet, Rn. 441; Doehring, Rn. 522) – de La Pradelle, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 913 f. sowie Randall, Texas Law Review 66 (1988), S. 785 (792).
G. Völkerrechtliche Besonderheiten von Piraterie und Sklavenhandel
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II. Sklavenhandel: Gegenstand eines „aut dedere – aut iudicare“? Sklaverei und der Handel mit Sklaven waren bis einschließlich des 18. Jahrhunderts üblich und völkerrechtlich zulässig.342 Erst an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert begann Großbritannien, sich als – von der kurzen Epoche des revolutionären Frankreichs abgesehen343 – erster Staat aus ebenso humanitären wie macht- und wirtschaftspolitischen Gründen gegen den Sklavenhandel zu wenden.344 Dies führte dazu, dass auf dem Wiener Kongress erstmals die wesentlichen europäischen Mächte in einem multilateralen Dokument den Sklavenhandel verurteilten, ohne aber konkrete Maßnahmen zu seiner Unterdrückung zu vereinbaren.345 Die weitere Strategie Großbritanniens zur Eliminierung des Sklavenhandels lässt ein zweigleisiges Vorgehen erkennen: Zum einen versuchte man, den Sklavenhandel auf Hoher See der Piraterie gleichzustellen und somit ein universelles Zugriffsund Verfolgungsrecht für alle seefahrenden Nationen zu begründen.346 Da aber – wie soeben dargelegt – selbst für Piraten kein „aut dedere – aut iudicare“ galt, konnte diese Gleichstellung natürlich auch für den Sklavenhandel ein solches nicht herbeiführen. Die „zweite Schiene“ der Bemühungen zur Unterdrückung des Sklavenhandels war der Abschluss von Verträgen, in denen sich die Parteien zu einem strafrechtlichen Vorgehen gegen Sklavenhändler verpflichteten. Keiner dieser Verträge arbeitete aber mit dem Instrument eines „aut dedere – aut iudicare“. Es fehlt ihren Vorschriften an einer Verknüpfung von Aburteilung und Auslieferung, die ausreichend eng ist, um beide Instrumente als verschiedene Varianten ein und derselben Rechtspflicht erscheinen zu lassen. Was sich dort findet, ist lediglich eine Pflicht, aufgrund des Territorialprinzips, des Flaggenprinzips oder des aktiven Personalprinzips gegen den Sklavenhandel vorzugehen, wobei Art und Umfang des Rückgriffs auf diese Prinzipien von Vertrag zu Vertrag variieren.347 Der342
Vgl. Jennings/Watts, S. 979. Die im Zuge der Revolution abgeschaffte Sklaverei wurde in Frankreich bereits im Jahre 1802 von Napoleon wieder eingeführt (vgl. Grewe, Epochen, S. 655). 344 Vgl. hierzu ausführlich Grewe, Epochen, S. 652 ff. 345 Vgl. Trebilcock, EPIL IV, S. 423; Jennings/Watts, S. 979; Nguyen/Dailier/ Pellet, Rn. 441; Bassiouni, Va. J. Int. Law 42 (2001), S. 81 (112). 346 Vgl. Grewe, Epochen, S. 669; Randall, Texas Law Review 66 (1988), S. 785 (799 f.); Jennings/Watts, S. 979; Bassiouni, Va. J. Int. Law 42 (2001), S. 81 (113) (Hervorhebung nicht in den Originalen). Die angegebenen Stellen sind sich überwiegend einig, dass diese Gleichstellung nur auf vertragl. Basis erreicht wurde, sich aber gewohnheitsrechtlich nicht durchsetzen konnte. 347 Vgl. die Bestimmungen der wohl wichtigsten Verträge auf diesem Gebiet: Art. I und X des Londoner Vertrags vom 20.12.1841, CTS 92, S. 437 ff.; Art. 9 der Generalakte der Berliner Kongokonferenz vom 26.02.1885, CTS 165, S. 485 ff.; 343
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selbe Befund gilt auch noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Weder das Sklavereiübereinkommen von 1926 noch die verschiedenen seit 1904 geschlossenen Abkommen zur Bekämpfung des Frauenhandels kennen ein Strafverfolgung und Auslieferung verknüpfendes „aut dedere – aut iudicare“. Sie normieren lediglich auf den normalen Anwendungsbereich des nationalen Strafrechts beschränkte Strafverfolgungspflichten.348
H. Kriegsverbrecher, Geldfälscher, Drogenhändler und Terroristen: die Zwischenkriegszeit (1918–1939) Auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde – wie schon in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts – in viele Auslieferungsverträge eine Strafverfolgungspflicht des Zufluchtsstaates für den Fall aufgenommen, dass dieser einen eigenen Bürger nicht an den Tatortstaat ausliefern will. Aus einer Auflistung der wichtigsten Auslieferungsverträge bei Shearer lassen sich für die Zeit von 1918 bis 1939 fünfzehn bilaterale Verträge entnehmen, die eine solche „aut dedere – aut iudicare“-Klausel enthielten.349 Auch die Montevideo-Konvention vom 26. Dezember 1933, der damals bedeutendste multilaterale Auslieferungsvertrag,350 und der ebenfalls im lateinamerikanischen Raum angesiedelte Bustamente Code von 1928351 enthielten in Artikel 2 Satz 2 beziehungsweise Artikel 345 entsprechende Regelungen. Auch hier gilt aber die schon für das 19. Jahrhundert getroffene Feststellung, dass dieses „aut dedere – aut iudicare“ bezüglich eigener Bürger nie eine in nahezu jedem Auslieferungsvertrag vorkommende StanArt. V und LVI der Brüsseler Generalakte vom 02.07.1890, CTS 173, S. 293 ff. Zu den Bestimmungen der von Großbritannien abgeschlossenen bilateralen Sklavereiverträge vgl. im Überblick Grewe, Epochen, S. 658 ff. Anhand der Vertragstexte nicht recht nachvollziehbar ist daher die nicht näher begründete Aussage von Bassiouni, Va. J. Int. Law 42 (2001), S. 81 (114), allen Verträgen gegen Sklaverei habe das Prinzip „aut dedere – aut iudicare“ zugrunde gelegen. 348 Vgl. Art. 6 der Sklavereikonvention von 1926 (RGBl. 1929 II 63), die die Abschaffung und Kriminalisierung der Sklaverei übrigens nicht sofort, sondern nur nach und nach forderte (vgl. hierzu näher Jos, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 339; Jennings/Watts, S. 980). Vgl. ferner die bei Bassiouni/Wise, S. 139–147 abgedruckten Bestimmungen der verschiedenen Verträge gegen Frauenhandel. 349 Vgl. Shearer, S. 219-223. 350 Abgedruckt in: AJIL 28 (1934), Suppl., S. 65 ff. 12 amerik. Staaten (einschl. der USA) hatten diesen Vertrag ratifiziert (vgl. Stein, EPIL II, S. 336); die USA brachten allerdings einen Vorbehalt zu der „aut dedere – aut iudicare“-Bestimmung des Art. 2 S. 2 an (abgedruckt in AJIL 28 (1934), Suppl., S. 69), was angesichts ihrer traditionellen Vorbehalte gegen die Aburteilung von Auslandstaten nicht wundert (vgl. oben Fn. 279). 351 OAS Treaty Series No. 34.
H. Kriegsverbrecher, Geldfälscher, Drogenhändler und Terroristen
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dardklausel wurde.352 Die Ausgestaltung der bi- und multilateralen Auslieferungsverträge weist somit im Vergleich zum vorhergehenden Jahrhundert nichts Neues auf. Die eigentliche Innovation der Zwischenkriegszeit liegt auf einem anderen Gebiet: Erstmals wird das Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot zur Bekämpfung einiger weniger, außergewöhnlich gefährlicher Straftaten eingesetzt, deren lückenlose Bestrafung die Staatengemeinschaft als besonders dringlich erachtet.353
I. Die Bemühungen zur Verfolgung deutscher Kriegsverbrecher nach 1918: Ein Anwendungsfall des „aut dedere – aut iudicare“? Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde im Versailler Vertrag (VV) zum ersten Mal der Versuch unternommen, über Kriegsverbrecher völkerrechtlich zu Gericht zu sitzen.354 Auf diesen Punkt legten die alliierten Staatsmänner ganz besonderen Wert, hatten sie doch ihre Kriegspropaganda mit moralischen Argumenten untermauert und deutsche Politiker beziehungsweise Militärs, an der Spitze Kaiser Wilhelm II. selbst, sowohl für den Ausbruch des Krieges als auch für Grausamkeiten an der Front und im besetzten Gebiet verantwortlich gemacht.355 Die der Bestrafung dieser Personen dienenden Artikel 227–230 VV unterschieden zwei Fälle, für die sie jeweils unterschiedliche Mechanismen vorsahen: Dem des ehemaligen deutschen Kaisers einerseits und dem aller anderen Beschuldigten andererseits. 1. Die Versuche zur Bestrafung Kaiser Wilhelms II. Artikel 227 Absatz 2 VV356 sah vor, dass zur Aburteilung Wilhelms II. ein internationaler Gerichtshof bestehend aus je einem US-amerikanischen, 352 So werden bei Shearer, S. 219-223 92 Verträge angeführt, die die Nichtauslieferung eigener Bürger erlauben, ohne eine Strafverfolgungspflicht für diesen Fall vorzusehen. 353 In Anlehnung an Stein, EPIL II, S. 335 soll für Verträge diesen Typs im Folgenden der Begriff „international crime conventions“ verwendet werden, im Unterschied zu den sachlich breiter angelegten „Auslieferungsverträgen“. 354 Ahlbrecht, S. 44. 355 Michaelis/Schraepel, S. 13. Als einzige der Siegermächte zeigten sich die USA von vornherein eher zurückhaltend gegenüber der Bestrafungsidee (vgl. Hankel, S. 28 f.). Einen guten Überblick über die Propagandamaßnahmen der anderen Alliierten, v. a. im Vorfeld der britischen „Khaki-Wahlen“ von 1918, geben Schwengler, S. 88 f. und Hankel, S. 23 ff. Schlüsselereignis für den alliierten Bestrafungseifer war v. a. die Versenkung des brit. Passagierdampfers „Lusitania“ durch ein deutsches U-Boot im Mai 1915 gewesen (vgl. Hankel, S. 24 f.). 356 CTS 225, S. 188 ff.; mit deutscher Übersetzung in RGBl. 1919 II 687.
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britischen, französischen, italienischen und japanischen Richter gebildet werden sollte. Da der Kaiser aber bereits ins niederländische Exil geflohen war, hing die praktische Durchführung dieser Vorschrift letztlich von der Bereitschaft der niederländischen Regierung zu seiner Auslieferung ab.357 Der bereits in Artikel 227 Absatz 4 VV angekündigte Auslieferungsantrag wurde vom Obersten Rat der Alliierten am 15. Januar 1920 gestellt. In ihm werden kurz die wesentlichen Vorwürfe gegen den Kaiser – namentlich die Verletzung der Neutralität Belgiens und Luxemburgs zu Kriegsbeginn sowie der uneingeschränkte U-Bootkrieg – aufgezählt.358 Weiter heißt es in dem Schreiben: Holland würde seine internationalen Pflichten nicht erfüllen, wenn es sich nicht den anderen Mächten anschließen würde, um die begangenen Verbrechen zu verfolgen, oder wenn es ihre Bestrafung hindern würde.359
Diese angebliche internationale Pflicht „Hollands“, zur Bestrafung des Kaisers mit den Siegermächten zu kooperieren, kann aber nur gewohnheitsrechtlicher Natur sein, denn die neutralen Niederlande waren nicht Vertragspartei des Versailler Vertrages und somit nicht dessen Auslieferungsbestimmungen unterworfen; die zwischen ihnen und den Alliierten bestehenden Auslieferungsverträge – auf die überdies weder das Auslieferungsersuchen noch die Antwort der niederländischen Regierung Bezug nehmen – kamen ebenfalls nicht als Basis für die Auslieferung Wilhelms II. in Betracht, da sie die Auslieferung politischer Straftäter ausdrücklich untersagten.360 Um 357
Vgl. Hankel, S. 74. Vgl. den Abdruck des alliierten Schreibens bei Michaelis/Schraepel, S. 17–19. 359 Zitiert nach Michaelis/Schraepel, S. 18. 360 Vgl. Art. III AV USA – Niederlande, 02.06.1887, CTS 169, S. 279 ff.; Art. VI AV Belgien – Niederlande, 31.05.1889, CTS 172, S. 125 ff.; Art. 7 AV Frankreich – Niederlande, 24.12.1895, CTS 182, S. 232 ff.; Art. VI AV Großbritannien – Niederlande, 26.09.1898, CTS 186, S. 448 ff. Dass die Alliierten selbst den politischen Charakter des Falles eingestanden, zeigt ein alliertes Schreiben vom 15.01.1919 (abgedruckt bei Jescheck, Verantwortlichkeit der Staatsorgane, S. 62), welches die Anklage gegen Wilhelm II. als einen Vorgang bezeichnet, der keinen „caractère juridique“ habe, sondern ein „acte de haute politique internationale inspiré par la conscience universelle“ sei. Gleiches geht aus der Denkschrift der Alliierten vom 16.06.1919 (abgedruckt bei Jescheck, Verantwortlichkeit der Staatsorgane, S. 60) hervor, wo es heißt: „[. . .] la mise en accusation publique décrétée contre l’ex Empereur allemand aux termes de l’article 227 n’aura pas de carctère juridique quant au fond, mais seulement quant à la forme. Cette mise en accusation est une question de haute politique internationale, [. . .].“ Es wird sogar gemutmaßt, die Alliierten hätten den politischen Charakter des Verfahrens bewusst so deutlich hervorgehoben, um den Niederlanden die auch ihnen insgeheim genehme Ablehnung des Auslieferungsersuchens zu erleichtern (vgl. Jescheck, Verantwortlichkeit der Staatsorgane, S. 62). Sie waren nämlich untereinander keineswegs einig über das Vorgehen gegen Wilhelm II., den zwar Großbritannien, Italien und Frankreich vor Gericht stellen wollten, weniger aber Japan und die USA (vgl. dazu Hankel, S. 74–79 u. 83 f.). 358
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dennoch zu einer Kooperationspflicht der Niederlande zu gelangen, bedient sich das alliierte Auslieferungsersuchen jener beiden Argumentationslinien, mit denen schon in der naturrechtlich geprägten Völkerrechtslehre des 16. bis 18. Jahrhunderts ein allgemein gültiges „aut dedere – aut punire“ bejaht wurde: Sollten die Niederlande dem Kaiser Zuflucht bieten, müssten sie sich erstens das von diesem begangene Unrecht zurechnen lassen,361 und würden zweitens die ihnen als Teil der internationalen Staatengemeinschaft obliegende Pflicht zur Verhinderung solcher schwerwiegenden Verbrechen verletzen.362 Wie schon bei Grotius oder Vattel, finden sich auch hier Zurechnungsgedanke und Weltgemeinschaftsidee einträchtig nebeneinander. Und wie schon die überwiegende Staatenpraxis früherer Jahrhunderte, so wies auch jetzt die niederländische Regierung die Vorstellung von einem gewohnheitsrechtlichen Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot von sich. Da die Niederlande nicht Partei des Versailler Vertrages seien, sähe sie nicht, auf welcher Grundlage für sie eine völkerrechtliche Pflicht bestehen sollte, durch die Auslieferung des ehemaligen Kaisers „an einer Tat der hohen internationalen Politik der Macht mitzuarbeiten“.363 Eine Bestrafung Wilhelms II. in den Niederlanden stellt weder die Antwortnote in Aussicht, noch ist sie, soweit ersichtlich, in der damaligen Diskussion an anderer Stelle gefordert oder angeboten worden. Die Reaktion der Rechtswissenschaft auf die Entscheidung, dem Kaiser Asyl zu gewähren, fiel ganz überwiegend positiv aus, und zwar nicht nur in Deutschland,364 sondern auch in neutralen Staaten365 und teilweise sogar bei den Siegern.366 Der Auch die zeitgenössische Wissenschaft wandte überwiegend die „exception politique“ der Auslieferungsverträge auf den Fall Wilhelms II. an (vgl. Jellinek, DJZ 1919, Sp. 42 [46]; Simons, JDI 46 [1919], S. 953 [956 f.]). 361 Vgl. die folgende Stelle: „Die Mächte können es sich nicht vorstellen, daß die Regierung der Niederlande daran denken könnte, die von dem ehemaligen deutschen Kaiser auf sich geladene schwere Verantwortung auf sich zu nehmen.“ (abgedruckt bei Schraepel/Michaelis, S. 18; Hervorhebung nicht im Original). 362 Vgl. die folgende Stelle: „Die Mächte hegen die Überzeugung, daß Holland [. . .] nicht durch seine moralische Autorität die Vergewaltigung der wesentlichen Grundsätze der internationalen Solidarität der Nationen wird decken wollen, da es, wie alle anderen, ein Interesse hat, die Rückkehr einer solchen Katastrophe zu verhindern.“ (abgedruckt bei Schraepel/Michaelis, S. 18; Hervorhebung nicht im Original). Dazu, dass die Alliierten sich bei ihrem Vorgehen gegen Wilhelm II. nicht nur als Träger ihrer nationalen Politik, sondern als ein „gouvernement de fait international“ verstanden vgl. auch Jescheck, Verantwortlichkeit der Staatsorgane, S. 55. 363 Antwort der Niederländischen Regierung vom 21.01.1920 (abgedruckt bei Michaelis/Schraepel, S. 19 f.). Da die Niederlande auch ein zweites Auslieferungsbegehren der Alliierten ablehnten, mussten diese ihr Vorhaben zur Bestrafung Wihlems II. schließlich aufgeben (Jescheck, Verantwortlichkeit der Staatsorgane, S. 62). 364 Vgl. Jellinek, DJZ 1919, Sp. 42 (46 f.); Zorn, DJZ 1920, Sp. 665 (668); positiv auch noch aus heutiger Perspektive Hankel, S. 84 ff.
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Fall Wilhelms II. gibt somit beredtes Zeugnis davon, dass sich 1920 eine völkergewohnheitsrechtliche Pflicht zur Auslieferung oder Strafverfolgung von Kriegsverbrechern weder in der Staatenpraxis noch in der Literatur durchgesetzt hatte. 2. Die Verfahren gegen weitere deutsche Kriegsverbrecher Alle übrigen der Begehung von Kriegsverbrechen beschuldigten Deutschen sollte das Reich nach Artikel 228 Absatz 2 VV an die Siegermächte ausliefern, damit sie von den innerstaatlichen Militärgerichten der Sieger abgeurteilt werden können.367 Der Versailler Vertrag greift also nicht auf das Modell „aut dedere – aut punire“ – welches den Zufluchtsstaat zur Strafverfolgung oder Auslieferung verpflichtet – zurück, um die Bestrafung von Kriegsverbrechern sicherzustellen, sondern postuliert eine bloße Auslieferungspflicht. Artikel 228 Absatz 1 S. 3 VV stellt sogar ausdrücklich klar, dass eine Strafverfolgung in Deutschland die Auslieferungspflicht unberührt lässt. Die Wirklichkeit sah jedoch anders aus: Artikel 228 wurde niemals vollzogen. In Deutschland lehnte man es einhellig und mit zum Teil äußerst emotionalen „Ehren-Argumenten“ ab, Deutsche an die Sieger auszuliefern.368 Die Reichsregierung fürchtete gar, die Umsetzung von Artikel 228 würde sowohl bei den Militär- und Zivilbehörden als auch bei der deut365 Vgl. die Stellungnahme des schwedischen Rechtsprofessors Lundstedt, DJZ 1920, Sp. 241-245 und des niederländischen Rechtsprofessors Simons, JDI 46 (1919), S. 953–962 (v. a. 958). 366 Vgl. den berühmten Ausspruch des US-Amerikaners Scott: „Holland has made the world its debtor by refusing to surrender the Kaiser for the commission of an offence admittedly political [. . .]“ (abgedruckt bei Jescheck, Verantwortlichkeit der Staatsorgane, S. 63). Scharfe Kritik kam dagegen bspw. von den französischen Professoren Larnaude/de Lapradelle, JDI 46 (1919), S. 131 ff. (v. a. S. 159). 367 Falls sich die angeklagte Tat gegen mehrere Siegermächte gerichtet hatte, sollte nach Art. 229 II VV ein aus Militärrichtern aller betroffenen Staaten bestehendes Gericht entscheiden. Ähnl. Auslieferungsbestimmungen enthalten auch die mit den Verbündeten des Deutschen Reiches geschlossenen Friedensverträge (vgl. Art. 173 f. des Friedensvertrages mit Österreich, 10.09.1919, CTS 226, S. 8 ff.; Art. 118 f. des Friedensvertrages mit Bulgarien, 27.11.1919, CTS 226, S. 332 f.; Art. 157 f. des Friedensvertrages mit Ungarn, 04.06.1920, AJIL 15 (1921), S. 1 ff. und Art. 22 f. des Friedensvertrages mit der Türkei, 10.08.1920, AJIL 15 (1920), S. 179 ff. 368 Vgl. Jescheck, Verantwortlichkeit der Staatsorgane, S. 61 sowie die dort abgedruckten Noten der deutschen Delegation vom 29.05. und 23.06.1919, die Zusammenfassung der Debatte der Nationalversammlung vom 12.05.1919 bei Schwengler, S. 198-201, das Interview mit Reichswehrministers Noske vom 05.02.1920 in der „Daily Mail“ (abgedruckt bei Michaelis/Schraepel, S. 23 f.), wo dieser vom „Schmachparagrafen“ spricht, sowie aus dem rechtswisschaftlichen Schrifttum Zorn, DJZ 1920, Sp. 665 (668). Ausführlich zur öffentl. Debatte Hankel, S. 42 ff.
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schen Öffentlichkeit zu Widerstand bis hin zum Umsturz führen.369 Sie schlug deshalb – der Sache nach ganz im Sinne des, von ihr freilich nicht benutzten, Schlagwortes „aut dedere – aut punire“ – die Aburteilung der betreffenden Personen in Deutschland als Alternative zur Auslieferung vor.370 Um die innerstaatlichen Voraussetzungen hierfür zu schaffen, wurde am 18. Dezember 1919 ein „Gesetz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen“ erlassen, das für „Verbrechen oder Vergehen, die ein Deutscher im In- oder Ausland während des Krieges bis zum 28. Juni 1919 gegen feindliche Staatsangehörige oder feindliches Vermögen begangen hat“ die erst- und letztinstanzliche Zuständigkeit des Reichsgerichts in Leipzig vorsah.371 Zunächst scheinbar unbeeindruckt von diesem Vorschlag übersandten die Siegermächte dem Reichskanzler am 7. Februar 1920 eine Liste mit 895 auszuliefernden Personen, darunter so illustre Persönlichkeiten wie die Kronprinzen Preußens und Bayerns, der ehemalige Reichskanzler von Bethmann Hollweg sowie die beiden „Helden von Tannenberg“, Feldmarschall von Hindenburg und General Ludendorff.372 Schon wenige Tage später zeigte sich der Oberste Rat der Alliierten aber versöhnlicher. Unter ausdrücklicher Aufrechterhaltung des alliierten Auslieferungsanspruches betont er, dass der Versailler Vertrag einer Strafverfolgung in Deutschland nicht entgegenstünde. Anhand dieser Prozesse würde man „den guten Glauben Deutschlands [. . .] und den aufrichtigen Wunsch, an deren [= der Kriegsverbrechen] Bestrafung mitzuwirken“
messen und „prüfen, ob das von Deutschland vorgeschlagene Verfahren [. . .] nicht ausschließlich darauf hinausläuft, die Schuldigen der gerichtlichen Bestrafung [. . .] zu entziehen [,]“
in welchem Falle man weiterhin auf der Auslieferung bestehen werde.373 Hintergrund war die Einsicht Großbritanniens und Italiens, dass die Reichs369 Vgl. Aufzeichnung der Deutschen Regierung vom 05.11.1919 (abgedruckt bei Michaelis/Schraepel, S. 15 f.); deutsche Note vom 25.01.1920 (abgedruckt bei Michaelis/Schraepel, S. 20 ff.); sowie das in Fn. 368 erwähnte Interview mit Noske. Vgl. ferner Schwengler, S. 259 f.; Müller, AVR 39 (2001), S. 202 (204). 370 Vgl. deutsche Note vom 25.01.1920 (Fn. 369), v. a. S. 21. 371 Vgl. RGBl. 1919, 2125. Näher zu Vorgeschichte und Inhalt des Gesetzes Schwengler, S. 278 ff.; Müller, AVR 39 (2001), S. 202 (204 ff.); Hankel, S. 54. 372 Vgl. das Schreiben des Präsidenten der Friedenskonferenz Millerand an Reichskanzler Bauer vom 07.02.1920 (abgedruckt bei Michaelis/Schraepel, S. 25 f. Fn. 2 und 3); sowie Schwengler, S. 304 f.; Müller, AVR 39 (2001), S. 202 (207); Hankel, S. 41 f. (wonach die Liste 890 Namen enthielt, inklusive neun in Deutschland anwesender türkischer Beschuldigter). 373 Vgl. Antwortnote des Obersten Rates der Alliierten an die Deutsche Regierung vom 13.02.1920 (abgedruckt bei Michaelis/Schraepel, S. 26 f. (Zitate auf S. 27)). Am Rande sei bemerkt, dass Art. 20 III a) ICC-Statut nahezu dieselbe For-
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regierung den Auslieferungsforderungen nicht nachkommen konnte, ohne ihren Sturz zu risikieren.374 Ein Eingehen auf den deutschen Vorschlag schien daher ratsam, um wenigstens einige der Beschuldigten der Bestrafung zuzuführen.375 Aufgrund einer neuen, nur noch 45 Personen umfassenden alliierten Liste – die keine hochrangigen Persönlichkeiten mehr enthielt und lediglich einzelne Verletzungen der Kriegsgebräuche anprangerte, anstatt die deutsche Kriegsführung pauschal zu kriminalisieren376 – begannen im Frühjahr 1921 vor dem Reichsgericht die Hauptverhandlungen.377 Die Ergebnisse waren jedoch eher enttäuschend. Obwohl der Oberreichsanwalt insgesamt 1803 Verfahren einleitete,378 kam es nur zu zehn Prozessen, in denen sechs Angeklagte verurteilt, sechs weitere freigesprochen wurden.379 Selbst die Strafen der sechs Verurteilten wurden nur teilweise mulierung über innerstaatliche Prozesse „for the purpose of shielding the person concerned from criminal responsibility for crimes“ enthält, die den Angeklagten ebenfalls nicht vor erneuter Strafverfolgung durch den ICC schützen. 374 Vgl. Schwengler, S. 333 ff. mit ausführlichen Quellenzitaten; Müller, AVR 39 (2001), S. 202 (207). Frankreich akzeptierte dies nur widerstrebend (vgl. Schwengler, S. 338). 375 Vgl. Schwengler, S. 337. Brit. Versuche, Deutschland weitere Auflagen zu machen – etwa die Festschreibung des besetzten Rheinlandes als Verhandlungsort – wurden durch Italien verhindert (Schwengler, S. 338). 376 Schwengler, S. 341; Müller, AVR 39 (2001), S. 202 (207 f., wonach sich auf der Liste allerdings 46 Personen befanden); Hankel, S. 56 f. Zuvor war es auf alliierten Druck hin noch zu zwei Verschärfungen des Reichsgesetzes vom 18.12.1919 gekommen (vgl. dazu Müller, AVR 39 [2001], S. 202 [208 f.]; ausführlich Hankel, S. 63 ff.). 377 Vgl. Ahlbrecht, S. 42; Jescheck, Verantwortlichkeit der Staatsorgane, S. 64; Müller, AVR 39 (2001), S. 202 (210); Hankel, S. 99. 378 Ahlbrecht, S. 42. Die Zahlen schwanken im Einzelnen etwas: Hankel, S. 103 spricht von „über 1700 Verfahren“, bei Müller, AVR 39 (2001), S. 202 (220) ist von insgesamt 1635 Verfahren die Rede, von denen 907 auf allierten Listen und 728 auf anderen Anzeigen bei der Reichsanwaltschaft beruhten. 379 In einer ersten Phase wurde 1921 in neun Prozessen gegen 11 Angeklagte aufgrund der alliierten Liste verhandelt (wobei in den Fällen der U-Boot-Offziere Dithmar und Boldt eigentlich nicht diese auf der Liste standen, sondern ihr flüchtiger Kommandant Patzig) (vgl. Hankel, S. 99–101; Müller, AVR 39 [2001], S. 202 [210]); 1922 wurde einem weiteren in der Liste aufgeführten Beschuldigten der Prozess gemacht (vgl. Hankel, S. 102 f.; Müller, AVR 39 [2001], S. 202 [219]). Die verhängten Freiheitsstrafen lagen zwischen 6 Monaten und 4 Jahren. Fünf der Verurteilten hatte Großbritannien die Versenkung britischer Lazarettschiffe bzw. die Misshandlung britischer Kriegsgefangener vorgeworfen (vgl. Report of Proceedings before the Supreme Court in Leipzig, British Parliamentary Command Paper No. 1450, abgedruckt in: AJIL 16 [1922], S. 628 ff. [629 und 640]; Müller, AVR 39 [2002], S. 202 [210, 215 f.]); in einem Fall ging es um die Tötung französischer Kriegsgefangener und Verwundeter (vgl. Jescheck, Verantwortlichkeit der Staatsorgane, S. 66; Hofacker, Die Leipziger Kriegsprozesse, ZStW 43 (1922), S. 649 (666); Schwengler, S. 346 f.; Müller, AVR 39 [2001], S. 202 [213 f.]). Daneben
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oder gar nicht vollstreckt.380 Vor allem Frankreich, das schon während der laufenden Prozesse seine Beobachter aus Protest abgezogen hatte, war mit der Vorgehensweise des Reichsgerichts mehr als unzufrieden.381 In der Folge erklärte der alliierte Botschafterrat am 28. August 1922 die Leipziger Prozesse für irrelevant und kündigte an, von nun an wieder die Auslieferung der Beschuldigten zu betreiben.382 Dennoch wurde kein weiteres Auslieferungsersuchen mehr gestellt.383 Die politische Situation in Europa hatte sich gewandelt. Das Kriegsgeschrei war verklungen; der Wunsch der Weltöffentlichkeit nach Bestrafung der deutschen Kriegseliten wich dem Willen zu friedlicher Koexistenz.384 Auch das Reichsgericht fällte keine weiteren Urteile mehr gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher; noch anhängige Verfahren wurden alsbald eingestellt.385 Im Rückblick lässt sich folgendes Resümee ziehen: Obwohl sie nie auf ihren friedensvertraglichen Auslieferungsanspruch verzichtet haben, gaben die Alliierten seit Februar 1920 zu erkennen, dass auch eine ernsthafte Strafverfolgung deutscher Kriegsverbrecher in Deutschland selbst – und damit letztlich eine Lösung nach dem Prinzip „aut dedere – aut iudicare“ – für wurden in zwei Prozessen ohne Bezug zur alliierten Liste 4 einfache Soldaten wegen Plünderung bzw. Raubes zu Zuchthausstrafen zwischen 2 und 5 Jahren verurteilt (vgl. Schwengler, S. 345 und 359; Müller, AVR 39 [2001], S. 202 [210]; zum ersten dieser Prozesse gegen drei Pioniere, die einen belg. Gastwirt beraubt hatten vgl. ausführlich Hankel, S. 71 f.; zum zweiten, in dem einem Landsturmmann Plünderung vorgeworfen wurde vgl. Hankel, S. 102.). Die wohl beste Schilderung der einzelnen Prozesse und Urteile findet sich bei Hankel, zunächst auf S. 99–103 im Überblick und dann sehr detailliert auf S. 105–478. 380 Ahlbrecht, S. 43. Die beiden schwersten Verurteilungen – nämlich die der deutschen U-Bootoffiziere Dithmar und Boldt zu je 4 Jahren Gefängnis – wurden sogar 1928 in einem Wiederaufnahmeverfahren förmlich aufgehoben (vgl. Schwengler, S. 358; Müller, AVR 39 [2001], S. 202 [219] und, sehr ausführlich, Hankel, S. 500 ff., der von einer „Art Schmierenkomödie“ spricht). 381 Vgl. Jescheck, Verantwortlichkeit der Staatsorgane, S. 66 f.; Schwengler, S. 347 u. 350; Clunet, JDI 48 (1921), S. 440 ff.; Hofacker, ZStW 43 (1922), S. 649 (670). Die Reichsregierung verwahrte sich gegen solche Kritik am Vorgehen des Reichsgerichts (vgl. die Mitteilung des Reichsministers der Justiz in DJZ 1922, Sp. 611 f.), aber auch die britische Regierung bewertete die Leipziger Prozesse positiver (vgl. Müller, AVR 39 [2001], S. 202 [217]). 382 Vgl. die Note des alliierten Botschafterrates vom 28.08.1922 (abgedruckt bei Michaelis/Schraepel, S. 29). 383 Jescheck, Verantwortlichkeit der Staatsorgane, S. 67; Müller, AVR 39 (2001), S. 202 (218). In Frankreich und Belgien fanden stattdessen Kontumazialverfahren statt (vgl. Ahlbrecht, S. 43; Jescheck, Verantwortlichkeit der Staatsorgane, S. 67; Schwengler, S. 352; ausführlich Hankel, S. 490 ff.). 384 Jescheck, Verantwortlichkeit der Staatsorgane, S. 67. 385 Vgl. Schwengler, S. 355 f.; Müller, AVR 39 (2001), S. 202 (219); Hankel, S. 103 u. 487 f.
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sie akzeptabel wäre. Da sie den „Leipziger Prozessen“ aber schließlich diese Ernsthaftigkeit – wohl zu recht386 – absprachen, bestanden sie ab 1922 wieder auf der Auslieferung, ohne aber konkrete Schritte in diese Richtung zu ergreifen. Im Ergebnis kam es somit in der überwiegenden Anzahl von Fällen weder zu einer ernsthaften Strafverfolgung in Deutschland noch zur Auslieferung. Obwohl es zwischen 1920 und 1922 entsprechende Ansätze gab, ist das Problem der Kriegsverbrecher387 des Ersten Weltkriegs also letztlich nicht nach dem Prinzip „aut dedere – aut iudicare“ gelöst worden.
II. Falsche Francs, Drogen und ein toter König: der Durchbruch des „aut dedere – aut iudicare“ in Verträgen über „internationale Straftaten“ War unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg dem „aut dedere – aut iudicare“ der Durchbruch als Instrument zur Bekämpfung „internationaler Straftaten“ noch versagt geblieben, so sollte sich dies nur wenige Jahre später ändern. Zwischen 1929 und 1937 wurden drei große multilaterale Konventionen unterzeichnet, in denen zum ersten Mal mit Hilfe eines Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes die Bekämpfung bestimmter, von der Staatengemeinschaft als besonders gefährlich betrachteter Straftaten sichergestellt werden sollte.388
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Die Bewertung der Leipziger Prozesse in der neueren Lit. fällt durchweg krit. aus (vgl. etwa die Urteile bei Schwengler, S. 359; Müller, AVR 39 [2001], S. 202 [220 f.] und Hankel, S. 518 ff.). Das zeitgenössische Schrifttum war dagegen gespalten: Scharfer Kritik der franz. Lit. (bspw. bei Clunet, JDI 48 [1921], S. 440 ff.) standen positivere Stimmen aus Großbritannien (vgl. Mullins, S. 44; Sir Pollock im brit. Unterhaus, zitiert in der Mitteilung des Reichsministers der Justiz in DJZ 1922, Sp. 611; w. N. bei Jescheck, Verantwortlichkeit der Staatsorgane S. 67 Fn. 20) und der von deutschen Autoren erhobene Vorwurf übergroßer Härte (vgl. Hofacker, ZStW 43 [1922], S. 649 [659–74]; Müller, DJZ 1921, Sp. 505–510) gegenüber. 387 Es sei nebenbei kurz darauf hingewiesen, dass es immer nur um Kriegsverbrechen der Besiegten ging. Der deutsche Vorschlag, Kriegsverbrecher beider Seiten vor einem Gericht der neutralen Staaten anzuklagen, fand auf der Pariser Friedenskonferenz kein Gehör (vgl. die Note der deutschen Regierung vom 29.05.1919, abgedruckt bei Jescheck, Verantwortlichkeit der Staatsorgane, S. 61). 388 Bassiouni/Wise, S. 11. Die bereits erwähnten „aut dedere – aut iudicare“Klauseln waren dagegen Bestandteil von Auslieferungsverträgen, also Verträgen, welche die zwischenstaatliche Zusammenarbeit in Strafsachen bzgl. einer Vielzahl von Straftaten verbessern sollen, nicht nur bzgl. außergewöhnlicher Schwerstverbrechen von internationaler Bedeutung (zum Unterschied zwischen beiden Vertragstypen vgl. Stein, EPIL II, S. 335; Bassiouni/Wise, S. 11 f.).
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1. Das Internationale Abkommen zur Bekämpfung der Falschmünzerei Die erste dieser Konventionen ist das Genfer Abkommen zur Bekämpfung der Falschmünzerei vom 20. April 1929.389 Wie schon bei den reichsgesetzlichen Versuchen der frühen Neuzeit zur Sicherstellung der Bestrafung bestimmter Straftaten, begegnet uns auch hier die Geldfälschung als eine Tat, der eine besondere grenzüberschreitende Gefährlichkeit zugesprochen wird. Die Initiative zu diesem im Rahmen des Völkerbundes ausgehandelten Abkommen ging vom französischen Ministerpräsidenten Briand aus, nachdem 1926 größere Mengen in Ungarn gefälschter französischer Francs aufgetaucht waren.390 Ziel des Abkommens ist es nach der Präambel „[de] rendre de plus en plus efficace la prévention et la répression du faux moyennage“. Man ging davon aus, dass die Münzfälschung alle Staaten in gleichem Maße bedrohe, und dass der gerade auf diesem Gebiet fast stets international arbeitenden Front des Verbrechens auch eine internationale Abwehrfront der Staaten entgegengesetzt werden müsse.391 Artikel 3 verpflichtet die Vertragstaaten, bestimmte Verhaltensweisen in Zusammenhang mit Falschgeld unter Strafe zu stellen. Darin allein liegt noch nichts Neues. Schon im 19. Jahrhundert gab es Verträge, in denen sich die Vertragspartner verpflichteten, beispielsweise den Sklavenhandel als Straftat in ihr nationales Strafrecht aufzunehmen.392 Eine solche Klausel versagt allerdings dann, wenn der Staat, in dem sich der Täter aufhält, nicht der Tatortstaat ist, denn die von ihr bewirkte nationale Strafbewehrung eines Verhaltens kann nur soweit reichen, wie der räumliche Anwendungsbereich des jeweiligen nationalen Strafrechts reicht; in der Regel also nicht über die territorialen Grenzen eines Staates hinaus.393 Um aber auch den ins Ausland geflüchteten Straftätern habhaft zu werden, greift die Konvention zu dem Instrument des „aut dedere – aut iudicare“, oder, genauer gesagt, zu zwei verschiedenen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgeboten, die inhaltlich unterschiedlich ausgestaltet sind. Das eine betrifft Staatsangehörige des Zufluchtsstaates, das andere Ausländer. Dies verwundert nicht, waren doch die bei Vertragsschluss vorgefundenen rechtlichen Rahmenbedingungen in beiden Fallgruppen unterschiedlich: Eigene Staatsbürger wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts zwar in kontinentaleuropäischen und lateinamerikanischen 389 Bassiouni/Wise, S. 12; Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1007. Das Abkommen ist in RGBl. 1933 II 913 abgedruckt. 390 Kuenzer, DJZ 1930, Sp. 268 (269). 391 Kuenzer, DJZ 1930, Sp. 268 (269 f.). 392 Vgl. oben G. II. 393 Zum Unterschied zwischen beiden Klauseltypen vgl. oben, 1. Kapitel A. bei Fn. 8 und B. 4. um Fn. 72.
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Ländern praktisch nie ausgeliefert, dafür begründete andererseits die Staatsangehörigkeit des Täters eine nach überwiegender Ansicht ausreichende Verknüpfung, die es dem Heimatstaat völkerrechtlich erlaubte, Auslandstaten selbst zu sühnen.394 Bei flüchtigen Ausländern war dagegen die Auslieferung grundsätzlich möglich, allerdings wurde teilweise bestritten, dass der Zufluchtsstaat im Falle ihres Scheiterns den Täter selbst bestrafen darf.395 Entsprechend differenzieren auch die Vorschriften des Abkommens von 1929: Würde ein hypothetisches Auslieferungsersuchen (das tatsächlich ein solches vorliegt, verlangt das Übereinkommen bezüglich eigener Bürger des Zufluchtsstaates nirgends) daran scheitern, dass sich der Täter nach der im Ausland begangenen Geldfälschung in seinen Heimatstaat geflüchtet hat und dieser grundsätzlich keine eigenen Bürger ausliefert, so muss der Heimatstaat den Betreffenden gemäß Artikel 8 selbst „de la même manière que si le fait avait été commis sur leur [= der Heimatstaaten] territoire“ bestrafen. Im Zusammenspiel mit Artikel 3, der die Staaten verpflichtet, im klassischen Anwendungsbereich ihres Strafrechts – vor allem also in ihrem Territorium – die betreffenden Taten unter Strafe zu stellen, war somit lückenlos gewährleistet, dass sich kein Geldfälscher durch Flucht in seinen Heimatstaat der Strafe entziehen kann.396 Weniger lückenlos waren dagegen die Vorkehrungen, die verhindern sollten, dass die Flucht in einen für ihn fremden Staat zur Straflosigkeit eines Geldfälschers führt. Hier hing nach Artikel 9 die Strafverfolgungspflicht des Zufluchtsstaates nicht nur davon ab, dass ein Auslieferungsersuchen tatsächlich gestellt und abgelehnt worden war, sondern zusätzlich noch davon, dass die Gesetzgebung des Zufluchtsstaates „admet, comme règle générale, le principe de la poursuite d’infractions commises à l’étranger“. Sofern also Staaten, wie damals noch die angelsächsischen Länder,397 die Aburteilung der Auslandstaten von Ausländern grundsätzlich ablehnten, zwang das Genfer Abkommen sie nicht zu einer Änderung ihrer Haltung. Dies wird noch einmal ausdrücklich in Artikel 17 klargestellt, wonach „la présente Convention ne doit pas être interprétée comme portant atteinte à son [=eines jeden Vertragsstaates] attitude sur la question générale de la compétence de la juridiction pé394
Vgl. oben 1. Kapitel C. bei Fn. 81 und im hiesigen Kapitel E. I. 2. bei Fn. 261. 395 Vgl. oben E. I. 4. bei Fn. 280; ferner Wheaton, S. 184. 396 Zu dieser Zielsetzung des Abkommens vgl. auch Kuenzer, DJZ 1930, Sp. 268 (270). Art. 19 stellte allerdings klar, dass die Verfolgung und Aburteilung immer nur gemäß den allgemeinen Vorschriften des nationalen Straf- und Strafprozessrechts erfolgt, was allerdings nicht zur völligen Straflosigkeit führen dürfe. Ferner bleibt nach Nr. 2 der in einem ersten Protokoll zur Konvention (RGBl. 1933 II 932) enthaltenen Auslegungsbestimmungen das Recht der Staaten auf Strafmilderung, Verfahrenseinstellung, Amnestie und Begnadigung unberührt. 397 Vgl. Wheaton, S. 184 f.
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nale“.398 Leglich eine Art „Gleichbehandlungspflicht“ wird den Vertragsstaaten hinsichtlich ihres Strafrechtsanwendungsrechts auferlegt, denn wenn sie grundsätzlich die Möglichkeit der Verfolgung von Ausländern für Auslandstaten anerkennen, müssen sie diese auch für Falschgeldtaten vorsehen. Damit war aber die Effektivität des „aut dedere – aut iudicare“ als Mittel zur Abschaffung sicherer Zufluchtsorte geschwächt: Die Flucht in einen Staat, der sein nationales Strafrecht prinzipiell nicht auf Auslandstaten von Ausländern erstreckt, blieb für einen ausländischen Geldfälscher eine Möglichkeit, sich der Strafe zu entziehen, falls seine Auslieferung an den Tatort – zum Beispiel wegen des Fehlens eines Auslieferungsvertrages zwischen den beteiligten Staaten399 – scheiterte. Es gibt in der Konvention keinen Hinweis darauf, dass der Staat, der aufgrund seines nationalen Rechts nicht zur Verfolgung des Täters in der Lage ist, ihn zwingend ausliefern müsste – so wie es in der früheren Neuzeit Covarruvias vertreten hatte. Somit konnte man auch 1929 einem Geldfälscher dasselbe raten, was man ihm schon im 18. Jahrhundert auf Basis der Rechtsauffassung eines Christian Wolff hätte nahe legen müssen400: Nach der Tat sollte man lieber in einen fremden Staat flüchten, als in den eigenen Heimatstaat zurückzukehren. 2. Das Drogenhandelübereinkommen von 1936 Das ebenfalls im Rahmen des Völkerbundes ausgehandelte Abkommen zur Unterdrückung des Drogenhandels vom 26. Juni 1936 – dem Deutsch398 Dennoch wird man, wie bereits oben, 1. Kapitel IV. erwähnt, davon ausgehen müssen, dass die Konvention die Staaten zwar nicht zur Ausdehnung ihrer Strafgewalt auf die in Art. 3 genannten Auslandstaten zwang, diese aber erlaubte. Denn es wäre widersprüchlich, solchen Staaten, die ihr Strafrecht auf Auslandstaten von Ausländern erstrecken, eine Strafverfolgungspflicht aufzuerlegen, ohne damit gleichzeitig für die von der Konvention betroffenen Fälle die Rechtmäßigkeit einer solchen Strafrechtserstreckung anzuerkennen (so im Ergebnis auch IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000 (République Démocratique du Congo c. Belgique), Urteil vom 14.02.2002, op. ind. Guillaume, Ziff. 6). 399 Die Falschmünzerkonvention von 1929 erfüllte nicht selbst die Funktion eines Auslieferungsvertrages, sondern sah in Art. 10 nur vor, dass einerseits Straftaten nach Art. 3 als in bereits zwischen den Vertragsparteien bestehende Auslieferungsverträge aufgenommen gelten (Hervorhebung nicht im Original) und dass andererseits, sofern ein Staat nach seinem innerstaatlichen Recht Auslieferungen ohne vertragliche Grundlage gewährt, er auch für Geldfälscher keine solche verlangen wird. Damit musste die Auslieferung eines Geldfälschers aus einem Staat, der nach seiner innerstaatlichen Rechtsordnung grundsätzlich nur bei Bestehen eines Auslieferungsvertrags ausliefert (so bspw. die USA, vgl. Shearer, S. 28; Carter/Trimble, S. 795; Weston/Falk/Charlesworth, S. 503), in einen Staat, mit dem kein Auslieferungsvertrag bestand, aber nach wie vor scheitern. 400 Vgl. oben D. II. 2.
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2. Kap.: Die historische Entwicklung
land nie beitrat401 – folgt dem Muster der Falschmünzerkonvention von 1929. Insbesondere die Bestimmungen bezüglich des „aut dedere – aut iudicare“ gleichen diesem Vorbild.402 Damit bietet das Abkommen inhaltlich nichts Neues. Die Wiederholung des Instrumentariums von 1929 zeigt aber, dass eine solche abgeschwächte „aut dedere – aut iudicare“-Lösung den Staaten durchaus als politisch akzeptabel und immer noch hinreichend erfolgversprechend zur Bekämpfung international gefährlicher Verbrechen erschien. 3. Das Abkommen zur Verhütung und Bestrafung des Terrorismus Anlass zur Ausarbeitung der „Convention for the Prevention and Punishment of Terrorism“ und der „Convention for the Creation of an International Criminal Court“ vom 16. November 1937 war – wie auch bei den meisten modernen Antiterrorverträgen403 – ein spektakulärer Anschlag: die Ermordung König Alexanders von Jugoslawien und des französischen Außenministers Barthou am 9. Oktober 1934 in Marseille.404 Der Täter, ein kroatischer Nationalist namens Pavelic´ fand im faschistischen Italien eine sichere Zuflucht, da man dort den Zerfall Jugoslawiens für politisch wünschenswert hielt.405 Auf französische Initiative arbeitete eine Expertenkommission des Völkerbundes daraufhin einen Vertragsentwurf zur Verbesserung der als unbefriedigend empfundenen Rechtslage auf dem Gebiet der Terrorismusbekämpfung aus, auf dessen Grundlage schließlich im Rahmen einer Staatenkonferenz die beiden genannten Verträge entworfen und unterzeichnet wurden.406 Sie zeigen, dass weder die Idee eines Internationalen Strafgerichtshofs noch die Schaffung einer „Allianz gegen den Terror“ Kinder unserer Tage sind. Das Abkommen über den internationalen Strafgerichtshof, das komplementär zur Antiterrorkonvention war,407 ist für die 401
Vgl. Oehler, Int. Strafrecht, S. 523. Vgl. die Art. 7 („aut dedere – aut iudicare“ bzgl. eigener Bürger), Art. 8 („aut dedere – aut iudicare“ bzgl. Ausländern unter dem Vorbehalt des nationalen Strafrechtsanwendungsrechts) und Art. 14 (unberührt bleiben der unterschiedlichen grundsätzlichen Standpunkte der Vertragspartner zur extraterritorialen Strafrechtsgeltung) (abgedruckt bei Bassiouni/Wise, S. 227 ff.). 403 Vgl. dazu unten, 3. Kapitel A. I. 2. b), c), 3., 4., 6. und 7. 404 Vgl. Guillaume, Rdc 1989 III, S. 287 (313); Frowein, ZaöRV 2002, S. 879 (881). 405 von Glahn, S. 239. 406 Vgl. Starke, BYBIL XIX (1938), S. 214 (214 f.); Mosler, ZaöRV 1938, S. 99. 407 Es stand nur deren Parteien offen, konnte nur gemeinsam mit ihr in Kraft treten und beschränkte die sachliche Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs auf die von der Antiterrorkonvention erfassten Straftaten (vgl. Mosler, ZaöRV 1938, S. 99 [100 und 106 f.]). 402
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vorliegende Untersuchung ohne Interesse, denn sein Instrument zur Bestrafung flüchtiger Terroristen war nicht ein an die nationale Strafjustiz gerichtetes „aut dedere – aut iudicare“, sondern ein internationales Strafgericht.408 Anders dagegen die „Convention for the Prevention and Punishment of Terrorism“: Sie scheute vor einer so weitreichenden Übertragung von Hoheitsrechten zurück409 und setzte stattdessen auf die völkerrechtliche Absicherung der nationalen Strafverfolgung durch ein Strafverfolgungsoder Auslieferungsgebot. Ihre Bestimmungen sind im Wesentlichen der Falschmünzerkonvention von 1929 entlehnt,410 die damit nach 1936 bereits zum zweiten Mal als Vorbild für eine „international crime convention“ diente. Allerdings war die Strafverfolgung eines Ausländers im Zufluchtsstaat noch weiter eingeschränkt: Gemäß Artikel 10 lit. c) musste nicht nur – wie schon 1929 und 1936 – der Zufluchtsstaat extraterritoriale Strafgerichtsbarkeit gegenüber Ausländern grundsätzlich anerkennen, sondern auch der Heimatstaat des Täters. Damit war es den Staaten des angelsächsischen Rechtskreises, die den Anwendungsbereich ihrer Strafrechte sehr eng fassten, gelungen, ihre Bürger vor weitergehenden Strafansprüchen des Auslandes zu schützen. Trotz dieses Erfolges beteiligten sie sich aber letztlich dennoch nicht an der Konvention, da sie immer noch Schwierigkeiten bei deren Übertragung in ihr traditionell enges Strafrechtsanwendungsrecht befürchteten.411 Neben dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und dem Widerstand einiger Staaten gegen die weite Definition des Terrorismus412 war dies ein weiterer Grund dafür, dass die zum In-Kraft-Treten der Kon408
Vgl. Art. 2 der Konvention, abgedruckt bei Bassiouni/Wise, S. 182 Fn. 228. Ursprünglich war ein einheitlicher Vertrag geplant gewesen, der aber wegen des Widerstandes vieler Staaten gegen den geplanten internationalen Strafgerichtshof schließlich in zwei getrennte Dokumente aufgespalten werden musste (vgl. Mosler, ZaöRV 1938, S. 99 [100 f.]). 410 Vgl. Art. 9 („aut dedere – aut iudicare“ bzgl. eigener Bürger), Art. 10 (eingeschränktes „aut dedere – aut iudicare“ bzgl. von Ausländern) und Art. 18 (unberührt bleiben der unterschiedlichen grundsätzlichen Positionen zur extraterritorialen Strafgerichtsbarkeit) (abgedruckt bei Bassiouni/Wise, S. 176 ff.). 411 Vgl. Starke, BYBIL XIX (1938), S. 214 (215); Mosler, ZaöRV 1938, S. 99 (101 und 107). 412 Wie auch heute, war schon damals die Definition des Begriffes „Terrorismus“ einer der umstrittensten Punkte (dazu aus heutiger Sicht unten, 3. Kapitel A. I. 1.). In Art. 1 II wird „Terrorismus“ eher weit als „criminal acts directed against a State and intended or calculated to create a state of terror in the minds of particular persons, or a group of persons or the general public“ definiert. Allerdings galten die Vorschriften über die Strafverfolgung nicht für alle so definierten Terrorakte, sondern nur für die in Art. 2 und 3 aufgezählten: Angriffe auf Staatsoberhäupter, deren Erben, designierte Nachfolger und Ehegatten sowie Angriffe auf andere Amtsträger wegen deren Amtseigenschaft, Angriffe auf das öffentliche Eigentum ausländischer Staaten, vorsätzliche Schaffung einer gemeinen Lebensgefahr sowie bestimmte Vorbereitungs-, Beihilfe- und Versuchshandlungen in diesem Zusammenhang. 409
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2. Kap.: Die historische Entwicklung
vention erforderliche Anzahl an Ratifikationen nie erreicht wurde.413 Dennoch zeugt der Vertragsentwurf von den großen Hoffnungen, die nach den Erfahrungen mit den Konventionen von 1929 und 1936 in die dort vorgesehene Variante des Prinzips „aut dedere – aut iudicare“ als Mittel zur Bekämpfung „internationaler Verbrechen“ gesetzt wurden.
413 Vgl. dazu auch Franck/Lockwood, AJIL 68 (1974), S. 69 (70). Als einziger Staat ratifizierte Indien die Konvention, während weder das Vereinigte Königreich als Mutterland noch irgendein anderer Teil des Commonwealth sie auch nur unterzeichnete. Grund hierfür waren die Probleme der brit. Behörden in Indien mit den von ihnen als „Terroristen“ eingeschätzten Unabhängigkeitskämpfern (vgl. Starke, BYBIL XIX [1938], S. 214 [215]).
3. Kapitel
Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“ Nachdem die Kernaussagen des Schlagwortes „aut dedere – aut iudicare“ herausgearbeitet und seine Entwicklung bis 1945 untersucht wurde, ist es nun an der Zeit, sich den Rechtsgrundlagen heute gültiger völkerrechtlicher Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebote zuzuwenden. Den Anfang macht dabei das wegen seines geschriebenen Charakters einfacher zu erfassende Völkervertragsrecht, bevor der jahrhundertealte Streit um ein allgemein – das heißt im heutigen Völkerrecht: gewohnheitsrechtlich – gültiges „aut dedere – aut iudicare“ bis in unsere Zeit fortgeführt werden wird. Abschließend wird zu fragen sein, inwieweit der UN-Sicherheitsrat nach Kapitel VII der UN-Charta eine Pflicht zur Strafverfolgung oder Auslieferung von Straftätern begründen kann.
A. Vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen I. Der Kampf gegen den Terrorismus 1. „Terrorismus“ – Was ist Gegenstand der Untersuchung? Eine jede wissenschaftliche Untersuchung zum Thema „Terrorismus“ sieht sich mit dem grundlegenden Problem der Definition ihres Gegenstandes konfrontiert. Es gibt nämlich für den „Terrorismus“ keine allgemein konsentierte Definition.1 Die westlichen Staaten verstehen darunter vorwiegend politisch motivierte Gewaltakte Privater, während die meisten Entwicklungsländer mit diesem Begriff in erster Linie rassistische, imperialistische oder auf Besetzung fremder Territorien ausgerichtete staatliche Politik verbinden und die hiergegen gerichteten Aktionen nationaler Befreiungs1 Vgl. statt vieler Bourgues-Habif, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 458; Flory, in: ders./Higgins, S. 30; Murphy, Punishing, S. 4; Damrosch/Henkin/Pugh/Schachter/ Smit, S. 417; Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (303); Jennings/Watts, S. 401; Schmidt, Externe Strafpflichten, S. 249; Lutz, in: Koch, S. 9 (10); Dahm/Delbrück/ Wolfrum, I/3, S. 1110; Sorel, EJIL 2003, S. 365 (370); Finke/Wandscher, VN 2001, S. 168.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
bewegungen aus dieser Kategorie heraushalten wollen.2 Die Ereignisse des 11. Septembers 2001 haben zwar zu vielfältigen Demonstrationen der Einigkeit hinsichtlich der Notwendigkeit einer effektiven Terrorismusbekämpfung geführt, eine Einigung über die Definition dessen, was man da so einmütig bekämpfen will, fehlt aber nach wie vor.3 Seit der gescheiterten Terrorismuskonvention des Völkerbundes4 wurde der „Terrorismus“ nicht mehr auf universeller Ebene vertraglich definiert.5 Selbst diejenigen Verträge, die – wie beispielsweise die Europäische Antiterrorkonvention – den Begriff „Terrorismus“ in ihrem Titel tragen, bestimmen meistens ihren sachlichen Anwendungsbereich über ennumerative Aufzählungen einzelner strafbarer Verhaltensweisen, anstatt über einen wie auch immer umgrenzten Terrorismusbegriff.6 Entgegen einer verbreiteten Ansicht,7 definiert auch das Internationale Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus von 19998 den Begriff des „Terrorismus“ nicht allgemein.9 Es enthält lediglich – ähnlich der Europäischen Antiterrorkonvention10 – neben der ennumerativen Aufzählung einzelner Straftaten auch einen Auffangtatbestand zur Bestimmung seines Anwendungsbereiches.11 Als eine auch über den konkreten Vertrag hinaus bedeutsame Legaldefinition des „Terro2 Vgl. Bourgues-Habif, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 458; Higgins, in: dies./ Flory, S. 13 (16 f.); Prevost, AFDI 1973, S. 579 (590 f.); ähnl. Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (314 f.); Murphy, Punishing, S. 4; Oeter, in: Koch, S. 29 (43); Finke/Wandscher, VN 2001, S. 168. Vor allem arabische Staaten bezeichnen immer wieder die israelische Besatzungspolitik in den Palästinensergebieten als „Terrorismus“ (vgl. Bourgues-Habif, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 459). 3 Vgl. Hugues, JDI 2002, S. 753 (768 f.); ähnl. v. Bubnoff, NJW 2002, S. 2672; Aust, NYIL 2002, S. 23 (43); Guillaume, ICLQ 2004, S. 537 (539 f.). 4 Vgl. hierzu oben, 2. Kapitel H. II. 3. 5 Bourgues-Habif, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 458; Flory, in: ders./Higgins, S. 30 (33); Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (303). So scheiterte bspw. ein von den USA 1972 in die UN-Generalversammlung eingebrachter Entwurf einer umfassenden Antiterrorkonvention nach siebenjähriger Debatte in einem UN-Sonderkommittee 1979 am Definitionsproblem. Zur Zeit wird auf Vorschlag Indiens gerade wieder im Rahmen der UN der Abschluss einer umfassenden Konvention gegen den Terrorismus diskutiert (vgl. dazu auch Oeter, in: Koch, S. 29 (36 f.); Dahm/Delbrück/ Wolfrum, I/3, S. 1108; aktuell http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/aussen politik/vn/itb/itb_vn_html#2). 6 Vgl. Art. 1 Europäische Antiterrorkonvention (hierzu auch: Murphy, Punishing, S. 14; Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 [303]; Flory, in: ders./Higgins, S. 30 [32]; Hugues, JDI 2002, S. 753 [764]). 7 So zum Bsp. die Ansicht von Lavalle, ZaöRV 2000, S. 491 (492, 497); Tomuschat, EuGRZ 2001, S. 535 (537); Oeter, in: Koch, S. 29 (42); Finke/Wandscher, VN 2001, S. 168.; Cassese, Int. Criminal Law, S. 121 f. 8 BGBl. 2003 II 1923; ILM 39 (2000), S. 270 ff. 9 So im Ergebnis auch Aust, NYIL 2002, S. 23 (43). 10 Vgl. Art. 1 e) und 2 Europäische Antiterrorkonvention.
A. Vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen
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rismus“ versteht sich diese Norm schon ihrem Wortlaut nach nicht.12 Und auch der Sache nach wäre sie bei näherer Betrachtung eher Ausdruck eines Formelkompromisses als einer echten inhaltlichen Übereinstimmung. Alle zwischen den Staaten strittigen Fragen der Terrorismusdefinition wurden nämlich entweder ausgeklammert oder in einer Weise gelöst, die es möglich macht, auch weiterhin auf den divergierenden Positionen zu beharren. Ob beispielsweise ein nicht gegen direkt an den Feindseligkeiten eines bewaffneten Konfliktes beteiligte Personen gerichteter Gewaltakt im Sinne des Artikel 2 Absatz 1 b) vorliegt, wenn eine sich als „nationale Befreiungsbewegung“ verstehende Gruppe Anschläge auf Polizisten oder Soldaten der echten oder angeblichen „Besatzungsmacht“ verübt, wird in „Erster“ und „Dritter“ Welt in vielen Fällen unterschiedlich bewertet werden. Auch die Streitfrage, ob staatliches Handeln – etwa die Besetzung fremder Gebiete – „Terrorismus“ sein kann, wird von der Terrorismusfinanzierungskonvention nicht gelöst: Der Wortlaut des Artikel 2 Absatz 1 b) schließt dies nicht aus,13 in ihrem Gesamtzusammenhang machen die Vertragsbestimmungen dagegen nicht den Eindruck, als ginge es ihnen um die Unterdrückung verwerflichen Handelns von Staatsorganen. Unilaterale Terrorismusdefinitionen westlicher Staaten sind hier eindeutiger. Die USA etwa halten trotz der diesbezüglich keine Einschränkung enthaltenden Formulierung des Artikels 2 Absatz 1 b) Terrorismusfinanzierungskonvention auch heute noch daran fest, dass staatliches Handeln nur dann, wenn es von Geheimagenten ausgeführt wird, „Terrorismus“ sein kann, nicht dagegen das Vorgehen regulärer Polizei- oder Armeeeinheiten.14 Arabische oder afrikanische Staaten dürften dieser Interpretation des Terrorismusbegriffes sicherlich nicht unisono zustimmen. Es bleibt also dabei: Eine universell akzeptierte vertragliche Terrorismusdefinition fehlt auch im heutigen Völkerrecht, die Terrorfinanzierungskonvention von 1999 enthält trotz gewisser Fortschritte nur eine Art „Arbeitsdefinition“ für die Bedürfnisse dieses Vertrages, die gerade 11 Dieser findet sich in Art. 2 I und lautet: „Commet une infraction au sens de la présente Convention toute personne qui [. . .] fournit ou réunit des fonds dans l’intention de les voir utilisés ou en sachant qu’ils seront utilisés [. . .] en vue de commettre [. . .] b) Toute [. . .] acte destiné à tuer ou blesser grièvement un civil, ou toute autre personne qui ne participe pas directement aux hostilités dans une situation de conflit armé, lorsque, par sa nature ou son contexte, cet acte vise à intimider une population ou à contraindre un gouvernement ou une organisation internationale à accomplir ou à s’abstenir d’accomplir un acte quelconque.“ 12 Im Unterschied zum Titel und zur Präambel des Vertrages findet sich weder zu Beginn des Art. 2 I noch in dessen lit. b) der Begriff „terrorisme“; es ist dort nur von der „infraction au sens de la présente Convention“ die Rede. 13 So auch Oeter, in: Koch, S. 29 (41). 14 Vgl. die bei Lutz, in: Koch, S. 9 (11) zitierte Terrorismusdefinition des US-Außenministeriums.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
die strittigen Punkte einer allgemeinen „Terrorismusdefinition“ nicht wirklich löst.15 Lediglich drei der neusten regionalen Antiterrorverträge enthalten so etwas wie eine generelle Terrorismusdefinition.16 Dies war möglich, weil die jeweils betroffenen Staatengruppen insoweit politisch homogen sind, als sie in der zentralen Streitfrage – der Behandlung nationaler Befreiungsbewegungen – ohnehin übereinstimmen und diese deshalb aus dem Begriff des Terrorismus „herausdefinieren“ konnten.17 Einer von allen Staaten akzeptierten Terrorismusdefinition auf universeller Ebene dürfte man dadurch aber kaum näher gekommen sein.18 Ohne eine völkerrechtliche Definition seiner Tatbestandsmerkmale kann es aber auch kein völkerrechtliches Verbrechen des „Terrorismus“ geben.19 Ja, man kann sogar sagen, ohne völkerrechtliche Definition kann „Terrorismus“ überhaupt kein Völkerrechtsbegriff sein. Die meisten der im Folgenden vorgestellten Abkommen beziehen sich schon dem Titel nach nur auf ganz bestimmte Straftaten, wie etwa Flugzeugentführung oder Geiselnahme, unabhängig von einem „terroristischen“ Hintergrund im Einzelfall.20 Um es mit einem Beispiel zu verdeutlichen: Auch die von einem Geisteskranken aus Liebeskummer begangene Flugzeugentführung fällt unter die hier als „Antiterrorvertrag“ eingruppierte Haager Konvention. Wenn der Begriff „Terrorismus“ hier dennoch benutzt wird, dann nicht als Rechtsbegriff, sondern als aus dem allgemeinen Sprachgebrauch des Deutschen, Englischen und Französischen – und damit letztlich des nordamerikanisch-europäischen Kulturkreises – entnommene Vokabel für Taten, deren gemeinsame Aspekte vor allem Gewalt, Ausübung politischen Drucks und Verbreitung von Angst21 sind. In den Abschnitt 15
Krit. zum dort erzielten Ergebnis auch Guillaume, ICLQ 2004, S. 537 (539). Vgl. Art. 1 II Arab. Antiterrorkonvention; Art. 1 II Antiterrorkonvention der OIC und Art. 1 III der Afrik. Antiterrorkonvention. 17 Vgl. Art. 2 lit a.) Arab. Antiterrorkonvention; Art. 2 lit. a.) Antiterrorkonvention der OIC und Art. 3 I Afrik. Antiterrorkonvention. 18 Gleiches gilt für die in Art. 1 des EU-Rahmenbeschlusses vom 13.06.2002 (Abl. EG L-164, S. 3 ff.) enthaltene Terrorismusdefinition: Auch sie gibt nur einen regional beschränkten Konsens wieder (ausf. zu diesem Definitionsversuch Dumitriu, GLJ 2004, S. 585 ff.). 19 Bourgues-Habif, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 459 f.; Murphy, Punishing, S. 4. 20 Bourgues-Habif, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 458; Flory, in: ders./Higgins, S. 30 (33); Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (303). 21 Vgl. die Definitionen von „Terrorismus“, „terrorism“ bzw. „terrorisme“ in Wörterbüchern der dt., engl. und franz. Sprache: „Terrorismus: Das Verbreiten von Terror durch Anschläge und Gewaltmaßnahmen zur Erreichung eines bestimmten [politischen] Ziels.“; „Terror: „Verbreitung von Angst u. Schrecken durch Gewaltaktionen“ (Duden, Fremdwörterbuch, 6. Aufl., Mannheim/Wien/Zürich 1997); „terrorism: Use of violence and threats of violence, esp for political purposes.“ (Oxford Advanced Learner’s Dictionary, 4. Aufl., Oxford 1989); „terrorisme: Emploi systé16
A. Vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen
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„Kampf gegen den Terrorismus“ wurden folglich diejenigen multilateralen22 „aut dedere – aut iudicare“-Verträge eingeordnet, die in erster Linie abgeschlossen wurden, um nach dem allgemeinen westlichen Sprachgebrauch „terroristische“ Handlungen zu bekämpfen, und auch im anschließenden Abschnitt zum Völkergewohnheitsrecht ist der Begriff „Terrorismus“ in diesem Sinne zu verstehen. 2. Der Schutz der Zivilluftfahrt In der Nachkriegszeit wurde der Kampf gegen den Terrorismus zunächst vor allem im Rahmen der UN-Sonderorganisationen geführt.23 Vorreiter war dabei die ICAO. Flugzeugentführungen und andere Angriffe auf die internationale Zivilluftfahrt führten den Mitgliedstaaten hier Anfang der 1960er Jahre das Bedürfnis nach konzertierten Gegenmaßnahmen vor Augen.24 a) Die Konvention von Tokio Den Anfang machte das am 14. September 1963 in Tokio abgeschlossene „Abkommen über strafbare und bestimmte andere an Bord von Luftfahrzeugen begangene Handlungen.“25 Es verpflichtet in seinem Artikel 3 den Immatrikulationsstaat eines zivilen Luftfahrzeuges dazu, sein Strafrecht nach dem „Flaggenprinzip“ auf an Bord begangene Straftaten auszudehnen und verleiht dem Flugkapitän in den Artikeln 5 bis 10 weitreichende disziplinarische Befugnisse über Besatzung und Passagiere. Ein „aut dedere – aut iudicare“ enthält dieser Vertrag jedoch nicht.26 Er verlangt nirgends vom Zufluchtsstaat des Täters dessen Strafverfolgung bei Nichtauslieferung. matique de la violence pour atteindre un but politique; actes de violence (attentats, destructions, prise d’otages) destinés à déclencher des changements politiques.“ (Micro Robert Poche, 5. Nachdruck der 1. Aufl., Paris/Stuttgart/Dresden 1993). 22 Um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, können bilaterale Verträge hier nicht eingehender erörtert werden. Als Beispiele für solche Vereinbarungen seien hier nur kurz eine Übereinkunft zwischen Irland und Großbritannien vor dem Hintergrund des Nordirlandkonflikts aus den siebziger Jahren (vgl. hierzu näher Costello, Journal of Int. Law and Economics 10 (1975) S. 483 [497 f.]) und die gegen Flugzeugentführungen gerichteten Abkommen zwischen Kuba und den USA (abgedruckt in ILM 12 [1973], S. 370; näher dazu Murphy, Punishing, S. 16) bzw. Kanada von 1973 (vgl. hierzu Cheng, in: FS Schwarzenberger, S. 25 [49]) genannt. 23 Bourgues-Habif, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 462. 24 Vgl. Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (311); Freestone, in: Higgins/Flory, S. 43 (49). 25 BGBl. 1969 II 121. 26 So im Ergebnis auch Costello, Journal of Int. Law and Economics 10 (1975), S. 483 (486).
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
Lediglich der Staat, in dem das Flugzeug nach der Straftat landet, muss den Täter vom Flugkapitän „übernehmen“ und ihn im Falle einer Flugzeugentführung auch vorläufig festnehmen.27 Die folgenden Bestimmungen machen jedoch klar, dass der Täter im Anschluss an die Über- beziehungsweise Festnahme schnell wieder auf freien Fuß gesetzt und ihm die Weiterreise gestattet werden darf, ohne dass es zur Auslieferung oder Strafverfolgung gekommen sein muss.28 b) Das Haager Übereinkommen gegen Flugzeugentführungen von 1970 Trotz des Tokioer Abkommens stieg die Zahl der Flugzeugentführungen Ende der 1960er Jahre rasant an. Waren von 1961 bis 1967 weltweit insgesamt 17 Flugzeuge entführt worden, so waren es allein 1968 schon 32, 1969 fast 80 und 1970 über 90.29 Die Staaten mussten also erneut handeln und einen schärferen Repressionsmechanismus schaffen, wollten sie nicht das für jeden einzelnen von ihnen – unabhängig von politischer oder ideologischer Ausrichtung – essentielle Rechtsgut der Sicherheit des internationalen Luftverkehrs preisgeben. Innerhalb von nur zwei Jahren30 gelang es ihnen nun, im Rahmen der ICAO einen Vertrag abzuschließen, der das in Tokio noch unerreichbare „aut dedere – aut iudicare“ vorsah und trotz dieser einschneidenderen Verpflichtungen bereits 11 Monate31 später in Kraft trat: das „Haager Übereinkommen zur Bekämpfung der widerrechtlichen Inbesitznahme von Luftfahrzeugen“32 vom 16. Dezember 1970. Die zentrale Vorschrift des Haager Repressionsmodells ist Artikel 7: The Contracting State in the territory of which the alleged offender is found shall, if it does not extradite him, be obliged, without exception whatsoever and whether or not the offence was committed in its territory, to submit the case to its competent authorities for the purpose of prosecution. Those authorities shall take their decision in the same manner as in the case of any ordinary offence of a serious nature under the law of that State. 27
Vgl. Art. 13 I, II. Vgl. Art. 14, 15. Dagegen zählen Jennings/Watts, S. 953 und Dahm/Delbrück/ Wolfrum, I/3, S. 1007 die Konvention von Tokio zu den „aut dedere – aut iudicare“-Verträgen. 29 Vgl. Guillaume, AFDI 1970, S. 35; leicht höhere Zahlen – offenbar wegen der Einbeziehung gescheiterter Versuche – bei Cheng, in: FS Schwarzenberger, S. 25 (33). 30 Vgl. zu den vorbereitenden Arbeiten Guillaume, in: Ascensio/Pellet/Decaux, S. 527 f.; Shubber, ICLQ 1973, S. 687 (688 f., 726). 31 Die Haager Konvention trat am 14.10.1971 in Kraft. Zum Vergleich: die Konvention von Tokio trat erst 1969, also sechs Jahre nach ihrer Unterzeichnung, in Kraft. 32 BGBl. 1972 II 1505. 28
A. Vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen
137
Anders als in den „international crime conventions“ der Zwischenkriegszeit, die das „aut dedere – aut iudicare“ für eigene Staatsbürger des Zufluchtsstaates und für Ausländer in getrennten Vorschriften jeweils unterschiedlich regelten,33 wird hier nicht nach der Staatsangehörigkeit des Flüchtigen differenziert. Damit unterscheidet sich die Haager Vorschrift auch von den „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen der Auslieferungsverträge des 19. Jahrhunderts, denn während diese die Pflicht zum „iudicare“ nur dann eintreten ließen, wenn die Auslieferung gerade am Prinzip der Nichtauslieferung eigener Bürger gescheitert war,34 spielt der Grund für das Scheitern der Auslieferung nach der Haager Konvention keine Rolle. Noch ein weiterer Unterschied besteht zu den bislang vorgestellten „aut dedere – aut iudicare“-Modellen: Die Haager Konvention knüpft die Strafverfolgungspflicht nicht ausdrücklich an die Ablehnung eines Auslieferungsersuchens, sondern schlicht und einfach an die „Nichtauslieferung“. Die Auswirkungen dieses Unterschiedes werden im 4. Kapitel näher beleuchtet werden. Nach einer – allerdings umstrittenen – Ansicht könnte er dazu führen, dass ein „iudicare“ selbst dann durchzuführen ist, wenn kein anderer Staat ein Auslieferungsersuchen gestellt hat. Wie dem auch sei: Die Strafverfolgungsbemühungen des Zufluchtsstaates wären jedenfalls schon von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn dessen Strafrecht gar nicht auf eine im Ausland begangene Flugzeugentführung anwendbar wäre. Anders als noch die „aut dedere – aut iudicare“-Konventionen der zwanziger und dreißiger Jahre – bei denen Staaten, die ihr Strafrecht generell nie auf Auslandstaten von Ausländern anwandten, die Freiheit behielten, es auch im Anwendungsbereich dieser Verträge nicht zu tun35 – sieht Artikel 4 Absatz 2 Haager Konvention nun eine Pflicht des Zufluchtsstaates vor, für die Anwendbarkeit seines Strafrechts auf jeden nicht ausgelieferten Flugzeugentführer zu sorgen: Each Contracting State shall likewise take such measures as may be necessary to establish its jurisdiction over the offence in the case where the alleged offender is present in its territory and it does not extradite him pursuant to Article 8 to any of the States mentioned in paragraph 1 of this Article [der Verf.: Immatrikulationsstaat, Staat, in dessen Gebiet das Flugzeug mit dem Entführer an Bord landet, Heimatstaat des Betreibers des Flugzeuges].
Diese beiden Bestimmungen – die zusammen das „Haager Modell“ bilden – sollten sich in der Folge zu einem regelrechten „Exportschlager“ entwickeln. Sie wurden mehr oder weniger wörtlich in zahlreiche spätere Verträge übernommen.36 Allerdings folgt die Haager Konvention – was weitgehend übersehen wird – selbst nicht durchgängig dieser Formel. Diese gilt 33 34 35
Vgl. oben 2. Kapitel H. II. Vgl. oben 2. Kapitel E. I. 2. und 3. Vgl. oben 2. Kapitel H. II.
138
3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
in vollem Umfange nur, wenn das entführte Flugzeug außerhalb seines Immatrikulationsstaates gestartet oder gelandet ist.37 Spielt sich die Tat dagegen vollkommen innerhalb des Immatrikulationsstaates ab und besteht ihr einziges internationales Element darin, dass der Täter später im Ausland Zuflucht sucht, dann gilt die „jurisdictional clause“ des Artikel 4 Absatz 2 nicht.38 Der Zufluchtsstaat muss zwar auch dann den Fall gemäß Artikel 7 bei Nichtauslieferung den Strafverfolgungsbehörden übergeben, sofern er aber nicht freiwillig dafür gesorgt hat, dass sein Strafrecht auf diese Auslandstat anwendbar ist, müssen diese das Verfahren zwangsläufig einstellen. Für solche rein nationalen Flugzeugentführungen ist also in dieser Hinsicht im Vergleich zur Falschmünzerkonvention von 1929 nichts gewonnen. c) Die Montrealer Konvention von 1971 und ihr Zusatzprotokoll von 1988 Bereits ein knappes Jahr nach der Haager Konvention wurde ein weiterer Vertrag zum Schutz der Zivilluftfahrt geschlossen: das Montrealer „Übereinkommen zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt“ vom 23. September 1971.39 Dieses will auch jene Angriffe auf den Luftverkehr, die keine Flugzeugentführungen darstellen, einer international organisierten Repression unterwerfen. Grob zusammengefasst geht es um Sabotage und Gewalt gegen Personen oder Sachen, sofern diese Handlungen geeignet sind, die Sicherheit eines Flugzeuges zu gefährden.40 Wie die Haager Konvention, war auch dieses Abkommen die Reaktion auf spektakuläre Vorfälle der betreffenden Art.41 Es war die erste 36 Bassiouni/Wise, S. 16 f.; Bourgues-Habif, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 462; Freestone, in: Higgins/Flory, S. 43 (51); Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (312); Cheng, in: FS Schwarzenberger, S. 25 (34); näher dazu im weiteren Verlauf dieses Abschnittes. 37 Vgl. Art. 3 III. 38 Vgl. Art. 3 V, wonach in diesen Fällen nur die Art. 6, 7, 8 und 10 zur Anwendung kommen. 39 BGBl. 1977 II 1229. 40 Die einzelnen Tatbestände finden sich in Art. 1 des Abkommens. Vgl. dazu ferner Guillaume, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 533; Mankiewicz, AFDI 1971, S. 855; Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1115. Durch das „Protokoll zur Bekämpfung widerrechtlicher gewalttätiger Handlungen auf Flughäfen, die der internationalen Zivilluftfahrt dienen“ vom 24.02.1988 (BGBl. 1993 II 866) werden die Regelungen der Montrealer Konvention auch auf Gewalttaten gegen Personen und Sachen erstreckt, die auf einem internationalen Flughafen begangen werden und dessen Sicherheit gefährden können. 41 V. a. auf die simultanen Explosionen zweier Bomben am 21.02.1970 an Bord eines Swissair und eines Austrian Airlines Fluges (vgl. Cheng, in: FS Schwarzenberger, S. 25 (41 f.); ähnl. Mankiewicz, AFDI 1971, S. 855.)
A. Vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen
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Etappe der langen Erfolgsgeschichte des Haager Modells. Da man es vermeiden wollte, erneut in schwierige und langwierige Debatten über die angemessene Repressionstechnik einzusteigen, übernahm man nämlich hinsichtlich von Auslieferung und Strafverfolgung nahezu wörtlich die Vorschriften der Haager Konvention.42 Wie schon ihr Haager Vorbild selbst, so verwendet aber auch die Montrealer Konvention daneben für Teilbereiche – die nun aber anders als in der Haager Konvention nicht durch ein geringeres „internationales Element“, sondern durch ihre geringere Gefährlichkeit43 gekennzeichnet sind – ein „aut dedere – aut iudicare“ ohne obligatorisch ausgestaltete „jurisdictional clause“.44 3. Die Verfolgung von Angriffen gegen völkerrechtlich geschützte Personen Drei multilaterale Verträge befassen sich speziell mit Angriffen auf so genannte „völkerrechtlich geschützte Personen“ – eine Bezeichnung, die im Wesentlichen Staats- und Regierungschefs, Außenminister, andere Mitglieder von Regierungsdelegationen, Diplomaten, Konsularbeamte, Bedienstete internationaler Organisationen sowie deren Familienangehörige umfasst45: die „Convention pour la prévention ou la répression des actes de terrorisme qui prennent la forme de délits contre les personnes ainsi que de l’extorsion connexe à ces délits lorsque de tels actes ont des répercussions internationales“ der OAS vom 2. Februar 1971 (im Folgenden: OAS-Diplomatenschutzkonvention)46, das im Rahmen der UN ausgearbeitete „Übereinkommen über die Verhütung, Verfolgung und Bestrafung von Straftaten gegen völkerrechtlich geschützte Personen einschließlich Diplomaten“ vom 14. Dezember 1973 (im Folgenden: UN-Diplomatenschutzkonvention)47 und das „Übereinkommen vom 15. Dezember 1994 über die Sicherheit von Personal der Vereinten Nationen und beigeordnetem Personal“ (im Folgenden: UN-Personalsicherheitskonvention)48. Wie schon beim Schutz der Zivilluftfahrt, war auch hier ein starker Anstieg der betreffenden Straftaten 42 Mankiewicz, AFDI 1971, S. 855 (869). So entsprechen v. a. die Art. 5 II und 7 Montrealer Konvention den Art. 4 II und 7 Haager Konvention. 43 Es geht um sicherheitsgefährdende Falschinformationen sowie das Beschädigen von Navigationseinrichtungen. 44 Vgl. Art. 5 II. 45 Vgl. Art. 1 I UN-Diplomatenschutzkonvention, dazu auch Wood, ICLQ 1974, S. 791 (800 f.); ILC, YBILC 1972, II, S. 309 (311 f.); zur OAS-Diplomatenschutzkonvention, die den von ihr geschützten Personenkreis nicht ausdrücklich definiert, Przetacznik, RBDI 1973, S. 455 (458). 46 OAS-Treaty Series A-49; engl. auch ILM 10 (1971), S. 255 ff. 47 BGBl. 1976 II 1745. 48 BGBl. 1997 II 230; ILM 34 (1995), S. 482 ff.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
nötig, bevor man sich auf vertragliche Regelungen nach dem Muster „aut dedere – aut iudicare“ verständigen konnte.49 Diesen Mangel vorausschauenden Agierens der Staaten im Bereich der völkervertraglichen Terrorismusbekämpfung, die über weite Strecken eher eine bloße Reaktion auf den Anstieg bestimmter Anschlagsformen ist, hat die Literatur nicht ganz zu Unrecht scharf kritisiert.50 a) Die OAS-Diplomatenschutzkonvention Trotz ihres weitschweifigen Titels ist die OAS-Diplomatenschutzkonvention auf Angriffe gegen Leib, Leben oder Freiheit völkerrechtlich besonders geschützter Personen beschränkt.51 Sie wird deshalb heute weitgehend von der zwei Jahre jüngeren Diplomatenschutzkonvention der UN überlagert, für die sie gewissermaßen der Vorreiter war.52 Anders als die meisten Antiterrorkonventionen der 1970er, 1980er und 1990er Jahre greift sie bei der Normierung des „aut dedere – aut iudicare“ nicht auf die Technik der Haager Konvention zurück. Ihr „aut dedere – aut iudicare“ ist völlig anders formuliert: Lorsque l’extradition sollicitée en raison de l’un quelconque des délits visés à l’article 2 n’a pas été accordée parce que la personne qui fait l’objet de la demande est un ressortissant de l’Etat requis ou par suite de tout autre empêchement constitutionnel ou légal, l’Etat requis est obligé de porter le cas à la connaissance des autorités nationales compétentes pour les poursuites judiciaires, comme si le fait avait été commis sur son territoire. [. . .]53
Eine gesonderte, dem Artikel 4 Absatz 2 der Haager Konvention entsprechende „jurisdictional clause“ gibt es daneben nicht. Letzteres ist aber nicht der wesentliche Unterschied zum „Haager Modell“,54 denn durch den 49
So war eine Welle von Angriffen auf Diplomaten Ende der 1960er Jahre Anlass zur Ausarbeitung der beiden Diplomatenschutzkonventionen (vgl. Przetacznik, RBDI 1973, S. 455), während die hohen Verluste unter UN-„Blauhelmen“ in den Jahren 1992 und 1993 den Anstoß für die UN-Personalsicherheitskonvention bildeten (vgl. Galicki, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 493). 50 Vgl. für solche Kritik bspw. Cheng, in: FS Schwarzenberger, S. 25 (31). 51 Vgl. Art. 1 und 2 sowie Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (318); Prevost, AFDI 1973, S. 579 (585); Murphy, Punishing, S. 11; a. A. zu Unrecht Damrosch/ Henkin/Pugh/Schachter/Smit, S. 417. 52 Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (318); Murphy, Punishing, S. 11. Nach ihrem Art. 9 ist auch die OAS-Diplomatenschutzkonvention universell angelegt, d. h. sie steht auch nichtamerikanischen Staaten offen. Insofern hätten Staaten anderer Regionen auch ihr beitreten können, anstatt im Rahmen der UN ein weiteres Abkommen über diesen Sachbereich abzuschließen. 53 Art. 5. 54 So aber Freestone, in: Higgins/Flory, S. 43 (53).
A. Vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen
141
Satzteil „comme si le fait avait été commis sur son territoire“, also die Fiktion eines innerstaatlichen Tatortes, wird angesichts der universellen Verbreitung des Territorialprinzips im Ergebnis ebenfalls erreicht, dass das Strafrecht des Zufluchtsstaates auf die Tat anwendbar ist. Diese Technik hat in Lateinamerika Tradition; sie war dort bereits im 19. Jahrhundert in manchen Auslieferungsverträgen anzutreffen.55 Auch insofern, als sie nicht nach der Staatsangehörigkeit des Täters oder den Gründen für die Nichtauslieferung unterscheidet, ähnelt sie der Haager Konvention. Inhaltliche Unterschiede zu dieser könnten sich aber etwa hinter der Formulierung „Lorsque extradition sollicitée [. . .] n’a pas été accordée“, anstatt des nicht explizit auf die tatsächliche Existenz eines Auslieferungsersuchens als Auslöser für die Strafverfolgungspflicht abstellenden „if it does not extradite him“ verbergen, oder hinter der Wahl des bloßen „comme si le fait avait été commis sur son territoire“ als Regelung des „Wie“ der Strafverfolgung im Zufluchtsstaat im Unterschied zum ausführlicheren „in the same manner as in the case of any ordinary offence of a serious nature under the law of that State“ in Artikel 7 Satz 2 Haager Konvention. Dies wird im Einzelnen im 4. Kapitel zu erörtern sein. Vorerst soll die Feststellung genügen, dass das „aut dedere – aut iudicare“ der OAS-Diplomatenschutzkonvention in Formulierung und Regelungstechnik zu stark von den Artikeln 7 und 4 Absatz 2 der Haager Konvention abweicht, um es bereits beim ersten Lesen als mit diesen im Wesentlichen identisch bezeichnen und damit von einem – allenfalls leicht modifizierten – Unterfall des „Haager Modells“ sprechen zu können.56 b) Die UN-Diplomatenschutzkonvention Auch dieses Abkommen verfolgt das Ziel, Angriffe auf Leib, Leben oder Freiheit völkerrechtlich geschützter Personen zu verhindern und zu bestrafen.57 Der von ihm dazu vorgesehene Mechanismus wird meist dem „Haager Modell“ zugeordnet.58 Die „jurisdictional clause“ des Artikel 3 Absatz 2 ist auch tatsächlich fast wörtlich mit Artikel 4 Absatz 2 Haager Konvention identisch. Artikel 7, der das „Kernstück“ des „aut dedere – aut 55
Vgl. dazu oben 2. Kapitel E. I. 2. bei Fn. 266. Bassiouni/Wise, S. 18 sehen dagegen in der OAS-Diplomatenschutzkonvention nur eine geringfügige Modifikation der Haager Regelung. Costello, Journal of int. Law and Economics 10 (1975), S. 483 (489 f.) und die ILC, YBILC 1972 II, S. 309 (318) scheinen gar überhaupt keinen Unterschied zu sehen und sprechen nur vom „aut dedere – aut iudicare“ schlechthin, das der OAS-Diplomatenschutzkonvention ebenso wie den Haager und Montrealer Konventionen zugrunde liege. 57 Vgl. zur Art der erfassten Straftaten Art. 2 I. 58 So bspw. von Wood, ICLQ 1974, S. 791 (791 f.); Bassiouni/Wise, S. 17; Freestone, in: Higgins/Flory, S. 43 (51); Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (315). 56
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
iudicare“ – die Strafverfolgungspflicht bei Nichtauslieferung in jedem Einzelfall – enthält, weicht dagegen im Wortlaut leicht vom entsprechenden Artikel 7 Haager Konvention ab. Er lautet: The State Party in whose territory the alleged offender is present shall, if it does not extradite him, submit, without exception whatsoever and without undue delay, the case to its competent authorities for the purpose of prosecution, through proceedings in accordance with the laws of that State.
Es fehlt also eine ausführliche Regelung der Standards der Strafverfolgung, wie sie Artikel 7 Satz 2 der Haager Konvention enthält; es fehlt ferner der dort in Satz 1 enthaltene Satzteil „whether or not the offence was committed in its territory“. Dafür wurden die Worte „through proceedings in accordance with the laws of that State“ sowie „without undue delay“ hinzugefügt, vor allem aber bei der Umschreibung der Situation, in der das „aut dedere – aut iudicare“ eingreift, die Formulierung „in the territory of which the alleged offender is found (franz.: est découvert)“(Hervorhebung nicht im Original) durch „in whose territory the alleged offender is present (franz.: se trouve)“ (Hervorhebung nicht im Original) ersetzt. Es stellt sich somit die Frage, ob das „aut dedere – aut iudicare“ der UN-Diplomatenschutzkonvention trotz dieser leichten Abweichungen noch so eng an die Haager Konvention angelehnt ist, dass die herrschende Lehre es zu Recht zum „Haager Modell“ rechnet? Die meisten hier genannten Abweichungen entpuppen sich recht schnell als bloß geringfügige textliche Variationen der Haager Regelung. So wurde das noch in der Haager Konvention enthaltene „whether or not the offence was committed in its territory“ nur deswegen gestrichen, weil man es schlichtweg für überflüssig hielt.59 Und auch das neu hinzugekommene Verbot einer unangemessenen Verzögerung dürfte kaum einen Unterschied zur Haager Konvention bewirken, da ein unangemessen verzögertes „iudicare“ auch ohne diese ausdrückliche Regelung ein Verstoß gegen Treu und Glauben ist.60 Das „through proceedings in accordance with the laws of that State“ schließlich wurde hinzugefügt, um eine weitere Textabweichung im Vergleich zur Haager Konvention – nämlich das Fehlen einer Artikel 7 Satz 2 Haager Konvention entsprechenden Regelung – teilweise zu kompensieren.61 Teilweise steckt hinter dem Austausch beider Formulierungen aber auch eine inhaltliche Abweichung, die mehr Spielraum für die zufluchtsstaatliche Strafverfolgungsbehörde bei der Entscheidung über Anklageerhebung oder Verfahrenseinstellung schaffen sollte.62 59
Vgl. YBILC 1972 II, S. 309 (318). Auch Wood, ICLQ 1974, S. 791 (811) hält diesen Zusatz weitgehend für bedeutungslos. 61 Vgl. YBILC 1972 II, S. 309 (318 f.) zum wörtlich dem Art. 7 der Konv. entsprechenden Art. 6 des Entwurfes; Wood, ICLQ 1974, S. 791 (811). 60
A. Vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen
143
Wieso aber trifft das „aut dedere – aut iudicare“ nun den Staat, in dessen Territorium der Täter „is present/se trouve“, während in Artikel 7 Haager Konvention noch von „is found/est découvert“ die Rede war? Versteckt sich hinter diesen unterschiedlichen Formulierungen auch ein inhaltlicher Unterschied? Die Entstehungsgeschichte der UN-Diplomatenschutzkonvention gibt hierfür keinerlei Anhaltspunkt. Die ILC erklärt im Kommentar zur gleich lautenden Bestimmung ihres Entwurfes vielmehr, dass man voll an das Haager Vorbild anknüpfen wolle, ohne auf den insofern bestehenden Unterschied beider Wortlaute einzugehen.63 Auch die Haager Konvention kennt übrigens durchaus beide Formulierungen: Neben dem „is found/est découvert“ aus Artikel 7 findet sich in ihren Artikeln 4 Absatz 2 und 6 Absatz 1 im englischen beziehungsweise französischen Wortlaut die in der UN-Diplomatenschutzkonvention anzutreffende Formulierung „is present/se trouve“.64 Ihre gleichermaßen verbindliche spanische Fassung verwendet dagegen in Artikel 4 Absatz 2 und Artikel 7 identische Formulierungen („se halle“ bzw. „sea hallado“) und weicht in Artikel 6 Absatz 1 (se encuentre) ab. Der in Artikel 33 Absatz 3 WVRK enthaltenen allgemeinen Regel für die Auslegung mehrsprachiger Verträge, wonach den Ausdrücken aller Sprachfassungen möglichst dieselbe Bedeutung beizumessen ist, wird man angesichts dieser Ungereimtheiten am besten gerecht, wenn man schon im Rahmen der Haager Konvention „is present“, „is found“, „se trouve“, „est découvert“, „se halle“ und „se encuentre“ als Synonyme betrachtet: Alle meinen die bloße Anwesenheit des Täters im Staatsgebiet – und stimmen insofern dann auch mit dem „is present“ beziehungsweise „se trouve“ aus Artikel 7 UN-Diplomatenschutzkonvention überein. Damit kann festgehalten werden: Die Abweichungen des Wortlauts der „aut dedere – aut iudicare“-Bestimmungen der UN-Diplomatenschutzkonvention von den entsprechenden Vorschriften der Haager Konvention sind überwiegend rein sprachlicher Natur. Inhaltlich entsprechen sich beide dagegen fast vollständig, mit dem einzigen Unterschied, dass den zufluchtsstaatlichen Strafverfolgungsbehörden nach der UN-Diplomatenschutzkonvention wegen des Fehlens einer Artikel 7 Satz 2 Haager Konvention entsprechenden Regelung möglicherweise ein etwas größerer Ermessensspielraum bei der Entscheidung über Verfahrenseinstellung oder Anklageerhebung zukommt.65 Insgesamt erscheint es daher gerechtfertigt, auch die UN-Diplomatenschutzkonvention dem „Haager Modell“ zuzurechnen. 62
Vgl. dazu im Einzelnen unten, 4. Kapitel C. III. 4. bei Fn. 219. Vgl. YBILC 1972 II, S. 309 (318). 64 Vgl. auch Guillaume, AFDI 1970, S. 35 (52) weist auf diese Inkonsistenz im Wortlaut der Haager Konvention hin. 65 Vgl. zu der Frage, wie groß hier jeweils die Entscheidungsspielräume der Strafverfolgungsbehörden sind, näher unten, 4. Kapitel C. III. 1., 2. und v. a. 4. 63
144
3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
c) Die UN-Personalsicherheitskonvention Die „aut dedere – aut iudicare“-Vorschriften der UN-Personalsicherheitskonvention hinsichtlich von Personen, die an friedenserhaltenden Einsätzen beteiligtes UN-Personal66 angegriffen haben, folgen ebenfalls dem „Haager Modell“. Die „jurisdictional clause“ ist in Artikel 10 Absatz 4 nahezu wörtlich wie Artikel 4 Absatz 2 Haager Konvention formuliert. Artikel 14 übernimmt schließlich für die Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflicht im Einzelfall den Wortlaut von Artikel 7 UN-Diplomatenschutzkonvention und hängt an diesen die Regelungen über das „Wie“ der Strafverfolgung aus Artikel 7 Satz 2 Haager Konvention an, deren Fehlen die einzige inhaltlich bedeutsame Abweichung der UN-Diplomatenschutzkonvention vom Haager Vorbild war. Wie schon bei der Ausarbeitung der Montrealer Konvention, so hat der Rückgriff auf das bereits bekannte „Haager Modell“ auch hier wesentlich zur Beschleunigung der Vertragsverhandlungen beigetragen, so dass diese innerhalb nur eines Jahres abgeschlossen werden konnten.67 4. Die Bekämpfung der Geiselnahme Geiselnahme hat in der Geschichte eine lange Tradition. Insbesondere in bewaffneten Konflikten war sie lange Zeit beispielsweise zur Unterdrückung von Widerstand in besetzten Gebieten üblich.68 In solchen Fällen wird die Bestrafung der Täter heute vom humanitären Völkerrecht geregelt, auf das später einzugehen sein wird. Im vorliegenden Abschnitt geht es nur um Geiselnahmen im Zuge des internationalen Terrorismus, mit denen sich das „Internationale Übereinkommen gegen Geiselnahme“69 vom 18. Dezember 1979 befasst.70 Auch schon vor Abschluss dieses Vertrages waren 66 Die Konvention schützt nicht das in anderem Rahmen eingesetzte Personal der UN (vgl. Art. 1; hierzu auch Bloom, AJIL 89 [1995], S. 621 [622]). Ausgenommen sind ferner bewaffnete Kampfeinsätze im Rahmen von Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta, da man die dort geltenden allgemeinen Regeln der Kriegführung nicht durch eine pauschale Kriminalisierung jeder Kampfhandlung des Gegners überspielen wollte (vgl. Art. 2 und Bloom, AJIL 89 [1995], S. 621 [625]). 67 Vgl. Bourloyannis-Vrailas, ICLQ 1995, S. 560 (560, 576). 68 Vgl. Delaplace, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 387; Platz, ZaöRV 1980, S. 276 (283). 69 BGBl. 1980 II 1361; ILM 18 (1979), S. 1456 ff. 70 Die gegen den Terrorismus gerichtete Stoßrichtung der Geiselnahmekonvention kommt vor allem im 5. Erwägungsgrund ihrer Präambel zum Ausdruck, wo von „taking of hostages as manifestations of international terrorism“ die Rede ist. Dennoch gilt auch hier, was oben allgemein zum Verhältnis der „Antiterrorkonventionen“ zum Terrorismus gesagt wurde: Diese bekämpfen einzelne typische Erscheinungs-
A. Vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen
145
allerdings terroristische Geiselnahmen unter bestimmten Umständen einem vertraglichen „aut dedere – aut iudicare“ unterworfen. So fiel die Geiselnahme von Flugzeuginsassen durch Entführen des Flugzeuges unter die Haager Konvention, und die Entführung eines Diplomaten wurde von den UN- und OAS-Diplomatenschutzkonventionen erfasst.71 Vorfälle wie der Angriff auf die israelische Olympiamannschaft in München 1972 – die keine offizielle Regierungsdelegation war und deshalb selbst dann, wenn die UN-Diplomatenschutzkonvention damals schon existent und in Kraft gewesen wäre, nicht ihrem Schutz unterlegen hätte – zeigten jedoch, dass Bedarf für ein weiteres, lückenschließendes Abkommen bestand. Auf Initiative der Bundesrepublik Deutschland entstand nun im Rahmen der UN ein solcher Vertrag,72 dessen „aut dedere – aut iudicare“ fast wörtlich dem Vorbild der Haager Konvention entspricht.73 Insbesondere bei der Formulierung der Strafverfolgungs- oder Auslieferungspflicht im Einzelfall griff man nun wieder stärker auf Artikel 7 Haager Konvention zurück als noch formen des Terrorismus, gelten aber auch, wenn sich im Einzelfall die „gewöhnliche“ Kriminalität dieser Form bedient. D. h. konkret, dass die UN-Geiselnahmekonvention auch auf die „gewöhnlich kriminelle“ Geiselnahme zur Lösegelderpressung Anwendung findet (vgl. auch Platz, ZaöRV 1980, S. 276 [287]). Dagegen regelt die UN-Geiselnahmekonvention in ihrem Art. 12 ausdrücklich, dass sie keine Anwendung auf Geiselnahmen im Rahmen bewaffneter Konflikte findet, wenn und soweit diese schon aufgrund der Genfer Konventionen – es geht hier vor allem um die Art. 146 und 147 Genfer Konvention IV. – oder ihrer Zusatzprotokolle einem „aut dedere – aut iudicare“ unterliegen. Da das 1. Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen unter bestimmten Umständen auch auf die so genannten „nationalen Befreiungskriege“ anwendbar ist (vgl. Art. 1 IV, 96 III), konnte der Wunsch der Entwicklungsländer nach einer Unterscheidung zwischen „Terroristen“ und „Befreiungskämpfern“ hier ausnahmsweise einmal ohne Schwierigkeiten mit dem Wunsch der westlichen Staaten nach umfassender Unterdrückung aller nichtstaatlichen politischen Gewaltakte (zu diesen Differenzen über den Begriff des „Terrorismus“ vgl. oben 1. bei Fn. 2) vereinbart werden: Ein „aut dedere – aut iudicare“ gilt in jedem Fall auch hinsichtlich von Geiselnehmern aus den Reihen einer „Befreiungsorganisation“, nur dass es unter Umständen auf dem 1. Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen anstatt auf der UN-Geiselnahmekonvention beruht (vgl. hierzu auch Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (315 f.); Platz, ZaöRV 1981, S. 276 (280, 289); Delaplace, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 393; Murphy, Punishing, S. 11). 71 Delaplace, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 388 f.; Platz, ZaöRV 1980, S. 276 (282); Shubber, BYBIL LII (1981), S. 205 (206 f.) 72 Zur Entstehungsgeschichte der Konvention von der dt. Initiative bis zum Vertragsschluss vgl. Platz, ZaöRV 1980, S. 276 (277); Shubber, BYBIL LII (1981), S. 205 (207 f.). 73 So entspricht Art. 5 II UN-Geiselnahmekonvention exakt Art. 4 II Haager Konvention und ihr Art. 8 I fast wörtlich deren Art. 7. Auf die großen Ähnlichkeiten der UN-Geiselnahmekonvention mit diesen Vorgängern, insbesondere mit der Haager Konvention, weisen auch Freestone, in: Higgins/Flory, S. 43 (51); Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (315); Delaplace, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 392; Platz, ZaöRV 1980, S. 276 f. und Shubber, BYBIL LII (1981), S. 205 (216) hin.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
im Rahmen der UN-Diplomatenschutzkonvention.74 Die Übernahme bereits bewährter Lösungen war – über den verallgemeinerbaren Vorteil der Beschleunigung von Vertragsverhandlungen75 hinaus – im Fall der Geiselnahmekonvention sogar schon fast ein zwingendes Gebot der rechtspolitischen Vernunft, denn nur eine möglichst weitgehende inhaltliche Kongruenz der Repressionsregime der UN-Geiselnahmekonvention einerseits und der UNDiplomatenschutzkonvention beziehungsweise der Haager Konvention andererseits kann schwierige Konkurrenzprobleme zwischen diesen Verträgen vermeiden, wenn eine Flugzeugentführung oder die Entführung eines Diplomaten sowohl vom einen als auch vom anderen Abkommen erfasst wird. Der in der Literatur geführte Streit, ob die als „Lückenfüller“ gedachte Konvention von 1979 im Kollisionsfall hinter die älteren und spezielleren Verträge zurücktritt,76 oder ob alle Instrumente kumulativ Anwendung finden77, ist somit letztlich bedeutungslos: Es gilt im Ergebnis so oder so ein „aut dedere – aut iudicare“ nach „Haager Modell“.78 5. Der Schutz vor den Gefahren des Nuklearterrorismus Die Unterdrückung terroristischer Gewaltakte mit radioaktivem Material ist der einzige Bereich der Terrorismusbekämpfung, in dem die Schaffung eines völkervertraglichen Repressionsregimes der Verübung entsprechender Terroranschläge vorausging. Das hinsichtlich der „aut dedere – aut iudicare“-Bestimmungen dem „Haager Modell“ folgende79 „Übereinkommen 74 Art. 8 I UN-Geiselnahmekonvention ist eine nur mit minimalen stilistischen Veränderungen versehene Wiedergabe von Art. 7 Haager Konvention, wobei an das Ende von Satz 1 allerdings noch der aus der UN-Diplomatenschutzkonvention stammende Halbsatz „through proceedings in accordance with the laws of that State“ angefügt wurde. 75 Vgl. dazu schon oben Fn. 42 und 67. 76 So Delaplace, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 393; Shubber, BYBIL LII (1981), S. 205 (230 f.). 77 So Platz, ZaöRV 1980, S. 276 (292). 78 Auch die in den älteren Verträgen fehlende Kollisionsregelung hinsichtlich des humanitären Völkerrechts (Art. 12 UN-Geiselnahmekonvention, s. oben Fn. 70) bringt entgegen Shubber, BYBIL LII (1981), S. 205 (229) keine Konkurrenzprobleme mit sich: Greift sie, ist die Geiselnahmekonvention nicht anwendbar; sie kann dann nicht mehr mit anderen Verträgen kollidieren. Was kollidiert – aber auch schon vor Abschluss der UN-Geiselnahmekonvention genauso kollidierte – sind allenfalls die „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen des humanitären Völkerrechts und der UN-Diplomatenschutzkonvention bzw. der Haager Konvention. 79 Vgl. die Art. 8 II (jurisdictional clause) und Art. 10 (Pflicht zur Übergabe des Falles an die Strafverfolgungsbehörden bei Nichtauslieferung) mit Art. 4 II und Art. 7 Haager Konvention. Auf die Ähnlichkeit zur Haager Konvention weisen auch Freestone, in: Higgins/Flory, S. 43 (51); Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (312)
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über den physischen Schutz von Kernmaterial“80 wurde bereits am 26. Oktober 1979 unterzeichnet, während Anschläge dieser Art bislang gottlob ausgeblieben sind. Vielleicht benötigte es aber gerade deswegen mehr Zeit zu seinem In-Kraft-Treten als andere Antiterrorverträge81. Auch sein sachlicher Anwendungsbereich weist gefährliche Lücken auf, da er nur Diebstahl, Raub und andere Formen der widerrechtlichen Erlangung für friedliche Zwecke genutzten Kernmaterials sowie die Androhung von Terroranschlägen mit diesem umfasst.82 Militärisches Kernmaterial – man denke nur an den wohl schlimmsten Fall eines in Terroristenhände gelangten Atomsprengkopfes – bleibt dagegen ungeschützt. Auf Initiative Russlands wurde deshalb am 15. April 2005 die International Convention for the Suppression of Acts of Nuclear Terrorism unterzeichnet, die gemäß ihres Artikels 2 Anschläge, bei denen Radioaktivität freigesetzt oder Kernsprengköpfe verwendet werden, ebenso unter Strafe stellt wie den Versuch solcher Anschläge, die Teilnahme an ihnen, die Drohung mit ihnen oder den Besitz von Nuklearmaterial mit dem Ziel, einen Anschlag zu begehen. Sie sieht für solche Taten ein „aut dedere – aut iudicare“ nach Haager Modell vor, wobei sie sich im Detail an das Sprengstoffttentateübereinkommen von 1997 anlehnt.83 6. Der Schutz der Seefahrt Die Seefahrt war lange Zeit von terroristischen Angriffen weitgehend verschont geblieben.84 Für sie stellte der Pirat, dessen Bekämpfung sich das Völkerrecht schon seit langer Zeit annimmt,85 die klassische Gefahr dar. Piraterie zeichnet sich aber dadurch aus, dass sie aus privaten Motiven – allen voran aus Bereicherungsabsicht – von der Besatzung eines Schiffs gegen ein anderes Schiff verübt wird.86 Die Entführung des italienischen Kreuzund Bassiouni/Wise, S. 17 hin. Allerdings stand bei der Formulierung des Art. 10 nicht Art. 7 Haager Konvention, sondern der im Wortlaut leicht differierende Art. 7 UN-Diplomatenschutzkonvention Pate (vgl. auch Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 [368 f.]). 80 BGBl. 1990 II 326; ILM 18 (1995), S. 482 ff. 81 Es trat erst im Februar 1987 in Kraft, während die Haager Konvention hierfür nicht einmal ein Jahr benötigte. 82 Vgl. Art. 2 I, II. 83 Vgl. Art. 9 IV Nuklearterrorismuskonvention mit Art. 6 IV Sprengstoffattentateübereinkommen und Art. 11 Nuklearterrorismuskonvention mit Art. 8 Sprengstoffattentateübereinkommen. Zum Sprengstoffattentateübereinkommen sogleich ausführlich unter 7. 84 Joyner, GYBIL 31 (1988), S. 230; Francioni, GYBIL 31 (1988), S. 263; Plant, in: Higgins/Flory, S. 68 f. 85 Vgl. oben, 2. Kapitel G. I. 86 Vgl. zum völkerrechtlichen Pirateriebegriff oben 2. Kap. Fn. 330.
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fahrtschiffes Achille Lauro, das als gewöhnliche Passagiere an Bord gegangene Palästinenser am 7. Oktober 1985 in ihre Gewalt brachten,87 zeigte, dass der klassische Pirateriebegriff inadäquat zur Bekämpfung terroristischer Gefahren war. Denn diese Täter handelten nicht aus Gewinnstreben, sondern aus politischen Motiven, und hatten die Achille Lauro auch nicht von einem anderen Schiff aus, sondern quasi „von innen“ angegriffen.88 Die Reaktion der Staaten folgte knapp drei Jahre später in Gestalt des am 10. März 1988 in Rom unterzeichneten „Übereinkommens zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Seeschifffahrt.“89 Einmal mehr bedurfte es also erst eines konkreten Vorfalls, um den Staaten das Bestehen von Lücken im völkerrechtlichen Repressionssystem aufzuzeigen und sie zum Handeln zu bewegen. Und wieder einmal orientierte man sich am „Haager Modell“.90 Dessen Übernahme bot sich hier aus dem gleichen Grund wie bei der UN-Geiselnahmekonvention in besonderer Weise an, da die dem sektoralen Ansatz der Terrorismusbekämpfung, bei dem nach und nach entsprechend der aktuellen Gefahrenlage verschiedene Teilbereiche terroristischer Aktivitäten völkervertraglichen Regelungen unterworfen werden, immanente Gefahr von Überschneidungen der Anwendungsbereiche der einzelnen Verträge auch jetzt wieder beonders groß war. Die Entführung eines Schiffes, die unter die Seeschifffahrtskonvention fällt, wird nämlich meist auch eine Geiselnahme nach der Geiselnahmekonvention sein.91 Praktische Probleme werden hier vermieden, wenn die einzelnen Verträge ein identisches Repressionsinstrumentarium enthalten. 87 Zum „Achille Lauro“-Fall und seinen völkergewohnheitsrechtlichen Implikationen ausführlich unten B. I. 2. a) aa) (4). 88 Vgl. Momtaz, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 514; dens., AFDI 1988, S. 589 (600); ähnl. Joyner, GYBIL 31 (1988), S. 230 (239–242, v. a. 242); Gloria, in: Ipsen, § 54 Rn. 16. A. A. aber Halberstam, AJIL 82 (1988), S. 269 (289), die auch solche Angriffe zur Piraterie zählen will. 89 Momtaz, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 514; näher zum Achille Lauro-Fall und seiner Bedeutung für das Abkommen auch Plant, in: Higgins/Flory, S. 68 f.; Joyner, GYBIL 31 (1988), S. 230 (234 f.). Das Abkommen ist abgedruckt in BGBl. 1988 II, 494; ILM 27 (1988), S. 668 ff. Durch ein gleichzeitig mit der Konvention abgeschlossenes Zusatzprotokoll (BGBl. 1990 II 508; ILM 27 (1988), S. 685 ff.) wird sein Regime auch auf Angriffe auf fest am Meeresgrund verankerte Plattformen ausgedehnt. 90 Vgl. Art. 6 III Schifffahrtssicherheitskonvention, der praktisch wörtlich dem Art. 4 II Haager Konvention entspricht, und Art. 10 I Schifffahrtssicherheitskonvention, dessen Wortlaut die schon in der UN-Geiselnahmekonvention anzutreffende Mischung aus Art. 7 UN-Diplomatenschutzkonvention und Art. 7 Haager Konvention darstellt (vgl. hierzu oben 4.). Auf die Ähnlichkeit zur Haager Konvention weisen bspw. auch Freestone, in: Higgins/Flory, S. 43 (52); Plant, in: Higgins/Flory, S. 68 (82); Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (313); Joyner, GYBIL 31 (1988), S. 230 (257) und Bassiouni/Wise, S. 17 hin. 91 Vgl. Plant, in: Higgins/Flory, S. 68 (91).
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7. Die Bekämpfung von Sprengstoffattentaten Mitte der 1990er Jahre brachte eine Reihe von Bomben- und Giftgasanschlägen92 die Tatsache ins Bewusstsein der (Fach-)Öffentlichkeit, dass solche Anschläge bislang nur dann von universell angelegten „aut dedere – aut iudicare“-Verträgen erfasst waren, wenn sie sich gegen Flugzeuge, Flughäfen, Seeschiffe, Meeresplattformen oder Diplomaten richteten. Der Bombenanschlag auf eine US-Kaserne in Dharan (Saudi-Arabien) am 25. Juni 1996 gab dann den letzten Ausschlag für eine US-Initiative, die bereits 1997 zum Abschluss des „Übereinkommens zur Bekämpfung terroristischer Bombenanschläge“93 im Rahmen der UN führte.94 Wieder einmal mussten also erst spektakuläre Anschläge verübt werden, ehe sich die Staatengemeinschaft – dann allerdings relativ zügig – zu Gegenmaßnahmen entschließen konnte.95 Das Sprengstoffattentateübereinkommen sieht für Anschläge auf öffentlich zugängliche Plätze, öffentliche Einrichtungen, Verkehrsmittel und Infrastrukturanlagen, die mit Bomben oder ähnlichen Vorrichtungen96 begangen werden, ein „aut dedere – aut iudicare“ nach „Haager Modell“ vor,97 wenn der Täter die Herbeiführung von Todesopfern, Schwerverletzten oder schweren Vermögensschäden beabsichtigte.98 92 Zu nennen sind insbes. der Giftgasanschlag auf die Tokioer U-Bahn 1995, mehrere Bombenanschläge der Hamas in Jerusalem und Tel Aviv sowie der IRA in Manchester 1995/96 (vgl. Witten, AJIL 92 [1998], S. 774 [Fn. 3] und die Rede des Rechtsberaters des US-Außenministeriums Taft vor dem auswärtigen Ausschuss des Senates vom 23.10.2001, abgedruckt bei Murphy, AJIL 96 [2002], S. 237 [256]). Schon in den 1980er Jahren machten Bombenanschläge nahezu die Hälfte der terroristischen Aktivitäten aus (vgl. Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 [309]). 93 BGBl. 2002 II 2506; 37 ILM (1998), S. 249 ff.; JDI 2002, S. 923 ff. 94 Vgl. Witten, AJIL 92 (1998), S. 774 f.; Henzelin, S. 314 und die Rede des Rechtsberaters des US-Außenministeriums Taft vor dem auswärtigen Ausschuss des Senates vom 23.10.2001, abgedruckt bei Murphy, AJIL 96 (2002), S. 237 (256). 95 Das Abkommen trat am 23.05.2001, also etwa vier Jahre nach seinem Abschluss, in Kraft. Dies ist, wie Tomuschat, EuGRZ 2001, S. 535 (537 f.) zutreffend bemerkt, relativ schnell. Andererseits haben andere Antiterrorverträge, etwa die nur 11 Monate nach ihrem Abschluss in Kraft getretene Haager Konvention, diese Marke schon weit unterboten. 96 Nach Art. 1 III umfasst dies neben gewöhnlichen Sprengstoffbomben auch Anschläge mit chemischem, biologischem oder radioaktivem Material. 97 Vgl. Artikel 6 IV und 8 I mit Art. 4 II und 7 Haager Konvention. Art. 8 ist auch hier die schon in der Schifffahrtssicherheitskonvention anzutreffende Mischung aus dem Wortlaut von Art. 7 Haager Konvention und Art. 7 Diplomatenschutzkonvention. Er regelt ferner in seinem Absatz 2 erstmals die neuere Praxis im Auslieferungsrecht, Auslieferungen eigener Staatsbürger zuzulassen, wenn diese zur Strafverbüßung anschließend wieder in ihren Heimatstaat zurückgebracht werden (vgl. zu Art. 8 II Witten, AJIL 92 [1998], S. 774 [779]; zu dieser Praxis allgemein Gilbert, S. 180).
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
8. Die Bekämpfung der Finanziers des Terrors Bereits zwei Jahre nach dem Übereinkommen gegen Bombenanschläge wurde ein weiterer völkerrechtlicher Vertrag zur Terrorismusbekämpfung nach dem Prinzip „aut dedere – aut iudicare“ abgeschlossen: das Internationale Übereinkommen vom 9. Dezember 1999 zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus99, das im Gefolge des 11. Septembers 2001 erstaunlich schnell auf breite Akzeptanz in der Staatengemeinschaft stieß.100 Es folgt ebenfalls dem Haager „aut dedere – aut iudicare“-Modell.101 Besonders deutlich ist dabei die Anlehnung an die Konvention von 1997, deren Bestimmungen praktisch wörtlich übernommen werden.102 Strafbar nach diesem Übereinkommen ist gemäß Artikel 2 Absatz 1 a) i. V. m. dem Anhang zunächst einmal die Finanzierung einer Straftat im Sinne eines der soeben vorgestellten „aut dedere – aut iudicare“-Verträge (mit Ausnahme der OASDiplomatenschutzkonvention und der UN-Personalsicherheitskonvention).103 Auch hier zeigt sich wieder, dass die durch die Übernahme des „Haager Modells“ in spätere Abkommen hergestellte Kongruenz der „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen der universell angelegten Antiterrorverträge nicht nur verhandlungstaktische Vorteile hat, sondern auch die Kohärenz des völkerrechtlichen Kampfes gegen den Terrorismus stärkt. Denn durch die Konvention von 1999 wird der Finanzier – also quasi der „Gehilfe“ – einer Tat, für die vertraglich ein „aut dedere – aut iudicare“ vereinbart wurde, denselben 98 Vgl. Art. 1 der Konvention, der ferner auch den Versuch und die Teilnahme unter Strafe stellt. Die Handlungen bewaffneter Staatsorgane werden von Art. 19 dagegen umfassend aus dem Anwendungsbereich ausgenommen. 99 BGBl. 2003 II 1923; ILM 39 (2000), S. 270 ff. 100 Es trat am 10.04.2002 in Kraft und hatte am 01.07.2005 bereits 138 Vertragsparteien. 101 Vgl. insbes. die Art. 7 IV und 10 I mit Art. 4 II und 7 Haager Konvention. 102 Vgl. hierzu Lavalle, ZaöRV 2000, S. 491 (493 f.), der die Vorschriften beider Verträge – auch über die „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen hinaus – ausführlich miteinander vergleicht. 103 Dies gilt aber nur insoweit, als die Vertragsparteien der Terrorismusfinanzierungskonvention auch Vertragsparteien dieser anderen Verträge sind: ein Staat, der einen der im Anhang aufgeführten Antiterrorverträge nicht ratifiziert hat, kann bei der Ratifikation der Terrorismusfinanzierungskonvention erklären, dass diese nicht auf die Finanzierung von Taten nach dem von ihm nicht ratifizierten Antiterrorvertrag anwendbar ist [vgl. Art. 2 I a)]. Nicht nachvollziehbar ist, wie Lavalle, ZaöRV 2000, S. 491 (505) zu dem Schluss kommt, die Konvention von 1999 würde anders als ihre Vorgänger nur eingreifen, wenn die Tat auch im Einzelfall wirklich einen „terroristischen“ Hintergrund habe: Auch eine bspw. aus Liebeskummer oder Gewinnsucht begangene Flugzeugentführung unterfällt der Haager Konvention (vgl. oben 1. bei Fn. 20), so dass für ihre Finanzierung nach Art. 2 I a) Terrorismusfinanzierungskonvention i. V. m. dem Anhang die Terrorismusfinanzierungskonvention gilt.
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Regelungen unterworfen wie der „Haupttäter“. Daneben enthält die Konvention aber auch eine Art Auffangtatbestand, der die Finanzierung von bislang nicht vertraglichen „aut dedere – aut iudicare“-Vorschriften unterliegenden terroristischen Gewaltakten einem „aut dedere – aut iudicare“ unterwirft.104 Hier wird der im Hintergrund tätige Finanzier also sogar schärfer verfolgt als der unmittelbar die Tat Ausführende. 9. Regionale Verträge zur Bekämpfung des Terrorismus auf breiterer Front Die bislang vorgestellten Verträge waren alle105 in geographischer Hinsicht „universell“ angelegt, das heißt, sie standen Staaten aller Weltregionen zur Ratifikation offen, aber sachlich relativ eng auf bestimmte terroristische Handlungsweisen begrenzt. Bei den nun folgenden Abkommen ist dies genau umgekehrt: Sie bekämpfen zwar eine größere Bandbreite „terroristischer“ Aktivitäten, der Kreis ihrer möglichen Mitglieder ist aber von vornherein auf Staaten bestimmter Regionen beschränkt.106, 107 a) Die Europäische Antiterrorkonvention und die Europäische Terrorismusvorbeugungskonvention Der älteste und bedeutendste dieser regionalen Antiterrorverträge ist das maßgeblich auf Drängen der damals mit dem RAF-Terrorismus konfrontierten Bundesrepublik Deutschland108 im Rahmen des Europarates zustande 104 Vgl. zu diesem in Art. 2 I b) enthaltenen Auffangtatbestand bereits ausführlich oben 1. 105 Selbst die zunächst im regionalen Rahmen ausgearbeitete OAS-Diplomatenschutzkonvention steht nach ihrem Art. 9 auch nichtamerikanischen Staaten offen. 106 Für die Europäische Antiterrorkonvention wird dies nach In-Kraft-Treten des Zusatzprotokolls vom 15.05.2003 (CETS No. 190) nur noch eingeschränkt gelten, denn nach dem neuen Art. 14 III können dann vom Ministerrat des Europarates ausnahmsweise auch Staaten, die nicht Mitglieder des Europarates sind, zur Teilnahme an der Europäischen Antiterrorkonvention zugelassen werden (vgl. Art. 10 III ZP). Eine parallele Regelung enthält auch Art. 24 der noch nicht in Kraft getretenen Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention vom 16.5.2005 (CETS No. 196). 107 Außer den im Folgenden vorgestellten Verträgen fallen auch das Übereinkommen der Mitglieder der GUS über die Zusammenarbeit in der Terrorismusbekämpfung vom 04.06.1999 (engl. Übersetzung unter http://untreaty.un.org/English/Terro rism/csi_e.pdf erhältlich) und die „Interamerican Convention against Terrorism“ vom 03.06.2002 (http://www.oas.org/xxxiiga/english/docs_en/docs_items/Agres 1840_02.htm) sowie die Europ. Konvention gegen die Terrorismusfinanzierung vom 16.52005 (CETS No. 198) in die Kategorie regional beschränkter Antiterrorverträge. Sie bleiben hier aber außer Betracht, weil sie keine „aut dedere – aut iudicare“-Vorschriften enthalten.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
gekommene „Europäische Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus“ vom 27. Januar 1977. Es ist sachlich sehr breit angelegt. Außer auf Flugzeugentführungen, Angriffe gegen die Zivilluftfahrt i. S. d. Montrealer Konvention, Angriffe gegen völkerrechtlich geschützte Personen und Geiselnahmen ist es auch auf jede andere mittels Sprengstoff oder automatischer Feuerwaffen begangene Straftat anwendbar, durch die Menschen gefährdet wurden.109 Das rechtliche Instrumentarium zur Bekämpfung dieser Straftaten weicht in vielerlei Hinsicht von den weitgehend auf dem „Haager Modell“ beruhenden universell angelegten Antiterrorverträgen, aber auch von den im 2. Kapitel vorgestellten „international crime conventions“ der Zwischenkriegszeit ab. Hauptziel der Europäischen Antiterrorkonvention ist es nicht, den Täter entweder über eine Auslieferung oder über die Strafverfolgung im Zufluchtsstaat der Gerechtigkeit zuzuführen, sondern gerade die Auslieferung zu fördern,110 deren besondere Wirksamkeit im 4. Erwägungsgrund der Präambel betont wird. Erleichtert wurde diese Bevorzugung der Auslieferung durch die regionale Begrenzung, denn im Binnenverhältnis der demokratischen Rechtsstaaten des Europarates begegnet die Überstellung eines Verdächtigen an die ausländische Strafjustiz weniger Bedenken als im „Weltmaßstab“.111 Deshalb kann die Konvention gleich eingangs in ihrem Artikel 1 eines der größten Hindernisse für die Auslieferung von Ter108
Vgl. Fraysse-Druesne, RGDIP 1978, S. 969 (970). Vgl. zum Kreis der erfassten Straftaten Art. 1. Dagegen enthält sie, wie schon oben unter 1. bei Fn. 6 erwähnt, keine Definition des „Terrorismus“. Dieser Begriff kommt außer im Titel nur noch in der Präambel vor; im operativen Teil wird er dagegen nicht mehr gebraucht. Mit In-Kraft-Treten des Zusatzprotokolls wird die Europäische Antiterrorkonvention ihren Anwendungsbereich durch Verweis auf die oben erläuterten universellen Antiterrorkonventionen bestimmen, der bisher in Art. 1 f) enthaltene, weit gefasste Auffangtatbestand wird dann entfallen. 110 Zur Präferenz der Europäischen Antiterrorkonvention für die Auslieferung auch Flory, in: ders./Higgins, S. 30 (32); Stein, ZaöRV 1977, S. 668 f.; Bartsch, NJW 1977, S. 1985; Vallée, AFDI 1976, S. 756 (768); Fraysse-Druesne, RGDIP 1978, S. 969 (993 f.); Koering-Joulin/Labayle, Semaine Juridique 1988, 3349; Bigay, RdPC 1980, S. 113 (120); Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1119. 111 Bartsch, NJW 1977, S. 1985 (1986); Stein, ZaöRV 1977, S. 668 (670); Conseil de l’europe, Rapport explicatif sur la Convention Européenne pour la répression du terrorisme, Ziff. 12 und 29. Die in Art. 5 Europ. Antiterrorkonvention enthaltene Möglichkeit zur Verweigerung der Auslieferung wegen drohender rassischer, religiöser oder politischer Verfolgung ist dennoch entgegen einer teilweise vertretenen Ansicht (vgl. bspw. Bartsch, NJW 1977, S. 1985 [1987] oder Conseil de l’europe, Rapport explicatif sur la Convention Européenne pour la répression du terrorisme, Ziff. 49) nicht überflüssig, denn in der Praxis ist es um die Rechtsstaatlichkeit in einigen Mitgliedstaaten des Europarates schlechter bestellt als in der Theorie (vgl. etwa das aktuelle Bsp. Russlands). Sie wird deshalb durch das noch nicht in Kraft getretene Zusatzprotokoll nicht etwa als ein überholter Anachronismus beseitigt, sondern im Gegenteil noch auf die Fälle drohender Folter, Todesstrafe oder lebenslanger Haft ohne vorzeitige Entlassungsmöglichkeit erweitert (vgl. Art. 4 ZP). 109
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roristen beseitigen: die „political offence exception“.112 Diese Regelung, durch die alle Straftaten, auf die die Europäische Antiterrorkonvention anwendbar ist, als „nichtpolitisch“ i. S. d. Auslieferungsrechts fingiert werden, ist das Kernstück der Konvention, nicht dagegen – wie bei den oben erörterten Verträgen – das in Artikel 7 geregelte „aut dedere – aut iudicare“.113 Zwar ist auch die Europäische Antiterrorkonvention kein „Auslieferungsvertrag“114, denn sie kreiert keine Auslieferungspflicht; eine solche kann immer nur aufgrund eines anderen Vertrages oder nationalen Auslieferungsgesetzes bestehen.115 Sie modifiziert aber die aus anderen Rechtsquellen 112 Ein oft kritisierter (vgl. Murphy, Punishing, S. 14; Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 [319 und 366]; Koering-Joulin/Labayle, Semaine Juridique 1988, 3349; Stein, ZaöRV 1977, S. 668 [683 f.]; Bartsch, NJW 1977, S. 1985 [1987] Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1120 f.) Schwachpunkt der Europäischen Antiterrorkonvention ist, dass sie in Art. 13 zu dieser zentralen Vorschrift Vorbehalte zulässt (auf einen gewissen Widerspruch zum Rechtsgedanken des Art. 19 c) WVRK weisen hier zu Recht Koering-Joulin/Labyle, Semaine Juridique 1988, 3349 hin), wovon am 01.08.2005 17 der 44 Vertragspartner (Quelle: http://www.conventions.coe.int/ Treaty/FR/CadresListe Traites.htm) Gebrauch gemacht hatten. Mit In-Kraft-Treten des Zusatzprotokolls werden alle diese Vorbehalte hinfällig werden. Allerdings können diejenigen Staaten, die bei Unterzeichnung des Protokolls am 15.05.2003 bereits Mitglied der Europäischen Antiterrorkonvention waren, bei der Ratifikation des Zusatzprotokolls erneut einen entsprechenden Vorbehalt anbringen, der dann allerdings nur noch drei Jahre lang gilt und dessen Verlängerung vom Vertragsstaat ebenso gesondert zu begründen ist wie seine Anwendung im Einzelfall (vgl. Art. 12 I, III, VII ZP). Durch diese Befristungs- und Begründungspflichten soll die Anbringung solcher Vorbehalte erschwert werden. Ein ähnliches Ziel verfolgten die damaligen EGStaaten schon früher mit dem „Dubliner Abkommen“ vom 04.12.1979 (ILM 19 [1980], S. 325), das die vorbehaltslose Anwendung der Europ. Antiterrorkonvention zwischen ihnen erreichen sollte, und zwar selbst im Verhältnis zu jenen EG-Staaten, die gar nicht Mitglied der Konvention waren (vgl. Freestone, in: Higgins/Flory, S. 43 [56]; Stein, ZaöRV 1980, S. 312 [316]). Es wurde inzwischen durch die im Kern inhaltsgleiche Regelung in Art. 5 IV des EU-Auslieferungsübereinkommens vom 27.09.1996 (BGBl. 1998 II 2254) überflüssig gemacht, welches aber seinerseits noch vor In-Kraft-Treten wiederum durch den Europäischen Haftbefehl (Abl. EG L 190/1) ersetzt wurde. Dieser beseitigt zwischen den EU-Mitgliedstaaten den klassischen Mechanismus der Auslieferung völlig als Instrument zur Rückführung flüchtiger Straftäter (vgl. Präambel Ziff. 5 und 11): die Auslieferungsbestimmungen der Europäischen Antiterrorkonvention kommen damit im Binnenverhältnis der EU-Mitglieder nicht mehr zur Anwendung (vgl. Art. 31 I a); dazu auch Laugiers-Deslandes, AFDI 2002, S. 695 [698 ff.]). 113 A. A. Lowe/Young, NILR 1978, S. 305 (310). 114 Murphy, Punishing, S. 14; ähnl. Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 141; Bartsch, NJW 1977, S. 1985 (1986); Stein, ZaöRV 1977, S. 668 (669); Vallée, AFDI 1976, S. 756 (768); Koering-Joulin/Labayle, Semaine Juridique 1988, 3349; Lagodny, UCLR 60 (1989), S. 583 (586); Conseil de l’europe, Rapport explicatif sur la Convention Européenne pour la répression du terrorisme, Ziff. 27. 115 Vgl. Conseil de l’europe, Rapport explicatif sur la Convention Européenne pour la répression du terrorisme, Ziff. 27.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
resultierenden Auslieferungspflichten insofern, als sie die „political offence exception“ zurückdrängt und den Anwendungsbereich aller zwischen den Mitgliedstaaten bestehenden Auslieferungsverträge auf die von ihr erfassten Straftaten ausdehnt.116 Ähnliche Regelungen finden sich zwar auch in einigen der oben vorgestellten universell angelegten Antiterrorverträge,117 aber die nach Entstehungsgeschichte und Gesamtkonzeption des Europäischen Antiterrorabkommens eindeutige Bevorzugung der Auslieferung gegenüber der Strafverfolgung im Zufluchtsstaat,118 der weit gefasste sachliche Anwendungsbereich – der nach Artikel 1 e) praktisch die gesamte mit Sprengstoff oder automatischen Feuerwaffen begangene Gewaltkriminalität umfasst – und nicht zuletzt das völlige Fehlen einer Artikel 2 Haager Konvention vergleichbaren Vorschrift, die auch den Tatortstaat verpflichten würde, die betreffenden Handlungen unter Strafe zu stellen,119 stellen sie zwischen die Auslieferungsverträge und die bislang erörterten „international crime conventions“.120 Dies wirkt sich auch auf die Ausgestaltung des „aut dedere – aut iudicare“ aus. Wie schon die Auslieferungsverträge des 19. Jahrhunderts121 – und anders als das „Haager Modell“ – erwähnen Artikel 6 Absatz 1 und Artikel 7 Europäische Antiterrorkonvention ausdrücklich, dass die Strafverfolgungspflicht für den Zufluchtsstaat nicht schon mit der bloßen Anwesenheit des Täters entsteht, sondern erst dann, wenn zusätzlich noch ein Auslieferungsersuchen eines anderen Staates eingegangen 116 Vgl. Art. 1, 3 und 4 sowie zum ergänzenden Charakter der Konvention gegenüber Auslieferungsverträgen – insbesondere gegenüber dem Europäischen Auslieferungsabkommen (zu diesem vgl. unten V.) – Conseil de l’europe, Rapport explicatif sur la Convention Européenne pour la répression du terrorisme, Ziff. 11. Eine Regelung für den Fall, dass zwischen zwei Vertragsparteien kein Auslieferungsvertrag besteht – wie sie Art. 8 III Haager Konvention enthält –, hielt man angesichts des dichten Netzes von Auslieferungsverträgen in Europa für überflüssig (Lowe/Young, NILR 1978, S. 305 [313]). 117 Wobei die älteren nur eine Einbeziehung der jeweils betroffenen Straftatkategorie in den Anwendungsbereich von Auslieferungsverträgen enthalten (vgl. bspw. Art. 8 I Haager Konvention) und erst die jüngeren Verträge auch die „political offence exception“ beseitigen (vgl. Art. 11 Sprengstoffattentateübereinkommen; Art. 14 Terrorismusfinanzierungskonvention). 118 Vgl. neben der Präambel und der oben in Fn. 110 angeführten Lit. auch Conseil de l’europe, Rapport explicatif sur la Convention Européenne pour la répression du terrorisme, Ziff. 11 bis 16. 119 Lagodny, UCLR 60 (1989), S. 583 (590) spricht davon, die Haager Konvention wolle dafür sorgen, dass ein bestimmtes Verhalten in jedem Vertragsstaat strafbar ist, während die Europäische Antiterrorkonvention seine Strafbarkeit in den Vertragsstaaten voraussetze und nur sicherstellen wolle, dass der Täter einem angemessenen Forum zwecks Aburteilung zugeführt wird. 120 Zum Unterschied zwischen beiden Vertragstypen vgl. oben 2. Kap. Fn. 353 und 388. 121 Vgl. oben 2. Kapitel E. I. 2.
A. Vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen
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ist.122 Vor allem aber wird streng auf Reziprozität geachtet: Eine Strafverfolgungspflicht entsteht für den Zufluchtsstaat bei Ablehnung eines Auslieferungsersuchens nur, wenn der ersuchende Staat den Täter aufgrund eines Strafrechtsanwendungsprinzips verfolgt, das auch im Recht des Zufluchtsstaates anerkannt ist.123 Wichtigster Anwendungsfall dieser Einschränkung ist die Konstellation, in der ein Staatsangehöriger von Staat A in Staat B einen Terrorakt begangen hat und sich danach in einen Staat C flüchtet, dessen Strafrecht das aktive Personalprinzip nicht kennt – wie dies beim Vereinigten Königreich weitgehend der Fall ist. Dann muss C nur zum „iudicare“ greifen, wenn er ein Auslieferungsersuchen des Tatortstaates B zurückweist, nicht dagegen, wenn es sich um ein Ersuchen des Heimatstaates A handelt.124 Solche „double criminality“-Regelungen sind ein fundamentales Prinzip des klassischen Auslieferungsrechts,125 finden sich aber nicht in den „international crime conventions“ nach „Haager Modell“. Dem Haager Vorbild gleicht das „aut dedere – aut iudicare“ der Europäischen Antiterrorkonvention nur in zweierlei Hinsicht: Es enthält erstens eine obligatorisch ausgestaltete „jurisdictional clause“, so dass die Anwendbarkeit des nationalen Strafrechts des Zufluchtsstaates im Falle des „iudicare“ sichergestellt ist,126 und regelt zweitens die Strafverfolgungspflicht für Ausländer und eigene Bürger des Zufluchtsstaates einheitlich, unabhängig von den Gründen für die Ablehnung des Auslieferungsersuchens.127 Die in der Literatur vorherrschende Zuordnung der Europäischen 122 Allerdings ist zuzugeben, dass dies auch bspw. bei den „international crime conventions“ nach dem Modell von 1929 (dort nur bzgl. von Ausländern) sowie bei der OAS-Diplomatenschutzkonvention der Fall war [vgl. 2. Kapitel H. II. 1. sowie im hiesigen Kapitel A. I. 3. a)]. Zum ganzen Problemkreis ausführlich unten 4. Kapitel A. 123 Vgl. Art. 7 i. V. m. Art. 6 I a. E. Europ. Antiterrorkonvention. 124 Vgl. zu diesem Hauptanwendungsfall der Einschränkung Conseil de l’europe, Rapport explicatif sur la Convention Européenne pour la répression du terrorisme, Ziff. 55 f.; ähnl. auch Lowe/Young, NILR 1978, S. 305 (309); Henzelin, S. 320. 125 Zu „double criminality“ und Gegenseitigkeit im Auslieferungsrecht vgl. Gilbert, S. 84 ff. und 104 ff.; Stein, EPIL II, S. 329 f. 126 Vgl. Art. 6 I. Gegenbeispiel wäre hier das „aut dedere – aut iudicare“-Modell der Falschmünzerkonvention von 1929, das die Zufluchtsstaaten nicht zur Ausdehnung ihres Strafrechts auf Auslandstaten von Ausländern zwang, wenn sie eine so weitgehende extraterritoriale Strafrechtsgeltung grundsätzlich ablehnten (vgl. oben 2. Kapitel H. II. 1.). 127 Vgl. Art. 7. Gegenbeispiele wären auch hier zum einen die Falschmünzerkonvention von 1929, die das „aut dedere – aut iudicare“ für eigene Bürger des Zufluchtsstaates und Ausländer in zwei getrennten Vorschriften in unterschiedlicher Weise regelte (vgl. oben 2. Kapitel H. II. 1.), zum anderen die Auslieferungsverträge, die heute wie früher überwiegend eine „iudicare“-Pflicht nur entstehen lassen, wenn ein Auslieferungsersuchen gerade wegen des Prinzips der Nichtauslieferung eigener Staatsbürger zurückgewiesen wurde, nicht dagegen, wenn andere Ausliefe-
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
Antiterrorkonvention zum Haager Modell128 überzeugt daher bei einer Gesamtbetrachtung ihrer Vorschriften nicht. Der Europäischen Antiterrorkonvention weitgehend ähnlich ist die bislang noch nicht in Kraft getretene Council of Europe Convention on the Prevention of Terrorism, die bereits die öffentliche Aufforderung zu Straftaten nach den universell angelegten Antiterrorverträgen sowie die Rekrutierung und Ausbildung von Personen für Gruppen, die solche Straftaten begehen, bekämpfen will, selbst wenn die „Haupttat“ nie ausgeführt wurde.129 Ihr „aut dedere – aut iudicare“ entspricht dem der Europäischen Antiterrorkonvention, wobei die dort erst mit dem noch nicht in Kraft getretenen Zusatzprotokoll anstehenden Änderungen größtenteils bereits vorweggenommen werden.130 rungshindernisse (z. B. political offence exception) vorliegen (vgl. oben 2. Kapitel E. I. 2. und 3. sowie im hiesigen Kapitel A. V.). Insofern ist es eigentlich überflüssig, dass nach In-Kraft-Treten des Zusatzprotokolls im neuen Art. 16 VII Europäische Antiterrorkonvention nochmals ein nahezu wörtlich dem Art. 7 Europ. Antiterrorkonv. entsprechendes „aut dedere – aut iudicare“ für den Fall eingefügt wird, dass ein Auslieferungsersuchen aufgrund eines vom ersuchten Staat angebrachten Vorbehaltes nach Art. 13 I a. F. (16 I n. F.) scheitert: Auch bisher schon war der Fall unter diesen Umständen den nationalen Strafverfolgungsbehörden zu unterbreiten. Ein Unterschied besteht lediglich darin, dass Art. 16 VII a. E., VIII n. F. nun für diesen Sonderfall spezielle Berichtspflichten des ersuchten Staates gegenüber dem ersuchenden Staat und dem Europarat hinsichtlich des Vorgehens seiner Strafverfolgungsbehörden vorsieht und dem Ministerkommittee eine gewisse „Überwachungsfunktion“ hinsichtlich der ordnungsgemäßen Ausführung des „iudicare“ einräumt (vgl. Art. 12 VII ZP). 128 Vgl. Freestone, in: Higgins/Flory, S. 43 (56); Bassiouni/Wise, S. 18; Cheng, in: FS Schwarzenberger, S. 25 (40), die sie alle als eine allenfalls in kleinen Details abweichende Variante des Haager Modells ansehen. 129 Vgl. Art. 1 I, 5–9 Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention. 130 Vgl. Art. 14 III Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention mit Art. 6 I Europ. Antiterrorkonvention („jurisdictional clause“) und Art. 18 I Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention mit Art. 7 Europ. Antiterrorkonvention (soweit in der Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention jeweils der ausdrückliche Hinweis darauf, dass beim Zufluchtsstaat ein Auslieferungsersuchen eingegangen sein muss, fehlt, begründet dies keinen Unterschied: Dadurch, dass Art. 14 III Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention a. E. vom Zufluchtsstaat als der „requested party“ spricht [worauf Art. 18 I verweist], wird deutlich, dass das „aut dededere – aut iudicare“ auch hier von Eingang und Ablehnung eines Auslieferungsersuchens abhängt); vgl. ferner Art. 20 Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention mit Art. 12 und 16 Europ. Antiterrorkonvention n. F. und Art. 21 Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention mit Art. 4 des ZP zur Europ. Antiterrorkonvention. Außerdem berücksichtigt die Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention – ebenso wie es auch die neueren universell angelegten Antiterrorverträge tun (vgl. dazu oben 5. a. E., 7. und 8.) – die neuere Praxis, eigene Staatsangehörige unter der Bedingung auszuliefern, dass sie zur Strafvollstreckung wieder in ihr Heimatland zurückgeführt werden (vgl. Art. 18 II Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention).
A. Vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen
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b) Die Antiterrorkonvention der SAARC Die am 4. November 1987 unterzeichnete Antiterrorkonvention der SAARC – einer von Bangladesh, Bhutan, Indien, den Malediven, Nepal, Pakistan und Sri Lanka gegründeten Regionalorganisation – ist die zweitälteste regionale Vereinbarung zur Bekämpfung des Terrorismus auf breiter Front. Sie bestimmt ihren Anwendungsbereich ähnlich wie die Europäische Antiterrorkonvention: Zum einen durch Verweis auf die Haager Konvention, die Montrealer Konvention, die UN-Diplomatenschutzkonvention und andere von den SAARC-Mitgliedstaaten ratifizierte „aut dedere – aut iudicare“-Abkommen, daneben aber auch durch einen äußerst weiten Auffangtatbestand, der große Teile der schweren Gewaltkriminalität ohne Rücksicht darauf umfasst, ob sie zusätzlich die im allgemeinen Sprachgebrauch mit dem Terrorismusbegriff verbundenen Elemente „politische Motivation“ und „Verbreitung von Angst“ aufweisen.131 Auch ihr Repressionsregime gleicht in großen Teilen dem des europäischen Pendants. Im Mittelpunkt steht die gleich eingangs in Artikel I ausgesprochene Abschaffung der „political offence exception“ für alle von der Konvention erfassten Straftaten; die Vorschrift über die Strafverfolgungspflicht bei Nichtauslieferung ähnelt auf den ersten Blick dem „Haager Modell“,132 unterscheidet sich aber bei genauerem Hinsehen dadurch von ihm, dass ausdrücklich der Eingang eines Auslieferungsersuchens als Voraussetzung für deren Entstehung erwähnt wird.133 Und wie beim Europäischen Antiterrorabkommen steht auch hier die „jurisdictional clause“ unter dem Vorbehalt der Reziprozität. Allerdings ist sie sogar noch weiter eingeschränkt, denn selbst dort, wo Gegenseitigkeit seitens 131
Vgl. Art. I SAARC-Antiterrorkonvention, der in lit. a)–d) auf verschiedene andere „aut dedere – aut iudicare“-Verträge verweist, bevor er in lit. e) fortfährt: „Shall be regarded as terroristic [. . .] murder, manslaughter, assault causing bodily harm, kidnapping, hostage-taking and offences relating to firearms, weapons, explosives and dangerous substances when used as a means to perpetrate indiscriminate violence involving death or serious bodily injury to persons or serious damage to property.“ Der einzige größere Unterschied zum ebenfalls sehr weit gefassten und nicht auf das polit. Element des „Terrorismus“ abstellenden Art. 1 e) Europ. Antiterrorkonvention ist, dass hier die Taten ausdrücklich als „terroristisch“ bezeichnet werden, während das europ. Abkommen diesen Begriff nur in Titel und Präambel verwendet. 132 Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Tatsache, dass für das „iudicare“ weder zwischen Ausländern und eigenen Staatsangehörigen des Zufluchtsstaates noch zwischen unterschiedlichen Gründen für die Nichtauslieferung differenziert wird. 133 Vgl. Art. IV: „A Contracting State in whose territory a person suspected of having committed an offence [im Sinne der Konvention] is found and which has received a request for extradition from another Contracting State, shall, if it does not extradite that person, submit the case without exception and without delay, to its competent authorities, which shall take their decisions in the same manner as in the case of any offence of a serious nature under the law of that State.“
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
des ersuchenden Staates verbürgt ist, muss der Zufluchtsstaat nicht zwingend für die Anwendbarkeit seines Strafrechts auf die Auslandstat des Flüchtigen sorgen, sondern darf diesbezüglich nur die von ihm für „appropriate“ gehaltenen Maßnahmen treffen.134 Letztlich bedeutet dies, dass der Zufluchtsstaat hier nur ermächtigt wird, in Abweichung vom völkerrechtlichen „genuine link“-Erfordernis sein Strafrecht auf Auslandstaten von Ausländern zu erstrecken. Die Effektivität des „iudicare“ hängt dann ähnlich wie bei der Falschmünzerkonvention von 1929 in großem Maße von der Bereitschaft ab, diese Ermächtigung auch tatsächlich zu gebrauchen. c) Die Antiterrorkonventionen der OIC und der Arabischen Liga Die Antiterrorkonventionen der OIC und der Arabischen Liga sind weitgehend identisch. Sie weichen aber in mehrfacher Hinsicht von allen bislang erörterten Antiterrorverträgen ab. Dies gilt zum einen schon für die Technik, mit der sie ihren Anwendungsbereich bestimmen. Erstmals seit der gescheiterten Konvention von 1937 wird hier eine Legaldefinition des „Terrorismus“ versucht.135 Vor allzu großer Freude über diesen Fortschritt sollte aber gewarnt werden, denn wie wenig diese regionale Übereinstimmung am globalen Dissens ändert, wurde bereits eingangs erläutert. Zum anderen unterscheidet sich aber auch das „aut dedere – aut iudicare“ beider Verträge erheblich von dem der anderen „international crime conventions“. Es ist noch bei weitem mehr an das Modell eines Auslieferungsvertrages angelehnt, als dies bei den Antiterrorkonventionen des Europarates und der SAARC der Fall war. So sehen die Verträge der OIC und der Arabischen Liga in ihren jeweiligen Artikeln 5 grundsätzlich eine Pflicht gerade zur Auslieferung von Terroristen vor,136 von der allerdings gemäß den jeweiligen Artikeln 6 eine Reihe von Ausnahmen gelten, namentlich die 134 Die betreffende Vorschrift (Art. V) lautet: „For the purpose of Article IV, each Contracting State may take such measures as it deems appropriate, [. . .] subject to reciprocity, to exercise its jurisdiction in the case of an offence [i. S. d. Konvention].“ 135 Vgl. Art. 1 II der arab. Konv.: „Terrorism: Any act or threat of violence, whatever its motives or purposes, that occurs in the advancement of an individual or collective criminal agenda and seeking to sow panic among people, causing fear by harming them, or lacing their lives, liberty or security in danger, or seeking to cause damage to the environment or to public or private installations or property or to occupying or seizing them, or seeking to jeopardize national resources.“ Ähnl. Art. 1 II der OIC-Konv. 136 „Contracting States shall undertake to extradite those indicted or convicted of terrorist crimes [arab. Konv.: offences], requested for extradition [arab. Konv.: whose extradition is requested] by any of these countries [arab. Konv.: states] in compliance [arab. Konv.: in accordance] with the rules and conditions stipulated in this Convention.“
A. Vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen
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klassischen Auslieferungshindernisse „political offence exception“137 und Nichtauslieferung eigener Bürger. Die Verpflichtung zur Strafverfolgung bei Nichtauslieferung wird wiederum nur an das Vorliegen eines einzigen dieser Auslieferungshindernisse geknüpft: Nur wenn ein tatsächlich gestelltes Auslieferungsersuchen gerade wegen des Prinzips der Nichtauslieferung eigener Bürger zurückgewiesen wurde, ist ein „iudicare“ durchzuführen, nicht dagegen in allen anderen Fällen der Nichtauslieferung.138 Es ähnelt damit den bereits oben im 2. Kapitel unter E. I. 2. untersuchten „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen der Auslieferungsverträge des 19. Jahrhunderts und gehört zu jenen speziellen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgeboten, die sich nur auf eigene Bürger des Zufluchtsstaates erstrecken und deswegen nicht die Funktion haben, eine normalerweise völkerrechtlich verbotene Erstreckung der Strafgewalt des Zufluchtsstaates auf Auslandstaten zu legitimieren, da der Zufluchtsstaat seine Bürger schon nach allgemeinem Völkerrecht für jede beliebige Auslandstat verfolgen darf.139 Selbst dieses „iudicare“ steht jedoch noch einmal unter einem Vorbehalt, der die Verwandtschaft beider Konventionen mit den Auslieferungsverträgen hervorhebt. Es ist nämlich nur vorgeschrieben, wenn die Tat sowohl nach dem Recht des Zufluchtsstaates als auch des ersuchenden Staates im Mindestmaß mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber strafbar ist – eine Technik, über die viele moderne Auslieferungsverträge den Begriff der „auslieferungsfähigen Straftat“ bestimmen.140 d) Die Afrikanische Antiterrorkonvention Auch der Afrikanischen Antiterrorkonvention141 gelingt in ihrem Artikel 1 Absatz 3 eine Legaldefinition des Terrorismus, die uns aber aus den ein137 Diese wird lediglich dadurch leicht eingeschränkt, dass einige besonders schwerwiegende Taten – wie bspw. Angriffe auf Staatschefs, Diplomaten oder Verkehrsmittel – in Art. 2 c) der OIC-Konv. bzw. Art. 2 b) der arab. Konv. als „nichtpolitisch“ fingiert werden. 138 Vgl. Art. 6 der arab. Konv.: „Extradition shall not be permissible [. . .] h) If the legal system of the requested State does not allow it to extradite its nationals. In this case, the requested State shall prosecute any such persons who commit in any of the other Contracting States a terrorist offence that is punishable in both States by deprivation of liberty for a period of at least one year or more.“ (ebenso mit nur geringen stilistischen Abweichungen Art. 6 Nr. 8 der OIC-Konv.). 139 Vgl. hierzu oben, 1. Kapitel B. IV. 140 Vgl. zu der heute vorherrschenden Bestimmung des Kreises der „auslieferungsfähigen Straftaten“ mittels bestimmter Strafrahmen im Strafrecht von ersuchtem und ersuchendem Staat unten Fn. 255. 141 OAU Convention on the Prevention and Combating of Terrorism, 14.07.1999; in Kraft getreten am 06.12.2002.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
gangs erwähnten Gründen einer universell akzeptierten Definition nicht näher bringt. Als einziger regionaler Antiterrorvertrag enthält sie ein „aut dedere – aut iudicare“ nach Haager Modell.142
II. Der Kampf gegen Völkermord, Kriegsverbrechen und andere schwere Menschenrechtsverstöße Auch die Verfolgung von Völkermord, Kriegsverbrechen und anderen schweren Menschenrechtsverstößen ist teilweise völkervertraglich im Sinne eines „aut dedere – aut iudicare“ geregelt. Diese Normen sollen im Folgenden vorgestellt werden.143 1. Kriegsverbrechen a) Die Genfer Konventionen vom 12. August 1949 Die vier Genfer Konventionen von 1949144 betraten mit ihren Vorschriften zur Bestrafung von „Kriegsverbrechern“145 im Vergleich zu ihren Vor142 Vgl. Art. 8 IV mit Art. 7 Haager Konvention und Art. 6 IV mit Art. 4 II Haager Konvention. Lediglich der in Artikel 7 Satz 2 Haager Konvention enthaltene „national treatment standard“ fehlt, wie dies zum Beispiel auch bei der UN-Diplomatenschutzkonvention – aus der auch die Formulierung vom „iudicare“ „without undue delay“ übernommen wurde – der Fall war. 143 Schon jetzt sei auf folgendes hingewiesen: Das ICC-Statut wird im Folgenden nicht erwähnt werden, da es aus zwei Gründen kein „aut dedere – aut iudicare“ enthält. Erstens ist die in ihm geregelte Überstellung eines Verdächtigen an ein internationales Strafgericht keine „Auslieferung“ im Rechtssinne (s. oben 1. Kapitel Fn. 4), und zweitens – was noch viel schwerer wiegt – ist die Strafverfolgung nach diesem Vertrag keine Pflicht des Zufluchtsstaates, deren Verletzung dessen völkerrechtliche Verantwortlichkeit auslöst, sondern nur ein Umstand, der gemäß Art. 17 I zur Unzulässigkeit eines Verfahrens in derselben Sache vor dem ICC führt. Auch die Antiapartheidkonvention vom 20.11.1973 schreibt kein „aut dedere – aut iudicare“ vor: Sie erlaubt nur – ganz ähnlich der oben im 2. Kapitel unter G. dargestellten gewohnheitsrechtlichen Rechtslage bzgl. der Piraterie – eine Verfolgung der Täter nach dem Weltrechtsprinzip, verpflichtet den Zufluchtsstaat aber nicht dazu, dies im Fall der Nichtauslieferung auch tatsächlich zu tun (vgl. Art. V der Konvention, ILM 13 (1974), S. 51 ff. und Dugard, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 358 sowie Randall, Texas Law Review 66 (1988), S. 785 [819]). 144 BGBl. 1954 II 783; BGBl. 1954 II 813; BGBl. 1954 II 838; BGBl. 1954 II 917. 145 Entsprechend ihrem gemeinsamen Art. 2 sind die Genfer Konventionen – jedenfalls nach traditionellem Verständnis – nur auf internationale Konflikte anwendbar, so dass auch ihr „aut dedere – aut iudicare“ nur Kriegsverbrechen im Rahmen solcher Konflikte erfasst. Zur Geltung eines Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes für „Bürgerkriegsverbrechen“ vgl. unten B. I. 1. a).
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gängerverträgen fast völliges Neuland.146 Den Begriff „war crime“ oder „crime de guerre“ wird man in ihrem Text dennoch vergeblich suchen. Wegen der unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffes „Verbrechen“ in den einzelnen nationalen Rechtsordnungen zog man es vor, von „grave breaches“ beziehungsweise „infractions graves“ zu sprechen.147 Für solche schweren Verletzungen ordnen die Konventionen zum ersten Mal – wir befinden uns im Jahre 1949, also 21 Jahre vor Abschluss der Haager Konvention – ein weder zwischen Staatsangehörigen des Zufluchtsstaates oder Ausländern noch zwischen einzelnen Gründen für die Nichtauslieferung differenzierendes Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot an148: „Each High Contracting Party shall be under the obligation to search for persons alleged to have committed, or to have ordered to be committed, such grave breaches, and shall bring such persons, regardless of their nationality, before its own courts. It may also, if it prefers, and in accordance with the provisions of its own legislation, hand such persons over for trial to another High Contracting Party, [. . .]“.149
Doch nicht nur in dieser Hinsicht weichen die Genfer Konventionen von älteren „aut dedere – aut iudicare“-Verträgen ab. Anders als in den Auslieferungsverträgen des 19. Jahrhunderts, aber auch anders als in den für Ausländer geltenden Vorschriften der Falschmünzerkonvention von 1929, wird in den Genfer Übereinkommen erstmals nirgends ausdrücklich erwähnt, dass die Strafverfolgungspflicht des Zufluchtsstaates erst entsteht, wenn ein anderer Staat durch Stellung eines Auslieferungsersuchens sein Strafinteresse kundgetan hat. Und anders als nach dem Modell von 1929 wird nun 146
Vgl. Pictet, S. 394. G. und R. Abi-Saab, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 271 f., 280; Pictet, S. 417. Solche „schweren Verletzungen“ der Konventionen sind namentlich vorsätzliche Tötung, Folterung, unmenschliche Behandlung, vorsätzlich verursachte schwere körperliche Leiden oder schwere Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit oder der Gesundheit der durch die jeweiligen Abkommen geschützten Personen sowie rechtswidrige und willkürliche, über die militärischen Erfordernisse hinausgehende Zerstörung oder Aneignung geschützter Güter, der Zwangsdienst von Kriegsgefangenen oder Zivilpersonen in der feindlichen Armee, der Entzug des diesen Personen zustehenden Rechts auf ein faires Gerichtsverfahren sowie die rechtswidrige Verschleppung, Gefangennahme oder Geiselnahme von Zivilpersonen (vgl. Art. 50 GK I; Art. 51 GK II; Art. 130 GK III; Art. 147 GK IV). Erst das 1. Zusatzprotokoll von 1977 (BGBl. 1990 II 1550) – das diese Liste überdies noch einmal beträchtlich erweitert – hat in Art. 85 offiziell die Bezeichnung „war crimes/crimes de guerre“ eingeführt (vgl. hierzu auch G. und R. Abi-Saab, in: Ascensio/Decaux/ Pellet, S. 272; Henzelin, S. 358; ausführlich Green, Law of Armed Conflict, S. 298 ff.). 148 Zu diesbezüglichen Differenzierungen in früheren Verträgen siehe oben 2. Kapitel E. I. 2. und 3. sowie H. I. 1. 149 Art. 49 II GK I; Art. 50 II GK II; Art. 129 II GK III; Art. 146 II GK IV. 147
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
auch sichergestellt, dass das Strafrecht des Zufluchtsstaates auf Auslandstaten eines ausländischen Flüchtigen anwendbar ist: The High Contracting Parties undertake to enact any legislation necessary to provide effective penal sanctions for persons committing, or ordering to be committed, any of the grave breaches of the present Convention defined in the following Article.150
Auch wenn diese Bestimmung sich dem Wortlaut nach durchaus nur auf die Tatbestände des „Besonderen Teils“ des nationalen Strafrechts beziehen könnte, ohne auch dessen Anwendungsbereich regeln zu wollen, wurde sie dennoch von Anfang an nahezu einhellig auch als Pflicht zur Übernahme des Weltrechtsprinzips verstanden.151 Im Ergebnis ähnelt das „Genfer“ „aut dedere – aut iudicare“ von 1949 also in vielerlei Hinsicht dem späteren „Haager Modell“ von 1970: Der Zufluchtsstaat wird – anscheinend unabhängig davon, ob ein anderer Staat überhaupt ein Auslieferungsersuchen gestellt hat152 – verpflichtet, Aus- wie Inländer gleichermaßen für Auslandstaten zu verfolgen, sofern er diese – aus welchem Grund auch immer – nicht ausliefert, und muss ferner dafür sorgen, dass sein nationales Strafrecht in solchen Fällen auch anwendbar ist. Allerdings verwenden die Genfer Konventionen hierfür vollkommen andere Formulierungen, als sie im Rahmen des „Haager Modells“ üblich sind. Dies könnte sich vor allem bei der Frage, welche Pflichten das „iudicare“ umfasst, inhaltlich auswirken. Spricht die Haager Konvention hier recht zurückhaltend von „to submit the case to its competent authorities for the purpose of prosecution“, so heißt es in den Genfer Konventionen scheinbar strikter „shall bring such persons [. . .] before its own courts“. Ob dies wirklich einen Unterschied macht, wird im 4. Kapitel näher zu erörtern sein. Eins ist jedoch jetzt schon anzumerken: Anders als die Regelungstechniken der Falschmünzerkonvention von 1929 und der Haager Konvention von 1970 haben die Formulierungen der Genfer Konventionen keine Nachahmung in der späteren Vertragspraxis gefunden, sondern sind bis heute ein Solitär geblieben.
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Vgl. Art. 49 I GK I; Art. 50 I GK II; Art. 129 I GK III; Art. 146 I GK IV. Vgl. v. a. den großes Ansehen genießenden frühen Kommentar von Pictet, S. 404 (wo von „universalité de juridiction“ die Rede ist) und S. 410 (wonach die Staatsangehörigkeit des Täters für die Anwendbarkeit der nationalen Strafvorschriften unbeachtlich sein muss); aus der späteren Lit. und Rspr. auch BayObLG, NJW 1998, S. 392 (394 f.); Swart, in: Cassese/Gaeta/Jones, S. 1639 (1659 f.). Zweifelnd dagegen Bassiouni, Va. J. Int. Law 42 (2001), S. 81 (116 f.). 152 Dazu eingehender unten, 4. Kapitel A. III. 151
A. Vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen
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b) Die Abkommen gegen das Söldnerwesen Lange Zeit waren Rekrutierung, Ausbildung und Einsatz von Söldnern ein üblicher und allseits respektierter Bestandteil der Kriegsführung. Erst im Rahmen der „nationalen Befreiungskriege“ der Kolonialvölker gerieten diese Praktiken – derer sich die Kolonialmächte in bedeutendem Maße bedienten – in Verruf.153 Die Verträge, in denen solche Handlungsweisen kriminalisiert und mittels eines „aut dedere – aut iudicare“ bekämpft werden, sind auch heute noch entweder rechtlich oder doch zumindest faktisch auf die vormals unter Kolonialherrschaft leidenden Staaten beschränkt: Zum einen handelt es sich um einen nur afrikanischen Staaten offen stehenden Vertrag154, zum anderen um ein eigentlich universell angelegtes Abkommen im Rahmen der UN155, das aber vorwiegend Staaten der Dritten Welt ratifiziert haben.156 Das „aut dedere – aut iudicare“ der UN-Antisöldnerkonvention ist eine fast wortgetreue Wiedergabe des „Haager Modells“ in der Variante der UN-Geiselnahmekonvention von 1979.157 Dagegen setzt die ältere afrikanische Söldnerkonvention stärker eigene Akzente. Zwar enthält sie unter der Überschrift „Compétence“ in Artikel 8 eine Art „jurisidictional clause“, die inhaltlich dem Artikel 4 Absatz 2 Hager Konvention entsprechen dürfte, auch wenn sie in der Formulierung deutlich von ihm abweicht,158 zur Absicherung der Anwendung dieser Strafbestimmung im Einzelfall differenziert Artikel 9 aber anders als die Haager Konvention nach der Staatsangehörigkeit des Täters. Der Fall eines eigenen Bürgers des Zufluchtsstaates wird in Ab153
Henzelin, S. 362; ähnl. Ghérari, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 467. Convention de l’OUA sur l’élimination du mercenariat en Afrique, 03.07.1977 (im Internet unter http://www.icrc.org/dih.nsf abrufbar), der lt. ihrem Art. 14 I nur Mitgliedstaaten der OAU (jetzt AU) beitreten können. 155 International Convention against the Recruitment, Use, Financing and Training of Mercenaries, 04.12.1989, ILM 29 (1990), S. 91 ff. 156 Unter den 26 Vertragsstaaten dieser Konvention sind nur 5 europäische Staaten (Belgien, Zypern, Kroatien, Italien sowie die Ukraine) und kein nordamerikanischer Staat zu finden (Stand: 01.08.2005; Quelle: http://www.icrc.org/dih.nsf). 157 Vgl. Art. 8 II und 12 mit Art. 5 II und 8 I UN-Geiselnahmekonvention (wobei letztere die Strafverfolgungsbehörden verpflichtet, wie bei einem „ordinary offence of a grave nature“ vorzugehen, während bei der UN-Antisöldnerkonvention nur von „offence of a grave nature“ – ohne das „ordinary“ – die Rede ist). Auch Henzelin, S. 364 f. und Bassiouni/Wise, S. 17 zählen sie zum „Haager Modell“, ohne allerdings die besondere Nähe zur Geiselnahmekonvention zu erwähnen, während Treves, AFDI 1990, S. 520 (523) diese zwar sieht, dafür aber das Haager „Urvorbild“ verschweigt. 158 Vgl. auch Henzelin, S. 363. Die Vorschrift lautet: „Chaque Etat contractant s’engage à prendre les mesures nécessaires pour punir, conformément à l’article 7 de la présente convention, tout individu trouvé sur son territoire et qui aurait commis l’infraction définie à l’article 1er de la présente convention, s’il ne l’extrade pas vers l’Etat contre lequel l’infraction a été commis.“ 154
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
satz 3 geregelt, alle übrigen Fälle in Absatz 2.159 Dennoch gilt im Ergebnis für beide das gleiche: Die Ablehnung eines Auslieferungsersuchens ist nur möglich, wenn der Täter anschließend im Zufluchtsstaat strafrechtlich verfolgt wird. Insofern besteht – zumal auch hier nicht an unterschiedliche Ablehnungsgründe unterschiedliche Rechtsfolgen geknüpft werden – nur textlich, nicht aber inhaltlich ein Unterschied zum von der UN-Antisöldnerkonvention übernommenen „Haager Modell“. Eine möglicherweise bedeutsame Abweichung liegt jedoch darin, dass die afrikanische Konvention ausdrücklich erwähnt, dass erst dann strafrechtlich verfolgt werden muss, wenn ein anderer Staat tatsächlich ein Auslieferungsersuchen gestellt hat. Auch fehlt eine Artikel 7 Satz 2 Haager Konvention vergleichbare Vorschrift, die den nationalen Strafverfolgungsbehörden einen verbindlichen Maßstab für ihre Entscheidungen vorschreibt. Diese beiden Abweichungen stellen den Täter unter der afrikanischen Konvention möglicherweise160 günstiger als unter der UN-Antisöldnerkonvention. Wenn erste in der Literatur teilweise als strenger bezeichnet wird161, dann trifft dies also jedenfalls hinsichtlich der Ausgestaltung des „aut dedere – aut iudicare“ nicht zu. c) Der Schutz von Kulturgütern in bewaffneten Konflikten Die vorerst jüngste vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelung im Bereich der Kriegsverbrechen162 enthält das 2. Zusatzprotokoll zur „Konvention vom 14. Mai 1954 zum Schutze von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten“ vom 26. März 1999. Sein Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot ist eng an das „Haager Modell“ angelehnt: Artikel 16 Absatz 1 c) verpflichtet die Staaten ähnlich der Regelung des Artikel 4 Absatz 2 Haager Konvention, ihr Strafrecht auf in ihrem Territorium anwesende Personen zu erstrecken, die im Ausland besonders geschützte Kulturgüter militärisch angegriffen oder zu militärischen Zwecken missbraucht oder in großem Umfange andere geschützte Kulturgüter zerstört oder sich angeeignet haben. Artikel 17 Absatz 1 schreibt dann in einer der Formulierung nach an 159 Absatz 2 lautet: „Une demande d’extradition ne peut être refusée, à moins que l’Etat requis ne s’engage à poursuivre le délinquant conformément à l’article 8 de la présente convention.“ Absatz 3 lautet: „Lorsqu’un national est l’objet de la demande d’extradition, l’Etat requis devra, si l’extradition est refusée, engager des poursuites pour l’infraction commise.“ 160 Für eine eingehende Auseinandersetzung mit den Auswirkungen beider Regelungen vgl. unten, 4. Kapitel C. III. 1., 2., und v. a. 4. 161 So etwa von Ghérari, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 471. 162 Anders als das „grave breaches“-Regime der Genfer Konventionen, ist das 2. Zusatzprotokoll zur Kulturgüterschutzkonvention nach seinem Art. 22 I unzweifelhaft auch in innerstaatlichen bewaffneten Konflikten anwendbar und regelt damit teilweise auch „Bürgerkriegsverbrechen“.
A. Vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen
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Artikel 7 UN-Diplomatenschutzkonvention angelehnten Variation des „Haager Modells“ vor, dass der Zufluchtsstaat seine Strafverfolgungsbehörden mit einem solchen Fall zu befassen hat, wenn er den Täter nicht ausliefert. Damit fehlt namentlich der in der Haager Konvention selbst enthaltene Hinweis, dass das Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden den Standards zu entsprechen hat, die diese auf gewöhnliche Schwerverbrechen anwenden. Im Ergebnis weitreichender ist aber sicherlich folgende Einschränkung des „aut dedere – aut iudicare“, die das Protokoll im Vergleich zum Haager Vorbild enthält: Nach seinem Artikel 16 Absatz 2 b) gilt das Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot nicht für Staatsangehörige von Staaten, die das Protokoll nicht ratifiziert haben.163 2. Völkermord Völkermord ist wohl das abscheulichste aller Verbrechen. Es überrascht daher nicht zu lesen, dass auch hier ein „aut dedere – aut iudicare“ gelte.164 Diese Ansicht scheint ihre Stütze in Artikel I der Völkermordkonvention165 zu finden: „The Contracting Parties confirm that genocide whether committed in time of peace or in time of war, is a crime under international law which they undertake to prevent and to punish.“166
Diese Bestimmung hat jedoch nur programmatischen Charakter.167 Die konkreten Strafverfolgungs- und Auslieferungspflichten sind in den Artikeln VI und VII geregelt,168 die leges speciales zum generellen Artikel I darstellen. Dort aber ist kein an den Zufluchtsstaat adressiertes Gebot zur Strafverfolgung bei Nichtauslieferung zu finden. Artikel VI erlegt Verfolgungspflichten nur dem Tatortstaat und einem eventuellen internationalen Strafgericht auf:169 163 Außer, diese Personen haben in den Streitkräften einer Vertragspartei des Protokolls gedient. 164 So bspw. Shachor-Landau, ICLQ 1980, S. 274 (277); Steven, Va. J. Int. Law 39 (1999), S. 425 (460 f.); wohl auch Schmidt, Externe Strafpflichten, S. 94; Dahm/ Delbück/Wolfrum, I/3, S. 1086; Jennings/Watts, S. 953; diff. Schabas, Genozid, S. 528, der eine solche Pflicht in der Konvention zwar nicht ausdrücklich verankert sieht, sie aber einer Gesamtschau der Art. I, IV, V, VI und VII entnimmt. 165 Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 09.12.1948 (BGBl. 1954 II 730). 166 Hervorhebung nicht im Original. 167 So auch der schweizerische Bundesrat in seiner Botschaft zur Völkermordkonvention vom 31.03.1999, Bundesblatt 1999, S. 5327 (5338). 168 Vgl. auch Jescheck, EPIL II, S. 542. 169 So auch Jescheck, EPIL II, S. 542.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
„Persons charged with genocide [. . .] shall be tried by a competent tribunal of the State in the territory of which the act was committed, or by such international penal tribunal as may have jurisdiction in respect to those Contracting Parties which shall have accepted its jurisdiction.“
Im Gegensatz dazu hatte der Entwurf des Generalsekretärs170 noch ein „aut dedere – aut iudicare“ vorgesehen, das sich aus dem Zusammenspiel folgender Vorschriften ergab: Artikel VII „The High Contracting Parties pledge themselves to punish any offender under this Convention within any territory under their jurisdiction, irrespective of the nationality of the offender or of the place where the offense has been committed.“ Artikel VIII Absatz 2 „The High Contracting Parties pledge themselves to grant extradition in cases of genocide“.
Die offizielle Kommentierung betonte die Alternativität beider Handlungsmöglichkeiten. Durch die Auslieferung des Beschuldigten nach Artikel VIII Absatz 2 würde der Zufluchtsstaat von seiner Strafverfolgungspflicht nach Artikel VII frei; er dürfe umgekehrt aber auch ein Auslieferungsbegehren jederzeit ablehnen, wenn er selbst nach Artikel VII vorgehe.171 Das ad-hoc-Komitee des ECOSOC ersetzte diese Regelung jedoch durch die Artikel VII und IX seines Entwurfes172, die im Wesentlichen den späteren Artikeln VI und VII der Genozidkonvention entsprachen. Man sah das Weltrechtsprinzip als einen zu starken Eingriff in die nationale Souveränität des Tatortstaates an. So argumentierten beispielsweise der sowjetische, der US-amerikanische und der französische Delegierte, wobei letzterer noch zusätzlich befürchtete, das Weltrechtsprinzip könnte eine parteiische oder unfaire Strafverfolgung begünstigen.173 Auch später wurde im zuständigen Ausschuss der Generalversammlung ein iranischer Vorschlag, das Weltrechtsprinzip zur Vermeidung von Strafverfolgungslücken wenigstens für den Fall anzuerkennen, dass der Tatortstaat kein Auslieferungsersuchen beim Zufluchtsstaat stellt, aus ähnlichen Gründen zurückgewiesen.174 Diese 170
Abgedruckt bei Robinson, S. 122 ff. Vgl. Lippmann, TICLJ 8 (1994), S. 1 (64); Schabas, Genozid, S. 529. Art. IX des Entwurfs sah darüber hinaus als dritte Möglichkeit die Überstellung an ein internationales Strafgericht vor. 172 Der Entwurf ist abgedruckt bei Robinson, S. 131 ff. 173 Vgl. Lippman, TICLJ 8 (1994), S. 1 (58 und 60); Robinson, S. 31; Schabas, Genozid, S. 469 f. 174 Vgl. hierzu Lippman, TICLJ 8 (1994), S. 1 (63); Robinson, S. 82 f. und Schabas, Genozid, S. 471 f. Die Entscheidung fiel mit deutlichen 29 zu 6 Stimmen bei 10 Enthaltungen. 171
A. Vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen
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Opposition der Staaten gegen den Entwurf des Generalsekretärs bezog sich nicht nur auf die dort vorgesehene Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflicht des Zufluchtsstaates. Nicht einmal ein Bestrafungsrecht wurde ihm allgemein zuerkannt: Aus der Entstehungsgeschichte der Völkermordkonvention ergibt sich zwar, dass Artikel VI nur die Bestrafungspflichten regeln sollte,175 dem kann aber entgegen einer in der heutigen Literatur verbreiteten Ansicht176 nicht entnommen werden, dass daneben jedem beliebigen Staat ein Bestrafungsrecht eingeräumt worden wäre. Alle in den travaux préparatoires als zulässig erwähnten Beispiele für die Verfolgung eines Völkermörders durch andere als die in Artikel VI genannten (tatortstaatlichen oder internationalen) Gerichte betrafen Fälle, in denen der strafverfolgungswillige Staat über die Staatsangehörigkeit des Täters oder möglicherweise auch die der Opfer einen „genuine link“ zur Tat besaß.177 Bei Bestehen eines solchen Anknüpfungspunktes darf nach allgemeinem Völkerrecht ohnehin jede Straftat von dem betreffenden Staat verfolgt werden;178 es wäre in der Tat verwunderlich, wenn die Völkermordkonvention diese Kompetenz gerade für den Genozid einschränken würde. Der zuständige Ausschuss der Generalversammlung konnte zutreffend davon sprechen, das Bestrafungsrecht nach dem aktiven Personalprinzip werde durch Artikel VI „nicht berührt“,179 denn es bestand schon vorher nach allgemeinen gewohnheitsrechtlichen Grundsätzen; musste also durch die Völkermordkonvention nicht erst begründet, sondern lediglich respektiert werden. Dagegen 175
Vgl. die entsprechende, bei Lippman, TICLJ 8 (1994), S. 1 (62 f.) und Robinson, S. 84 zitierte Einlassung der brasilianischen Delegation. 176 Vgl. bspw. Stern, GYIL 40 (1997), S. 280 (286); IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000 (République Démocratique du Congo c. Belgique), Urteil vom 14.02.2002, sep. op. Higgins/Kooijmans/Buergenthal, Ziff. 27; Bungenberg, AVR 39 (2001), S. 170 (188); wohl auch Lippman, TICLJ 8 (1994), S. 1 (83). 177 Einmal ging es um einen Vorschlag Indiens, das durch eine Ergänzung des Vertragstextes ausdrücklich klarstellen wollte, dass ein Staat seine eigenen Staatsbürger für im Ausland begangenen Völkermord nach dem aktiven Personalprinzip strafrechtlich verfolgen dürfe. Dieser Antrag wurde zurückgezogen, nachdem der zuständige Ausschuss folgende Passage in seinen Bericht an die UN-Generalversammlung aufgenommen hatte: „None of the provisions of article VI affected the right of any State to bring any of its nationals to trial before its own courts for acts committed outside its territory“ (vgl. Lippman, TICLJ 8 (1994), S. 1 (62); Robinson, S. 83; ausführlich Schabas, Genozid, S. 472 ff.). Ein weiteres Mal – und es war in diesem Zusammenhang, in dem die oben in Fn. 175 erwähnte Äußerung der brasilianischen Delegation fiel – hatte Schweden vorgeschlagen, eine Strafverfolgungskompetenz des Heimatstaates der Opfer ausdrücklich in der Konvention zu verankern: dieser Vorschlag war unter den Staaten umstritten, da einige von ihnen das passive Personalprinzip grundsätzlich ablehnten, und wurde schließlich ebenfalls fallengelassen (vgl. Lippman, TICLJ 8 (1994), S. 1 (62 f.); Robinson, S. 84). 178 Vgl. oben 1. Kapitel B. II. 3. und 4. 179 Vgl. Fn. 177.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
bedarf das Weltrechtsprinzip, also die Verfolgungskompetenz unabhängig von einem „genuine link“, einer speziellen vertraglichen oder gewohnheitsrechtlichen Erlaubnis,180 für die der Wortlaut der Völkermordkonvention keinen Anhaltspunkt liefert und die die Vertragsparteien ausweislich der Entstehungsgeschichte aus den oben angeführten Gründen auch nicht erteilen wollten. Eine Bestrafungspflicht, ja sogar ein Bestrafungsrecht des Zufluchtsstaates hat die übergroße Mehrzahl der Verhandlungspartner also abgelehnt.181 Aber auch zu einer Auslieferungspflicht vermochten sie sich nicht durchzuringen. Artikel VII Völkermordkonvention regelt zur Auslieferung nur folgendes: „Genocide and the other acts enumerated in article III shall not be considered as political crimes for the purpose of extradition. The Contracting Parties pledge themselves in such cases to grant extradition in accordance with their laws and treaties in force.“182
Die Wendung „in accordance with their laws and treaties in force“, die auf einen einstimmigen Beschluss des ad-hoc-Komitees zurückgeht,183 macht deutlich, dass – wie auch in den Beratungen des Generalversammlungsausschusses betont wurde184 – allein aufgrund der Völkermordkonvention keine Auslieferungspflicht besteht. Die Vertragsstaaten dürfen lediglich die Auslieferung eines mutmaßlichen Völkermörders nicht mit Hinweis auf die Auslieferungsausnahme für politische Straftaten verweigern und müssen im Übrigen ihre bestehenden Auslieferungsgesetze und -verträge ordnungsgemäß auf Völkermörder anwenden.185 Ist der Zufluchtsstaat also gegenüber dem ersuchenden Staat von vornherein nicht durch einen Auslieferungsvertrag gebunden oder wird in diesem Völkermord nicht als Auslieferungsdelikt erwähnt186, darf er die Auslieferung eines Völkermörders unter Verweis auf das Fehlen einer entsprechenden Vertragspflicht verweigern, sofern sie nicht durch sein eigenes nationales Recht vorgeschrieben sein sollte.187 Für sich genommen stellt es ihm die Völkermordkonvention also 180
Vgl. oben 1. Kapitel B. II. 7. Wie hier im Ergebnis auch: Henzelin, S. 339 f.; Tomuschat, in: FS Steinberger, S. 315 (330); Oehler, in: FS Carstens, S. 435 (442); Oeter, ZaöRV 1993, S. 1 (34); Jescheck, EPIL II, S. 542 f.; Schabas, Genozid, S. 477. 182 Hervorhebung nicht im Original. 183 Lippman, TICLJ 8 (1994), S. 1 (64); Schabas, Genozid, S. 526. 184 Vgl. Lippman, TICLJ 8 (1994), S. 1 (65); Robinson, S. 88. 185 Vgl. auch Robinson, S. 88 f.; Vest, Genozid, S. 68, die überdies auch noch nationale Regelungen, die die Auslieferungsmöglichkeit für Völkermord stärker einschränken als für andere Schwerverbrechen, für verboten halten. 186 Dazu, dass die Völkermordkonvention im Gegensatz zu anderen „international crime conventions“ (vgl. dazu unten 4. Kapitel B. IV.) nicht einmal bestimmt, dass Völkermord automatisch in den Anwendungsbereich bestehender Auslieferungsverträge einbezogen wird Robinson, S. 88. 181
A. Vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen
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fast völlig frei, ob er ausliefert oder nicht.188 Eine Strafverfolgungspflicht trifft ihn aufgrund dieses Vertrages – wie gesehen – auch bei Nichtauslieferung nicht. Ohne einen „genuine link“ zur Tat darf er sogar nicht einmal eigene Strafverfolgungsmaßnahmen einleiten; besitzt er einen solchen – etwa weil der Täter seine Staatsangehörigkeit hat – steht die Einleitung oder Nichteinleitung eines Strafverfahrens aus völkervertragsrechtlicher Sicht in seinem freien Belieben. Fassen wir also zusammen: Für das schwerwiegendste aller „international crimes“, den Völkermord, ist vertraglich kein „aut dedere – aut iudicare“ angeordnet.189 Die Bestrafungspflicht trifft nach der Völkermordkonvention nur den Tatortstaat; nicht einmal ein Bestrafungsrecht des Zufluchtsstaates nach dem Weltrechtsprinzip findet in ihr eine Stütze. Zu Recht wird dieses Repressionsregime als völlig unzureichend bezeichnet.190 Ob das Gewohnheitsrecht oder die „subsequent practice“ der Vertragsstaaten bei der Auslegung und Anwendung der Völkermordkonvention die Rechtslage inzwischen verbessert haben, wird später zu erörtern sein.191 3. Folter Das Folterverbot gehörte quasi zu den „Menschenrechten der ersten Stunde“. Schon die rechtlich unverbindliche Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 ächtete in ihrem Artikel 5 Folter sowie grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe; die späteren Menschenrechtskonventionen folgten diesem Vorbild.192 Diese 187 Verbietet sein nationales Recht dagegen Auslieferungen ohne vertragliche Grundlage – wie dies traditionell in vielen anglo-amerikanischen Rechtsordnungen üblich ist (vgl. Shearer, S. 28; Carter/Trimble, S. 795; Weston/Falk/Charlesworth, S. 503) – bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als das Ersuchen zurückzuweisen: Anders als viele Antiterrorverträge (vgl. oben 4. Kapitel B. III. 1. bei Fn. 76) räumt die Völkermordkonvention den Vertragsparteien nicht einmal die Möglichkeit ein, bei Fehlen eines Auslieferungsvertrags zwischen ihnen die Konvention selbst als Rechtsgrundlage der Auslieferung anzusehen (dazu auch Schabas, in: Ascensio/ Decaux/Pellet, S. 331). 188 A. A. dagegen Schabas, Genozid, S. 527 f., nach dessen Ansicht Art. VII die Auslieferung von Völkermördern vorschreibt und nur in bestimmten Ausnahmefällen – etwa bzgl. eigener Bürger oder bei Drohen der Todesstrafe im ersuchenden Staat – die Nichtauslieferung zulässt. 189 So im Ergebnis auch Vest, Genozid, S. 68; Lippman, TICLJ 8 (1994), S. 1 (83). 190 So beispielsweise von Jescheck, EPIL II, S. 542 f. 191 Vgl. unten B. I. 1. b). 192 Vgl. Art. 3 EMRK, Art. 5 II AMRK; Art. 5 S. 2 Af. Ch. MR; Art. 7 S. 1 IPbpR.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
Vorschriften erlegen allerdings dem Staat nur die Pflicht auf, solche Vorgehensweisen zu unterlassen. Eine Pflicht des Zufluchtsstaates zur Strafverfolgung- oder Auslieferung des „Folterknechts“ konnte dagegen – sieht man von dem durch die Genfer Konventionen geregelten Sonderfall der Folter in internationalen bewaffneten Konflikten einmal ab193 – erst spät vereinbart werden. Eine solche Regelung sah erstmals 1984 die UN-Folterkonvention194 und dann ein Jahr später ihr im Rahmen der OAS ausgearbeitetes regionales amerikanisches Pendant195 vor.196 Dabei folgt die UN-Konvention nahezu wortgetreu dem „Haager Modell“,197 das hier zum ersten Mal außerhalb seines ursprünglichen Kontextes der Terrorismusbekämpfung eingesetzt wurde. Es zeigte sich nun, dass die 1970 in Den Haag mühsam ausgehandelte Lösung für die Vertragspraxis in allen Bereichen des internationalen Strafrechtes richtungsweisend war. Die nahezu zeitgleich mit der UN-Folterkonvention abgeschlossene OASFolterkonvention ging jedoch einen anderen Weg. Zwar entspricht ihre in Artikel 12 Absatz 2 zu findende „jurisdictional clause“ weitgehend dem Artikel 4 Absatz 2 Haager Konvention, und auch die in Artikel 14 Satz 1 geregelte Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflicht im Einzelfall ist auf den ersten Blick nah am „Haager Modell“ formuliert: When a Party does not grant the extradition, the case shall be submitted to its competent authorities as if the offence had been committed within its jurisdiction, for the purpose of investigation and when appropriate, for criminal action, in accordance with its national law.
Eine aufmerksame Lektüre fördert jedoch schon einen ersten möglicherweise inhaltlich relevanten Unterschied zu Artikel 7 Haager Konvention zu Tage: Anstatt von einer Befassung der Strafverfolgungsbehörde „for the purpose of prosecution“ ist in der OAS-Folterkonvention nur von einer Befassung „for the purpose of investigation and when appropriate, for criminal action“ die Rede. Es fehlt überdies die in Artikel 7 Satz 2 Haager Konvention enthaltene Vorschrift, dass die Strafverfolgungsbehörde den Fall nach denselben Standards zu behandeln habe, die sie für gewöhnliche Schwerverbrechen anwendet. Stattdessen finden wir – wie schon in Artikel 7 UN-Di193
Vgl. dazu oben 1. a). Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, 10.12.1984, BGBl. 1990 II, 246; ILM 23 (1984), S. 1027 ff. 195 Inter-American Convention to Prevent and Punish Torture, 09.12.1985; ILM 25 (1986), S. 519 ff. 196 Vgl. hierzu auch Delaplace, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 370. 197 So bspw. auch Henzelin, S. 348 f.; Burgers/Danelius, S. 131/136; Bassiouni/ Wise, S. 17. 194
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plomatenschutzkonvention und in Artikel 10 der Konvention zum Schutz von Nuklearmaterial – nur den Hinweis auf ein Vorgehen in Übereinstimmung mit den eigenen nationalen Gesetzen. Möglicherweise verlangt das „iudicare“ von der zufluchtsstaatlichen Justiz hier also weniger als unter dem Regime der Haager Konvention. Könnte man dies noch als geringfügige Variation des „Haager Modells“ durchgehen lassen, so tut sich jedoch ein grundsätzlicher Unterschied zwischen diesem und der OAS-Folterkonvention auf, wenn man deren Artikel 14 Satz 2 betrachtet. Mit der Regelung Any decision adopted by these authorities shall be communicated to the state that has requested the extradition.198
wird dort nicht nur eine Informationspflicht des Zufluchtsstaates über seine Strafverfolgungsmaßnahmen – wie sie auch andere „international crime conventions“ kennen199 – begründet, sondern gleichzeitig angedeutet, dass die Strafverfolgungspflicht nach Satz 1 nur in Fällen eingreift, in denen der Zufluchtsstaat von einem anderen Staat um die Auslieferung des Täters ersucht wurde. Die Abweichung zum lediglich von „if it does not extradite him“ sprechenden „Haager Modell“ ist hier so groß, dass die OAS-Konvention keineswegs pauschal diesem zugerechnet werden kann,200 sondern im weiteren Verlauf dieser Arbeit als eigenständiger Fall auf die inhaltliche Ausgestaltung des „aut dedere – aut iudicare“ hin untersucht werden muss.201 4. Zwangsweises Verschwindenlassen von Personen Ein Abkommen zur Unterdrückung und strafrechtlichen Verfolgung einer staatlichen Praxis des „Verschwindenlassens“ unliebsamer Personen ist bisher lediglich auf der regionalen amerikanischen Ebene zustande gekommen.202 Dies hängt sicherlich – ähnlich der oben erwähnten regionalen Be198
Hervorhebung nicht im Original. Vgl. dazu unten, 4. Kapitel A. I. 200 So aber Bassiouni/Wise, S. 18, die nur von einer Variante des Haager Modells sprechen. 201 Dies wird im 4. Kapitel erfolgen. 202 Inter-American Convention on the Forced Disappearance of Persons, 09.06.1994, ILM 33 (1994), S. 1529 ff. Für im Rahmen eines bewaffneten Konflikts begangenes „Verschwindenlassen“ tritt dieses Abkommen allerdings hinter die Genfer Konventionen und ihre Zusatzprotokolle zurück (vgl. Art. XV) – eine Kollisionsregel, die ähnlich auch schon in Art. 12 UN-Geiselnahmekonvention zu finden war. Ein im Rahmen der UN angesiedeltes weltweites Abkommen gegen das „Verschwindenlassen“ ist bisher im Entwurfsstadium stecken geblieben (s. bspw. http:// www.ohchr.org/english/issues/disappear/docs/E.CN.4.2005.WG.22.CRP.1.pdf; der Entwurf wird bei de Frouville, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 378 ff. ausführlich vorgestellt). 199
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
schränktheit der Vorschriften gegen das Söldnerwesen – mit dem historischen Kontext zusammen, in dem dieses Phänomen entstanden ist. Denn im Südamerika der 1970er und 1980er Jahre wurde ein solches „Verschwindenlassen“ erstmals in großem Umfange praktiziert.203 Das für den Fall der Flucht des Täters ins Ausland vorgesehene „aut dedere – aut iudicare“ entspricht dem der OAS-Folterkonvention.204
III. Die Bekämpfung der organisierten und sonstigen „gewöhnlichen“ Schwerkriminalität Auch im Rahmen des Kampfes gegen die verschiedenen Erscheinungsformen des organisierten Verbrechens und andere „gewöhnliche“ Schwerkriminalität wurden eine Reihe von multilateralen Verträgen mit „aut dedere – aut iudicare“-Vorschriften abgeschlossen. 1. Die Bekämpfung des Drogenhandels Die Bekämpfung des Drogenhandels ist heute im Wesentlichen in drei Verträgen geregelt: dem durch ein Zusatzprotokoll von 1972205 geänderten Einheitsübereinkommen über Suchtstoffe vom 30. März 1961206, dem Übereinkommen über psychotrope Stoffe vom 21. Februar 1971207 und dem UN-Übereinkommen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen vom 20. Dezember 1988208. Ältere Antidrogenverträge wurden größtenteils durch Artikel 44 des Einheitsübereinkommens außer Kraft gesetzt,209 lediglich die bereits erwähnte Konvention von 1936 blieb zum Teil – insbesondere hinsichtlich der „aut dedere – aut iudicare“-Bestimmungen – in Kraft. Oft ist zu lesen, das Suchtstoffeeinheitsübereinkommen und die Konvention gegen psychotrope Stoffe würden sich an ihr „aut dedere – aut iudicare“ – und damit letztlich an das Modell der Falschmünzerkonvention von 1929 – anlehnen.210 Tatsächlich bleiben sie aber deutlich dahinter zurück: 1929 wurden die Staaten verpflichtet, Strafverfolgungsmaßnahmen gegen ihre eigenen Bürger einzuleiten, wenn diese 203
Vgl. de Frouville, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 377. Vgl. Art. IV Absatz 2 und Art. VI mit Art. 12 II und 14 OAS-Folterkonvention. Der UN-Konventionsentwurf folgt dagegen dem Haager Modell (vgl. dazu de Frouville, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 382 f.). 205 BGBl. 1975 II 2. 206 BGBl. 1973 II 1353. 207 BGBl. 1976 II 1477. 208 BGBl. 1993 II 1136. 209 Vgl. El Zein, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 583. 210 So bspw. bei Bassiouni/Wise, S. 14 sowie Henzelin, S. 326 bzw. 328. 204
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wegen des Prinzips der Nichtauslieferung eigener Bürger nicht für eine Auslandstat ausgeliefert werden konnten; sie mussten ferner dafür sorgen, dass ihr Strafrecht in solchen Fällen anwendbar ist. Diese Verfolgung musste selbst dann, wenn gar kein ausländischer Staat ein Auslieferungsersuchen gestellt hatte, aus eigener Initiative erfolgen. Ausländer mussten für Auslandstaten immerhin noch dann verfolgt werden, wenn der Zufluchtsstaat eine solch weite extraterritoriale Anwendung seines Strafrechts vorsah und ein Auslieferungsersuchen erhalten hatte.211 Nach dem Suchtstoffeeinheitsübereinkommen und der Konvention gegen psychotrope Stoffe ist es dagegen dem Zufluchtsstaat sowohl bezüglich Ausländern als auch bezüglich eigener Bürger frei überlassen, ob er sein Strafrecht auf ihre Auslandstaten erstreckt. Ordnet er freiwillig eine solche extraterritoriale Strafrechtsgeltung an, muss er eigene Bürger und Ausländer nur bei Vorliegen eines Auslieferungsersuchens auch tatsächlich strafrechtlich verfolgen.212 Die UN-Antidrogenkonvention ist dagegen einen Schritt näher am Modell von 1929, denn sie schreibt eine Erstreckung des Strafrechts des Zufluchtsstaates auf Auslandstaten seiner eigenen Staatsbürger vor, falls dem Prinzip der Nichtauslieferung eigener Bürger gefolgt wird.213 Aber auch jetzt sind diese ebenso wie Ausländer nur auf Ersuchen eines anderen Staates zu verfolgen.214 Erst recht folgt dieser Vertrag nicht dem noch strikteren „Haager Modell“, wie in der Literatur teilweise zu lesen ist.215 Von ihm ist sie zwar im Stil inspiriert,216 nicht jedoch hinsichtlich der wesentlichen Inhalte. Anders als nach Artikel 4 Absatz 2 Haager Konvention wird der Zufluchtsstaat nur ermächtigt, nicht aber verpflichtet, sein Strafrecht auf Auslandstaten von Ausländern auszudehnen.217 Nur wenn er von dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht hat, muss auch ein Ausländer bei Ablehnung eines Auslieferungsersuchens strafrechtlich verfolgt werden218 – während Artikel 7 Haa211
Vgl. oben 2. Kapitel H. II. 1. und 2. Vgl. Art. 36 II a) iv) Suchtstoffeeinheitsübereinkommen und Art. 22 II a) iv) der Konvention über psychotrope Stoffe. Art. 36 III bzw. 22 IV beider Verträge stellen ausdrücklich klar, dass die innerstaatlichen Bestimmungen über die Gerichtsbarkeit unberührt bleiben. 213 Vgl. Art. 4 II a) ii. 214 Vgl. Art. 6 IX a) und b) wo von „requesting Party“ die Rede ist. 215 So etwa Bassiouni/Wise, S. 14 und Wise, Israel Law Review, 27 (1993), S. 268 (274), wonach es sich um eine Mischung aus dem Haager Modell und dem Modell von 1929 handeln soll. 216 So wird etwa das „iudicare“ in Art. 6 IX UN-Antidrogenkonvention wie in Art. 7 Haager Konvention mit „submit the case to its competent authorities for the purpose of prosecution“ umschrieben, ohne dass allerdings der „national treatment standard“ aus Art. 7 S. 2 Haager Konvention übernommen worden wäre. 217 Vgl. Art. 4 II b). 218 Vgl. Art. 6 IX. 212
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ger Konvention weder einen entsprechenden Vorbehalt des nationalen Strafrechtsanwendungsrechts kennt, noch ausdrücklich darauf Bezug nimmt, dass ein Auslieferungsersuchen tatsächlich gestellt wurde. 2. Die Bekämpfung der Geldfälschung Die internationale Verfolgung von Geldfälschern beruht auch heute noch auf der schon im historischen Kapitel dargestellten Falschmünzerkonvention von 1929 und dem in ihr normierten „aut dedere – aut iudicare“.219 3. Der Versuch einer Bekämpfung der transnationalen organisierten Kriminalität insgesamt Ende der 1990er Jahre wurde im Rahmen der Vereinten Nationen der Versuch unternommen, nicht nur einzelne typische Erscheinungsformen der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität völkervertraglich zu bekämpfen, sondern dieses Phänomen umfassend zu regeln. Resultat war die am 15. November 2000 unterzeichnete „Convention des Nations Unies Contre la Criminalité Transnationale Organisée“.220 Sie erfasst die Gründung einer kriminellen Vereinigung, die Begehung bestimmter schwerer Verbrechen in deren Rahmen sowie die mit der organisierten Kriminalität zusammenhängende Bestechung, Geldwäsche und Behinderung der Justiz.221 Ihr „aut dedere – aut iudicare“ ist auf Auslandstaten eigener Bürger des Zufluchtsstaates beschränkt. Nur bezüglich dieser Fallgruppe muss der Zufluchtsstaat dafür sorgen, dass sein Strafrecht anwendbar ist; und nur in diesen Fällen muss er den Täter im Einzelfall auch tatsächlich strafrechtlich verfolgen, wenn ein anderer Staat ein Auslieferungsersuchen gestellt hat und dieses wegen des Prinzips der Nichtauslieferung eigener Staatsbürger abgelehnt wurde.222 Es ist diese letztgenannte Einschränkung, die den Un219 Vgl. Djermoun, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 477. Zur Konvention von 1929 siehe oben 2. Kapitel H. II. 1. 220 Zur Vorgeschichte des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität vgl. Dammann/Vlassis, VN 2001, S. 222 (222–224). 221 Vgl. Art. 3 I i. V. m. Art. 5, 6, 8 und 23 sowie 2 b.) der Konv. gegen org. Krim.; dazu auch Dammann/Vlassis, VN 2001, S. 222 (224 f.). Die jeweiligen Art. 1 II, III der drei Zusatzprotokolle erstrecken das Repressionssystem der Konvention auf den Menschenhandel, den Menschenschmuggel sowie die illegale Herstellung und den illegalen Verkehr mit Schusswaffen. 222 Vgl. Art. 15 III („Aux fins du paragraphe 10 de l’article 16 de la présente Convention, chaque État Partie adopte les mesures nécessaires pour établir sa compétence à l’égard des infractions visées par la présente Convention lorsque l’auteur présumé se trouve sur son territoire et qu’il n’extrade pas cette personne au seul
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terschied zu den Regelungen der Falschmünzerkonvention von 1929 in Bezug auf eigene Bürger des Zufluchtsstaates ausmacht: Dort waren diese auch dann zu verfolgen, wenn kein Auslieferungsersuchen gegen sie vorlag.223 Auch in Bezug auf Personen, die aus Sicht des Zufluchtsstaates Ausländer sind, bleibt die Konvention gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität hinter dem „Modell von 1929“ zurück, denn war dort ein „aut dedere – aut iudicare“ immerhin noch für den Fall geregelt, dass ein Zufluchtsstaat die Erstreckung seines Strafrechts auf Auslandstaten von Ausländern nicht generell ablehnt,224 so fehlt hier jedes Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot für Ausländer. Der Zufluchtsstaat wird nur ermächtigt, sein Strafrecht trotz fehlendem „genuine link“ abstrakt-generell auch auf Auslandstaten von Ausländern zu erstrecken – wie dies implizit auch nach dem „Modell von 1929“ der Fall war –, er wird aber nirgends verpflichtet, den Ausländer auch in jedem konkreten Einzelfall der Ablehnung eines Auslieferungsersuchens tatsächlich strafrechtlich zu verfolgen, falls er von dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht hat.225 Ein „aut dedere – aut iudicare“ – das sich gerade dadurch auszeichnet, dass es die Strafverfolgungsbehörden bei Nichtauslieferung zum Vollzug des Strafrechts im Einzelfall verpflichtet –226 ist diese, auf die rein abstrakt-generelle Ebene, also die „Gesetzgebung“ im materiellen Sinne, beschränkte Regelung nicht. Bleibt das „aut dedere – aut iudicare“ der UN-Konvention gegen grenzüberschreitende transnationale Kriminalität damit hinsichtlich der Frage, wann es eingreift, weit hinter dem im Rahmen der Terrorismusbekämpfung dominierenden „Haager Modell“ zurück, so lehnt es sich hinsichtlich der Umschreibung der „Strafverfolgungspflicht“ eng an dieses an: Auch hier ist in Artikel 16 Absatz 10 wie in Artikel 7 Haager Konvention von „soumettre l’affaire [. . .] à ses autorités compétentes aux fins de poursuites“ die Rede und der nach nationalem Recht und nationaler Praxis für Schwerverbrechen übliche Standard als Leitlinie des Vorgehens dieser Behörden festgeschrieben.227 motif qu’elle est l’un de ses ressortissants.“) und 16 X S. 1 („Un État Partie sur le territoire duquel se trouve l’auteur présumé de l’infraction, s’il n’extrade pas cette personne au titre d’une infraction à laquelle s’applique le présent article au seul motif qu’elle est l’un de ses ressortissants, est tenu, à la demande de l’État Partie requérant l’extradition, de soumettre l’affaire sans retard excessif à ses autorités compétentes aux fins de poursuites.“). 223 Vgl. oben 2. Kapitel H. II. 1. 224 Vgl. oben 2. Kapitel H. II. 1. 225 Vgl. Art. 15 IV („Chaque État Partie peut également adopter les mesures nécessaires pour établir sa compétence à l’égard des infractions visées par la présente Convention lorsque l’auteur présumé se trouve sur son territoire et qu’il ne l’extrade pas.“), der keine Entsprechung nach dem Muster des Art. 16 X findet. 226 Vgl. dazu oben, 1. Kapitel B. III. 3. um Fn. 67.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
4. Die Bekämpfung der Korruption Die „aut dedere – aut iudicare“-Bestimmungen der älteren multilateralen Verträge gegen die transnationale Korruption gelten ebenfalls nur für eigene Staatsbürger des Zufluchtsstaates. Auch hier muss der Zufluchtsstaat sein Strafrecht nur auf diese erstrecken und nur sie muss er bei Ablehnung eines Auslieferungsersuchens tatsächlich strafrechtlich verfolgen, sofern die Staatsangehörigkeit des Täters der Ablehnungsgrund war.228 Solche Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebote, die Auslandstaten von Ausländern und andere Nichtauslieferungsgründe als die Staatsangehörigkeit des Täters völlig ausklammern, sind uns bisher vor allem in Auslieferungsverträgen begegnet. Die neue UN-Konvention gegen Korruption229 enthält neben einer solchen stark eingeschränkten „aut dedere – aut iudicare“-Regelung230 wenigstens noch die uns bereits aus der UN-Konvention gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität – an die die UN-Korruptionskonvention ersichtlich angelehnt ist – bekannte Ermächtigung des Zufluchtsstaates zur Anwendung seines Strafrechts auf Auslandstaten von Ausländern, ohne allerdings zur tatsächlichen Strafverfolgung bei Nichtauslieferung im Einzelfall zu verpflichten.231 Noch weiter geht die ebenfalls noch nicht in 227
Vgl. Art. 16 X S. 2: „Lesdites autorités prennent leur décision et mènent les poursuites de la même manière que pour toute autre infraction grave en vertu du droit interne de cet État Partie.“ 228 Vgl. Art. V § 3 und XIII § 6 Inter-American Convention against Corruption, 29.03.1996 (ILM 35 [1996], S. 724); Art. 17 I b) bzw. III und 27 V Criminal Law Convention on Corruption des Europarates, 27.01.1999 (ILM 38 [1999], S. 505 ff.), deren Repressionsregime durch das am 1.2.2005 in Kraft getretene Zusatzprotokoll vom 15.05.2003 (CETS No. 191) auch auf Bestechung von Schiedsrichtern und Laienrichtern erstreckt wird; Art. 10 III OECD-Konvention über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr, 17.12.1997 (BGBl. 1998 II 2327; ILM 37 (1998), S. 1 ff.). Die vorstehend zitierten Bestimmungen der Europ. und der Amerik. Antikorruptionskonventionen regeln auch einen Sonderfall der Nichtauslieferung von Ausländern, der nur sehr selten vorkommen wird, wenn es um eine außerhalb des Zufluchtsstaates begangene Straftat geht: Lehnt der Zufluchtsstaat die Auslieferung ab, weil er selbst Gerichtsbarkeit über die Tat besitzt – was allerdings einen hinsichtlich der Auslandstaten von Ausländern in aller Regel nicht vorhandenen „genuine link“ voraussetzt, da sich eine Ermächtigung des Zufluchtsstaates zur extraterritorialen Anwendung seines Strafrechts ohne vernünftigen Anknüpfungspunkt in den betreffenden Verträgen nirgends findet – muss er seine Gerichtsbarkeit nun auch tatsächlich ausüben. 229 Ein sehr grober, aber dennoch äußerst informativer Überblick über Entstehungsgeschichte und Aufbau der UN-Korruptionskonvention findet sich bei Murphy, AJIL 98 (2004), S. 169 (182–84). 230 Art. 42 II und 44 XI UN-Korruptionskonvention, 31.10.2003 (ILM 43 [2004], S. 37 ff.). 231 Vgl. Art. 42 VI UN-Korruptionskonvention, für den eine Art. 44 XI entsprechende Regelung fehlt.
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Kraft getretene Afrikanische Antikorruptionskonvention: Gemäß ihren Vorschriften muss der Zufluchtsstaat in jedem Fall, in dem er den Täter trotz des Vorliegens eines Auslieferungsersuchens nicht ausliefert, die Sache unabhängig vom Ablehnungsgrund seinen Strafverfolgungsbehörden unterbreiten, und er muss sicherstellen, dass sein Strafrecht in diesem Fall auch auf Auslandstaten von Ausländern anwendbar ist.232 Wie die UN-Antidrogenkonvention und die UN-Konvention gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, so machen auch die Übereinkommen gegen die Korruption Anleihen beim strengen, weder zwischen einzelnen Nichtauslieferungsgründen differenzierenden noch ausdrücklich das Vorliegen eines Auslieferungsersuchens fordernden „Haager Modell“ nur in einer Hinsicht: Das „iudicare“ wird mit „shall submit the case to its competent authorities for the purpose of prosecution“ umschrieben, allerdings übernimmt lediglich die UN-Korruptionskonvention die in Artikel 7 Satz 2 Haager Konvention enthaltene Regelung der Strafverfolgungsstandards.233 5. Die Bekämpfung der „Cyberkriminalität“ Die Konvention des Europarates vom 23. November 2001234 sieht für bestimmte computerbezogene Straftaten ein „aut dedere – aut iudicare“ vor, das demjenigen des Europaratsübereinkommens gegen Korruption ähnelt.235 Doch nicht nur die Beschränkung des „aut dedere – aut iudicare“ auf eigene Bürger des Zufluchtsstaates, sondern auch die Art und Weise, wie der sachliche Anwendungsbereich des Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes bestimmt wird, erinnert hier an einen Auslieferungsvertrag. Das „aut dedere – aut iudicare“ gilt für die in den Artikeln 2 bis 11 genannten Computerstraftaten nämlich nicht automatisch, sondern nur dann, wenn sowohl das Recht des ersuchenden als auch des ersuchten Staates für die betreffende Straftat eine Freiheitsstrafe von im Höchstmaß einem Jahr oder mehr vorschreiben – eine Technik, mit der auch moderne Ausliefe232
Vgl. Art. 13 I b) und c) sowie Art. 15 VI Afrik. Antikorruptionskonv., 11.07.2003 (ILM 43 [2004], S. 5 ff.). 233 Vgl. Art. XIII § 6 Interamerik. Konv.; Art. 27 V Europ. Konv.; Art. 10 III S. 2 OECD-Konv.; Art. 15 VI Afrik. Antikorruptionskonv.; Art. 44 XI S. 2 UNKorruptionskonvention. 234 ILM 41 (2002), S. 282 ff., in Kraft getreten am 01.07.2004. Durch das noch nicht in Kraft getretene Zusatzprotokoll vom 28.01.2003 (CETS No. 189) wird das Repressionsregime der Konvention auch auf rassistische Hetzpropaganda via Computer erstreckt. Ein grober Überblick über die Konvention findet sich bei Murphy, AJIL 95 (2001), S. 873 (889–91). 235 Vgl. Art. 22 III Konvention gegen Cyberkriminalität mit Art. 17 III Europ. Korruptionskonvention und Art. 24 VI S. 1 Konvention gegen Cyberkriminalität mit Art. 27 V Europ. Korruptionskonvention.
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rungsverträge üblicherweise ihren sachlichen Anwendungsbereich umschreiben.236 Ein weiterer wichtiger Unterschied zum Europäischen Übereinkommen gegen Korruption ist, dass im Abkommen gegen Cyberkriminalität Standards für die Strafverfolgung festgeschrieben werden, allerdings nicht, wie in Artikel 7 Satz 2 Haager Konvention, zwingend diejenigen für Schwerverbrechen, sondern nur die für Verbrechen „of a comparable nature“.237 Damit kann folgendes Resümee gezogen werden: Die „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen gegen organisierte und andere „gewöhnliche“ Schwerkriminalität bleiben in ihrer Schärfe weit hinter dem zurück, was im Rahmen der Bekämpfung von Terrorismus, Kriegsverbrechen und schweren Menschenrechtsverstößen üblich ist. Sie beschränken sich überwiegend auf eigene Bürger des Zufluchtsstaates und gelten für Ausländer allenfalls dann, wenn der Zufluchtsstaat freiwillig sein Strafrecht auch auf sie erstreckt hat. In vielerlei Hinsicht ähneln sie eher Auslieferungsverträgen als „international crime conventions“. Dies verwundert nicht allzu sehr. Zwar ist auch organisierte Kriminalität ein ernstes Problem der internationalen Gemeinschaft, allerdings wird es wohl doch überwiegend als weniger „außergewöhnlich“ angesehen als Terrorismus, Kriegsverbrechen und Folter, so dass die Regelungen der auf die „normale“ Kriminalität zugeschnittenen Auslieferungsverträge hier nicht im selben Maße als inadäquat erscheinen wie dort.
IV. Die Kodifizierung und Weiterentwicklung des Rechts der klassischen universellen Verbrechen Sklaven- und Menschenhandel sowie Piraterie Oben im historischen Kapitel konnte unter G. bereits festgestellt werden, dass für die Bekämpfung von Piraterie und Sklavenhandel zwar schon früh völkerrechtliche Besonderheiten galten, ein „aut dedere – aut iudicare“ aber auch hier jedenfalls bis 1945 nicht bestand. Von dieser Feststellung ausgehend, ist nun die heutige Vertragslage zu untersuchen.
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Vgl. Art. 24 I a); zur üblichen Regelungstechnik moderner Auslieferungsverträge unten Fn. 255. Art. 24 I b) bestimmt übrigens, dass dann, wenn zwischen ersuchendem und ersuchtem Staat ein Auslieferungsvertrag besteht, der eine geringere Höchststrafe ausreichen lässt, diese zwischen diesen beiden Staaten auch im Rahmen der Konvention gegen Cyberkriminalität gelten soll. 237 Vgl. Art. 24 VI.
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1. Piraterie Die Bekämpfung der Piraterie wurde durch die Seerechtskonventionen von 1958238 und 1982239 lediglich formal auf eine neue rechtliche Basis gestellt. Inhaltlich sind die miteinander übereinstimmenden Piraterievorschriften der Artikel 14 bis 21 bzw. 100 bis 107 dieser Abkommen nur eine Kodifikation des schon lange bestehenden Völkergewohnheitsrechts,240 wie es bereits oben im 2. Kapitel untersucht wurde. Artikel 105 Satz 2 des Übereinkommens von 1982 und Artikel 19 Satz 2 des Übereinkommens von 1958 sprechen folgerichtig nur davon, dass die Gerichte des Staates, der eines Seeräubers habhaft wird, über die zu verhängenden Strafen entscheiden können.241 Eine Pflicht hierzu besteht aber ebenso wenig wie aufgrund des Gewohnheitsrechts.242 Die Variante des „dedere“ – also die Auslieferung – wird in den beiden Verträgen überhaupt nicht erwähnt. Es ist nur ganz allgemein von einer „größtmöglichen“ zwischenstaatlichen Kooperation bei der Bekämpfung der Piraterie die Rede;243 eine Wortwahl die aufgrund ihrer Unschärfe – gerade im Vergleich zu den Formulierungen der bisher vorgestellten Verträge – kaum als Anordnung eines „aut dedere – aut iudicare“ interpretiert werden kann. Auch die Entstehungsgeschichte dieses „Zusammenarbeitsgebotes“ spricht nicht dafür, hinter ihm ein verstecktes „aut dedere – aut iudicare“ zu vermuten. Im Kommentar der ILC heißt es zwar, dass jeder Staat alle ihm möglichen Maßnahmen gegen die Piraterie treffen müsse, es wird ihm dabei aber ein großer Ermessensspielraum eingeräumt.244 Dass die „Zusammenarbeitspflicht“ sich gerade im Wege der Auslieferung oder Strafverfolgung realisieren müsse, erwähnt die ILC nicht. Im Vorfeld der Konvention von 1982 wurde ein maltesischer Vorschlag, von einer „obligation to [. . .] punish piracy“ zu sprechen, von den anderen Staaten abgelehnt.245 Zwischen der schließlich vereinbarten „Zusammenarbeitspflicht“ und der nicht konsensfähigen „Strafverfolgungspflicht“ muss 238
Übereinkommen vom 29.04.1958 über die Hohe See, BGBl. 1972 II 1089. Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10.12.1982, BGBl. 1994 II 1798. 240 Doehring, Rn. 522; Henzelin, S. 334; Brownlie, S. 229. 241 Hervorhebung nicht in den Originalen. 242 Vgl da la Pradelle, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 913 f.; Henzelin, S. 335 f. und Nandan/Rosenne, UN Convention on the Law of the Sea, Vol. III, Art. 105.10(a), wo es heißt: Article 105 gives expression to the universal jurisdiction which any State can exercise [. . .]“ (Hervorhebung nicht im Original). Deutlich gegen eine Strafverfolgungspflicht auch Doehring, Rn. 1149; Dahm/Delbrück/ Wolfrum, I/3, S. 1102; Schmidt, Externe Strafpflichten, S. 127. 243 Vgl. Art. 14 des Übereinkommens von 1958 und Art. 100 des UN-Seerechtsübereinkommens. 244 Vgl. YBILC 1956 II, S. 253 (282). 239
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
also ein Unterschied bestehen. Auch die nachfolgende Praxis – die nach Artikel 31 Absatz 3 b) WVRK bei der Auslegung völkerrechtlicher Vertragsbestimmungen zu berücksichtigen ist – zeigt, dass die Staaten wenig geneigt sind, unter Berufung auf eine angebliche völkerrechtliche Repressionspflicht konkrete Maßnahmen gegen Piraten zu ergreifen oder von anderen Staaten zu fordern.246 2. Der Sklaven- und Menschenhandel Während sich also im Bereich der Piraterie auch auf vertraglicher Basis kein „aut dedere – aut iudicare“ etablieren konnte, sieht dies für den Sklaven- und Menschenhandel etwas anders aus. Das „Zusatzübereinkommen vom 7. September 1956 über die Abschaffung der Sklaverei, des Sklavenhandels und sklavereiähnlicher Einrichtungen und Praktiken“247 enthält zwar noch kein Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot, sondern regelt nur, dass Strafvorschriften gegen Sklaverei und Sklavenhandel in das nationale Strafrecht aufgenommen werden müssen;248 eine Pflicht, diese Straftatbestände auch gegenüber einer im Ausland handelnden Person im Falle der Nichtauslieferung tatsächlich anzuwenden, fehlt dagegen. Eine solche sehen auch nicht die Artikel 13 beziehungsweise 99 der Seerechtskonventionen von 1958 und 1982 vor: Dort wird nur vorgeschrieben, dass ein Staat den Sklavenhandel durch unter seiner Flagge fahrende Schiffe bestrafen muss.249 Anders verlief dagegen die Entwicklung hinsichtlich Menschenhandel und Zwangsprostitution. Die – von Deutschland bislang nicht ratifizierte – „Convention for the Suppression of the Traffic in Persons and of the Exploitation of the Prostitution of Others“ vom 2. Dezember 1949 sieht in Artikel 9 ein „aut dedere – aut iudicare“ für Auslandstaten eigener Bürger des Zufluchtsstaates vor. Diese müssen vor Gericht gestellt werden, wenn ihre Auslieferung daran scheitern würde, dass der Zufluchtsstaat seine Bürger nach innerstaatlichem Recht nicht ausliefern darf – und zwar anscheinend sogar unabhängig vom Bestehen eines entsprechenden Ersuchens 245 Vgl. Nandan/Rosenne, UN-Convention on the Law of the Sea, Vol. III, Art. 100.3. und 100.4. 246 Vgl. zu dieser Staatenpraxis Rubin, The Law of Piracy, S. 340 ff. Dort wird v. a. das Beispiel der Piraterie in Südostasien angeführt. Obwohl die Mitgliedstaaten der ASEAN hier keine Strafverfolgungsmaßnahmen durchführten und nicht einmal zu einer Diskussion hierüber auf internationaler Ebene bereit waren, blieben Proteste Vietnams und Chinas, deren Schiffe am meisten betroffen waren, aus. 247 BGBl. 1958 II 203. 248 Vgl. Art. 3 bis 6. 249 A. A. – allerdings ohne jede Begründung – Bassiouni, Va. J. Int. Law, 42 (2001), S. 81 (114).
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eines anderen Staates.250 Dies entspricht den Regelungen der „international crime conventions“ der Zwischenkriegszeit in Bezug auf eigene Staatsbürger des Zufluchtsstaates.251 Allerdings fehlt in dem Übereinkommen von 1949 eine andere wesentliche Vorschrift der Verträge der Zwischenkriegszeit: Für den Fall eines flüchtigen Ausländers wurden dort wenigstens jene Staaten, die eine Anwendung ihres Strafrechts auf Auslandstaten von Ausländern nicht prinzipiell ablehnten, verpflichtet, bei Zurückweisung eines Auslieferungsersuchens selbst strafrechtlich zu verfolgen; hierfür findet sich in der Konvention gegen den Menschenhandel keine Entsprechung.252 Insofern ähnelt die Konvention gegen Menschenhandel eher den oben vorgestellten Abkommen gegen Korruption (mit Ausnahme der UN-Konvention), der Europäischen Konvention gegen Cyberkriminalität und vor allem den Auslieferungsverträgen, deren „aut dedere – aut iudicare“ ebenfalls nicht die Funktion hat, dem Zufluchtsstaat eine extraterritoriale Anwendung seines Strafrechts über das völkerrechtlich normalerweise zulässige hinaus zu gestatten – wobei dort allerdings selbst eigene Bürger nur bei Vorliegen eines Auslieferungsersuchens zu verfolgen waren. In jeder Hinsicht diesen Vorbildern entspricht dagegen das „aut dedere – aut iudicare“ des Fakultativprotokolls betreffend Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie vom 26. Mai 2000 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes253 – ein Rückschritt im Vergleich zur Konvention von 1949 insofern, als eigene Staatsbürger nur bei Ablehnung eines Auslieferungsersuchens, nicht aber auf eigene Initiative zu verfolgen sind und an die Stelle des relativ strikten „shall be prosecuted in and punished by the courts“ das zumindest sprachlich zurückhaltendere „submit the case to its competent authorities for the purpose of prosecution“ tritt. Das „Protocol to Prevent, Suppress and Punish Trafficking in Persons, especially Women and Children“ zur UN-Konvention gegen das internationale organisierte Verbrechen vom 15. November 2000, das deren Repressionsregime auch für das Verbrechen des Menschenhandels einführt, leidet an derselben Schwäche und bringt nur einen kleinen Fortschritt mit sich: Der Zufluchtsstaat darf nun sein Strafrecht auch ohne „genuine link“ auf Auslandstaten von Ausländern erstre250
Abs. 1: „In States where the extradition of nationals is not permitted by law, nationals who have returned to their own State after the commission abroad of any of the offences referred to in articles 1 and 2 [. . .] shall be prosecuted in and punished by the Courts of their own State.“ Abs. 2: „This provision shall not apply if, in a similar case [. . .], the extradition of an alien cannot be granted.“ 251 So auch Bassiouni/Wise, S. 13; Henzelin, S. 342; zu diesen Verträgen vgl. 2. Kapitel H. II. 252 Vgl. auch Wise, Israel Law Review 27 (1993), S. 268 (274). 253 Vgl. Art. 4 III und Art. 5 V mit den oben vorgestellten Regelungen der OECD-, OAS-, und Europaratskonventionen gegen Korruption sowie der Europ. Konvention gegen Cyberkriminalität.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
cken, ohne dann allerdings wie nach dem Modell von 1929 im Einzelfall nach der Maxime „aut dedere – aut iudicare“ verfahren zu müssen.254
V. „Aut dedere – aut iudicare“ in Auslieferungsverträgen „Aut dedere – aut iudicare“-Bestimmungen finden sich nicht nur in Verträgen zur Bekämpfung bestimmter außergewöhnlich schwerwiegender Straftaten, den so genannten „international crime conventions“, sondern auch in Auslieferungsverträgen, die die Rückführung flüchtiger Täter aus nahezu dem gesamten Bereich der mittleren bis schweren „gewöhnlichen“ Kriminalität regeln.255 Diese Variante ist historisch gesehen sogar die ältere, denn während das Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot erstmals 1929 in einer „international crime convention“ zum Einsatz kam, lässt es sich bereits im 19. Jahrhundert in verschiedenen Auslieferungsverträgen nachweisen.256 Wie damals, ist aber auch heute das „aut dedere – aut iudicare“ der Auslieferungsverträge überwiegend auf einen einzigen Fall der Nichtauslieferung beschränkt: das Scheitern eines Auslieferungsersuchens257 am Prinzip der Nichtauslieferung eigener Staatsbürger. Zwei der drei großen multilateralen Auslieferungsverträge258 sowie alle ein „aut dedere – aut iudicare“ enthaltenden bilateralen Auslieferungsverträge der Bundes254 Vgl. dazu näher oben III. 3. bei Fn. 225 f. Überhaupt kein „aut dedere – aut iudicare“ enthält die noch nicht in Kraft getretene Menschenhandelskonvention des Europarates vom 16.05.2005 (CETS No. 197): In ihrem Art. 31 III ist nur eine „jurisdictional clause“ hinsichtlich von eigenen Staatsbürgern des Zufluchtsstaates enthalten; eine Regelung über die Strafverfolgung- oder Auslieferung im Einzelfall fehlt völlig. 255 Zur Unterscheidung dieser beiden Arten von Verträgen vgl. oben 2. Kap. Fn. 353 und 388. Auslieferungsverträge bestimmen ihren Anwendungsbereich im Wesentlichen nach zwei Methoden: Entweder über eine ennumerative Auflistung der auslieferungsfähigen Straftaten, die dann allerdings sehr umfassend ist, oder – wozu modernere Verträge eher neigen – über die in den Rechtsordnungen von ersuchtem und ersuchendem Staat vorgesehene Höchststrafe, wobei meist solche Straftaten „auslieferungsfähig“ sind, die in beiden Strafrechten mit einer Höchstfreiheitsstrafe von einem (teilweise auch zwei) Jahren oder mehr bedroht sind (vgl. von Glahn, S. 222; Jennings/Watts, S. 957; Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 [355]). Letztere Variante ist etwa in Art. 3 I Inter-American Convention on Extradition (25.02.1981, ILM 20 [1981], S. 723 ff.), Art. 2 I Europ. AuslÜbk. (13.12.1957) sowie Art. 2 I des „Modellvertrags“ der UN (Annex GA-Res. 45/116) vorgesehen. 256 Siehe hierzu oben, 2. Kapitel E. I. 2. und H. II. 257 Anders als beim Haager Modell, wird in den Auslieferungsverträgen schon sprachlich sehr deutlich darauf hingewiesen, dass ein „iudicare“ nicht aus eigener Initiative des Zufluchtsstaates erfolgen muss, sondern nur dann, wenn ein anderer Staat zuvor erfolglos ein Auslieferungsersuchen gestellt hat (vgl. etwa Art. 6 II Europ. AuslÜbk. oder Art. 2 III und 8 Inter-American Convention on Extradition, wo jeweils vom „requested“ und „requesting State“ die Rede ist).
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republik Deutschland259 sehen eine Pflicht zum „iudicare“ nur dann vor, wenn die Auslieferung des Täters gerade an diesem Umstand scheitert. Der Modellauslieferungsvertrag,260 den die Generalversammlung der Vereinten Nationen den Mitgliedstaaten 1991 als „Muster“ für zukünftige Auslieferungsvereinbarungen empfahl und der seither in der Vertragsschlusspraxis große Bedeutung gewonnen hat,261 enthält seit seiner Ergänzung im Jahre 1998 daneben auch noch eine Strafverfolgungspflicht, wenn die Auslieferung verweigert wird, weil dem Täter im ersuchenden Staat die Todesstrafe droht.262 Immer noch gibt es aber – wie schon im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts263 – eine Reihe von Auslieferungsverträgen, die selbst die Nichtauslieferung eigener Bürger zulassen, ohne dies durch eine „iudicare“-Pflicht zu kompensieren.264 Bei anderen Ablehnungsgründen – etwa dem politischen, militärischen oder steuerrechtlichen Charakter der Straf258
Vgl. Art. 6 II Europ. AuslÜbk und § 7 Arab. AuslÜbk. (14.09.1952, engl. Übersetzung in BFSP 159, S. 606 ff.). Ein Ausnahmefall ist die Inter-American Convention on Extradition, nach deren Art. 2 III und 8 in jedem Fall der Ablehnung eines Auslieferungsersuchens die Sache den Strafverfolgungsbehörden des Zufluchtsstaates zu übergeben ist, unabhängig vom Ablehnungsgrund (vgl. auch Stein, Auslieferungsausnahme, S. 163; Plachta, MJ 1999, S. 331 [345]). 259 Es handelt sich um die Verträge mit Australien (vgl. Art. 6 III Vertrag vom 14.04.1987, BGBl. 1990 II 111), Kanada (vgl. Art. 5 III Vertrag vom 11.07.1977, BGBl. 1979 II 665), Monaco (vgl. Art. 6 III Vertrag vom 21.05.1962, BGBl. 1964 II 1297), den USA (vgl. Art. 7 III Vertrag vom 20.07.1978, BGBl. 1980 II 646 geändert durch Zusatzvertrag vom 21.10.1986, BGBl. 1988 II 1087. Der die bilateralen Auslieferungsverträge der Mitgliedstaaten mit den USA ergänzende und abändernde Auslieferungsvertrag der EU mit den USA vom 25.06.2003 [Abl. L 181/27] enthält keine „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen, so dass es diesbezüglich bei der Rechtslage bleibt, die sich aus den dt.-US-amerik. Verträgen ergibt.) und Indien (vgl. Art. 6 III Vertrag vom 27.06.2001; BGBl. 2003 II 1634). 260 Annex zur GA-Res. 45/116; ergänzt durch GA-Res. 52/88. 261 Vgl. Gilbert, S. 34 f.; Poutiers, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 936. 262 Vgl. Annex zu GA-Res. 52/88, Ziff. 4. Diese Klausel hat jedenfalls in der deutschen Vertragspraxis bis heute keinen Niederschlag gefunden und auch der ergänzende Auslieferungsvertrag der EU mit den USA (oben Fn. 259) sieht in Art. 13 die Möglichkeit der Verweigerung der Auslieferung wegen Drohens der Todesstrafe vor, ohne sie mit einer ersatzweise eingreifenden Strafverfolgungspflicht zu kompensieren. Das Strafverfolgungsgebot für den Fall der Nichtauslieferung eigener Staatsbürger findet sich in Art. 4 a) des UN-Modellvertrages. Eine weitere Strafverfolgungspflicht ist auch in dessen Art. 4 f) vorgesehen, diese betrifft aber keinen „Zufluchtsstaat“ und damit keine spezifische „aut dedere – aut iudicare“-Situation (dazu oben, 1. Kapitel A.): Der Tatortstaat kann ein Auslieferungsersuchen mit Verweis auf sein vorrangiges Strafinteresse ablehnen, muss die Tat dann allerdings auch tatsächlich nach dem Territorialprinzip strafrechtlich verfolgen. 263 Siehe oben, 2. Kapitel E. I. 2. bei Fn. 267 f. 264 So etwa aus der dt. Vertragspraxis die Auslieferungsverträge mit Jugoslawien (26.11.1970, BGBl. 1974 II 1258; Grützner/Pötz, II J 10, S. 12 ff.) und Ghana (10.06.1966, BGBl. 1967 II 1743) sowie der im Verhältnis zu 18 ehemaligen brit.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
tat265 – kann der Zufluchtsstaat den Gesuchten sogar nach allen genannten Auslieferungsverträgen unbehelligt lassen.266 Ein Vorschlag, auch hier ein „iudicare“ vorzuschreiben, konnte sich bei den Vorarbeiten für das Europäische Auslieferungsübereinkommen nicht durchsetzen.267 Diese Beschränkung des Anwendungsbereiches der auslieferungsvertraglichen „aut dedere – aut iudicare“-Regelung verwundert nicht. Sie erklärt sich aus den Motiven, auf denen die einzelnen „Auslieferungsausnahmen“ jeweils beruhen. Die Nichtauslieferung eigener Bürger gründet darauf, dass der ersuchte Staat seine eigenen Staatsangehörigen vor einer fremden, unter Umständen wenig vertrauenswürdigen Gerichtsbarkeit schützen will. Sie will den Betroffenen aber nicht grundsätzlich vor Bestrafung bewahren und ist deshalb kein Hindernis, ihn vor die eigenen Gerichte zu zitieren. Die Ausnahmen für politische, militärische oder steuerrechtliche Straftaten beruhen dagegen vorwiegend darauf, dass sich der ersuchte Staat aus solchen für ihn politisch delikaten Angelegenheiten heraushalten will, beziehungsweise er kein Interesse an der Bestrafung einer gegen militärische, politische oder finanzielle Interessen anderer Staaten gerichteten Tat hat. Eigene Strafverfolgungsbemühungen würden hier dem Zweck der Nichtauslieferung zuwiderlaufen, da der Zufluchtsstaat durch sie doch noch in die Sache verwickelt und zur Sühnung der Tat „eingespannt“ würde.268 Nur bei außergewöhnlich schwerwiegenden „internationalen Verbrechen“ ist dies anders, da hier unter den Staaten im Prinzip weitgehende Einigkeit besteht, dass solche Taten nicht ungesühnt bleiben sollen. Erst im konkreten Einzelfall ergeben sich – gerade bei terroristischen Straftaten – politisch bedingte Divergenzen, die dazu führen, dass der Zufluchtsstaat oft nicht einem anderen Staat die Beurteilung des Falles anvertrauen will. Vom Motiv her ähnelt hier das Festhalten an der „political offence exception“ dem Prinzip der Nichtauslieferung eigener Bürger: Der Zufluchtsstaat hat im Prinzip nichts gegen eine Bestrafung der Tat einzuwenden, möchte aber im konkreten Einzelfall seine eigenen Behörden darüber entscheiden lassen. Deshalb wird der Zufluchtsstaat aus Misstrauen gegenüber dem ersuchenden Staat zwar die Auslieferung ablehnen, aber keine Einwände gegen ein „iudicare“ haben. So erklärt es sich, dass das „aut dedere – aut iudicare“ in vielen „international crime Kolonien fortgeltende dt.-brit. Auslieferungsvertrag vom 14.05.1872 (CTS 144, S. 569 ff.). 265 Diese in der Vertragspraxis weithin üblichen Ausnahmen sind bspw. in § 4 Arab. AuslÜbk. sowie in Art. 3–5 Europ. AuslÜbk. vorgesehen, die „political offence exception“ auch in Art. 4 IV Inter-American Convention on Extradition und Art. 3 a) UN-Modellvertrag. 266 Vgl. auch Stein, Auslieferungsausnahme, S. 163. 267 Vgl. Conseil de l’Europe, Rapport explicatif sur la Convention européenne d’Extradition, Kommentar zu Art. 6 und General Considerations, Ziff. 13. 268 Vgl. zu diesen Zusammenhängen auch Swart, NYIL 1992, S. 175 (215).
A. Vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen
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conventions“ – es sei hier an das „Haager Modell“ oder die Genfer Konventionen erinnert – bei jeder Verweigerung der Auslieferung, unabhängig von ihrem Grund, eingreift,269 ja rechtspolitisch sogar vorwiegend die Kompensation der „political offence exception“ bezweckt,270 während es in Auslieferungsverträgen fast nur im Rahmen der Nichtauslieferung eigener Bürger eingesetzt wird. Aber auch der im UN-„Modellvertrag“ zusätzlich vorgesehene Anwendungsfall des „aut dedere – aut iudicare“ – das Drohen der Todesstrafe – passt in dieses Bild. Das Auslieferungsersuchen wird hier ebenfalls nicht deshalb zurückgewiesen, weil der Zufluchtsstaat jede Verwicklung in den Fall vermeiden möchte, sondern, weil er die vom ersuchenden Staat angewandten Methoden der Rechtspflege ablehnt.271 In einer wichtigen Hinsicht unterscheidet sich diese Vorschrift dennoch von dem die Nichtauslieferung eigener Bürger kompensierenden „aut dedere – aut iudicare“: Während die Auslandstaten seiner eigenen Bürger einen „genuine link“ zum Zufluchtsstaat aufweisen, so dass er sein Strafrecht ohnehin auf sie erstrecken darf, muss die Erstreckung des Strafrechts auf die Auslandstat eines wegen drohender Todesstrafe nicht ausgelieferten Ausländers völkerrechtlich speziell gerechtfertigt werden. Dem „aut dedere – aut iudicare“ kommt in diesem Fall also auch diese „Ermächtigungsfunktion“ zu, die hinsichtlich eigener Bürger überflüssig ist.272
VI. Weltgemeinschaft oder bloßes „do ut des“: Motive vertraglicher Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebote Abschließend stellt sich nun die Frage: Wieso sehen so viele Verträge eine Pflicht des Zufluchtsstaates vor, den Täter einer Auslandstat der Strafverfolgung zuzuführen? Aus welchen Motiven haben sich die Staaten auf eine solche Verpflichtung eingelassen? Selbstverständlich ist dies nicht, denn die sich in seinem Territorium befindenden Rechtsgüter mit Mitteln des Strafrechts zu schützen, ist doch eigentlich allein Aufgabe des Tatort269
Plachta, MJ 1999, S. 331 (358 u. 361) spricht hier von einem „offenceoriented approach“, dem er den „offender-oriented approach“ der Auslieferungsverträge gegenüberstellt. Vgl. zu diesem Phänomen auch Stein, Auslieferungsausnahme, S. 163 f. 270 Vgl. Gilbert, S. 320 ff. 271 Insofern könnte man rechtspolitisch durchaus erwägen, in zukünftigen Auslieferungsverträgen die Pflicht zum „iudicare“ auch auf andere menschenrechtlich motivierte Ablehnungen von Auslieferungsersuchen zu erstrecken (vgl. für „menschenrechtliche Auslieferungsausnahmen“, die bislang noch nicht durch eine Pflicht zum „iudicare“ kompensiert sind, Art. 3 II Europ. AuslÜbk.; Art. 4 III, V und Art. 9 Inter-American Convention on Extradition; Art. 3 b) und f) UN-Modellvertrag). 272 Vgl. zu dieser „ermächtigenden“ Wirkung des „aut dedere – aut iudicare“ oben 1. Kapitel B. IV.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
staates; eine Straftat ist zunächst einmal eine bloße Übertretung seines nationalen Rechts, die den Zufluchtsstaat nicht zu interessieren braucht.273 Äußerst aufschlussreich ist hierbei oft schon der Text der jeweiligen Abkommen. So enthalten mit Ausnahme der Übereinkommen gegen den Nuklearterrorismus alle seit 1973 abgeschlossenen universell angelegten Verträge zur Terrorismusbekämpfung in ihren Präambeln die Formulierung, dass Abkommen sei „considering that the occurance of such acts is a matter of grave concern to the international community as a whole“274, geschlossen worden. Hier wird deutlich auf den Gemeinschaftsgedanken Bezug genommen, der uns auch schon im Rechtsdenken des Mittelalters oder frühneuzeitlicher Befürworter eines „aut dedere – aut iudicare“ begegnet ist.275 Die „Terroristen“ aus anderen Staaten werden im Zufluchtsstaat nicht nur deswegen ausgeliefert oder bestraft, damit der jetzige Tatortstaat im umgekehrten Fall ebenso verfahren wird – also do ut des oder besser noch iudico ut iudices – sondern, weil der Zufluchtsstaat den im Ausland begangenen Terrorakt als Angriff auf alle Staaten und damit auch auf sich selbst wertet.276 In den Präambeln der Konventionen von Den Haag und Montreal über den Schutz der Zivilluftfahrt fehlen dagegen solche ausdrücklichen Verweise auf den Weltgemeinschaftsgedanken. Allenfalls die Wendung von der Untergrabung der „confidence of the peoples of the world in the safety of civil aviation“ könnte in diese Richtung interpretiert werden. Der Weltgemeinschaftsgedanke trat aber im Vorfeld dieser Verträge noch deutlicher als dominierendes Motiv für ihren Abschluss zu Tage. So sah eine Reihe von Delegierten der Haager Konferenz im „Luftpiraten“ in Anlehnung an das traditionelle völkerrechtliche Unwerturteil gegenüber „Seepiraten“ einen 273 Vgl. zum in erster Linie nationalen Charakter des Strafrechts Jescheck/Weigend, S. 118; Ipsen, in: ders., § 42 Rn. 2. 274 Vgl. 5. Erwägungsgrund der Präambel der Schiffahrtssicherheitskonvention; fast wörtlich ebenso 3. Erwägungsgrund der Präambel der UN-Diplomatenschutzkonvention; 4. Erwägungsgrund der Präambel der UN-Geiselnahmekonvention; 2. Erwägungsgrund der Präambel des Protokolls von 1988 zu Montrealer Konvention; 10. Erwägungsgrund der Präambel des Sprengstoffattentateübereinkommens; 9. Erwägungsgrund der Präambel der Terrorismusfinanzierungskonvention (Hervorhebung nicht in den Originalen). 275 Vgl. oben 2. Kapitel C. I. 1. (dort auch Nachweise auf moderne Literatur), 2. und D. I. 1., 5., 7. 276 In der Staatenpraxis hat diese Sichtweise jedenfalls bzgl. von Angriffen auf Diplomaten eine lange Tradition – freilich ohne dass damit bereits ein „aut dedere – aut iudicare“ verknüpft worden wäre (vgl. zur damaligen Rechtslage oben 2. Kapitel D. III.). So urteilten etwa die US-Gerichte schon im 18. Jhd.: „Whoever offers any violence to him [der Verf.: dem Diplomaten], not only affronts the Sovereign he represents, but also hurts the common safety and well-being of nations; – he is guilty of a crime against the whole world.“ (Respublica v. De Longchamps [1784] 1 U.S. 111 [116]).
A. Vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen
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hostis humani generis.277 UN-Generalsekretär U Thant schlug 1970 gar die Einrichtung eines internationalen Strafgerichts gegen Luftpiraterie vor, da die Bekämpfung dieses Phänomens nicht nationalen Gerichten „defending the interests of one particular [. . .] nation“ überlassen werden könne. Er begründete dies damit, dass es hier darum gehe, eine Dienstleistung von universeller Bedeutung im Interesse aller Staaten zu schützen.278 Entscheidend zum Tragen kam der Weltgemeinschaftsgedanke auch in den Verträgen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen, Folter und dem zwangsweisen Verschwindenlassen. Fast schon poetisch spricht der erste Erwägungsgrund der Präambel der UN-Folterkonvention von der „human family“. Auch der UN-Antisöldnerkonvention und ihrem afrikanischen Pendant liegt ausweislich ihrer Präambeln ein Gefühl gemeinschaftlicher Betroffenheit zugrunde. Einsatz, Ausbildung und Finanzierung von Söldnern seien „offences of grave concern to all States“279 beziehungsweise erforderten „la solidarité [. . .] total[e] entre les Etats membres“.280 Bezieht man in die Betrachtung auch noch das ICC-Statut mit ein, das zwar selbst kein „aut dedere – aut iudicare“-Vertrag ist, aber Rückschlüsse auf die allgemeinen Motive der Staaten bei der Bekämpfung von Kriegsverbrechen und anderen schweren Menschenrechtsverstößen zulässt, so tritt der Weltgemeinschaftsgedanke in besonderer Deutlichkeit hervor. Dort ist davon die Rede, „that all peoples are united by common bonds, their cultures pieced together in a shared heritage“,281 von „atrocities that deeply shock the conscience of humanity“282 und – am allerdeutlichsten – von „crimes of concern to the international community as a whole“.283 Die Dominanz des Weltgemeinschaftsgedankens in der Bekämpfung von Terrorismus, Kriegsverbrechen und schweren Menschenrechtsverstößen überrascht wenig. Aber entgegen einer teilweise vertretenen Ansicht284 fin277 Als Beispiele seien hier die Äußerungen des thailändischen Delegierten („Hijackers should be regarded as enemies of the human kind and consequently be punishable by all.“; ICAO Doc. 8979-LC/165-1, S. 19), der griechischen Delegation („The pirate of the air not only endangers the lives of passengers and the crew in the aircraft [. . .], but he displays contempt for the international community at large, for he undermines the confidence of the peoples of the world in the safety of civil aviation. Therefore, [. . .] he must in any event be deprived of the hope of escaping the penalty.“; ICAO Doc. 8979-LC/165-2, S. 91) sowie der Delegation Costa Ricas, die von „offenders against mankind“ (ICAO Doc. 8979-LC/165-2, S. 134) spricht, erwähnt. 278 Zitat nach Gross, AJIL 67 (1973), S. 508 (510). 279 3. Erwägungsgrund der Präambel der UN-Söldnerkonvention. 280 3. Erwägungsgrund der Präambel der Afrik. Antisöldnerkonvention. 281 1. Erwägungsgrund der Präambel. 282 2. Erwägungsgrund der Präambel. 283 4. Erwägungsgrund der Präambel sowie Art. 5 I.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
den sich auch in einigen Verträgen gegen typische Erscheinungsformen der internationalen organisierten Kriminalität Anspielungen auf eine „world community“. Es heißt dort, die Vertragsstaaten handelten „concerned with the health and welfare of mankind“285 und „recognizing, that the addiction to narcotic drugs [. . .] is fraught with social and economic danger to mankind“286 oder „recognizing that eradication of [Drogenhandel bzw. internationaler Korruption] is a collective responsibility of all States“.287 Auf den ersten Blick mag es den mitteleuropäischen Betrachter etwas verwundern, die Machenschaften der internationalen organisierten Kriminalität als Verbrechen gegen die „Weltgemeinschaft“ anzusehen, handelt es sich doch letztlich nur um „gewöhnliche“ Straftaten. Dennoch sollte nicht übersehen werden: Die straffe Organisation und die Höhe der erzielten Gewinne haben mafiöse Gruppierungen zu Machtfaktoren gemacht, die gerade in der so genannten „Dritten Welt“ in der Lage sind, Staaten an den Rand des Zusammenbruchs zu führen. Werden solche kriminellen Strukturen nicht von Anfang an konsequent bekämpft, besteht die Gefahr, dass sie ihren Tätigkeitsbereich über ihr Ursprungsland hinaus expandieren und nun auch andere Staaten in Gefahr bringen. Es ist deshalb keineswegs abwegig, sie als „Weltgemeinschaftsverbrechen“ zu betrachten. Die Vertragspraxis zeigt, dass die „Weltgemeinschaft“ in den Köpfen der Staaten zunehmend ein ideelles, humanitäres Konzept geworden ist, das über rein utilitaristische Erwägungen hinausgeht. Anders gewendet: Die universelle Verfolgung einer Straftat wird zunehmend nicht deshalb völkerrechtlich sichergestellt, weil es aufgrund der tatsächlichen Natur der Tat völlig unsachgemäß wäre, die Verfolgung allein den unmittelbar betroffenen Staaten zu überlassen, sondern weil dies angesichts des gemeinsamen ideellen Interesses an dem Erhalt des bedrohten Rechtsgutes politisch nicht wünschenswert wäre. Von allen Straftaten, für die heutzutage ein „aut dedere – aut iudicare“ auf vertraglicher Grundlage gilt, sind nur Flugzeugentführungen und Entführungen von Schiffen schon rein tatsächlich weitgehend „internationalisiert“. Nur ihr Täter ist rein faktisch schwerer durch einen Staat im Alleingang zu bestrafen als der „gewöhnliche Straftäter“, 284
So ist bspw. Schmidt, Externe Strafpflichten, S. 29 der Ansicht, Drogenschmuggel würde ausschließlich nationale Rechtsgüter verletzen. 285 1. Erwägungsgrund der Präambel des Suchtstoffeeinheitsübereinkommens; ähnl. 1. Erwägungsgrund der Präambel der Konvention gegen psychotrope Stoffe. (Hervorhebung nicht in den Originalen). 286 3. Erwägungsgrund der Präambel des Suchtstoffeeinheitsübereinkommens (Hervorhebung nicht im Original). 287 Vgl. 10. Erwägungsgrund der Präambel der UN-Antidrogenkonvention; ähnl. 2. Erwägungsgrund der Präambel der OECD-Korruptionskonvention; 10. Erwägungsgrund der Präambel der UN-Korruptionskonvention (Hervorhebung nicht in den Originalen).
A. Vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen
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da er sich in einem Transportmittel aufhält, das geographische Grenzen leicht überschreiten und mit der Hohen See beziehungsweise dem Luftraum über ihr sogar in Räume eindringen kann, die jeder territorialen Souveränität entzogen sind. Gerade weil es in Bezug auf ihn an dieser faktischen „Internationalisierung“ fehlt, wurde auf der Haager Konferenz darauf verzichtet, auch den am Boden – und somit eindeutig im Zuständigkeits- und Machtbereich eines einzigen Staates – handelnden Komplizen des Flugzeugentführers mit in das Vertragswerk einzubeziehen.288 In anderen Kontexten waren die Staaten hier weniger zurückhaltend: Die meisten Straftaten, deren Verfolgung im Sinne eines „aut dedere – aut iudicare“ vertraglich internationalisiert wurde, finden ebenso eindeutig im Zuständigkeitsbereich eines Staates statt wie jedes gewöhnliche Verbrechen. Ein Anschlag auf einen Flughafen, eine Geiselnahme oder ein Bombenattentat sind auf tatsächlicher Ebene zunächst einmal nicht „internationaler“ als ein gewöhnlicher Mord oder Raub.289 Dies wird dort besonders deutlich, wo der „aut dedere – aut iudicare“-Mechanismus schon dann eingreift, wenn Tatort, Täter und Opfer die gleiche Nationalität haben und das einzige internationale Element der Tat in der späteren Flucht des Täters ins Ausland besteht.290 Denn hier sind nicht mehr Staaten direkt von der Tat betroffen, als in jedem „gewöhnlichen“ Fall der grenzüberschreitenden Flucht eines Kriminellen. Dennoch steht hinter dem „Gemeinschaftsinteresse“ an der Bekämpfung dieser „ortsgebundenen“ Straftaten häufig noch eine äußerst „handfeste“ Überlegung. So ist das Funktionieren internationaler Flughäfen beispielsweise nicht nur für den Staat, in dem sich diese jeweils befinden, sondern auch für alle anderen Staaten von eminenter wirtschaftlicher Bedeutung; Störungen sind somit auch tatsächlich „grenzüberschreitend“ spür288 Vgl. die Einlassung des Delegierten der Vereinigten Arabischen Republik, ICAO Doc. 8979-LC/165-1, S. 27. Ein niederländischer Vorschlag zur Streichung der Worte „an Bord“ in Art. 1 wurde daraufhin mit 35 zu 24 Stimmen abgelehnt (vgl. ICAO Doc. 8979-LC/165-1, S. 23 und 32). Das Erfordernis der Anwesenheit an Bord für Täter wie Teilnehmer ergibt sich aus dem einleitenden Halbsatz des Art. 1 Haager Konvention („Any person, who on board an aircraft in flight [. . .]“ [Hervorhebung nicht im Original]), der sich sowohl auf den in lit. a) genannten Täter als auch auf den in lit. b) genannten Teilnehmer bezieht (so auch Guillaume, in Ascensio/Decaux/Pellet, S. 529; ders., AFDI 1970, S. 35 [37], Shubber, ICLQ 1973, S. 687 [694]). Das Haager Repressionsinstrumentarium ist also nicht in der Lage, den planenden Kopf im Hintergrund, der – etwa im Stile eines Osama bin Ladens – vom sicheren Versteck aus das Unternehmen befehligt, zu erfassen. 289 Aus diesem Grund kritisiert Mankiewicz, AFDI 1971, S. 855 (868), dass die Montrealer Konvention auch für Sabotageakte auf geparkte Flugzeuge ein „aut dedere – aut iudicare“ vorsieht. 290 Vgl. bspw. Art. 13 UN-Geiselnahmekonvention; Art. 3 Sprengstoffattentateübereinkommen; Art. 3 Terrorismusfinanzierungskonvention; Art. 3 Nuklearterrorismuskonvention.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
bar. Ebenso profitieren alle Staaten von der ständigen internationalen Diplomatie, so dass sie auch alle ein unmittelbares Interesse daran haben, diese gegen terroristische Angriffe zu verteidigen. Schwieriger ist dagegen zu verstehen, wieso eine Geiselnahme oder ein Bombenattentat auch dann der „Völkergemeinschaft Anlass zu ernster Besorgnis“291 geben sollen, wenn ihr einziges internationales Element die spätere Flucht des Täters ins Ausland ist. Vorwiegend wohl nur deshalb, weil Geiselnahmen und Bombenattentate angesichts ihrer physischen und psychischen Grausamkeit die humanitären Empfindungen auch im eigentlich nicht betroffenen Ausland besonders verletzen. Hier beginnt sich die „Weltgemeinschaft“ langsam von einer Zweckgemeinschaft zur Verteidigung der für das gemeinsame Überleben notwendigen Einrichtungen zu einer humanitäre Zielsetzungen verfolgenden Wertegemeinschaft zu entwickeln. Allerdings ist diese Entwicklung im Rahmen der Terrorismusbekämpfung unvollständig geblieben, denn haben Täter, Tatort und Opfer dieselbe Nationalität, trifft zwar einen ausländischen Zufluchtsstaat eine Strafverfolgungspflicht nach dem Muster „aut dedere – aut iudicare“, der Tatortstaat kann dagegen mangels Anwendbarkeit des entsprechenden Abkommens ohne Völkerrechtsverstoß von einer Bestrafung absehen, wenn der Täter in seinem Staatsgebiet bleibt.292 Im Rahmen der Europäischen Antiterrorkonvention – deren Unterschiede zu den universell angelegten Antiterrorverträgen schon oben hervorgehoben wurde – fehlt eine Pflicht des Tatortstaates, die entsprechenden Handlungen in seinem Recht als Straftaten zu inkriminieren, sogar völlig.293 Würde man dem „Weltgemeinschaftsgedanken“ konsequent folgen, dürfte der Tatortstaat aber selbst dann, wenn er als einziger Staat unmittelbar betroffen ist und der Täter sich noch in seinem Gebiet aufhält, nicht unilateral über die Bestrafung einer Tat, die die gesamte Menschheit verletzt hat, disponieren. Ihren Höhepunkt hat die Verschiebung des „Weltgemeinschaftsgedankens“ von der rein praktischen Notwendigkeit in die Sphäre des Ideellen dagegen in den Verträgen der 1980er und 1990er Jahre zur Bestrafung der Folter und des Verschwindenlassens erreicht. Diese richten sich gerade auch gegen Taten, die ein Staat auf seinem eigenen Territorium durch seine eigenen Bürger gegen seine eigenen Bürger begehen lässt. Für die Bestrafungspflicht des Tatortstaates muss überhaupt kein klassisch „internationales“ Element der Tat hinzukommen; das „aut dedere – aut iudicare“ kommt natürlich auch hier – da es sich ja gerade an einen Zufluchtsstaat richtet – nur nach einer Flucht des Täters ins Ausland in Be291 Vgl. 4. Erwägungsgrund der Präambel der UN-Geiselnahmekonvention; 10. Erwägungsgrund der Präambel des Sprengstoffattentateübereinkommens; 9. Erwägungsgrund der Präambel der Terrorismusfinanzierungskonvention. 292 Vgl. die oben in Fn. 290 erwähnten Vorschriften. 293 Siehe oben Fn. 119.
A. Vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen
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tracht. Foltert ein Regime aber auf seinem eigenen Staatsgebiet seine eigenen Bürger oder lässt es Regimekritiker unter ihnen verschwinden, ist – so zynisch dies auf den ersten Blick anmuten mag – kein praktisch unmittelbar spürbares Interesse anderer Staaten bedroht. Auch besteht weder ein durch die „Herrschaftsfreiheit“ des Tatortes verursachtes „Zuständigkeitsvakuum“ noch eine besondere Mobilität des Täters, die eine Verfolgung durch alle Staaten hier zwingender erscheinen ließen als in anderen Kriminalitätsbereichen. Weder, dass der Täter sich besonders leicht durch Flucht der Staatsgewalt des unmittelbar betroffenen Staates entziehen könnte, noch, dass die Tat zwingend mehrere Staaten im herkömmlichen Sinn direkt beträfe, kann die universelle Verfolgungspflicht hier legitimieren. Dies vermag allein die in eine juristische Fiktion der Gemeinschaftsbetroffenheit gegossene ethische Überzeugung, dass bestimmte Rechtsgüter, die rein tatsächlich durchaus einem einzigen Staat zugeordnet werden können und dies früher auch wurden294 – etwa der Schutz der Menschenwürde und der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Bürger – heute von der ganzen Staatengemeinschaft gemeinsam zu verteidigen sind. Eben diese Fiktion, die uns heute so vertraut erscheint, bereitete vielen Staaten noch vor wenigen Jahren große Schwierigkeiten. So wurde ein Verfolgungsrecht und eine Verfolgungspflicht aller Staaten im Rahmen der Völkermordkonvention nicht zuletzt deswegen abgelehnt, weil Völkermord anders als Piraterie üblicherweise nicht in internationalen Gewässern begangen werde und deshalb kein ausreichendes internationales Element aufweise.295 Noch bei der Ausarbeitung der UN-Folterkonvention Anfang der 1980er Jahre war das Vereinigte Königreich der Ansicht, das Haager „aut dedere – aut iudicare“-Modell sei im Bereich der Menschenrechtsverbrechen nicht sachgemäß, da die Flugzeugentführung einen „more obvious international character“ als Folter habe. Auch Uruguay hatte in diesem Kontext ähnliche Vorbehalte gegen ein „aut dedere – aut iudicare“ geäußert, da Folter nicht „international in its nature“ sei.296 Dagegen kann der Weltgemeinschaftsgedanke – unabhängig von seiner eher „humanistischen“ oder „utilitaristischen“ Ausprägung – nicht das tragende Motiv der „aut dedere – aut iudicare“-Bestimmungen in Auslieferungsverträgen sein. Angesichts der großen Breite der Straftaten, für die solche Auslieferungsverträge gelten, überrascht es wenig, dass sich schon in den Präambeln der drei großen regionalen Auslieferungsverträge keine Hin294 Zur ursprünglich rein innerstaatlichen Natur der Menschenrechte vgl. Doehring, Rn. 968; Burgers/Danelius, S. 5; speziell für die Folter auch Henzelin, S. 350. 295 Vgl. zu dieser Argumentation der franz., sowjet. und ind. Delegierten Lippmann, TICLJ 8 (1994), S. 1 (60); Schabas, Genozid, S. 470 f. 296 Vgl. Burgers/Danelius, S. 58 und 78. Erst im Laufe des letzten Verhandlungsjahres 1984 gaben alle Staaten solche Vorbehalte auf (vgl. Burgers/Danelius, S. 94).
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
weise auf die Idee einer gemeinsamen Verteidigung überragender Werte der Weltgemeinschaft finden: Auslieferungsverträge gelten je nach der im Einzelnen angewandten Technik entweder für einen langen Katalog von enumerativ aufgezählten Straftaten oder aber, wie dies in neueren Verträgen häufiger der Fall ist, für jede Straftat, bei der die Strafandrohung im Höchstmaß eine gewisse Grenze, meist 1 oder 2 Jahre Freiheitsstrafe, übersteigt.297 Immer ist ihr Anwendungsbereich sehr viel breiter als jener der zuvor beschriebenen Verträge, die nur einige wenige Taten von ganz außergewöhnlicher Schwere betreffen. Und auf jeden Fall reicht er weit über den eng begrenzten Kreis von Taten hinaus, die gemeinhin als „international offences“ bezeichnet werden.298 Es wäre auch geradezu grotesk, anzunehmen, alle Straftaten, die nach nationalem Strafrecht mit einer Freiheitsstrafe von im Höchstmaß mehr als einem Jahr bedroht sind, würden von den Vertragsstaaten nicht nur als Verstöße gegen nationales Recht, sondern als Taten gegen die „Menschheit als Ganzes“ betrachtet. Auslieferungsverträge sind vielmehr ein klassischer Fall der zwischenstaatlichen Kooperation in Strafsachen, die auf der Basis der Gegenseitigkeit die Durchsetzung rein nationaler Vorstellungen von Rechtsgüterschutz auch im Falle einer Flucht ins Ausland sicherstellen soll. Ein Staat lässt sich auf sie nicht ein, weil er die entsprechenden Taten für eine Verletzung besonders schutzwürdiger „internationaler“ Rechtsgüter hält, sondern weil er bereit ist, seinem Partner bei der Durchsetzung von dessen nationalem Strafrecht gegenüber flüchtigen Verbrechern zu helfen, wenn dieser im umgekehrten Fall dasselbe tut: „do ut des“ oder, besser noch, „iudico ut iudices“.
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungsoder Strafverfolgungspflichten Im Anschluss an die Untersuchung der vertraglichen Strafverfolgungsoder Auslieferungsgebote wendet sich die Untersuchung nun der Frage zu, die bereits seit dem 16. Jahrhundert die Völkerrechtswissenschaft entzweit: Unterliegt der Zufluchtsstaat auch ohne vertragliche Regelung einem – nach heutigem Völkerrechtsverständnis dann gewohnheitsrechtlichen – „aut 297 Vgl. zur Technik der Bestimmung der auslieferungsfähigen Straftaten oben Fn. 255. 298 Was im Einzelnen genau ein „international offence“ ist, ist strittig (vgl. Oehler, Int. Strafrecht, S. 533; Bassiouni/Wise, S. 5 f.). Die Kurzdefinition bei Brownlie, S. 313 scheint jedoch den Kern des Begriffes wiederzugeben, wenn sie darunter Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit und den Frieden fasst, wobei dieser Kreis vielleicht noch um Straftaten des internationalen Terrorismus zu erweitern ist (vgl. Bassiouni/Wise, S. 21). Jedenfalls geht es um einen im Vergleich zur Gesamtkriminalität sehr kleinen Kreis schwerster Straftaten.
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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dedere – aut iudicare“?299 Dabei sollten zwei Dinge gleich zu Anfang klargestellt werden: Erstens, eine gewohnheitsrechtliche Pflicht zur Auslieferung von Straftätern – wie sie Bodin oder später Kent vorschwebte300 – gibt es im heutigen Völkerrecht nach praktisch einhelliger Auffassung nicht.301 Fraglich – und im Folgenden zu untersuchen – kann lediglich sein, ob die Zufluchtsstaaten von Straftätern wenigstens verpflichtet sind, im Falle der Nichtauslieferung selbst Strafverfolgungsmaßnahmen einzuleiten. Deshalb wird die Strafverfolgungspraxis gegenüber Auslandstaten den Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung bilden, wenngleich da und dort auch auf die Auslieferungspraxis eingegangen werden wird. Ein „aut dedere – aut iudicare“ zeichnet sich eben nicht so sehr durch die Auslieferungsvariante aus, als vielmehr dadurch, dass es den Zufluchtsstaat bei Nichtauslieferung zur Strafverfolgung verpflichtet und dadurch „safe havens“ abschneidet. Zweitens, es kann schon hier festgehalten werden, dass sich ein solches „aut dedere – aut iudicare“ im heutigen Völkerrecht ganz unstreitig für „gewöhnliche“ Straftaten gegen nationales Strafrecht nicht etabliert hat.302 Bereits in den vergangenen Jahrhunderten hatte sich die Diskussion überwiegend auf Taten beschränkt, die einen ausländischen Staat in besonderer Weise verletzt haben oder die wegen ihrer Schwere angeblich die gesamte Menschheit betrafen.303 In der Tradition der letztgenannten Fallgruppe stehen die heutigen Befürworter eines gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“. Auch sie wollen dieses Rechtsinstitut nur auf bestimmte Straftaten von ganz herausragender internationaler Bedeutung, wie Völkermord, Kriegsverbrechen, schwere Menschenrechtsverstöße oder Terrorismus, erstrecken.304 Aber selbst für diesen eingeschränkten Kreis von Straftaten dürfte es sehr schwer sein, ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – 299
Zur Debatte und Praxis im 16. bis 18. Jahrhundert siehe 2. Kapitel D; zum 19. Jhd. 2. Kapitel E. I. 4. und II. 300 Vgl. oben 2. Kapitel D. I. 3. und E. II. Fn. 301. 301 Vgl. schon oben 1. Kap. Fn. 85. 302 Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1006 f.; Joyner/Rothbaum, Mich. J. of Int.’l. L. 14 (1993), S. 222 (232). Auch der IGH hat im Asylfall in einem obiter dictum kurz und knapp festgestellt, dass der Zufluchtsstaat mit der Gewährung territorialen Asyls für einen Straftäter keine Rechte des Tatortstaates verletzt (vgl. ICJ Rep. 1950, S. 266 [274]). 303 Vgl. dazu näher oben 2. Kapitel D. I. 304 Vgl. Bassiouni, Crimes against humanity, S. 219; so wohl auch IGH, Case concerning the interpretation and application of the 1971 Montreal Convention arising from the aerial incident at Lockerbie (Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom), Provisional Measures, op. diss. Ranjeva, ICJ Rep. 1992, S. 72; op. diss. Weeramantry, ICJ Rep. 1992, S. 50 (51 und 69) (der aber das „aut dedere – aut iudicare“ mit dem Fehlen einer vertragsunabhängigen Auslieferungspflicht zu ver-
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
aut iudicare“ pauschal zu bejahen.305 Geboten ist ein differenziertes Vorgehen: Für jedes einzelne dieser Verbrechen ist gesondert zu untersuchen, ob die Staatenpraxis ein Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot anerkennt. Methodisch lehnt sich der Gang der Untersuchung dabei an Art. 38 Absatz 1 IGH-Statut an. Zuerst wird die Staatenpraxis seit 1945 untersucht, wobei innerstaatlichen Gerichtsentscheidungen über die Auslieferung oder strafrechtliche Verfolgung von Tätern ein besonders prominenter Platz eingeräumt wird, da es erst hier wirklich „zum Schwur“ bezüglich eines „aut dedere – aut iudicare“ kommt. In der unterstützenden Funktion eines „Hilfsmittels“ sollen dann anschließend die Entscheidungen der internationalen Gerichte und „die Lehrmeinung der fähigsten Völkerrechtler“ berücksichtigt werden.
I. Die Staatenpraxis und Rechtsüberzeugung seit 1945 1. Kriegsverbrechen, Völkermord und weitere schwere Menschenrechtsverstöße Zum Kern der „international crimes“ zählen sicherlich Kriegsverbrechen, Völkermord und andere schwere Menschenrechtsverstöße, wie etwa das Foltern, Verschwindenlassen oder Töten von Regimegegnern. Dennoch kann eines dieser „core crimes“ im Rahmen der folgenden Untersuchung getrost außer Acht gelassen werden: das „klassische“, in einem internationalen bewaffneten Konflikt begangene Kriegsverbrechen. Die Frage nach einem gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“ ist hier nämlich nahezu ohne jede praktische Relevanz. Die Genfer Konventionen sind mit 192 Mitgliedstaaten noch universeller akzeptiert als die UN-Charta (191 Staaten); es sind damit kaum noch schwere Kriegsverbrechen in internationalen bewaffneten Konflikten denkbar, die nicht ihrem vertraglichen „aut wechseln scheint [vgl. 1. Kapitel C. bei Fn. 84]); ausdr. offen op. diss. Bedjaoui, ICJ Rep. 1992, S. 34 (38). 305 Die gewohnheitsrechtliche Geltung des Grundsatzes „aut dedere – aut iudicare“ für alle internationalen Verbrechen wird deshalb überwiegend abgelehnt, vgl. bspw. Plachta, MJ 1999, S. 331 (333); Cassese, Int. Criminal Law, S. 3001; Stein, EPIL II, S. 328 f.; Gilbert, S. 322; Tomuschat, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 29 (der nur bzgl. schwerer Verletzungen der Genfer Konventionen eine Ausnahme macht); Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1006 f.; Lambert, Hostages, S. 190; Murphy, Punishing, S. 36; Swart, in: Cassese/Gaeta/Jones, S. 1639 (1663); IGH, Case concerning the interpretation and application of the 1971 Montreal Convention arising from the aerial incident at Lockerbie (Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom), Provisional Measures, decl. Evensen, Tarasov, Guillaume, Aguilar Mawdsley ICJ Rep. 1992, S. 24; wohl auch Bantekas/Nash, Int. Criminal Law, S. 161.
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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dedere – aut iudicare“ unterliegen. Ob sie darüber hinaus sogar Gewohnheitsrecht widerspiegeln,306 ist für internationale bewaffnete Konflikte eher von theoretischer Bedeutung. Bezüglich schwerer Verstöße gegen das in internen bewaffneten Konflikten geltende humanitäre Völkerrecht (im Folgenden kurz: „Bürgerkriegsverbrechen“) besteht dagegen – jedenfalls prima facie – eine Lücke im Vertragsrecht. Denn sie werden von den „aut dedere – aut iudicare“-Vorschriften der Genfer Konventionen und des 1. Zusatzprotokolls nach deren herkömmlicher Lesart nicht erfasst;307 das in solchen Konflikten anwendbare 2. Zusatzprotokoll sowie der sich ebenfalls mit „Bürgerkriegen“ befassende gemeinsame Artikel 3 der Genfer Konventionen enthalten aber keinerlei „Strafvorschriften“. Nur die Zerstörung, Aneignung und der militärische Missbrauch von Kulturgütern sind hier einem vertraglichen „aut dedere – aut iudicare“ unterworfen.308 Bürgerkriegsverbrechen und Völkermord – für den oben unter A. II. 2. ebenfalls das Fehlen eines vertraglichen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes festgestellt werden musste – bilden deshalb den Schwerpunkt der folgenden Ausführungen; abschließend soll noch kurz auf im Frieden begangene schwere Menschenrechtsverstöße eingegangen werden. a) Kriegsverbrechen in internen Konflikten Ein „aut dedere – aut iudicare“ für Bürgerkriegsverbrechen ließe sich rechtstechnisch auf zwei Arten konstruieren: Zum einen könnten die „grave breaches“-Bestimmungen der Genfer Konventionen in der „subsequent practice“ der Vertragsparteien entgegen ihrer ursprünglichen Intention nun so ausgelegt werden, dass sie auch in Bürgerkriegen gelten;309 zum anderen könnte sich für Verstöße gegen den gemeinsamen Artikel 3 der Genfer Konventionen und deren 2. Zusatzprotokoll, die den Kern des in internen bewaffneten Konflikten anwendbaren humanitären Völkerrechts darstellen, gewohnheitsrechtlich ein „aut dedere – aut iudicare“ herausgebildet haben.310 306
So bspw. Henzelin, S. 354; Kreß, ISYHR 30 (2000), S. 103 (170); ICTY, Trial Chamber, Furundzija, IT-95-17/1, Urteil vom 10.12.1998, Ziff. 137; IGH, Affaire des activités militaires et paramilitaires au Nicaragua et contre celui-ci, ICJ Rep. 1986, S. 14 (113); Nguyen/Daillier/Pellet, Rn. 577; Tomuschat, in: Ascensio/ Decaux/Pellet, S. 28; Cassese, Int. Criminal Law, S. 302. 307 Vgl. G. und R. Abi-Saab, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 282; Meron, AJIL 89 (1995), S. 554 (559). Eine gewisse Sonderstellung nehmen die „nationalen Befreiungskriege“ ein, die nach dem 1. Zusatzprotokoll unter bestimmten Umständen als „international“ gelten (vgl. Art. 1 IV, 96 III 1. ZP sowie Ipsen, in: ders., § 66 Rn. 15 ff.; Uibopuu, EPIL IV, S. 1407.) 308 Vgl. das oben unter A. II. 1. c) vorgestellte 2. ZP zur Kulturgüterschutzkonvention. 309 Vgl. zur Bedeutung einer solchen Praxis Art. 31 III b) WVRK.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
aa) Innerstaatliche Gerichtsentscheidungen (1) Dänemark: Saric Refik Saric, ein bosnischer Muslim, der ursprünglich Gefangener im bosnisch-kroatischen Lager Dretelj gewesen war, dort aber zum Wächter „aufstieg“ und seine früheren Mitgefangenen nun selbst – z. T. bis zu deren Tod – misshandelt hatte, wurde von dänischen Gerichten 1994 unter ausdrücklicher Berufung auf Artikel 129 und 130 Genfer Konvention III sowie Artikel 146 und 147 Genfer Konvention IV zu 8 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, ohne dass sich die Richter mit dem internen oder internationalen Charakter des Bosnienkonflikts auseinandergesetzt hätten.311 Die Situation, in der sich der Fall abspielte, war aber zumindest prima facie die eines internen bewaffneten Konflikts, und somit nach klassischer Lesart gar nicht von den genannten Vorschriften erfasst: Bosnische Staatsbürger muslimischen Glaubens waren in einem von bosnischen Staatsbürgern kroatischer Abstammung geführten Lager misshandelt worden, während Milizionäre der letztgenannten Ethnie gegen die Zentralregierung des gemeinsamen Staates kämpften. Als später das ICTY sowie die deutschen und schweizerischen Gerichte den Bosnienkonflikt dennoch in großem Umfang als „international“ einstuften, hoben sie dies ausdrücklich und mit einigem Begründungsaufwand hervor.312 Nichts dergleichen ist in der Saric-Entscheidung zu finden. Man muss somit unterstellen, dass die dänischen Gerichte entweder stillschweigend von der nahe liegenden Qualifizierung des bosnischen Bürgerkrieges als „intern“ ausgingen, das Genfer „grave breaches“-Regime aber dennoch anwandten, oder aber – vielleicht noch überzeugender –, dass sie die Unterscheidung zwischen „internem“ und „internationalem“ Konflikt in diesem Zusammenhang für völlig irrelevant hielten.313 Welche Variante zutrifft, kann hier offen bleiben, denn in beiden Lesarten ist „Saric“ nicht nur der erste Anwendungsfall der Genfer „grave breaches“-Bestimmungen überhaupt,314 sondern auch das erste Indiz für deren Anwendbarkeit in Bürgerkriegen.
310 Vgl. zu diesen beiden Konstruktionsmöglichkeiten auch ICTY, Prosecutor v. Tadic, 02.10.1995, IT-94-1-AR72, sep. op. Abi-Saab, Ziff. IV; ders. u. R. Abi-Saab, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 282. 311 Vgl. Eastern Division of the High Court, 25.11.1994 (am 15.08.1995 vom dän. OGH bestätigt); engl. Übersetzung unter http://www.icrc.org/ihl-nat.nsf erhältlich. 312 Vgl. dazu näher unten (4) und (5). 313 Letzteres vermutet Graditzky, RICR 1998, S. 29 (35). 314 Vgl. hierzu Maison, EJIL 1995, S. 260 (262).
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(2) Frankreich: Javor und Wenceslas Munyeshyaka Im Falle der Bosnierin Elvir Javor, die zusammen mit anderen Opfern in Frankreich Strafanzeige gegen „unbekannt“ wegen Folter, Kriegsverbrechen, Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Bosnien gestellt hatte, verneinte die Cour de Cassation315 dagegen das Bestehen französischer Gerichtsbarkeit gemäß der Genfer Konventionen. Sie stellte in ihrer Begründung jedoch nicht auf den internen Charakter des Bosnienkonfliktes ab, sondern ausschließlich darauf, dass es keinen Anhaltspunkt für die Anwesenheit der unbekannten Täter in Frankreich gebe. Dies ist unter dem Blickwinkel eines „aut dedere – aut iudicare“ auch nur folgerichtig, da dieser Satz nur den Zufluchtsstaat des Täters verpflichtet.316 Dass auch hier jede Auseinandersetzung mit dem „internen“ oder „internationalen“ Charakter des zugrunde liegenden Konfliktes fehlt und man sogar den Eindruck gewinnt, im Falle eines anwesenden Täters hätte die Cour de Cassation trotz der prima facie internen Natur der Feindseligkeiten die französische Gerichtsbarkeit auf Grundlage der Genfer Konventionen bejaht,317 zwingt zu denselben Schlussfolgerungen wie im Fall Saric: Entweder man hielt die Natur des Konfliktes in diesem Kontext für irrelevant, oder man ging stillschweigend davon aus, dass in Bosnien ein interner bewaffneter Konflikt stattfand, das Genfer „grave breaches“-Regime aber dennoch anwendbar sei. Der Fall Wenceslas Munyeshyaka betraf dann mit den Vorgängen in Ruanda unzweifelhaft einen internen bewaffneten Konflikt318. Der Angeklagte, ein ruandischer Priester, der sich im September 1994 nach Frankreich geflüchtet hatte, soll im April und Mai 1994 in Kigali Tutsi für Massaker selektiert, ihnen Nahrung und Wasser verweigert und Frauen vergewaltigt haben. Die Cour de Cassation entschied, in der Formulierung ersichtlich an ihr Urteil im Fall Javor angelehnt: „[. . .] les auteurs ou complices des actes qui constituent [. . .] des infractions graves à l’article 3 commun aux Conventions de Genève du 12 août 1949 et au Protocole additionnel II auxdites Conventions, en date du 8. Juin 1977, un génocide ou des crimes contre l’humanité, peuvent, s’ils sont trouvés en France, être poursuivis et jugés par les juridictions françaises [. . .]“.319 315
Cour de Cassation, Chambre Criminelle, Urteil v. 26.03.1996, nº 95–81527. Vgl. 1. Kapitel A. 317 Vgl. den entscheidenden Satz „[. . .] les juridictions françaises ne peuvent poursuivre et juger, que s’ils sont trouvés en France, les auteurs ou complices de crimes [. . .] qui constituent [. . .] des infractions graves aux Conventions de Genève du 12 août 1949 [. . .]“. 318 Zur völlig einmütigen Einschätzung des Ruanda-Konflikts als „intern“ in Literatur und Praxis vgl. Reydams, Eur. J. Crime, Crim. L. & Crim. Just. 1996, S. 18 (27). 316
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
Das Urteil ist insofern eine Bestätigung der althergebrachten Sicht des humanitären Völkerrechts, als – wie durch die in Fußnote 319 erwähnte nachträgliche „Berichtigung“ deutlich wurde – die Cour de Cassation nur die Artikel 3 der Genfer Konventionen und das 2. Zusatzprotokoll für das in internen Konflikten anwendbare Recht hält, unter Ausschluss der übrigen Bestimmungen des „droit de Genève“. Dies sollte aber nicht über eine andere, innovative Aussage des Urteils hinwegtäuschen: Obwohl die genannten Bestimmungen des humanitären Völkerrechts in internen Konflikten nicht den geringsten Anhaltspunkt für ein Recht oder gar eine Pflicht des Zufluchtsstaates zur Verfolgung von Verstößen enthalten, sieht sich die Cour de Cassation als berechtigt an, ein von einem Ruander in Ruanda an Ruandern begangenes Bürgerkriegsverbrechen zu verfolgen. Sogar für die Annahme einer Verfolgungspflicht – und damit eines „aut dedere – aut iudicare“ – gibt es ein Indiz: die Verwendung des Begriffes „infractions graves“. Dieser terminus technicus der Genfer Konventionen bezeichnet dort diejenigen Verstöße, die ein „aut dedere – aut iudicare“ nach sich ziehen.320 (3) Niederlande: Knesevic Auch in den Niederlanden tauchte Mitte der 1990er Jahre die Frage auf, wie mit dort anwesenden Bürgern Ex-Jugoslawiens zu verfahren sei, die Kriegsverbrechen begangen haben. Darko Knesevic wurde der Tötung, Vergewaltigung und Verschleppung von Zivilisten in Bosnien beschuldigt. Die niederländischen Gerichte bejahten in vier Entscheidungen einmütig die Kompetenz der niederländischen Justiz zur Verfolgung dieser Taten.321 Aus 319 Cour de Cassation, Chambre Criminelle, 06.01.1998, nº 96–82491, berichtigt am 10.02.1998. Im ursprünglichen Urteil war dagegen noch auf die Gesamtheit der Genfer Konventionen und ihrer Zusatzprotokolle Bezug genommen worden (Hervorhebung nicht im Original). 320 Vgl. oben A. II. 1. a). Dass im Urteil von „peuvent“ statt „doivent [. . .] être poursuivis“ die Rede ist, widerspricht dem nicht zwingend: Diese Formulierung sollte lediglich dem von den Vorinstanzen aufgeworfenen Einwand fehlender Gerichtsbarkeit entgegen treten, muss aber nicht unbedingt als Stellungnahme zu der von den Parteien gar nicht diskutierten Frage obligatorischer oder fakultativer Verfolgung gelesen werden. 321 Vgl. das Urteil der Arrondissementsrechtsbank te Arnhem, militaire kamer (raadkamer) vom 21.02.1996 (engl. Übersetzung unter http://www.icrc.org/ihl-nsf; in Auszügen in NYIL 1999, S. 277 [317 ff.] erhältlich), unter der Überschrift „Decision“, das zwar zunächst wegen eines Verfahrensfehlers aufgehoben (vgl. Hooge Raad de Nederlander [Straftkamer], Urteil v. 22.10.1996, [engl. Übersetzung unter http://www.icrc.org/ihl-nsf erhältlich], Ziff. 5.4 und 5.5), hinsichtlich der Kompetenzfrage aber später in allen Instanzen bestätigt wurde (vgl. Gerechtshof te Arnhem, militaire kamer, Urteil v. 19.03.1997, [engl. Übersetzung unter http://www. icrc.org/ihl-nsf, in Auszügen in NYIL 1999, S. 277 [324 f.] erhältlich], Ziff. 4.6;
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den Begründungen lässt sich entnehmen, dass sie dabei von der Geltung eines „aut dedere – aut iudicare“ für Bürgerkriegsverbrechen ausgingen, denn sie bewerteten die beschriebenen Vorgänge als Verstöße gegen den nur in internen bewaffneten Konflikten anwendbaren Artikel 3 der Genfer Konventionen,322 ja qualifizierten den bosnischen Bürgerkrieg sogar zum Teil ausdrücklich als „intern“,323 begründeten ihre extensive Auslegung der Kompetenzvorschriften des niederländischen Strafrechts aber dennoch mit dem Ziel, ihre Rechtsprechung in Einklang mit „the obligation contained in the Red Cross Conventions to try (or surrender) offenders“324 zu bringen. (4) Schweiz: Grabec und Niyonteze Als erstes innerstaatliches Gericht beurteilte dagegen das schweizerische Tribunal Militaire de Division 1 (Lausanne) im Fall Grabec den gesamten Jugoslawienkonflikt einschließlich des bosnischen Bürgerkriegs als „international“, und zwar vom Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der Unabhängigkeitserklärungen Sloweniens und Kroatiens am 8. Oktober 1991 an.325 Damit war es unproblematisch, die schweizerische Kompetenz zur Verfolgung von Misshandlungen in den bosnisch-serbischen Lagern Omarska und Keraterm im Sommer 1992 auf Artikel 108 Absatz 1 Code Pénal Militaire (im Folgenden: CPM) i. V. m. den „aut dedere – aut iudicare“-Bestimmungen der III. und IV. Genfer Konvention zu stützen.326 Allerdings wurde in der Hooge Raad de Nederlander [Straftkamer], Urteil v. 11.11.1997, [engl. Übersetzung unter http://www.icrc.org/ihl-nsf, in Auszügen in NYIL 1999, S. 277 [325 ff.] erhältlich], Ziff. 6.4.). 322 Hooge Raad de Nederlander (Straftkamer), Urteil v. 22.10.1996, (Fn. 321), Ziff. 4.1.2.4; Hooge Raad de Nederlander (Straftkamer), Urteil v. 11.11.1997, (Fn. 321), Ziff. 6.1. 323 Arrondissementsrechtsbank te Arnhem, militaire kamer (raadkamer), (Fn. 321), Ziff. 6.3. 324 Gerechtshof te Arnhem, militaire kamer, (Fn. 321), Ziff. 4.5 (zit. nach der Übersetzung aus NYIL 1999, S. 277 [324]); ähnl. Arrondissementsrechtsbank te Arnhem, militaire kamer (raadkamer), (Fn. 321), Ziff. 10; Hooge Raad de Nederlander (Straftkamer), Urteil v. 11.11.1997, (Fn. 321), Ziff. 5.3. 325 Tribunal Militaire de Division 1 (Lausanne), Urteil v. 18.04.1997, (unveröff.; im Internet unter http://www.icrc.or/ihl-nat.nsf erhältlich), unter der Überschrift „En droit; Compétence“. Zusammenfassung mit kurzer, zu der dort vorgenommenen Qualifizierung des Konflikts krit. Anm. bei Ziegler, AJIL 92 (1998), S. 78–82. 326 Vgl. das Urteil unter der Überschrift „En droit; Compétence“. Letztlich wurde der Angeklagte aber aus Mangel an Beweisen freigesprochen, da er möglicherweise Opfer einer Verwechslung geworden war (vgl. das Urteil unter der Überschrift „Appréciation des Preuves“). Das Revisionsurteil des Militärkassationsgerichts vom 05.09.1997 (http://www.icrc.org/ihl-nat.nsf) betrifft nur die Höhe der Haftentschädigung und ist insofern hier uninteressant.
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Literatur zu Recht darauf hingewiesen, dass nach schweizerischem Recht die Militärstrafgerichte die betreffenden Taten selbst dann als Verstöße gegen Artikel 3 der Genfer Konventionen und deren 2. Zusatzprotokoll hätten verfolgen können, wenn sie den Bosnienkonflikt als „intern“ betrachtet hätten. Denn nach Artikel 108 Absatz 2 CPM sind auch Verstöße gegen Verträge über das Recht der innerstaatlichen Konflikte in der Schweiz verfolgbar, und zwar anscheinend unabhängig davon, ob der entsprechende Vertrag eine Verfolgung solcher Verstöße nach dem Weltrechtsprinzip überhaupt vorsieht.327 Dieser Fall trat dann im Prozess gegen den ruandischen Flüchtling Niyonteze ein. Ihm wurde u. a. zur Last gelegt, als Bürgermeister zur Ermordung von Tutsi aufgerufen zu haben. Einen Auslieferungsantrag Ruandas hatte die Schweiz wegen der dort drohenden Todesstrafe abgelehnt,328 dann aber getreu dem Grundsatz „aut dedere – aut iudicare“ selbst die Strafverfolgung übernommen. Die zentralen Aussagen des letztinstanzlichen Urteils des Militärkassationsgerichts lauten: 1. Es ist unstreitig, dass in Ruanda ein interner bewaffneter Konflikt stattfand.329 2. Die Artikel 146, 147 Genfer Konvention IV. scheiden als Basis für eine Verurteilung aus. Dies wird aber nicht mit dem „internen“ Charakter des Konflikts, sondern mit einer davon völlig unabhängigen, rein auf das innerstaatliche Recht bezogenen Überlegung begründet: Der CPM bestrafe nur Verstöße gegen direkt die Kampfhandlungen regelnde Völkerrechtsnormen, wozu zwar Artikel 3 der Genfer Konventionen und Artikel 4 des 2. Zusatzprotokolls zu zählen seien, nicht jedoch die Artikel 146, 147 der IV. Genfer Konvention.330 Deshalb kommt das Militärkassationsgericht – anscheinend ohne völkerrechtliche Bedenken – zu dem Ergebnis, dass 3. ein von einem Ausländer in einem internen Konflikt gegenüber Ausländern begangener Verstoß gegen Artikel 3 der Genfer Konventionen oder deren 2. Zusatzprotokoll in der Schweiz auch ohne Rückgriff auf die „grave breaches“-Bestimmungen direkt aufgrund von Artikel 108 Absatz 2 CPM abgeurteilt werden könne.331 Im Ergebnis wurde also auch hier ungeachtet des Fehlens ausdrücklicher „Weltrechts327 Vgl. Ziegler, AJIL 92 (1998), S. 78 (80); ähnl. Graditzky, RICR 1998, S. 29 (34 f.). Art. 108 lautet: Abs. 1. Les dispositions de ce chapitre sont applicables en cas de guerres déclarées et d’autres conflits armés entre deux ou plusieurs Etats; à ces conflits sont assimilés les atteintes à la neutralité, ainsi que le recours à la force pour repousser de telles atteintes. Abs. 2. La violation d’accords internationaux est aussi punissable si les accords prévoient un champ d’application plus étendu. 328 Vgl. Reydams, AJIL 96 (2002), S. 231. 329 Militärkassationsgericht, Urteil v. 27.04.2001 (unveröff.; im Internet unter http://www.icrc.org/ihl-nat.nsf erhältlich), II. 3. d). 330 Vgl. Militärkassationsgericht, Fn. 329, II. 9. a). 331 Militärkassationsgericht, Fn. 329, II. 3. c).
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bestimmungen“ im Recht der internen Konflikte die Kompetenz des Zufluchtsstaates zur Aburteilung von Bürgerkriegsverbrechen bejaht. (5) Deutschland Das wohl umfangreichste „case law“ zu den in Bosnien-Herzegowina begangenen Kriegsverbrechen stammt von den deutschen Gerichten. Bereits im Beschluss des Ermittlungsrichters am BGH über den Haftbefehl gegen den später an das ICTY überstellten Dusko Tadic, findet sich ein erster Anhaltspunkt für ein „aut dedere – aut iudicare“ bei Bürgerkriegsverbrechen. Dort heißt es: „Das Verbrechen der Beihilfe zum Völkermord steht in Tateinheit mit weiteren schweren Straftaten des Beschuldigten, zu deren Verfolgung die Bundesrepublik aufgrund völkerrechtlicher Vereinbarungen verpflichtet ist.“332
Welche Verträge dies sein sollen, lässt der BGH offen. In Frage kämen neben der UN-Folterkonvention333 eigentlich allein die III. und IV. Genfer Konvention. Würde sich der BGH auf diese beziehen, hätte er, wie schon die dänischen und niederländischen Gerichte, ihre aut dedere – aut iudicare-Bestimmungen auf einen jedenfalls prima facie internen Konflikt angewandt. Das BayObLG wandte dann die „aut dedere – aut iudicare“-Normen der Artikel 146, 147 des IV. Genfer Abkommens ausdrücklich auf die Tötung muslimischer Zivilisten durch bosnische Serben an. Es verwies als Begründung hierfür jedoch nicht auf eine durch Gewohnheitsrecht oder „subsequent practice“ entstandene Geltung dieser Norm in innerstaatlichen Konflikten, sondern qualifizierte – so wie es gut einen Monat zuvor auch das schweizerische Militärgericht im Fall Grabec getan hatte – den Krieg in Bosnien-Herzegowina aufgrund der Unterstützung Jugoslawiens für die bosnischen Serben als internationalen Konflikt.334 Diesen Ansatz verfolgte auch der BGH in einem weiteren Fall bosnisch-serbischer Kriegsverbrechen. Er führte aus, dass eine Verfolgungspflicht nach Artikel 146, 147 der IV. Genfer Konvention „jedenfalls nach herkömmlichem Verständnis“ voraussetzen würde, dass der Bosnienkonflikt auch nach dem Rückzug der jugoslawischen Volksarmee am 19. Mai 1992 noch ein internationaler bewaffneter Konflikt war.335 Das ICTY habe dies im zweiten Tadic-Berufungs332
BGH, Beschluss v. 13.02.1994, NStZ 1994, S. 232 (233). Diese war für das ehemalige Jugoslawien am 10.10.1991 in Kraft getreten; das neu entstandene Bosnien-Herzegowina hatte am 06.03.1992 eine Erklärung über die Weiteranwendung abgegeben. Sie war also zum Zeitpunkt der Tadic vorgeworfenen Taten (Juni 1992) anwendbar. 334 BayObLG, Urteil v. 23.5.1997, NJW 1998, S. 392 (394). 333
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
urteil zutreffend bejaht, da die paramilitärischen Einheiten der bosnischen Serben weiterhin „im Großen und Ganzen“ unter der Kontrolle Jugoslawiens gestanden haben und damit de facto dessen Organe gewesen seien.336 Er lässt es aber ausdrücklich offen, ob nicht auch für in einem innerstaatlichen Konflikt begangene schwere Verstöße gegen Artikel 3 der Genfer Konventionen eine völkervertragliche Verfolgungspflicht Deutschlands besteht.337 Damit kann die Haltung der deutschen Gerichte wie folgt zusammengefasst werden: Im Ergebnis sahen sie sich durchweg aufgrund der „aut dedere – aut iudicare“-Vorschriften der Genfer Konventionen zur Verfolgung der Gräueltaten in Bosnien-Herzegowina verpflichtet. Sie griffen dazu zwar überwiegend auf eine „Tatbestandslösung“ zurück, die diesen Konflikt als weitestgehend „internationalisiert“ bewertet, der BGH deutete aber jüngst an, dass dieser „Kniff“ zur Begründung einer vertraglichen Verfolgungspflicht möglicherweise gar nicht nötig gewesen wäre. (6) Belgien: Ntezimana, Higaniro, Mukangango und Mukabutera Trotz der in einem Gesetz vom 16. Juni 1993 vorgesehenen breiten Kompetenz der belgischen Justiz zur Verfolgung von internationalen Verbrechen, die bis Mitte 2003 nicht einmal die Anwesenheit des Täters in Belgien voraussetzte und somit noch weit über ein „aut dedere – aut iudicare“ hinausging, wurden in Belgien letztlich nur in einem einzigen Fall dort anwesende Täter verurteilt.338 Vier Ruander – darunter 2 Ordensschwestern – waren angeklagt, an der Ermordung von Zivilisten beteiligt gewesen zu sein. Die Cour d’Assises de Bruxelles ging von der weitgehend unstreitigen Qualifizierung des Ruandakonflikts als „innerstaatlich“ aus. Sie wertete die Taten der Angeklagten insofern konsequent als Verstöße gegen Artikel 3 der Genfer Konventionen und das 2. Zusatzprotokoll, verlor allerdings – wie schon zuvor die französischen und schweizerischen Gerichte – kein Wort darüber, dass für solche Verstöße nach dem Vertragswortlaut kein universelles Verfolgungsregime gilt.339 Sie ging sogar noch einen Schritt weiter und verurteilte die Angeklagten auch aufgrund der eigentlich nur in interna335
BGHSt 46, 292 (297 f.). BGHSt 46, 292 (299 f.) m. V. a. ICTY, Prosecutor v. Dusko Tadic, 15.07.1999, IT-94-1-A, Ziff. 83 ff., 157 ff. und 162. 337 BGHSt 46, 292 (302). 338 Im Übrigen wurden nur Verfahren gegen nicht in Belgien anwesende Täter – v. a. ausländische Spitzenpolitiker – angestrengt (vgl. hierzu auch Maierhöfer, EuGRZ 2003, S. 545 (546 ff.); Reydams, in: Fischer/Kreß/Lüder, S. 799 ff.). 339 Cour d’Assises de Bruxelles, Urteil v. 8.6.2001, http://www.asf.be/Assises Rwanda2/fr/fr_VERDICT_verdict.htm. 336
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tionalen Konflikten geltenden Artikel 50 Genfer Konvention I, 130 Genfer Konvention III und 147 Genfer Konvention IV, ohne deren Anwendbarkeit im Bürgerkrieg näher zu begründen. Diese Normen stipulieren zwar nicht selbst ein „aut dedere – aut iudicare“, sie definieren aber die Taten, für die gemäß der jeweils folgenden Artikel 49, 129 bzw. 146 ein solches gilt. Ihre Anwendung lässt darauf schließen, dass das belgische Gericht das „grave breaches“-Regime der Genfer Konventionen – dessen Kern das Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot darstellt – auch in internen bewaffneten Konflikten für einschlägig hielt. (7) Die Verfolgung von Bürgerkriegsverbrechern durch Zufluchtsstaaten auf dem Balkan Selbst auf dem Balkan wurden inzwischen Bürgerkriegsverbrecher, die nach ihren Taten in einen der anderen Staaten des ehemaligen Jugoslawiens geflüchtet waren, in ihrem Zufluchtsstaat strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen. So konnte sich der bosnische Muslim Fikret Abdic, ein westbosnischer „warlord“, der sich zeitweise mit den Serben gegen die von seiner eigenen Volksgruppe dominierte Zentralregierung verbündet hatte, zwar nach Kriegsende einige Zeit im benachbarten Kroatien verstecken, wurde dann aber doch noch festgenommen und am 31. Juli 2002 von einem Gericht im kroatischen Karlovac wegen der Einrichtung von „Konzentrationslagern“ zu zwanzig Jahren Haft verurteilt.340 Auch in Serbien fanden inzwischen Verfahren wegen in Bosnien beziehungsweise Kroatien begangener Kriegsverbrechen statt. Während man hinsichtlich des Verfahrens wegen der Ermordung von 192 Kriegsgefangenen im kroatischen Vokuvar im November 1991 zweifeln kann, ob man es nicht mit einem Kriegsverbrechen im internationalen bewaffneten Konflikt zu tun hat,341 – Kroatien hatte ja bereits im Oktober 1991 seine Unabhängigkeit erklärt –, betraf ein zweiter Prozess sicherlich zumindest aus der hier maßgeblichen Sicht des erkennenden Gerichts ein „Bürgerkriegsverbrechen“. Denn sollten die serbischen Staatsorgane nicht von ihrer sonst vertretenen Rechtsauffassung abgewichen sein, wonach die Bundesrepublik Jugoslawien nicht Konfliktpartei des Bosnienkrieges war,342 dann kann die 2003 von einem Belgrader Bezirksgericht 340 Vgl. zu dem Verfahren, dessen Ausgang im April 2004 vom kroatischen OGH bestätigt wurde, NZZ, 23.04.2004, S. 2; DPA, 22.04.2004, „Haftstrafe für früheren Muslimführer Abdic in Kroatien bestätigt“ sowie DPA, 27.11.2002, dpa-euro-Jahreschronik, 31. Juli; SZ, 02.08.2002, S. 7. 341 Vgl. zu diesem Verfahren FAZ, 10.03.2004, S. 2; NZZ, 11.03.2004, S. 1; SZ, 10.03.2004, S. 7. 342 Vgl. zu diesem Rechtsstandpunkt der Bundesrepublik Jugoslawien IGH, Affaire relative à l’application de la Convention pour la prévention et la répression du
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
abgeurteilte Ermordung von Zivilisten im bosnischen Visegrad343 nur ein Verstoß gegen das Recht der internen bewaffneten Konflikte gewesen sein. Dass Serbien und Montenegro solche Verfahren nicht nur aus gutem Willen, sondern durchaus aus dem Gefühl einer entsprechenden Rechtspflicht heraus durchführt, kann man den Äußerungen seiner Repräsentanten gegenüber der internationalen Gemeinschaft entnehmen: Dort wird zwar meist die Anerkennung einer Pflicht zur Überstellung von Verdächtigen an das ICTY abgelehnt, aber nicht etwa, weil man der Ansicht ist, diesen Personen Asyl bieten zu dürfen, sondern weil man ihre Aburteilung durch die eigene Justiz für ein adäquates Pendant hält.344 (8) Kamerun: Bagosora Dafür, dass die Erstreckung des Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes auf Bürgerkriegsverbrecher nicht nur eine westeuropäische Rechtsauffassung ist, spricht auch das Urteil der Cour d’Appel du Centre in der kameruner Hauptstadt Yaounde vom 15. März 1996 im Fall Bagosora. Denn dort wurde die Auslieferung eines Ruanders an Belgien wegen der Ermordung belgischer Blauhelme unter Berufung auf die Genfer Konventionen und ihre Zusatzprotokolle gewährt,345 obwohl in Ruanda ein Bürgerkrieg stattgefunden hatte, auf den die Auslieferungsbestimmungen besagter Verträge nach herkömmlicher Lesart gar nicht anwendbar sind.346
crime de génocide (Bosnie-Herzégovine c. Yougoslavie), Urteil v. 11.06.1996, ICJ Rep. 1996, S. 595 (615). 343 Vgl. zu diesem Verfahren, in dem die beiden anwesenden Angeklagten am 29.09.2003 zu Freiheitsstrafen von 20 bzw. 15 Jahren verurteilt wurden, AP Worldstream-German, 29.09.2003, „Langjährige Gefängnisstrafen für serbische Kriegsverbrecher“; SZ, 30.09.2003, S. 7. 344 Vgl. die Äußerungen von Vojislav Kostunica in seiner Antrittsrede als serbischer Ministerpräsident vor dem Belgrader Parlament (SZ, 03.03.2004, S. 10; SZ, 10.03.2004, S. 7) oder des serbischen Wirtschaftsministers Dragan Marsicanin (SZ, 06/07.03.2004, S. 9). 345 Vgl. Cour d’Appel du Centre (Yaounde), 15.03.1996 [Extradition de T. Bagosora], (unter http://www.icrc.org/ihl-nat.nsf erhältlich) insbes. 4. Abs. der Präambel und „Au Fond“ Abs. 11, 13. „Au Fond“, Abs. 9 hebt ausdrücklich hervor, dass die Auslieferung nur wegen der Ermordung der Blauhelme gewährt wird. Letztlich wurde Bagosora aber an das ICTR überstellt. 346 Die Anwesenheit ausländischer Blauhelme ändert nichts an der – soweit ersichtlich in der Literatur nie bestrittenen – internen Natur der ruandischen Konflikts, denn die Blauhelme hatten nur ein Beobachtermandat und waren keine aktiv an Feindseligkeiten beteiligte Konfliktpartei.
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(9) Nigeria und Ghana: Taylor Dagegen scheint der Fall des liberianischen Ex-Präsidenten Charles Taylor auf den ersten Blick eher gegen ein „aut dedere – aut iudicare“ für Bürgerkriegsverbrechen zu sprechen: Obwohl er wegen solcher Straftaten vor dem UN-Sondergericht für Sierra Leone angeklagt ist, lehnt sein Zufluchtsstaat Nigeria eine Auslieferung mit der Begründung ab, sie habe Taylor im Rahmen des liberianischen Friedensprozesses Asyl zugesagt.347 Entscheidend aber ist, dass die internationale Gemeinschaft diese Rechtsbehauptung keineswegs akzeptiert hat, sondern ungeachtet der Tatsache, dass weder auf vertraglicher Grundlage noch aufgrund einer Resolution des UN-Sicherheitsrates eine Pflicht von Drittstaaten zur Zusammenarbeit mit dem sierra leonesischen Sondergericht besteht,348 mehr oder minder sanften Druck ausübt, um die Auslieferung Taylors doch noch durchzusetzen – freilich bislang vergebens.349 Und trotz der Entschlossenheit der nigerianischen Regierung, Taylor Asyl zu gewähren, könnte sich auch die Haltung Nigerias noch ändern. Die dortige Justiz prüft nämlich zurzeit die Rechtmäßigkeit der Vorgehensweise der Regierung.350 Ein weiterer Staat, der die Gelegenheit zur Verfolgung oder Auslieferung Taylors verstreichen ließ, war Ghana, wo Taylor sich zum Zeitpunkt der Anklageerhebung zu Friedensgesprächen befand. Ghana begründete sein Untätigbleiben aber – anders als Nigeria – schon von vornherein nicht mit einem Recht, solchen Verbrechern Asyl gewähren zu dürfen, sondern entschuldigte sich mit einem angeblich verspäteten Eintreffen des Haftbefehls aus Sierra Leone.351
347 Vgl. dazu SZ, 06/07.12.2003, S. 8; SZ, 30.12.2003, S. 2; Financial Times Information, 01.06.2004, Internal Security: Liberia: No Impunity for Taylor; Africa News, 11.08.2004, „Liberia: Opposition builds against Taylor’s Asylum in Nigeria“. Die Anklage gegen Taylor lautet namentlich auf Verstöße gegen Art. 3 der Genfer Konventionen und deren 2. ZP. (vgl. Klingenberg, GYIL 46 [2003], S. 537 [537 f.]). 348 Vgl. zu diesem Unterschied zwischen dem Gericht für Sierra Leone und den ad-hoc-Tribunalen für Jugoslawien und Ruanda Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1141. 349 Vgl. Africa News, 13.08.2004, „Sierra Leone – between Taylor and the United States“; Africa News, 11.08.2004, „Liberia: Opposition builds against Taylor’s Asylum in Nigeria“. 350 Vgl. Financial Times Information, 01.06.2004, Internal Security: Liberia: No Impunity for Taylor; zum weiteren Verlauf des Verfahrens BBC Monitoring International Reports, 24.02.2005, „Ex-Liberian President Taylor’s Asylum Challenged in Nigerian Courts“. 351 Vgl. Klingenberg, GYIL 46 (2003), S. 537.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
(10) USA: das Zivilverfahren S. Kadic v. Radovan Karadzic Alle bisher angeführten Fälle einer erfolgreichen Strafverfolgung von Bürgerkriegsverbrechern fanden in Europa statt. Aus den USA fehlt dagegen ein solches Beispiel. Allerdings lässt sich den Gründen des Berufungsurteils im Zivilverfahren S. Kadic v. Radovan Karadzic352 – einem von Opfern des Bosnienkrieges aufgrund des „Alien Tort Act“ gegen den bosnischen „Serbenführer“ angestrengten Schadensersatzprozess – entnehmen, dass auch die US-Justiz von der Anwendbarkeit des Weltrechtsprinzips auf Bürgerkriegsverbrechen überzeugt ist.353 In einem obiter dictum heißt es dort, für die Bestrafung von Piraterie, Kriegsverbrechen oder Völkermord habe jeder Staat der Welt Gerichtsbarkeit, unabhängig vom Tatort und der Nationalität des Täters.354 Dabei verstand das Gericht unter „war crimes“ keineswegs nur Verbrechen in internationalen bewaffneten Konflikten, sondern belegte auch Verletzungen des gemeinsamen Artikels 3 der Genfer Konventionen mit diesem Begriff.355 Allerdings sprechen die Richter immer nur von einem Recht zur universellen Strafverfolgung. Von einer Pflicht hierzu, einem „aut dedere – aut iudicare“, ist nie die Rede. (11) Weitere einschlägige Verfahren: Ungarn und Chile Neben dem Zivilverfahren gegen Radovan Karadzic sind hier noch zwei andere Gerichtsentscheidungen von Bedeutung, in denen, obwohl die strafrechtliche Verfolgung eines Bürgerkriegsverbrechers in seinem Zufluchtsstaat nicht unmittelbar Verfahrensgegenstand war, inzident über ein „aut dedere – aut iudicare“ für Verbrechen in innerstaatlichen bewaffneten Konflikten entschieden wurde. Im ungarischen Verfahren ging es um die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, nach dem Verbrechen während des „Ungarnaufstandes“ von 1956 nicht der Verjährung unterliegen sollten. Nach Ansicht der Verfassungsgerichts ist eine solche nachträgliche Beseitigung der Verjährung nur dann verfassungsgemäß, wenn und soweit sie Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit i. S. d. Völkerrechts betrifft.356 Bei der Prüfung des Gesetzes anhand dieser Kriterien rügten die Verfassungsrichter insbesondere, dass dort nicht klar zwischen den „grave breaches“ der Genfer 352 US Court of Appeals, 2nd Circuit, S. Kadic v. Radovan Karadzic, Urteil v. 13.10.1995, ILM 34 (1995), S. 1595 ff. 353 Vgl. auch Graditzky, RICR 1998, S. 29 (34). 354 S. Kadic v. Radovan Karadzic, ILM 34 (1995), S. 1595 (1601). 355 S. Kadic v. Radovan Karadzic, ILM 34 (1995), S. 1595 (1604 ff.). 356 Ungar. Verfassungsgericht, Urteil v. 13.10.1993, No 53/1993 (X.13.) AB, engl. Übersetzung über http://www.icrc.org/ihl-nat.nsf erhältlich, Resolution 1.
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Konventionen, die nur in internationalen Konflikten begangen werden könnten, einerseits und Verstößen gegen Artikel 3 der Genfer Konventionen in internen Konflikten andererseits unterschieden werde. Nur erstere seien „Kriegsverbrechen“, bei zweiteren handle es sich dagegen um „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.357 Für beide Kategorien könne aber prinzipiell die Verjährung nachträglich beseitigt werden,358 und – was für uns von Bedeutung ist – beide müssten von jedem Staat der internationalen Gemeinschaft verfolgt werden. Sie seien von zu großer Bedeutung, als dass ihre Bestrafung ins Belieben einzelner Staaten gestellt werden könne.359 Damit sprechen sich die Verfassungsrichter zwar eindeutig gegen eine Anwendung des „grave breaches“-Regimes – und damit auch seines „aut dedere – aut iudicare“ – auf Bürgerkriegsverbrechen aus, sie sind aber ebenso eindeutig der Ansicht, unter dem Etikett „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bestünde im Ergebnis dennoch eine (allem Anschein nach gewohnheitsrechtliche) universelle Verfolgungspflicht für diese Taten. Im chilenischen Verfahren ging es um die Anwendbarkeit des Amnestiegesetzes von 1978 auf das zwangsweise Verschwindenlassen von Personen unmittelbar nach dem Militärputsch gegen Präsident Allende. Die Corte Suprema stellt unter Verweis auf ein Dekret vom 12. September 1973, in dem von einem „estado o tiempo de guerra“ die Rede ist, fest, dass in Chile damals ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt stattgefunden habe.360 Da Chile in einem solchen Konflikt gemäß Artikel 146, 147 Genfer Konvention IV verpflichtet sei, Verstöße gegen den gemeinsamen Artikel 3 der Genfer Konventionen zu verfolgen, könne das Amnestiegesetz auf solche Taten nicht angewandt werden.361 Das chilenische Gericht bezog also anders als das ungarische Verfassungsgericht das „grave breaches“-Regime auch auf Bürgerkriegsverbrechen. Im Ergebnis unterscheiden sich beide aber nicht: Während für die ungarischen Verfassungsrichter Bürgerkriegsverbrechen gewohnheitsrechtlich als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu verfolgen sind, wären sie nach der Argumentation der Corte Suprema als „grave breaches“ der Genfer Konventionen zu behandeln. Beide Male gilt: „aut dedere – aut iudicare“. 357 Ungar. Verfassungsgericht (Fn. 356), Reasoning V 4. b). Auf diese Unterscheidung wies das Verfassungsgericht drei Jahre später in einer zweiten Entscheidung zum selben Gesetz noch einmal nachdrücklich hin [vgl. Urteil v. 04.09.1996, No 36/1996. (IX.4.) AB, franz. Übersetzung über http://www.icrc.org/ihl-nat.nsf erhältlich, II 1)]. 358 Ungar. Verfassungsgericht (Fn. 356), Resolution 2. 359 Ungar. Verfassungsgericht (Fn. 356), Reasoning IV 1. und 2. 360 Corte Suprema, Urteil v. 09.09.1998, 469–98, unter http://www.icrc.org/ihlnat.nsf erhältlich, Ziff. 9. 361 Corte Suprema (Fn. 360), Ziff. 9 f.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
bb) Sonstige Staatenpraxis (1) UN-Resolutionen Ein erstes Indiz für ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“ für Bürgerkriegsverbrechen ist die 1971 einstimmig verabschiedete Resolution 2840 (XXVI) der UN-Generalversammlung362. Dort heißt es „The General Assembly [. . .] Expressing its deep concerns at the fact that many war criminals and persons who have committed crimes against humanity are continuing to take refuge in the territories of certain States and are enjoying their protection; [. . .] 4. Affirms that the refusal by States to cooperate in the arrest, extradition, trial and punishment of persons guilty of war crimes and crimes against humanity is contrary to the purposes and principles of the Charter of the United Nations and to generally recognized norms of international law“.
Auch die von der überwältigenden Mehrheit der Staaten getragenen „principles of international co-operation in the detection, arrest, extradition and punishment of persons guilty of war crimes and crimes against humanity“363 stipulieren Verfolgungspflichten nicht nur für den Tatortstaat, dessen besondere Verantwortung freilich in Grundsatz Nr. 5 explizit hervorgehoben wird,364 sondern auch für Zufluchtsstaaten. In Grundsatz Nr. 2 wird beispielsweise auf den Heimatstaat des Täters ausdrücklich Bezug genommen und ihm die Möglichkeit eines „iudicare“ eingeräumt;365 Grundsatz Nr. 7 schließt dann sogar generell die Möglichkeit sicherer Zuflucht in irgendeinem Staat aus,366 was letztlich nur bedeuten kann: Auslieferung oder Strafverfolgung durch eigene Gerichte.367 362 71 Staaten stimmten der Resolution zu, 42 enthielten sich, kein Staat stimmte mit „Nein“. 363 Generalversammlungsresolution 3074 (XXVIII) vom 03.12.1973, mit 94 zu 0 Stimmen bei 29 Enthaltungen angenommen. 364 „Persons against whom there is evidence that they have committed war crimes and crimes against humanity shall be subject to trial and, if found guilty, to punishment, as a general rule in the countries in which they have committed those crimes. [. . .]“ 365 „Every State has the right to try its own nationals for war crimes and crimes against humanity.“ 366 „In accordance with article 1 of the Declaration on Territorial Asylum of 14 December 1967, States shall not grant asylum to any person with respect to whom there are serious reasons for considering that he has committed a crime against peace, a war crime or a crime against humanity.“
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Die entscheidende Frage aber ist: Beziehen sich diese Resolutionen überhaupt auf „Bürgerkriegsverbrechen“? Resolution 2840 (XXVI) verweist für die Definition der Begriffe „war crimes“ und „crimes against humanity“ auf Artikel I der Convention on the Non-Applicability of Statutory Limitations to War Crimes and Crimes against humanity. Nach dieser Norm sind mit „war crimes“ insbesondere die „grave breaches“ der Genfer Konventionen gemeint,368 also Verstöße, die jedenfalls nach der zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Resolution absolut herrschenden Meinung369 ausschließlich in internationalen bewaffneten Konflikten begangen werden konnten. Mit „war crimes“ sind somit die „Bürgerkriegsverbrechen“ wohl nicht gemeint gewesen. Anders dagegen mit dem Begriff „crime against humanity“: dieser wird in der von der Generalversammlung in Bezug genommenen Vorschrift gerade „whether committed in time of war or in time of peace“, also unabhängig von einem Zusammenhang zu einem (internationalen) bewaffneten Konflikt definiert. Jedenfalls die schwersten Verletzungen des in Bürgerkriegen anwendbaren humanitären Völkerrechts dürften – zumindest soweit sie sich gegen „Nichtkombattanten“ richten – zumeist auch „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ sein.370 Für diese „Schnittmenge“ von Bürgerkriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bejahte die Generalversammlung ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“. Neben diesen frühen Äußerungen der Generalversammlung finden sich in jüngster Zeit weitere Hinweise auf ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“ in Entschließungen anderer UN-Organe. In der Resolution 765 (1992) vom 13. Juli 1992 hatte der Sicherheitsrat die Anwendbarkeit des „grave breaches“-Regimes der Genfer Konventionen, das auf der Maxime „aut dedere – aut iudicare“ aufbaut, im Bosnienkonflikt bejaht, und das obwohl sich dort seit dem Rückzug der jugoslawischen Volksarmee am 19. Mai 1992 prima facie ein interner bewaffneter Konflikt abspielte. Der Sicherheitsrat 367 Vgl. hierzu oben 1. Kapitel A. Dagegen ist Stern, GYIL 40 (1997), S. 280 (292) der Ansicht, mit Verweis auf Res. 3074 lasse sich nur eine Erlaubnis zur Aburteilung im Zufluchtsstaat begründen, aber keine „compétence universelle obligatoire“. Noch stärker schränkt Tomuschat, in: FS Steinberger, S. 315 (339) die Bedeutung der Resolution ein: Diese bestätige selbst die Zulässigkeit einer Strafverfolgung nach dem Weltrechtsprinzip nicht eindeutig, sondern nehme nur auf das aktive Personal- und das Territorialitätsprinzip Bezug. 368 Die Konvention ist in Auszügen bei Bassiouni/Wise, S. 288 ff. abgedruckt. 369 Vgl. zur traditionellen Auslegung der Genfer Konventionen in dieser Hinsicht oben Fn. 145. 370 Zur Überschneidung von Bürgerkriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vgl. auch Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1066 f.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
„reaffirms that all parties are bound to comply with obligations under international humanitarian law and in particular the Geneva Conventions of 12 August 1949 and that persons who commit or order the commission of grave breaches of the Conventions are individually responsible in respect of such breaches.“371
Selbst wenn er dabei – wofür einiges spricht – von einem „gemischt“ intern-internationalen Charakter der Kampfhandlungen ausgegangen sein sollte,372 deutet dennoch nichts in Resolution 764 darauf hin, dass die vom Sicherheitsrat „bekräftigte“ Anwendung des „grave breaches“-Regimes auf den „internationalen“ Teil des Bosnienkonflikts beschränkt sein sollte. Auch in Bezug auf den eindeutig innerstaatlichen Konflikt in Ruanda nahm der Sicherheitsrat die Zufluchtsstaaten der Täter in die Pflicht. Er „Urges States to arrest and detain, in accordance with their national law and relevant standards of international law, pending prosecution by the International Tribunal for Rwanda or by the appropriate national authorities persons found within their territory against whom there is sufficient evidence that they were responsible for acts within the jurisdiction of the international Tribunal for Rwanda.“373
Ein flüchtiger Täter eines Bürgerkriegsverbrechens, über das das ICTR Gerichtsbarkeit besitzt,374 muss also nicht nur dann verhaftet werden, wenn er diesem internationalen Gericht überstellt werden soll, sondern auch zum Zwecke einer Strafverfolgung vor „geeigneten“ nationalen Behörden, was sowohl die Justizbehörden des Zufluchtsstaates – also „iudicare“ – als auch diejenigen eines anderen aburteilungsbereiten Staates – also „dedere“ – umfassen dürfte. Auch in Bezug auf den afghanischen Bürgerkrieg hatte der Sicherheitsrat später das „grave breaches“-Regime der Genfer Konventionen, dessen Kernstück ja gerade ein „aut dedere – aut iudicare“ ist, für anwendbar gehalten. Anders wäre nicht zu erklären, wieso es im 12. Erwägungsgrund der Präambel von Resolution 1214 (1998) heißt: 371 Ziff. 10 der Res. 764 (1992), in der Präambel von Res. 780 (1992) vom 06.10.1992 erneut bestätigt. 372 So hatte der US-Vertreter später in der Sitzung vom 25.05.1993 sowohl Art. 3 der Genfer Konventionen als auch beide Zusatzprotokolle, von denen sich das erste auf internationale, das zweite dagegen auf interne Konflikte bezieht, als das im Jugoslawienkonflikt anwendbare Recht bezeichnet. (vgl. Provisional Verbatim Record of the 3217th Meeting, Ziff. 15, U. N. Doc. S/PV.3217 (25.05.1993)) und der UNGeneralsekretär hatte in Ziff. 62 seines Berichts zum Entwurf des ICTY-Statuts (U. N. Doc. S/25704, 03.05.1993, abgdr. in ILM 32 (1993), S. 1159 ff.) erklärt: „no judgement to the international or internal character of the conflict is being exercised.“ 373 Ziff. 1 der Res. 978 (1995) vom 27.02.1995. Hervorhebung nicht im Original. 374 Vgl. Art. 4 ICTR-Statut, der „serious violations“ des Art. 3 Genfer Konventionen und des 2. ZP betrifft.
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„Reaffirming that all parties to the conflict are bound to comply with their obligations under international humanitarian law and in particular under the Geneva Conventions of 12 August 1949, and that persons who commit or order the commission of breaches of the Conventions are individually responsible in respect of such breaches.“
Und später in Ziffer 6: „Encourages the Secretary-General to [. . .] investigate numerous reports of grave breaches and serious violations of international humanitarian law.“
Aus den zahlreichen Äußerungen der in verschiedenen UN-Organen versammelten Staatenvertreter zur Bestrafung oder Auslieferung von Bürgerkriegsverbrechern sollen hier nur noch drei weitere angeführt werden, die mit besonderer Deutlichkeit für ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“ sprechen. In Resolution 1315 (2000), in der er die UN und Sierra Leone zum Abschluss einer Vereinbarung über ein Sondertribunal zur Verfolgung der im dortigen Bürgerkrieg begangenen Kriegsverbrechen auffordert, ordnet der Sicherheitsrat zwar nicht wie in Bezug auf das ICTY oder ICTR gestützt auf Kapitel VII UN-Charta eine Auslieferungspflicht für Drittstaaten an, bringt aber seine Rechtsauffassung zum Ausdruck, dass diese sich dennoch an der Bestrafung der Verantwortlichen beteiligen müssten.375 Diese Rechtsauffassung, die alle Staaten zur Verfolgung solcher schwerer Straftaten in die Pflicht nimmt, wiederholte er kurz darauf in Resolution 1325 (2000).376 Noch deutlicher wurde die UN Commission on Human Rights, die mit Bezug auf den Bürgerkrieg in Sierra Leone ausdrücklich erklärte: „That in any armed conflict, including an armed conflict not of an international character, the taking of hostages, wilful killing and torture or inhuman treatment of persons taking no active part in the hostilities constitute grave breaches of international humanitarian law, and that all countries are under the obligation to search for persons alleged to have committed, or to have ordered to be committed, such grave breaches and to bring such persons, regardless of their nationality, before their own courts.“377
375 Vgl. den 6. Erwägungsgrund der Präambel: „[. . .] reaffirming [. . .] that the international community will exert every effort to bring those responsible [der Verf.: für Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht in diesem Konflikt] to justice.“ 376 Vgl. Ziff. 11: „Emphasizes the responsibility of all States to put an end to immunity and to prosecute those responsible for genocide, crimes against humanity, and war crimes.“, wobei nichts darauf hindeutet, dass mit „war crimes“ nur Verbrechen in internationalen bewaffneten Konflikten gemeint seien. 377 UN Commission on Human Rights, Res. 1999/1, Ziff. 2.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
(2) Die Schaffung der internationalen Strafgerichtsbarkeit Die Schaffung internationaler Strafgerichte lässt dagegen nicht den Schluss auf die Anerkennung eines gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“ für Bürgerkriegsverbrechen zu. Dass diese Gerichtsbarkeit über Bürgerkriegsverbrechen besitzen – und zwar sowohl unter dem Tatbestand des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“378, als auch unter speziellen Vorschriften379 –, erlaubt für sich allein noch nicht den Schluss, auch die nationale Justiz des Zufluchtsstaates treffe hier ein Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot. Im Gegenteil: Die Verwendung des Begriffes „grave breaches“, der ein terminus technicus der Genfer Konventionen für jene Verstöße ist, die einem „aut dedere – aut iudicare“ unterliegen, und der somit einen Rückschluss auf ein Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot zulassen würde, wird in den Statuten der internationalen Strafgerichte hinsichtlich von Bürgerkriegsverbrechen vermieden. Das ICTRund ICC-Statut sprechen hier vielmehr nur von „serious violations“,380 im Rahmen des ICTY-Statuts fallen Bürgerkriegsverbrechen nicht unter Artikel 2 – „grave breaches“ der Genfer Konventionen –, sondern unter Artikel 3 – Verletzungen der „laws or customs of war.“381 Auch den Vorschriften über das Verhältnis der internationalen Strafgerichtsbarkeit zur nationalen Justiz lässt sich kein Hinweis auf Strafverfolgungspflichten der letztgenannten entnehmen. Zwar betonen alle drei Statute – bei unterschiedlicher Ausgestaltung der Vorrangfrage – das Nebeneinander von nationaler und internatonaler Strafverfolgung,382 nirgends wird aber die Ausübung dieser Gerichtsbarkeit im konkreten Einzelfall ausdrücklich als Pflicht eines Zufluchtsstaates bezeichnet. Im Bericht des UN-Generalsekretärs zum ICTY-Statut heißt es lediglich, „national courts should be encouraged to exercise their jurisdiction in accordance with their relevant national laws and proceedings“383 – eine Formulierung, die eher den Eindruck erweckt, als handle es sich bei der Verfolgung von Bürgerkriegsverbrechern um ein politisch wünschenswertes Verhalten, dass jedoch aus juristischer Sicht nur vom nationalen Recht geregelt wird und deshalb nur mit „Ermutigung“, nicht aber mit Rechtszwang durchgesetzt werden kann. Auf einen Konsens 378 Vgl. Art. 5 ICTY-Statut; Art. 3 ICTR-Statut; Art. 7 ICC-Statut. Zu Überschneidungen beider Tatbestände und der schwierigen Abgrenzung zwischen ihnen vgl. auch Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1066 f. 379 Vgl. Art. 3 ICTY-Statut; Art. 4 ICTR-Statut; Art. 8 II c) und e) ICC-Statut. 380 Vgl. Art. 4 ICTR-Statut; Art. 8 II c) und e) ICC-Statut. 381 Vgl. ICTY, Tadic, 02.10.1995, IT-94-1-AR72, Ziff. 84, 137 und 142. Dazu ausf. unten dd) (1). 382 Vgl. Art. 9 I ICTY-Statut; Art. 8 I ICTR-Statut; Art. 17 I ICC-Statut. 383 U.N. Doc. S/25704, 03.05.1993 (abgdr. in ILM 32 [1993], S. 1159 ff.), Ziff. 64.
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der Staaten hinsichtlich einer Verfolgungspflicht nationaler Gerichte ließen allenfalls der vierte und der sechste Erwägungsgrund der Präambel des ICC-Statuts schließen, die lauten: „Bekräftigend, dass die schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren, nicht unbestraft bleiben dürfen und dass ihre wirksame Verfolgung durch Maßnahmen auf einzelstaatlicher Ebene und durch verstärkte internationale Zusammenarbeit gewährleistet werden muss, [. . .] Im Hinblick darauf, dass es die Pflicht eines jeden Staates ist, seine Strafgerichtsbarkeit über die für ein internationales Verbrechen Verantwortlichen auszuüben.“
Es blieb jedoch in diesen Formulierungen ganz bewusst offen, ob die Verfolgungspflicht jeden Staat treffen soll, der des Täters habhaft wurde, oder ob sie nur innerhalb der üblichen Reichweite der nationalen Strafgewalt – also vor allem im Rahmen des Territorialitätsprinzips und der Personalprinzipien – besteht.384 Ein „aut dedere – aut iudicare“ für Bürgerkriegsverbrechen lässt sich deshalb auch mit ihnen nicht begründen.385 Andererseits sollte man aber auch nicht die Tatsache, dass der Internationale Strafgerichtshof selbst keine universelle Gerichtsbarkeit besitzt, sondern über die Ratifikation seines Statuts durch den Tatortstaat oder den Heimatstaat des Täters einen „genuine link“ zur Tat besitzen muss,386 als Indiz gegen ein universelles Verfolgungsrecht oder eine universelle Verfolgungspflicht der nationalen Gerichte werten.387 Dies ist ebenso abzulehnen, wie der umgekehrte Schluss von der Zuständigkeit des ICC auf ein „aut dedere – aut iudicare“. Es kann viele Gründe geben, die einigen Staaten eine universelle Kompetenz eines internationalen Strafgerichts unerwünscht erscheinen lassen, während sie durchaus die universelle Kompetenz der nationalen Gerichte akzeptieren. Vor diesem Hintergrund sollte nicht unerwähnt bleiben, dass gerade die USA, die eine universelle Zuständigkeit des ICC am meisten bekämpfen, sich an anderer Stelle besonders deutlich für ein „aut dedere – aut iudicare“ gegenüber Bürgerkriegsverbrechern ausgesprochen haben.388
384 Triffterer, in: Triffterer, Preamble Rn. 17; Henzelin, S. 447; Swart, in: Cassese/Gaeta/Jones, S. 1639 (1663). 385 So auch Triffterer, in: Triffterer, Preamble Rn. 17; Swart, in: Cassese/Gaeta/ Jones, S. 1639 (1663); Henzelin, S. 447; Werle, Völkerstrafrecht, S. 75; Kreß, ISYHR 30 (2000), S. 103 (163). 386 Vgl. Art. 12 II ICC-Statut. 387 Werle, Völkerstrafrecht, S. 75. A. A. Tomuschat, in: FS Steinberger, S. 315 (339). 388 Vgl. sogleich unten bei Fn. 394.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
(3) Weitere Praxis Die Vereinbarungen, mit denen die Parteien des bosnischen Bürgerkriegs bestimmte Vorschriften des Rechts der internationalen Konflikte anerkannten und sich zur Bestrafung von Zuwiderhandlungen verpflichteten,389 sind entgegen dem ersten Anschein kein zwingendes Indiz für die gewohnheitsrechtliche Geltung dieser Regeln in Bürgerkriegen.390 Im Gegenteil: Sie sind in Artikel 3 der Genfer Konventionen ausdrücklich vorgesehen und können auch so verstanden werden, dass die Parteien die in Bezug genommen Regelungen ohne solche Vereinbarungen für nicht anwendbar erachtet hätten.391 Andere Elemente der Staatenpraxis deuten dagegen auf ein „aut dedere – aut iudicare“ für Bürgerkriegsverbrechen hin. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft beispielsweise haben auch nach dem Rückzug der Jugoslawischen Volksarmee aus Bosnien-Herzegowina am 19. Mai 1992 mehrere Erklärungen zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit für schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht abgegeben, in denen trotz des prima facie internen Charakters des betreffenden Konflikts die Anspielungen auf das Genfer „grave breaches“-Regime, dessen Herzstück das „aut dedere – aut iudicare“ ist, unübersehbar sind oder der Wille der EG-Staaten zur strafrechtlichen Verfolgung der Täter in anderer Weise zum Ausdruck kommt.392 Auch in Bezug auf den eindeutig innerstaatlichen Konflikt in Ruanda betonten sie, „wie wichtig es ist, daß diejenigen, die für die schweren Verletzungen des humanitären Völkerrechts einschließlich des Völkermordes verantwortlich sind, vor Gericht gestellt werden.“393 389
Vgl. die Sondervereinbarung vom 22.05.1992 (abgedruckt in Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften, 1992, S. 195–197) und Art. 3 der Vereinbarung vom 01.10.1993 (abgedruckt in ICTY, Tadic, 02.10.1995, IT-94-1-AR72, Ziff. 136). 390 A. A. ICTY, Tadic, 02.10.1995, IT-94-1-AR72, Ziff. 83 f., dazu ausf. unten dd) (1). 391 Heintschel von Heinegg, in: Zimmermann, S. 27 (36). 392 So wird in der Gemeinsamen Erklärung zu Jugoslawien, 06.08.1992, Bull. EG 7/8-1992, S. 113 (114) betont, „daß alle Konfliktparteien im ehemaligen Jugoslawien sich unbedingt an die aus dem internationalen humanitären Recht und insbesondere den Genfer Konventionen resultierenden Verpflichtungen halten müssen. Diejenigen, die schwere Verstöße gegen diese Konventionen begehen oder solche anordnen, tragen dafür persönliche Verantwortung.“ In der Gemeinsamen Erklärung zu Bosnien-Herzegowina, 02.11.1992, Bull. EG 11-1992, S. 106 heißt es: „Die Urheber der Morde und sonstiger schwerer Menschenrechtsverletzungen müssen persönlich für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden. Die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten werden mit den Vereinten Nationen [. . .] zusammenarbeiten, um sicherzustellen, daß der Gerechtigkeit genüge geschieht.“
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
215
Die USA hatten in einer Stellungnahme als „amicus curiae“ im TadicVerfahren vor dem ICTY sogar mit kaum zu überbietender Eindeutigkeit eine Rechtauffassung geäußert, die zu einem „aut dedere – aut iudicare“ für Bürgerkriegsverbrechen führt. Wenn sie dort erklären „the ‚grave breaches‘ provisions of Article 2 of the International Tribunal Statute apply to armed conflicts of a non-international character as well as those of an international character“394
muss man daraus schließen, dass sie Bürgerkriegsverbrechen für „grave breaches“ der Genfer Konventionen mit allen Konsequenzen, namentlich der des „aut dedere – aut iudicare“, halten. Dazu passt auch, dass das Militärhandbuch der US Army alle Verletzungen des „law of war“, also auch Verstöße gegen das Recht der internen bewaffneten Konflikte,395 als „war crimes“ bezeichnet,396 für die gewohnheitsrechtlich ein „aut dedere – aut iudicare“ gelte.397 Hier besteht ein gewisser Widerspruch zum US-Strafrecht, das sowohl Verstöße gegen das Recht der internen bewaffneten Konflikte als auch die unstreitig einem vertraglichen „aut dedere – aut iudicare“ unterliegenden „grave breaches“ der Genfer Konventionen in internationalen Konflikten lediglich nach dem aktiven und passiven Personalprinzip inkriminiert.398 Auch die Bundesrepublik Deutschland geht anscheinend von einem „aut dedere – aut iudicare“ für Bürgerkriegsverbrechen aus. Die zentrale Dienstvorschrift 15/2 der Bundeswehr vom August 1992399 listet in § 1209 als 393 Beschluss 94/697/GASP des Rates vom 24.10.1994, Bull. EU 10-1994, S. 54. Zwar wird im Folgenden die Einsetzung eines internationalen Strafgerichts als besonders effektives Mittel zu diesem Zweck hervorgehoben, es gibt aber keinen Hinweis darauf, dass dies das ausschließliche Instrument sein sollte. 394 Abgedruckt in ICTY, Tadic, 02.10.1995, IT-94-1-AR72, Ziff. 83. 395 U.S. Dept of the Army, Field Manual No. 27-10, 1956, The Law of Land Warfare, § 11 b.) rechnet auch den gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen zum „law of war“. 396 Vgl. U.S. Dept of the Army, Field Manual No. 27-10, 1956, The Law of Land Warfare, § 499, Satz 2: „Every violation of the law of war is a war crime.“ 397 Vgl. U.S. Dept of the Army, Field Manual No. 27-10, 1956, The Law of Land Warfare, § 506, wo unter a. die „aut dedere – aut iudicare“-Vorschriften der Genfer Konventionen zitiert und diese dann unter b. als „declaratory of [. . .] customary international law“ bezeichnet werden. 398 Vgl. US War Crimes Act (21.08.1996), 18 U.S.C. § 2441 (b), (c) (1), (3), (Supp. II 1996). Cassese, Int. Criminal Law, S. 306 betont zu Recht, dass hierin – jedenfalls soweit es um Verbrechen in internationalen Konflikten geht – ein Verstoß gegen die „jurisdictional clause“ der Genfer Konventionen (vgl. dazu dieser Vorschrift oben A. II. 1. a) bei Fn. 151) liegt. 399 Abgedruckt und kommentiert von R. Wolfrum in Fleck (Hrsg.), Handbuch des humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
„[. . .] schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts“, die „von jedem Staat unter Strafe zu stellen und strafrechtlich zu verfolgen (Art. 49 GA I; Art. 50 GA II; Art. 129 GA III; Art. 146 GA IV; Art. 85, 87 ZP)“ sind, über den Text der Genfer Abkommen hinaus auch Bürgerkriegsverbrechen – nämlich Verstöße gegen Artikel 3 Genfer Konventionen sowie die Artikel 12, 14, 15 und 16 des 2. Zusatzprotokolls – auf. Zum deutschen Völkerstrafgesetzbuch, das eine Reihe von Verstößen gegen das Recht der internen bewaffneten Konflikte selbst dann in Deutschland unter Strafe stellt, wenn sie im Ausland von Ausländern gegen Ausländer begangen wurden,400 führte die Bundesjustizministerin im Bundestag aus: „Deutschland nimmt seine Verantwortung wahr und leistet seinen Beitrag zur Bekämpfung und Verfolgung der schwersten Verbrechen in unserer internationalen Gemeinschaft: Bei Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen [der Verf.: worunter wie gesehen im VStGB auch Bürgerkriegsverbrechen fallen] darf es künftig nirgendwo auf dieser Welt mehr Straflosigkeit geben.“401
Auch Belgien scheint ein „aut dedere – aut iudicare“ für Bürgerkriegsverbrechen zu befürworten. Sein nationales Recht sah von 1993 bis 2003 sogar eine Befugnis zur Verfolgung der Täter solcher Taten in deren Abwesenheit vor und hält auch heute noch an der Gleichbehandlung von „grave breaches“ der Genfer Konventionen in internationalen Konflikten – für die unstreitig ein „aut dedere – aut iudicare“ gilt – und schweren Verletzungen des Rechts der innerstaatlichen Konflikte fest: Täter aus beiden Kategorien können auch nach heutigem Recht noch in Belgien für Auslandstaten vor Gericht gestellt werden, wenn sie einen Aufenthalt von gewisser Dauer in diesem Land nehmen.402 Im Laufe des belgisch-kongolesischen Rechtsstreits vor dem IGH erläuterte das Königreich, dass man zwar die – inzwischen abgeschaffte – Verfolgung abwesender Täter nicht als völkerrechtlich geboten ansehe, wohl aber die Verfolgung anwesender,403 also: „aut dedere – aut iudicare“. Sehr interessant ist, dass auch die Demokratische Republik Kongo als Verfahrensgegnerin Belgiens in ihrem Schriftsatz ein „aut dedere – aut iudicare“ für Bürgerkriegsverbrechen nicht eindeutig abgelehnt hat. Nachdem sie einleitend erklärt, ein Gebot zur Auslieferung oder Verfolgung in einem bestimmten Staat anwesender Täter sei nicht Gegenstand ihres 400
Vgl. § 1, 8 I, II; § 9 I; § 10 I, II; § 11 I; § 12 I VStGB. Vgl. BT-Drs. 14/8524, auch abgedr. in Lüder/Vormbaum (Hrsg.), Materialien zum Völkerstrafgesetzbuch, S. 93 (99). 402 Vgl. Art. 1ter und Art. 7 des Gesetzes vom 16. Juni 1993 für die alte Rechtslage (vgl. dazu auch Reydams, in: Fischer/Kreß/Lüder, S. 799 ff.); zur neuen Rechtslage Art. 136 quarter § 1 und 2 des belg. StGB und Art. 1 bis, 12 der belg. StPO (dazu auch Maierhöfer, EuGRZ 2003, S. 545 [546 ff.]). 403 Vgl. belg. Schriftsatz vom 28.09.2001 (erhältlich unter http://www.icj-cij.org/ cijwww/cdocket/cCOBE/cCOBEframe.htm), Ziff. 3.3.22–3.3.25. 401
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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Rechtsstreites mit Belgien,404 merkt sie lediglich die kaum zu bestreitende Tatsache an, dass in den Genfer Konventionen für interne Konflikte eine solche Pflicht jedenfalls nicht „explicitement formulée“ sei.405 cc) Resümee Die Staatenpraxis hinsichtlich eines „aut dedere – aut iudicare“ für Bürgerkriegsverbrechen scheint auf den ersten Blick wenig einheitlich zu sein. Insbesondere die Vereinbarungen der bosnischen Bürgerkriegsparteien von 1992 sprechen eher gegen einen solchen Rechtssatz, die Vorgänge im Zusammenhang mit der Schaffung der ad-hoc-Tribunale und des ICC stützen ihn zwar nicht, sprechen aber auch nicht direkt gegen seine Existenz. Andere Elemente der Staatenpraxis erlauben es aber, inzwischen nicht nur einen „Trend“ hin zu einem „aut dedere – aut iudicare“ für Bürgerkriegsverbrechen zu bejahen,406 sondern schon vorsichtig davon auszugehen, dass eine solche Norm seit kurzer Zeit im Völkerrecht existiert. Dafür spricht zunächst einmal die „harte“ Auslieferungs- und Strafverfolgungspraxis: Die oben genannten Gerichtsentscheidungen aus Dänemark, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz und Belgien zeigen, dass etwa seit Mitte der 1990er Jahre die Täter solcher Verstöße in ihren Zufluchtsstaaten im Falle der Nichtauslieferung regelmäßig strafrechtlich verfolgt werden, und selbst die lange zögernden Balkanstaaten scheinen langsam auf diese Richtung einzuschwenken. Bediente man sich dabei hinsichtlich der in Bosnien begangenen Verbrechen teilweise – wenn auch keinesfalls überwiegend –407 der Lösung, den dortigen Konflikt sehr weitreichend als internationalisiert anzusehen,408 so bezog sich die Gerichtspraxis zu Ruanda 404 Vgl. Schriftsatz der Demokrat. Rep. Kongo vom 15.05.2001, (erhältlich unter http://www.icj-cij.org/cijwww/cdocket/cCOBE/cCOBEframe.htm), Ziff. 75 a. E. 405 Vgl. Schriftsatz der Demokrat. Rep. Kongo (Fn. 404), Ziff. 77. 406 So aber Teile der sogleich anzuführenden internationalen Judikatur und völkerrechtlichen Literatur. 407 In den dänischen und französischen Entscheidungen wird – jedenfalls explizit – keine solche „Internationalisierung“ des Bosnienkonflikts vorgenommen; die niederländischen Gerichte haben ihn ausdrücklich als „intern“ bewertet. 408 So ausdrücklich im schweizerischen Fall Grabec, in BayObLG, NJW 1998, S. 392 ff. sowie in BGHSt 46, 292 (wo allerdings ausdrücklich offen gelassen wird, ob dieser „Kunstgriff“ zur Begründung eines „aut dedere – aut iudicare“ nötig gewesen wäre); ebenso das ICTY, Tadic, 15.07.1999, IT-94-1-A, Ziff. 162. Damit ging man von dem früher üblichen „effective control approach“, bei dem nachgewiesen werden musste, dass die in concreto angeklagte Verletzung des humanitären Völkerrechts direkt von einem ausländischen Staat kontrolliert wurde (so bspw. IGH, Affaire des activités militaires et paramilitaires au Nicaragua et contre celui-ci, ICJ Rep. 1986, S. 14 [64 f.]), zu einem „overall control approach“ über, der es ausreichen lässt, wenn dieser Staat generell einen bedeutenden Anteil an der Pla-
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
dann deutlich auf einen rein internen bewaffneten Konflikt. In keinem der aufgeführten Fälle ließen die Gerichte den Angeklagten aus Gründen, die einem „aut dedere – aut iudicare“ widersprächen, straffrei.409 Anders verhält sich zurzeit zwar Nigeria im Fall Charles Taylor, dies stößt aber bei anderen Staaten auf Protest, so dass dieser Fall insgesamt ebenfalls nicht zur Verneinung eines Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes zwingt.410 Eine „Übung“ für die Strafverfolgung nicht ausgelieferter Bürgerkriegsverbrecher besteht damit.411 Es ist nun noch nachzuweisen, dass die Staaten dieses Vorgehen als völkerrechtlich geboten ansahen.412 Eine solche opinio iuris kann teilweise den angeführten Urteilen selbst entnommen werden.413 Sie wurde darüber hinaus auch in Chile und – was die „Schnittmenge“ von Bürgerkriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anbelangt – in Ungarn in Fällen, die selbst keine Beispiele eines „aut dedere – aut iudicare“ sind, in der höchstrichterlichen Rechtnung der Vorgehensweise einer Bürgerkriegspartei hatte (vgl. Kreß, ISYHR 30 (2000), S. 103 [115 f.]). 409 Die Freisprüche oder Unzuständigkeitsentscheidungen beruhten teils auf der Nichtanwesenheit der Täter im Forumstaat (Fall Javor), teils auf Mangel an Beweisen (Fall Grabec), teils auf Besonderheiten des innerstaatlichen Rechts (Freispruch von Niyonteze durch das Militärkassationsgericht bzgl. von Verstößen gegen die Art. 146, 147 der IV. Genfer Konvention, wobei in diesem Fall – für ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“ bzgl. Bürgerkriegsverbrechen völlig ausreichend – die Verurteilung wegen Verstößen gegen Art. 3 der Genfer Konventionen und das 2. Zusatzprotokoll aufrechterhalten wurde). 410 Vgl. IGH, Affaire des activités militaires et paramilitaires au Nicaragua et contre celui-ci, ICJ Rep. 1986, S. 14 (98): „Il [. . .] paraît suffisant, pour déduire l’existence de règles coutumières, que les Etats y conforment leur conduite d’une manière générale et qu’ils traitent eux-même les comportements non-conformes à la règle en question comme des violations de celle-ci.“ Genau dies geschieht im Taylor-Fall, wo andere Staaten gegen das von der oben genannten Praxis abweichende Verhalten Nigerias protestieren. 411 Zur großen Bedeutung, die eine Vielzahl gleichartiger Entscheidungen innerstaatlicher Gerichte für die Feststellung der Staatenpraxis hat, vgl. Doehring, Rn. 287 und 313; Verdross/Simma, § 584; Jennings/Watts, S. 41. 412 Vgl. zu den zwei Elementen der Entstehung von Völkergewohnheitsrecht IGH, North Sea Continental Shelf Case, ICJ Rep. 1969, S. 3 (45): „Not only must these acts amount to a settled practice, but they must also be such [. . .] as to be evidence of a belief that this practice is rendered obligatory by the existence of a rule of law requiring it“; zur Notwendigkeit einer opinio iuris auch IGH, Asylum Case, ICJ Rep. 1950, S. 266 (277); Brownlie, S. 8; Nguyen/Daillier/Pellet, Rn. 212; Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 16, Rn. 12; Doehring, Rn. 287, Graf Vitzthum, in: ders., I Rn. 131. 413 So spricht in den Fällen Saric, Javor, BGH, NStZ 1994, S. 232 ff., v. a. aber Wenceslas Munyeshkaya, Knesevic und Ntezimana, Higaniro, Mukangango, Mukabutera einiges dafür, dass die jeweiligen Gerichte sich nicht nur zur Strafverfolgung berechtigt, sondern sogar völkerrechtlich verpflichtet ansahen [vgl. oben aa) (1), (2), (3), (5), (6)].
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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sprechung geäußert. Daneben kam sie in der Stellungnahme der US-Regierung im Tadic-Verfahren vor dem ICTY zum Ausdruck, was gewisse Schwächen der US-amerikanischen Rechtsprechung und Gesetzgebung in dieser Hinsicht relativiert. Auch die EU-Staaten haben in Bezug auf Verletzungen des humanitären Völkerrechts in den bosnischen und ruandischen Bürgerkriegssituationen mehrfach betont, dass die Verantwortlichen von der Staatengemeinschaft zur Verantwortung gezogen werden müssen. Die zentrale Dienstvorschrift 15/2 der Bundeswehr, offizielle Äußerungen beim Erlass des deutschen Völkerstrafgesetzbuches und die Ausführungen Belgiens vor dem IGH, denen erstaunlicherweise nicht einmal die Demokratische Republik Kongo als Verfahrensgegnerin Belgiens eindeutig widersprach, zeigen, dass jedenfalls die Mitgliedstaaten Belgien und Deutschland damit ein „aut dedere – aut iudicare“ verbinden. Im größeren Rahmen der UN wurde diese Ansicht – wie später auch vom ungarischen Verfassungsgericht – im Hinblick auf solche Bürgerkriegsverbrechen, die als systematische oder groß angelegte Angriffe auf die Zivilbevölkerung zugleich auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind, von der Generalversammlung schon früh in zwei einstimmig angenommenen Resolutionen geteilt. Diese haben nach Artikel 10 UN-Charta zwar nur den Charakter von „Empfehlungen“, sind also rechtlich nicht bindend, können jedoch Ausdruck einer opinio iuris der in diesem Forum nahezu vollständig versammelten Staatengemeinschaft sein, die Völkergewohnheitsrecht erzeugen kann, falls sie durch andere Elemente der Staatenpraxis bestätigt wird – aber auch nur, wenn und soweit dies geschieht; das Abstimmungsverhalten der Staaten allein ist noch keine ausreichende „Übung“ i. S. d. Artikel 38 IGH-Statut.414 Man kann den Staaten, die einer nach der UN-Charta unverbindlichen Resolution zustimmen, nicht einmal ohne weiteres unterstellen, damit eine opinio iuris zum Ausdruck bringen zu wollen.415 Es ist vielmehr geboten, sich anhand des Textes der konkreten Resolution oder der Umstände ihrer Verabschiedung genau zu vergewissern, ob und inwieweit sie Ausdruck von Gewohnheitsrecht sein sollte. Wenn allerdings ein bestimmtes Verhalten als „contrary [. . .] to generally recognized norms of international law“ bezeichnet wird, wie dies in der Resolution 2640 (XXVI) mit Blick auf die Gewährung sicherer Zuflucht für „Verbrecher gegen die Menschlichkeit“ geschah, kommt man nicht umhin, dies zu bejahen. Damit liegt hier der bei der Beteiligung der UN-Generalversammlung an der Entstehung von Völkergewohnheitsrecht häufige Fall vor, dass in Umkehr des üblichen Prozesses die opinio iuris der eigentlichen Praxis, hier der Aburteilung von Bürgerkriegs414
Vgl. Verdross/Simma, § 637; Higgins, Problems and Process, S. 28; Nguyen/ Daillier/Pellet, Rn. 209; ähnl. Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 16 Rn. 23; Klein, in: Graf Vitzthum, IV Rn. 138; Brownlie, S. 14 f. 415 So auch Doehring, Rn. 308.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
verbrechern durch ihre Zufluchtsstaaten in den neunziger Jahren, zeitlich vorausgeht.416 Aber auch zeitlich „parallel“ zu dieser Praxis haben der UNSicherheitsrat und die UN-Menschenrechtskommission in mehreren Resolutionen die Strafverfolgung oder Auslieferung flüchtiger Bürgerkriegsverbrecher als Völkerrechtspflicht angesehen. Damit wollte der Sicherheitsrat, wie die einleitenden Worte „reaffirms“ und „urges“ beweisen, entsprechende Pflichten nicht aufgrund seiner Befugnisse nach der UN-Charta erst selbst erzeugen, sondern vielmehr eine allgemeine (und damit: gewohnheitsrechtliche) Rechtspflicht bestätigen.417 In der Zusammenschau reicht dies aus, inzwischen eine allgemeine, das heißt repräsentativ über den Globus verteilte418 Staatenpraxis und opinio iuris von ausreichendem Umfang für ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“ bei Bürgerkriegsverbrechen anzuerkennen.
416 Zu diesem – für die Entstehung des betreffenden Rechtssatzes unschädlichem – Phänomen vgl. Verdross/Simma, § 583; Nguyen/Daillier/Pellet, Rn. 212; Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 16 Rn. 23; Graf Vitzthum, in: ders., I Rn. 137. 417 Vgl. dazu, dass insbes. der Ausdruck „urges“ darauf hindeutet, dass der Sicherheitsrat keine nach Kapitel VII UN-Charta bindenden Beschlüsse fasst, Frowein/Krisch, in: Simma, UN-Charter, Art. 40 Rn. 16. 418 Vgl. zu diesem Erfordernis IGH, North Sea Continental Shelf Case, ICJ Rep. 1969, S. 3 (43); Nguyen/Daillier/Pellet, Rn. 211; Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 16 Rn. 11. Vorliegend wurde neben der fast alle Staaten umfassenden UN-Generalversammlung und dem nach einem geographisch-kulturellen Proporzsystem zusammengesetzten UN-Sicherheitsrat das Verhalten vieler europäischer Staaten, aber auch Chiles, der USA, Kameruns und der Demokratischen Republik Kongo berücksichtigt. In dieser Hinsicht muss auch bemerkt werden, dass die in Europa gegen afrikanische Bürgerkriegsverbrecher durchgeführten Verfahren nur vereinzelt auf Widerstand der Tatortstaaten stießen. So hat Ruanda die Aburteilung seines Bürgers Niyonteze in der Schweiz nicht als Einmischung in seine inneren Angelegenheiten abgelehnt, sondern im Gegenteil das schweizerische Verfahren aktiv im Wege der Rechtshilfe unterstützt (vgl. Reydams, AJIL 96 [2002], S. 231 [232 f.], wonach sogar ein Ortstermin des schweizerischen Gerichts in Ruanda ermöglicht wurde). Die Klage der Demokrat. Republik Kongo gegen Belgien vor dem IGH bezog sich nur auf die Verletzung der Immunität ihres Außenministers und die fehlende Kompetenz Belgiens, diesen in Abwesenheit strafrechtlich zu verfolgen. Für ein „aut dedere – aut iudicare“, also die Pflicht zur Verfolgung oder Auslieferung eines anwesenden Täters, ist sie ohne Bedeutung, wie die Klägerin in Ziff. 75 a. E. ihres Schriftsatzes vom 15.05.2001 (oben Fn. 404) ausdrücklich erklärt hatte. Lediglich die am 09.12.2002 von der Republik Kongo beim IGH gegen Frankreich eingereichte Klage ist ein Beispiel für einen Protest gegen ein „aut dedere – aut iudicare“ für Bürgerkriegsverbrechen: Sie wendet sich gegen die franz. Kompetenz zur Verfolgung kongolesischer Amtsträger, ohne – wie ihr Nachbarland im Streit mit Belgien – Unterschiede zwischen in Frankreich anwesenden und abwesenden Personen zu machen (vgl. Requête et demande d’indication de mesures provisoires S. 4–6 [erhältlich unter http://www.icj-cij.org/cijwww/cdocket/ccof/ccoforder/ccof_capplication_ 20020209.pdf]).
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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Alternativ könnte man diesen Rechtssatz statt auf Völkergewohnheitsrecht auch auf die authentische Auslegung der Genfer Konventionen durch die Vertragsparteien stützen, wie sie in der praktischen Vertragsanwendung zum Ausdruck kommt.419 Dafür spräche, dass einige der oben angeführten Beispiele aus der Staatenpraxis sich zur Aburteilung von Bürgerkriegsverbrechern auf die „grave breaches“-Bestimmungen der Genfer Konventionen bezogen haben.420 Völkerrechtlich wäre eine solche, von der ursprünglichen Intention abweichende Auslegung durch eine entsprechende gleichartige Praxis der Parteien möglich. Sie ist Ausdruck des im Völkerrecht vorherrschenden Konsensprinzips; die Grenzen zu einer stillschweigenden Vertragsänderung sind fließend.421 Letztlich dürfte nur sehr schwer zu entscheiden sein, ob sich das neu entstandene Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot für Bürgerkriegsverbrecher auf Gewohnheitsrecht oder auf die Genfer Konventionen stützt. Praktisch ergeben sich aus der Wahl der einen oder anderen Rechtsgrundlage kaum Unterschiede: Die Genfer Konventionen binden nahezu alle Staaten der Welt und sollen nach weit verbreiteter Auffassung sogar Gewohnheitsrecht widerspiegeln.422 Sie sind damit nach ihrem heutigen Ratifikationsstand fast ebenso „allgemeinverbindlich“ wie das universelle Völkergewohnheitsrecht. Somit kann festgehalten werden: Aufgrund der Genfer Konventionen in ihrer momentanen authentischen Auslegung durch die Vertragsstaaten oder aufgrund des Völkergewohnheitsrechts gilt im Ergebnis ein (quasi-)universell gültiges „aut dedere – aut iudicare“ für schwere Verstöße gegen das in internen bewaffneten Konflikten anwendbare humanitäre Völkerrecht.
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Zur authentischen Auslegung eines Vertrages durch gleichartige Praxis der Vertragsstaaten bei dessen Anwendung vgl. Art. 32 III b) WVRK sowie Dahm/Delbrück/Wolfrum, S. 635; Nguyen/Daillier/Pellet, Rn. 165; Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 11, Rn. 2. 420 Vgl. bspw. die Fälle Saric, Javor, Knesevic, Ntezimana, Higaniro, Mukangango und Mukabutera, die Entscheidung der chil. Corte Suprema, wohl auch die Res. 765 (1992) und 1214 (1998) des Sicherheitsrates, die Erklärung der EG-Staaten vom 19.05.1992, die Stellungnahme der US-Regierung im Tadic-Verfahren, die zentrale Dienstvorschrift 15/2 der Bundeswehr. 421 Vgl. dazu Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 11 Rn. 2. 422 Vgl. oben bei Fn. 306.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
dd) Entscheidungen internationaler Gerichte und die völkerrechtliche Literatur als „Hilfsmittel“ (1) Die Rechtsprechung des ICTY423 In der Berufungsentscheidung über die Zuständigkeit im Fall Dusko Tadic setzte sich das ICTY unter anderem mit der Frage auseinander, ob seine Gerichtsbarkeit über „grave breaches“ der Genfer Konventionen nach Artikel 2 ICTY-Statut auch in einem innerstaatlichen Konflikt begangene Taten umfasst. Eine positive Antwort hätte in letzter Konsequenz bedeutet, auch das in den Genfer Konventionen mit dem Begriff der „grave breaches“ verbundene „aut dedere – aut iudicare“ für Bürgerkriegsverbrechen zu bejahen. Das Gericht erkennt nach einer eingehenden Untersuchung der Staatenpraxis jedoch nur einen gewissen Trend zu einer gewohnheitsrechtlichen Ausdehnung der Genfer „grave breaches“-Bestimmungen auf interne Konflikte, der aber noch nicht ausreiche, um bereits von einer neu entstandenen Völkerrechtsnorm zu sprechen.424 Zwar bejaht es im Folgenden dennoch seine Zuständigkeit für „Bürgerkriegsverbrechen“, aber nicht gemäß Artikel 2 seines Statuts, sondern gemäß Artikel 3 als „Verletzung der Gesetze und Gebräuche des Krieges“,425 was – wie bereits oben unter bb) (2) ausgeführt wurde – keinen Rückschluss auf ein die nationale Justiz treffendes Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot zulässt. Geprüft wird nur, welche materiellen Regeln über die Kriegführung in internen Konflikten das Völkerrecht kennt und ob es an Verstöße eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der Täter knüpft.426 Welche Staaten (z. B. nur Tatortstaat oder auch Zufluchtsstaat) diese Verantwortlichkeit aktualisieren dürfen oder vielleicht sogar müssen, ist nicht Thema dieser Passagen. An anderer Stelle im TadicUrteil gibt das ICTY zu erkennen, dass es von einem Recht aller Staaten zur Verfolgung von Bürgerkriegsverbrechen ausgeht, über eine entspre423
Einschlägige Entscheidungen des IGH fehlen bislang: Die Klage der Demokratischen Republik Kongo gegen Belgien betraf ausdrücklich nicht die Pflicht zur Verfolgung von im Staatsgebiet anwesenden Tätern (vgl. oben Fn. 418); bzgl. der Klage der Republik Kongo gegen Frankreich fiel bislang nur eine Entscheidung über einstweiligen Rechtsschutz, in der Probleme der Begründetheit ausdrücklich ausgeklammert wurden (vgl. oben 1. Kap. Fn. 36). 424 Vgl. ICTY, Tadic, 02.10.1995, IT-94-1-AR72, Ziff. 80–84. Richter Abi-Saab ging dagegen schon davon aus, die Genfer „grave breaches“-Regeln seien nach der „subsequent practice“ der Vertragsparteien auch auf Bürgerkriegsverbrechen anwendbar (vgl. sep. op. Abi-Saab, Ziff. IV). Auch die Trial Chamber des ICTY zweifelte in ihrem Urteil vom 16.11.1998 im Fall Delalic (IT-96-21), Ziff. 317 die Richtigkeit dieser Rechtsprechung der Appeals Chamber kurz an, folgte ihr dann aber dennoch. 425 ICTY, Tadic, 02.10.1995, IT-94-1-AR72, Ziff. 137. 426 Vgl. ICTY, Tadic, 02.10.1995, IT-94-1-AR72, Ziff. 96–136.
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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chende Pflicht des Zufluchtsstaates verliert es aber auch hier kein Wort.427 Dazu äußerte es sich erst im Fall Blaskic, wo es ohne nähere Begründung in einem obiter dictum ausführt: „[. . .] the courts of any State [. . .] are under a customary-law obligation to try or extradite persons who have allegedly committed grave breaches of international humanitarian law.“428
Obwohl nicht explizit ausgesprochen, liegt es doch nahe, dass sich diese Aussage nicht nur auf Straftaten im Rahmen internationaler Konflikte bezieht, sondern auf alle Verbrechen innerhalb der Zuständigkeit des ICTY – und somit auch auf Bürgerkriegsverbrechen. Im Furundzija-Urteil der „Trial Chamber“ war hinsichtlich von im Bürgerkrieg begangener Folter429 dann aber wiederum nur von einem Verfolgungsrecht der nationalen Justiz eines Zufluchtsstaates die Rede,430 während eine entsprechende Pflicht jedenfalls nicht explizit bejaht wurde.431 Diese Zurückhaltung des ICTY erstaunt zwar angesichts der „völkerstrafrechtsfreundlichen“ Grundtendenz seiner Rechtsprechung432, ist aber dennoch kein Grund, an der oben getroffenen Analyse der Staatenpraxis zu zweifeln. Abgesehen davon, dass in der ersten hier analysierten Entscheidung nur die Staatenpraxis bis einschließlich 1995 berücksichtigt werden konnte, sind die Urteile des ICTY keine nach Artikel 38 Absatz 1 b) IGH-Statut zu beachtende Übung, die gegen ein „aut dedere – aut iudicare“ für Bürgerkriegsverbrecher streitet. Aus der Praxis interna427 Das ICTY verwirft dort einen der Einwände gegen die Rechtmäßigkeit seiner Existenz mit der Begründung, die in seinem Statut genannten Taten – und somit auch die unter Art. 3 und 5 fallenden Bürgerkriegsverbrechen – beträfen die gesamte Menschheit, so dass die Aburteilung des Täters im Ausland nicht die Souveränität des Tatortstaates verletzen könne (vgl. ICTY, Tadic, 02.10.1995, IT94-1-AR72, Ziff. 58 f.). 428 ICTY, Blaskic, Judgement on the request of the Republic of Croatia for review of the decision of Trial Chamber II of 18 July 1997, 29.10.1997, IT95-14-AR108bis, Ziff. 29. 429 Die Anklage bezog sich auf den gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen und deren 2. Zusatzprotokoll (vgl. ICTY, Furundzija, 10.12.1998, IT-95-17/1-T, Ziff. 43 f.), also auf die Regeln über innerstaatliche bewaffnete Konflikte. 430 Vgl. ICTY, Furundzija, 10.12.1998, IT-95-17/1-T, Ziff. 156 (Hervorhebungen nicht im Original): „[. . .] one of the consequences of the jus cogens character bestowed by the international community upon the prohibition of torture is that every State is entitled to [. . .] prosecute and punish or extradite individuals accused of torture, who are present in a territory under its jurisdiction. [. . .] It has been held that international crimes being universally condemned wherever they occur, every State has the right to punish the authors of such crimes. [. . .]“ Dabei geht das ICTY nicht einmal besonders auf den Zusammenhang zu einem internen bewaffneten Konflikt ein, so dass seine Ausführungen wohl sogar für Folter in Friedenszeiten gelten [dazu auch unten c) ff)]. 431 So auch Swart, in: Cassese/Gaeta/Jones, S. 1639 (1663). 432 Vgl. Kreß, EuGRZ 1996, S. 638 (645 f. und 648).
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
tionaler Gerichte kann sich – anders als aus nationaler Rechtsprechung – kein Gewohnheitsrecht entwickeln, da diese nur zur (Völker-)Rechtsanwendung, nicht aber zur (Völker-)Rechtserzeugung kompetent sind.433 (2) Die völkerrechtliche Literatur In der Literatur war es bis vor circa zehn Jahren absolut herrschende Meinung, dass für Verstöße gegen das in internen bewaffneten Konflikten anwendbare humanitäre Völkerrecht kein „aut dedere – aut iudicare“ gilt.434 Noch 1993 wandte sich auch das für seine Sachkunde hoch geachtete ICRC gegen eine „Internationalisierung“ von Bürgerkriegsverbrechen.435 Inzwischen hat sich dies insofern gewandelt, als der wohl überwiegende Teil der Lehre ein Recht des Zufluchtsstaates zur Verfolgung von Bürgerkriegsverbrechen bejaht.436 Eine Pflicht zu einem solchen Vorgehen (oder zur Auslieferung), also ein „aut dedere – aut iudicare“, wird aber nach wie vor meist abgelehnt.437 Allenfalls ein gewisser Trend der Staatenpraxis in diese Richtung wird in Übereinstimmung mit der Tadic-Rechtsprechung anerkannt.438 Nur wenige vertreten dagegen das hier gefundene Ergebnis, eine (Auslieferungs- oder) Strafverfolgungspflicht des Zufluchtsstaates.439 Hierzu zählt insbesondere auch die ILC, die in den Artikeln 8, 9 und 20 (f) ihres – allerdings von der UN-Generalversammlung noch nicht in Form einer Resolution akzeptierten440 – Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind von 1996 für bestimmte Verstöße gegen den gemeinsamen Artikel 3 433
Vgl. Doehring, Rn. 287. Vgl. Kreß, ISYHR 30 (2000), S. 103 (104 f.); Oeter, ZaöRV 1993, S. 1 (30). 435 Erklärung des ICRC vom 25.03.1993 (DDM/JUR 442 b): „[A]ccording to International Humanitarian Law as it stands today, the notion of war crimes is limited to situations of international armed conflict.“ (zitiert nach Meron, AJIL 89 [1995], S. 554 (559); Kreß, ISYHR 30 [2000], S. 103 [104, Fn. 4]). 436 Vgl. Meron, AJIL 89 (1995), S. 554 (569); ders., EJIL 1998, S. 18 (23 u. 29); Graditzky, RICR 1998, S. 29 (37); Kreß, ISYHR 30 (2000), S. 103 (168); Stern, GYIL 40 (1997), S. 280 (292); Simma/Paulus, AJIL 95 (2001), S. 302 (312 f.); Moir, S. 235. 437 Vgl. Heintschel v. Heinegg, in: Zimmermann, S. 27 (45); Meron, AJIL 89 (1995), S. 554 (569); ders., EJIL 1998, S. 18 (23); Graditzky, RICR 1998, S. 29 (37); Kreß, ISYHR 30 (2000), S. 103 (170); Swart, in: Cassese/Gaeta/Jones, S. 1639 (1663); Tomuschat, in: FS Steinberger, S. 315 (334); Moir, S. 191; ebenso mit Bezug auf „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ Stern, GYIL 40 (1997), S. 280 (292). 438 So etwa von Kreß, ISYHR 30 (2000), S. 103 (170). 439 So bspw. Ambos, AVR 37 (1999), S. 318 (340 f.); ders./Wirth, in: Fischer/ Kreß/Lüder, S. 769 (775 f.); Werle, Völkerstrafrecht, S. 74; Reydams, Eur. J. Crime, Crim. L. & Crim. Just 1996, S. 18 (27); Enache-Brown/Fried, McGill L. J. 43 (1998), S. 613 (633); Klingenberg, GYIL 46 (2003), S. 537 (560 ff.); wohl auch Bungenberg, AVR 39 (2001), S. 170 (198–200). 434
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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der Genfer Konventionen und Artikel 4 des 2. Zusatzprotokolls ein „aut dedere – aut iudicare“ vorsieht.441 Die dogmatischen Begründungen, die die Wissenschaft für dieses richtige Ergebnis ins Felde führt, halten aber nicht immer einer kritischen Überprüfung stand. Oft wird, anstatt sich auf die Staatenpraxis zu beziehen, eine möglicherweise zwar dem Wortlaut einzelner Bestimmungen, nicht aber dem Gesamtzusammenhang entsprechende Auslegung der Genfer Konventionen bemüht,442 oder man verweist kurzerhand auf die rechtspolitischen und moralischen Vorzüge einer solchen Rechtslage, um deren Bestehen de lege lata zu beweisen.443, 444 b) Völkermord Die Völkermordkonvention schreibt jedenfalls dann, wenn man die subsequent practice der Vertragsstaaten außer acht lässt, kein „aut dedere – aut iudicare“ vor, ja, sie lässt eine Strafverfolgung von Völkermördern durch den Zufluchtsstaat dort, wo es an einem genuine link fehlt, wohl 440 Vgl. Tomuschat, in: FS Steinberger, S. 315 (338), der deswegen zu Recht mahnt, diesen Entwurf in seiner Bedeutung nicht zu überschätzen. Vgl. dazu auch unten b) dd) (2) a. E. 441 Vgl. dazu auch die Erläuterungen der ILC im Commentary on the Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, ILC Report 1996, Chapter II, Art. 20 Rn. 5, 14. 442 So etwa bei Ambos, NStZ 1999, S. 226 (229); ders./Wirth, in: Fischer/Kreß/ Lüder, S. 769 (775 f.); Werle, Völkerstrafrecht, S. 72 f., wo darauf verwiesen wird, dass die „grave breaches“-Vorschriften bestimmte Übergriffe gegen „geschützte Personen“ inkriminierten, wozu auch der im gemeinsamen Art. 3 geschützte Personenkreis zu rechnen sei. Dies verkennt, dass sich nach dem gemeinsamen Art. 2 I alle Bestimmungen der Genfer Konventionen nur auf internationale bewaffnete Konflikte beziehen – also auch die über das „aut dedere – aut iudicare“ –, mit der alleinigen Ausnahme des Art. 3. Dieser steht innerhalb der Konventionen isoliert für sich allein (Torrelli, S. 31 und Pictet, S. 51 sprechen zutreffend von einer eigenständigen „miniconvention“ innerhalb der Genfer Übereinkommen); eine Verbindung zwischen ihm und den „grave breaches“-Regeln herzustellen ignoriert diese Systematik. Auch der Lösungsansatz, die Strafpflicht aus der „respect and ensure“-Vorschrift des Art. 1 Genfer Konventionen abzuleiten (so Ambos, AVR 37 (1999), S. 318 [340 f.]), überzeugt nicht: Sollte sich das „aut dedere – aut iudicare“ bereits aus dieser Generalklausel ergeben, wäre es völlig überflüssig gewesen, es für besonders schwerwiegende Verstöße im internationalen bewaffneten Konflikt in den „grave breaches“-Bestimmungen noch einmal gesondert anzuordnen. Allein der Rekurs auf die subsequent practice vermag deshalb eine Anwendung des „aut dedere – aut iudicare“ der Genfer Konventionen auf Bürgerkriegsverbrechen zu rechtfertigen. 443 So etwa bei Ambos, AVR 37 (1999), S. 318 (337 f.), wo damit argumentiert wird, dass Bürgerkriegsverbrechen heutzutage die Kriegsverbrechen in internationalen Konflikten zahlenmäßig überwögen und es für eine unterschiedliche Behandlung beider Komplexe keine moralische Rechtfertigung gebe. 444 Zur methodischen Kritik dieses Vorgehens ausführlich unten III.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
nicht einmal zu.445 Im Folgenden ist zu untersuchen, ob sich dies durch die nachträgliche Praxis bei der Vertragsanwendung oder durch neu entstandenes Gewohnheitsrecht inzwischen geändert hat. aa) Innerstaatliche Gerichtsentscheidungen (1) Israel: Eichmann Der erste hier einschlägige Fall war der Eichmann-Prozess. Zwar war Israel nicht der „Zufluchtsstaat“ des „Organisators des Holocaust“, sondern hatte ihn 1960 aus dem argentinischen Asyl entführt, aber dennoch enthalten die Urteile des Jerusalemer Bezirksgerichts und des israelischen Obersten Gerichtshofs wertvolle Ausführungen zur Frage eines „aut dedere – aut iudicare“. Die Verteidigung hatte den israelischen Gerichten das Recht zur Aburteilung von Eichmann unter anderem mit einem argumentum e contrario aus Artikel VI Völkermordkonvention bestritten: Dort seien die zur Verfolgung von Völkermord zuständigen Gerichte – nämlich die des Tatortstaates und eventuell vorhandende internationale Tribunale – abschließend aufgezählt, eine Verfolgung in Israel somit nicht möglich.446 Die israelischen Gerichte zeigen sich – zu Unrecht447 – schon im Grundsatz sehr skeptisch, ob das Völkerrecht die Verfolgung von Auslandstaten überhaupt beschränkt.448 Dennoch setzen sie sich – sozusagen „hilfsweise“449 – mit diesem Argument auseinander. Nach ihrer Ansicht beweisen Kommentarliteratur und Entstehungsgeschichte, dass Artikel VI Völkermordkonvention nicht abschließend sei.450 Allerdings bleibe diese Vorschrift insofern hinter den „grave breaches“-Bestimmungen der Genfer Konventionen zurück, als eine Verfolgungspflicht nur für den Tatortstaat gelte.451 Eine Verfolgungsbefugnis bestehe daneben aber aufgrund des Gewohnheitsrechts auch für jeden anderen Staat.452 Den Eichmann-Urteilen lässt sich somit zweierlei entnehmen. Erstens: über die in Artikel VI Völkermordkonvention vorgesehenen 445
Siehe oben A. II. 2. Vgl. Urteil des Bezirksgerichts, ILR 36, S. 5 (34). 447 Siehe oben 1. Kapitel B. I. 3. 448 Vgl. Urteil des Bezirksgerichts, ILR 36, S. 5 (57); Urteil des Obersten Gerichtshofs, ILR 36, S. 277 (283). 449 So ausdrücklich der Oberste Gerichtshof, ILR 36, S. 277 (287). 450 Urteil des Bezirksgerichts, ILR 36, S. 5 (36); der Oberste Gerichtshof schloss sich dem an (ILR 36, S. 277 [393 f.]). 451 Vgl. Urteil des Bezirksgerichts, ILR 36, S. 5 (38 f.); der Oberste Gerichtshof schloss sich dem an (ILR 36, S. 277 [393 f.]) (Hervorhebung nicht in den Originalen). 452 Urteil des Obersten Gerichtshofs, ILR 36, S. 277 (293 f.) (Hervorhebung im Original); ähnl. das Urteil des Bezirksgerichts, ILR 36, S. 5 (38 f.). 446
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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Zuständigkeiten hinaus darf jeder Staat der Welt Völkermord verfolgen. Gegen diese – aufgrund von Wortlaut und Entstehungsgeschichte sehr fragliche453 – Auslegung der Völkermordkonvention hat sich damals in der Staatenwelt kein Protest geregt.454 Aber die israelischen Gerichte haben auch deutlich gemacht: Eine Verfolgungs- oder Auslieferungspflicht trifft den Zufluchtsstaat nicht. Dazu passt, dass es auch in den folgenden Jahren gerade in Südamerika immer wieder Fälle gab, in denen Täter des Holocaust – zum Teil sogar trotz Auslieferungsersuchen von Tatort- und Heimatstaat – sichere Zuflucht bekamen.455 (2) USA: Demjanjuk v. Petrovsky; S. Kadic v. Radovan Karadzic Die US-Gerichte bestätigten das Recht zur Ausübung von universal jurisdiction über Völkermord in Demjanjuk v. Petrovsky.456 John Demjanjuk, dem vorgeworfen wurde, Wächter im KZ Treblinka gewesen zu sein, hatte sich gegen seine Auslieferung an Israel gewandt, weil Israel keine Gerichtsbarkeit über die von ihm in Polen angeblich begangenen Taten habe.457 Die Begründung, mit der das Gericht diesen Einwand zurückweist, ist sowohl vom Umfang her als auch in der Substanz eher schwach. Neben den – für ein Verfolgungsrecht nationaler Gerichte gar nicht einschlägigen – Nürnberger Prozessen, bezieht man sich nur auf das aus privater Feder stammende Restatement of the Foreign Relations Law und die Eichmann-Urteile, die für sich allein kaum eine „allgemeine“ Staatenpraxis i. S. v. Artikel 38 Absatz 1 b) IGH-Statut begründen können. Eine Auseinandersetzung mit Artikel VI Völkermordkonvention findet nicht statt. Trotz dieser Schwächen bleibt festzuhalten: Der Fall Demjanjuk ist das zweite Beispiel dafür, dass die Staatenpraxis in Form eines nationalen Gerichtsurteils das Weltrechtsprinzip für Völkermord anerkannte. Für eine Verfolgungspflicht gibt dieses Judikat aber keinen Anhaltspunkt; der zustimmende Verweis auf die Eich453
Vgl. oben A. II. 2. Tomuschat, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 31; Higgins, Process and Problems, S. 59; Henzelin, S. 415; Cassese, Int. Criminal Law, S. 293. Die argentinischen Proteste bezogen sich nur auf die Entführung Eichmanns, nicht aber auf die Strafverfolgung in Israel (vgl. die Erklärung beider Staaten vom 03.08.1960; abgedruckt im Urteil des Bezirksgerichts, ILR 36, S. 5 [58 f.]). 455 So verweigerte Brasilien im Juni 1979 die Auslieferung des mutmaßlichen nationalsozialistischen Verbrechers Gustav Franz Wagner an Israel, Deutschland, Polen oder Österreich, ohne ihn – soweit ersichtlich – selbst strafrechtlich zu verfolgen (vgl. von Glahn, S. 230, Fn. 16). 456 Vgl. US Court of Appeals, 6th Circuit, 31.10.1985, ILR 79, S. 534 (545 f.) 457 Vgl. US Court of Appeals, ILR 79, S. 534 (543). Nach seiner Auslieferung wurde er in Israel aus tatsächlichen Gründen freigesprochen (vgl. von Glahn, S. 232; Schabas, Genozid, S. 507). 454
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
mann-Rechtsprechung, in der eine Verfolgungspflicht von Drittstaaten ausdrücklich abgelehnt wurde, deutet sogar eher auf das Gegenteil hin. Dieser Linie blieb die US-Justiz im bereits oben unter 1. a) aa) (10) erwähnten Zivilverfahren gegen Radovan Karadzic treu. Sie bejahte auch dort in einem obiter dictum lediglich das Recht dritter Staaten zur strafrechtlichen Verfolgung von Völkermördern458 – von einer Verfolgungspflicht ist nicht die Rede. Das Urteil äußert auch keinerlei Zweifel an der Völkerrechtskonformität des von ihm zitierten459 US-amerikanischen Genocide Act,460 der nur eine Verfolgung nach dem Territorial- und dem aktiven Personalprinzip zulässt.461 Allenfalls ein im Stile der Falschmünzerkonvention von 1929 unter dem Vorbehalt der Anwendbarkeit des nationalen Strafrechts stehendes „aut dedere – aut iudicare“ wäre damit in Einklang zu bringen. (3) Österreich: Cvjetkovic In Österreich wurde 1994 der dort wohnhafte bosnische Serbe Cvjetkovic wegen Völkermordes verhaftet. Er erhob Grundrechtsbeschwerde mit dem Argument, die Gerichtsbarkeit Österreichs erstrecke sich nicht auf in Bosnien-Herzegowina begangene Taten.462 Der OGH wies dieses Vorbringen zurück, folgte dafür aber einer ganz anderen Argumentation als die bisher untersuchten Entscheidungen, in dem er die österreichische Verfolgungsbefugnis einzig mit dem völligen Zusammenbruch von Rechtspflege und Auslieferungsverkehr in Bosnien-Herzegowina begründet.463 Artikel VI Völkermordkonvention setze implizit voraus, dass im Tatortstaat funktionierende Gerichte bestehen, an die der Verdächtige ausgeliefert werden kann. Wo dies nicht der Fall sei, könne eine Bestrafung im Zufluchtsstaat erfolgen, da ansonsten eine dem Sinn und Zweck der Konvention widersprechende Straflosigkeit des Täters eintreten würde.464 Im Gegensatz zu den 458 US Court of Appeals, 2nd Circuit, 13.10.1995, ILM 34 (1995), S. 1595 (1601). 459 Vgl. US Court of Appeals, 2nd Circuit, 13.10.1995, ILM 34 (1995), S. 1595 (1603). 460 18 U.S.C. § 1091 (d). 461 Darin unterscheidet sich das Karadzic-Urteil von der unten unter (11) ausführlich erörterten Entscheidung der australischen Gerichte im Fall Nulyarimma: Dort wurde ausführlich geprüft, wie sich der Widerspruch zwischen der australischen Rechslage, die Völkermord nicht als Straftatbestand kannte, und der Australien als Tatortstaat nach Art. VI Völkermordkonvention treffenden Verfolgungspflicht auflösen lässt. 462 Zum Sachverhalt vgl. OGH, 13.07.1994, Entscheidungen des Obersten Österreichischen Gerichtshofs in Strafsachen, Bd. 62, S. 85 (86 f.). 463 OGH, Fn. 462, S. 85 (88). 464 Vgl. OGH, Fn. 462, S. 85 (89).
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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israelischen und US-amerikanischen Entscheidungen, die die Anwendung des Weltrechtsprinzips an keine Bedingungen knüpften, schließt der OGH also die Verfolgung eines Völkermörders im Zufluchtsstaat aus, wenn am Tatort eine funktionierende Justiz besteht.465 Für unsere Zwecke ist allerdings nur ein anderer Punkt relevant, in dem das Cvjetkovic-Urteil mit den zuvor besprochenen Entscheidungen übereinstimmt: Es gibt in ihm keinen Hinweis darauf, dass der Zufluchtsstaat bei einem Scheitern der Auslieferung zur Ausübung seiner Strafverfolgungsbefugnis völkerrechtlich verpflichtet sei. (4) Deutschland Die erste deutsche Gerichtsentscheidung zum Völkermordtatbestand war der Beschluss des Ermittlungsrichters am BGH vom 13. Februar 1994 über den Haftbefehl gegen Dusko Tadic. Der BGH scheint dort eine Verfolgungspflicht des Zufluchtsstaates anzudeuten, wenn er ausführt, „[es] müßte [. . .] auf Unverständnis stoßen, wenn die Bundesrepublik Deutschland einen ausländischen Täter, der im Verdacht steht, sich im Konflikt in BosnienHerzegowina schwerster Verbrechen schuldig gemacht zu haben, und sich freiwillig auf deutsches Territorium begeben hat, in Kenntnis des Tatvorwurfes und entgegen der Vorschrift des § 6 Nr. 1 StGB unbehelligt lassen würde“.466
Dagegen differenziert das erste Urteil des BGH zum Völkermord mit der Eichmann-Rechtsprechung zwischen einer auf den Tatortstaat beschränkten Verfolgungspflicht und eine jedem Staat zustehenden Verfolgungsrecht: „Aus dem Umstand, daß die Völkermordkonvention das Weltrechtsprinzip nicht vorschreibt, folgt deshalb nur, daß die Vertragsstaaten nicht verpflichtet sind, [. . .] einen von einem Ausländer an Ausländern im Ausland begangenen Völkermord zu verfolgen. Den Vertragsstaaten ist es aber völkerrechtlich nicht verwehrt, bei der Verfolgung des Völkermordes [. . .] innerstaatlich mehr zu tun als das völkerrechtliche Minimum [. . .].“467
Das universelle Verfolgungsrecht begründet der BGH vor allem mit einer teleologischen Auslegung der Völkermordkonvention. Die in Artikel I enthaltene Pflicht aller Vertragsstaaten zur „Verhütung und Bestrafung“ von Völkermord gebiete dessen effektive Verfolgung. Verstünde man das Territorialitätsprinzip aber als ausschließlich, sei eine solche nicht gegeben, da Völkermord häufig mit Duldung des Tatortstaates begangen werde.468 Hier465 Fraglich wäre dann allerdings, ob dessen Justiz nur dann nicht „funktioniert“, wenn sie faktisch zusammengebrochen ist, oder schon dann, wenn sie ihrer Pflicht aus Art. VI Völkermordkonvention zur Verfolgung von Völkermördern nicht nachkommen will, sie also nicht völkerrechtsgemäß „funktioniert“. 466 BGH, NStZ 1994, S. 232 (233). 467 Vgl. BGHSt 45, 64 (68), später in BGHSt 46, 292 (293) bestätigt.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
gegen ließe sich vieles einwenden. So sprechen Wortlaut und Entstehungsgeschichte von Artikel VI Völkermordkonvention entgegen dem BGH469 eher gegen ein Verfolgungsrecht des Zufluchtsstaates.470 Der Rekurs auf den telos überzeugt nicht: Artikel VI ist lex specialis zu Artikel I Völkermordkonvention und bestimmt als solche abschließend, mit welchen Mitteln die Vertragsparteien ihre Bestrafungs- und Verhütungspflicht aus Artikel I zu erfüllen haben, nämlich mit der Strafverfolgung nach dem Territorialitätsprinzip. Dennoch bleibt das Entscheidende: Ein weiteres Mal hat ein Organ eines der Vertragsstaaten der Völkermordkonvention, denen als „Herren des Vertrages“ die authentische Auslegung obliegt,471 die Anwendbarkeit des Weltrechtsprinzips bejaht. Der einzige Unterschied zu den EichmannUrteilen ist, dass dort das Weltrechtsprinzip als gewohnheitsrechtlich neben der Völkermordkonvention bestehend angesehen wurde, während es der BGH in Artikel I Völkermordkonvention zu verankern scheint. Eine Verfolgungspflicht des Zufluchtsstaates nach dem Motto „aut dedere – aut iudicare“ lehnt der BGH dagegen ebenso eindeutig ab wie die israelischen Gerichte.472 Auch das Bundesverfassungsgericht hat bei der Zurückweisung der später vom Angeklagten eingereichten Verfassungsbeschwerde in diesem Sinne entschieden.473 Die in eine andere Richtung weisenden Andeutungen des Tadic-Beschlusses dürften damit überholt sein.
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BGHSt 45, 64 (66 f.). Dieser sieht in BGHSt 45,64 (66–68) die Entstehungsgeschichte als Stütze für seine Entscheidung an. 470 Vgl. oben A. II. 2. Auch das BVerfG gestand dies später in JZ 2001, S. 975 (980) zu. 471 Vgl. zur authentischen Auslegung völkerrechtlicher Verträge durch die Parteien Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 11 Rn. 2; Nguyen/Daillier/Pellet, Rn. 165; Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 634 f. 472 Etwas verwirrend ist, dass der BGH in seinem Urteil zustimmend aus dem Urteil des IGH vom 11.07.1996 im Fall Bosnien-Herzegowina/Jugoslawien zitiert, „die Verpflichtung jeden Staates, das Verbrechen des Völkermordes zu verhüten und zu bestrafen,“ sei nicht „territorial begrenzt“ (vgl. BGHSt 45, 64 [68]. Hervorhebung nicht in den Originalen). Dies hat Teile der Literatur zu dem Schluss veranlasst, der BGH habe mit dieser Entscheidung eine Verfolgungspflicht der Zufluchtsstaaten von Völkermördern bejaht (vgl. bspw. Bungenberg, AVR 39 [2001], S. 170 [198, Fn. 162]). Dem ist jedoch aus zwei Gründen zu widersprechen: Zum einen hat der BGH ja im selben Urteil eine solche Pflicht explizit abgelehnt, zum anderen ist auch zweifelhaft, ob die angeführte Stelle des IGH sie wirklich stützt [vgl. dazu unten dd) (1)]. 473 Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss v. 12.12.2000, JZ 2001, S. 975 (980). 469
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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(5) Frankreich: Javor und Wenceslas Munyeshyaka474 Auch die Entscheidung der französischen Cour de Cassation im Fall Javor gesteht wohl dem Zufluchtsstaat eines Völkermörders ein Verfolgungsrecht zu, wenngleich sie im konkreten Fall wegen der Abwesenheit der Täter vom französischen Staatsgebiet ihre Gerichtsbarkeit verneinte.475 Als mit dem in Frankreich lebenden Ruander Wenceslas Munyeshyaka dann ein Fall eintrat, in dem Frankreich Zufluchtsstaat eines mutmaßlichen Völkermörders war, bejahte sie folgerichtig die französische Strafverfolgungskompetenz476 und hob anderslautende Entscheidungen der Vorinstanzen auf.477 Auf eine Verfolgungspflicht, die man dem Urteil bezüglich Bürgerkriegsverbrechen aus der Verwendung des Begriffes „infractions graves“ entnehmen konnte,478 deutet jedoch für den Völkermord nichts hin. Es wäre zu viel des logischen Deduzierens, wenn man dem Gericht unterstellen würde, es müsse mit der Befürwortung einer Verfolgungspflicht für ein „international crime“ – nämlich die Bürgerkriegsverbrechen – eine solche zwingend auch für ein weiteres „international crime“ – nämlich den Genozid – bejahen. (6) Schweiz: Niyonteze Als sie unmittelbar nach dem Völkermord in Ruanda erstmals mit einem sich auf ihrem Territorium befindenden Täter konfrontiert war, handelte die Schweiz nicht nach der Maxime „aut dedere – aut iudicare“. Sie griff stattdessen zum ausländerpolizeilichen Institut der Ausweisung und entfernte den Betroffenen von ihrem Territorium.479 Ein solches Vorgehen er474
Zum Sachverhalt beider Fälle vgl. oben a) aa) (2). Vgl. Cour de Cassation, Chambre Criminelle, Urteil v. 26.03.1996, nº95–81527. Die entscheidende Stelle lautet: „[. . .] les juridictions françaises ne peuvent poursuivre et juger, que s’ils sont trouvés en France, les auteurs [. . .] de crimes [. . .] qui constituent [. . .], un génocide.“ 476 Cour de Cassation, Chambre Criminelle, 06.01.1998, nº 96-82491, berichtigt am 10.02.1998. Die entscheidende Stelle – die letztlich nur eine den unterschiedlichen tatsächlichen Umständen entsprechend ins Affirmative gewendete Wiedergabe der vorstehend zitierten Passage aus Javor ist – lautet: „[. . .] les auteurs [. . .] des actes qui constituent [. . .] un génocide [. . .] peuvent, s’ils sont trouvés en France, être poursuivis et jugés par les juridictions françaises.“ 477 Es handelt sich um Entscheidungen des „juge d’instruction“ am Tribunal de Grande Instance von Privas v. 25.07.1995 und der Cour d’Appel von Nimes v. 20.03.1996, zitiert bei Cour de Cassation (Fn. 476) und Stern, GYIL 40 (1997), S. 280 (295 f.). 478 Vgl. hierzu oben a) aa) (2) a. E. 479 Vgl. zu dem Vorfall Reydams, AJIL 96 (2002), S. 231 (Fn. 3). 475
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
füllt nicht den Zweck des „aut dedere – aut iudicare“, denn die Ausweisung, die den Täter nur aus dem Zufluchtsstaat entfernt, ohne ihn aber zwingend einem zur Strafverfolgung bereiten Staat zuzuführen, ist strikt von der Auslieferung zu trennen, die die Übergabe eines Flüchtigen an einen anderen Staat gerade zum Zweck der Strafverfolgung bezeichnet.480 Dagegen leitete die Eidgenossenschaft wenig später im bereits oben unter a) aa) (4) erwähnten Fall Niyonteze nach der Ablehnung eines ruandischen Auslieferungsantrages ein Strafverfahren ein, das zu einer Verurteilung wegen Bürgerkriegsverbrechen führte. Im Punkt „Völkermord“ scheiterte es dagegen. Einen entsprechenden Tatbestand gab es damals im schweizerischen Strafrecht noch nicht, so dass auf allgemeine Vorschriften des Militärstrafrechts zurückgegriffen werden musste. Ein Verstoß gegen humanitäres Völkergewohnheitsrecht ist gemäß Artikel 108 Absatz 1 CPM aber nur dann in der Schweiz strafbar, wenn er im internationalen bewaffneten Konflikt begangen wird, so dass dem Angeklagten – der im ruandischen Bürgerkrieg gehandelt hatte – ein Verstoß gegen das gewohnheitsrechtliche Völkermordverbot nicht zu Last gelegt werden konnte. In einem Bürgerkrieg sind gemäß Artikel 108 Absatz 2 CPM nur Verstöße gegen von der Schweiz ratifizierte Verträge strafbar; da die Schweiz aber damals die Völkermordkonvention noch nicht ratifiziert hatte, konnte man sich auch nicht auf diese Vorschrift stützen.481 Damit scheiterte die Bestrafung aber ausschließlich an Besonderheiten des nationalen Rechts, nicht dagegen an völkerrechtlichen Schranken. Wenn das Militärappellationsgericht in einem obiter dictum seine Kompetenz zur Bestrafung eines im internationalen bewaffneten Konflikt begangenen Völkermordes mit Verweis auf Artikel 108 Absatz 1 CPM bejaht,482 ohne darin ein völkerrechtliches Problem zu sehen, dann erkennt es im Gegenteil die völkerrechtliche Zulässigkeit des Weltrechtsprinzips für Völkermord sogar implizit an.483 Denn vom Standpunkt des Völkerrechts aus spielt es keine Rolle, ob Völkermord im internationalen bewaffneten Konflikt, im Bürgerkrieg oder im Frieden begangen wird.484 Wenn das Gericht aber gleichzeitig, ohne einen möglichen Völker480
Vgl. schon oben 1. Kapitel A. bei Fn. 4 und Fn. 5. Vgl. zum Berufungsurteil Tribunal Militaire d’Appel 1 A (Genève), Urteil v. 26.05.2000 (unveröff.; im Internet unter http://www.icrc.or/ihl-nat.nsf erhältlich), III. Chapitre I A.; zum erstinstanzlichen Urteil den „case report“ von Reydams, AJIL 96 (2002), S. 231 (232). Zum Text des Art. 108 CPM vgl. oben Fn. 327. 482 Tribunal Militaire d’Appel 1 A (Genève), Fn. 481, III. Chapitre I A. Inzwischen hat die Schweiz die Völkermordkonvention ratifiziert und in Art. 264 II StGB die Möglichkeit eingeführt, einen in der Schweiz anwesenden Völkermörder im Falle der Nichtauslieferung vor schweizerische Gerichte zu stellen. Zur Stellungnahme des Bundesrats anlässlich dieser Gesetzesänderung vgl. unten bb) (3). 483 Dabei muss es sich um ein völkergewohnheitsrechtliches Weltrechtsprinzip handeln, da die Schweiz damals die Völkermordkonvention nicht ratifiziert hatte. 481
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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rechtsverstoß auch nur zu diskutieren,485 die Verfolgung des Völkermordes in Bürgerkriegssituationen ablehnt, dann heißt dies auch, dass es jedenfalls gewohnheitsrechtlich den Zufluchtsstaat nicht in der Pflicht zur Strafverfolgung bei Nichtauslieferung sieht.486 (7) Kanada: Mugesera Auch Kanada scheint die Ausweisung eines ausländischen Völkermörders der Auslieferung oder Strafverfolgung vorzuziehen. Als bekannt wurde, dass eine im November 1992 in Ruanda gehaltene Hetzrede des kurz darauf nach Kanada geflohenen Ruanders Leon Mugesera entscheidend zum Völkermord von 1994 beigetragen haben soll, wurde vom Minister of Citizenship and Immigration ein Verfahren eingeleitet, um Mugesera in ein Land seiner Wahl auszuweisen.487 Kanada hatte deutlich gemacht, dass es ihn trotz eines entsprechenden Ersuchens nicht an Ruanda ausliefern werde.488 Ein Strafverfahren in Kanada ist gegen ihn bislang ebenfalls nicht eingeleitet worden und wird von Beobachtern auch in Zukunft als eher unwahrscheinlich eingeschätzt.489 484 Vgl. Art. I Abs. 1 Völkermordkonvention: „[. . .] genocide whether committed in time of peace or in time of war, is a crime under international law [. . .]“. (Hervorhebung nicht im Original). 485 Dies unterscheidet die Vorgehensweise des schweizer Militärgerichts von derjenigen des australischen Bundesgerichts im unten unter (11) eingehender besprochenen Fall Nulyarimma: Dort wurde im Anschluss an die Feststellung, dass der australische Gesetzgeber keinen Tatbestand des Völkermordes geschaffen habe, ausführlich erörtert, ob die von den Richtern befürwortete völkerrechtliche Verfolgungspflicht diese Lücke des nationalen Rechts schließen kann. 486 Allenfalls ein „aut dedere – aut iudicare“ im Sinne der Falschmünzerkonvention von 1929, das nur gilt, wenn der Zufluchtsstaat sein Strafrecht freiwillig auf entsprechende Auslandstaten von Ausländern erstreckt, wäre mit dem Urteil noch vereinbar. 487 Vgl. Reydams, Eur. J. Crime, Crim. L. & Crim. Just. 1996, S. 18 (40). Vgl. zu diesem Fall ferner den ausführlichen „case report“ bei Schabas, AJIL 93 (1999), S. 529 (529–531). 488 Vgl. Schabas, AJIL 93 (1999), S. 529 (532). 489 Vgl. Schabas, AJIL 93 (1999), S. 529 (533); Reydams, Eur. J. Crime, Crim. L. & Crim. Just. 1996, S. 18 (39, Fn. 109). Der Rechtstreit Mugeseras mit den Einwanderungsbehörden ist noch immer anhängig. Insbesondere ist auf tatsächlicher Ebene äußerst umstritten, ob die Rede wirklich zum Völkermord aufhetzte. Am 08.09.2003 konnte Mugesera vor dem Federal Court of Appeal (Quebec) einen Erfolg erzielen: Dieser wertete die Rede nicht als Anstiftung zum Genozid (Federal Court of Quebec, Urteil v. 08.09.2003, FCA 2003, 325, Ziff. 240). Dieses Urteil wurde allerdings am 28.6.2005 vom kanad. Supreme Court aufgehoben, der die Ausweisungsverfügung wieder herstellte (vgl. Supreme Court of Canada, Mugesera v. Canada [Minister of Citizenship and Immigration], 2005 SCC 40).
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
(8) Indien: Karakira Indien lieferte den Verdächtigen Karakira 1996 an Ruanda aus, obwohl zwischen beiden Staaten kein Auslieferungsvertrag bestand. Beide Staaten gaben zu verstehen, dass sie dies als durch die Völkermordkonvention geboten ansahen.490 Der Fall Karakira spricht somit für ein „aut dedere – aut iudicare“ gegenüber Völkermördern. (9) Kamerun: Bagosora; Fall der 19 bzw. 8 Ruander Dagegen lehnte Kamerun – das nicht Mitglied der Völkermordkonvention ist – mehrfach Auslieferungen wegen des ruandischen Völkermordes ab. Schon im Fall Bagosora – der bereits oben unter dem Aspekt der Bürgerkriegsverbrechen erörtert wurde – hatte es die Auslieferung nach Belgien ausdrücklich nur wegen der Tötung belgischer Blauhelme bewilligt, nicht jedoch wegen der gegen Ruander begangenen Straftaten.491 Im Fall „Extradition de 19 ressortissants rwandais“ wurde die von Ruanda beantragte Auslieferung zwar zunächst nur deswegen aufgeschoben, weil konkurrierende Überstellungsersuchen des ICTR vorlagen,492 als dieses aber schließlich auf die Überstellung von elf der Verdächtigen verzichtete, wurde ein neuer Auslieferungsantrag Ruandas wegen formaler Mängel und menschenrechtlicher Bedenken abgelehnt.493 Bei Geltung eines gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“ hätte Kamerun nun aber selbst die Strafverfolgung in die Hand nehmen müssen, wovon nichts berichtet ist. Im Gegenteil: Die Nichtauslieferungsentscheidung hebt ausdrücklich hervor, dass der in Ruanda begangene Völkermord in Kamerun nicht strafbar sei.494 490 Vgl. zu diesem Fall Schabas, Genozid, S. 537. Karakira wurde in Ruanda zum Tode verurteilt und am 22.04.1998 öffentlich hingerichtet (vgl. Schabas, Genozid, S. 538). 491 Vgl. Cour d’Appel du Centre (Yaounde), 15.03.1996 [Extradition de T. Bagosora], (unter http://www.icrc.org/ihl-nat.nsf erhältlich), „Au Fond“, Abs. 9. Letztlich wurde Bagosora aber ohnehin nicht an Belgien, sondern an das ICTR überstellt. 492 Vgl. Cour d’Appel du Centre (Yaounde), 31.05.1996 [Extradition de 19 ressortissants rwandais], (unter http://www.icrc.org/ihl-nat.nsf erhältlich). 493 Vgl. Cour d’Appel du Centre (Yaounde), 21.02.1997 [Extradition de 8 ressortissants rwandais], (unter http://www.icrc.org/ihl-nat.nsf erhältlich). 494 Vgl. Cour d’Appel du Centre (Yaounde), 21.02.1997 [Extradition de 8 ressortissants rwandais], (unter http://www.icrc.org/ihl-nat.nsf erhältlich), 6. „Considerant“, 2. Unterabsatz. Dabei tut es nichts zur Sache, dass die Verdächtigen JeanBosco Bayaragwiza und Laurent Semanza letztlich doch noch vom ICTR verfolgt und daraufhin von Kamerun dorthin überstellt wurden (Bayaragwiza wurde am 03.12.2003 von der Trial Chamber I des ICTR wegen Völkermordes zu 35 Jahren Haft verurteilt [ICTR-99-52-T, Judgement and Sentence; vgl. auch MacKinnon,
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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(10) Belgien: Ntezimana, Higaniro, Mukangango und Mukabutera Die oben unter a) aa) (6) erwähnten vier Ruander, die die Brüsseler Cour d’Assises am 8. Juni 2001 wegen Verstößen gegen die Genfer Konventionen verurteilte, wurden auch des Völkermordes gemäß Artikel 1 des Gesetzes vom 16. Juni 1993 für schuldig befunden.495 Wie schon bezüglich der Genfer Konventionen, problematisiert das Urteil auch hier mit keiner Silbe die völkerrechtliche Kompetenzfrage. Auf einen möglichen Konflikt zwischen dem von Belgien beanspruchten Verfolgungsrecht und Artikel VI Völkermordkonvention wird erst gar nicht eingegangen. Jedenfalls sah sich das Gericht offensichtlich im Ergebnis als zur Anwendung des Weltrechtsprinzips berechtigt an. Auf die Annahme einer Verfolgungspflicht deutet dagegen nichts hin.496 (11) Australische und spanische obiter dicta zu einem „aut dedere – aut iudicare“ Die australischen und spanischen Gerichte haben sich ebenfalls zur Frage eines Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes bezüglich Völkermord geäußert. Diese Fälle betrafen aber unmittelbar keine „aut dedere – aut iudicare“-Konstellationen: Im spanischen Fall, der Völkermord in Guatemala betraf, deswegen, weil die Täter sich zum Zeitpunkt der Strafverfolgung nicht in Spanien aufhielten und dieses somit nicht ihr Zufluchtsstaat war; im australischen Fall, weil der angebliche Völkermord an Ureinwohnern in Australien selbst begangen worden sein sollte, so dass sich eine Verfolgungspflicht hier für Australien als Tatortstaat – lässt man die Frage der Anwendbarkeit ratione temporis einmal außer Betracht – unproblematisch schon aus Artikel VI Völkermordkonvention ergeben hätte. Die Ausführungen der Gerichte über eine Pflicht des Zufluchtsstaates zur Strafverfolgung oder Auslieferung einer Person, die im Ausland Völkermord begangenen hat, sind also lediglich obiter dicta. Trotz der großen zeitlichen Nähe, in der sie ergingen, widersprechen sie sich inhaltlich fundamental: Während die spanischen Gerichte in ständiger Rechtsprechung der Linie des EichAJIL 98 (2004), S. 325 ff.], Semanza am 15.05.03 von der Trial Chamber III wegen Beihilfe zum Völkermord zu 25 Jahren Haft [ICTR-97-20-T, Judgement and Sentence]), denn dies ist lediglich die Erfüllung der Pflichten, die Kamerun als UN-Mitgliedstaat nach Art. 28 ICTR-Statut hat. Für die Frage, wie Kamerun mit Völkermördern verfahren muss, für die der UN-Sicherheitsrat keine Pflicht zur Überstellung an ein ad-hoc-Strafgericht angeordnet hat, ist dieser Vorgang dagegen irrelevant. 495 Gesetzestext abrufbar unter http://www.icrc.org/ihl-nat.nsf. 496 Vgl. Cour d’Assises de Bruxelles, oben Fn. 339.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
mann-Urteils und des BGH folgen, indem sie die Verfolgungspflicht als durch Artikel VI Genozidkonvention auf den Tatortstaat beschränkt bezeichnen, und darüber hinaus anderen Staaten lediglich ein Verfolgungsrecht zugestehen,497 sprechen im australischen Fall immerhin zwei der drei Richter von einer gewohnheitsrechtlichen Pflicht des Zufluchtsstaates zur Auslieferung oder Strafverfolgung einer Person, die im Ausland Völkermord begangen hat.498 bb) Sonstige Staatenpraxis (1) UN-Resolutionen Die UN-Generalversammlung befasste sich gleich in ihrer ersten Sitzung mit dem Verbrechen des Völkermordes. Sie nahm einstimmig die Resolution 96 (I) an, deren folgende Passagen hier von Bedeutung sind: „The punishment of the crime of genocide is a matter of international concern. The general assembly therefore; affirms that genocide is a crime under international law, which the civilized world condemns, and for the commission of which principals and accomplices [. . .] are punishable; invites the Member States to enact the necessary legislation for the prevention and punishment of this crime; recommends that international cooperation be organized between States with a view to facilitating the speedy prevention and punishment of the crime of genocide, and, to this end, requests the Economic and Social Council to undertake the necessary studies, with a view to drawing up a draft convention on the crime of genocide [. . .]“
Es gibt in dieser Resolution weder einen ausdrücklichen Hinweis auf das Weltrechtsprinzip noch gar auf ein „aut dedere – aut iudicare“. Die „Einladung“ an die Mitgliedstaaten zum Erlass von Strafvorschriften gegen Völkermord könnte sich – wie auch in der Völkermordkonvention – lediglich darauf beziehen, dass im gewöhnlichen Anwendungsbereich des nationalen Strafrechts, also v. a. für im eigenen Territorium begangene Taten, eine materielle Strafrechtsnorm gegen Völkermord geschaffen werden soll. Für die Anerkennung eines universellen Verfolgungsrechts lässt sich immerhin ein Indiz finden. Denn wenn die Bestrafung des Völkermordes zu einem „mat497 Vgl. Audiencia Nacional (Sala de lo penal), 13.12.2000, Segundo (mit Nachweisen auf weitere Entscheidungen aus dem Jahr 1998), erhältlich unter http:// www.icrc.org/ihl-nat.nsf. 498 Vgl. Federal Court of Australia, Nulyarimma v. Thompson; Buzzacott v. Hill, 01.09.1999, Richter Wilcox und Merkel, ILM 39 (2000), S. 20 (23 bzw. 49).
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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ter of international concern“ erklärt wird, dann kann sie eigentlich – anders als das gewöhnliche Strafrecht – keine „domaine reservé“ des Tatortstaates mehr sein; die Aburteilung eines Völkermörders im Ausland wäre mithin auch keine Einmischung in innere Angelegenheiten. Für eine Pflicht des Zufluchtsstaates zur Auslieferung oder Strafverfolgung finden sich aber keinerlei Anhaltspunkte.499 Es wird den Staaten nur empfohlen, zur Erleichterung der Bestrafung und Verhütung von Völkermord zusammenzuarbeiten. Bedenkt man, dass die Konvention, deren Ausarbeitung die Generalversammlung am Ende der Resolution in Auftrag gab, letztlich nicht einmal ein universelles Verfolgungsrecht vorsah,500 wird es noch unwahrscheinlicher, dass die Staaten bei Verabschiedung der Resolution zwei Jahre zuvor von einer gewohnheitsrechtlichen universellen Verfolgungspflicht ausgingen. 25 Jahre später sprach sich die Generalversammlung dagegen recht deutlich für ein „aut dedere – aut iudicare“ bei Völkermord aus, als sie in der oben unter a) bb) (1) ausführlich vorgestellten Resolution 2840 (XXVI) den Zufluchtsstaat bei jedem „crime against humanity“ im Sinne der „Convention on the Non-Applicability of Statutory Limitations to War Crimes and Crimes against humanity“ in einer Strafverfolgungs- oder Auslieferungspflicht sah. Denn dieser Tatbestand umfasst gemäß Artikel I b) des genannten Abkommens ausdrücklich auch Völkermord. In neuster Zeit deutete auch der UN-Sicherheitsrat ein Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot für Völkermord an.501 (2) Die Schaffung der internationalen Strafgerichtsbarkeit Wie schon oben hinsichtlich der Bürgerkriegsverbrechen erläutert wurde, kann die Tatsache, dass die internationalen Strafgerichte Gerichtsbarkeit über eine bestimmte Tat haben,502 nicht als Indiz für eine Auslieferungsoder Strafverfolgungspflicht der nationalen Justiz eines Zufluchtsstaates gelten.503
499 So auch Stern, GYIL 40 (1997), S. 280 (292); Tomuschat, in: FS Steinberger, S. 315 (332). 500 Vgl. oben A. II. 2. 501 Vgl. die oben in Fn. 376 abgedruckte Passage der Res. 1325 (2000), in der Völkermord ausdrücklich als von allen Staaten zu verfolgendes Verbrechen bezeichnet wird, sowie die bei Fn. 373 abgedruckte Passage der Res. 978 (1995), die alle Staaten auffordert, Straftaten im Zuständigkeitsbereich des ICTR – und damit auch Völkermord (Art. 2 ICTR-Statut) – zu verfolgen. 502 Vgl. zu ihrer Gerichtsbarkeit über Völkermord Art. 4 ICTY-Statut, Art. 2 ICTR-Statut, Art. 6 ICC-Statut. 503 Vgl. oben a) bb) (2).
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
(3) Weitere Erklärungen von Staaten Der schweizerische Bundesrat scheint in seiner Botschaft zur Völkermordkonvention vom 31. März 1999 stellenweise ein „aut dedere – aut iudicare“ anzuerkennen,504 unterscheidet in anderen Passagen dann aber wieder – wie schon die Eichmann-Rechtsprechung – explizit zwischen universellem Bestrafungsrecht und auf den Tatortstaat beschränkter Bestrafungspflicht.505 Im letzteren Sinne äußerte sich auch die Demokratische Republik Kongo vor dem IGH,506 wobei sie wohl immerhin für den Spezialfall, dass der Tatortstaat ein entsprechendes Ersuchen stellt, eine Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflicht des Zufluchtsstaates anerkannte.507 Verfahrensgegner Belgien hat dem naturgemäß insofern widersprochen, als seines Erachtens ein Ersuchen des Tatortstaates nicht erforderlich ist.508 Auch die deutsche Bundesjustizministerin ging wohl von einem „aut dedere – aut iudicare“ für Völkermörder aus, als sie im Deutschen Bundestag die Verabschiedung des Völkerstrafgesetzbuchs als Erfüllung der internationalen Verantwortung Deutschlands dafür, dass Völkermörder nirgends auf der Welt sichere Zuflucht finden, bezeichnete.509 Die anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union betonten in einem „gemeinsamen Standpunkt“ zu Ruanda ebenfalls,
504 „Die Schweiz hat [. . .] insbesondere die Pflicht, den Täter eines Völkermordes auszuliefern oder die rechtlichen Grundlagen für eine Bestrafung zu schaffen, [. . .]“ (Bundesblatt 1999, S. 5327 [5334]); „Auf Grund des Universalitätsprinzips sind Staaten berechtigt, ja sogar verpflichtet, eigene oder fremde Staatsangehörige für im Ausland oder Inland begangenen Völkermord zu verfolgen und zu bestrafen, [. . .]“ (Bundesblatt 1999, S. 5327 [5342]). 505 Er bekräftigt, „[. . .] dass jeder Staat Völkermord bestrafen darf, wo immer dieser begangen wurde. [. . .] Dagegen ist zur strafrechtlichen Verfolgung des Völkermordes [. . .] nur derjenige Staat verpflichtet, auf dessen Hoheitsgebiet das Verbrechen begangen wurde.“ (Bundesblatt 1999, S. 5327 [5332 f.]); „Verkürzt gesagt, besteht für den Tatbestand des Völkermordes für einen Staat zwar keine Pflicht, wohl aber ein Recht zur Verfolgung und Bestrafung dieser Tat.“ (Bundesblatt 1999, S. 5327 [5349]). 506 Art. VI Völkermordkonvention „impose à l’Etat loci delicti, et à lui seul, l’obligation de poursuivre les auteurs du crime de génocide, sans toutefois interdire aux autres pays d’en faire autant.“ (Schriftsatz der Demokrat. Republik Kongo, oben Fn. 404, Ziff. 78 [Hervorhebung im Original]). 507 Dies muss wohl aus der Feststellung „[. . .] les personnes accusées de ce crime ne sont nulle part, en aucun territoire étatique, à l’abri de poursuites pénales dirigées contre elles à l’initiative de l’Etat loci delicti.“ (Schriftsatz der Demokrat. Republik Kongo, oben Fn. 404, Ziff. 78 [Hervorhebung im Original]) geschlossen werden, da das dort befürwortete Ergebnis nur auf diesem Wege zu erreichen ist. 508 Belgischer Schriftsatz, oben Fn. 403, Ziff. 3.3.11. 509 Vgl. die oben bei Fn. 401 zitierte Stellungnahme der Bundesjustizministerin.
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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„[. . .] wie wichtig es ist, daß diejenigen, die für die schweren Verletzungen des humanitären Völkerrechts einschließlich des Völkermordes verantwortlich sind, vor Gericht gestellt werden.“510
Einige neuere Äußerungen der Staaten sprechen also durchaus für ein „aut dedere – aut iudicare“ bezüglich Völkermord. cc) Resümee Ein Vergleich der Staatenpraxis zum Völkermord mit derjenigen zu Bürgerkriegsverbrechen deckt einen wichtigen Unterschied auf: Zwar gibt es hier wie dort eine Reihe von Fällen, in denen die Täter bei Nichtauslieferung im Zufluchtsstaat verfolgt wurden,511 einige der erkennenden Gerichte haben sich dabei aber selbst explizit gegen eine völkerrechtliche Verfolgungspflicht für Völkermord ausgesprochen,512 bei anderen kam die ablehnende Haltung implizit zum Ausdruck,513 in einer dritten Gruppe von Urteilen fehlt immerhin jeder positive Hinweis auf eine Verfolgungspflicht.514 Lediglich zwei obiter dicta im Urteil eines australischen Gerichts befürworten ein „aut dedere – aut iudicare“. Dieses Urteil ist aber selbst kein Beispiel für die Anwendung dieser Maxime in der Praxis, da sich der dort abgeurteilte angebliche Völkermord in Australien zugetragen hatte. Es ist schon deshalb unmöglich, die Strafverfolgungspraxis der Zufluchtsstaaten von Tätern, die im Ausland Völkermord begangen haben, als von der Überzeugung einer entsprechenden Verpflichtung – einer opinio iuris – getragen anzusehen. Daran vermag auch die Tatsache nichts zu ändern, dass seit den 1970er Jahren, v. a. aber im letzten Jahrzehnt, die Staaten in einigen Erklärungen und UN-Resolutionen eine Verfolgungspflicht des Zufluchtsstaates befürwortet haben: Worte allein schaffen noch kein Gewohnheitsrecht.515 510
Beschluss 94/697/GASP des Rates vom 24.10.1994, Bull. EU 10-1994, S. 54. Allerdings gibt es aus Südamerika, der Schweiz, Kanada und Kamerun auch gegenteilige Praxis [vgl. oben (1) a. E., (6) am Anfang, (7), (9)]. 512 So die israelischen, deutschen und spanischen Gerichte [vgl. oben (1), (4) und (11)]. 513 So in den USA und der Schweiz [vgl. oben (2) und (6)]. 514 So in Österreich, Frankreich und Belgien [vgl. oben (3), (5) und (10)]. 515 Vgl. zur Bedeutung einer tatsächlichen Praxis – was im Bereich des Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes aber nur heißen kann: Strafverfolgungs- oder Auslieferungspraxis – für die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht IGH, Affaire des activités militaires et paramilitaires au Nicaragua et contre celui-ci, ICJ Rep. 1986, S. 14 (97 f.): „The mere fact that States declare their recognition of certain rules is not sufficient for the Court to consider these as being part of customary international law [. . .] the Court may not disregard the essential role played by general practice [. . .] The Court must satisfy itself that the existence of the rule [. . .] is confirmed by practice.“; ferner Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 16 Rn. 5, 39. 511
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
Die Eichmann-Rechtsprechung mit ihrer Unterscheidung zwischen einem gewohnheitsrechtlichen universellen Verfolgungsrecht und einer auf den Tatortstaat beschränkten vertraglichen Verfolgungspflicht war zu ihrer Zeit ein großer Fortschritt,516 hat sich aber inzwischen als Hemmschuh für den „nächsten Schritt“ – die Anerkennung eines „aut dedere – aut iudicare“ – erwiesen. Die Gerichte verfolgungsbereiter Zufluchtsstaaten haben ihr Verfolgungsrecht häufig mit Verweis auf die israelische Rechtsprechung begründet, was aber auch heißt, es um den Preis der Ablehnung einer Verfolgungspflicht „erkauft“. Die damit sich ergebende Diskrepanz zwischen dem Verfolgungsregime für Bürgerkriegsverbrechen, die wie gesehen einem „aut dedere – aut iudicare“ unterliegen, und Völkermord ist sicherlich ein gewisser Wertungswiderspruch. Dies wird um so deutlicher wenn man bedenkt, dass viele Völkermorde in Zusammenhang mit internen bewaffneten Konflikten begangen werden und dann in Drittstaaten lediglich unter dem weniger schwerwiegenden Vorwurf einer Verletzung von Artikel 3 der Genfer Konventionen verfolgt werden müssen, nicht aber unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der schwerwiegenderen Völkermordes. Der Rechtswissenschaftler muss diese sich aus der Beobachtung der Staatenpraxis ergebenden Inkongruenzen allerdings zunächst einmal de lege lata hinnehmen; es ist Aufgabe der Staaten als völkerrechtliche (Haupt-)Normsetzer, sie zu beseitigen. Allerdings sollte man sich in dieser Hinsicht nicht allzu große Hoffnungen machen, denn der hier dargelegte Wertungswiderspruch hat durchaus Tradition: er besteht bereits seit 1949 in Bezug auf Völkermord in internationalen bewaffneten Konflikten, da die Staaten sich auch hier zwar im Rahmen der Genfer Konventionen auf ein Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot unter dem Aspekt des Kriegsverbrechens einigen konnten, nicht aber 1948 in der Völkermordkonvention auf dieselbe Pflicht hinsichtlich des Tatvorwurfes des Völkermords. dd) Entscheidungen internationaler Gerichte und die völkerrechtliche Literatur als „Hilfsmittel“ (1) Die Rechtsprechung des IGH Drei Entscheidungen des IGH könnten für ein „aut dedere – aut iudicare“ für Völkermörder von Bedeutung sein517: das Gutachten über Vor516 Die Existenz eines solchen Verfolgungsrechts, die damals noch mit Recht bezweifelt werden konnte, muss heute angesichts der positiven Aufnahme des Eichmann-Urteils in der Staatenpraxis als gesichert gelten. Sie kommt ferner in den vielen nationalen Strafrechten zum Ausdruck, die für Völkermord dem Weltrechtsprinzip folgen (vgl. die Nachweise bei Bungenberg, AVR 39 [2001], S. 170 [190, Fn. 121]).
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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behalte zur Völkermordkonvention aus dem Jahre 1951, die Entscheidung im Fall Barcelona Traction von 1970 und schließlich das Zwischenurteil über die Zuständigkeit im Fall Bosnien-Herzegowina gegen die Bundesrepublik Jugoslawien vom 11. Juli 1996. Im Gutachten über Vorbehalte zur Völkermordkonvention äußert sich der IGH nicht explizit zur Strafverfolgung durch Zufluchtsstaaten. Wenn er allerdings den „caractère universel à la fois de la condamnation du génocide et de la coopération nécessaire pour libérer l’humanité d’un fleau aussi odieux“518 hervorhebt und die Grundidee der Konvention im Weltgemeinschaftsgedanken verankert519, ist dies möglicherweise eine implizite Anerkennung des Verfolgungsrechts.520 Zu einer Bestrafungspflicht des Zufluchtsstaates, einem „aut dedere – aut iudicare,“ wäre es allerdings noch einen Schritt weiter. Der Fall der Barcelona Traction, Light and Power Company hat dem ersten Anschein nach überhaupt nichts mit Völkermord zu tun. Es ging um einen Schaden, der belgischen Aktionären einer kanadischen Aktiengesellschaft durch das Vorgehen Spaniens gegen die Gesellschaft entstanden war. Bei Prüfung der Aktivlegitimation Belgiens entstand das viel beachtete obiter dictum zu den erga omnes-Pflichten: „Une distinction essentielle doit en particulier être établie entre les obligations des Etats envers la communauté internationale dans son ensemble et celles qui naissent vis-à-vis d’un autre Etat dans le cadre de la protection diplomatique. Par leur nature même, les premières concernent tous les Etats. Vu l’importance des droits en cause, tous les Etats peuvent être considérés comme ayant un intérêt juridique à ce que ces droits soient protégés; les obligations dont il s’agit sont des obligations erga omnes. [. . .] Ces obligations découlent par exemple [. . .] de la mise hors de la loi [. . .] du génocide [. . .]“521
Dem Kontext nach sollte damit verdeutlicht werden, dass bestimmte Völkerrechtsverstöße – nicht aber der von Belgien konkret geltend gemachte – auch von solchen Staaten vor den IGH gebracht werden können, die dazu eigentlich mangels Aktivlegitimation nicht befugt wären. Als Referenz für 517 Dagegen ist auch hier die Entscheidung des IGH in der „Affaire du mandat d’arrêt“ aus den oben in Fn. 423 genannten Gründen nicht einschlägig. 518 IGH, Réserves à la Convention sur le Génocide, Avis consultatif, ICJ Rep. 1951, S. 15 (23). 519 „La Convention a été manifestement adoptée dans un but purement humain et civilisateur. [. . .] Dans une telle convention, les Etats contractants n’ont pas d’intérêts propres; ils ont seulement tous et chacun, un intérêt commun, celui de préserver les fins supérieurs qui sont la raison d’être de la convention.“ (ICJ Rep. 1951, S. 15 [23]). 520 Ähnl. auch Henzelin, S. 394. 521 IGH, Barcelona Traction, ICJ Rep. 1970, S. 3 (32).
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
ein Recht oder gar eine Pflicht des Zufluchtsstaates, die Täter individuell zur Verantwortung zu ziehen, taugt „Barcelona Traction“ dagegen nicht.522 Auch hinsichtich der Ausführungen des IGH im Rechtstreit zwischen Bosnien-Herzegowina und der Bundesrepublik Jugoslawien sollte man sich deren Kontext vor Augen führen. Die Beklagte hatte die Zuständigkeit des IGH unter anderem mit dem Argument bestritten, alle streitgegenständlichen Vorgänge hätten außerhalb ihres Hoheitsgebietes stattgefunden.523 Bei Zurückweisung dieses Einwandes zitiert der Gerichtshof zunächst Artikel VI Völkermordkonvention, die auf den Tatortstaat beschränkte Bestrafungspflicht, und bezeichnet ihn als „la seule disposition pertinente“ hinsichtlich territorialer Fragen bei der Anwendung des Vertrages.524 Erst danach zitiert er aus dem IGH-Gutachten von 1951, um daran folgende, in der Literatur teilweise als Bejahung einer universellen Verfolgungspflicht interpretierte,525 Passage anzufügen: „Il en résulte que les droits et obligations consacrés par la convention sont des droits et obligations erga omnes. La Cour constate que l’obligation qu’a ainsi chaque Etat de prévenir et de réprimer le crime de génocide n’est pas limitée territorialement par la convention.“526
Diese Aussage kann in ihrem Kontext keinesfalls als Hinweis auf ein „aut dedere – aut iudicare“ verstanden werden. Der Gerichtshof selbst hatte ja zuvor die Bestrafungspflicht nach Artikel VI als die einzige Bestimmung der Konvention bezeichnet, die territoriale Fragen aufwerfe. Die Klägerin hatte der Beklagten auch viel schwerwiegenderes vorgeworfen als die bloße Einräumung sicherer Zuflucht für flüchtige Völkermörder: Sie behauptete, die Bundesrepublik Jugoslawien hätte Völkermord auf bosnischem Gebiet aktiv geplant, gesteuert und gefördert.527 In dieser Hinsicht, also in seinem eigentlichen normativen Kerngehalt – der Pflicht aller Staaten, keinen Völkermord zu begehen und aktiv zu fördern – ist das Völkermordverbot nicht auf das eigene Staatsgebiet beschränkt. Ein Staat darf weder in 522 Henzelin, S. 396 f.; Higgins, Problems and Process, S. 57; a. A. dagegen bspw. Schmidt, Externe Strafpflichten, S. 94 f. 523 Vgl. IGH, Affaire relative à l’application de la convention pour la prévention et la répression du crime de génocide, ICJ Rep. 1996, S. 595 (605 und 615). Umfassend zu den Einwendungen Jugoslawiens gegen die Zulässigkeit der Klage Hillgruber, ZÖR 1998, S. 363 ff. 524 IGH, Affaire relative à l’application de la convention pour la prévention et la répression du crime de génocide, ICJ Rep. 1996, S. 595 (615 f.). 525 So bspw. von Bungenberg, AVR 39 (2001), S. 170 (198 ff.); Henzelin, S. 400; Schmidt, Externe Strafpflichten, S. 95. 526 IGH, Affaire relative à l’application de la convention pour la prévention et la répression du crime de génocide, ICJ Rep. 1996, S. 595 (616). 527 Vgl. hierzu die Anträge der Klägerin, ICJ Rep. 1996, S. 595 (603).
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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seinem eigenen Gebiet, noch – man möchte fast sagen: erst recht nicht – im Gebiet fremder Staaten Völkermord organisieren. Dass er aber auch jeden Völkermörder, der sich in sein Gebiet flüchtet, ausliefern oder strafrechtlich verfolgen muss, ist damit noch nicht gesagt. Mehr sollte man auch in die IGH-Rechtsprechung nicht hineinlesen. Für die Bejahung eines universellen Verfolgungsrechts finden sich immerhin Hinweise in einigen Sondervoten zu anderen IGH-Entscheidungen,528 ein „aut dedere – aut iudicare“ wird aber nirgends befürwortet. (2) Die völkerrechtliche Literatur Die herrschende Meinung in der Literatur liegt auf Linie der oben analysierten Staatenpraxis – die entweder als gewohnheitsrechtsbegründend oder als authentische Auslegung der Völkermordkonvention durch die Vertragsstaaten zu verstehen ist: Sie sieht zutreffend den Zufluchtsstaat eines Völkermörders als zur Strafverfolgung nach dem Weltrechtsprinzip berechtigt an, lehnt jedoch eine Pflicht hierzu ab.529 Nur wenige beharren noch auf der ursprünglich sicher richtigen Auffassung, der Zufluchtsstaat dürfe einen Völkermörder ohne genuine link nicht einmal aburteilen.530 Dies hält heute aber ebensowenig der Feuerprobe der Staatenpraxis stand wie das andere Extrem, eine den Zufluchtsstaat des Völkermörders treffende Verfolgungspflicht.531 Teleologische Argumente, wie etwa der effet utile oder der 528 Vgl. IGH, Affaire relative à l’application de la convention pour la prévention et la répression du crime de génocide, Beschluss vom 13.09.1993, sep. op. Lauterpacht, ICJ Rep. 1993, S. 325 (443): „The purpose of this [. . .] provision [der Verf.: Art. I Völkermordkonvention] is to permit parties [. . .] to assume universal jurisdiction over the crime of genocide – that is to say, even when the acts have been committed outside their respective territories by persons who are not their nationals.“; vorsichtiger IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000 (République Démocratique du Congo c. Belgique), Urteil vom 14.02.2002, sep. op. Higgins, Kooijmans, Buergenthal, Ziff. 27. 529 Diese Ansicht vertreten bspw. Stern, GYIL 40 (1997), S. 280 (292); Wolfrum, ISYHR 24 (1994), S. 182 (186); Tomuschat, in: FS Steinberger, S. 315 (330 ff.); Kotzur, DöV 2002, S. 195 (197); Werle, Völkerstrafrecht, S. 70 f.; Randall, Texas Law Review 66 (1988), S. 785 (836); Vest, Genozid, S. 64; Jescheck, EPIL II, S. 543; Simma/Paulus, AJIL 95 (2001), S. 302 (314); Swart, in: Cassese/Gaeta/Jones, S. 1639 (1660, 1663); Lippman, TICLJ 8 (1994), S. 1 (83). 530 So bspw. Henzelin, S. 339 f.; Schabas, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 329, ders., Genozid, S. 485 (der allerdings in Art. VII Genozidkonvention eine weitreichende Auslieferungspflicht verankert sieht und somit auf S. 528 den Schluss zieht, aus einer Zusammenschau der Art. I, IV, V, VI und VII Genozidkonvention ergebe sich ein „aut dedere – aut iudicare“); Oehler, in: FS Carstens, S. 435 (442); Oeter, ZaöRV 1993, S. 1 (34). 531 Eine solche Pflicht vertreten bspw. Ambos/Wirth, in: Fischer/Kreß/Lüder, S. 769 (774); Ambos, NStZ 1999, S. 405 f.; Kadelbach, JZ 2001, S. 981 (982); Rey-
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
ius cogens-Charakter des Völkermordverbotes,532 oder moralisch-ethisch aufgeladene „petitiones principii“, denen zufolge der Nichteinmischungsgrundsatz dort ende, wo Völkermord begangen wird533 beziehungsweise Völkermord keine innere Angelegenheit sei,534 können aber ohne Abstützung durch eine entsprechende Staatenpraxis weder ein universelles Verfolgungsrecht als Ausnahme vom Einmischungsverbot noch eine universelle Verfolgungspflicht begründen. Die einzige Rechtsfolge, die im positiv geltenden Völkerrecht an die ius cogens-Qualität einer Norm geknüpft wird, ist ihre vertragliche Unabdingbarkeit nach Artikel 53 und 64 WVRK.535 Auch die Tatsache, dass sich aus Artikel 17 i. V. m. Artikel 9 des ILC Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind ein „aut dedere – aut iudicare“ für Völkermord ergibt, kann nichts am Fehlen einer solchen Pflicht im positiv geltenden Völkerrecht ändern. Die ILC kann sicherlich für sich beanspruchen, dass ihre Mitglieder zu den „fähigsten Völkerrechtler[n] der verschiedenen Nationen“ gehören, sie ist aber kein Legislativorgan, ihr Draft Code mithin keine Völkerrechtsquelle.536 Neben der oben analysierten Staatenpraxis lässt auch das weitere Schicksal des Draft Code Zweifel daran aufkommen, inwiefern dieser in jeder Hinsicht zutreffend das Völkergewohnheitsrecht wiedergibt,537 denn die UN-Generalversammlung hat ihn bisher nicht in Form einer Resolution bekräftigt.538 c) Schwere Menschenrechtsverstöße außerhalb bewaffneter Konflikte Der folgende Abschnitt ist den „im Frieden“539 begangenen schweren Menschenrechtsverstößen, namentlich dem Foltern, Verschwindenlassen dams, Eur. J. Crime, Crim. L. & Crim. Just. 1996, S. 18 (47); Bungenberg, AVR 39 (2001), S. 170 (198 ff.); Steven, Va. J. Int.’l L. 39 (1999), S. 425 (443); Schmidt, Externe Strafpflichten, S. 95. 532 Vgl. etwa Steven, Va. J. Int’l L. 39 (1999), S. 425 (447 f.) oder Kotzur, DÖV 2002, S. 195 (197) (der damit allerdings nur ein Verfolgungsrecht begründet). 533 Ambos, NStZ 1999, S. 405 f.; ähnl. ders., NStZ 1999, S. 226 (227). 534 Lagodny/Nill-Theobald, JR 2000, S. 202 (206). 535 Gegen den Schluss von der ius cogens-Qualität auf eine universelle Verfolgungspflicht bspw. auch Kadelbach, JZ 2001, S. 981 (982). 536 Vgl. auch Tomuschat, EuGRZ 1998, S. 1 (2). 537 Auch Tomuschat, EuGRZ 1998, S. 1 (3) bezweifelt dies. 538 Hierdurch sieht auch Tomuschat, in: FS Steinberger, S. 315 (338) seine Bedeutung gemindert. 539 Ob die Menschenrechtsverletzungen in jedem der nachfolgend untersuchten Fälle wirklich im „Frieden“ begangen wurden, oder ob nicht in dem ein oder anderen Fall doch schon die Grenze zum innerstaatlichen bewaffneten Konflikt überschritten war, ist eine schwierige tatsächliche Frage, deren Beantwortung umfangreiche, den Rahmen dieser Untersuchung bei weitem sprengende Erhebungen erfordern würde (vgl. bspw. zur äußerst inkonsistenten Rspr. der Corte Suprema hinsichtlich
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oder Ermorden von Regimegegnern, gewidmet. Auch hier ist die Frage nach Gewohnheitsrecht nicht ohne praktische Relevanz, da lediglich für die Folter mit der UN-Antifolterkonvention ein geographisch weit gespanntes vertragliches Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot besteht. Das „Verschwindenlassen“ von Regimegegnern wird dagegen nur von einem regionalen amerikanischen Vertrag geregelt,540 hinsichtlich so genannter „extralegaler Hinrichtungen“ gibt es bislang überhaupt keine vertraglichen „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen.541 aa) Innerstaatliche Gerichtsentscheidungen Obwohl in den letzten Jahren auch in diesem Bereich große Fortschritte zur Beendigung der Straflosigkeit erzielt wurden, gibt es verhältnismäßig wenige Fälle, in denen in echten „aut dedere – aut iudicare“-Konstellationen – d.h. der Täter hielt sich außerhalb des Tatortstaates auf – ausgeliefert oder strafrechtlich verfolgt wurde.542 Fast immer wenn bislang im Ausland Strafverfahren eingeleitet wurden befanden sich die Angeschuldigten noch im Tatortstaat; es ging dabei meist um Verbrechen gegen Bürger des verfolgenden Staates, also um Anwendungsfälle des passiven Personalprinzips.543 der Frage, ob Chile sich von 1973 bis 1978 im Bürgerkriegszustand befand Huhle, in: Nolte, Vergangenheitsbewältigung, S. 182 [193]). Entscheidend für die Einordnung der Fälle war daher, ob die innerstaatlichen Gerichtsentscheidungen – soweit solche nicht ergangen sind: der Schwerpunkt der von Menschenrechtsorganisationen erhobenen Vorwürfe – sich auf Verletzungen des in internen Konflikten anwendbaren humanitären Völkerrechts (Art. 3 Genfer Konventionen und 2. Zusatzprotokoll) (dann: Bürgerkriegsverbrechen) oder auf Verletzungen der allgemeinen Menschenrechte (Folterverbot, Recht auf Freiheit und Leben) (dann: Einordnung in diesen Abschnitt) beziehen. So kommt es, dass die Entscheidung der chil. Corte Suprema zur Zeit unmittelbar nach dem Militärputsch im Rahmen der Bürgerkriegsverbrechen erörtert wurde, das Auslieferungsverfahren gegen Pinochet in Großbritannien dagegen erst hier zur Sprache kommt. 540 Siehe oben A. II. 4. 541 Vgl. zu vertraglichen „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen im Bereich der Menschenrechtsverstöße oben A. II. 542 Zur im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Konstellation vgl. 1. Kapitel A. 543 Vgl. bspw. den vom Amtsgericht Nürnberg erlassenen Haftbefehl gegen den ehemaligen argent. Staatschef Videla und weitere hohe Militärs wegen der Ermordung zweier deutscher Staatsbürger (FAZ, 04.12.2003, S. 6) und ähnl. gelagerte Strafverfahren in Spanien, Frankreich, Italien und Schweden (vgl. hierzu FAZ, 28.07.2003, S. 5; Cassese, Int. Criminal Law, S. 283). Daneben wurden Ausländer bspw. in Belgien und den Niederlanden auch aufgrund des Weltrechtsprinzips wegen Verbrechen an ihren eigenen Mitbürgern strafrechtlich verfolgt, jedoch ebenfalls in Abwesenheit (vgl. zu Belgien Reydams, in: Fischer/Lüder/Kreß, S. 799 ff.; zur Verfolgung des surinamesischen Ex-Diktators Bouterse in den Niederlanden vgl. NZZ, 06.09.2000, S. 9; Cassese, Int. Criminal Law, S. 307 f.).
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Die aktuellen Bemühungen der südamerikanischen Justiz zur Bestrafung von Menschenrechtsverletzungen544 sind Beispiele für die Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen im Tatortstaat selbst und somit vorliegend ebenfalls ohne Relevanz. (1) Die Letelier-Mörder Townley, Larios, Contreras und Espinoza Orlando Letelier, der Außen- und Verteidigungsminister Chiles unter Allende, und seine Sekretärin, die US-Bürgerin Ronni Moffitt, wurden am 21. September 1976 in Washington D. C., wo Letelier Asyl gefunden hatte, ermordet. Unmittelbar für die Tatausführung vor Ort waren zwei Mitarbeiter des Pinochet-Geheimdienstes „Dirección de Inteligencia Nacional (DINA)“ verantwortlich – der US-Bürger Michael Townley und der Chilene Armando Fernández –, denen nach der Tat die Flucht nach Chile gelang. Es stellte sich schnell heraus, dass auch die Führungsetage der DINA in Gestalt von Oberst Pedro Espinoza Bravo und General Manuel Contreras von Chile aus an der Planung und Vorbereitung des Attentats beteiligt war.545 Somit befindet sich Chile in einer Art Doppelrolle: Es ist sowohl Tatortstaat, da wichtige Planungs- und Vorbereitungshandlungen dort vorgenommen wurden, als auch Zufluchtsstaat der Täter einer in den USA begangenen Straftat.546 Der Umgang Chiles mit den vier genannten Verantwortlichen war äußerst unterschiedlich. Schnell zeigte sich, dass der Mord im Gegensatz zu anderen Verbrechen der Militärdiktatur nicht völlig folgenlos bleiben konnte. Zu groß war der politische Druck aus den USA, die bis dahin zu den wichtigsten Unterstützern des Pinochet-Regimes gezählt hatten.547 Knapp zwei Jahre später wurde Townley als eine Art erstes „Bauernopfer“ aus Chile ausgewiesen. Dies war zwar kein „dedere“, d. h. eine gerade zum Zwecke der Strafverfolgung erfolgende Übergabe an die USA, führte aber im Ergebnis letztlich dennoch dazu, dass der seines bisherigen Zufluchtsortes beraubte Townley sich der Justiz seines Heimatstaates stellte, anstatt in einem Drittland Zuflucht zu suchen.548 Die Strafverfolgung des zweiten unmittelbar Tatbeteiligten wurde sogar ohne jedes Zutun Chiles zum Erfolg 544 Vgl. zur Aufhebung der Amnestie in Argentinien und den dort umgehend eingeleiteten Strafverfahren gegen 70 Verdächtige DPA-Europadienst, 01.09.03. Ausführlich zur (Nicht-)Verfolgung von Menschenrechtsverstößen durch die Justiz der Tatortstaaten in Südamerika bis Mitte der 1990er Jahre Ambos, Straflosigkeit, S. 23–82. 545 Vgl. zum Sachverhalt Huhle, in: Nolte, Vergangenheitsbewältigung, S. 182 f. 546 Vgl. zur Bestimmung des Tatortes Gilbert, S. 87 ff. 547 Vgl. Ambos, Straflosigkeit, S. 62; Huhle, in: Nolte, Vergangenheitsbewältigung, S. 182 f. 548 Vgl. zum Schicksal von Townley Huhle, in: Nolte, Vergangenheitsbewältigung, S. 182 (183 f.).
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geführt: Fernández Larios stellte sich im Februar 1987 freiwillig der USJustiz.549 Lediglich mit den beiden Hintermännern des Anschlages, Espinoza und Contreras, verfuhr Chile im Sinne der Maxime „aut dedere – aut iudicare“. Beide wurden am 12. November 1993 – also circa 17 Jahre nach dem Mord – von der Corte Suprema zu Freiheitsstrafen von 6 beziehungsweise 7 Jahren verurteilt.550 Betrachtet man diese Vorgänge im Zusammenhang, so bilden sie nur ein schwaches Indiz für ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“ im Falle schwerer Menschenrechtsverletzungen. Sicher, kein völkerrechtlicher Vertrag verlangte von Chile – jedenfalls nicht ausdrücklich –, den Mord an Letelier entgegen seiner sonstigen Justizpraxis zumindest teilweise zu sühnen. Um Vertragserfüllung kann es sich somit bei der Aburteilung von Contreras und Espinoza nicht gehandelt haben, was den Fall grundsätzlich als für die Entstehung von Gewohnheitsrecht tauglich erscheinen lässt. Andererseits sind von vier Tätern nur zwei nach der Maxime „aut dedere – aut iudicare“ behandelt – also ausgeliefert oder im Zufluchtsstaat strafrechtlich verfolgt – worden, die anderen zwei wurden lediglich ausgewiesen beziehungsweise haben sich völlig freiwillig der Justiz des Tatortes gestellt. Die beiden in Chile verurteilten Täter sind wiederum diejenigen gewesen, hinsichtlich derer die oben beschriebene „Doppelstellung“ Chiles als Tatortstaat und Zufluchtsort der Täter einer Auslandstat besonders deutlich hervortritt, denn Espinoza und Contreras haben ihren gesamten Tatbeitrag in Chile erbracht. Daneben war Chile auch insofern ein außergewöhnlicher Zufluchtsstaat, als es über seinen Geheimdienst selbst in die Tat – durch die auch eine US-Bürgerin getötet wurde – verwickelt war. Die Strafverfolgung der Täter könnte hier ein Mittel zur Wiedergutmachung des den USA von chilenischen Staatsorganen zugefügten Schadens und damit letztendlich Rechtsfolge der bereits bei Begehung der Tat begründeten völkerrechtlichen Verantwortlichkeit Chiles für dieses Verbrechen gewesen sein.551 Für eine Pflicht eines an der Tat völlig unbeteiligten Zufluchtsstaates zur Verfolgung oder Auslieferung eines Straftäters, der seinen gesamten Tatbeitrag im Ausland erbracht hat, ist der Fall Letelier somit kaum einschlägig. 549 Vgl. zum Schicksal von Larios Huhle, in: Nolte, Vergangenheitsbewältigung, S. 182 (184). 550 Vgl. Ambos, Straflosigkeit, S. 62 f.; Huhle, in: Nolte, Vergangenheitsbewältigung, S. 182 (187 f.). Diese Urteile wurden am 30.05.1995 von einer weiteren Kammer der Corte Suprema bestätigt und damit rechtskräftig (vgl. Huhle, in: Nolte, Vergangenheitsbewältigung, S. 182 [187]; Ambos, Straflosigkeit, S. 62). Daneben hat die von Angehörigen der Opfer in den USA erfolgreich angestrengte Schadensersatzklage gegen Chile (Letelier v. Republic of Chile, ILR 63, S. 378 ff.) große Bedeutung für das Recht der Staatenimmunität erlangt (vgl. dazu bspw. Maierhöfer, EuGRZ 2002, S. 391 (395) und Tangermann, S. 135 f.). 551 Vgl. zu solchen Konstellationen unten gg) und II. 2.
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(2) Pinochet Der Fall Pinochet betraf eine gewöhnlichere „aut dedere – aut iudicare“-Konstellation: Gegen den sich in Großbritannien aufhaltenden chilenischen Ex-Diktator wurde ein Auslieferungsverfahren wegen ohne aktive Beteiligung des Zufluchtsstaates in Chile begangener Menschenrechtsverletzungen eingeleitet. Neben dem Hauptproblem der Immunität untersuchte das House of Lords in seiner endgültigen, dritten Entscheidung auch einige mit der Maxime „aut dedere – aut iudicare“ zusammenhängende Probleme. Allerdings bezog man sich dabei nur auf die UN-Folterkonvention und ließ es angesichts der Tatsache, dass alle beteiligten Staaten (Chile, das um Auslieferung ersuchende Spanien und das Vereinigte Königreich) als Parteien dieses Übereinkommens einem vertraglichen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot unterlagen, explizit dahingestellt, ob eine solche Pflicht auch aus anderen Völkerrechtsquellen folgt.552 Das Urteil kann somit nicht als eine gewohnheitsrechtsbegründende Praxis angesehen werden, denn es beruht nicht auf der Überzeugung, dass die Auslieferung Pinochets völkergewohnheitsrechtlich geboten gewesen sei, sondern will nur die „aut dedere – aut iudicare“-Bestimmungen der UN-Folterkonvention zwischen drei ihrer Vertragsstaaten anwenden. Daher sah man nur die Folterhandlungen, die nach dem In-Kraft-Treten dieses Übereinkommens für das Vereinigte Königreich begangen wurden, als auslieferungsfähige Straftaten an: Nur bezüglich dieser Taten erkenne Großbritannien das von Spanien zur Grundlage der Verfolgung Pinochets gemachte Weltrechtsprinzip an.553 Das heißt: Für vor In-Kraft-Treten der UN-Konvention begangene Folterhandlungen lehnt das House of Lords ein Bestrafungsrecht von Zufluchtsstaaten, mithin also erst recht eine Bestrafungspflicht, ab. Ähnliches gilt für die Ermordung von Regimegegnern, bezüglich derer die Lords eine extraterritoriale Strafverfolgung nur insofern als zulässig ansehen, als sie durch die Europäische Antiterrorkonvention – also: vertraglich – legitimiert ist.554 Damit deutet 552 Vgl. House of Lords, Pinochet (R. v. Bow Street Metropolitan Stipendiary Magistrate and others, ex parte Pinochet Ugarte (No. 3), [1999] 2 All ER, S. 97 (Lord Browne-Wilkinson, S. 111, der auf S. 114 dann sogar Zweifel diesbzgl. äußert). 553 Vgl. House of Lords, Fn. 552, (Lord Browne-Wilkinson, S. 107); ähnl. Lord Hope of Craighead, S. 142 f.; zust. Lord Goff of Chieveley, S. 117 f.; Lord Hutton, S. 153; Lord Saville of Newdigate, S. 168; Lord Phillips of Worth Matravers, S. 180 f. Nur Lord Millet, S. 177 f. sieht ein gewohnheitsrechtliches Verfolgungsrecht des Zufluchtsstaates bei Folter als gegeben an, stellt dann aber auf S. 178 für eine Verfolgungspflicht wohl doch ausschließlich auf die UN-Konvention ab. Allerdings scheinen alle Lords zu übersehen, dass die UN-Konvention zwar vom Vereinigten Königreich als dem momentanen Aufenthaltsort Pinochets dessen Verfolgung oder Auslieferung verlangt, das von Spanien geltend gemachte „Weltrechtsprinzip gegenüber Abwesenden“ aber nicht stützt.
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der „britische“ Fall Pinochet auf die Ablehnung eines gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“ für Folter und andere schwere Menschenrechtsverletzungen hin.555 Diese Einschätzung gilt auch für einen weit weniger bekannten, „niederländischen“ Fall Pinochet aus dem Jahre 1995, als der chilenische Ex-Präsident sich für kurze Zeit in Amsterdam aufhielt. Bereits die Strafanzeige chilenischer Menschenrechtsaktivisten hatte sich hier nur auf die UN-Folterkonvention und folgerichtig auch nur auf zwei Folterfälle aus der relativ kurzen Zeitspanne von 15 Monaten zwischen dem In-Kraft-Treten der UNFolterkonvention für die Niederlande und dem Rücktritt Pinochets als Staatspräsident bezogen. Davon, dass frühere Fälle – die die Masse der Verbrechen Pinochets ausmachen – gewohnheitsrechtlich in den Niederlanden verfolgt werden könnten oder gar müssten, ist nicht die Rede.556 Auch die Staatsanwaltschaft und das Amsterdamer Berufungsgericht erörterten die Einleitung eines Strafverfahrens – die sie schließlich mit überwiegend fragwürdigen Argumenten ablehnten557 – ausschließlich unter völkervertragsnicht aber unter völkergewohnheitsrechtlichen Gesichtspunkten.558 (3) Habré Der Ex-Präsident des Tschad, Hissène Habré, wird oft als „afrikanischer Pinochet“ bezeichnet.559 Während seiner Herrschaft hat er circa 40 000 Menschen – zumeist Angehörige von Volksgruppen, die als „oppositionell“ 554
Vgl. House of Lords, Fn. 552, (Lord Hope of Craighead, S. 138 ff.). Dagegen ist die Tatsache, dass Pinochet letztlich aus gesundheitlichen Gründen weder ausgeliefert noch im Vereinigten Königreich strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurde, nicht unbedingt eine Abweichung vom „aut dedere – aut iudicare“-Grundsatz: dieser schließt ein Absehen von Strafverfolgung aus humanitären Gründen wohl nicht aus (vgl. näher unten 4. Kapitel bei Fn. 189). 556 Vgl. NYIL 1997, S. 363 Fn. 80. 557 Vgl. zu den Gründen der Nichtverfolgung NYIL 1997, S. 363 (364 f.). Allein der Einwand der Immunität Pinochets ist immerhin vertretbar, möglicherweise auch die Erwägung, die wohl hinter der kryptischen Formulierung, die Niederlande hätten keine „decision to extradite“ getroffen, steht (vgl. dazu unten, 4. Kapitel A. II. 3.). Dagegen ist unverständlich, dass der Staatsanwalt trotz eines Zeugen, der Pinochet Ende Mai in einem Amsterdamer Hotel gesichtet hatte, ohne weitere Nachforschungen von dessen zwischenzeitlicher Abreise ausgeht und er eine Strafverfolgung Pinochets in den Niederlanden überdies hilfsweise als „unverhältnismäßig“ ablehnt. 558 Vgl. NYIL 1997, S. 363–365. Wenn es dort unter anderem heißt, die Niederlande hätten bis dato noch nie Ausländer für im Ausland gegen Ausländer begangene Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen bestraft, spricht dies sogar ganz deutlich gegen eine gewohnheitsrechtliche Verfolgungspflicht. 559 Vgl. bspw. Brody/Duffy, in: Fischer/Lüder/Kreß, S. 817; oder die Internetseite von „Human Rigths Watch“, http://www.hrw.org/french/themes/intro_web2.htm. 555
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galten – verhaften, foltern und ermorden lassen. Dennoch konnte er nach seinem Sturz 1990 zunächst unbehelligt Zuflucht im Senegal finden, obwohl dieses Land bereits 1986 die UN-Folterkonvention ratifiziert hatte. Erst das Vorbild Pinochets ermutigte sieben Opfer Habrés, am 26. Januar 2000 im Senegal Strafanzeige zu stellen.560 Das daraufhin eingeleitete Strafverfahren wegen Folter und anderer schwerer Menschenrechtsverstöße wurde durch Entscheidungen der Cour d’Appel in Dakar vom 4. Juli 2000561 und der senegalesischen Cour de Cassation vom 20. März 2001562 wegen Unzuständigkeit der senegalesischen Justiz eingestellt.563 Der maßgebliche Grund für diese Entscheidung war, dass die UN-Folterkonvention in der senegalesischen Rechtsordnung nicht self executing sei, der senegalesische Gesetzgeber die in ihrem Artikel 5 Absatz 2 vorgesehene Zuständigkeit der Gerichte des Zufluchtsstaates aber nicht in innerstaatliches Recht umgesetzt habe.564 Ob diese Auslegung der UN-Folterkonvention überzeugt, mag hier dahin gestellt bleiben.565 Jedenfalls wurde – obwohl die Strafanzeige ausdrücklich auch auf Völkergewohnheitsrecht gestützt worden war566– die Frage eines „aut dedere – aut iudicare“ für Folter ausschließlich unter dem Blickwinkel der UN-Folterkonvention – also des Völkervertragsrechts – diskutiert. Wie schon im Fall Pinochet, findet sich auch in den Urteilen zum Fall Habré kein Hinweis auf ein gewohnheitsrechtliches Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot567. Diese Parallele gibt der Wen560 Ausführlich zu Sachverhalt und historischem Hintergrund die exzellenten Überblicke bei http://www.hrw.org/french/themes/intro_web2.htm und Brody/Duffy, in: Fischer/Lüder/Kreß, S. 817 (818 ff.) 561 Die Entscheidung ist abrufbar unter http://www.hrw.org/french/themes/habredecision.html. 562 Die Entscheidung ist abrufbar unter http://www.hrw.org/french/themes/habrecour_de_cass.html sowie unter http://www.icrc.org/ihl-nat.nsf. 563 Allerdings ist inzwischen in Belgien ein Strafverfahren gegen ihn in Abwesenheit anhängig, das Aussicht auf Erfolg hat, denn die 2003 erfolgte „Entschärfung“ des Weltrechtsprinzips durch den belgischen Gesetzgeber berührt den Fall Habré aufgrund von Übergangsbestimmungen nicht, der Tschad hat die Immunität, die Habré als ehemaliges Staatsoberhaupt möglicherweise genießt, aufgehoben und der senegalesische Präsident hat auf Druck der UN am 27.09.2001 erklärt, dass Habré das Land solange nicht verlassen dürfe, bis man ein Auslieferungsersuchen aus Belgien erhalten und geprüft habe (vgl. zum Ganzen http://www.hrw.org/french/ themes/intro_web2.htm). 564 Vgl. die Entscheidung der Cour de Cassation zum 4., 6. und 7. „moyen de cassation“. 565 Krit. hierzu mit beachtlichen Argumenten Brody/Duffy, in: Fischer/Lüder/ Kreß, S. 817 (832 ff.). 566 Vgl. Ziff. IV 1.) der gegen Habré gestellten Strafanzeige (erhältlich unter http://www.hrw.org/french/themes/habre-plainte.html): „le droit international général oblige le Sénégal à réprimer ces faits, ou à extrader leur auteur vers l’Etat qui le réclamerait aux fins de poursuites.“
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dung vom „afrikanischen Pinochet“ noch eine zusätzliche, eher hintergründige Berechtigung. (4) Cavallo Der ehemalige argentinische Marineoffizier Ricardo Miguel Cavallo wurde im August 2000 in Mexiko festgenommen, wo er unter falschem Namen gelebt hatte. Am 29. Juni 2003 wurde er an Spanien ausgeliefert, das ihm die Entführung, Folterung und Ermordung hunderter Regimegegner, darunter auch spanischer Staatsbürger, in der Marineschule von Buenos Aires zur Last legt.568 Nichts deutet aber daraufhin, dass Mexiko sich hierzu oder zur Strafverfolgung Cavallos gewohnheitsrechtlich verpflichtet fühlte. Der oberste Gerichtshof stützte sich hinsichtlich der Auslieferung vielmehr nur auf vertragliche Normen – namentlich einen spanisch-mexikanischen Auslieferungsvertrag von 1978569 – und weigerte sich, zur Frage der Anwendbarkeit des Weltrechtsprinzips auf die Taten Cavallos Stellung 567 Dagegen kann auch nicht eingewandt werden, dass ein „aut dedere – aut iuidcare“ nicht automatisch mit einer Verpflichtung zur Ausdehnung der nationalen strafgerichtlichen Kompetenz einhergehen muss, sondern sich vielmehr unter den Vorbehalt der generellen Haltung eines Staates zur Aburteilung der Auslandstaten von Ausländern stellen kann (s. oben 1. Kapitel B. IV.). Denn der Senegal kennt, wie Art. 669 seiner Strafprozessordnung beweist („Tout étranger qui hors du territoire de la République, s’est rendu coupable [. . .] d’un crime [. . .] à la sûreté de l’Etat [. . .] peut être suivi et jugé [. . .] au Sénégal, [. . .]“), durchaus grundsätzlich die Möglichkeit der Aburteilung von Ausländern für im Ausland begangene Taten und wäre deshalb selbst bei dieser eingeschränkten „aut dedere – aut iudicare“-Variante zur Strafverfolgung Habrés verpflichtet. Auch eine in Zukunft möglicherweise erfolgende Auslieferung Habrés an Belgien (siehe Fn. 563) wäre wahrscheinlich kein Hinweis auf ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“, sondern wohl eher ein Anwendungsfall der Auslieferungserleichterungsbestimmungen des Art. 8 UN-Folterkonvention, die sowohl Belgien als auch der Senegal ratifiziert haben. Davon einmal abgesehen könnte sie allenfalls ein „aut dedere – aut iudicare“ unter dem Vorbehalt der Stellung eines Auslieferungsersuchens (siehe zu dieser Variante unten 4. Kapitel A.) stützen, denn solange ein solches Ersuchen nicht von Belgien gestellt wird, genießt Habré weiter sichere Zuflucht im Senegal. 568 Vgl. NZZ, 30.06.2003, S. 2; taz, 01.07.2003, S. 10; FAZ, 30.06.2003, S. 5; Benavides, ILM 42 (2003), S. 884 ff.; zum Sachverhalt auch SZ, 21./22.06.2003, S. 7. Allerdings wurde bezüglich des Tatvorwurfes „Folter“ keine Auslieferung gewährt, da dieser nach mexikanischem Recht bereits verjährt war, sondern nur wegen „Völkermordes“ und „Terrorismus“ (vgl. mex. OGH, 10.06.2003, ILM 42 [2003], S. 888 [913 f.]) – womit allerdings kaum „Völkermord“ und „Terrorismus“ in dem Sinn gemeint sein dürften, der diesen Begriffen hier unter B. 1. b) und 2. zugrunde gelegt wurde (vgl. dazu, dass der Anklage gegen Cavallo eine äußerst weitgehende Auslegung des Völkermordbegriffes durch Spanien zugrunde lag, taz, 01.07.2003, S. 10; allg. zum weiten span. Völkermordbegriff auch Ambos, JZ 1999, S. 16). 569 Vgl. mex. OGH, 10.06.2003, ILM 42 (2003), S. 888 (901 f.).
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
zu nehmen,570 ja bezeichnete dieses als jedenfalls nicht zwingend vorgeschrieben.571 bb) Einige weitere „Menschenrechtsverbrecher“, denen ihr Zufluchtsstaat bislang sichere Zuflucht einräumt Neben den vorstehend ausführlich erörterten Fällen, in denen es immerhin zu gerichtlichen Entscheidungen über die Auslieferung oder Strafverfolgung der Täter kam, gibt es noch eine ganze Reihe von Fällen, in denen „Menschenrechtsverbrechern“ von Drittstaaten sichere Zuflucht gewährt wird, ohne dass dies Gegenstand von Gerichtsverfahren geworden wäre. Einige der wichtigsten sollen hier kurz vorgestellt werden. So verstarb einer der bekanntesten „Folterknechte“ unseres Planeten, der „Schlächter von Uganda“ Idi Amin im August 2003 nach mehr als zwanzig Jahren im komfortablen saudischen Asyl, ohne jemals vor Gericht für seine Verbrechen zur Verantwortung gezogen worden zu sein.572 Auch sein Nachfolger Milton Obote, der ebenfalls tausende Regimegegner Foltern und Ermorden ließ, lebt seit seinem Sturz 1985 unbehelligt im Ausland – in diesem Fall: Sambia.573 In Simbabwe lebt der ehemalige Staatschef Äthiopiens, Mengistu Haile Miriam trotz eines Auslieferungsersuchens seines Heimatlandes, das ihn wegen der Ermordung politischer Gegner in den Jahren 1974 bis 1991 vor Gericht stellen will, ebenso ungestört, wie der ehemalige Diktator Paraguays Alfredo Stroessner in Brasilien. Mengistu konnte sich im November/ Dezember 1999 sogar zur medizinischen Behandlung nach Südafrika begeben, ohne dort vor Gericht gestellt oder nach Äthiopien ausgeliefert worden zu sein.574 Raoul Cedra und Phillipe Biamby, die Anführer des blutigen Staatsstreichs von 1991 gegen den gewählten Präsidenten Haitis, Jean-Bertrand Aristide, leben seit dessen von einer US-Interventionsstreitmacht erzwungenen Wiedereinsetzung in Panama. Obwohl mit einem Auslieferungsersu570 Vgl. mex. OGH, 10.06.2003, ILM 42 (2003), S. 888 (902 f.); dazu auch Benavides, ILM 42 (2003), S. 884 (886). 571 Vgl. mex. OGH, 10.06.2003, ILM 42 (2003), S. 888 (901). 572 Vgl. SZ, 30.12.2003, S. 2. 573 Vgl. http://www.hrw.org/press/2003/07/torturers072103-bck.htm#MILTON% 20OBOTE. 574 Vgl. zu diesen Fällen http://www.hrw.org/press/2003/07/torturers072103bck.htm#MENGISTU%20HAILE%20MIRIAM und http://www.hrw.org/press/ 2003/07/torturers072103-bck.htm#ALFREDO%20STROESSNER. Allerdings prüft die brasilianische Justiz derzeit immerhin einen Auslieferungsantrag Paraguays gegen Stroessner (vgl. SZ, 11./12.09.2004, S. 7).
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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chen Haitis, der bereits 1987 erfolgten Ratifikation der UN-Folterkonvention durch Panama und der Strafbarkeit im Ausland begangener Folter nach panamesischem Strafrecht eigentlich ideale Bedingungen für ein Vorgehen nach der Maxime „aut dedere – aut iudicare“ vorliegen, ist es bislang weder zur Auslieferung noch zur Strafverfolgung im Zufluchtsstaat gekommen. Auf Nachfrage der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch erklärte der Außenminister Panamas im November 1999 hierzu: „It would be a dangerous precedent to grant the right of asylum to resolve a political problem in a neighbouring country and later deny the rights of those given asylum.“575 Auch Nachfolger Aristide, dem nun ebenfalls Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, konnte nach seinem Sturz Asyl finden, denn Südafrika nahm ihn im Mai 2004 auf.576 Gerade das Beispiel Haitis zeigt, dass nicht nur Staaten der so genannten „Dritten Welt“ ausländischen Folterknechten Asyl gewähren: Jean-Claude „Baby Doc“ Duvalier, der von 1971 bis 1986 den karibischen Inselstaat mit eiserner Hand regierte und dabei Gegner willkürlich verhaften und ermorden ließ, lebt unbehelligt von der Justiz in Frankreich. Im November 1999 lehnte es die Staatsanwaltschaft ab, ein Strafverfahren gegen ihn einzuleiten, da die betreffenden Taten zum Tatzeitpunkt nicht nach französischem Recht strafbar gewesen seien. Der Anführer haitianischer Todesschwadronen, Emanuel „Toto“ Constant, lebt trotz eines von Haiti gestellten Auslieferungsersuchens als freier Mann in New York. Zwar war er von den US-Behörden zeitweilig festgenommen worden, wurde dann jedoch wieder auf freien Fuß gesetzt. Presseberichten zufolge haben die USA ihm zugesichert, dass er vor einer eventuellen Auslieferung nach Haiti in ein Drittland seiner Wahl ausreisen dürfe.577 Auch der ehemalige Präsident Perus, Alberto Fujimori, fand nach seinem erzwungenen Rücktritt im November 2000 im Ausland sichere Zuflucht, obwohl ihm die peruanische Justiz die Ermordung von 25 Oppositionellen in den Jahren 1991 und 1992 vorwirft.578 Er begab sich nach Japan, das ihn wegen der japanischen Abstammung seiner Eltern als eigenen Staatsbürger ansieht und bereits vor Eingang des peruanischen Auslieferungsantrags vom 31. Juli 2003 erklärt hatte, dass es ihn auf keinen Fall ausliefern werde.579 Japan beruft sich dabei einerseits auf das Prinzip der Nichtauslieferung 575 Vgl. http://www.hrw.org/press/2003/07/torturers072103-bck.htm#RAOUL% 20CEDRAS%20and%20PHILIPPE%20BIAMBY. 576 Vgl. SZ, 14.05.2004, S. 6. 577 Vgl. zu beiden Fällen http://www.hrw.org/press/2003/07/torturers072103bck.htm#JEAN-CLAUDE und http://www.hrw.org/press/2003/07/torturers072103bck.htm#EMMANUEL. 578 Vgl. SZ, 10.03.2003, S. 9; Düker, GLJ 2003, S. 1164 (1166 f.); Anderson, Stan. J. Int’l. L. 38 (2002), S. 177 (183).
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
eigener Bürger und andererseits darauf, dass zwischen ihm und Peru kein Auslieferungsvertrag und damit von vornherein keine Auslieferungspflicht bestehe.580 Peru entgegnet – neben dem hier irrelevanten Argument, Fujimori sei kein Japaner –, dass bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein „aut dedere – aut iudicare“ gelte.581 Es stützt sich dabei aber nicht auf Gewohnheitsrecht, sondern einzig und allein auf die von beiden Staaten ratifizierte UN-Folterkonvention.582 Schon dies lässt den Fall nicht als Staatenpraxis für ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“ erscheinen. Daneben wird aber auch der Zufluchtsstaat Japan aller Voraussicht nach nicht nach dieser Maxime handeln: Eine Strafverfolgung in Japan erscheint – obwohl nach japanischem Recht theoretisch möglich – Beobachtern ebenso unwahrscheinlich wie die Auslieferung nach Peru.583 Diese Beispiele zeigen, wie weit die Gewährung von sicherer Zuflucht für die Verantwortlichen von Folter und politischem Mord in der Staatenpraxis noch immer verbreitet ist. Jedenfalls in den Fällen von Fujimorii, Mengistu, Cedra, Biamby und Constant kann dies auch nicht mit der Immunität ehemaliger Staatsoberhäupter, die eine Ausnahme vom Grundsatz „aut dedere – aut iudicare“ darstellen könnte, begründet werden, denn die genannten waren entweder nie Staatsoberhaupt oder werden von der Justiz ihrer Heimatstaaten, vor der sie natürlich keine Immunität genießen, gesucht. Dies lässt nur einen Schluss zu: Ihre Zufluchtsstaaten sehen es nicht als völkergewohnheitsrechtliche Pflicht an, nach der Maxime „aut dedere – aut iudicare“ gegen Menschenrechtsverletzungen im Ausland vorzugehen. cc) Das US-Zivilverfahren Filartiga v. Pena-Irala Auch die „Leitentscheidung“ der US-Gerichte zur Folter, das Zivilurteil des US Court of Appeals (2d Circuit) im Fall Filartiga v. Pena Irala, stützt kein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“. Dr. Joel Filartiga und seine Tochter – beide Staatsbürger Paraguays, die in den USA um politisches Asyl gebeten hatten – hatten gegen ihren ebenfalls inzwischen in die USA eingereisten Landsmann Americo Noberto Pena-Irala eine Schadensersatzklage erhoben, weil dieser als Polizeibeamter in Paraguay für die 579 Vgl. Düker, GLJ 2003, S. 1164 (1166); vgl. auch SZ, 10.03.2003, S. 9; SZ, 01.08.2003, S. 7; Anderson, Stan. J. Int’l. L. 38 (2002), S. 177 (183 f.). 580 Düker, GLJ 2003, S. 1164 (1166); Anderson, Stan. J. Int’l. L. 38 (2002), S. 177 (183 f.). 581 Vgl. Düker, GLJ 2003, S. 1164 (1167). 582 Vgl. Düker, GLJ 2003, S. 1164 (1173). 583 Vgl. hierzu ausführlich Anderson, Stan. J. Int’l. L. 38 (2002), S. 177 (200–205).
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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Folterung und Tötung ihres Sohnes beziehungsweise Bruders verantwortlich gewesen sei.584 Schon der weitere Fortgang des Sachverhalts spricht gegen ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“: Obwohl wir es hier genau mit der Konstellation zu tun haben, in der dieses Strafverfolgungs- oder Auslieferungsverbot eingreifen müsste – Pena-Irala hatte im Ausland eine Straftat begangen und sich dann in die USA begeben – leiteten die US-Behörden weder ein eigenes Strafverfahren ein, noch lieferten sie den Verdächtigen an einen verfolgungsbereiten Staat aus. Sie verwiesen ihn lediglich des Landes, was ihm die Rückkehr ins sichere Paraguay Alfredo Stroessners erlaubte.585 Auch die Begründung, mit der das Berufungsgericht die zivilrechtliche Schadensersatzklage im Drittstaat USA zulässt, deutet nicht auf eine Pflicht von Drittstaaten hin, einen Folterknecht auch strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen: „[i]ndeed, for purposes of civil liability, the torturer has become – like the pirate and slave trader before him – hostis humani generis, an enemy of all mankind“.586
dd) UN-Resolutionen Die UN-Generalversammlung hat Folter, Verschwindenlassen und extralegale Hinrichtungen wiederholt verurteilt.587 Diejenigen Passagen der Resolutionen, die sich mit der Pflicht zur Bestrafung der Täter befassen, beziehen diese aber nie ausdrücklich auch auf den bloßen Zufluchtsstaat.588 Teilweise geht aus ihnen sogar im Gegenteil klar hervor, dass die Strafverfolgungspflicht nur den Tatortstaat treffen soll.589 Einem „aut dedere – aut 584
Zum Sachverhalt vgl. US Court of Appeals (2d Circuit), Filartiga v. PenaIrala, 630 F 2d, S. 876 (878). 585 Vgl. dazu US Court of Appeals (2d Circuit), Filartiga v. Pena-Irala, 630 F 2d, S. 876 (879 f.). 586 US Court of Appeals (2d Circuit), Filartiga v. Pena-Irala, 630 F 2d, S. 876 (890) (Hervorhebung nicht im Original). Außerdem gilt ein „aut dedere – aut iudicare“ nicht einmal für die in Bezug genommenen Straftaten Sklavenhandel und Piraterie umfassend (vgl. oben 2. Kapitel G und im vorliegenden Kapitel A. IV.). 587 Vgl. etwa die Declaration on the Protection of All Persons from Being Subjected to Torture (G.A.-Res. 3452/30 [1975]) oder die Declaration on the Protection of All Persons from Enforced Dissapearance (G.A.-Res. 133/47 [1992]) sowie zuletzt G.A.-Res. 55/89 (2001), 55/103 (2001), 55/111 (2001), 56/143 (2002), 57/200 (2003), 57/214 (2003) und 57/215 (2003). 588 Vgl. G.A.-Res. 55/89 (2001) und 56/143 (2002): „2. Stresses [. . .] that those who encourage, order, tolerate or perpetrate acts of torture must be held responsible and severely punished [. . .].“ (ähnl. auch G.A.-Res. 57/200 [2003] und der Sache nach auch Nr. 5 bzw. 6 der G.A.-Res. 57/214 [2003] bzw. 55/111 [2001] für extralegale Hinrichtungen). 589 Vgl. etwa Art. 10 i. V. m. Art. 9 der Declaration on the Protection of All Persons from Being Subjected to Torture (G.A.-Res. 3452/30 [1975]) oder für das Ver-
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
iudicare“ am nächsten kommt noch die „Declaration on the Protection of All Persons from Enforced Dissapearance“, die Zufluchtsstaaten verpflichtet, jede „lawful and appropriate action“ zur Verfolgung der Täter zu ergreifen, sowie die Vorwürfe bei der Entscheidung über Asyl zu berücksichtigen.590 Sofern die genannten schweren Menschenrechtsverstöße in großem Umfang oder systematisch begangen werden und damit auch in Friedenszeiten Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen,591 könnte man überdies auf die bereits oben erwähnten Generalversammlungsresolutionen der 1970er Jahre sowie die ebenfalls bereits erwähnte Sicherheitsratsresolution 1325 (2000)592 zurückgreifen, aus denen die Rechtsüberzeugung hervorgeht, dass für „crimes against humanity“ ein „aut dedere – aut iudicare“ gewohnheitsrechtlich gilt.593 ee) Resümee Für ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“ hinsichtlich in Friedenszeiten begangener schwerer Menschenrechtsverletzungen sprechen lediglich einige Resolutionen der UN-Generalversammlung sowie des Sicherheitsrates, und auch diese nur dann, wenn die Taten in solchem Umfang begangen wurden, dass sie Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen. Diese Entschließungen können aber für sich genommen kein Völkergewohnheitsrecht begründen. Zu der opinio iuris, die in ihnen zum Ausdruck kommt, müsste noch das zweite Element des Völkergewohnheitsrechts hinzutreten: die Staatenpraxis.594 An einer solchen fehlt es aber – anschwindenlassen Nr. 4 der G.A.-Res. 55/103 (2001) und 57/215 (2003) („Reminds Governments [. . .] of the need to conduct [. . .] inquiries [when] an enforced disappearance has occurred in territory under their jurisdiction, and that, if allegations are confirmed, perpetrators should be prosecuted.“ [Hervorhebung nicht im Original]). 590 Vgl. Art. 14 und 15 der Declaration on the Protection of All Persons from Enforced Dissapearance (G.A.-Res. 133/47 [1992]). 591 Vgl. zum Umfang des Tatbestandes des Verbrechens gegen die Menschlichkeit und zu seiner Unabhängigkeit von der Existenz eines bewaffneten Konflikts Art. 7 ICC-Statut, Art. 4 ICTR-Statut (anders aber Art. 5 ICTY-Statut, wo ein Zusammenhang mit einem [internen oder internationalen] bewaffneten Konflikt erforderlich ist und Art. 6 IMT-Statut, wo sogar eine Verbindung zu einem internationalen bewaffneten Konflikt verlangt wurde), v. a. aber Art. I Convention on the Non-Applicability of Statutory Limitations to War Crimes and Crimes against humanity, auf den sich die Generalversammlung in Res. 2840 (XXVI) ausdrücklich bezieht. Ausführlich zum Ganzen Bettati, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 307–316. 592 Vgl. es handelt sich außer der genannten Sicherheitsratsresolution um GA-Res. 2840 (XXVI) von 1971 und GA-Res. 3074 (XXVIII) von 1973. 593 Vgl. dazu ausführlich oben a) bb) (1). 594 Vgl. oben Fn. 515.
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ders als im Falle der in Bürgerkriegen begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit – völlig. Wie oben gesehen, genießen Verantwortliche von Folter, Verschwindenlassen und extralegaler Hinrichtung immer noch in Ländern praktisch aller Erdteile und Kulturkreise sichere Zuflucht. Sofern es zu Auslieferungs- oder Strafverfolgungsbemühungen kam, wurden diese nur auf Vertragsrecht gestützt, nicht aber auf Völkergewohnheitsrecht. Der Fall der Letelier-Mörder – in dem als einzigem nicht auf vertragliche Auslieferungs- oder Verfolgungspflichten rekurriert wurde – ist wegen der Tatbeteiligung chilenischer Staatsorgane eine Besonderheit, aus der sich für den Regelfall eines nicht in die Tatbegehung verwickelten Zufluchtsstaates nichts ableiten lässt. Man könnte allenfalls erwägen, schon die Existenz von Verträgen wie der UN-Folterkonvention als Beweis eines gewohnheitsrechtlichen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebots anzusehen.595 Die Entstehung von Gewohnheitsrecht aus ursprünglich rein vertraglichen Rechtsnormen ist prinzipiell sicherlich möglich. Der IGH hat im „Nordseefestlandssockelfall“ dafür folgende Bedingungen aufgestellt:596 1. Es muss sich um eine Norm von fundamentaler Bedeutung handeln, woran bei den „aut dedere – aut iudicare“-Vorschriften der UN- und OAS-Konventionen gegen Folter sowie der OAS-Konvention gegen das Verschwindenlassen nicht zu zweifeln sein dürfte. 2. Es sollte sich möglichst um eine Vertragsnorm handeln, zu der Vorbehalte nicht ausdrücklich zugelassen sind. Dies ist der Fall, denn keiner der drei hier einschlägigen Verträge sieht ausdrücklich die Möglichkeit eines Vorbehaltes zum „aut dedere – aut iudicare“ vor. 3. Eine breite und repräsentative Ratifikation. Dieses Erfordernis erfüllt wohl nur die UN-Folterkonvention mit ihren 140 Vertragsstaaten, nicht aber die nur auf einen Kontinent beschränkten und sogar dort eher zurückhaltend ratifizierten OAS-Verträge.597 Aber selbst bezüglich der UN-Folterkonvention ist zu beachten: Auch ein hoher Ratifikationsstand allein macht den Inhalt eines Vertrags noch nicht automatisch zu Völkergewohnheitsrecht. Hinzutreten muss noch eine Staatenpraxis, die beweist, dass die Staaten sich auch außerhalb der vertraglichen Bindungen, also insbesondere im Verhältnis zu Nichtvertragsparteien, an diese Regeln gebunden fühlen.598 An einer solchen „vertragsunabhängigen“ Praxis fehlt es aber, wie oben dargelegt, 595
So bspw. Ambos, AVR 37 (1999), S. 318 (350). Vgl. IGH, North Sea Continental Shelf, ICJ Rep. 1969, S. 4 (41 ff.). 597 Der OAS-Antifolterkonvention sind bislang 16, der OAS-Konvention gegen das Verschwindenlassen 11 der 35 Mitgliedstaaten der OAS beigetreten (Stand bzgl. aller drei Verträge: 01.07.2005). 598 Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 16 Rn. 22, 37 f.; ders., in: Zimmermann, S. 27 (42); Cheng, in: FS Schwarzenberger, S. 25 (41); Verdross/Simma, § 580 f. Dies lässt sich auch aus IGH, North Sea Continental Shelf, ICJ Rep. 1969, S. 4 (43); IGH, Continental Shelf (Libyan Arab Jamahiriya/Malta), ICJ Rep. 1985, S. 13 (29 f.) und IGH, Asylum Case, ICJ Rep. 1950, S. 266 (277) ableiten. 596
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
hinsichtlich der Auslieferung oder strafrechtlichen Verfolgung von Menschenrechtsverletzern durch Zufluchtsstaaten. Damit bleibt festzuhalten: Ein völkergewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“ in Bezug auf im Frieden begangene schwere Menschenrechtsverstöße besteht derzeit nicht. ff) Die internationale Rechtsprechung (mit Ausnahme der internationalen Menschenrechtsgerichtsbarkeit) und völkerrechtliche Literatur als Hilfsmittel Betrachtet man die internationale Rechtsprechung – unter Ausschluss der erst im folgenden Abschnitt zu untersuchenden Menschenrechtsgerichtsbarkeit – so stützt vor allem das bereits erwähnte Furundzija-Urteil der Trial Chamber des ICTY ein Recht des Zufluchtsstaates zur strafrechtlichen Verfolgung von Folter nach dem Weltrechtsprinzip.599 Zwar spielte sich der dort entschiedene Fall im innerstaatlichen bewaffneten Konflikt ab – betraf also ein Bürgerkriegsverbrechen –, das Urteil enthält in der einschlägigen Passage aber keinen Hinweis darauf, dass seine Aussagen auf diese Sonderkonstellation beschränkt sind.600 Eine Bestrafungspflicht des Zufluchtsstaates – ein „aut dedere – aut iudicare“ – stützt es aber ebensowenig wie das Barcelona Traction-Urteil des IGH.601 Soweit einige Stimmen in der völkerrechtlichen Literatur – entgegen der h. M.602 – bei schweren Menschenrechtsverstößen eine Strafverfolgungspflicht des Zufluchtsstaates annehmen, leiten sie diese überwiegend aus den Menschenrechten des Opfers (Folterverbot; Recht auf Leben, Freiheit und körperliche Unversehrtheit) ab.603 Aus Artikel 9 i. V. m. Artikel 18 des Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind der ILC604 geht ebenfalls ein „aut dedere – aut iudicare“ für Folter, Verschwindenlassen, Mord und andere schwere Menschenrechtsverletzungen 599 Vgl. ICTY, Furundzija, 10.12.1998, IT-95-17/1-T, Ziff. 156 (abgedruckt oben, Fn. 430). 600 Vgl. den oben in Fn. 430 abgedruckten Wortlaut. 601 Vgl. zu „Furundzija“ oben a) dd) (1) und zu „Barcelona Traction“ oben b) dd) (1). 602 Vgl. bspw. Hailbronner, in: Graf Vitzthum, III Rn. 33; Tomuschat, in: FS Steinberger, S. 315 (326 und 336 f.); Werle, Völkerstrafrecht, S. 75; Swart, in: Cassese/Gaeta/Jones, S. 1639 (1663). 603 Vgl. bspw. Ambos, AVR 37 (1999), S. 318 (353); de Frouville, in: Ascensio/ Decaux/Pellet, S. 378 und Schmidt, Externe Strafpflichten, S. 141 f. (bei denen allerdings nicht ganz eindeutig ist, ob sie sich auch auf den Zufluchtsstaat oder nur auf den Tatortstaat beziehen). Auf speziell völkerstrafrechtliche Praxis (und nicht nur auf allgemeine Menschenrechtsnormen) stützt sich dagegen Bungenberg, AVR 39 (2001), S. 170 (198–200). 604 Vgl. zum Draft Code oben Fn. 441.
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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hervor, wenn diese systematisch oder in großem Umfang begangen werden und damit „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ darstellen. Zur Bedeutung dieses Textes kann aber auch hier nur wiederholt werden, dass es sich um ein rechtlich unverbindliches Dokument eines Expertengremiums handelt, das die Staaten bislang nicht einmal in Form einer Resolution der UNGeneralversammlung bestätigen wollten.605 gg) Exkurs: Bestrafungspflichten aus den Menschenrechten? Obwohl keiner der drei bedeutendsten Verträge über den allgemeinen Schutz der Menschenrechte (AMRK, EMRK, IPpbR) eine explizite Strafoder „aut dedere – aut iudicare“-Vorschrift enthält, wurde sowohl in der Literatur606 als auch in der Rechtsprechung der jeweiligen Kontrollorgane607 eine Pflicht zur Untersuchung schwerster Menschenrechtsverletzungen – v. a. von Verletzungen des Rechts auf Leben und des Folterverbots – und gegebenenfalls zur Bestrafung der Täter anerkannt. Ansatzpunkte hierfür sind zum einen die genannten Menschenrechte selbst in Verbindung mit den allgemeinen „respect and ensure“-Klauseln (vgl. Artikel 1 EMRK, Artikel 2 Absatz 1 IPbpR, Artikel 1 Absatz 1 AMRK), zum anderen die Vorschriften, die dem Opfer einer Menschenrechtsverletzung ein „effective remedy“ garantieren (Artikel 13 EMRK, Artikel 2 Absatz 3 IPbpR, Artikel 25 AMRK).608 Führt dies doch noch zu einem „aut dedere – aut iudicare“ 605
Vgl. zur eingeschränkten Bedeutung des Draft Codes oben b) dd) (2) a. E. So neben den bereits oben in Fn. 603 genannten bspw. Gilbert, S. 329; Meyer-Ladewig, Hk-EMRK, Art. 2 Rn. 13, Art. 3 Rn. 4. 607 Vgl. für den IAGMR,Velásquez Rodríguez, Series C No. 4 (Ziff. 174) (dt. EuGRZ1989, S. 157 [172], seither st. Rspr. (vgl. dazu ausf. Ambos, AVR 37 [1999], S. 318 [319 f.]; Tomuschat, in: FS Steinberger, S. 315 [321 f.]); für den MRA vgl. bspw. Hugo Dermit Barabto, Selected Decisions, II, S. 112 (Ziff. 11) (dt. Zusammenfass. EuGRZ 1983, S. 15); Muteba, Selected Decisions, II, S. 158 (Ziff. 13); Baboeram-Adhin, Selected Decisions, II, S. 172 (Ziff. 16) (dt. EuGRZ 1985, S. 563 [564]) (dazu ausf. Ambos, AVR 37 [1999], S. 318 [322 f.]; Tomuschat, in: FS Steinberger, S. 315 [322 ff.]); für den EGMR bspw. Kaya, Rec. 1998-I, S. 297 (Ziff. 86, 107); Yasa, Rec. 1998-VI, S. 2414 (Ziff. 98, 114); Assenov, Rec. 1998-VIII, S. 3264 (Ziff. 102); Ogur, Rec. 1999-III, S. 519 (Ziff. 88) (dt. NJW 2001, S. 1989 [1994]); Grams, Rec. 1999-VII, S. 399 (410 f.) (dt. NJW 2001, S. 1989); Salman, Rec. 2000-VII, S. 365 (Ziff. 104, 121) (dt. NJW 2001, S. 2001 [2003]). 608 Ambos, AVR 37 (1999), 318 (319); Schmidt, Externe Strafpflichten, S. 141 f. Vgl. dazu auch Meyer-Ladewig, Hk-EMRK, Art. 13 Rn. 11 und krit. Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1016. Der EGMR und der IAGMR folgen beiden Ansätzen (vgl. für den „respect and ensure“-Ansatz EGMR, Kaya, Rec. 1998-I, S. 297 (Ziff. 86); Yasa, Rec. 1998-VI, S. 2414 (Ziff. 98); Assenov, Rec. 1998-VIII, S. 3264 (Ziff. 102); Grams, Rec. 1999-VII, S. 399 (410 f.) (dt. NJW 2001, S. 1989) Ogur, Rec. 1999-III, S. 519 (Ziff. 88); Salman, Rec. 2000-VII, S. 365 (Ziff. 104); IAGMR, Velásquez Rodríguez, Series C No. 4 (Ziff. 173); für den „effective rem606
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
für im Frieden begangene schwerste Menschenrechtsverstöße? Zur Beantwortung dieser Frage ist es notwendig, zwischen dem Tatortstaat und dem Zufluchtsstaat des Täters zu unterscheiden,609 denn ein „aut dedere – aut iudicare“ zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es nicht (nur) dem Tatortstaat, sondern (jedenfalls auch) dem Zufluchtsstaat eine Strafverfolgungsoder Auslieferungspflicht auferlegt.610 Analysiert man die internationale Menschenrechtsrechtsprechung vor diesem Hintergrund, so fällt auf, dass alle Staaten, die bisher wegen der Nichtbestrafung von Menschenrechtsverletzungen verurteilt worden sind, Tatortstaaten waren.611 Noch nie wurde dagegen iudiziert, dass die Nichtverfolgung eines im Ausland begangenen „Menschenrechtsverbrechens“ ein Vertragsverstoß sei. Eine solche Auslegung der Menschenrechte würde auch nicht überzeugen. Die „respect and ensure“-Vorschriften, aus denen die staatliche Schutzpflicht gegenüber dem Opfer – als deren Unterfall sich letztlich die Bestrafungspflicht darstellt – abgeleitet wird, beziehen sich auf Personen, die der „Herrschaftsgewalt“ eines Vertragsstaates unterliegen.612 Dieser „Herrschaftsgewalt“ unterliegen zunächst und vor allem einmal jene Personen, die sich im Territorium des betreffenden Staates aufhalten613– wie Artikel 2 Absatz 1 IPpbR zutreffend hervorhebt. Diesen Personen muss der Staat den effektiven Genuss ihrer Menschenrechte gewährleisten, notfalls auch mit Mitteln des Strafrechts. In einer „aut dedere – aut iudicare“-Konstellation ist das Opfer aber zum Tatzeitpunkt nicht der Hoheitsgewalt des späteren Zufluchtsstaates des Täters unterworfen. Müsste der Zufluchtsstaat hier die Rechte des Opfers mit strafrechtlichen Mitteln verteidigen, würde er letztlich in die Pflicht genommen, den Schutz der Menschenrechte im Territorium anderer Staaten zu gewähredy“-Ansatz EGMR, Kaya, Rec. 1998-I, S. 297 (Ziff. 107); Yasa, Rec. 1998-VI, S. 2414 (Ziff. 114); Assenov, Rec. 1998-VIII, S. 3264 (Ziff. 118); Salman, Rec. 2000-VII, S. 365 (Ziff. 121) (dt. NJW 2001, S. 2001 [2003]); IAGMR, Blake, Series C No. 36 (Ziff. 104); Bámáca Velásquez, Series C No. 70 (Ziff. 196)), während der MRA den „effective remedy“-Ansatz zu bevorzugen scheint (vgl. dazu Ambos, AVR 37 [1999], S. 318 [322 f.]). Aus dem „Justizgewährungsanspruch“ des Art. 6 I EMRK folgt dagegen kein Recht des Opfers einer Straftat auf die Bestrafung des Täters (vgl. EGMR, Grams, Rec. 1999-VII, S. 399 [410 f.] [dt. NJW 2001, S. 1989]; Meyer-Ladewig, Hk-EMRK, Art. 6 Rn. 27)). 609 Tomuschat, in: FS Steinberger, S. 315 (326); Bassiouni/Wise, S. 53 f. 610 Vgl. oben 1. Kapitel A. 611 Vgl. die oben in Fn. 607 zitierten Fälle. In IAGMR,Velásquez Rodríguez, Series C No. 4 (Ziff. 174) (dt. EuGRZ 1989, S. 157 [172]) ist sogar ausdrücklich von einer Untersuchungs- und Bestrafungspflicht bzgl. „violations committed within its [der Verf.: des jeweiligen Vertragsstaates] jurisdiction“ (Hervorhebung nicht im Original) die Rede. 612 Vgl. Art. 2 I IPpbR; Art. 1 EMRK; Art. 1 I AMRK. 613 So auch EGMR, Bankovic (unveröff.), 12.12.2001, Ziff. 61 (dt. NJW 2003, S. 413 [415]).
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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leisten.614 Eine „extraterritoriale“ Geltung der Menschenrechte gibt es aber nur in besonderen Ausnahmefällen; etwa dann, wenn ein Staat durch militärische Besatzung oder mit vertraglicher Gestattung ein ausländisches Territorium beherrscht,615 oder wenn er durch die Auslieferung einer Person in einen Folterstaat schwerste Menschenrechtsverstöße durch eigenes positives Handeln erst möglich machen würde.616 Eine solche Ausnahmesituation liegt aber bei der späteren Anwesenheit des Täters eines „Menschenrechtsverbrechens“ in einem unbeteiligten Drittstaat nicht vor: Weder hatte der Zufluchtsstaat zum Tatzeitpunkt gegenüber dem Opfer in irgendeiner Weise extraterritoriale Hoheitsgewalt ausgeübt, noch ermöglicht er durch die Nichtbestrafung des Täters für den bereits abgeschlossenen Menschenrechtsverstoß unmittelbar eine weitere, noch bevorstehende Menschenrechtsverletzung. Auch die „effective remedy“-Vorschriften als zweite Säule der menschenrechtlichen Bestrafungspflicht erlauben nicht deren Ausdehnung auf den Zufluchtsstaat, denn ein „effective remedy“ muss immer nur der Staat gewährleisten, dem die Menschenrechtsverletzung zuzurechnen ist. Eine Pflicht, Rechtsschutz gegen von anderen Staaten begangene Völkerrechtsverletzungen zu gewähren, gibt es nicht.617 Deshalb trifft den „normalen“ Zufluchtsstaat auch unter diesem Gesichtspunkt kein „aut dedere – aut iudicare“. Anders ist es nur, wenn der Zufluchtsstaat die Menschenrechtsverletzung im Ausland durch seine Staatsorgane selbst begangen hat, wie beispielsweise Chile den Mord an Letelier. Da ihm die Tat hier trotz des ausländischen Tatortes zuzurechnen ist, muss er dem Opfer ein „effective remedy“ einräumen,618 was durch Strafverfolgung des Täters619, 614 So bspw. auch Tomuschat, in: FS Steinberger, S. 315 (326); Werle, Völkerstrafrecht, S. 75. 615 Vgl. EGMR, Loizidou, Serie A Nr. 310 (Ziff. 62); EGMR, Bankovic (unveröff.), 12.12.2001, (Ziff. 71) (dt. NJW 2003, S. 413 [416]); Schilling, Rn. 471; Grabenwarter, S. 123 f. 616 Vgl. EGMR, Soering, Serie A, Nr. 161 (Ziff. 88) (dt. EuGRZ 1989, S. 314 [319]); MRA, Kindler, comm. No. 470/1990, Ziff. 6.2 und 13.2; Schilling, Rn. 470; Grabenwarter, S. 123. 617 Vgl. auch Meyer-Ladewig, Hk-EMRK, Art. 3 Rn. 2 sowie EGMR, Al-Adsani, Rec. 2001-XI, S. 79 (Ziff. 40) (dt. EuGRZ 2002, S. 403 [405]), wonach die Nichtzulassung einer Schadenersatzklage gegen einen Drittstaat wegen dort erlittener Folter nicht die EMRK verletzt (dazu Maierhöfer, EuGRZ 2002, S. 391 ff.). 618 Dies stünde namentlich im Einklang mit der älteren Rspr. des EGMR, die die EMRK auch auf Handlungen der Behörden der Mitgliedstaaten erstreckte, die im Ausland vorgenommen wurden oder dort ihre Wirkungen entfalten (vgl. EGMR, Drozd u. Janusek, Serie A, Nr. 240 (Ziff. 91); Grabenwarter, S. 123) und der Rspr. des MRA, die völkerrechtswidrige Entführungen aus dem Ausland durch Beamte eines Vertragsstaates am IPbpR gemessen hat (vgl. MRA, Lopez Burgos, Communication 52/1979, 29.07.1981, Ziff. 12.3; MRA, Celiberti de Casariego, Communication 56/1979, 29.07.1981, Ziff. 10.3., anders allerdings die US-Gerichte in US v. DuarteAcero, 12.07.2002, 296 F.3d 1277, Zusammenfassung mit krit. Anm. bei Sloss,
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
aber auch durch dessen Auslieferung an einen verfolgungsbereiten Staat geschehen kann. Bei Verletzungen des gewohnheitsrechtlich garantierten Lebensrechtes und Folterverbots620 gilt dies sogar über den Anwendungsbereich der Menschenrechtsverträge hinaus. 2. Terrorismus Wie bereits oben erwähnt wurde, ist die Bekämpfung des Terrorismus nicht umfassend völkervertraglich geregelt. Lediglich einige seiner typischen Erscheinungsformen sind Gegenstand von universell angelegten „aut dedere – aut iudicare“-Verträgen, neben denen es noch mehrere sachlich breiter angelegte regionale Antiterrorübereinkommen gibt.621 Im Folgenden wird zu untersuchen sein, inwieweit dort, wo kein vertragliches „aut dedere – aut iudicare“ gilt – sei es, weil es für die entsprechende Erscheinungsform des Terrorismus kein sachlich einschlägiges Übereinkommen gibt,622 sei es, weil der Zufluchtsstaat nicht Partei eines solchen Vertrages ist – Terroristen gewohnheitsrechtlich auszuliefern oder strafrechtlich zu verfolgen sind. a) Staatenpraxis von 1945 bis zum 11. September 2001 Über das Schicksal flüchtiger Terroristen gibt es nur wenig systematisch aufgearbeitetes Datenmaterial. Mit Ausnahme von Flugzeugentführern, über deren Auslieferung oder Strafverfolgung Joyner, Evans und Murphy umfangreiche Statistiken für die Zeit von 1960 bis Mitte der 1980er Jahre erarbeitet AJIL 97 [2003], S. 411–418). Zweifel an diesem Ergebnis weckt dagegen die Entscheidung des EGMR zur Unanwendbarkeit der EMRK auf den Luftkrieg einiger Mitgliedstaaten gegen Jugoslawien (EGMR, Bankovic, (unveröff.), 12.12.2001 [dt. NJW 2003, S. 413 ff.]), wo in Ziff. 80 zu lesen ist „[e]lle [die Konvention] n’a donc pas vocation à s’appliquer partout dans le monde, même à l’égard du comportement des Etats contractants.“ Inzwischen hat der EGMR – freilich unter der Behauptung seiner „Bankovic“-Rspr. treu zu bleiben – allerdings wieder eine größere Bereitschaft zur extraterritorialen Anwendung der EMRK erkennen lassen, als er das Verhalten türkischer Sicherheitskräfte gegenüber Abdullah Öcalan auf kenianischem Territorium an diesem Vertrag gemessen hat (vgl. EGMR, 1. Sektion, Öcalan, 12.03.2003, Ziff. 93, dt. EuGRZ 2003, S. 472 [475], ebenso im Ergebnis EGMR, Große Kammer, Öcalan, 12.5.2005, Ziff. 91). 619 Vgl. die Rechtsprechungsnachweise aus Fn. 608. 620 Vgl. zur gewohnheitsrechtlichen Geltung dieser Rechte Ipsen, in: ders., § 50 Rn. 11 i. V. m. Rn. 6; Doehring, Rn. 974. 621 Vgl. oben A. I. 1. 622 Zu sachlichen Lücken im Netz der universellen Antiterrorverträge auch Dahm/Delbrück/Wolfrum, S. 1123.
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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haben, lässt sich daher nur schwer feststellen, wie häufig Terroristen von Drittstaaten sichere Zuflucht geboten oder verweigert wurde.623 Deshalb ist es im folgenden Abschnitt nur möglich, einige wenige öffentlich bekannt gewordene Beispielsfälle – sozusagen die Spitzen des Eisberges – herauszugreifen, ohne die Staatenpraxis systematisch und vollständig erfassen zu können. Dies reicht dennoch aus, um ein gewisses Muster zu erkennen. aa) Palästinensische Täter: Terroristen oder Freiheitskämpfer? Der erste Komplex terroristischer Straftaten, der hier untersucht werden soll, betrifft Anschläge im Rahmen des palästinensischen „Freiheitskampfes“. (1) Gewalttaten auf Flughäfen vor dem Zusatzprotokoll von 1988 zur Montrealer Konvention: die Attentäter von Rom (1973) in Kuwait Ein frühes Beispiel dafür, wie wenig Konsens in der Staatengemeinschaft über den Umgang mit palästinensischen Tätern besteht, die einen nicht von einem „aut dedere – aut iudicare“-Übereinkommen erfassten Anschlag begangen haben, ist folgender Fall: Die – nach westlichem Sprachgebrauch – „Terroristen“, die 1973 auf dem Flughafen von Rom israelische Passagiere angegriffen hatten, erhielten später in Kuwait sichere Zuflucht. Auslieferungsanträge Marokkos, Italiens, der Bundesrepublik Deutschland und der USA wurden mit dem Argument zurückgewiesen, Kuwait sei gegenüber keinem dieser Staaten durch einen Auslieferungsvertrag gebunden.624 Dass hier schon vor dem Zusatzprotokoll von 1988 zur Montrealer Konvention625 eine gewohnheitsrechtliche Pflicht bestanden haben könnte, die Täter dann wenigstens strafrechtlich zu verfolgen, scheint Kuwait nicht in Erwägung gezogen zu haben. (2) Geiselnahme vor der UN-Geiselnahmekonvention: der Fall Abu Daud Doch nicht nur arabische Staaten handelten gegenüber palästinensischen Terroristen nicht nach dem Prinzip „aut dedere – aut iudicare“, wenn dies nicht vertraglich geboten war. Ein Beispiel dafür ist folgender Fall: Am 7. Januar 1977 wurde in Paris ein gewisser Abu Daud auf Ersuchen der deutschen Behörden unter dem Vorwurf festgenommen, 1972 an der Geisel623
Vgl. dazu auch Murphy, Punishing, S. 107 f. Vgl. zu dem Fall Lillich/Paxman, Am. U.L. Rev. 26 (1977), S. 217 (304). 625 Vgl. zu diesem Protokoll, das sich mit Gewalttaten auf Flughäfen beschäftigt, oben A. I. 2. c) Fn. 40. 624
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
nahme und Ermordung israelischer Olympiateilnehmer in München beteiligt gewesen zu sein.626 Kurz darauf stellte Israel aus demselben Grund ein Auslieferungsersuchen.627 Nur vier Tage nach der Festnahme ordnete die Chambre d’Accusation der Pariser Cour d’Appel am 11. Januar 1977 jedoch die Freilassung des Verdächtigen an. Im Verhältnis zu Deutschland wurde dies damit begründet, dass bislang weder das Festnahmeersuchen auf diplomatischem Wege bestätigt noch ein Auslieferungsantrag gestellt worden sei.628 Die Zurückweisung des israelischen Auslieferungsantrags erfolgte, weil Frankreich das passive Personalprinzip, aufgrund dessen Israel gegen Abu Daud vorging, zur Tatzeit noch abgelehnt hatte.629 Man mag zu diesen Begründungen stehen wie man will,630 sie zielen jedenfalls lediglich darauf ab, die Nichtauslieferung Abu Dauds in Bezug auf die jeweiligen Auslieferungsverträge zu rechtfertigen. Wäre Frankreich aber von einem gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“ für terroristische Geiselnehmer ausgegangen, hätte es selbst nach der inneren Logik der Entscheidungen der Cour d’Appel nun eigene Strafverfolgungsmaßnahmen einleiten müssen. Stattdessen wurde Abu Daud umgehend nach Algerien verbracht, wo ihn die Bevölkerung wie einen Helden empfing und er vor jeder weiteren Auslieferung oder Strafverfolgung sicher war.631 (3) Bomben in Israel: „Terrorismus“ oder „Freiheitskampf“? – der Fall Abu Eain Am 14. Mai 1979 detonierte auf dem Marktplatz der israelischen Stadt Tiberias eine Bombe und tötete zwei Kinder. Drei Monate später verhaftete das FBI in Chicago den Palästinenser Abu Eain, der wenige Tage nach dem Anschlag in die USA eingereist war, als mutmaßlichen Täter.632 Ein Berufungsgericht wies seinen Einwand, als „politischer Straftäter“ könne er gemäß dem amerikanisch-israelischen Auslieferungsvertrag nicht an Israel ausgeliefert werden, zurück, denn ein gegen die Zivilbevölkerung gerichteter Bombenanschlag sei nicht als „politische Straftat“ im Sinne des Auslieferungsrechts schützenswert.633 Dieses Urteil ist zunächst einmal nur eine 626
Vgl. Cour d’Appel de Paris, 11.01.1977, EuGRZ 1977, S. 102. Cour d’Appel de Paris, 11.01.1977, EuGRZ 1977, S. 103. 628 Cour d’Appel de Paris, 11.01.1977, EuGRZ 1977, S. 102 f. 629 Cour d’Appel de Paris, 11.01.1977, EuGRZ 1977, S. 103 (104). 630 Krit. bspw. Blumenwitz, EuGRZ 1977, S. 114 ff. 631 Vgl. Weston/Falk/Charlesworth, S. 1113. 632 Vgl. Eain v. Wilkes, ILR 79, S. 439 (441, 443 f.). 633 Vgl. Eain v. Wilkes, ILR 79, S. 439 (455). Auch der zweite Einwand, der sich auf Mängel des Beweismaterials bezog, wurde zurückgewiesen (vgl. Eain v. Wilkes, ILR 79, S. 439 [457 f.]). 627
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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Auslegung der „political offence exception“ eines bilateralen Auslieferungsvertrages. Die Auslieferungsentscheidung des stellvertretenden Außenministers deutet aber an, dass es den USA nicht nur um die Erfüllung ihrer bilateralen Vertragspflichten gegenüber Israel ging, sondern dass sie vielmehr von allen Staaten ein entsprechendes Verhalten erwartet hätten.634 Mehrheitlich nahm die Staatengemeinschaft jedoch einen anderen Rechtsstandpunkt ein: Die UN-Generalversammlung bezeichnete in Resolution 36/171 die Inhaftierung Abu Eains in den USA als illegal, bedauerte dessen Auslieferung an Israel, betonte das Recht der Völker, „by all available means“ gegen fremde Unterdrückung zu kämpfen, und forderte schließlich „that Mr. Ziad Abu Eain be immediately released and that the Government of the United States, being responsible for his safety, should facilitate his safe transfer to the country of his choice.“
Hier wird gerade gefordert, was ein „aut dedere – aut iudicare“ verbieten würde: Abu Eain soll weder in den USA, noch in Israel, noch sonst wo inhaftiert beziehungsweise strafrechtlich verfolgt, sondern als legitimer „Befreiungskämpfer“ behandelt werden. Dies war sicherlich nicht die allgemeine Überzeugung der Staatengemeinschaft, denn außer den USA und Israel stimmten noch 19 weitere westliche Staaten gegen die Resolution, 43 enthielten sich.635 Es geht hier aber auch nicht darum, die völkergewohnheitsrechtliche Legitimität des Terroranschlages von Tiberias zu beweisen. Untersucht wird vielmehr umgekehrt, ob die Auslieferung oder Strafverfolgung des Täters eine völkergewohnheitsrechtliche Pflicht des Zufluchtsstaates USA war. Und diesbezüglich ist festzuhalten, dass immerhin jene 75 Staaten, die für Resolution 36/171 gestimmt haben, eine andere Ansicht vertraten. Von einer allgemeinen, das heißt alle wesentlichen Rechts- und Kulturkreise der Erde umfassenden636 Rechtsüberzeugung kann somit keine Rede sein. (4) Die Achille Lauro637 Am 7. Oktober 1985 bemächtigten sich vier als gewöhnliche Passagiere getarnte Palästinenser mit Gewalt des italienischen Kreuzfahrtschiffes 634
Dort heißt es: „This is and must be the position of the United States. It is hoped that it would be the position of all nations. Anyone contemplating the murder of innocent civilians in a misguided effort to further a political cause must be on notice that he will not be permitted to take refuge under a political offence exception.“ (zitiert nach ILM 21 [1982], S. 445 [448]). 635 Vgl. zum Abstimmungsergebnis ILM 21 (1982), S. 442. 636 Vgl. Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 16 Rn. 11. 637 Schon mehr als zwanzig Jahre vor der Entführung der Achille Lauro, spielte sich ein ähnlicher Vorfall ab: Das portugiesische Passagierschiff Santa Maria wurde
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
Achille Lauro, das sich vor Ägypten auf Hoher See befand, um in Israel inhaftierte Gesinnungsgenossen freizupressen.638 Tags darauf erschossen sie – wie erst später bekannt wurde – den US-Bürger Leon Klinghoffer.639 Einen weiteren Tag später, am Nachmittag des 9. Oktobers 1985, hatten die Verhandlungen der ägyptischen Behörden mit den Geiselnehmern Erfolg: Diese gaben auf und wurden nach Kairo gebracht, wo sie sich mit zwei Vertretern der PLO trafen, von denen einer – Abu Abbas – sich später als der Hintermann des Terroraktes erweisen sollte. Ägypten hielt weder die vier unmittelbar Tatbeteiligten noch Abu Abbas zum Zwecke der Auslieferung oder Strafverfolgung fest, sondern erlaubte allen am Abend des 10. Oktober 1985 die Weiterreise.640 Amerikanische Jagdflugzeuge spürten ihr Flugzeug jedoch über dem Mittelmeer auf und zwangen es zur Landung auf Sizilien, wo seine Insassen sich den italienischen Behörden ergaben.641 Während die vier „Haupttäter“ inhaftiert und in Italien strafrechtlich verfolgt wurden, gestattete man Abu Abbas am 12. Oktober die Weiterreise, obwohl die USA am Tag davor um seine Festnahme gebeten hatten.642 Nächste Station seiner Flucht war Jugoslawien. Die USA stellten auch bei am 23.01.1961 von regulär an Bord gegangenen Gegnern des Salazar-Regimes mit Gewalt übernommen (vgl. Goyard, RGDIP 1962, S. 123 [124]). Am 01.02.1961 lief sie das brasilianische Recife an, wo die Täter – wie es ihnen zuvor Präsident Janio Quadros versprochen hatte (vgl. dessen Schreiben, in dem es heißt: „Le droit d’asile vous sera accordé si vous en manifestez le désir ainsi que les autres mesures que les lois et les traités en vigueur permettent.“ [zitiert nach Goyard, RGDIP 1962, S. 123 (138)]) – Zuflucht erhielten, ohne strafrechtlich verfolgt oder an Portugal ausgeliefert zu werden (vgl. Goyard, RGDIP 1962, S. 123 [142]; Rubin, Law of Piracy, S. 339). Portugal hat dagegen anscheinend nicht protestiert, sondern umgekehrt die brasilianische Hilfe bei der Rückführung von Schiff, Besatzung und Passagieren ausdrücklich gelobt (vgl. Goyard, RGDIP 1962, S. 123 [140]), nur die portugiesische Völkerrechtswissenschaft forderte teilweise eine Bestrafung der Täter (vgl. Goyard, RGDIP 1962, S. 123 [142]). Diese wurden in Portugal in Abwesenheit zu Haftstrafen verurteilt (vgl. Goyard, RGDIP 1962, S. 123 [142, Fn. 49]), ihr Anführer blieb aber dennoch unbehelligt, selbst als er Brasilien 1963 verließ, um in New York vor einem Ausschuss der Vereinten Nationen zu sprechen (vgl. Francioni, GYBIL 31 [1988], S. 263 Fn. 1). 638 Vgl. Rousseau, RGDIP 1986, S. 407 (425); Cassese, EPIL I, S. 10. Um „Piraterie“ im völkerrechtlichen Sinne handelte es sich dabei – wie bereits oben unter A. I. 6. bei Fn. 90 ausgeführt – nicht. 639 Vgl. Rousseau, RGDIP 1986, S. 407 (426); Cassese, EPIL I, S. 10. 640 Vgl. Rousseau, RGDIP 1986, S. 407 (426); Pancracio, AFDI 1985, S. 221 (222 f.). 641 Vgl. Rousseau, RGDIP 1986, S. 407 (426 f.). 642 Vgl. Rousseau, RGDIP 1986, S. 407 (427); Murphy, Columb. J. of Transnat. L. 25 (1986), S. 35 (47). Erst am 13.01.1986 erließ Italien auch gegen ihn einen internationalen Haftbefehl (vgl. Rousseau, RGDIP 1986, S. 407 [427]); er wurde dort schließlich in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt, die jedoch bis zu seinem Tod im Jahre 2004 nie vollstreckt werden konnte (vgl. SZ, 11.03.2004, S. 9).
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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der Regierung in Belgrad umgehend einen Auslieferungsantrag, den diese jedoch wenige Tage später ablehnte, anscheinend ohne die eigenen Justizbehörden danach wenigstens über eine Strafverfolgung vor Ort entscheiden zu lassen.643 Abbas reiste weiter nach Südjemen644 und erhielt später im Irak sichere Zuflucht, wo er im April 2003 von US-Truppen festgenommen wurde und schließlich im März 2004 verstarb.645 Wie sind diese Vorgänge nun unter dem Blickwinkel eines gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“ zu deuten? Das ägyptische Verhalten widerspricht scheinbar am deutlichsten einem „aut dedere – aut iudicare“: Ägypten hat sowohl die vier unmittelbar Verantwortlichen als auch ihren mutmaßlichen Hintermann ziehen lassen, ohne ein Straf- oder Auslieferungsverfahren gegen sie einzuleiten. Bei näherer Betrachtung ist hier jedoch Vorsicht geboten. Ägypten hatte den Geiselnehmern freies Geleit angeboten, um ein unblutiges Ende der Geiselnahme zu erreichen. Ob es unter diesen Umständen gegen das „aut dedere – aut iudicare“ verstößt, sich für die Nichtverfolgung der Täter zu entscheiden, ist sehr fraglich.646 Immerhin hatten mit Italien und der Bundesrepublik Deutschland zwei Staaten, die politischer Sympathie für die Täter wenig verdächtig sind, vorab dieser Lösung zugestimmt.647 Allerdings hätte ein „iudicare“ zumindest eine Einbindung der ägyptischen Justizbehörden in diesen „Deal“ verlangt,648 für die es keinen Anhaltspunkt gibt. Wie dem auch sei: Selbst wenn Ägyptens Verhalten im Einklang mit dem Prinzip „aut dedere – aut iudicare“ stehen sollte, beruht dies wohl eher auf der UN-Geiselnahmekonvention – die Ägypten damals bereits ratifiziert hatte – als auf Gewohnheitsrecht. Italien hatte dagegen die UN-Geiselnahmekonvention noch nicht ratifiziert, als es den Hintermann Abbas ziehen ließ. Jedenfalls dem ersten Anschein nach hätte aber aufgrund eines Auslieferungsvertrags mit den USA eine Pflicht bestanden, ihn an diesen Staat auszuliefern.649 Die offizielle Begründung für die Nichtauslieferung lautete, dass das Beweismaterial nicht ausreichend gewesen sei und Abbas als PLO-Funktionär diplomatische Immunität genossen habe.650 Beides ist aber offensichtlich unhaltbar: 643
Vgl. Rousseau, RGDIP 1986, S. 407 (427); Murphy, Columb. J. of Transnat. L. 25 (1986), S. 35 (48). 644 Vgl. Rousseau, RGDIP 1986, S. 407 (427). 645 Vgl. zum späten Leben von Abu Abbas SZ, 11.03.2004, S. 9. 646 Vgl. unten 4. Kapitel C. III. 1. a) bei Fn. 191; ferner Pancracio, AFDI 1985, S. 221 (229 f.). 647 Vgl. Cassese, EPIL I, S. 10 f. Das Vereinigte Königreich und die USA hatten demnach allerdings ihre Zustimmung verweigert. 648 Vgl. unten 4. Kapitel C. II., III. 1. a); a. A. Cassese, EPIL I, S. 11. 649 Vgl. die Artikel I bis III des damals gültigen ital.-US-amerik. Auslieferungsvertrages vom 13.10.1983 (abgedruckt in ILM 24 [1985], S. 1525 ff.).
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
Der amerikanisch-italienische Auslieferungsvertrag sah ausdrücklich vor, dass der ersuchte Staat dem ersuchenden Staat die Gelegenheit geben muss, unzureichendes Belastungsmaterial nachzubessern, bevor er den Gesuchten freilässt.651 Und selbst wenn man der PLO das aktive Gesandtschaftsrecht zusprechen sollte, war Abbas weder nach Italien entsandt noch auf der Durchreise vom Heimat- zum Empfangsstaat, so dass er in Italien unzweifelhaft keine Immunität genoss.652 Italien selbst hat dies später inzident bestätigt, als es ihm doch noch in Abwesenheit den Prozess machte.653 Nahe liegt deshalb eine andere Überlegung: Auf der Linie der damaligen italienischen Rechtsprechung war die Entführung der Achille Lauro eindeutig eine politische Straftat, für die nach Artikel V (1) des italienisch-amerikanischen Auslieferungsvertrags nicht ausgeliefert werden musste.654 Eine vertragliche Auslieferungspflicht bestand somit nicht.655 Bei Geltung eines gewohnheitsrechtsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“ hätte Italien Abbas aber dann wenigstens selbst strafrechtlich verfolgen müssen. Dass es ihn zunächst ohne Einleitung eines Strafverfahrens ziehen ließ, muss als Ablehnung eines solchen Rechtsinstituts erscheinen, denn anders als Ägypten, kann sich Italien nicht darauf berufen, die Zusicherung freien Geleits sei zum Schutz der Geiseln erforderlich gewesen. Auch Jugoslawien handelte eindeutig nicht nach der Devise „aut dedere – aut iudicare“. Ohne seine Justizbehörden einzuschalten, ließ es Abbas trotz eines Auslieferungsersuchens der USA weiterreisen. Es brachte ebenfalls den objektiv wenig stichhaltigen Einwand vor, Abbas genösse diplomatische Immunität.656 Dieses Verhalten ist umso verwunderlicher, als Jugoslawien im Gegensatz zu Italien an die UN-Geiselnahmekonvention gebunden war. Die weiteren Zufluchtsstaaten von Abbas, Südjemen und der Irak, waren dagegen weder an die UN-Geiselnahmekonvention noch an die später in Kraft getretene Konvention zum Schutz der Seeschifffahrt gebunden. Ihr Verhalten war allein vom Völkergewohnheitsrecht geregelt, das ihrer Ansicht nach anscheinend nicht die Gewährung sicherer Zuflucht verbot. 650
Murphy, Columb. J. of Transnat. L. 25 (1986), S. 35 (47, 49). Vgl. Art. XI (1) AV USA-Ital.; Murphy, Columb. J. of Transnat. L. 25 (1986), S. 35 (47). 652 So auch Murphy, Columb. J. of Transnat. L. 25 (1986), S. 35 (49); Cassese, EPIL I, S. 12. 653 Paust, Vanderbilt Journal of Transnat. L., 20 (1987), S. 235 (241, Fn. 15). 654 Vgl. Paust, Vanderbilt Journal of Transnat. L. 20 (1987), S. 235 (245), der dieses weite Verständnis von „politischer Straftat“ allerdings für völkerrechtswidrig hält. 655 A. A. Murphy, Columb. J. of Transnat. L. 25 (1986), S. 35 (47 f.). 656 Vgl. Murphy, Columb. J. of Transnat. L. 25 (1986), S. 35 (48 f.). 651
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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Der einzige Staat, der im Achille Lauro-Fall von einer gewohnheitsrechtlichen Pflicht der Zufluchtsstaaten zur Verfolgung oder Auslieferung der Terroristen ausging, waren die USA. Bereits am 10. Oktober 1985, also unmittelbar nach Beendigung der Geiselnahme, erklärte Präsident Reagan gegenüber Journalisten: „We think that no nation, responsible nation, should give shelter to these people, should make them available to whichever country has the proper jurisdiction for prosecution.“657
Auch der Pressesprecher der amerikanischen Regierung erklärte am gleichen Tag: „We strongly disagree with Egypt [. . .] on disposition of the terrorists. [. . .] We also made clear our expectation that the terrorists would be brought to justice. [. . .] In closing, the President wants to emphasize once again that [. . .] terrorism can only be stamped out if each member of the community of civilized nations meets its responsibility squarely – passing up no opportunity to apprehend, prosecute, and punish terrorists wherever they may be found. [. . .] There can be no asylum for terrorism or terrorists.“658
Sofern dabei nur auf Ägypten Bezug genommen wird, könnte man die US-amerikanische Haltung auch lediglich als eine strenge Interpretation der UN-Geiselnahmekonvention deuten, die einen „Deal“ mit den Geiselnehmern ausschließt. Wenn aber allgemein ausgeführt wird, keine Nation dürfe Terroristen Zuflucht geben, kann dies nur als Befürwortung eines gewohnheitsrechtlichen und damit für alle Staaten verbindlichen „aut dedere – aut iudicare“ verstanden werden, das nicht nur für bestimmte vertraglich inkriminierte Erscheinungsformen des Terrorismus, sondern für alle Terroristen gelten soll. Entsprechend sah auch der US-„International Security and Development Cooperation Act“ von 1985659 in Title V, Sec. 503(a) ganz allgemein Sanktionen gegen Staaten vor, die Terroristen sichere Zuflucht und Straflosigkeit bieten, ohne dies auf den Anwendungsbereich der „aut dedere – aut iudicare“-Übereinkommen zu beschränken. Die USA betrachteten also schon damals die Gewährung von sicherer Zuflucht für Terroristen auch dann als völkerrechtswidrig, wenn sie keinen Vertragsverstoß darstellte. 657 Abgedruckt in ILM 24 (1985), S. 1512. Dass er neben der Auslieferung auch die Strafverfolgung durch andere, die der Täter habhaft werden, akzeptieren würde, machte der Präsident auf Nachfrage deutlich: „But you’d let the PLO punish them, then? The President: What? Yes, I said if they were determined to do that.“ (vgl. ILM, 24 [1985], S. 1512.). 658 Statement of the Principal Deputy Press Secretary, 10.10.1985, ILM 24 (1985), S. 1513. 659 Abgedruckt in ILM 24 (1985), S. 1558 ff.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
(5) Das Verhalten Griechenlands gegenüber palästinensischen Terroristen NATO-Mitglied Griechenland, das schon im Abu Eain-Fall nicht gegen Resolution 36/171 gestimmt hatte, ließ Ende der 1980er Jahre die Urheber eines Feuerüberfalls auf die Synagoge von Rom ins ihnen politisch gewogene Libyen ausreisen, obwohl die griechischen Gerichte entschieden hatten, dass gegen eine Auslieferung nach Italien keine rechtlichen Bedenken bestünden.660 Gerade hinsichtlich palästinensischer Täter zeigen sich somit die Auswirkungen des fehlenden Konsenses über eine Terrorismusdefinition auf ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“: Was für die USA und Israel ein unbedingt zu verfolgender „Terrorist“ war, war für arabische Länder ein schützenswerter „Freiheitskämpfer“ und für europäische Staaten jemand, den man je nach den eigenen politischen Interessen von Fall zu Fall verfolgt, ausliefert oder ins sichere Asyl ausreisen lässt. Ein gewohnheitsrechtliches Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot kann sich so nur schwer entwickeln. bb) Europäische Separatisten im Ausland: PIRA, ETA und PKK Wenden wir uns nun einer anderen Kategorie des Terrorismus zu, den europäischen Separatistenbewegungen. (1) Die Probleme der USA im Umgang mit Mitgliedern der PIRA Hier hatten gerade die USA, die nach den bisherigen Ergebnissen am konsequentesten für ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“ gegenüber Terroristen eingetreten sind, erhebliche Schwierigkeiten damit, irische Nationalisten der Bestrafung zuzuführen. Die US-Gerichte lehnten Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre (und damit zeitgleich zum Fall Abu Eain) die Auslieferung von drei Mitgliedern der Provisional Irish Republican Army – McMullen, Desmond Mackin und Joseph Doherty – an das Vereinigte Königreich ab, weil die ihnen zu Last gelegten Attentate auf britische Armeeeinrichtungen und Soldaten „politische Straftaten“ im Sinne der „political offence exception“ des britisch-amerikanischen Auslieferungsvertrages seien.661 Ob diese Auslegungen der „poltical offence excep660
Vgl. zu dem Fall Francioni, GYBIL 31 (1988), S. 263 (283, Fn. 51). Vgl. zum unveröff. Urteil „In the Matter of the Extradition of McMullen“ den Case Report von Evans, AJIL 74 (1980), S. 434 f.; zum Fall von Desmond Mackin vgl. United States v. Mackin, ILR 79, S. 459 (461 f.); zum Fall von Joseph Doherty vgl. In re Extradition of Doherty, ILR 79, S. 475 (477, 480 ff.). 661
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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tion“ überzeugen, kann offen gelassen werden, denn wie schon im Fall Abu Daud, so ist auch hier für unser Erkenntnisinteresse allein entscheidend, dass die Nichtauslieferung der „Terroristen“ nicht durch eine Strafverfolgung in den USA kompensiert wurde. Das US-Strafrecht sah gar keine Möglichkeit vor, auch in diesen, nicht von einem multilateralen „aut dedere – aut iudicare“-Übereinkommen geregelten Fällen einen Ausländer wegen einer im Ausland gegen Ausländer begangenen Straftat in den USA vor Gericht zu stellen.662 Mit einem „aut dedere – aut iudicare“ wäre dieses Verhalten nur dann vereinbar, wenn man dieses im Sinne der eingeschränkten Variante der Falschmünzerkonvention von 1929 versteht, da dann die Pflicht zum „iudicare“ ohnehin nur soweit reicht, wie das nationale Strafrechtsanwendungsrecht dies zulässt.663 Dies würde zwar wenigstens ein Minimum an Konsistenz innerhalb der Praxis der USA herstellen – deren Exekutive und Legislative in anderen Fällen deutlich ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“ befürworteten664 und auch jetzt eine andere Auffassung als die Gerichte vertraten665 – widerspräche aber dem Geist der Urteilsbegründung im Fall Doherty: Wenn dort der Ermordung eines britischen Soldaten bescheinigt wird, sie sei nicht „violative of international law, and inconsistent with international standards of civilized conduct“666, dann kann diese Tat auch kein Verstoß gegen von der gesamten Staatengemeinschaft zu verteidigende Werte sein, so dass die wichtigste theoretische Grundlage eines „aut dedere – aut iudicare“ entfällt.667 Dennoch waren die Positionen von Regierung und Justiz nicht soweit voneinander entfernt, wie die soeben zitierte Entscheidung vermuten lässt. Auch aus vielen US-amerikanischen Judikaten der damaligen Zeit spricht die Überzeugung, „Terroristen“ dürften in den USA keine sichere Zuflucht fin662
Vgl. Murphy, Punishing, S. 132 f. Selbst der im Anschluss an die Achille Lauro-Affäre erlassene „Omnibus Diplomatic Security and Antiterrorism Act“ (18 U.S.C. § 1202) erstreckte die Gerichtsbarkeit der USA nur dann auf im Ausland begangene Straftaten gegen Leben oder körperliche Unversehrtheit, wenn das Opfer US-Bürger war. 663 Vgl. dazu oben 1. Kapitel B. IV. und 2. Kapitel H. II. 1. 664 Vgl. die Analysen des US-amerikanischen Verhaltens im Fall Abu Eain [oben (aa) (3)] und im Achille Lauro-Fall [oben aa) (4) ab Fn. 657]. 665 Vgl. zu den Reaktionen der US-Regierung auf die Fälle McMullen, Mackin und Doherty Murphy, Punishing, S. 50–53 und 62–70. Ihre Rechtsmittel blieben allerdings erfolglos (vgl. United States v. Mackin, ILR 79, S. 459 [467, 474]; United States v. Doherty, ILR 79, S. 483 ff.). Um das Problem zu lösen, schlossen die USA und das Vereinigte Königreich 1985 einen Ergänzungsvertrag zu ihrem Auslieferungsvertrag (abgedr. in ILM 24 [1985], S. 1105 ff.), der die „political offence exception“ erheblich einschränkte (vgl. Carter/Trimble, S. 797; Janis, S. 351). 666 Vgl. In re Extradition of Doherty, ILR 79, S. 475 (479). 667 Zu den theoretischen Grundlagen des „aut dedere – aut iudicare“ vgl. oben 2. Kapitel C. I. 1. und im hiesigen Kapitel A. VI.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
den.668 Es ist vor allem die Frage, wer denn ein „Terrorist“ sei, gewesen, die zu unterschiedlichen Beurteilungen geführt und damit den im Grundsatz wenigstens innerhalb der USA vorhandenen Konsens über ein „aut dedere – aut iudicare“ für Terroristen weitgehend inhaltsleer gemacht hat. (2) Belgien, Spanien und zwei ETA-Unterstützer: der Fall Garcia-Moreno Selbst innerhalb Europas waren die Staaten vor dem 11. September 2001 nicht immer bereit, die Mitglieder terroristischer Separatistenorganisationen auszuliefern oder strafrechtlich zu verfolgen. Ein Bilderbuchbeispiel hierfür ist der Fall Garcia-Moreno: Am 28. Mai 1993 beantragte Spanien bei der belgischen Regierung die Auslieferung von Moreno Ramajo und Garcia Arrantz wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Den beiden wurde vorgeworfen, ein ETA-Kommando beherbergt und logistisch unterstützt zu haben.669 Der belgische Justizminister beschied die spanischen Auslieferungsanträge am 22. und 23. Januar 1996 positiv.670 Hiergegen wandten sich die beiden mutmaßlichen Terroristen an den Conseil d’Etat, der ihnen am 1. beziehungsweise 5. Februar 1996 einstweiligen Rechtsschutz gewährte, da die bloße Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung nicht der Europäischen Antiterrorkonvention unterfalle und somit weiterhin als nichtauslieferungsfähige politische Straftat gelte. Im Anschluss an diese Entscheidung wurden die beiden Beschuldigten auf freien Fuß gesetzt; Spanien zog sein Auslieferungsbegehren schließlich im Herbst 1996 noch vor der Entscheidung in der Hauptsache zurück.671 Dass Belgien Moreno Ramajo und Garcia Arrantz selbst strafrechtlich verfolgt hätte, ist nicht bekannt.672
668 Vgl. bspw. Eain v. Wilkes, ILR 79, S. 439 (454) und Quinn v. Robinson, ILR 79, S. 490 (517 f.). In diesen beiden Fällen gingen die Gerichte davon aus, dass es sich bei den Verdächtigen um echte „Terroristen“ handle: Im Falle Eains deswegen, weil er Zivilisten angegriffen [vgl. oben aa) (3) Fn. 633], im Fall des IRA-Mitglieds Quinn, weil er den Nordirlandkonflikt durch Anschläge in London nach England „exportiert“ hatte (vgl. Quinn v. Robinson, ILR 79, S. 525 f.). 669 Vgl. Bribosia/Weyembergh, RBDI 1997, S. 69 (73 f.). 670 Vgl. Bribosia/Weyembergh, RBDI 1997, S. 69 (75). 671 Vgl. Bribosia/Weyembergh, RBDI 1997, S. 69 (75 f.). 672 Auch in Deutschland war es übrigens bis zur Einführung des § 129b StGB nicht möglich, Mitglieder von nur im Ausland operierenden Terrorgruppen allein wegen dieser Mitgliedschaft vor Gericht zu stellen (vgl. hierzu im Einzelnen Klink, in: Frank/Hirschmann, S. 359 [364 f.]).
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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(3) Der Fall Öcalan Noch bekannter ist der Fall Öcalan. Der Führer der PKK hatte im Herbst 1998 sein langjähriges Asyl in Syrien auf Druck der Türkei verlassen müssen, durfte aber ungeachtet eines türkischen Auslieferungsultimatums in Richtung Moskau reisen. Als ihm dort die Einreise verweigert, er aber trotz eines Auslieferungsersuchens der Türkei nicht verhaftet wurde,673 begab er sich am 12. November 1998 nach Rom. Anders als die russischen Behörden, schienen die italienischen zunächst nach dem Motto „aut dedere – aut iudicare“ zu verfahren: Sie stellten Öcalan unverzüglich unter Arrest. Ein Auslieferungsersuchen der Türkei wurde jedoch abgelehnt, da Öcalan dort die Todesstrafe drohte. Für Deutschland, das Öcalan ebenfalls international zur Fahndung ausgeschrieben hatte, verzichtete Bundeskanzler Schröder am 27. November 1998 definitiv auf eine Auslieferung. Nun ging Italien aber nicht nach der Maxime „aut dedere – aut iudicare“ vor und nahm die Strafverfolgung selbst in die Hand. Ministerpräsident D’Alema erklärte vielmehr, dass es keine Rechtsgrundlage für ein weiteres Festhalten Öcalans mehr gebe, da dieser in Italien keine Straftaten begangen habe.674 Am 16. Januar 1999 durfte Öcalan trotz diplomatischer Proteste der Türkei, aber auch der USA, Italien mit zunächst unbekanntem Ziel verlassen.675 Später wurde bekannt, dass er über Moskau nach Griechenland gereist war, wo er die Nacht vom 29. auf den 30. Januar in einem Athener Vorort verbracht hatte, bevor man ihn nach Nairobi ausreisen ließ, wo er aus „humanitären Gründen“ Aufnahme in der griechischen Botschaft fand. Nach zwölf Tagen entschied er sich jedoch – nach Bekunden der Regierung in Athen auf eigenen Wunsch und gegen den Rat der griechischen Diplomaten –, seine Reise fortzusetzen. Auf dem Weg zum Flughafen wurde er von türkischen Geheimagenten gefasst und in die Türkei verbracht.676 Wenngleich Öcalan in keinem Land auf Dauer Zuflucht gewährt wurde, so wurde mit ihm dennoch nirgends nach dem Motto „aut dedere – aut iudicare“ verfahren. In Syrien, in Italien, sogar zweimal in Russland und schließlich in Griechenland durfte er als freier Mann in ein Land seiner Wahl weiterreisen. Griechenland bot ihm überdies ein anscheinend zeitlich unbefristetes diplomatisches Asyl in einer seiner Auslandsvertretungen an; über die Frage, ob man 673
Zu diesen beiden Etappen der Affäre vgl. AdG 1998, S. 43124 f. Vgl. zur „italienischen Etappe“ der Flucht Öcalans AdG 1998, S. 43193 f. Für eine sehr krit. Bewertung des deutschen Auslieferungsverzichts sowie der Entscheidung Italiens, Öcalan trotz der Europäischen Antiterrorkonvention nicht selbst strafrechtlich zu verfolgen, vgl. Wassermann, NJW 1999, S. 760 ff. 675 Vgl. AdG 1999, S. 43275. 676 Vgl. zum Schicksal Öcalans nach seiner Ausreise aus Italien AdG 1999, S. 43357 f. 674
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
Öcalan nicht sogar im Land selbst hätte aufnehmen sollen, geriet die Regierung in eine schwere Krise.677 Bis Ende der 1990er Jahre war man also selbst in Europa noch weit von einer „allgemeinen Übung“ der Auslieferung oder Strafverfolgung von Terroristen entfernt, jedenfalls sofern sich solche Pflichten nicht eindeutig aus der Europäischen Antiterrorkonvention ergaben. cc) Europäische Linksterroristen im Ausland: RAF und Rote Brigaden Ein dritter großer Komplex terroristischer Gewalttaten wurde von marxistisch-leninistisch orientierten westeuropäischen „Stadtguerillas“ wie der deutschen RAF oder den italienischen Roten Brigaden begangen. Der Umgang von Drittstaaten mit diesen Tätern soll im folgenden Abschnitt auf seine völkergewohnheitsrechtlichen Implikationen untersucht werden. (1) Ex-RAF-Mitglieder in der DDR und die Völkerrechtsauffassung beider deutscher Staaten Ende 1979 baten acht ehemalige Mitglieder der RAF, die sich vom bewaffneten Kampf losgesagt hatten, das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) um Aufnahme. Gegen sie bestanden damals in der Bundesrepublik Haftbefehle wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, darüber hinaus teilweise auch wegen der Beteiligung an Mord- und Sprengstoffanschlägen.678 Unter der Bedingung, dass sie in Zukunft dem Terrorismus endgültig den Rücken kehren, wurden sie 1980 auf direkten Befehl des Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke, in der DDR aufgenommen. Ähnlich wurde auch 1982 mit zwei weiteren in der Bundesrepublik gesuchten RAF-Aussteigern verfahren.679 Doch nicht nur wegen dieser gegen ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“ sprechenden Praxis der DDR ist der Fall hier von Interesse. Auch für die Rechtsauffassung der Bundesrepublik enthält er wichtige Hinweise. Nach der Wiedervereinigung wurden die verantwortlichen Offiziere des MfS wegen versuchter Strafvereitelung angeklagt.680 Der BGH hob jedoch die in erster Instanz ergangenen Verurteilungen mit einer Begründung auf, die gegen eine völkergewohnheitsrechtliche Pflicht zur Strafverfolgung oder Auslieferung von Terroristen spricht: § 258 StGB sei aus völkerrechtlichen 677 Zu den innenpolit. Spannungen im Anschluss an die Affäre vgl. AdG 1999, S. 43358. 678 Vgl. BGHSt 44, 52 (52 f.). 679 Vgl. BGHSt 44, 52 (53). 680 Vgl. BGHSt 44, 52 (54).
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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Gründen einzuschränken, wenn die den Strafanspruch der Bundesrepublik Deutschland vereitelnde Hilfeleistung im Ausland auf Anweisung eines ausländischen Staates erfolge.681 Weder die Nichtauslieferung der Terroristen noch die Zusage, dass sie in der DDR vor Strafverfolgung sicher seien, habe gegen die völkergewohnheitsrechtlichen Pflichten der DDR verstoßen.682 Der BGH hebt ausdrücklich – wenngleich leider ohne weitere Nachweise – hervor, dass es Übung einiger Staaten sei, Terroristen sichere Zuflucht zu gewähren. Deshalb könne das Verhalten der Angeklagten von dem aus der staatlichen Souveränität folgenden Recht der DDR gedeckt gewesen sein, Straftätern ohne Rücksicht auf die Interessen eines anderen Staates Asyl zu bieten.683 (2) Zuflucht für italienische Linksterroristen in Frankreich Doch nicht nur im früheren „Ostblock“ wurde westeuropäischen Linksterroristen sichere Zuflucht geboten, auch der französische Staatspräsident Francois Mitterand sicherte 1981 Mitgliedern der italienischen Roten Brigaden Schutz vor Auslieferung zu, sofern sie für die Zukunft der Gewalt abschworen. Die Zahl der Personen, die dieses Angebot annahmen, wird auf mehrere Hundert geschätzt; zu Strafverfahren gegen sie ist es in Frankreich – das damals die Europäische Antiterrorkonvention noch nicht ratifiziert hatte – soweit ersichtlich nicht gekommen.684 Zumindest in der Angelegenheit des vierfachen Mörders Cesare Battisti wird nun, da Frankreich der Europäischen Antiterrorkonvention beigetreten ist und der 11. September 2001 einen gewissen Mentalitätswandel im Umgang mit Terroristen be681
BGHSt 44, 52 (57). Vgl. BGHSt 44, 52 (57 ff.). 683 Vgl. BGHSt 44, 52 (59 f.). Es ist nicht ersichtlich, dass sich diese Rechtsauffassung der deutschen Gerichte, die letztlich auf die Ablehnung eines gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“ für Terroristen hinausläuft, seither geändert hat. Insbesondere stellt der Beschluss des 2. Senates des BVerfG v. 05.11.2003 (abgedruckt in DVBl. 2004, S. 112 ff.), in dem die Auslieferung eines terrorverdächtigen Jemeniten an die USA gebilligt wird, keine solche Rechtsprechungsänderung dar: Die Auslieferung sollte dort auf vertraglicher Grundlage erfolgen, strittig war lediglich, inwieweit die Tatsache, dass der Verdächtige von den US-Behörden mit List zur Reise nach Deutschland veranlasst wurde, sowie die Menschenrechtssituation in den USA der Auslieferung entgegenstehen (vgl. BVerfG, DVBl. 2004, S. 112 [113, 115 f.]). Im Gegenteil: Für den Fall, dass der Verfassungsbeschwerde stattgegeben worden wäre, stellt das BVerfG sowohl die Gestattung der Ausreise als auch die Strafverfolgung in Deutschland gleichberechtigt als mögliche weitere Entwicklung des Falles dar (vgl. BVerfG, DVBl. 2004, S. 112 [113]), was eher gegen die Annahme eines „aut dedere – aut iudicare“ spricht. 684 Vgl. zur Aufnahme ital. Linksterroristen in Frankreich SZ, 13./14.03.2004, S. 11; NZZ, 13.05.2004, S. 5. 682
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
wirkt hat, aber wohl doch noch nach der Maxime „aut dedere – aut iudicare“ verfahren. Die ordentlichen französischen Gerichte haben die Auslieferung genehmigt und der Premierminister hat das Auslieferungsdekret unterschrieben; der dagegen möglich Rechtsschutz vor den Verwaltungsgerichten blieb erfolglos.685 dd) Der islamistische Terrorismus: das Nachspiel der Bombenanschläge von Nairobi und Dar es Salam Die Anschläge des 11. Septembers 2001 waren nicht die ersten schweren Angriffe der Gruppe um Osama bin Laden auf die USA. Bereits drei Jahre zuvor, im August 1998, verübte Al-Quaida in Nairobi und Dar es Salam Sprengstoffanschläge auf US-Botschaften. Die USA bemühten sich im Folgenden größtenteils erfolgreich, die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. Bis Sommer 1999 erwirkten sie die Auslieferung von sechs Verdächtigen aus Deutschland, Kenia, und Südafrika – obwohl die letzten beiden Staaten damals noch nicht aufgrund der UN-Diplomatenschutzkonvention vertraglich zur Auslieferung oder Strafverfolgung verpflichtet waren –, zwei weitere konnten in den USA selbst verhaftet werden.686 Weniger Glück hatten sie dagegen mit dem damals ebenfalls nicht an die UN-Diplomatenschutzkonvention gebundenen Afghanistan. Der mutmaßliche Hauptverantwortliche Osama bin Laden erhielt dort weiterhin sichere Zuflucht, woraufhin die USA im Juli 1999 Sanktionen gegen das Taliban-Regime verhängten.687 Später beschloss auch der UN-Sicherheitsrat aus demselben Grund Sanktionen; ein Vorgehen, das im übernächsten Abschnitt zusammen mit anderen Äußerungen von UN-Organen auf seine gewohnheitsrechtliche Relevanz hin zu prüfen sein wird. ee) Sonderfall Flugzeugentführungen Aufgrund der umfangreichen empirischen Untersuchungen, die Nancy Douglas Joyner, Alona E. Evans und John F. Murphy angestellt haben, gibt es für die Zeit von 1960 bis 1982 ein umfangreiches und systematisch aufgearbeitetes – wenngleich sicherlich nicht völlig lückenloses688 – Daten685 Vgl. NZZ, 14.10.2004, S. 2; FAZ, 14.10.2004, S. 1; taz, 19.03.2005, S. 2. Battisti tauchte allerdings im August 2004 unter und bleibt vorläufig verschwunden (vgl. SZ, 26.08.2004, S. 11; FAZ, 25.08.2004, S. 33; taz, 19.03.2005, S. 2). 686 Vgl. Murphy, AJIL 94 (2000), S. 348 (366). Zu der erst nach dem 11.09.2001 gefällten Entscheidung des brit. House of Lords bzgl. drei weiterer Verdächtiger vgl. unten b) cc) Fn. 770 f. 687 Vgl. Murphy, AJIL 94 (2000), S. 348 (367).
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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material über das Schicksal von Flugzeugentführern. Obwohl sich diesem leider nicht immer entnehmen lässt, in welchen Fällen der Flugzeugentführer sich in einer „aut dedere – aut iudicare“-Konstellation – also außerhalb des Tatortstaates – befand, gibt es doch ein recht gutes Bild vom Umgang der Staaten mit „Luftpiraten“. Dieses fällt bis 1977 aber überaus düster aus: Bei den zwischen dem 1. Januar 1960 und dem 31. Mai 1973 begangenen internationalen, d h. sich nicht ausschließlich innerhalb eines einzigen Staates abspielenden Flugzeugentführungen wurde in 70 % der Fälle dem Täter sichere Zuflucht geboten, in 10 % wurde ausgeliefert, in 20 % wurde im Zufluchtsstaat strafrechtlich verfolgt.689 Diejenigen Staaten, die bis 1973 die Haager Konvention unterzeichneten oder ratifizierten, hatten dabei nur in 12 % der Fälle Asyl gewährt, solche Staaten, die der Haager Konvention bis dahin fern geblieben waren, dagegen in 74 %.690 Vor allem die letzte Zahl spricht deutlich gegen ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“, denn wer keine vertragliche Verpflichtung zur Auslieferung oder Strafverfolgung eingehen wollte, sah sich offensichtlich auch nicht aufgrund anderer Rechtsgrundlagen dazu gehalten. Nur wenig besser sehen die Zahlen aus, wenn man den Untersuchungszeitraum bis 1977 ausdehnt: Zählt man die von Evans ermittelten Zahlen über die Auslieferung und Strafverfolgung von Flugzeugentführern zusammen und nimmt großzügig auch noch die 131 Ausweisungen dazu, hinter denen sich wohl zum großen Teil „verkappte“ Auslieferungen verbargen,691 dann wurde in dieser Zeit nur circa die Hälfte der etwas über 1000 Tatbeteiligten692 der Strafverfolgung zugeführt.693 Dies beruhte überdies in der großen Mehrzahl der Fälle auf entsprechenden Vertragspflichten; nur 33 Personen wurden in Staaten strafrechtlich verfolgt, die bis 1978 nicht der Haager Konvention beigetreten waren, 8 davon in Kuba, das zu dieser Zeit durch eine Reihe bilateraler Vereinbarungen zur Auslieferung oder Strafverfolgung von Flugzeugentführern verpflichtet war.694 In den wenigen Fällen, in denen ein Auslieferungsersuchen gestellt worden war,695 hat kein die Haager Konvention ablehnen688 Evans, in: ders./Murphy, S. 3 (19) weist ausdrücklich darauf hin, dass seine Daten möglicherweise lückenhaft sein könnten. 689 Joyner, Aerial Hijacking, S. 186, Table 4. 690 Joyner, Aerial Hijacking, S. 195, Table 7. 691 Zum hohen Anteil der Täter, bei denen die Ausweisung zur Strafverfolgung führte, vgl. Evans, in: ders./Murphy, S. 493 (503). 692 Zu dieser Zahl Evans, in: ders./Murphy, S. 3 (15). 693 Vgl. Evans, in: ders./Murphy, S. 3 (16 f., insbes. Table 1.2.). 694 Vgl. zu diesen Zahlen für die USA Evans, in: ders./Murphy, S. 3 (16 f.); für andere Staaten Evans, in: ders./Murphy, S. 3 (22–25, Table 1.5.); zu den bilateralen Verträgen Kubas Evans, in: ders./Murphy, S. 3 (20 f.) 695 Insgesamt wurde von 1960–1977 über 33 Auslieferungsersuchen bzgl. 81 Personen entschieden. (vgl. Evans, in: ders./Murphy, S. 3 [18, Table 1.3]).
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der Staat ihm stattgegeben; nur einer – die Dominikanische Republik – hat den Täter wenigstens selbst strafrechtlich verfolgt.696 Deutlich besser sehen die Zahlen dann allerdings nach 1977 aus: Eine Auflistung von Murphy für die Jahre 1978 bis 1982 enthält nur noch 7 Flugzeugentführer, denen Asyl eingeräumt wurde; einem davon aus humanitären Gründen, was möglicherweise mit der Maxime „aut dedere – aut iudicare“ vereinbar ist.697 Nichtvertragsstaaten der Haager Konvention haben zwar keinen Täter ausgeliefert, aber immerhin hinsichtlich 42 Tätern bei Ablehnung eines Auslieferungsersuchens zu einem „iudicare“ gegriffen.698 Insbesondere Kuba hatte selbst nach Kündigung der bilateralen „aut dedere – aut iudicare“-Vereinbarung mit den USA im Jahre 1976 und trotz des gespannten politischen Klimas zwischen beiden Staaten noch 34 Flugzeugentführer abgeurteilt, 2 inoffiziell an die USA überstellt, anscheinend aber keinem Asyl angeboten.699 Dass in dieser wichtigsten nicht von der Haager Konvention erfassten Fallgruppe700 auch ohne vertragliche Verpflichtung nach der Maxime „aut dedere – aut iudicare“ verfahren wurde, ist ein starkes Indiz für dessen gewohnheitsrechtliche Geltung. Dass sich die Staatenpraxis im Umgang mit Flugzeugentführern seither dramatisch zum Schlechteren verändert hätte, ist nicht anzunehmen. Selbst diejenigen Fälle aus späterer Zeit, die auf den ersten Blick gegen ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“ sprechen, sind bei näherem Hinsehen vielschichtiger. So hat zwar der Libanon 1985 die palästinensischen Entführer einer TWA-Maschine weder ausgeliefert noch strafrechtlich verfolgt, ja die Amal-Milliz, die die Kontrolle über den Beiruter Flughafen ausübte, agierte sogar mehr oder weniger offen als Komplizin der Entführer. Der Fall ist aber für die Feststellung von Gewohnheitsrecht schon deswegen wenig geeignet, weil der Libanon seit 1973 Mitglied der Haager Konvention und damit ohnehin schon vertraglich zu einem anderen Verhalten verpflichtet gewesen wäre. Dass diese Verpflichtung so gröblich missachtet wurde, liegt wohl an den Wirren des damaligen Bürgerkriegs und dem dadurch bedingten Fehlen einer verantwortlichen Regierung. Die Amal-Milliz ist für ihr Verhalten überdies von der Staatengemeinschaft derart heftig kritisiert worden, dass an seiner Völkerrechtswidrigkeit kaum 696 Dies ergibt sich aus einer Auswertung von Table 1.3 bei Evans, in: ders./ Murphy, S. 3 (18). 697 Zur Nichtverfolgung aus humanitären Gründen vgl. unten 4. Kapitel C. III. 1. a) bei Fn. 189. 698 Vgl. Murphy, Punishing, S. 110–113, Tables 5.1 und 5.2. 699 Vgl. Murphy, Punishing, S. 110–113, Tables 5.1 sowie Murphy, Punishing, S. 17, 116. 700 Mehr als ein Fünftel aller Flugzeugentführungen von 1977 bis 1982 betraf nach Kuba entführte US-Flugzeuge (vgl. Murphy, Punishing, S. 115, Table 5.4).
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Zweifel bestehen können.701 Auch als Algerien, das erst 1995 der Haager Konvention beitrat, 1988 den Entführern eines kuwaitischen Flugzeuges freies Geleit in ein Land ihrer Wahl zusicherte, handelte es sich um einen besonderen Fall. Die Entscheidung wurde zur unblutigen Beendigung einer äußerst brutalen Geiselnahme getroffen, nach dem die Entführer zuvor zwei Geiseln erschossen hatten und begannen, die verbliebenen Passagiere zu foltern. Die kuwaitische Regierung selbst dankte Algerien für dieses Verhalten.702 Auch die Reaktion der Staatengemeinschaft, wenn Flugzeugentführern safe havens gewährt wurden, stützt die Annahme eines gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“. Zu nennen ist hier namentlich die später mehrmals bekräftigte703 „Bonner Erklärung“ der Staats- und Regierungschefs der G 7 vom 17. Juli 1978, in der jedem Staat, der einen sich in seinem Territorium aufhaltenden Flugzeugentführer weder ausliefert noch strafrechtlich verfolgt, die sofortige Unterbrechung des Luftverkehrs angedroht wird.704 Anders als noch die unilaterale Sanktionsdrohung der USA im Anti-Hijacking Act von 1974,705 ist die Drohung der G 7 dem Wortlaut nach nicht auf Vertragsstaaten der Haager Konvention beschränkt.706 Die damit implizit behauptete Bindung von Nichtvertragsstaaten an ein „aut dedere – aut iudicare“ kann aber nur dem Gewohnheitsrecht entspringen.707 701 Vgl. zu dem ganzen Vorfall AdG 1985, S. 28903 ff. Umgekehrt kann aber auch die Verurteilung eines der Täter in Deutschland nicht als gewohnheitsrechtsbegründende Praxis angesehen werden, denn man bezog sich hier ausdrücklich auf die Haager Konvention (vgl. BGH, NJW 1991, S. 3104). 702 Vgl. zu dem Vorfall AdG 1988, S. 32081 f. 703 Vgl. die Erklärungen der Wirtschaftsgipfel von Ottawa 1981 (abgedr. in ILM 20 [1981], S. 956), Tokio 1986 (abgedr. in Europaarchiv 1986/2, S. D 311 f.) und Venedig 1987 (abgedr. in Europaarchiv 1987/2, S. D 345 f.). 704 Die Erklärung ist abgedr. in Europaarchiv 1978/2, S. D 468 und ILM 17 (1978), S. 1285. Die Erklärung von Venedig (Fn. 703) dehnt die Drohung auch auf Staaten aus, die den Täter eines Sabotageaktes nach der Montrealer Konvention weder ausliefern noch verfolgen. 705 Vgl. zum Anti-Hijacking Act Murphy, Punishing, S. 22. 706 Auch Muphy, Punishing, S. 134, Busuttil, ICLQ 1982, S. 474 (479 f.), Philipp, JZ 1978, S. 750 (752) und Chamberlain, ICLQ 1983, S. 616 (629 f.) gehen von ihrer Anwendbarkeit auf Nichtvertragsstaaten aus, a. A. dagegen wohl Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (320). Allerdings ist anzumerken, dass die G 7 bei der ersten Anwendung der Bonner Erklärung 1981 gegen Afghanistan ausdrücklich betonten, dass dieses Land Mitglied der Haager Konvention sei (vgl. die Erklärung von Ottawa, ILM 20 [1981], S. 956), und dass auch Südafrika, dem ebenfalls 1981 Sanktionen nach der Bonner Erklärung angedroht wurden (vgl. Busuttil, ICLQ 1982, S. 474 [474 f.]), die Haager Konvention damals bereits ratifiziert hatte. 707 So auch Murphy, Punishing, S. 134, der allerdings ebenso wie Busuttil, ICLQ 1982, S. 474 (479 f.) und Philipp, JZ 1978, S. 750 (752) die Existenz einer solchen Pflicht anzweifelt.
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Sie traf in der Staatengemeinschaft auf verbreitete Zustimmung; mehr als 50 Staaten haben ihre Unterstützung für die Bonner Erklärung bekundet.708 Damit kann festgehalten werden: Die Bereitschaft, Flugzeugentführer auch ohne vertragliche Verpflichtung auszuliefern oder strafrechtlich zu verfolgen, beziehungsweise ein solches Verhalten vom Zufluchtsstaat zu fordern, ist seit Ende der 1970er Jahre deutlich höher als bei anderen Terrordelikten. Dies verwundert kaum, ist die Zivilluftfahrt doch ein Rechtsgut, an dessen Schutz nahezu alle Staaten über die geographischen, kulturellen und politischen Grenzen hinweg ein unmittelbares Interesse haben. ff) UN-Resolutionen und andere Erklärungen Unzählige offizielle Erklärungen von Staaten, Staatengruppen und internationalen Organisationen beschäftigten sich bereits vor dem 11. September 2001 mit dem internationalen Terrorismus. Besonders repräsentativ für die Rechtsauffassung der Staatengemeinschaft sind dabei naturgemäß die Resolutionen der UN-Generalversammlung, in der nahezu alle Staaten der Erde vertreten sind.709 Seit ihrer Resolution 3034 (XXVII) vom 18. Dezember 1972 hat sich die Generalversammlung regelmäßig mit der Terrorismusbekämpfung befasst. Anfangs ging der Inhalt dieser Erklärungen, soweit er für die vorliegende Thematik relevant ist, aber kaum über eine in sehr allgemeinen Worten gehaltene Ermunterung zur verstärkten Kooperation hinaus.710 Konkretere Rechtspflichten wurden immer nur mit ausdrücklichem 708 Vgl. zu dieser Zahl Friedländer, EPIL IV, S. 847; auch Murphy, Punishing, S. 20 und Chamberlain, ICLQ 1983, S. 616 (627) heben die positive Reaktion vieler Staaten hervor. 709 Zur Relevanz von Resolutionen der UN-Generalversammlung für das Völkergewohnheitsrecht vgl. näher oben 1. a) cc) um Fn. 414. 710 Vgl. 2. Erwägungsgrund der Präambel von Res. 3034 (XXVII); 3. Erwägungsgrund der Präambel von Res. 34/145; 6. Erwägungsgrund Präambel von Res. 40/61. Weiter verwässert wurde die Haltung der UN-Generalversammlung im Kampf gegen den Terrorismus lange Zeit durch die Betonung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, des Bedürfnisses zur Beseitigung von Unterdrückung, Kolonialismus und Rassismus als Ursachen des Terrorismus sowie die Bezeichnung rassistischer oder kolonialistischer Regime als „terroristisch“ (vgl. bspw. Res. 3034 (XXVII), Ziff. 3 f.; Res. 34/145, 4. Erwägungsgrund der Präambel und Ziff. 4; Res. 40/61, 7. und 8. Erwägungsgrund der Präambel sowie Ziff. 9; Res. 42/159, 11. und 12. Erwägungsgrund der Präambel; Res. 44/29, 15. und 16. Erwägungsgrund der Präambel). Erst in den 1990er Jahren konnten sich die Staaten dazu durchringen, diese die Verurteilung des Terrorismus „relativierenden“ Elemente zu tilgen und auch im Titel der Resolutionen anstatt von „Mesures to prevent international terrorism which endagers or takes innocent human lives or jeopardizes fundamental freedoms and study of the underlying causes of those forms of terrorism and acts of violence which lie in misery, frustration, grievance and dispair and which cause
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Verweis auf die universell angelegten Antiterrorverträge angesprochen,711 zu deren Ratifikation die Generalversammlung regelmäßig alle Staaten aufforderte.712 Für ein gewohnheitsrechtliches und damit von der Ratifikation eines solchen Vertrages unabhängiges „aut dedere – aut iudicare“ sprach sich die Generalversammlung dagegen in keiner Resolution mit hinreichender Klarheit aus. Lediglich eine gewohnheitsrechtliche Pflicht, Terrorismus nicht aktiv zu unterstützen und den Missbrauch des eigenen Territoriums für die Vorbereitung zukünftiger Terroranschläge im Ausland nicht zu dulden, lässt sich ihren Resolutionen entnehmen.713 Ein solches aktives Unterstützen von Terrorgruppen beziehungsweise Dulden von Anschlagsvorbereitungen ist aber mehr als die bloße Nichtverfolgung/Nichtauslieferung der Täter eines bereits begangenen Terroraktes;714 ein „aut dedere – aut iudicare“ stützen die erwähnten Passagen deshalb nicht. Die bereits oben erwähnte Resolution 36/171 anlässlich der Auslieferung von Abu Eain spricht sogar deutlich gegen die Existenz einer derartigen opinio iuris innerhalb der Generalversammlung. Erst 1987 findet sich in Resolution 42/159 dann eine Stelle, die sich isoliert betrachtet als Bestätigung eines gewohnheitsrechtlichen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes liest.715 Allerdings zeigt die unmittelbar folgende Bestimmung, dass es sich hier nur um eine politische Absichtserklärung, nicht aber um den Ausdruck einer gewohnheitsrechtlichen opinio iuris handelte: Mittel zur Erreichung des vorstehend genannten Zieles soll nämlich der Abschluss neuer völkerrechtlicher Verträge sein.716 Dies deckt sich auch mit der Erklärung, die die sieben führenden Industriestaaten auf dem Wirtschaftsgipfel von Venedig im selben Jahr zum internationalen Terrorismus abgaben. Sie drohten dort lediglich im sachlich begrenzten Bereich der Angriffe auf die Zivilluftfahrt allen Staaten, die den Tätern Zuflucht gewähren, Sanktionen an;717 im Übrigen wird dagegen nur der „in einschlägigen internationalen Übereinkommen niedersome people to sacrifice human lives, including their own, in attempt to effect radical change“ nur noch kurz und bündig von „Mesures to eliminate international terrorism“ zu sprechen. 711 Vgl. Res. 34/145, Ziff. 11; Res. 40/61, 3. und 10. Erwägungsgrund der Präambel sowie Ziff. 7 und 8. 712 Vgl. Res. 3034 (XXVII), Ziff. 5; Res. 34/145, Ziff. 8; Res. 40/61, Ziff. 4. 713 Vgl. Res. 40/61, Ziff. 6 (so auch alle späteren Resolutionen). 714 Darauf wird unten unter II. 1. ab Fn. 825 noch näher eingegangen werden. 715 Res. 42/159, Ziff. 5: „Urges all States to fulfill their obligations under international law and to take effective and resolute measures for the speedy and final elimination of international terrorism and, to that end: [. . .] (b) To ensure the apprehension and prosecution or extradition of perpetrators of terrorist acts; [. . .].“ 716 Res. 42/159, Ziff. 5 (c): „To endavour to conclude special agreements to that effect on a bilateral, regional and multilateral basis.“ 717 Vgl. dazu oben ee) bei Fn. 704.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
gelegt[e] Grundsatz, diejenigen, die terroristische Gewalttaten verübt haben, im Einklang mit innerstaatlichen Rechtsvorschriften und jenen internationalen Übereinkünften vor Gericht zu stellen“ „bekräftigt“.718 Spätere Generalversammlungsresolutionen sowie die 1994 verabschiedete „Declaration on Measures to Eliminate International Terrorism“, die in der Literatur als „Meilenstein“ in der Terrorismusbekämpfung gefeiert wurde,719 verfolgen eine ähnliche Sprachregelung wie Resolution 42/159.720 Erst in der zweiten Hälfte der 1990er werden die Signale für ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“ etwas deutlicher.721 Allerdings hat die Generalversammlung auch jetzt immer wieder zum Beitritt zu den verschiedenen „aut dedere – aut iudicare“-Übereinkommen aufgefordert und dabei die Ausdehnung der Gerichtsbarkeit des Zufluchtsstaates auf den nichtausgelieferten Terroristen als bloße Umsetzung dieser Verträge dargestellt,722 was nicht gerade dafür spricht, dass entsprechende Pflichten jedem Staat ohnehin gewohnheitsrechtlich obliegen. Was den Sicherheitsrat angeht, so beginnt dessen eingehende Beschäftigung mit dem Terrorismus – von einigen vereinzelten Resolutionen abgesehen, die für die vorliegende Thematik nichts Interessantes enthalten723 – 718 Abgedruckt in Europaarchiv 1987/2, S. D 345 (Hervorhebung nicht im Original). 719 So bspw. von Tomuschat, EuGRZ 2001, S. 535 (538). 720 Vgl. Res. 44/29, Ziff. 4 (b) und (c); Res. 46/51, Ziff. 4 (b) und (c); Decl. on Measures to Eliminate Int. Terrorism (Annex zu Res. 49/60), Ziff. 5 (b) und (c) (ähnl. dort auch die Präambel, wo auf die allg. Aussage im 9. Erwägungsgrund „Convinced further that those responsible for acts of international terrorism must be brought to justice“ im 12. Erwägungsgrund eine Auflistung der „aut dedere – aut iudicare“-Abkommen folgt). 721 Vgl. insbes. Res. 50/53, Ziff. 5 („Also urges all States to strengthen cooperation with one another to ensure that those who participate in terrorist activities [. . .] find no safe haven anywhere“) und Ziff. 6, wo die Staaten nicht nur aufgefordert werden, bei der Terrorismusbekämpfung ihre entsprechenden völkervertraglichen Pflichten zu erfüllen, sondern auch „to observe fully the principles of international law“; Declaration to Supplement the 1994 Declaration on Measures to Eliminate International Terrorism (Annex zu Res. 51/210), Ziff. 5, wo es ohne ausdrücklichen Verweis auf bestimmte Verträge und auch mit Bezug auf die damals noch keinem vertraglichen „aut dedere – aut iudicare“ unterliegende Finanzierung von Terrorakten heißt: „The Member States of the United Nations reaffirm the importance of ensuring effective cooperation between Member States so that those who have participated in terrorist acts, including their financing, planning or incitement, are brought to justice; they stress their commitment, in conformity with the relevant provisions of international law, [. . .] to take all appropriate steps under their domestic laws either to extradite terrorists or to submit the cases to their competent authorities for the purpose of prosecution.“ 722 Vgl. Res. 51/210, Ziff. 6; Res. 53/108, Ziff. 7; Res. 55/158, Ziff. 7. 723 Vgl. Res. 286 (1970); 579 (1985) und 635 (1989).
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erst in den 1990er Jahren. In diesem Jahrzehnt nahm er sich aber gleich dreimal der Nichtauslieferung von Terroristen an: zuerst der Weigerung Libyens, die mutmaßlichen Lockerbie-Attentäter an die USA oder das Vereinigte Königreich auszuliefern, dann der Weigerung des Sudan, Personen, die 1995 in Äthiopien einen Anschlag auf den ägyptischen Staatspräsidenten Mubarak verübt hatten, an Äthiopien auszuliefern und schließlich der Weigerung der Taliban, Osama bin Laden und andere Drahtzieher der Anschläge auf US-Botschaften vom August 1998 an die USA auszuliefern. Dreimal ging der Sicherheitsrat nach demselben Muster vor: Zunächst wurden die Staaten in einer nicht bindenden Resolution aufgefordert, dem jeweiligen Auslieferungsverlangen nachzukommen,724 bevor sie dann schließlich in bindenden, auf Kapitel VII UN-Charta gestützten Resolutionen sogar dazu verpflichtet und mit Sanktionen belegt wurden.725 Welche Schlüsse lassen sich hieraus für ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“ gegenüber Terroristen ziehen? Befassen wir uns zunächst mit dem jeweils letzten Akt, den auf Kapitel VII UN-Charta gestützten Resolutionen. Ihnen lässt sich eindeutig entnehmen, dass der Sicherheitsrat die Nichtauslieferung der betreffenden Personen als friedensgefährdend betrachtete.726 Ob er in ihr aber auch einen Verstoß gegen Völker(gewohnheits)recht sah, ist eine andere Frage, denn eine Friedensbedrohung im Sinne von Artikel 39 UN-Charta setzt nicht unbedingt ein völkerrechtswidriges Verhalten voraus.727 Dass der Sicherheitsrat Libyen, den Sudan und Afghanistan durch einen für diese Staaten nach Artikel 25 UN-Charta verbindlichen Beschluss verpflichtet, bestimmte Personen auszuliefern, muss ebenfalls nicht bedeuten, dass er ein solches Verhalten schon zuvor für völkergewohnheitsrecht724 Vgl. Res. 731 (1992) zu „Lockerbie“, Res. 1044 (1996) zum Sudan und Res. 1214 (1998) zu Afghanistan. 725 Vgl. Res. 748 (1992) und 883 (1993) (jeweils insbes. 10. Erwägungsgrund der Präambeln und Ziff. 1) zu „Lockerbie“, Res. 1054 (1996) (insbes. 11. Erwägungsgrund der Präambel sowie Ziff. 1) und 1070 (1996) (insbes. 12. Erwägungsgrund der Präambel sowie Ziff. 1) zum Sudan sowie Res. 1267 (1999) und 1333 (2000) (jeweils insbes. letzter Erwägungsgrund der Präambeln und Ziff. 1) zu Afghanistan. Die zu Afghanistan und dem Sudan genannten Resolutionen verpflichteten diese Staaten über den konkreten Einzelfall hinaus auch ganz allgemein, Terroristen keine sichere Zuflucht zu gewähren (vgl. Res. 1054 (1996), Ziff. 2; Res. 1070 (1996), Ziff. 3; Res. 1267 (1999), Ziff. 2; Res. 1333 (2000), Ziff. 2). 726 Vgl. Res. 748 (1992) (7. Erwägungsgrund der Präambel); Res. 883 (1993) (6. Erwägungsgrund der Präambel); Res. 1054 (1996) (10. Erwägungsgrund der Präambel); Res. 1070 (1996) (insbes. 11. Erwägungsgrund der Präambel); Res. 1267 (1999) (8. Erwägungsgrund der Präambel); Res. 1333 (2000) (14. Erwägungsgrund der Präambel). 727 Vgl. Frowein/Krisch, in: Simma, UN-Charter, Art. 39 Rn. 9; dem Grunde nach auch Kelsen, The Law of the United Nations, S. 294 f. und 735 f.; diff. Herdegen, UN-Sicherheitsrat, S. 20 ff. Näher dazu unten C. I.
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lich geboten hielt.728 Bezüglich Libyens und des Sudan kommt hinzu, dass sich für diese Staaten in den betreffenden Fällen ohnehin aus der Montrealer Konvention729 beziehungsweise der UN-Diplomatenschutzkonvention730 vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Pflichten ergaben; sollte der Sicherheitsrat im Verhalten dieser beiden Staaten einen Völkerrechtsverstoß erblickt haben, bezog sich dieses Urteil somit wohl eher auf Vertrags- als auf Gewohnheitsrecht. Dieser Umstand verhindert es auch, die nicht bindenden Resolutionen 731 (1992) gegenüber Libyen und 1044 (1996) gegenüber dem Sudan insoweit als Indiz für ein völkergewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“ zu betrachten, als sie sich mit den ihnen konkret zugrunde liegenden Fällen befassen. Die letztgenannte Resolution nimmt sogar ausdrücklich auf die UN-Diplomatenschutzkonvention sowie einen sudanesisch-äthiopischen Auslieferungsvertrag Bezug.731 Wenn der Sicherheitsrat in ihr und in der ebenfalls nicht bindenden Resolution 1214 (1998) allerdings den Sudan beziehungsweise Afghanistan auch über den konkreten Fall hinaus auffordert, „Terroristen“ generell keine sichere Zuflucht zu bieten,732 kann sich dies in dieser Allgemeinheit nicht auf vertragliche Pflichten beziehen.733 Ja, für Afghanistan bestand nicht einmal hinsichtlich des konkreten Anlasses der Resolution – der Nichtauslieferung Osama bin Ladens für Anschläge auf US-Botschaften – ein vertragliches 728 Zur Befugnis des Sicherheitsrates, neue Rechtspflichten zu begründen vgl. Frowein/Krisch, in: Simma, UN-Charter, Art. 41 Rn. 17; Kelsen, The Law of the United Nations, S. 294 f. und 736. Näher dazu unten C. II. 729 Libyen bestritt auch nicht, dass es die Beschuldigten ausliefern oder strafrechtlich verfolgen muss (vgl. den Brief des libyschen UN-Botschafters an den UNGeneralsekretär, 18.01.1992, ILM 31 [1992], S. 728 ff.) Strittig war lediglich, ob angesichts der mutmaßlichen Verwicklung höchster Regierungskreise in das Lockerbie-Attentat nicht eine Pflicht gerade zur Auslieferung an das Vereinigte Königreich bzw. die USA – unter Ausschluss der Strafverfolgung in Libyen – besteht (vgl. hierzu auch oben 1. Kap. Fn. 92 und ausf. unten 4. Kapitel B. VI.). 730 Dies galt jedenfalls im Verhältnis zu Ägypten, dessen Staatschef Ziel des Anschlagsversuches war: Die UN-Diplomatenschutzkonvention, deren Inhalt oben unter A. I. 3. b) dargestellt wurde, trat für Ägypten am 25.07.1986 und für den Sudan am 09.11.1994 in Kraft, während Äthiopien ihr zum Zeitpunkt des Attentats auf Mubarak noch nicht beigetreten war. 731 Vgl. Res. 1044 (1996), Ziff. 4 (a) und 3. Erwägungsgrund der Präambel. 732 Vgl. Res. 1044 (1996), Ziff. 4 (b); Res. 1214 (1998), Ziff. 13. Dagegen ist die Aufnahme derselben allgemeinen Forderung in die auf Kapitel VII UN-Charta gestützten, bindenden Resolutionen gegenüber dem Sudan und Afghanistan (vgl. oben Fn. 725) kein Indiz für ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“: Die entsprechende Rechtspflicht könnte hier vom Sicherheitsrat auch gemäß Art. 41, 25 UN-Charta erst mit der jeweiligen Resolution neu begründet worden sein. 733 Dazu, dass bislang kein globales „aut dedere – aut iudicare“-Abkommen den „Terrorismus“ schlechthin in allen seinen Erscheinungsformen erfasst vgl. oben A. I. 1.
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„aut dedere – aut iudicare“, denn es war zum fraglichen Zeitpunkt nicht Mitglied der UN-Diplomatenschutzkonvention.734 Eine weiteres Beispiel, in dem der Sicherheitsrat in einer nicht auf Kapitel VII gestützten Resolution über die vertraglich geregelten Teilbereiche hinaus ein umfassendes „aut dedere – aut iudicare“ postulierte, ist Resolution 1269 (1999).735 Da diese drei Resolutionen wegen ihres unverbindlichen Charakters aber nicht selbst Grundlage der genannten Rechtspflichten sein können, käme als solche wohl nur das Völkergewohnheitrecht in Betracht. Andererseits aber bittet Resolution 1269 (1999) – wie schon mehere Generalversammlungsresolutionen – die Staaten eindringlich, den ein „aut dedere – aut iudicare“ vorsehenden Antiterrorübereinkommen beizutreten,736 misst jenen also wohl mehr als nur deklaratorische Bedeutung bei. Damit bleibt festzuhalten: Die Beschlüsse der Vereinten Nationen vor dem 11. September 2001 senden widersprüchliche Signale. Während sich in neueren Texten einige Stellen als Befürwortung eines gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“ für Terrorismus lesen, betonen andere die Bedeutung entsprechender Vertragsvorschriften. Zusätzlich geschwächt werden die Indizien für Gewohnheitsrecht durch die Konferenz zur Schaffung des ICC. Hauptgrund, den Terrorismus entgegen der Vorbereitungsarbeiten letztlich doch nicht dessen Gerichtsbarkeit zu unterstellen, waren Bedenken hinsichtlich der gewohnheitsrechtlichen Geltung dieses Straftatbestandes.737 Obwohl die internationale Strafgerichtsbarkeit und das „aut dedere – aut iudicare“ zwei unterschiedliche Einrichtungen sind, so dass die Aufnahme oder Nichtaufnahme eines Delikts in das Statut von Rom grundsätzlich neutral gegenüber einem Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot ist, muss hier aus den konkreten Umständen der Nichtaufnahme doch geschlossen werden, dass die Staaten 1998 in ihrer Mehrheit die Verfolgungs- und Auslieferungspflichten bezüglich von Terroristen für rein vertraglich hielten.
734 Insofern macht der in diesen Resolutionen dennoch enthaltene Verweis auf vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Pflichten (vgl. Res. 1267 [1999], 4. Erwägungsgrund der Präambel und Res. 1333 [2000], 6. Erwägungsgrund der Präambel) keinen rechten Sinn. 735 Dort heißt es in Ziff. 4: „[Der Sicherheitsrat] Calls upon all States to take [. . .] appropriate steps to: [. . .] deny those who plan, finance or commit terrorist acts safe havens by ensuring their apprehension and prosecution or extradition.“ 736 Vgl. Res. 1269 (1999), Ziff. 2. 737 Vgl. Zimmermann, in: Triffterer, Art. 5 Rn. 1; Robinson, in: Cassese/Gaeta/ Jones, S. 497 (506).
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
gg) Resümee Damit ist festzuhalten: Die Staatenpraxis vor dem 11. September 2001 stützt die Existenz eines gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“ für Terroristen nicht. Zwar gab es sicherlich neben den hier vorgestellten Fällen der Nichtauslieferung und Nichtverfolgung auch viele – möglicherweise sogar zahlreichere – Beispiele für die Befolgung der Maxime „aut dedere – aut iudicare“. Darauf kommt es aber nicht an. Die vorstehend untersuchte Praxis zeigt, dass in einer ausreichend repräsentativen Zahl von Fällen gerade eben nicht so gehandelt wurde, wenn keine vertragliche Verpflichtung bestand und es dem Zufluchtsstaat genehm erschien, den „Terroristen“ ungeschoren davonkommen zu lassen. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass die zum Nachweis eines Gewohnheitsrechtssatzes gemäß Artikel 38 Absatz 1 b) IGH-Statut erforderliche allgemeine Übung keinesfalls „rigoureusement conforme à cette règle“ sein muss, so wurde hier dennoch ausreichend abweichende Staatenpraxis aufgeführt, um nicht mehr davon sprechen zu können, „que les Etats y conforment leur conduite d’une manière générale et qu’ils traitent eux-mêmes les comportements non conformes [. . .] comme des violations [. . .]“.738 Im Gegenteil: Der BGH hat die Aufnahme von Terroristen in der DDR sogar ausdrücklich als völkerrechtsgemäß bezeichnet. Auch in Resolutionen von UN-Generalversammlung und Sicherheitsrat, die ohnehin nicht für sich allein genommen Völkergewohnheitsrecht erzeugen können,739 finden sich nur schwache und widersprüchliche Hinweise auf ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“, die überdies durch die Vorgänge bei Gründung des ICC erheblich entkräftet werden. Nur die USA haben seit Beginn der 1980er Jahre ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“ für Terroristen propagiert. Dass auch sie dennoch einige PIRA-Kämpfer weder auslieferten noch strafrechtlich verfolgten, da die erkennenden Gerichte in ihnen offenbar keine „Terroristen“ sahen, zeigt, wie wenig selbst dieses grundsätzliche Bekenntnis angesichts des Fehlens einer allgemein anerkannten Terrorismusdefinition in der Praxis weiterhilft. Eine Ausnahme scheint aber für den Bereich der Flugzeugentführungen angebracht. Hier spricht in der Tat einiges für ein gewohnheitsrechtliches Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot: Im wichtigsten nicht von der Haager Konvention geregelten Komplex – den Flugzeugentführungen aus den USA nach Kuba – hat Kuba auch zwischen der Kündigung des bilateralen „aut dedere – aut iudicare“-Vertrages mit den USA und dem Beitritt 738
Vgl. zu diesen Anforderungen an die Staatenpraxis IGH, Affaire des activités militaires et paramilitaires au Nicaragua et contre celui-ci, ICJ Rep. 1986, S. 14 (98). 739 Vgl. zur Relevanz von UN-Resolutionen für das Völkergewohnheitsrecht oben 1. a) cc) um Fn. 414.
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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zur Haager Konvention am 23. November 2001 nach dieser Maxime gehandelt. Und die Sanktionsdrohungen der führenden Industriestaaten gegenüber Staaten, die Flugzeugentführern Asyl gewähren, sind in der Staatengemeinschaft auf ein positives Echo gestoßen, obwohl sie nicht auf Mitglieder der Haager Konvention beschränkt waren. b) Die Auswirkungen des 11. Septembers 2001 Der 11. September 2001 stellte eine Zäsur in der Terrorismusbekämpfung dar: Motiviert von den schlimmsten zivilen Verlusten, die sie seit dem Sezessionskrieg an einem einzigen Tag erlitten hatte, setzt nun die einzig verbliebene Supermacht den kompromisslosen Kampf gegen den Terror an die oberste Stelle ihrer Agenda. Wie sich dieser ungeheuere politische Druck auf die „allgemeine Übung“ der Staaten bei der Auslieferung oder Strafverfolgung von Terroristen ausgewirkt hat, soll im Folgenden untersucht werden. aa) Die Bemühungen um die Auslieferung bin Ladens Die USA machten nach den Anschlägen von New York und Washington schnell klar, was sie von Afghanistan erwarteten: die sofortige Auslieferung aller sich dort aufhaltenden Verantwortlichen.740 Dies geht noch über ein „aut dedere – aut iudicare“ hinaus, denn das Angebot der Taliban, bin Laden selbst vor Gericht zu stellen, wurde abgelehnt.741 Viele Staaten unterstützten diese Haltung. So ließ Frankreichs Präsident Chirac bei Beginn der Kampfhandlungen gegen Afghanistan verlauten: „Die Weigerung des Talibanregimes, Bin Laden und die Attentäter auszuliefern, nötigt die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten heute zu Operationen in Afghanistan.“742
Aber auch das pakistanische Staatsoberhaupt Musharraf, bis dahin einer der treusten Unterstützer der Taliban, hatte diese nach eigenem Bekunden dazu gedrängt, die Auslieferungsforderung der USA zu erfüllen.743 740 Vgl. die Rede von Präsident Bush vor dem US-Kongress am 20.11.2001: „[. . .] heute Abend fordern die Vereinigten Staaten von Amerika Folgendes von den Taliban: Liefern Sie den Vereinigten Staaten alle führenden Mitglieder von AlQuaida aus, die sich in ihrem Land verstecken. [. . .]“ (zit. nach AdG 2001, S. 45191 f.). 741 Vgl. zu diesem Vorgang AdG 2001, S. 45196 sowie Murphy, AJIL 96 (2002), S. 237 (245, 248). 742 Stellungnahme von Präsident Chirac, 07.11.2001, zit. nach AdG 2001, S. 45247. 743 Vgl. AdG 2001, S. 45248.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
Diese Rechtsauffassung hätte eigentlich unproblematisch auf die Resolution 1267 des UN-Sicherheitsrates von 1999 gestützt werden können. Bereits damals war aufgrund Kapitel VII UN-Charta angeordnet worden, dass die Taliban Osama bin Laden wegen der Anschläge auf die US-Botschaften in Nairobi und Dar es Salam ausliefern müssen.744 Soweit ersichtlich, nahm aber zunächst keiner der maßgeblichen Akteure auf diese „alte“ Auslieferungspflicht Bezug.745 Dass Afghanistan als Mitgliedstaat der Montrealer Konvention Osama bin Laden schon aufgrund des Völkervertragsrechts ausliefern oder strafrechtlich verfolgen musste, da am 11. September 2001 neben dem World Trade Center und dem Pentagon auch vier Passagierflugzeuge zerstört worden waren,746 sah wohl ebenfalls niemand als den entscheidenden Umstand an. Die politische Rhetorik deutet im Gegenteil darauf hin, dass es um mehr als die Einforderung von Vertragspflichten ging. Man formulierte so, als würde von den Taliban nur verlangt, was jedes rechtstreue Mitglied der internationalen Gemeinschaft leisten müsse – wofür als Rechtsgrundlage dann aber nur das universelle Völkergewohnheitsrecht in Betracht kommt. So urteilte der britische Premierminister Blair am 14. September 2001 vor dem Unterhaus in Anlehnung an das althergebrachte völkergewohnheitsrechtliche Unwerturteil gegenüber Seeräubern: „Mit ihrem Handeln haben sich diese Terroristen und ihre Hintermänner zu Feinden der zivilisierten Welt gemacht.“
Er geht sogar noch über die klassische Rechtslage in Bezug auf Piraten, deren universelle Verfolgung zwar erlaubt, aber nicht geboten war,747 hinaus: „[. . .] diejenigen, die ihnen Unterschlupf gewähren [. . .], [stehen] vor der Wahl: Entweder sie hören auf, unsere Feinde zu beschützen, oder sie werden selbst als Feinde behandelt.“748 744
Vgl. dazu näher unten C. I. und II. Erst am 16. Januar 2002 wurde sie vom UN-Sicherheitsrat selbst in Res. 1390 wieder erwähnt. 746 Damit war bin Laden ein Teilnehmer i. S. v. Art. 1 II b) Montrealer Konvention an der Zerstörung eines sich „im Einsatz“ befindenden Luftfahrtzeuges gemäß Art. 1 I b) dieses Vertrages. Da sich alle Maschinen auf Flügen innerhalb der USA befanden, ergibt sich das für die Anwendbarkeit der Montrealer Konvention erforderliche „internationale Element“ zwar nicht nach deren Art. 4 II aus der Natur der betroffenen Flüge, wohl aber nach Art. 4 III daraus, dass sich der mutmaßliche Teilnehmer bin Laden außerhalb des Tatortstaates aufhält (vgl. dazu auch Greenwood, Int. Aff. 78 [2002], S. 301 [303]). Wegen der vorangegangenen Entführung dieser Flugzeuge unterlag Afghanistan dagegen keinem vertraglichen „aut dedere – aut iudicare“: Zwar hatte es die Haager Konvention ratifiziert, diese erfasst aber nur die „an Bord“ des Flugzeuges handelnden Täter oder Teilnehmer, nicht dagegen einen vom Boden aus agierenden Hintermann wie bin Laden (vgl. oben Fn. 288; insofern unzutreffend Greenwood, Int. Aff. 78 [2002], S. 301 [303]). 747 Vgl. dazu oben 2. Kapitel G. I. 745
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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Die Haltung der Staatengemeinschaft gegenüber Afghanistan als dem Zufluchtsstaat der Hintermänner des 11. Septembers deutet somit nicht nur auf ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“, sondern sogar auf eine gewohnheitsrechtliche Auslieferungspflicht gegenüber Terroristen hin – jedenfalls dann, wenn berechtigte Zweifel an der „Neutralität“ des Zufluchtsstaates gegenüber der betreffenden Terrorgruppe bestehen. bb) Allgemein gegen den Terrorismus gerichtete Erklärungen von Staaten Aber auch über die konkrete Forderung nach der Auslieferung von bin Laden und seiner Helfer hinaus machten die USA deutlich, dass es für alle Terroristen nirgendwo sichere Zuflucht geben dürfe. So sagte Präsident Bush am 10. Oktober 2001 vor der UN-Generalversammlung: „Und wenn wir die Terroristen finden, müssen wir zusammenarbeiten, um sie der Gerechtigkeit zuzuführen. Wir haben die Verantwortung, den Terroristen jegliche Zuflucht, jeglichen Unterschlupf und jegliche Durchreise zu verwehren.“749
Diese Forderung ist nicht auf bestimmte Terrorgruppen oder bestimmte terroristische Anschlagsformen beschränkt. Bush hebt vielmehr eindeutig hervor, dass er allen „Terroristen“ auf der ganzen Welt den Kampf ansage; „gute“ Terroristen gebe es nicht.750 Die Absolutheit, mit der er jeden Staat hierbei in die Pflicht nimmt,751 lässt nur einen Schluss zu: Die USA berufen sich auf universelles Völkergewohnheitsrecht – wie es schon oben anlässlich früherer Fälle festgestellt werden konnte. Haben sich aber nach dem 11. September 2001 nun auch andere Staaten dieser Auffassung über den konkreten Einzelfall „bin Laden“ hinaus angeschlossen? In der westlichen Hemisphäre war dies jedenfalls auf der Ebene politischer Erklärungen der Fall. So bekräftigten die EU-Staaten im Herbst 2001 mehrmals ganz allgemein, dass kein Staat Terroristen sichere Zuflucht bieten dürfe,752 und ähnlich äußerten sich auch die Mitgliedstaaten der OAS.753 Ob aber auch die nahezu alle Staaten der Erde umfassende UNGeneralversammlung diese Position teilt, ist schwerer zu beurteilen. Die un748
Beide Zitate nach AdG 2001, S. 45187. Zitiert nach AdG 2001, S. 45345. 750 Vgl. AdG 2001, S. 45345 (Hervorhebung nicht im Original). 751 „Diese Verpflichtungen sind dringlich, und sie sind für jedes Land mit einem Platz in diesem Saal verbindlich.“ (zitiert nach AdG 2001, S. 45345.) 752 Vgl. die gemeinsame Erklärung der Staats- und Regierungschefs der EU, der Präsidenten von Europäischem Parlament und Kommission sowie des Hohen Vertreters für die GASP vom 14.09.2001 (abgedruckt in ILM 40 [2001], S. 1255), in der es heißt: „It is not tolerable for any country to harbour terrorists.“ Vgl. ferner Art. 6 des gemeinsamen Standpunkts des Rates vom 27.12.2001 (Abl. EG L 344/90). 749
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
mittelbar nach den Anschlägen von New York und Washington verabschiedete, überaus kurze Resolution 56/1 deutet darauf hin, denn sie fordert die Staaten nicht nur in Ziffer 3 zur Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung der konkreten Täter des 11. Septembers auf, sondern verlangt in Ziffer 4 auch ganz allgemein, dass Terroristen kein Asyl gewährt werden dürfe. In Ziffer 7 der umfangreicheren Resolution 56/88 findet sich dann aber wieder die schon aus früheren Resolutionen bekannte Aufforderung, den „aut dedere – aut iudicare“-Abkommen beizutreten und in deren Umsetzung die Gerichtsbarkeit auf Personen zu erstrecken, die im Ausland Terroranschläge begangen haben.754 Die Betonung des vertragsrechtlichen Aspektes des „aut dedere – aut iudicare“ spricht auch jetzt nicht gerade für eine gewohnheitsrechtliche Geltung dieser Maxime. Anders dann jedoch kurz darauf Resolution 56/160: In ihr betonen die Staaten ohne einen Verweis auf vertragliche „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen „[. . .] the importance of Member States taking appropriate steps to deny safe havens to those who plan, finance or commit terrorist acts by ensuring their apprehension and prosecution or extradition.“755
Die späteren Resolutionen 57/27 und 58/81 übernehmen allerdings wieder wörtlich die Hervorhebung vertraglicher Geltungsgründe des „aut dedere – aut iudicare“ aus Resolution 56/88.756 Aufforderungen zur Ratifikation der verschiedenen Antiterrorverträge finden sich auch in den Resolutionen 1373 (2001) und 1377 (2001) des UN-Sicherheitsrates.757 Dieser beschließt in Resolution 1373 (2001) aber ferner cc) [. . .] that all States shall (c) Deny safe haven to those who finance, plan, support, or commit terrorist acts, or provide safe havens 753 Sie betonen in der OAS-Resolution „On Strengthening Hemispheric Cooperation To Prevent, Combat, And Eliminate Terrorism“, 21.09.2001, 18. Erwägungsgrund der Präambel (abgedruckt in ILM 40 [2001], S. 1270 [1271]) „[. . .] the responsibility of all states to cooperate in [. . .] prosecuting, and punishing all those responsible for terrorist acts, [. . .]“ und beschlossen am selben Tag in der OAS-Resolution „On Terrorist Threat To The Americas“, Ziff. 2, (abgedruckt in ILM 40 [2001], S. 1273 f.) „[t]hat, if a State Party has reasons to believe that persons in its territory [. . .] may [. . .] be involved in terrorist activities, such State Party shall use all legally available measures to pursue, capture, extradite and punish those individuals.“ 754 Hervorhebung nicht im Original. 755 Präambel, 21. Erwägungsgrund; vgl. auch Ziff. 7 („Urges all States to deny safe havens to terrorists“). 756 Vgl. die Ziff. 7 und 9 von GA-Res. 57/27 sowie 58/81 mit den Ziff. 7 und 9 von GA-Res. 56/88. 757 Vgl. Ziff. 3 (d) der Res. 1373 (2001); Res. 1377 (2001), Annex, 10. Abs.
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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Hier kommt unmissverständlich zum Ausdruck, dass kein Staat Terroristen sichere Zuflucht bieten darf, diese also entweder strafrechtlich zu verfolgen758 oder an andere Staaten auszuliefern759 sind. Fraglich sind nur zwei Dinge: Auf welche Rechtsgrundlage wird diese Pflicht gestützt? Und: Wer ist „Terrorist“? Betrachten wir zunächst die Rechtsgrundlage der Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflicht: Resolution 1373 ist explizit auf Kapitel VII der UNCharta gestützt760 und somit gemäß Artikel 25 UN-Charta für alle UN-Mitgliedstaaten verbindlich. Grundlage des in ihr angeordneten „aut dedere – aut iudicare“ ist somit die UN-Charta, also das Völkervertragsrecht. Wie schon hinsichtlich der älteren Resolutionen 748, 1054 und 1267, die Libyen, den Sudan und Afghanistan zur Auslieferung bestimmter Terroristen verpflichteten,761 festgestellt wurde, spricht die Anordnung einer Pflicht durch den UN-Sicherheitsrat nicht zwingend dafür, dass dieselbe Pflicht schon vorher völkergewohnheitsrechtlich galt. Die Beweiskraft von Resolution 1373 für eine allgemeine opinio iuris der Staatengemeinschaft wird ferner durch die Umstände ihres Zustandekommens gemindert. Der Entwurf wurde von den USA am 27. September 2001, also nur 16 Tage nach dem 11. September, ohne Absprache mit den nichtständigen Sicherheitsratsmitgliedern eingebracht und bereits einen Tag später zur Abstimmung gestellt. Die kurze Überlegungsfrist sowie die zeitliche und räumliche Nähe zu den Anschlägen – die sich ja in unmittelbarer Nähe des UN-Gebäudes ereignet hatten – lassen Zweifel aufkommen, ob sich die Staatenvertreter völlig der Tragweite dieses Textes bewusst waren.762 Von großer Bedeutung ist deshalb, dass auch Resolution 1377 (2001) die Strafverfolgung oder Auslieferung von Terroristen fordert, denn hier betrug der zeitliche Abstand zum 11. September mehr als zwei Monate, sie ist kein schon nach der UN-Charta verbindlicher Beschluss, und sie wurde auf Ministerebene beschlossen, was eine reifliche Reflexion über den Text vermuten lässt. Allerdings deutet die Formulierung „Calls on all States to take urgent steps to implement fully resolution 1373 (2001) [. . .] and underlines the obligation on States to deny 758 Vgl. auch Res. 1373 (2001), Ziff. 2 (e), wonach alle Staaten sicherstellen müssen, „that any person who participates in the financing, planning, preparation or perpetration of terrorist acts or in supporting terrorist acts is brought to justice [. . .].“. 759 Vgl. hierzu auch die (nicht bindende) Ziff. 3 (g) der Res. 1373 (2001), die alle Staaten auffordert, Terroristen nicht in den Genuss der „political offence exception“ des Auslieferungsrechts kommen zu lassen. 760 Vgl. Res. 1373 (2001), 10. Erwägungsgrund der Präambel. 761 Vgl. dazu oben a) ff) bei Fn. 728 und unten C. II. 762 Ähnl. auch Finke/Wandscher, VN 2001, S. 168 (171); Szasz, AJIL 96 (2002), S. 901 (905); Aston, ZaöRV 2002, S. 257 (266).
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
[. . .] safe havens“763 darauf hin, dass die beteiligten Staaten sich auch hier nicht auf Völkergewohnheitsrecht bezogen, sondern nur an die vertragsrechtlichen Pflichten aus Resolution 1373 (2001) erinnern wollten. Wer „Terrorist“ ist, bleibt in beiden genannten Sicherheitsratsbeschlüssen im Dunkeln: Weder Resolution 1373, noch Resolution 1377, noch irgendein anderer Sicherheitsratsbeschluss enthalten eine Definition. Dies ist keineswegs eine „unplanmäßige“ Lücke. Die Initiatoren von Resolution 1373 hatten bewusst hierauf verzichtet, weil sie ansonsten ein Scheitern ihres Vorschlags befürchteten.764 Dieses stillschweigende „agreement to disagree“ über das zentrale Tatbestandsmerkmal des in Resolution 1373 (2001) aufgrund der UN-Charta angeordneten „aut dedere – aut iudicare“ für Terroristen hat letztlich zur Folge, dass jeder Staat selbst entscheiden kann, wer „Terrorist“ und wer „Freiheitskämpfer“ ist.765 Die Gefahr politischer Willkür ist hier in der Literatur nicht zu Unrecht angeprangert worden.766 cc) Die weitere Staatenpraxis bei der Auslieferung oder Strafverfolgung von Terroristen Im Gegensatz zu den bislang erwähnten „speech acts“ ist die „echte“ Strafverfolgungs- und Auslieferungspraxis der Staaten schwer zu fassen. Schon oben wurde auf das Fehlen systematisch aufgearbeiteten Datenmaterials über das Schicksal flüchtiger Terroristen hingewiesen. Seit dem 11. September 2001 hat sich die Situation diesbezüglich noch einmal verschärft, denn in Amerikas „Krieg gegen den Terror“ überwiegen das militärische und geheimdienstliche Element deutlich die Bemühungen um eine „normale“ Strafverfolgung beziehungsweise Auslieferung; Festnahme und zwischenstaatliche Überstellung der Betroffenen erfolgen deshalb häufig unter großer Geheimhaltung.767 Dennoch lässt sich feststellen: Diejenigen, die der Mitgliedschaft in Al-Quaida oder ihr nahe stehender Organisationen 763
Annex zu Res. 1377, 11. Abs. Vgl. Rosand, AJIL 97 (2003), S. 333 (334, Fn. 7); zu weiteren in jüngster Zeit gescheiterten Versuchen einer allgemein konsentierten Definition Guillaume, ICLQ 2004, S. 537 (540). 765 Ähnl. auch Rosand, AJIL 97 (2003); S. 333 (339 f.); Aston, ZaöRV 2002, S. 257 (288); Guillaume, ICLQ 2004, S. 537 (540). 766 So bspw. von Aston, ZaöRV 2002, S. 257 (285 f.); ähnl. auch Guillaume, ICLQ 2004, S. 537 (540). 767 Vgl. auch Mégret, EJIL 2003, S. 327 (342 f.); Stahn, ZaöRV 2002, S. 183 (187 f.). Entsprechend ist auch die wissenschaftliche Debatte mehr von Problemen des Selbstverteidigungsrechts, des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte geprägt, als von der Frage einer Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflicht (vgl. nur den Literaturüberblick bei Stahn, ZaöRV 2002, S. 183 [184, Fn. 1]). 764
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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verdächtig sind, werden wohl von nahezu allen Staaten der Erde in großem Umfang verfolgt. In unmittelbarem Zusammenhang mit den Anschlägen von New York und Washington wurden mehr als 40 Personen außerhalb der USA verhaftet. Die festnehmenden Länder waren teilweise Verbündete der USA, die mit diesen schon vorher Rechtshilfe- und Auslieferungsabkommen abgeschlossen hatten, teilweise aber auch Staaten wie der Jemen und Syrien, die bislang eher für ihre weiche Linie gegenüber Terroristen bekannt waren.768 Auch über den Vorwurf einer konkreten Beteiligung an den Anschlägen des 11. Septembers 2001 hinaus sind mutmaßliche AlQuaida-Mitglieder auf der ganzen Welt in großem Ausmaß verfolgt worden. Schon Ende November 2001 saßen über 360 von ihnen in circa 50 Staaten in Haft.769 Das Vereinigte Königreich, das bereits vor dem 11. September 2001 drei mutmaßliche Al-Quaida-Mitglieder wegen ihrer Verwicklung in die Anschläge auf US-Botschaften in Kenia und Tansania festgenommen hatte, legte seinen Auslieferungsvertrag mit den USA nun sehr weit aus, um deren Auslieferung zu ermöglichen: Dieser erlaube nicht nur die Auslieferung an den Tatortstaat, sondern auch an andere Staaten, sofern das Vereinigte Königreich unter vergleichbaren Umständen ebenfalls extraterritoriale Strafgewalt ausüben würde.770 Die Begründung lässt an einigen Stellen vermuten, dass die Lordrichter mit dieser extensiven Interpretation den Auslieferungsvertrag in Einklang mit den von ihnen angenommenen allgemeinen völkerrechtlichen Rechtspflichten bei der Terrorbekämpfung bringen wollten.771 Aber nicht nur Verbündete und Freunde der USA gingen nun gegen Al-Quaida vor, sondern auch solche Staaten, deren schlechte Beziehungen zu Washington notorisch sind. Der Iran etwa lehnte es zwar ab, die sich in seinem Territorium aufhaltenden Al-Quaida-Mitglieder an die 768 Vgl. Murphy, EJIL 2003, S. 347 (356); zur Festnahme eines Verdächtigen durch Syrien Frowein, ZaöRV 2002, S. 879 (880). Nach einer Fernsehansprache von US-Präsident Bush hatten Anfang November 2001 bereits 38 Länder Terroristen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem 11. September verhaftet (vgl. AdG 2001, S. 45245). 769 Vgl. Murphy, EJIL 2003, S. 347 (356). 770 Re Al-Fawwaz, Re Eiderous and another, [2002] 1 All ER, S. 545 (Lord Slynn, S. 554, Lord Hutton, S. 562). 771 Lord Millet etwa vermeint aus der Staatenpraxis folgendes lesen zu können: „[. . .] increasingly, in modern times in order to combat [. . .] terrorism, it has been recognised by democratic states that extraterritorial jurisdiction should be taken by individual states over certain crimes.“ (Re Al-Fawwaz, Re Eiderous and another, [2002] 1 All ER, S. 545 [559]). Dabei geht es ihm nicht nur um die UN-Diplomatenschutzkonvention: „I should not, however, wish it to be thought that the inclusion of internationally protected persons among the potential victims is necessary to found the jurisdiction.“ (Re Al-Fawwaz, Re Eiderous and another, [2002] 1 All ER, S. 545 [577]). Zur Berücksichtigung vertragsexterner Normen bei der Vertragsauslegung vgl. Art. 31 III c) WVRK.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
USA auszuliefern. Auslieferungen, so ein Regierungssprecher in Teheran, könnten nur an Länder erfolgen, mit denen man entweder einen Auslieferungsvertrag geschlossen habe oder befreundet sei; im Falle der USA treffe weder das eine noch das andere zu. Allerdings habe der Iran schon etwa 500 Al-Quaida-Verdächtige an andere Staaten ausgeliefert und werde die übrigen selbst vor Gericht stellen.772 Deutlich geringere Zahlen hat der Iran dann im November 2003 den UN übermittelt, aber auch aus ihnen ergibt sich, dass gegenüber Al-Quaida das Prinzip „aut dedere – aut iudicare“ befolgt wird: Es ist von 225 mutmaßlichen Al-Quaida-Mitgliedern im Iran die Rede, von denen 78 ausgeliefert worden seien und 147 zur Zeit strafrechtlich verfolgt würden.773 Wenn also selbst den USA eher feindselig gesinnte Staaten die Terroristen um Osama bin Laden ausliefern oder strafrechtlich verfolgen, kann dann nun endlich von einer „allgemeinen Übung“ hinsichtlich eines „aut dedere – aut iudicare“ die Rede sein? Trotz hoffnungsvoller Ansätze sind wir wohl noch nicht soweit: Alle genannten Beispiele beziehen sich auf mutmaßliche Al-Quaida-Mitglieder. Die große Bereitschaft zu deren Verfolgung erklärt sich wohl aus zwei Gründen: Zum einen sind selbst muslimisch, ja gar islamistisch geprägte Staaten vor Anschlägen dieser Gruppe nicht gefeit,774 sie findet deshalb auch dort nur wenig Sympathie unter den Herrschenden. Zum anderen üben die USA ungeheuren politischen Druck aus, gegen Al-Quaida vorzugehen; ein Druck, dem kaum ein Staat standzuhalten vermag.775 Die Entscheidung zur Bekämpfung von Al-Quaida mag somit in vielen Fällen eher auf der aktuellen politischen Interessenlage beruhen, als auf einem Gefühl der gewohnheitsrechtlichen Verpflichtung. Diese These bestätigt sich, wenn man den Umgang mit anderen „Terroristen“ in Blick nimmt. Nach wie vor gilt hier häufig die Devise „Des Einen Terrorist ist des Anderen Freiheitskämpfer“.776 Nehmen wir als erstes Beispiel die Selbstmordattentate palästinensischer Täter in Israel: Bei ihnen handelt es sich nach europäisch-nordamerikanischer Auffassung um Terrorismus, im arabisch-muslimischen Raum gelten sie dagegen vielfach immer noch als Teil eines legitimen nationalen Befreiungskampfes.777 Ent772
Vgl. SZ, 19.08.2003, S. 6. SZ, 27.10.2003, S. 7. 774 In SZ, 19.08.2003, S. 6 wird bspw. in unmittelbarem Zusammenhang mit den Aussagen des iranischen Regierungssprechers zur Verfolgung von Al-Quaida-Mitgliedern erwähnt, dass das Terrornetzwerk auch Anschläge im Iran plane. 775 Bereits am Abend des 11.09.2001 hatte Präsident Bush in seiner Fernsehansprache keinen Zweifel gelassen, was den Zufluchtsstaaten der Täter drohen würde: „Wir werden keine Unterscheidung treffen zwischen den Terroristen, die diese Akte begangen haben, und denjenigen, die ihnen Zuflucht gewähren.“ (zit. nach AdG 2001, S. 45185). 776 So auch Oeter, in: Koch, S. 29 (32); Hillgruber, in: Acham, S. 133 (135). 777 Vgl. Oeter, in: Koch, S. 29 (32); Hillgruber, in: Acham, S. 133 (136). 773
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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sprechend wurden die Komplizen eines solchen Attentäters beispielsweise im Vereinigten Königreich strafrechtlich verfolgt,778 ohne dass ein entsprechendes Vorgehen arabischer Staaten bekannt wäre. Ebenso herrscht hinsichtlich der tschetschenischen Untergrundkämpfer keine Einigkeit, ob es sich um nach der Maxime „aut dedere – aut iudicare“ zu behandelnde Terroristen handelt oder nicht. Der tschetschenische Ex-Präsident Selimchan Janderbijew beispielsweise genoss bis zu seinem Tod im Februar 2004 ganz offiziell in Katar Asyl, obwohl ihm Russland die Planung der Geiselnahme in einem Moskauer Theater im Herbst 2002 und sogar eine Mitgliedschaft bei Al-Quaida zur Last legte.779 Dass er trotz des letztgenannten Vorwurfs unbehelligt blieb, zeigt besonders deutlich, dass sich selbst hinsichtlich mutmaßlicher Al-Quaida-Terroristen nicht alle Staaten zur Auslieferung oder Strafverfolgung verpflichtet fühlen, wenn der Druck aus Washington fehlt. Was die tschetschenischen Täter angeht, ist man sogar in der westlichen Welt weit davon entfernt, diese allgemein als Anwendungsfall eines „aut dedere – aut iudicare“ anzusehen. Der jüngste, bereits oben erwähnte Sinneswandel Frankreichs im Umgang mit italienischen Ex-Terroristen780 hat hier noch nicht Schule gemacht. So haben es Dänemark und das Vereinigte Königreich im Jahre 2003 abgelehnt, den ehemaligen tschetschenischen „Militärführer“ Achmed Sakajew an Russland auszuliefern. Statt von einem „Terroristen“, war von einem „politisch Verfolgten“ die Rede, woraufhin die russische Regierung beiden Ländern einen „Doppelstandard“ im Umgang mit Terroristen vorwarf.781 Dies führt uns zu einer bereits eingangs getroffenen und im Laufe der Untersuchung immer wieder bestätigten Feststellung zurück: Solange das Völkergewohnheitsrecht keine Definition des Begriffs „Terrorismus“ kennt, kann es auch keine Rechtsfolgen – wie etwa ein „aut dedere – aut iudicare“ – an diesen Begriff knüpfen. Behauptet der Zufluchtsstaat, der Gesuchte sei kein „Terrorist“, sondern ein „Freiheitskämpfer“ oder „politisch Verfolgter“, kann ihm dies mangels einer allgemein konsentierten Terrorismusdefinition kaum als Verstoß gegen das Völkergewohnheitsrecht zur Last gelegt werden. Möglicherweise hat der 11. September 2001 der Völkerrechtsgemeinschaft einen formelhaften Konsens darüber geliefert, dass „Terroristen“ auch jenseits vertraglicher Verpflichtungen auszuliefern oder strafrechtlich zu verfolgen sind; die oben erörterten „speech acts“ deuten teilweise darauf hin. Die „harte Praxis“ zeigt aber: Solange nicht ebenfalls Konsens besteht, wer „Terrorist“ ist, bleibt diese Pflicht letztlich inhaltsleer.782 778
Vgl. SZ, 10./11.05.2003, S. 7. Vgl. SZ, 25.03.2004, S. 9. 780 Vgl. zum Fall von Cesare Battisti, der nach langen Jahren des Asyls nun wohl doch ausgeliefert wird, oben a) cc) (2). 781 Vgl. zu dem Fall SZ, 14.11.2003, S. 8; SZ, 23.09.2004, S. 7. 779
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
c) Die „aut dedere – aut iudicare“-Übereinkommen als Beweis für Gewohnheitsrecht? Wenn auch die bislang untersuchte Staatenpraxis Zweifel hinsichtlich einer gewohnheitsrechtlichen Pflicht zur Auslieferung oder Strafverfolgung von Terroristen nährt, so könnte man sich fragen, ob nicht schon allein die Vielzahl der in diesem Bereich existierenden „aut dedere – aut iudicare“-Übereinkommen ausreicht, um eine „allgemeine Übung“ i. S. v. Artikel 38 Absatz 1 b) IGH-Statut zu bejahen.783 Bei der Auseinandersetzung mit dieser These sind zwei Fragen zu trennen: 1. Waren die „aut dedere – aut iudicare“-Verträge gegen den Terrorismus bereits zum Zeitpunkt ihrer Entstehung bloße deklaratorische Wiedergaben von Gewohnheitsrecht? 2. Falls Frage 1 verneint wird: Ist ihr Inhalt später Völkergewohnheitsrecht geworden? Dass die verschiedenen Antiterrorübereinkommen schon zum Zeitpunkt ihres Entstehens Gewohnheitsrecht widerspiegelten, kann relativ unproblematisch verneint werden. Die meisten von ihnen waren eine Reaktion auf spektakuläre Terroranschläge und sollten die durch diese aufgedeckten Lücken im Völkerrecht schließen.784 Ziel war also nicht die Kodifizierung bestehenden, sondern die Schaffung kriminalpolitisch dringend notwendigen neuen Rechts.785 Sind die vertraglichen „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen der Antiterrorkonventionen aber wenigstens im Nachhinein zu Gewohnheitsrecht geworden? Untersuchen wir diese Frage anhand der drei Kriterien, die der IGH hierfür aufgestellt hat, nämlich grundlegender Charakter der Bestimmung, Vorbehaltsfestigkeit und hoher Ratifikationsstand.786 Die erste Voraussetzung ist unproblematisch erfüllt: Das „aut dedere – aut iudicare“ hat grundlegenden Charakter. Schwieriger sieht es mit der Vorbehaltsfestigkeit aus. Zwar wird in keinem Vertrag die „aut dedere – aut iudicare“-Vorschrift ausdrücklich zum Gegenstand möglicher Vorbehalte erklärt, die Terrorismusfinanzierungskonvention von 1999 und die Europäische Terroris782
Vgl. auch Hillgruber, in: Acham, S. 133 (136). So bspw. Enache-Brown/Fried, McGill L. J. 43 (1998), S. 613 (629 f.); Bassiouni/Wise, S. 24 f., 49 f., 68; Higgins, in: dies./Flory, S. 13 (26) (die das „Umschlagen“ von Vertrags- in Gewohnheitsrecht hier allerdings nicht als bereits eingetreten, sondern nur als wahrscheinlich unmittelbar bevorstehend ansieht). 784 Vgl. oben A. I. 2. b), c), 3., 4., 6., 7. 785 Vgl. auch die Beschreibung der Rechtslage hinsichtlich von Flugzeugentführern vor Abschluss der Haager Konvention durch die damalige Delegation Costa Ricas: „The international community, for lack of legal means, has been powerless to react.“ (ICAO Doc 8979-LC/165-2, S. 134 [Hervorhebung nicht im Original]). 786 Vgl. zu diesen Kriterien aus dem Nordseefestlandssockelfall oben Fn. 596. 783
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
297
musvorbeugungskonvention von 2005 enthalten aber eine ähnlich wirkende Regelung: Nach Artikel 2 Absatz 2 bzw. Artikel 1 Absatz 2 kann ein Mitgliedstaat, der einen der im Annex angeführten älteren Antiterrorverträge nicht ratifiziert hat, erklären, dass er die Terrorismusfinanzierungskonvention bzw. das Terrorismusvorbeugungsabkommen nicht auf die Finanzierung von Straftaten nach diesem Vertrag bzw. auf die Aufforderung zu ihnen anwendet. Ein Staat, der zwar die Terrorfinanzkonvention, aber beispielsweise nicht die UN-Geiselnahmekonvention ratifiziert hat, kann also erklären, dass er die Finanziers einer Geiselnahme weder ausliefern noch aburteilen möchte. Das dritte vom IGH aufgestellte Kriterium – der hohe Ratifikationsstand – wird dagegen inzwischen787 von allen der oben vorgestellten universellen Antiterrorverträge erfüllt: Die Bandbreite reicht hier von 112 Mitgliedstaaten bei der Konvention zum Schutz von Nuklearmaterial bis zu 180 Mitgliedstaaten bei der Montrealer Konvention. Jedoch selbst eine Vielzahl von immer nach dem gleichen Muster gestrickten und in hohem Maße ratifizierten Verträgen kann nicht per se als Nachweis für Völkergewohnheitsrecht ausreichen. Es muss immer noch eine Praxis hinzutreten, aus der sich ergibt, dass die Staaten sich auch unabhängig von dem Vertrag – vor allem also im Verhältnis zu Drittstaaten – an die Vertragsvorschriften gebunden fühlen.788 Ansonsten läge in der Anwendung eines noch so weitgehend akzeptierten Übereinkommens auf einen Drittstaat immer ein Verstoß gegen das Verbot von Verträgen zu Lasten Dritter.789 Eine solche über die Vertragserfüllung hinausgehende „allgemeine Übung“ bei der Auslieferung oder Strafverfolgung von Terroristen kann aber nach den oben unter a) und b) gewonnenen Ergebnissen kaum bejaht werden.790 Eine Ausnahme ist wohl lediglich hinsichtlich der Haager Konvention zu machen, denn im wichtigsten Komplex der nicht von ihr erfassten „Hijackings“ – den Entführungen von US-Flugzeugen nach Kuba Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre – hat Kuba zwischen 1976 und 2001 auch ohne jede vertragliche Verpflichtung das Prinzip „aut dedere – aut iudi787
Dies war vor dem 11.09.2001 nicht durchgängig der Fall: Während die Haager und Montrealer Konvention auch damals schon weitgehende Akzeptanz genossen und seither nur noch von 4 bzw. 5 weiteren Staaten (darunter Kuba) ratifiziert wurden, kamen 50 der 156 Mitgliedstaaten der UN-Diplomatenschutzkonvention, 52 der 149 Mitgliedstaaten der UN-Geiselnahmekonvention und 53 der 112 Mitgliedstaaten der Konvention zum Schutz von Nuklearmaterial erst später dazu; die erst Ende der 1990er Jahre abgeschlossenen Verträge gegen Sprengstoffattentate und Terrorismusfinanzierung wurden sogar überwiegend erst nach dem 11.09.2001 ratifiziert. 788 Vgl. die Nachweise oben in Fn. 598. 789 Cheng, in: FS Schwarzenberger, S. 25 (41). 790 So auch Henzelin, S. 317; Shubber, ICLQ 1973, S. 687 (703) und Cheng, in: FS Schwarzenberger, S. 25 (41).
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
care“ befolgt; überdies ist die Androhung von Sanktionen durch die G 7 auch gegen Nichtvertragsstaaten im Falle der Beherbergung von Flugzeugentführern weltweit auf ein positives Echo gestoßen.791 Vor diesem Hintergrund ist die beeindruckende Anzahl von Ratifikationen der Haager Konvention – die zur Zeit 178 Mitgliedstaaten hat – ein zusätzliches Indiz für eine gewohnheitsrechtliche Geltung des „aut dedere – aut iudicare“. d) Resümee Ein praktisch wirkungsvolles gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“ gibt es somit im Bereich der Terrorismusbekämpfung nur für Flugzeugentführer. Im Übrigen hat der 11. September 2001 allenfalls einen Formelkonsens bewirkt: Man scheint sich einig zu sein, „Terroristen“ ausliefern oder strafrechtlich verfolgen zu müssen, ohne sich auch nur im Entferntesten einig zu sein, wer eigentlich „Terrorist“ ist. Es zeigt sich hier, dass die präzise definitorische Eingrenzung des Terrorismus Vorbedingung zur Schaffung grenzübergreifend wirksamer Rechts- und Eingriffsgrundlagen ist.792 Ohne sie kann es bestenfalls eine – praktisch weitgehend wertlose – Pflicht eines Zufluchtsstaates geben, die von ihm selbst als „Terroristen“ definierten Personen abzuurteilen oder auszuliefern. Es kann schon jetzt festgehalten werden, dass die erst im folgenden Abschnitt näher zu erläuternde Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflicht, die der UN-Sicherheitsrat in Resolution 1373 (2001) allen UN-Mitgliedstaaten aufgrund von Kapitel VII UN-Charta auferlegte, an demselben Defizit leidet. Viel wesentlicher für eine effiziente Terrorismusbekämpfung dürfte daher sein, dass seit der Konvention gegen Sprengstoffattentate und der Terrorismusfinanzierungskonvention nur noch sehr geringe sachliche Lücken im Netz der Antiterrorverträge bestehen793, dessen geographische Lücken seit dem 11. September 2001 durch den starken Anstieg des Ratifikationsstandes aller Antiterrorübereinkommen ebenfalls stetig abnehmen. Auch ohne gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“ dürften deshalb in Zukunft bei völkerrechtsgemäßem Verhalten der Staaten nur sehr wenige Terroristen der Bestrafung entgehen, da ihre Taten meist in den präzise definierten sachlichen Anwendungsbereich eines „Spezialvertrages“ von nahezu universeller Akzeptanz fallen. 791
Vgl. oben a) ee). Dieser allgemeinen Feststellung von v. Bubnoff, NJW 2002, S. 2672 kann auch für den Bereich des „aut dedere – aut iudicare“ nur zugestimmt werden. 793 Hinsichtlich der global angelegten Antiterrorverträge beschränken sich diese soweit ersichtlich auf Attentate mit Schuss-, Hieb- oder Stichwaffen, die weder gegen den internationalen Luft- oder Seeverkehr noch gegen völkerrechtlich besonders geschützte Personen gerichtet sind und auch keine Geiselnahme umfassen. 792
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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e) Die internationale Rechtsprechung und völkerrechtliche Literatur als „Hilfsmittel“ Die völkerrechtliche Literatur war bereits vor dem 11. September 2001 in der Frage eines gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“ für Terroristen gespalten und bleibt es auch heute. Die wohl überwiegende Ansicht verneint aber mit Blick auf die Staatenpraxis die vertragsunabhängige Geltung dieser Maxime.794 Abweichende Stimmen berufen sich vor allem auf zwei Umstände: Zum einen auf Anzahl, Verbreitung und inhaltliche Kongruenz der dem Prinzip „aut dedere – aut iudicare“ folgenden Antiterrorverträge,795 zum anderen auf die Pflicht eines jeden Staates, Terrorismus nicht zu unterstützen beziehungsweise zu dulden.796 Als besonders wirkmächtig hat sich auch eine Resolution der ILA von 1984 erwiesen,797 auf die heute noch beispielsweise Frowein entscheidend abstellt.798 Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass es sich bei ihr keineswegs um gewohnheitsrechtsbegründende Staatenpraxis handelt, sondern nur um die Rechtsansicht einer – wenn auch bedeutenden – Wissenschaftlervereinigung, mithin nur um ein „Hilfsmittel“ bei der Feststellung von Völkerrechtsnormen.799 Die nicht minder renommierte ILC vertritt anscheinend eine gegenteilige Ansicht, denn es spricht nicht gerade für ein großes Vertrauen in die Auslieferungs- und Strafverfolgungsbereitschaft der Staaten, dass sie den Terrorismus 1996 aus ihrem Entwurf eines Völkerstrafgesetzbuches – zu dessen zentralen Vorschriften ein „aut dedere – aut iudicare“ gehört800 – gestrichen hat, um die Akzeptanzfähigkeit dieses Textes in der Staatengemeinschaft zu erhöhen.801 794
So bspw. Murphy, Punishing, S. 62; Francioni, GYBIL 31 (1988), S. 263 (268); Joyner/Rothbaum, Mich. J. of Int.’l L. 14 (1993), S. 222 (232); wohl auch Damrosch/Henkin/Pugh/Schachter/Smit, S. 418 und Greenwood, Int. Aff. 78 (2002), S. 301 (302 f.). 795 So bspw. Enache-Brown/Fried, McGill L. J. 43 (1998), S. 613 (629 f.); Bassiouni/Wise, S. 24 f., 49 f., 68; Higgins, in: dies./Flory, S. 13 (26) (die das „Umschlagen“ von Vertrags- in Gewohnheitsrecht hier allerdings nicht als bereits eingetreten, sondern nur als wahrscheinlich unmittelbar bevorstehend ansieht). 796 So bspw. Paust, Vanderbildt Journal of Transnat. L. 20 (1987), S. 235 (239 f.). 797 Res. der 61. Konferenz der ILA (1984), Part II, Ziff. 7: „States must try or extradite (aut judicare aut dedere) persons accused of acts of international terrorism“ (abgedruckt mit Erläuterungen bei Murphy, Punishing, S. 59). 798 Vgl. Frowein, ZaöRV 2002, S. 879 (898). 799 Vgl. zur Relevanz der Literatur Art. 38 I d) IGH-Statut. 800 Vgl. ILC, Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, 1996, Art. 9. 801 Vgl. ILC, Commentary on the Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, ILC Report 1996, Chapter II, Introduction Rn. 46.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
Die internationale Rechtsprechung hat sich noch kaum mit der Frage eines gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“ für Terroristen befasst. Selbst die Entscheidung über einstweilige Maßnahmen im LockerbieFall schweigt hierzu.802 Lediglich einige Einzelvoten nehmen Stellung, bieten aber inhaltlich ein ebenso gespaltenes Bild wie die Literatur: Während die Richter Evensen, Tarassov, Guillaume und Aguilar Mawdsley der Ansicht sind, „aut dedere – aut iudicare“-Pflichten seien immer rein vertraglicher Natur,803 befürworten die Richter Ranjeva und Weeramantry die gewohnheitsrechtliche Geltung dieses Prinzips;804 Richter Bedjaoui lässt die Frage ausdrücklich offen.805 3. Resümee Fassen wir das Bild zusammen, das sich aus der vorstehenden Untersuchung der Staatenpraxis seit 1945 ergibt: Ein gewohnheitsrechtliches oder auf eine extensive Auslegung der Genfer Konventionen durch die spätere Vertragspraxis gestütztes „aut dedere – aut iudicare“ besteht für „Bürgerkriegsverbrechen“; ferner ist eine solche Pflicht heute auch für Flugzeugentführungen gewohnheitsrechtlich anerkannt. Für alle anderen Erscheinungsformen des internationalen Terrorismus besteht unter den Staaten dagegen bestenfalls ein Formelkompromiss über ein „aut dedere – aut iudicare“, der mangels Einigkeit über die Definition des „Terrorismus“ praktisch inhaltsleer bleibt. Auch für Völkermord und im Frieden begangene schwere Menschenrechtsverstöße kann ein „aut dedere – aut iudicare“ aufgrund der Auslieferungs- und Strafverfolgungspraxis nicht bejaht werden, es sei denn, die Tat ist durch Organe oder auf Anweisung des Zufluchtsstaates begangen worden. 802
Es ging in diesem Beschluss hauptsächlich um das Zusammenspiel von Montrealer Konvention und der Resolution 748 (1992) des UN-Sicherheitsrates (vgl. ICJ Rep. 1992, S. 3 [15]). 803 Vgl. IGH, Case concerning the interpretation and application of the 1971 Montreal Convention arising from the aerial incident at Lockerbie (Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom), Provisional Measures, decl. Evensen, Tarassov, Guillaume, Aguilar Mawdsley, ICJ Rep. 1992, S. 24. 804 Vgl. IGH, Case concerning the interpretation and application of the 1971 Montreal Convention arising from the aerial incident at Lockerbie (Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom), Provisional Measures, op. diss. Ranjeva, ICJ Rep. 1992, S. 72; op. diss. Weeramantry, ICJ Rep. 1992, S. 50 (51 und 69) (der allerdings „aut dedere – aut iudicare“ und Fehlen einer gewohnheitsrechtlichen Auslieferungspflicht gleichzusetzen scheint [dazu oben 1. Kap. Fn. 84]). 805 Vgl. IGH, Case concerning the interpretation and application of the 1971 Montreal Convention arising from the aerial incident at Lockerbie (Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom), Provisional Measures, op. diss. Bedjaoui, ICJ Rep. 1992, S. 33 (38).
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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II. Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit des Zufluchtsstaates für die Tat als Grundlage eines „aut dedere – aut iudicare“? Ein beliebter Argumentationsstrang, mit dem im 16. bis 18. Jahrhundert die Existenz eines allgemein verbindlichen Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebotes behauptet wurde, war folgender: Straftaten, die Rechtsgüter eines anderen Staates verletzt haben, müsse sich der Zufluchtsstaat als eigenes Fehlverhalten zurechnen lassen, wenn er den Täter nicht ausliefere oder selbst strafrechtlich verfolge.806 Ein solchermaßen begründetes „aut dedere – aut iudicare“ würde man heute dem Recht der Staatenverantwortlichkeit zuordnen, das regelt, wann ein Staat für einen Völkerrechtsverstoß verantwortlich ist und welche Rechtsfolgen sich daraus ergeben.807 Neben der Frage, ob ein Staat für eine gegen ausländische Rechtsgüter gerichtete Straftat, die ihm zum Zeitpunkt der Tatbegehung nicht zugerechnet werden kann, im Nachhinein verantwortlich wird, wenn er dem Täter sichere Zuflucht gewährt, sollte aber auch eine weitere Konstellation nicht außer Augen gelassen werden: Der spätere Zufluchtsstaat musste sich die Tat bereits bei deren Begehung zurechnen lassen, beispielsweise weil sie durch Angehörige seines Geheimdienstes begangen wurde.808 Möglicherweise ergibt sich in diesem Sonderfall ein „aut dedere – aut iudicare“ nicht nur aus den Menschenrechten des Opfers,809 sondern auch als Rechtsfolge aus der Verantwortlichkeit für die Verletzung der Rechte des Tatortstaates. 1. Die Unterlassung von Auslieferung bzw. Strafverfolgung als eigenständiger Zurechnungsgrund Grundsätzlich ist ein Staat nach dem heutigen Stand des Völkerrechts nicht für nicht hoheitliches810 Handeln von Privatpersonen verantwortlich, selbst wenn diese seine Staatsangehörigen sind oder auf seinem Staatsgebiet handeln.811 Eine Zurechnung ist aber ausnahmsweise dann möglich, wenn diese Personen im Auftrag oder unter der Kontrolle des Staates gehandelt 806
Vgl. oben, 2. Kapitel D. I. 2., 4., 5., 6., 7., 8. Vgl. Bassiouni/Wise, S. 39; zum Regelungsbereich des Rechts der Staatenverantwortlichkeit auch Doehring, Rn. 827. 808 Vgl. als Beispiel für einen solchen Fall die Ermordung Leteliers in den USA auf Geheiß des chilenischen Geheimdienstes, dazu ausf. oben I. 1. c) aa) (1). 809 Dazu oben I. 1. c) gg). 810 Im Unterschied zur Ausübung öffentlicher Gewalt durch Private („Beliehene“), die er sich zurechnen lassen muss (vgl. Ipsen, in: ders., § 40 Rn. 29; ILC, Articles on State Responsibility [Annex zu GA-Res. 56/83 (2001)], Art. 5). 811 Vgl. Ipsen, in: ders., § 40 Rn. 29; Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 906; ILC, Rep. of 53rd Session (2001), S. 103 f. 807
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
haben.812 Wann dies der Fall ist, wurde in der internationalen Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt. Während der IGH im Nicaraguafall die allgemeine finanzielle, materielle und logistische Unterstützung der Contras durch die USA nicht als ausreichend ansah, um diesem Staat das Verhalten der Rebellen global zuzurechnen, sondern stattdessen den Nachweis forderte, dass konkrete Rechtsverstöße von den US-amerikanischen Behörden bestimmt wurden,813 genügte dem ICTY großzügiger die „overall control“ der Bundesrepublik Jugoslawien über die bosnischen Serben, um diesen Staat als direkt am Bosnienkonflikt beteiligt anzusehen.814 Welche dieser Lösungen vorzugswürdig ist, kann hier dahingestellt bleiben, denn dieser Zurechnungstatbestand knüpft jedenfalls an ein staatliches Verhalten im Vorfeld der Tat an.815 Die bloße nachträgliche Nichtauslieferung oder Nichtverfolgung des Täters für eine bereits begangene Tat fällt damit aus dieser Kategorie heraus: War die Tat vom Täter auf eigene Faust begangen worden, gewinnt ein Staat durch die spätere Gewährung sicherer Zuflucht natürlich keine „Kontrolle“ über den bereits abgeschlossenen Vorgang. Denkbar wäre somit nur die Verwirklichung eines Zurechnungstatbestandes, der an ein der zuzurechnenden Handlung nachfolgendes staatliches Verhalten anknüpft. Einen solchen kennt das Völkerrecht tatsächlich: Ein Staat muss sich ein ihm ursprünglich nicht zuzurechnendes Verhalten von Privatpersonen rückwirkend doch noch zurechnen lassen, wenn er es als eigenes Verhalten anerkennt.816 Die Anerkennung kann ausdrücklich oder konkludent erfolgen, ist aber mehr als eine bloße Billigung des betreffenden Verhaltens.817 Der Staat muss vielmehr deutlich machen, dass er das private Verhalten als sein eigenes verstanden haben und die volle rechtliche Verant812 Vgl. ILC, Articles on State Responsibility (Annex zu GA-Res. 56/83 [2001]), Art. 8 (zu dessen Übereinstimmung mit den völkergewohnheitsrechtlichen Zurechnungsregeln Bodansky/Crook, AJIL 96 (2002), S. 773 [783]); Ruffert, ZRP 2002, S. 247 (248); vgl. ferner IGH, Affaire des activités militaires et paramilitaires au Nicaragua et contre celui-ci, ICJ Rep. 1986, S. 14 (64 f.) sowie die bei Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 906–909 und Nguyen/Daillier/Pellet, Rn. 476 angeführten Bsp. 813 Vgl. ICJ Rep. 1986, S. 14 (64 f.). 814 Vgl. ICTY, Tadic, 15.07.1999, IT-94-1-A, Ziff. 145. Zu diesen Divergenzen der Rspr. vgl. ILC, Rep. of 53rd Session (2001), S. 105 f.; Kugelmann, JURA 2003, S. 376 (379 f.). 815 Vgl. auch ILC, Rep. of 53rd Session (2001), S. 119. 816 Vgl. ILC, Articles on State Responsibility (Annex zu GA-Res. 56/83 [2001]), Art. 11 und dazu den Kommentar in ILC, Rep. of 53rd Session (2001), S. 119; ferner IGH, United States Diplomatic and Consular Staff in Teheran, ICJ Rep. 1980, S. 3 (35) (wo allerdings nur von einer ex nunc-Zurechnung eines fortdauernden Völkerrechtsverstoßes ab dem Zeitpunkt der „Anerkennung“ die Rede ist, nicht dagegen von einer rückwirkenden Zurechnung ex tunc.). 817 ILC, Rep. of 53rd Session (2001), S. 121 f.
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
303
wortung dafür übernehmen will.818 Einen so weitreichenden konkludenten Erklärungswert kann man der Entscheidung, einen Straftäter weder auszuliefern noch strafrechtlich zu verfolgen, schwerlich entnehmen. Somit ist es unmöglich, die vom Täter begangene Rechtsgutsverletzung dem Zufluchtsstaat allein deswegen zuzurechnen, weil er den Täter weder ausliefert noch strafrechtlich verfolgt. Dieses früher von Grotius, Vattel und anderen vergeblich befürwortete „Komplizenmodell“ konnte sich also auch im heutigen Völkerrecht nicht durchsetzen.819 Allerdings gibt es noch eine weitere Möglichkeit, wie das schädigende Verhalten von Privatpersonen die völkerrechtliche Verantwortlichkeit eines Staates herbeiführen kann. Bei dieser Konstruktion wird der Staat nicht für das Handeln der Privatperson verantwortlich gemacht, sondern dafür, dass seine eigenen Organe dieses Verhalten entgegen einer völkerrechtlichen „Schutzpflicht“ nicht verhindert haben.820 Staatenpraxis und internationale Judikatur lassen hier vor allem folgende beiden Fallgruppen erkennen: Ein Staat muss alle zumutbare Sorgfalt („due dilligence“) walten lassen, damit 818 Vgl. zu den Anforderungen an die nachträgliche „Anerkennung“ ILC, Rep. of 53rd Session (2001), S. 121 f. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Reaktion des iranischen Außenministers auf die ursprünglich von Privatpersonen auf eigene Verantwortung durchgeführte Besetzung der US-Botschaft. Er erklärte, die Tat genieße „the endorsement and support of the government.“ (vgl. ICJ Rep. 1980, S. 3 [33]). 819 So auch Ipsen, in: ders., § 40 Rn. 32; Wise, Israel Law Rev. 27 (1993), S. 268 (279); Bassiouni/Wise, S. 41 f.; im Ergebnis ähnl. Oeter, ZaöRV 1993, S. 1 (32); Lilich/Paxman, Am. U. L. Rev. 26 (1977), S. 217 (305); Ruffert, ZRP 2002, S. 247 (248); Krajewski, AVR 40 (2002), S. 183 (193 f.); Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (395). Auch der IGH hat im Asylum Case ohne größere Diskussion festgestellt, dass die Gewährung von territorialem Asyl für Straftäter eine normale Ausübung der territorialen Souveränität des Zufluchtsstaates sei, die nicht die Rechte anderer Staaten verletze (vgl. ICJ Rep. 1950, S. 266 [274]). A. A. dagegen Kugelmann, JURA 2003, S. 376 (380), der aber wohl erstens nicht zwischen der Zurechnung privaten Verhaltens zu einem Staat und der Verantwortlichkeit eines Staates für das Nichteinschreiten seiner Organe gegen dieses Verhalten unterscheidet und zweitens auch nicht danach differenziert, ob „aktiven“ oder „ruhenden“ Straftätern „save havens“ gewährt werden (vgl. zu diesen Differenzierungen sogleich im Text); a. A. für terroristische Straftäter auch Joyner, GYBIL 31 (1988), S. 230 (252); Paust, Vanderbilt Journal of Transnat. L., 20 (1987), S. 235 (239) und wohl auch Bodansky/Crook, AJIL 96 (2002), S. 773 (785) sowie Bruha/Bortfeld, VN 2001, S. 161 (166). 820 Vgl. aus der Lit. ILC, Rep. of 53rd Session (2001), S. 106; Dahm/Delbrück/ Wolfrum, I/3, S. 910; Nguyen/Daillier/Pellet, Rn. 476; Ipsen, in: ders., § 40 Rn. 33; Schröder, in: Graf Vitzthum, VII Rn. 25; Higgins, Problems and Process, S. 153 f.; Bodansky/Crook, AJIL 96 (2002), S. 773 (784); Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (391); ders., ICLQ 2004, S. 537 (544); aus der int. Rspr. den grundlegenden Schiedsspruch von Max Huber im Fall der brit. Vermögensinteressen in SpanischMarokko, Rec. des Sentences Arbitrales, Vol. II, S. 615 (642); aus neuerer Zeit IGH, United States Diplomatic and Consular Staff in Teheran, ICJ Rep. 1980, S. 3 (30).
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
in seinem Staatsgebiet 1. keine Angehörigen anderer Staaten und 2. auch nicht die Rechtsgüter dieser Staaten selbst (v. a. ihr Eigentum und ihre Repräsentanten) durch Privatpersonen verletzt werden.821 Ist es dennoch zu einer solchen Rechtsgutsverletzung gekommen, trifft den Staat eine Pflicht, ebenfalls mit „due dilligence“ die Ergreifung und Bestrafung des Täters zu betreiben.822 Jedoch ist zu betonen, dass diese Bestrafungspflicht – die man wohl zweifellos auch durch die Auslieferung des Verantwortlichen an den geschädigten Staat erfüllen könnte – nur für den Tatortstaat besteht. Den Zufluchtsstaat des Täters kann dagegen keine Verantwortung treffen, für die Sicherheit der Bürger und Rechtsgüter anderer Staaten im Territorium eines dritten Staates einzustehen.823 Hier besteht eine Parallele zur menschenrechtlichen Ableitung eines „aut dedere – aut iudicare“, die im Regelfall ebenfalls daran scheitert, dass der Zufluchtsstaat dem Opfer nicht den Genuss der Menschenrechte im Territorium fremder Staaten garantieren muss.824 Schon eher zu einem „aut dedere – aut iudicare“ könnte insbesondere in Fällen des grenzüberschreitenden Terrorismus die allgemein anerkannte völkergewohnheitsrechtliche Pflicht führen, nicht den Missbrauch des eigenen Territoriums als Vorbereitungs- und Ausgangsbasis für Angriffe auf fremde Staaten zu dulden.825 Allerdings bezieht sich diese Pflicht zunächst einmal 821
Vgl. Ipsen, in: ders., § 40 Rn. 30 f.; Schröder, in: Graf Vitzthum, VII Rn. 25; Higgins, Problems and Process, S. 153 f.; Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 910 f.; Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (391); vgl. auch den Schiedsspruch von Max Huber (Fn. 820), S. 644. 822 Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 912; Guillaume, RdD 1989 III, S. 287 (392); Tomuschat, in: FS Steinberger, S. 315 (317 f.); Schiedsspruch von Max Huber (Fn. 820), S. 645; Bericht der Expertenkommission des Völkerbundes zum „Janina-Zwischenfall“, bei dem eine offizielle italienische Delegation unter ungeklärten Umständen auf griech. Territorium angegriffen wurde, Société des Nations, Journal Officiel; 5e année, nº 4 (avril 1924), S. 524. Auf eine ähnl. Pflicht sind wir schon im historischen Kapitel bspw. bei Ayrault und Gentili, aber auch bei Gegnern eines „aut dedere – aut punire“ wie Martens oder Moser gestoßen, wobei zumindest den beiden erstgenannten jedoch im Unterschied zur heutigen Rechtslage eine Zurechnung des Verhaltens des Täters zum nichtverfolgenden Tatortstaat vorschwebte (vgl. ausf. 2. Kapitel D. I. 2., 4. und II. 4. Fn. 238). 823 Vgl. auch Bassiouni/Wise, S. 42; Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (395); ders., ICLQ 2004, S. 537 (544) sowie Lillich/Paxman, Am. U. L. Rev. 26 (1977), S. 217 (297 f.). 824 Vgl. oben I. 1. c) gg). 825 Zum Bestehen einer solchen Pflicht vgl. Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 910; Bodansky/Crook, AJIL 96 (2002), S. 773 (785); Frowein, ZaöRV 2002, S. 879 (883); Cassese, Int. Criminal Law, S. 126; ferner die „Friendly Relations Declaration“ (Annex zu GA-Res. 2625 [XXV] [1970]), 1. Grundsatz, Absatz IX, 3. Grundsatz, Absatz II; GA-Res. 34/145, Ziff. 7; GA-Res. 40/61, Ziff. 6; GA-Res. 42/159, Ziff. 5 (a) und viele weitere GA-Res. seither (zuletzt GA-Res. 58/81, Ziff. 5); IGH,
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auf den präventiven Bereich, also den Zeitraum vor Begehung der Tat, während das „aut dedere – aut iudicare“, die Frage der Auslieferung oder Strafverfolgung, erst nach Begehung einer Straftat aktuell wird. Jedoch hat jede Strafe neben dem Zweck der Vergeltung bereits begangenen Unrechts auch (spezial- und general-) präventiven Charakter, indem sie vor weiteren Straftaten desselben Täters oder anderer schützen will. Wenn es hinreichende Anhaltspunkte dafür gibt, dass ein flüchtiger Straftäter seinen sicheren Zufluchtsort nicht nur dazu nutzt, sich der Bestrafung für die bereits begangene Tat zu entziehen, sondern auch, um von dort aus weitere schwere Straftaten gegen das Ausland zu planen, dann kann der Zufluchtsstaat ausnahmsweise doch noch verpflichtet sein, diese Pläne dadurch zu durchkreuzen, dass er den Täter für das zurückliegende Verbrechen ausliefert oder bestraft.826 Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn nicht nur einzelne „deaktivierte“ Terroristen aufgenommen werden, wie es in den 1980er Jahren die DDR und Frankreich unter der ausdrücklichen Bedingung taten, dass ihre „Gäste“ für die Zukunft dem Terrorismus abschwören827, sondern Terrorgruppen operative Strukturen aufbauen können – man denke hier nur an die Nutzung von Afghanistan als „Basis“ durch Al-Qaida. Selbst Pufendorf, der im 18. und 19. Jahrhundert als exponiertester Gegner eines „aut dedere – aut iudicare“ galt, hatte die Notwendigkeit einer solchen Differenzierung erkannt.828 Allerdings hat der Zufluchtsstaat auch andere Handlungsoptionen, als die beiden im Schlagwort „aut dedere – aut iudicare“ enthaltenen. Denn der Pflicht, das eigene Territorium nicht als Basis für Angriffe auf andere Staaten zur Verfügung zu stellen, kommt er auch dann nach, wenn er die Kriminellen zwar weder wegen zurückliegender Straftaten strafrechtlich verfolgt noch ausliefert, sie aber durch Ausweisung von seinem Staatsgebiet entfernt829 oder sonst durch präventivpolizeiliches Eingreifen an der Vorbereitung weiterer Taten hindert. Deshalb sollte man hier besser nicht von „aut dedere – aut iudicare“ sprechen.
Affaire des activités militaires et paramilitaires au Nicaragua et contre celui-ci, ICJ Rep. 1986, S. 14 (101 f.); IGH, Affaire du détroit de Corfou (Fond), ICJ Rep. 1949, S. 4 (22). 826 Ähnl. auch Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (396 f.) (mit Verweis auf die USamerik.-mexikanische Praxis im 19. Jhd. bzgl. von Mexiko aus durchgeführter Raubzüge gegen texanische Rinderherden) sowie Damrosch/Henkin/Pugh/Schachter/Smit, S. 418. 827 Vgl. oben I. 2. a) cc) (1) und (2). 828 Vgl. oben 2. Kapitel D. II. 1. bei Fn. 193. 829 Dazu, dass die Ausweisung nicht dem „aut dedere – aut iudicare“ genügt, vgl. oben 1. Kapitel Fn. 5.
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2. Die Pflicht zur Auslieferung oder Strafverfolgung als Rechtsfolge einer bereits aus anderem Grund dem Zufluchtsstaat zuzurechnenden Rechtsverletzung Stärker als der „gewöhnliche“ Zufluchtsstaat ist dagegen der Staat in der Pflicht, der nicht nur nach der Tat zum Zufluchtsort des Täters wurde, sondern auch schon zuvor in die Tat selbst verwickelt war. Hat der Täter beispielsweise im Auftrag oder unter der Kontrolle eines bestimmten Staates gehandelt, dann muss sich dieser die Tatbegehung unzweifelhaft zurechnen lassen.830 Solche Fälle sind zwar vergleichsweise selten, doch zeigen beispielsweise die Ermordung des ehemaligen chilenischen Außenministers Letelier in Washington auf Geheiß des chilenischen Geheimdienstes oder die Sprengung eines Pan Am-Jets über Lockerbie durch libysche Geheimagenten [für die sich ein „aut dedere – aut iudicare“ freilich schon aus der Montrealer Konvention ergibt, dazu oben A. I. 2. c)], dass sie durchaus nicht ins Reich der Phantasie zu verweisen sind. Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit des „Täterstaates“ gegenüber anderen Staaten ist in solchen Fällen nicht nur dann ausgelöst, wenn Eigentum oder Repräsentanten eines ausländischen Staates oder Rechtsgüter ausländischer Bürger verletzt wurden. Auch wenn ein Staat einen eigenen Staatsangehörigen im Ausland töten lässt, ist dies eine völkerrechtswidrige Verletzung der territorialen Souveränität des Tatortstaates, die sich der auftraggebende Staat zurechnen lassen muss. Für diesen Völkerrechtsverstoß kann der Tatortstaat „Genugtuung“ verlangen, was namentlich einen Anspruch auf strafrechtliches Verfolgung831 oder Auslieferung832 des Täters umfasst. In diese Fallgruppe ist auch die strafrechtliche Behandlung des bereits mehrfach erwähnten Letelier-Falles in Chile einzuordnen. Die Bestrafung der Täter – die eine Ausnahme von der sonst in Chile für die Untaten des Militärregimes vorherrschenden „impunidad“ ist – muss als Antwort auf das Drängen der USA verstanden werden, die Tatort des Verbrechens und Heimatstaat eines der beiden Opfer waren.833
830
Vgl. zu den Zurechnungsvoraussetzungen oben bei Fn. 810 ff. Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 977; Schröder, in: Graf Vitzthum, VII Rn. 31; Doehring, Rn. 1148; ILC, Rep. of 53rd Session (2001), S. 266. 832 Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1010. Zur Frage, ob der verletzte Staat in diesem Fall sogar einen Anspruch gerade auf das „dedere“ hat, so dass dem Zufluchtsstaat die Variante des „iudicare“ nicht zur Verfügung steht, vgl. unten 4. Kapitel B. VI. 833 Vgl. zum Einfluss der USA und dem Ausnahmecharakter der juristischen Aufarbeitung des Falles oben Fn. 547. 831
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III. Die Ableitung eines „aut dedere – aut iudicare“ direkt aus dem Gedanken einer „Weltgemeinschaft“ und ihren Grundwerten Sowohl die Staatenpraxis bei der Auslieferung und Strafverfolgung von Auslandstaten als auch eine an „klassischen“ völkerrechtlichen Methoden orientierte Auslegung des Rechts der Staatenverantwortlichkeit stützen ein gewohnheitsrechtliches „aut dedere – aut iudicare“ nach den vorstehend gewonnenen Ergebnissen also nur in wenigen Fällen. Kann ein solcher Rechtsatz heute aber mit Hilfe anderer, dem „klassischen Völkerrecht“ unbekannter Rechtserkenntnismethoden begründet werden? Dies soll im Folgenden erörtert werden. 1. Das „civitas maxima“-Argument in der Literatur zum Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot Der wohl profilierteste zeitgenössiche Befürworter eines gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“ für alle internationalen Verbrechen – der Professor am DePaul College of Law und Präsident der International Association of Penal Law, M. Cherif Bassiouni – stützt seine Rechtsauffassung nicht auf eine entsprechende gewohnheitsrechtserzeugende Staatenpraxis und Rechtsüberzeugung im klassischen Sinne. Auch seiner Ansicht nach folgt die moderne Staatenpraxis nach wie vor der pufendorfschen Ansicht, wonach ein Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot nur bei vertraglicher Anordnung gelte.834 Anstatt daraus aber die Nichtexistenz eines gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“ zu folgern, greift Bassiouni nun direkt auf den Gedanken einer „Weltgemeinschaft“ zurück, für die er zumeist die von Christian Wolff geprägte Bezeichnung „civitas maxima“ verwendet.835 Die Weltordnung sei auf dem Weg von einem bloßen Nebeneinander egoistisch handelnder Staaten zu einer echten, am „common good“ aller Mitglieder orientierten Interessen- und Wertegemeinschaft.836 Zum Zweck der Verteidigung ihrer gemeinsamen Werte und Interessen habe diese „Weltgemeinschaft“ durch verschiedene multilaterale Verträge „quasigesetzgeberisch“ internationale Straftatbestände geschaffen, zu deren effektiver Durchsetzung alle Gemeinschaftsglieder verpflichtet seien.837 Für diese effektive Durchsetzung sei es aber unabdingbar, dass alle Zufluchts834
Bassiouni, Crimes Against Humanity, S. 219; vgl. auch Bassiouni/Wise, S. 43
(68). 835
Vgl. Bassiouni, Crimes Against Humanity, S. 219; Bassiouni/Wise, S. 28 ff. Vgl. Bassiouni/Wise, S. 34 f. 837 Bassiouni/Wise, S. 24 f., 49 f., 68; ähnl. Enache-Brown/Fried, McGill L. J. 43 (1998), S. 613 (629 f.). 836
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staaten der Täter „internationaler Straftaten“ nach dem Prinzip „aut dedere – aut iudicare“ handeln,838 und zwar auch, wenn sie nicht Partei eines „aut dedere – aut iudicare“-Vertrages sind oder für das betreffende „international crime“ ein „aut dedere – aut iudicare“ vertraglich überhaupt nicht ausdrücklich vorgesehen ist.839 Um es zusammenzufassen: Für Bassiouni gilt der Grundsatz „aut dedere – aut iudicare“ nicht deshalb gewohnheitsrechtlich für alle Staaten und bei allen „internationalen Verbrechen“, weil sich dies aus der Staatenpraxis oder aus Gewohnheitsrecht widerspiegelnden Verträgen ergibt, sondern weil es Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit des zur Verteidigung des „Weltgemeinwohls“ erforderlichen kohärenten Völkerstrafrechts und damit in den Begriffen „internationale Gemeinschaft“ und „internationales Verbrechen“ implizit enthalten sei.840 Dem kommt im Ergebnis – trotz der größeren Betonung des Konsensprinzips – die Auffassung von Manske nahe, die diejenigen Normen, die notwendige Voraussetzung für das Bestehen einer „internationalen Rechtsgemeinschaft“ seien, als unabhängig vom Konsens der Staaten gülig ansieht,841 und dazu auch die Pflicht rechnet, gegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vorzugehen, da diese Taten, indem sie dem Menschen die Rechtssubjektivität absprechen,842 die internationale Gemeinschaft aus dem Zustand der Rechtsgemeinschaft in den „Naturzustand“ zurückzuversetzen drohten.843 2. Der größere Zusammenhang: die Ablösung der Prinzipien von Souveränität und Staatenkonsens in der neueren völkerrechtlichen Literatur Diese Bereitschaft, Völkerrechtsnormen in mehr oder minder großem Umfang auch ohne eine entsprechende Praxis und Rechtsüberzeugung der Staaten als gültig anzusehen und so das völkerrechtliche Konsensprinzip (und damit letztendlich auch den Grundsatz der staatlichen Souveränität844) aufzuweichen, ist in der neueren Völkerrechtslehre weit verbreitet. Das dafür vorwiegend verwendete Instrument ist der Begriff des „zwingenden 838
Vgl. Bassiouni/Wise, S. 24 f., 49 f.; 68. Bassiouni/Wise, S. 49. 840 Vgl. Bassiouni/Wise, S. 49 f.; ähnl. auch der Ansatz von Enache-Brown/ Fried, McGill L. J. 43 (1998), S. 613 (629 f.) und Steven, Va. J. Int.’l L., 39 (1999), S. 425 (447 f.). 841 Vgl. Manske, S. 367. 842 Vgl. Manske, S. 368–374. 843 Vgl. Manske, S. 361 f. 844 Zum Zusammenhang zwischen Souveränität und Konsensprinzip vgl. Hillgruber, JZ 2002, S. 1072 (1075); ders., in: Müller-Graff/Roth, S. 117 (123); Oeter, in: FS Steinberger, S. 259 (287). 839
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Völkerrechts“ oder „ius cogens“, das jene Normen umfasse, die dem Schutz überragender Gemeinschaftswerte – etwa der Menschenrechte oder des humanitären Völkerrechts – dienten.845 Von diesem Begriff ausgehend, wird das Konsensprinzip des klassischen Völkerrechts auf zwei unterschiedlichen Ebenen zurückgedrängt: Erstens werden bei der Auslegung einer von den Staaten als „zwingend“ anerkannten Rechtsnorm aus der angeblichen Höherrangigkeit des ius cogens846 Rechtsfolgen deduziert, die sich so nicht aus der Staatenpraxis ergeben.847 Ein Beispiel ist die Einschränkung der völkerrechtlichen Immunitäten gegenüber Klagen von Folteropfern, die mit der angeblichen Kollision von „einfachen“ Immunitätsnormen und „höherrangigem“ ius cogens begründet wird, obwohl es an ausreichender Staatenpraxis fehlt.848 Aber auch Strafverfolgungspflichten werden in der Literatur teilweise auf den ius cogens-Charakter des Völkermordverbotes gestützt.849 Bleibt man bei diesem ersten Schritt stehen, bleibt wenigstens noch ein Kernbestand des Konsensprinzips erhalten, denn dafür, dass eine bestimmte Norm ius cogens-Rang hat, muss noch eine entsprechende Praxis und Überzeugung der Staaten nachgewiesen werden,850 auch wenn die sich daraus ergebenden Rechtsfolgen weitgehend von der Wissenschaft durch begriffs845 Vgl. bspw. die Ausführungen bei IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11. avril 2000 (République Démocratique du Congo c. Belgique), Urteil vom 14.02.2002, op. diss. Al-Khasawneh, Ziff. 7; op. diss. van den Wyngaert, Ziff. 28; Nettesheim, JZ 2002, S. 569 (576); Uerpmann, JZ 2001, S. 565 (571 f.); Schultz, ZaöRV 2002, S. 703 (745). 846 Dagegen, die verfestigte Geltungskraft des ius cogens mit „Höherrangigkeit“ gleichzusetzen aber Maierhöfer, EuGRZ 2002, S. 391 (396); Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 15 Rn. 45. 847 Die einzigen Rechtsfolgen, die die Staatenpraxis dem ius cogens zweifellos zuweist, ist seine vertragliche Unabdingbarkeit (vgl. Art. 53 WVRK), seine Fähigkeit, ihm widersprechende ältere Verträge zu verdrängen (vgl. Art. 64 WVRK) und vielleicht noch die beiden in Art. 41 des Entwurfes der ILC zur Staatenverantwortlichkeit (vgl. GA-Res. 56/83) angeführten leichten Verschärfungen des Haftungsregimes (vgl. auch Kadelbach, JZ 2001, S. 981 [982]; Hillgruber, in: Müller-Graff/ Roth, S. 117 [127]). 848 Vgl. – auch dazu, dass in diesen Fällen in Wahrheit keine Kollision zwischen Immunität und zwingendem Völkerrecht vorliegt – Maierhöfer, EuGRZ 2002, S. 391 (394 ff.). 849 Vgl. oben Fn. 532. 850 Vgl. Art. 53 WVRK, wonach eine ius cogens-Norm „acceptée et reconnue par la communauté des Etats dans son ensemble“ sein muss (Hervorhebungen nicht in den Originalen). Paulus, S. 341 f. schließt aus dieser Formulierung zutreffend, dass die Schöpfer der WVRK den Versuch, das ius cogens „für die Einführung naturrechtlicher Konzeptionen ins geltende Völkerrecht zu nutzen, [. . .] zugunsten einer „positivistischen“ [. . .] Rechtserzeugung aufgegeben“ haben. Die Konsensgebundenheit des ius cogens – dessen Entstehung einen „doppelten Konsens“ sowohl hinsichtlich der inhaltlichen Geltung der Norm als auch hinsichtlich ihrer Unabdingbarkeit erfordert – betonen auch Higgins, Problems and Process, S. 21 f.,
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juristisches Deduzieren ohne Rücksicht auf die Staatenpraxis definiert werden.851 Ein Teil der Völkerrechtslehre geht aber noch darüber hinaus und versucht, den Paradigmenwechsel des Völkerrechts von einem Koordinations- und Kooperationsrecht zwischen souveränen Staaten zu einem „Verfassungsrecht der Weltgemeinschaft“ auf ganzer Linie zu vollziehen: Entgegen dem Wortlaut des Artikel 53 WVRK soll bereits die Geltung einer ius cogens-Norm vom Konsens der Staaten unabhängig sein.852 Im Zentrum des heutigen Völkerrechts stehe nicht mehr der formelle Konsens der Staaten, sondern das materielle Ziel des universellen Schutzes überragender Gemeinschaftswerte.853 Hier werden die Parallelen zu der Vorgehensweise Bassiounis besonders deutlich, der das gewohnheitsrechtliche „aut dedere – aut iudicare“ letztlich auf seine Erforderlichkeit für das „common good“ der Menschheit stützt. Dieses nicht mehr vorwiegend am souveränen Staat ausgerichtete Völkerrechtskonzept will vor allem die Rolle des Individuums und der durch Nichtregierungsorganisationen repräsentierten „Zivilgesellschaft“ im völkerrechtlichen Rechtsetzungsprozess854 und im Völkerrecht überhaupt stärken.855 Ultimatives Fernziel ist damit wohl weniger die aus Hillgruber, in: Müller-Graff/Roth, S. 117 (126); Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 15 Rn. 42. 851 Vgl. Maierhöfer, EuGRZ 2002, S. 391 (395). Diese Position kommt bei Uerpmann, JZ 2001, S. 565 (572) schön zum Ausdruck, wenn er zwar noch eine völkerrechtliche Grundentscheidung für ein bestimmtes Rechtsgut fordert, diese aber ausreichen lässt, um aus ihr weitere Rechtsfolgen abzuleiten, oder bei Tomuschat, RdC 1993 IV, S. 195 (309) („[. . .] it is legitimate to derive binding rules from the basic principles upheld by the international community.“) 852 Vgl. bspw. Nettesheim, JZ 2002, S. 565 (576); Kokott, in: Meier-Schatz/ Schweizer, S. 3 (14); Ruffert, NILR 2001, S. 171 (184); Steven, Va. J. Int.’l L. 39 (1999), S. 425 (448); der Sache nach wohl ebenso Thürer, ZaöRV 2000, S. 557 (578, 598, 601); mit Einschränkungen ferner Henkin, International Law, S. 39 und Tomuschat, RdC 1993 IV, S. 195 (306 f.). 853 Vgl. Nettesheim, JZ 2002, S. 569 (571); Uerpmann, JZ 2001, S. 565 (569); Thürer, ZaöRV 2000, S. 557 (558 f., 578, 598, 601); ebenfalls die „objektive Wertordnung“ betonend Kokott, in: Meier-Schatz/Schweizer, S. 3 (18 ff.); mit Bezug gerade auf völkerrechtliche Bestrafungspflichten ähnl. Ambos, AVR 37 (1999), S. 318 (355); Kotzur, DÖV 2002, S. 195 (199); Steven, Va. J. Int.’l L. 39 (1999), S. 425 (448); Enache-Brown/Fried, McGill L. J. 43 (1998), S. 613 (629 f.); Henkin, International Law, S. 39. 854 So gesteht bspw. Kokott, in: Meier-Schatz/Schweizer, S. 3 (19) den Individuen und NGO’s eine von ihr nicht näher definierte Rolle bei der Rechtserzeugung zu; Nettesheim, JZ 2002, S. 569 (576 f.) sieht den Einfluss der Nichtregierungsorganisationen – für die er „formalisierte Mitsprachemöglichkeiten im Prozess der Rechtsentwicklung“ fordert – als rechtlich (Hervorhebung nicht im Original) bedeutsam an; nach Thürer, ZaöRV 2000, S. 557 (589) soll sich das Völkerrecht zu einem „neuartige[n], sich spontan in gesellschaftlichen, staatlichen und gemischten Foren herausbildenden ius gentium“ entwickeln, und IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000 (République Démocratique du Congo c. Belgique), Ur-
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Staaten zusammengesetzte „civitas maixma“ eines Christian Wolff, als vielmehr eine unmittelbar auf den Individuen als „Weltbürgern“ aufbauende internationale Ordnung.856 3. Die Verteidigung der klassischen Konzeption des Völkerrechts Folgt man dieser Völkerrechtskonzeption, ist an der Argumentation Bassiounis für ein für alle Staaten bezüglich aller internationaler Verbrechen verbindliches „aut dedere – aut iudicare“ wenig auszusetzen, denn man kann in der Tat mit guten Gründen der Ansicht sein, dass die Abschaffung sicherer Zufluchtsorte für Völkermörder, Terroristen und die Täter von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ dem Gemeinwohl der Menschheit dienlich wäre, ja sogar für dessen Optimierung unausweichlich ist. Der Einwand, dass die Staatenpraxis dieser Lösung widerspricht, verfängt vom Blickwinkel dieses Völkerrechtsverständnisses aus nicht; er wäre ein antiquiertes Argument aus der überwundenen Zeit des klassischen Völkerrechts, in der der souveräne, ohne seine Zustimmung keinen rechtlichen Bindungen unterworfene Staat im Zentrum stand. Bevor man aber diese „klassische“ Sichtweise des Völkerrecht zugunsten eines „modernen“, „human-beingoriented approach“857 über Bord wirft, sollte noch einmal erwogen werden, ob letzterer wirklich besser zur Lösung der Probleme unserer Welt geeignet ist. Eine so grundlegende Frage verdiente eigentlich eine eigene Monographie; sie kann im vorliegenden Rahmen bestenfalls holzschnittartig beantwortet werden. Dennoch soll nachfolgend kurz erläutert werden, wieso dieser Arbeit ein „klassisches“ Völkerrechtsverständnis zugrunde liegt.
teil vom 14.02.2002, op. diss. van den Wyngaert, Ziff. 27 spricht davon, dass das heutige Völkerrecht die Zivilgesellschaft nicht mehr ignorieren könne. 855 Vgl. bspw. ICTY, Tadic, Urteil v. 02.10.1995, IT-94-1-A, Ziff. 97; Ambos, NStZ 1999, S. 226 (227); ders., AVR 37 (1999), S. 318 (355); Kotzur, DÖV 2002, S. 195; Fassbender, EuGRZ 2003, S. 1 (9). Vgl. auch Möller, Völkerstrafrecht, S. 421 f., derzufolge Nichtregierungsorganisationen beweisen, „dass ein weltbürgerliches Denken und Handeln längst Realität [sei]“. 856 In diese Richtung weist etwa Nettesheim, JZ 2002, S. 569 (576), der allerdings zugibt, dass das Völkerrecht noch keine „weltbürgerliche Grundordnung“ sei, und Möller, Völkerstrafrecht, S. 419–422. Vgl. auch Kokott, in: Meier-Schatz/ Schweizer, S. 3 (19). Zum Unterschied zwischen diesen modernen Ideen und der Wolffschen „civitas maxima“ vgl. Onuf, AJIL 88 (1994), S. 280 (296) und oben 2. Kapitel D. II. 2. bei Fn. 206. 857 So die Terminologie des ICTY in Tadic, Urteil v. 02.10.1995, IT-94-1-A, Ziff. 97, im Abschluss daran ebenso bei Ambos, NStZ 1999, S. 226 (227).
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a) Das Bestimmtheits- und Rechtssicherheitsdefizit Das „klassische“ Völkerrecht baut auf dem Willen souveräner Staaten auf; dieser ist sein Geltungsgrund. Er muss sich in Verträgen, Staatenpraxis oder dadurch, dass alle innerstaatlichen Rechtsordnungen gewissen gemeinsamen Grundsätzen folgen, äußern, um einer der Völkerrechtsquellen „Vertrag“, „Gewohnheitsrecht“ oder „allgemeine Rechtsgrundsätze“ zugeordnet werden zu können.858 Auf diese Umstände muss die Rechtserkenntnis aufbauen; andere Argumente sind dagegen für die Bestimmung des positiv geltenden Völkerrechts irrelevant. Zwar kann man über die Deutung dieser Staatenpraxis sicher im Einzelfall trefflich streiten, aber dennoch gewährleistet die Anknüpfung an tatsächliche Vorgänge eine gewisse objektive Bestimmbarkeit der Normen und damit jedenfalls ein Mindestmaß an Rechtssicherheit. Kern des „neuen“ Völkerrechtsverständnisses ist dagegen die Vorstellung von „Grundwerten“, die die gesamte Menschheit teile, von einem „internationalen Gemeinschaftsinteresse“ und einem „internationalen Gemeinwohl“. Diese gelte es zu verteidigen und zu schützen, notfalls auch gegen den Willen der Staaten.859 Wer aber bestimmt den Inhalt dieser Parameter; wer bestimmt, welche Mittel zu ihrer Erreichung adäquat sind? Die Staaten scheiden hier als entscheidende Faktoren aus, denn ihre Interessen sind ja nicht mit denen der „internationalen Gemeinschaft“ identisch; von ihrem Willen soll das „Weltgemeinwohl“ ja gerade unabhängig sein.860 Der tatsächliche Wille und die wirklichen Wert- und Gemeinwohlvorstellungen der über sechs Milliarden Individuen, die Zentrum und Basis des „neuen“ Völkerrechts sein sollen, lässt sich weder heute noch in absehbarer Zukunft empirisch wirklich feststellen.861 Eine „echte“ Weltdemokratie mit univer858 Vgl. Henkin, International Law, S. 27 f.; Simma/Paulus, AJIL 95 (2001), S. 302 (304 f.); Hillgruber, JZ 2002, S. 1072 (1075); ders., AVR 40 (2002), S. 1; ders., in: Müller-Graff/Roth, S. 117 (123 ff.); Ipsen, in: ders., § 1 Rn. 43 ff.; Tomuschat, RdC 1993 IV, S. 195 (209 f.). Dies wurde vom StIGH in seinem inzwischen zum „Klassiker“ gewordenen Urteil im „Lotus-Fall“ mit folgenden Worten auf den Punkt gebracht: „Das internationale Recht bestimmt die Beziehungen zwischen unabhängigen Staaten. Die Rechtsregeln, die die Staaten binden, beruhen daher auf ihrem Willen, der zum Ausdruck kommt in Vereinbarungen oder in Gebräuchen [. . .].“ (Entscheidungen des Ständigen Internationalen Gerichtshofs, Bd. 5 [1927], S. 71 [89]). 859 Vgl. oben Fn. 853. 860 Vgl. bspw. IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000 (République Démocratique du Congo c. Belgique), Urteil vom 14.02.2002, op. diss. van den Wyngaert, Ziff. 85 oder Enache-Brown/Fried, MC Gill L. J. 43 (1998), S. 613 (629 f.) wo der Wille/das Interesse der Staaten einerseits und der Wille/das Interesse der „internationalen Gemeinschaft“ andererseits geradezu als Gegensätze erscheinen. 861 Maierhöfer, EuGRZ 2003, S. 545 (550).
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sellen Wahlen und Abstimmungen wird wohl von niemandem als mehr denn eine wohlklingende Utopie betrachtet.862 Wer bestimmt also die Grundwerte und das Gemeinwohl der „internationalen Gemeinschaft“? Die Frage könnte man nur dann als marginal zurückstellen, wenn der Inhalt dieser Begriffe in einer allgemein als richtig einleuchtenden und daher von keinem (vernünftigen) Menschen bestreitbaren Weise bestimmt werden könnte. Dem ist aber nicht so. Sicherlich gibt es Werte – wie das menschliche Leben – denen kaum jemand grundsätzlich die Geltung versagen will; selbst in der nationalsozialistischen Rechtsordnung wurde prinzipiell an der Strafbarkeit von Mord und Totschlag festgehalten. Dies bringt uns aber nicht dem Ziel „objektiv richtiger“ Rechtsnormen näher. Das Problem der Werte ist nämlich vor allem ein Problem der Wertkonflikte.863 Wenn aber zwei Werte, die man ihrem Inhalt nach beide mit gewisser Plausibilität zu „Grundwerten“ der „Weltgemeinschaft“ erheben könnte, miteinander in Konflikt geraten, dann lässt sich die Antwort nach dem Vorrang des einen oder anderen Wertes beziehungsweise nach dem Ausgleich zwischen beiden nicht mehr mit Mitteln der rationalen Erkenntnis lösen.864 Kriegsdienst(verweigerung), Todesstrafe, Schwangerschaftsabbruch und Embryonenforschung beweisen, dass selbst dort, wo es um das Rechtsgut „Leben“ geht, in Konfliktfällen keine jedermann als „objektiv richtig“ einleuchtenden Lösungen zu erzielen sind.865 Die „Gerechtigkeit“, um die es hier letztlich geht, liegt in ihrer absoluten Geltung jenseits aller menschlicher Erfahrung, sie ist unmöglich mit wissenschaftlicher, d.h. rationaler, an der Erfahrung orientierter Erkenntnis zu bestimmen.866 Ein Blick in die Geschichte der Naturrechtslehre zeigt dies: Im Laufe der Jahrhunderte sind hier die gegensätzlichsten Rechts- und Gesellschaftsordnungen – etwa sowohl die Demokratie als auch die absolute Monarchie, sowohl der Schutz des Individualeigentums als auch dessen Abschaffung – als einzig dem Naturrecht entsprechend postuliert worden.867 Das historische Kapitel der vorliegenden Untersuchung hat dies gerade auch mit Blick auf das „aut dedere – aut iudicare“ bestätigt: Unter der Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts gab es Befürworter wie Gegner dieses Grundsatzes; ja selbst diejenigen, die 862 Auf die Undurchführbarkeit globaler Demokratie weist auch Oeter, in: FS Steinberger, S. 259 (288) hin. 863 Vgl. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, S. 6. Vgl. ferner Paulus, S. 269, der zutreffend betont, dass es für die Umsetzung eines grundsätzlichen Wertekonsenses in die Rechtspraxis einer Abwägungsentscheidung zwischen verschiedenen kollidierenden Werten bedarf. 864 Vgl. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, S. 6. 865 Für solche und weitere Bsp. vgl. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, S. 7 ff.; Doehring, Rn. 12. 866 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 14. 867 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, S. 38 f.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
wie Grotius, Vattel oder Wolff vom „Weltgemeinwohl“ her dachten, kamen hier zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen. Nicht zu Unrecht wurde die auf dem Naturrecht und der Fiktion einer „civitas maxima“ aufbauende Völkerrechtslehre Wolffs daher als „willkürliche Setzung durch philosophisch-juristische Spekulation“ kritisiert.868 Die Wissenschaft kann Völkerrechtsregeln aufgrund des tatsächlichen Verhaltens der Staaten empirisch feststellen, sie kann sie aber nicht aus „absoluten Geboten“ ableiten oder begründen, wieso Rechtsnormen inhaltlich so bestehen „müssen“.869 Überpositive, auf der reinen „veritas“ des Inhalts anstatt auf der „auctoritas“ eines „weltlichen“ Rechtsetzungsverfahrens beruhende Normen sind im höchsten Maße unbestimmt – beziehungsweise von jedermann entsprechend seiner eigenen Wertvorstellungen bestimmbar, ohne dass diese Behauptung objektiv widerlegt werden könnte.870 Wer ein (Völker-)Rechtsverständnis vertritt, das letztlich aus subjektivem Rechtsempfinden allgemein gültiges Recht macht,871 sollte auch den Fall bedenken, dass sein eigenes Rechtsempfinden sich im „Kampf der unterschiedlichen Rechtsempfinden“ nicht durchsetzt.872 Ob der „Krieg gegen den Terror“ oder die Achtung der grundlegenden Menschenrechte des Terroristen Vorrang hat, ob militärische Gewalt ohne das Placet des Sicherheitsrates überhaupt nicht, nur zur Beendigung schwerster Menschenrechtsverletzungen oder gar auch zur Beseitigung eines unliebsamen und gefährlichen Diktators legitim ist, wird, wenn man nur den Maßstab der materiellen Gerechtigkeit anlegt, je nach politischem Standpunkt (und wohl auch nationaler Herkunft) des Betrachters anders beurteilt werden. Also ist die entscheidende Frage: Wer legt fest, mit 868 Vgl. die Kritik bei Tomuschat, AVR 33 (1995), S. 1 (7 f.). Wenn dieser einwendet, bzgl. der heutigen „world coummunity“-Lehre bestünde diese Gefahr nicht, weil zahlreiche Rechtstexte das Bekenntnis der Staaten zum Gemeinschaftsgedanken bewiesen und deshalb „[w]as in vergangenen Jahrhunderten bloßes Gedankenkonstrukt war, [. . .] nunmehr auf Grund der Zustimmung der Beteiligten zumindest eine normative Realität“ darstelle, so wäre ihm nur dann zuzustimmen, wenn man aus dem Gemeinschaftsgedanken auch keinerlei Rechtsfolgen ableiten würde, die über dasjenige hinausgehen, was die Staaten in den von Tomuschat angesprochenen Rechtstexten konsentiert haben. Sobald man aber den empirisch einigermaßen sicheren Boden der Staaten- bzw. Vertragspraxis verlässt und Völkerrecht direkt aus vagen Gemeinschaftsvorstellungen ableitet, bewegt man sich heute auf ebenso spekulativem Boden wie die Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts. 869 Vgl. Doehring, Rn. 14. 870 Vgl. auch Maierhöfer, EuGRZ 2003, S. 545 (550); auf die Willkürgefahr macht auch Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 15, Rn. 40 aufmerksam. 871 So auch der Vorwurf von Higgins, Problems and Process, S. 21 und Manske, S. 358 f. an diejenigen, die das Konsensprinzip aufgeben wollen (was Manske allerdings teilweise selbst tut, vgl. oben 1. Fn. 841–843). 872 Manske, S. 358 f.
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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welchen Mitteln welche Gemeinwohlziele zu erreichen und welche Grundwerte zu verteidigen sind?873 Im klassischen Völkerrecht sind es die Staaten, die mittels Verträgen oder gewohnheitsrechtssetzendem Verhalten den Konflikt verschiedener Werte und Interessen in einer konkreten Norm des positiven Völkerrechts auflösen. Es scheint so, als wollten im „neuen Völkerrecht“ Völkerrechtswissenschaft und Nichtregierungsorganisationen diese Aufgabe selbst übernehmen. Sie sind es jedenfalls, die zur Zeit immer wieder aus angeblichen „Grundwerten“ und „objektiven Interessen“ der „Weltgemeinschaft“ entgegen der Staatenpraxis konkrete Rechtsfolgen ableiten.874 Dies führt uns aber zum nächsten Defizit eines vom Staatenkonsens losgelösten Völkerrechts, dem Legitimitätsdefizit. b) Das Legitimitätsdefizit Wenn der Inhalt der Normen des „neuen“ Völkerrechts letztlich von Nichtregierungsorganisationen und Völkerrechtswissenschaftlern gemäß ihren subjektiven Gerechtigkeitsvorstellungen definiert wird, dann stellt sich die Frage nach der Legitimation dieser Akteure, die weder auf demokratischem Wege in diese „Rechtssetzerposition“ gelangt sind, noch irgendeinem „Volk“ – sei es einem Staatsvolk oder dem „Weltvolk“ – gegenüber für ihr Tun verantwortlich sind.875 Ein möglicher Legitimationsversuch führt über das Naturrecht, das auch schon die ein „aut dedere – aut iudicare“ überwiegend bejahende Völkerrechtswissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts prägte.876 Über den objektiv „richtigen“, „vernünftigen“ Inhalt lässt sich aber – wie soeben dargelegt – in der heutigen Zeit, in der schon die einzelnen Staatsvölker in sich, aber in noch viel größerem Maße die Weltbevölkerung in verschiedene politische, soziale, religiöse und kulturelle Gruppen mit unterschiedlichen Wertvorstellungen zersplittert ist, die Gültigkeit einer Norm nicht rechtfertigen.877 Der einzige gangbare Weg scheint daher eine verfahrensrechtliche Legitimation nach dem demokratischen Prinzip zu sein, d.h. die Rechtfertigung von Normen dadurch, dass diese sich in ihrer Entstehung auf den Mehrheitswillen des Volkes – im völkerrechtlichen Weltmaßstab natürlich: der Völker – zurückführen lassen. Eine unmittelbare Rückführbarkeit des Völkerrechts auf das „Weltvolk“ als einheitliche Größe ist aber – wie bereits ausgeführt – Utopie. Möglich ist dagegen seine mittel873 Paulus, S. 270 hebt zutreffend die Bedeutung eines Mechanismus zur verbindlichen Entscheidung von Wertkonflikten hervor. 874 Ähnl. Maierhöfer, EuGRZ 2003, S. 545 (550). 875 Maierhöfer, EuGRZ 2003, S. 545 (550); ders., GLJ 2003, S. 1213 (1215). 876 Zu der naturrechtlichen Tendenz dieser „modernen“ Völkerrechtslehre vgl. Fassbender, EuGRZ 2003, S. 1 (12); Kokott, in: Meier-Schatz/Schweizer, S. 3 ff. 877 Ähnl. Doehring, Rn. 11 f.; Ipsen, in: ders., Völkerrecht, § 1 Rn. 29 f., 48.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
bare Rückführung auf den Willen der einzelnen Staatsvölker, denn um dem inneren Selbstbestimmungsrecht der Völker gerecht zu werden, müssen die Staatsorgane, die im Namen eines Staates am Völkerrechtsverkehr teilnehmen, ihre Befugnisse vom jeweiligen Staatsvolk ableiten.878 Die Zustimmung eines Staates zu einer bestimmten Völkerrechtsnorm stellt also mittelbar die Zustimmung seiner Bürger zu dieser Norm dar und legitimiert deren Geltung demokratisch.879 Dabei soll weder verkannt werden, dass in der politischen Realität viele Staaten immer noch undemokratisch verfasst sind, noch, dass die Existenz eines echten völkerrechtlichen „Rechts auf Demokratie“ wohl verneint werden muss.880 Trotz dieser Schwächen ist aber eine Rückbindung der völkerrechtlichen Normbefehle an die Zustimmung der Staaten im Vergleich zu anderen Alternativen noch der am meisten überzeugende Legitimationsstrang.881 Das „klassische“, am Willen und der Praxis der Staaten orientierte Völkerrecht ist dem „neuen“ Ansatz also nicht nur unter dem Aspekt der Rechtssicherheit überlegen, sondern bietet auch größere Gewähr für eine Legitimation seiner Normen. c) Das sich verschärfende Effizienzdefizit Wie jede Rechtsordnung muss es sich auch das Völkerrecht zum Ziel setzen, das reale Verhalten der Normadressaten zu steuern. Wenn die Missachtung des Rechts zum Regel- und die Beachtung zum Ausnahmefall würde, verlöre das Recht diese Steuerungsfähigkeit.882 Schon heute ist der Mangel an „praktischer Wirksamkeit“, die Vielzahl sanktionslos hingenommener Verstöße das wohl am meisten beklagte Defizit des Völkerrechts. Sollte das „neue“ Völkerrecht Hoffnung auf eine größere tatsächliche Befolgung wecken, dann wäre es in der Tat ein Fortschritt. Das Gegenteil ist aber der Fall: Je mehr das Völkerrecht vom Willen der Staaten abgelöst wird, desto weniger dürften die Staaten bereit sein, seinen Normen Folge zu leisten.883 878
Vgl. dazu auch Oeter, in: FS Steinberger, S. 259 (285 f.); Hillgruber, JZ 2002, S. 1072 (1077); Maierhöfer, EuGRZ 2003, S. 545 (550). 879 Vgl. Hillgruber, JZ 2002, S. 1072 (1077); Oeter, in: FS Steinberger, S. 259 (287 f.). 880 Vgl. zur Frage eines „Rechts auf Demokratie“ Paulus, S. 264–267, der zwar eine politische Tendenz zur vermehrten Beachtung demokratischer Prinzipien erkennt, aber noch kein gefestigtes völkerrechtliches „Recht auf Demokratie“. 881 Maierhöfer, EuGRZ 2003, S. 545 (550); zur Alternativlosigkeit dieses Legitimationskonzepts auch Hillgruber, JZ 2002, S. 1072 (1077); Oeter, in: FS Steinberger, S. 259 (289 f.). 882 Maierhöfer, EuGRZ 2003, S. 545 (550). 883 Maierhöfer, EuGRZ 2003, S. 545 (550); zu diesem Effizienzdefizit vgl. auch Simma/Paulus, AJIL 95 (2001), S. 302 (302 f.); Heintschel von Heinegg, in: Zimmermann, S. 27 (47).
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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Die natur- und vernunftrechtlich geprägte Völkerrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts kann hier – gerade auch auf dem Feld des internationalen Strafrechts – als mahnendes Beispiel dienen.884 Nicht nur das Völkerrechtskonzept eines Christian Wolff, der mit seiner fiktiven „civitas maxima“ und ihrem ebenso fiktiven „rector“ als oberstem Völkerrechtssetzer die vernunftrechtliche Konstruktion auf die Spitze trieb, gilt heute im Rückblick als ein vom tatsächlichen Rechtsleben losgelöstes, rein philosophisches Gedankenkonstrukt,885 auch die übrige Völkerrechtswissenschaft vermochte es nicht, die von ihr über Jahrhunderte mehrheitlich vertretene allgemeine Geltung eines „aut dedere – aut punire“ in der Praxis durchzusetzen.886 Immer noch gilt der bereits oben zitierte Satz von Coleman Phillipson: „A State is not likely to change its law or practice [. . .], because it is not in accordance with the theories of text-writers.“887 Entgegen dem ersten Anschein ist also selbst im Interesse eines praktisch wirklich spürbaren Schutzes der Menschenrechte und anderer „Grundwerte“ ein Völkerrecht vorzuziehen, das auf dem Konsens der Staaten beruht.888 d) Die Entzauberung des ius cogens-Arguments: vom Fehlen einer Normenkollision Aber nicht nur gegen die Lehre, die die Geltung des ius cogens völlig vom staatlichen Konsens loslöst, bestehen schwere Bedenken, auch die „logische“ Ableitung von der Staatenpraxis widersprechenden Rechtsfolgen aus der ius cogens-Qualität von Normen, die im Grundsatz durchaus vom Konsens der Staaten getragen sind, birgt Gefahren in sich. Auch hier wird letztendlich von der Wissenschaft eine Völkerrechtsnorm produziert, die mit diesem Inhalt nicht vom Willen der souveränen Staaten getragen wird. Folterverbot, Völkermordverbot und andere „gemeinwohlorientierte“ Normen des Völkerrechts sind zunächst einmal nur abstrakte Leitideen, die der Konkretisierung und des Ausgleichs mit anderen Interessen und Rechtspositionen – etwa dem die Strafverfolgung von Auslandstaten beschränkenden Nichteinmischungsgrundsatz oder dem den Immunitäten zugrunde liegenden Prinzip der souveränen Gleichheit – bedürfen.889 Diese „Konkretisierung“ 884
Maierhöfer, EuGRZ 2003, S. 545 (550). Vgl. zur Bewertung der Völkerrechtslehre von Christian Wolff oben 2. Kapitel D. I. 2. 886 Vgl. oben 2. Kapitel D. III. 887 Wheaton, S. 189. 888 Vgl. auch Simma/Paulus, AJIL 95 (2001), S. 302 (316); IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000 (République Démocratique du Congo c. Belgique), Urteil vom 14.02.2002, op. ind. Rezek, Ziff. 9 a. E. 889 Vgl. Fassbender, EuGRZ 2003, S. 1 (14). 885
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
kann aber nur durch den Konsens der souveränen Staaten erfolgen, ansonsten sind die Gefahren für Bestimmtheit, Legitimität und Effektivität des Völkerrechts nahezu dieselben wie bei der oben angeführten „radikaleren“ Lehre. Dies gilt um so mehr, als man es bei der „logischen“ Ableitung von Normen aus dem ius cogens nicht immer ganz so genau mit der Logik nimmt. Ein Folterverbot beispielsweise verbietet einem Staate sicherlich, selbst zu Foltern, höchstwahrscheinlich auch, Folter durch Dritte auf seinem Territorium zu dulden sowie Folter im Ausland aktiv zu unterstützen oder zu ermöglichen. Wieso es aber nur deswegen, weil es als vertraglich unabdingbares und damit – dies sei hier zu Argumentationszwecken einmal zugestanden – höherrangiges ius cogens anerkannt ist, logisch zwingend darüber hinaus auch gebieten soll, Klagemöglichkeiten gegen ausländische Staaten, die in ihrem Territorium gefoltert haben, zur Verfügung zu stellen, oder gar, um auf das Thema der vorliegenden Untersuchung zurückzukommen, Individuen, die in der Vergangenheit im Ausland gefoltert haben, strafrechtlich zu verfolgen, ist nicht ersichtlich:890 Das häufige Fehlen gerichtlicher Entscheidungsinstanzen ist ein dem Völkerrecht allgemein innewohnendes – wenn auch bedauerliches – Merkmal; eine materielle Völkerrechtsnorm garantiert deshalb nie ihre Durchsetzbarkeit vor innerstaatlichen oder internationalen Gerichten.891 Auch die von Manske befürwortete Ableitung einer Pflicht zur Bekämpfung von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ aus dem Gedanken konsensunabhängiger „notwendiger Ordnungsnormen“892 ist abzulehnen. Trotz größerer Betonung des Konsensprinzips rekurriert sie im Kern, nämlich bezüglich der „Pflicht zur Bildung von Rechtsgemeinschaften“, ebenfalls auf das Naturrecht.893 Erwägenswert wäre allenfalls, diese „notwendigen Normen“ nicht als absolut gültig, sondern als innerhalb der derzeit bestehenden Völkerrechtsordnung nicht mit systemimmanenten Mitteln aufhebbar anzusehen, da sich diese Rechtsordnung sonst selbst zur Disposition stellen würde. Jedoch könnte selbst auf dieser Basis kein „aut dedere – aut iudicare“ begründet werden, denn zu den „notwendigen Ordnungsnormen“, ohne die keine Völkerrechtsordnung denkbar ist, zählen Strafverfolgungsoder Auslieferungspflichten bei schweren Menschenrechtsverbrechen eindeutig nicht. Sie sind – wie die Menschenrechte überhaupt – eine relativ neue Erscheinung, die trotz älterer Wurzeln ihren Siegeszug im positiv geltenden Völkerrecht erst im 20. Jahrhundert antrat, während die Rechtsordnung „Völkerrecht“ schon sehr viel länger existiert.894 „Völkerrecht“ als 890 Vgl. Maierhöfer, EuGRZ 2002, S. 391 (397 f.); Henzelin, S. 440 f.; ähnl. Kadelbach, JZ 2001, S. 981 (982); wohl auch Paulus, S. 352 f. 891 Vgl. Maierhöfer, EuGRZ 2002, S. 391 (397 f.). 892 Dazu oben 1. bei Fn. 841–843. 893 Vgl. Manske, S. 360 f.
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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Recht ist ohne sie durchaus denkbar, es erscheint uns heute lediglich aus Gründen der materiellen Gerechtigkeit als rechtspolitisch ungenügend. e) Der rechte Platz des Weltgemeinschaftsgedankens: die rechtspolitische Ebene Das an der Staatenpraxis orientierte, „klassische“ oder „positivistische“ Völkerrechtsverständnis hat also auch heute noch nicht ausgedient. Es soll daher der vorliegenden Untersuchung des völkerrechtlichen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes zugrunde gelegt werden. Eine Ableitung von gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“-Pflichten jenseits der Staatenpraxis, etwa aus der ius cogens-Qualität der durch die Straftat verletzten Völkerrechtsnorm oder gar direkt aus dem „Weltgemeinschaftsgedanken“, muss auf dieser Basis ausscheiden. Damit soll aber weder geleugnet werden, dass am Gemeinwohl der ganzen Menschheit orientierte Erwägungen glücklicherweise immer mehr das Handeln der Staaten auf völkerrechtlicher Ebene bestimmen, noch, dass zur Lösung der existenziellen Probleme der Menschheit – von der Friedenssicherung bis hin zum Klimaschutz – vielfach ein noch größeres Maß an „Gemeinsinn“ erforderlich wäre. Die Untersuchung der vertraglichen „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen zeigte, dass der Weltgemeinschaftsgedanke als rechtpolitisches Motiv für den Vertragsschluss eine große Rolle gespielt hat und dabei an die Stelle einer bloßen „Zweckgemeinschaft“, die aus rein utilitaristischen Motiven beispielsweise die Sicherheit der internationalen See- und Luftfahrt gemeinsam schützt, immer mehr eine „Wertegemeinschaft“ getreten ist, die aus humanitären Gründen vertraglich vereinbart, Folterknechten oder Kriegsverbrechern keine sichere Zuflucht zu gewähren.895 Die Zivilgesellschaft, deren wichtigste Repräsentanten die Nichtregierungsorganisationen sind, hat die Aufgabe, auf politischer Ebene dafür zu sorgen, dass solche Erwägungen auch weiterhin immer mehr das Verhalten der Staaten und damit die völkerrechtliche Rechtsetzung prägen. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass diese Art der Einflussnahme keineswegs wirkungslos ist: Vom modernen humanitären Völkerrecht, das durch die verschiedenen Genfer Konventionen des 19. und 20. Jahrhunderts von den Staaten geschaffen wurde, letztlich aber auf die Privatinitiative einer Gruppe schweizerischer Bürger um Henri Dunant zurückgeht, bis hin zur Landminenkonvention von 1997, deren Abschluss maßgeblich dem „Lobbying“ verschiedener Nicht894 Vgl. zu den Ursprüngen des Völkerrechts im Mittelalter und der frühen Neuzeit Grewe, Epochen, S. 26 ff. 895 Vgl. oben A. VI. Weitere Belege für die Beeinflussung der Staatenpraxis durch den Weltgemeinschaftsgedanken führt Tomuschat, AVR 33 (1995), S. 1 (1–6) an.
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
regierungsorganisationen zu verdanken ist, reichen die Beispiele erfolgreicher Beeinflussung des völkerrechtssetzenden Verhaltens der Staaten durch „die Bürger“. Die Völkerrechtswissenschaft sollte aber nicht die Trennung zwischen dem, was de lege ferenda wünschenswert wäre, und dem, was bereits positiv geltendes Recht ist, aus dem Auge verlieren. Ihre Aufgabe ist es nicht in erster Linie, Rechtspolitik zu betreiben, sondern das geltende Völkerrecht zu erforschen.896 Auf dieser völkerrechtsdogmatischen Ebene bestreitet der Verfasser dieser Untersuchung aber, dass die naturrechtlich inspirierte Ableitung konkreter Rechtsnormen direkt aus angeblichen „Gemeinschaftswerten“ der Menschheit weiterführt. Wer nicht zwischen – notwendigerweise subjektiven – moralisch-ethischen Werten und für alle Rechtsunterworfenen allgemein gültigen Rechtsnormen unterscheidet, ideologisiert das Völkerrecht und leistet ihm einen Bärendienst.897 Die „rule of law“ in den internationalen Beziehungen und der Schutz der Menschenrechte sind nicht gegen die Staaten – und damit letztlich gegen die in ihnen organisierten Staatsvölker –, sondern nur mit ihnen durchsetzbar.898
IV. Resümee und Einordnung gewohnheitsrechtlicher Vorschriften in Bezug auf das Strafrechtsanwendungsrecht Im Unterschied zu früheren Jahrhunderten, haben sich in jüngster Zeit immerhin einige Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebote völkergewohnheitsrechtlich etablieren können. So gilt ein „aut dedere – aut iudicare“ heute für schwere Verstöße gegen das in internen bewaffneten Konflikten anwendbare humanitäre Völkerrecht – was freilich auch auf einer extensiven Auslegung der Genfer Konventionen beruhen könnte – und für Flugzeugentführungen, während es hinsichtlich anderer Erscheinungsformen des internationalen Terrorismus bestenfalls eine formelhafte Einigkeit der Staa896 Vgl. Maierhöfer, EuGRZ 2003, S. 545 (551); Heintschel v. Heinegg, in: Zimmermann, S. 27 (47). Zur Aufgabe der Rechtswissenschaft, das geltende Recht ideologiefrei zu beschreiben, vgl. ferner die grundlegenden Ausführungen von Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 16 ff. 897 Vgl. Simma/Paulus, AJIL 95 (2001), S. 302 (305). 898 Dessen ist sich neben den oben in Fn. 888 angeführten Rechtswissenschaftlern wohl auch der IGH bewusst, der es schon in den 1960er Jahren abgelehnt hatte, seine Rspr. direkt auf „humanitarian considerations“ oder „moral principles“ zu stützen (vgl. South West Africa [Judgement], ICJ Rep. 1966, S. 6 [34]), und der auch heute noch überwiegend (trotz einiger vielleicht anderes andeutender Sondervoten im Nuklearwaffengutachten; vgl. Thürer, ZaöRV 2000, S. 557 [589–595]) einem an der Staatenpraxis orientierten Ansatz folgt (vgl. die Analyse des Urteils vom 14.02.2002 in der „Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000“ bei Maierhöfer, EuGRZ 2003, S. 545 [548 ff., 554]).
B. Gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten
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ten gibt, die mangels Konsens über eine Terrorismusdefinition praktisch nur wenig weiterhilft. Für andere Straftaten muss der Zufluchtsstaat den Täter einer Auslandstat nur dann ausliefern oder selbst verfolgen, wenn er sich diese Straftat aufgrund allgemeiner Kriterien als eigenes Verhalten zurechnen lassen muss, etwa weil sie in seinem Auftrag begangen wurde. Damit ist die gewohnheitsrechtliche Strafverfolgungs- oder Auslieferungspflicht immer noch sehr defizitär, wie ihr Fehlen für Völkermord und im Frieden begangene Menschenrechtsverbrechen zeigt. Wer zur Füllung dieser Lücken allerdings auf materielle Gerechtigkeitserwägungen zurückgreifen will, gefährdet Bestimmtheit, Legitimation und Effizienz des Völkerrechts. Wie verhalten sich nun die gewohnheitsrechtlichen Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebote zum Strafrechtsanwendungsrecht? Erlauben sie Staaten lediglich die Ausdehnung ihres Strafrechts auf gegen Ausländer gerichtete Auslandstaten von später in ihr Gebiet geflüchteten Ausländern, oder verpflichten sie gar dazu?899 Auch wenn die Staatenpraxis hier keine definitiven Aussagen erlaubt, so spricht doch einiges für die obligatorische Variante: Die Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebote für Flugzeugentführer und Bürgerkriegsverbrecher weisen eine große Nähe zu vertraglichen Regelungen auf, die solche verpflichtenden „jurisdictional clauses“ umfassen;900 das aus der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit des Zufluchtsstaates für die Tat entspringende „aut dedere – aut iudicare“ dürfte ebenfalls kaum so ausgestaltet sein, dass der verantwortliche Staat sich ihm durch eine enge Ausgestaltung seines nationalen Strafrechtsanwendungsrechts einfach entziehen kann.
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Zu beiden Konstruktionsmöglichkeiten vgl. oben, 1. Kapitel B. IV. So könnte man das „aut dedere – aut iudicare“ für Bürgerkriegsverbrecher durchaus auch als auf einer extensiven Auslegung der Genfer Konventionen beruhend ansehen [vgl. oben I. 1. a) cc)] und hinsichtlich von Flugzeugentführern war die große Akzeptanz der Haager Konvention ein wichtiges Indiz für das gewohnheitsrechtliche Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot [vgl. oben I. 2. c)]. Nach beiden Verträgen ist die Ausdehnung des zufluchtsstaatlichen Strafrechts auf Auslandstaten von Ausländern aber obligatorisch [vgl. oben A. I. 2. b) und II. 1. a)]. Die Tatsache, dass der US-amerikanische „war crimes act“ im Ausland begangene Bürgerkriegsverbrechen nur nach dem aktiven und passiven Personalprinzip verfolgt, steht einer solchen Auslegung des „aut dedere – aut iudicare“ nicht unbedingt entgegen: Auch für Kriegsverbrechen in internationalen Konflikten sieht das USStrafrecht dieselbe Regelung vor und ignoriert somit die „jurisdictional clause“ der Genfer Konventionen, was in der Lit. zu Recht als Völkerrechtsverstoß gebrandmarkt wird (vgl. oben Fn. 398). 900
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
C. Sicherheitsratsbeschlüsse nach Kapitel VII UN-Charta als Grundlage für ein „aut dedere – aut iudicare“? Im Anschluss an die Darstellung der wichtigsten „aut dedere – aut iudicare“-Verträge und die Untersuchung des Völkergewohnheitsrechts soll nun abschließend noch eine letzte Möglichkeit erörtert werden, wie im heutigen Völkerrecht möglicherweise Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebote entstehen könnten, nämlich dadurch, dass der Sicherheitsrat in einer bindenden Resolution nach Kapitel VII UN-Charta einen oder mehrere UN-Mitgliedstaaten verpflichtet, bestimmte Straftäter auszuliefern oder strafrechtlich zu verfolgen. Ein solches „aut dedere – aut iudicare“ wäre formal zwar dem Vertragsrecht zuzuordnen (und damit oben unter A. zu erörtern gewesen), seine angesichts von derzeit 191 UN-Mitgliedstaaten quasi allgemeinverbindliche Wirkung und seine besondere Stellung gemäß Artikel 103 UN-Charta rechtfertigen es jedoch, diese Konstellation gesondert zu behandeln. Um es vorab noch einmal klarzustellen: Thema des folgenden Abschnitts ist nicht etwa die Frage, ob und gegebenenfalls wie der Sicherheitsrat mit Hilfe von Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII UN-Charta einen Staat zur Einhaltung einer bereits bestehenden, vertraglichen oder gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“-Pflicht anhalten kann. Hier soll vielmehr untersucht werden, ob durch einen solchen Sicherheitsratsbeschluss ein „aut dedere – aut iudicare“ konstitutiv begründet, also ein Staat in einer Situation, die eigentlich keinem „aut dedere – aut iudicare“ unterliegt, zur Befolgung dieser Maxime verpflichtet werden kann. Dies würde zweierlei voraussetzten: Erstens müsste die Nichtauslieferung und Nichtverfolgung eines Straftäters als Friedensgefahr im Sinne des Artikel 39 UN-Charta in Betracht kommen – und zwar auch dann, wenn sie völkerrechtsgemäß ist; zweitens müsste die Anordnung einer Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflicht zu dem Instrumentarium gehören, das dem Sicherheitsrat nach Artikel 40 bis 42 UN-Charta zur Wahrung des Friedens zur Verfügung steht.
I. Die völkerrechtsgemäße Nichtauslieferung und Nichtverfolgung eines Straftäters als Friedensgefahr im Sinne des Artikel 39 UN-Charta Unterliegt ein bestimmter Staat im Hinblick auf einen bestimmten Straftäter weder aufgrund von Vertrags- noch aufgrund von Gewohnheitsrecht einer Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflicht, so ist die Gewährung von sicherer Zuflucht für diese Person zunächst einmal eine ganz gewöhnliche völkerrechtskonforme Ausübung der territorialen Souveränität des Zu-
C. Sicherheitsratsbeschlüsse nach Kapitel VII UN-Charta
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fluchtsstaates, durch die Rechte anderer Staaten nicht verletzt werden.901 Es fällt auf den ersten Blick schwer zu glauben, dass ein solches völkerrechtlich nicht zu beanstandendes Verhalten dem Sicherheitsrat Anlass geben kann, mit Zwangsmaßnahmen gegen einen Staat vorzugehen. Bei eingehender Überlegung ist aber zu konzedieren: Anders als im Rahmen des Völkerbundes, ist das kollektive Sicherheitssystem der UN nicht als Reaktionsmechanismus auf Völkerrechtsverstöße konzipiert, sondern als ein präventives Instrumentarium zur Friedenserhaltung. Eine Friedensgefahr nach Artikel 39 UN-Charta setzt deswegen nicht unbedingt einen Völkerrechtsverstoß voraus.902 Entscheidend ist nicht, ob das Verhalten eines Staates völkerrechtskonform oder völkerrechtswidrig ist, sondern ob es den Weltfrieden gefährdet. Bei dieser Entscheidung genießt der Sicherheitsrat einen weiten Beurteilungsspielraum.903 Seit dem Ende des Kalten Kriegses fasst dieser in ständiger Praxis den Begriff der Friedensgefahr eher weit und subsumiert darunter namentlich schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte, aber auch die Nichtauslieferung von Terroristen.904 Wie im Folgenden gezeigt werden wird, haben die UN-Mitgliedstaaten diese extensive Lesart des Artikels 39 UN-Charta weitestgehend akzeptiert. Bezüglich von Völkermord, Kriegs- und Bürgerkriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist dabei vor allem auf die Staatenpraxis in Zusammenhang mit der internationalen Strafgerichtsbarkeit zu verweisen: Die auf Kapitel VII UN-Charta gestützte Schaffung des ICTY und des ICTR zur Bekämpfung dieser Verbrechen ist inzwischen praktisch allgemein als legal anerkannt.905 Auch bei der Aushandlung des ICC-Statu901
Vgl. auch IGH, Asylum Case, ICJ Rep. 1950, S. 266 (274). Vgl. dazu Frowein/Krisch, in: Simma, UN-Charter, Art. 39 Rn. 9; Kelsen, The Law of the United Nations, S. 294 f. und 735 f. (allerdings mit der wenig überzeugenden Unterscheidung auf der Rechtsfolgenseite, dass im Falle einer Friedensgefährdung durch völkerrechtskonformes Handeln nur militärische Maßnahmen nach Art. 42 UN-Charta zulässig sein sollen, nicht jedoch nichtmilitärische Maßnahmen nach Art. 41. Für eine solche Unterscheidung bietet die Charta keinen Anhaltspunkt; unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten müssten im Gegenteil an militärische Maßnahmen eher strengere Anforderungen gestellt werden als an nichtmilitärische); diff. Herdegen, UN-Sicherheitsrat, S. 20 ff. 903 Zum Beurteilungsspielraum des Sicherheitsrates bei der Feststellung einer Situation nach Art. 39 UN-Charta vgl. ICTY, Tadic, 02.10.1995, IT-94-1-AR72, Ziff. 28; aus der Lit. bspw. Bothe, in: Graf Vitzthum, VIII Rn. 45; Herdegen, UNSicherheitsrat, S. 14 f.; ausf. ders., in: FS Bernhardt, S. 103 (107 ff.). 904 Vgl. hierzu bspw. Fischer, in: Ipsen, § 60 Rn. 8; Nguyen/Daillier/Pellet, Rn. 587; Frowein/Krisch, in: Simma, UN-Charter, Art. 39 Rn. 20 und 23; Herdegen, UN-Sicherheitsrat, S. 11 ff. (alle m. w. N.). 905 Vgl. Frowein/Krisch, in: Simma, UN-Charter, Art. 41 Rn. 19; Doehring, Rn. 1169; auch: Wiliams, in: Triffterer, Art. 13 Rn. 13 a. E. Zum Vorliegen einer 902
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
tes begegnete es im Grundsatz kaum Bedenken, dass der Sicherheitsrat dem ICC aufgrund von Kapitel VII UN-Charta „Situationen“ zur Prüfung zuweisen kann.906 Indem sie anerkannten, dass Straftaten der im ICC-Statut genannten Art Anlass für Maßnahmen nach Kapitel VII UN-Charta sein können, haben die Staaten implizit bestätigt, was sie im 3. Erwägungsgrund der Präambel des Statuts von Rom sogar explizit zum Ausdruck brachten: Solche Straftaten bedrohen den Weltfrieden.907 Auch die Praxis des Sicherheitsrates, den internationalen Terrorismus seit 1992 mehrfach zum Anlass für Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII UNCharta zu nehmen, stieß auf breite Zustimmung. Schon im ersten derartigen Fall, der „Lockerbie-Affäre“,908 zogen sogar die fünf sich enthaltenden SiSituation nach Art. 39 UN-Charta bei Schaffung des ICTY vgl. ferner grundlegend ICTY, Tadic, 02.10.1995, IT-94-1-AR72, Ziff. 30. 906 Vgl. Wiliams, in: Triffterer, Art. 13 Rn. 13 a. E.; auch Condorelli/Villalpando, in: Cassese/Gaeta/Jones, S. 627 (629 f.), wonach während der gesamten „travaux préparatoires“ Einigkeit bestand, dass die Kompetenz zur Übertragung von „Situationen“ an den ICC nicht erst aus Art. 13 b) ICC-Statut, sondern schon aus Kapitel VII UN-Charta folgt. 907 Die entsprechende Passage der Präambel lautet: „In der Erkenntnis, dass solche schweren Verbrechen den Frieden, die Sicherheit und das Wohl der Welt bedrohen, [. . .]“. Vgl. dazu auch Condorelli/Villalpando, in: Cassese/Gaeta/Jones, S. 627 (631 f.). 908 Dem Vorgehen des Sicherheitsrates lag folgender Sachverhalt zugrunde: Nach jahrelangen Ermittlungen kamen die schottischen und US-amerikanischen Strafverfolgungsbehörden 1991 zu der Auffassung, dass zwei libysche Geheimagenten mit Namen Abdelbaset Ali Mohmed Al Megrahi und Al Amin Khalifa Fhimah für den Sprengstoffanschlag auf ein US-amerikanisches Passagierflugzeug über dem schottischen Lockerbie am 21.12.1988 verantwortlich seien (vgl. die Presseerklärung des Lord Advocate of Scottland v. 14.11.1992, ILM 31 [1992], S. 718 ff.). Die USA und das Vereinigte Königreich verlangten von Libyen die sofortige Auslieferung dieser Personen (vgl. die Pressemitteilungen der brit. und der US-amerik. Regierung v. 27.11.1991, ILM 31 [1992], S. 722 und 723). Zur gleichen Zeit kamen französische Ermittler zu dem Ergebnis, dass der libysche Geheimdienst möglicherweise auch 1989 in einen Sprengstoffanschlag auf ein franz. Passagierflugzeug über dem Niger verwickelt gewesen sei. Anders als die USA und das Vereinigte Königreich forderte Frankreich von Libyen aber nicht die Auslieferung von Verdächtigen, sondern nur Zusammenarbeit bei den weiteren Ermittlungen (vgl. das gemeinsame Kommuniqué des franz. Präsidenten und des Außenministers, ILM 31 [1992], S. 718). Als Libyen diese Forderungen allesamt zurückwies, machte sie sich der Sicherheitsrat zunächst in der unverbindlichen, nicht auf Kapitel VII der UN-Charta gestützten Resolution 731 (1992) zu eigen. Nachdem auch dies keine Veränderung der libyschen Position bewirkt hatte und Libyen sogar vor dem IGH zwei Verfahren gegen die USA und das Vereinigte Königreich wegen eines angeblichen Verstoßes der Auslieferungsforderung gegen die Montrealer Konvention anstrengte, erließ der Sicherheitsrat schließlich die ausdrücklich auf Kapitel VII UN-Charta gestützte Resolution 748 (1992), in der es im 7. Erwägungsgrund der Präambel heißt: „[. . .] the failure by the Libyan Government [. . .] to respond fully and effectively to the re-
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cherheitsratsmitglieder nicht die grundsätzliche Kompetenz des Sicherheitsrates, sich aufgrund von Kapitel VII UN-Charta mit der Auslieferung der mutmaßlichen Attentäter zu befassen, in Zweifel, sondern stützten ihre Bedenken nur auf politische Zweckmäßigkeitserwägungen sowie die inzwischen erfolgte Anrufung des IGH durch Libyen.909 Lediglich Libyen selbst sprach dem Sicherheitsrat rundheraus jede Kompetenz in dieser Sache ab.910 Es gab diese Position später aber wohl wieder auf, denn es erfüllte die Forderungen des Sicherheitsrates schließlich: Die beiden Beschuldigten wurden im April 1999 an ein in den Niederlanden tagendes schottisches Strafgericht überstellt,911 nachdem der Sicherheitsrat zuvor dieses Zugeständnis hinsichtlich des Verhandlungsortes gemacht hatte.912 Vier Jahre nach der „Lockerbieresolution“ 748 (1992) bezeichnete der Sicherheitsrat dann erneut – dieses Mal mit nur noch drei Enthaltungen – die Nichtauslieferung von Terroquests in resolution 731 (1992) constitute[s] a threat to international peace and security, [. . .]“. Dies wiederholte der Sicherheitsrat später nochmals in Resolution 883 (1993), 6. Erwägungsgrund der Präambel. 909 Vgl. Beveridge, ICLQ 1992, S. 907 (914 f.). 910 Vgl. den Brief der libyschen Reg. an den UN-Generalsekretär vom 08.01.1992, ILM 31 (1992), S. 725 (726). Auch später vor dem IGH bezeichnete Libyen Resolution 748 (1992) als völkerrechtswidrig (vgl. IGH, Case concerning the interpretation and application of the 1971 Montreal Convention arising from the aerial incident at Lockerbie [Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom], Provisional Measures, ICJ Rep. 1992, S. 3 [14]; IGH, Case concerning the interpretation and application of the 1971 Montreal Convention arising from the aerial incident at Lockerbie [Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom], Prelminary Objections, ICJ Rep. 1998, S. 9 [25]; IGH, Case concerning the interpretation and application of the 1971 Montreal Convention arising from the aerial incident at Lockerbie [Libyan Arab Jamahiriya v. United States], Preliminary Objections, ICJ Rep. 1998, S. 115 [130]). 911 Vgl. Schmalenbach, VN 2000, S. 28 f.; sehr ausführlich über den Weg zu dieser Lösung auch Plachta, EJIL 2001, S. 125 (131-136) und Aust, ICLQ 2000, S. 278 (283–295). Nachdem Libyen schließlich auch den franz. Rechtshilfeforderungen nachgekommen, die völkerrechtliche Verantwortung für beide Anschläge übernommen und den Familien der Opfer eine Entschädigung gezahlt hatte, hob der Sicherheitsrat schließlich in Resolution 1506 (2003) die bereits 1999 ausgesetzten Sanktionen gegen Libyen endgültig auf. Die beiden Verfahren vor dem IGH wurden am 10.09.2003 im Einvernehmen aller Parteien aus dem Register gelöscht, ohne dass es jemals zu einer Entscheidung in der Hauptsache gekommen wäre (vgl. die beiden diesbzgl. Anordnungen des Präsidenten vom selben Tag, erhältlich unter http:// www.icj-cij.org/icjwww/idocket/iluk/ilukord/iluk_iorder_20030910.PDF und http:// www.icj-cij.org/icjwww/idocket/ilus/ilusorder/ilus_iorder_20030910.PDF). Der im niederländischen Camp Zeist nach schottischem Recht durchgeführte Strafprozess endete am 31.01.2001 mit einem Freispruch für Fhimah, während Megrahi des Mordes für schuldig befunden und zu lebenslanger Freiheitsstrafe in einer schottischen Haftanstalt verurteilt wurde (das Urteil ist abgedruckt in ILM 40 [2001], S. 582 ff.; Zusammenf. bei Murphy, AJIL 95 (2001), S. 387 [405 ff.]). 912 Vgl. Res. 1192 (1998), Ziff. 2 und 4.
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risten als Friedensgefahr.913 Weitere drei Jahre später ging er diesen Weg ein drittes Mal – nun einstimmig und auch mit Zustimmung islamischer Staaten wie Bahrain und Malaysia914 –, nachdem die Taliban die Überstellung von Osama bin Laden an die USA wegen der Sprengstoffanschläge auf die US-Botschaften in Nairobi und Dar es Salam verweigert hatten.915 In beiden Fällen stieß die Berufung auf Kapitel VII UN-Charta weder innernoch außerhalb des Sicherheitsrates auf nennenswerte Kritik der Staaten.916 Die ebenfalls einstimmig verabschiedete Resolution 1373 (2001) bezeichnet dann sogar jeden Terrorakt als Friedensgefahr im Sinne von Kapitel VII;917 ähnliche Formulierungen finden sich seither immer wieder.918 Damit ist festzuhalten, dass eine lange, konsistente und auch über den Kreis seiner jeweiligen Mitglieder hinaus akzeptierte Praxis des Sicherheitsrates besteht, Völkermord, Kriegs- und Bürgerkriegsverbrechen, andere schwere Menschenrechtsverstöße sowie den internationalen Terrorismus als Friedensgefahr im Sinne des Artikels 39 UN-Charta zu qualifizieren. Diese Interpretation des Begriffes „menace contre la paix“ ist sicherlich sehr extensiv, aber keineswegs völlig implausibel. Die Geschichte lehrt uns, dass Straftaten der genannten Art in der Lage sind, sowohl zwischen- als auch innerstaatliche Konflikte eskalieren zu lassen. Um zunächst den Terrorismus herauszugreifen: Nicht erst der 11. September 2001 hat dessen auch nach dem klassischen Friedensbegriff „friedensgefährdendes“ Potential gezeigt,919 schon am nahezu ein Jahrhundert alten Beispiel des Attentats von Sarajevo lässt sich dies illustrieren.920 Gleiches gilt für die anderen erwähn913 Vgl. Res. 1054 (1996), 10. Erwägungsgrund der Präambel; Res. 1070 (1996), 11. Erwägungsgrund der Präambel. Es ging dabei um die Weigerung des Sudan, die Personen, die am 26.06.1995 in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abbeba ein Attentat auf den ägyptischen Präsidenten Mubarak versucht hatten, an Äthiopien auszuliefern. 914 Dies hebt Plachta, EJIL 2001, S. 125 (139) hervor. 915 Vgl. Res. 1267 (1999), 8. Erwägungsgrund der Präambel; Res. 1333 (2000), 14. Erwägungsgrund der Präambel. 916 Vgl. Frowein/Krisch, in: Simma, UN-Charter, Art. 39 Rn. 23. 917 Vgl. Res. 1373 (2001), 3. Erwägungsgrund der Präambel (Hervorhebung nicht im Original). 918 Vgl. bspw. Res. 1368 (2001), Ziff. 1; Res. 1377 (2001), 1. Absatz der Anlage; Res. 1438 (2002), Ziff. 1 (zu den Anschlägen auf Bali vom 12.10.2002); Res. 1440 (2002), Ziff. 1 (zur Geiselnahme in einem Moskauer Theater vom 23.10.2002); Res. 1450 (2002), Ziff. 1 (zu Terroranschlägen in Kenia am 28.11.2002); Res. 1455 (2003), 7. Erwägungsgrund der Präambel; Res. 1465 (2003), Ziff. 1 (zu Terroranschlägen in Kolumbien am 07.02.2003); Res. 1526 (2004), 3. Erwägungsgrund der Präambel; Res. 1530 (2004), Ziff. 1 (zu den Anschlägen in Madrid am 11.03.2004); Res. 1535 (2004), 2. Erwägungsgrund der Präambel. 919 Das Potential des Terrorismus zur Destabilisierung der internationalen Beziehungen und Gefährdung des Friedens heben auch Frowein/Krisch, in: Simma, UN-
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ten Straftaten. Der Völkermord in Ruanda hat die gesamte Region der ostafrikanischen „Großen Seen“ auf Jahre hinaus destabilisiert; der durch die schweren Verletzungen des humanitären Völkerrechts im ehemaligen Jugoslawien verursachte Hass hat einen stabilen Frieden bis auf den heutigen Tag unmöglich gemacht. Schon diese wenigen Beispiele zeigen: Mag man sich auch streiten, ob Terrorismus, Völkermord, (Bürger-)Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit den Frieden in dieser oder jener Situation wirklich bedrohen, eine entsprechende Bewertung durch den Sicherheitsrat ist jedenfalls nicht völlig abwegig und damit noch von seinem Beurteilungsspielraum gedeckt. Es ist sogar durchaus denkbar, dass der Sicherheitsrat noch weitere, bislang nicht genannte Straftatbestände zum Anlass für Maßnahmen nach Kapitel VII UN-Charta nimmt. Der organisierte Drogenhandel etwa wirkt sich in einigen Weltregionen derart destabilisierend auf die Staaten aus, dass seine Qualifizierung als Gefahr für den Frieden sicherlich nicht völlig unvertretbar wäre. Der Sicherheitsrat kann also konkrete Straftaten, aber auch alle im Rahmen einer konkreten Situation – etwa eines bestimmten Krieges oder Bürgerkrieges – begangenen oder noch zu begehenden Straftaten, als Friedensgefahr im Sinne des Artikels 39 UN-Charta qualifizieren.921 Eine andere Frage ist dagegen, ob er auch ganze Straftatbestände als solche – also etwa den Terrorismus schlechthin – abstrakt-generell zum Anlass für Maßnahmen nach Kapitel VII nehmen darf. Der Wortlaut des Artikel 39 UN-Charta legt einen solchen abstrakt-generellen Gefahrenbegriff nicht gerade nahe und auch nach der langjährigen Praxis des Sicherheitsrates schien diese Frage zu verneinen zu sein. Es war immer eine ganz konkrete Situation, die dem Sicherheitsrat Anlass zu einer Feststellung nach Artikel 39 UN-Charta gab, und folgerichtig waren die von ihm getroffenen Maßnahmen auch immer sachlich und (wenigstens implizit auch) zeitlich auf diesen konkreten Charter, Art. 39 Rn. 23 hervor; zum Terrorismus als Gefahr auch für einen eng verstandenen „Frieden“ vgl. ferner Aston, ZaöRV 2002, S. 257 (276 f.). 920 Vgl. ferner die amerikanischen Vergeltungsschläge gegen Libyen 1986 bzw. den Sudan und Afghanistan 1998 im Anschluss an vorherige Terroranschläge gegen US-amerikanische Bürger und Einrichtungen (dazu Leich, AJIL 80 (1986), S. 612 [632 ff.] bzw. Murphy, AJIL 93 (1999), S. 161 ff.). Ob solche Gegenschläge rechtswidrig oder rechtmäßig sind, spielt für die Bewertung des Terrorismus als Friedensgefahr keine Rolle: Bereits oben wurde darauf hingewiesen, dass der Sicherheitsrat nicht in erster Linie Völkerrechtsverstöße feststellen und ahnden, sondern als politisches Organ den Frieden sichern soll. Es dürfte ihm deshalb wohl nicht grundsätzlich verwehrt sein, nicht den völkerrechtswidrig Waffengewalt androhenden/anwendenden Staat als den eigentlichen „Störer“ anzusehen, sondern denjenigen, der diese Drohung/Gewaltanwendung quasi als „Zweckveranlasser“ provoziert hat. 921 Vgl. dazu auch Condorelli/Villalpando, in: Cassese/Gaeta/Jones, S. 627 (632 f.).
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
Sachverhalt beschränkt.922 Mit Resolution 1373 (2001) hat er hier jedoch eine Wende vollzogen. Dieser Beschluss ist zwar durch die Anschläge des 11. Septembers 2001 veranlasst worden, aber inhaltlich nicht auf sie beschränkt.923 Er bezeichnet im dritten und fünften Erwägungsgrund seiner Präambel vielmehr das abstrakt-generelle Phänomen „Terrorismus“ schlechthin als Friedensgefahr und enthält folglich eine Reihe ebenfalls abstrakt-generell auf jede zukünftige Erscheinungsform des Terrorismus bezogener Maßnahmen.924 Wegen dieses besonderen Charakters ist Resolution 1373 (2001) nicht zu Unrecht in der Literatur als der erste quasi-gesetzgeberische Akt des Sicherheitsrates bezeichnet worden.925 Zweifel, ob dem nur wenige Staaten umfassenden und damit wenig repräsentativen Sicherheitsrat wirklich eine Kompetenz zur Bekämpfung abstrakt-genereller Friedensgefahren durch abstrakt-generelle Normsetzung zukommt, sind aber angebracht,926 denn dass die Mitgliedstaaten ihre sonst stets eifersüchtig gehütete Souveränität derart weitgehend zugunsten eines Verfahrens eingeschränkt haben, mittels dessen die Vorstellungen einiger weniger über das zukünftige Völkerrecht allen anderen mit bindender Wirkung oktroyiert werden könnten,927 ohne dies im Text der Charta klar und ausdrücklich zu regeln, ist nicht leichthin anzunehmen. Sicherlich: Protest gegen Resolution 1373 (2001) hat sich bisher nicht geregt,928 und es ist theoretisch nicht ausgeschlossen, dass durch die Auslegungspraxis der UN-Mitgliedstaaten dem Sicherheitsrat Befugnisse zugesprochen werden, die so in der Charta ursprünglich nicht angelegt waren929 – wenngleich sich hier die Frage auf922
Vgl. zur ursprüngl. Intention der Charta Frowein/Krisch, in: Simma, UNCharter, Intr. to Chap. VII Rn. 23; zur bisherigen Sicherheitsratspraxis Szasz, AJIL 96 (2002), S. 901 (901 f.); Aston, ZaöRV 2002, S. 257 (267). 923 Vgl. Szasz, AJIL 96 (2002), S. 901 (902); Aston, ZaöRV 2002, S. 257 (268 f.). 924 Vgl. auch Aston, ZaöRV 2002, S. 257 (258); ähnl. ferner Szasz, AJIL 96 (2002), S. 901 (902). 925 Solche oder ähnl. Urteile über Res. 1373 (2001) finden sich bspw. bei Aston, ZaöRV 2002, S. 257 (258); Szasz, AJIL 96 (2002), S. 901 (902); Finke/Wandscher, VN 2001, S. 168 (172); Guillaume, ICLQ 2004, S. 537 (543). 926 Zum Streit vgl. bspw. Aston, ZaöRV 2002, S. 257 ff.; Szasz, AJIL 96 (2002), S. 901 ff., die ein solches Vorgehen des Sicherheitsrats im Ergebnis weitgehend begrüßen, sowie Tomuschat, AVR 33 (1995), S. 1 (12 f.), der schon vor Res. 1373 (2001) den Erlass abstrakt-genereller Völkerrechtsnormen durch den Sicherheitsrat gefordert hatte. Krit. dagegen Finke/Wandscher, VN 2001, S. 168 (172) sowie Frowein/Krisch, in: Simma, UN-Charter, Intr. to Chap. VII Rn. 23. 927 Auf diese Gefahr weisen auch Finke/Wandscher, VN 2001, S. 168 (172) hin. 928 Vgl. hierzu Frowein/Krisch, in: Simma, UN-Charter, Intr. to Chap. VII Rn. 23. 929 Zur autoritativen Auslegung der Befugnisse des UN-Sicherheitsrates vgl. Herdegen, in: FS Bernhardt, S. 103 (111 ff.); Fink, Kollektive Friedenssicherung,
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drängt, wo die Grenzen zu einer unzulässigen Umgehung der in Artikel 108 und 109 UN-Charta vorgesehenen Änderungsverfahren verlaufen.930 Ob Resolution 1373 (2001) allerdings wirklich Ausgangspunkt einer neuen, allgemeinen Praxis der UN-Mitgliedstaaten ist, muss abgewartet werden. Die speziellen Umstände ihres Zustandekommens – sie wurde nur gut zwei Wochen nach dem 11. September 2001 in unmittelbarer Nähe des Hauptanschlagsortes verabschiedet; die nichtständigen Mitglieder wurden vom Inhalt des Entwurfes erst einen Tag vor der Abstimmung in Kenntnis gesetzt931 – lassen dies eher als unwahrscheinlich erscheinen.932 Einstweilen ist noch daran festzuhalten, dass der Sicherheitsrat nur konkrete Straftaten oder konkrete Situationen, in denen solche Straftaten bereits begangen wurden oder sich abzeichnen, als Friedensgefahr werten darf, nicht jedoch einen bestimmten Straftatbestand als solchen.
II. Die Anordnung einer Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflicht als Maßnahme nach Artikel 41 UN-Charta Nachdem wir soeben gesehen haben, dass bestimmte Straftaten als Friedensgefahr gewertet werden können, kommt es nun entscheidend darauf an, ob die Anordnung einer Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflicht zu dem Instrumentarium gehört, das die Artikel 40 bis 42 UN-Charta dem Sicherheitsrat zur Wahrung des Friedens zur Verfügung stellen. Artikel 40 und 42 können dabei als mögliche Rechtsgrundlage schnell ausgeschieden werden: Artikel 40 ermächtigt lediglich zu vorläufigen Maßnahmen, während die Anordnung der Auslieferung beziehungsweise Strafverfolgung endgültige Regelungen sind. Artikel 42 betrifft nur die Anwendung militärischer GeS. 857 ff. (der zutreffend betont, dass es nicht allein auf die Praxis des Sicherheitsrates ankommen kann, sondern auf die Akzeptanz dieser Praxis durch die Mitgliedstaaten, als den Schöpfern und „Herren“ des Vertrages); allgemein zur autoritativen übereinstimmenden Auslegung völkerrechtlicher Verträge durch ihre Parteien und den fließenden Übergang zur Vertragsänderung vgl. Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 11 Rn. 2 sowie Art. 31 III b) WVRK. 930 Frowein/Krisch, in: Simma, UN-Charter, Intr. to Chap. VII Rn. 23 weisen zutreffend darauf hin, dass eine quasigesetzgeberische Stellung des Sicherheitsrates die ursprüngliche Konzeption der Charta signifikant verändern würde. 931 Vgl. zu diesen Umständen Finke/Wandscher, VN 2001, S. 168 (171). 932 Auch bspw. Aust, NYIL 2002, S. 23 (44) zweifelt an, dass Res. 1373 (2001) der Beginn einer umfangreichen „gesetzgeberischen“ Arbeit des Sicherheitsrates sein wird. Die Auffassung, die Staaten seien sich der vollen Bedeutung dieses Beschlusses gar nicht bewusst gewesen, ist in der Lit. weit verbreitet (vgl. bspw. bei Finke/Wandscher, VN 2001, S. 168 [171]; Szasz, AJIL 96 [2002], S. 901 [905]; Aston, ZaöRV 2002, S. 257 [266]).
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walt, die weder die Auslieferung noch die Strafverfolgung mit sich bringen. Somit bleibt allein Artikel 41 zu untersuchen. Auf den ersten Blick scheint aber auch diese Vorschrift keine Befugnis zur Anordnung der Auslieferung oder Strafverfolgung einer Person zu enthalten. Es ist dort lediglich vom Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen, der Verkehrs- und Kommunikationsverbindungen sowie der diplomatischen Beziehungen die Rede. Schon der Wortlaut von Artikel 41 Satz 2 macht aber deutlich, dass es sich hier nur um eine beispielhafte, nicht abschließende Aufzählung der Reaktionsmöglichkeiten des Sicherheitsrats handelt. Das einzige zwingende Erfordernis, das Artikel 41 aufstellt, ist, dass die auf seiner Grundlage getroffenen Maßnahmen nicht die Anwendung militärischer Gewalt umfassen dürfen. Im Übrigen kann der Sicherheitsrat aufgrund dieser Vorschrift jede Maßnahme anordnen, die er in Ausübung seines weiten Ermessens für geeignet hält, den Frieden zu wahren beziehungsweise wiederherzustellen.933 Insbesondere kann er dabei dem „Störerstaat“ neue Rechtspflichten auferlegen, die sich nicht bereits aus dem allgemeinen Völkerrecht oder den für ihn verbindlichen Verträgen ergaben.934 Beispiele für solche Rechtsetzungsakte des Sicherheitsrates sind etwa die im Anschluss an den Zweiten Golfkrieg dem Irak auferlegten Abrüstungspflichten oder die Beschlüsse, mit denen die bosnischen Serben verpflichtet wurden, eine bestimmte territoriale Friedensregelung zu akzeptieren.935 Aber auch ein „aut dedere – aut iudicare“ hat er bereits auf dieser Grundlage angeordnet: Resolution 1373 (2001) enthält ein zwar nicht ausdrücklich formuliertes, aber doch deutlich zu Tage tretendes Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebot hinsichtlich Terroristen.936 Schon zuvor hatte er mehrmals neue Rechtspflichten geschaffen, die immerhin mit einem „aut dedere – aut iudicare“ verwandt sind. So hat er die ad-hoc-Strafgerichte für das ehemalige 933
Vgl. zum Ganzen ICTY, Tadic, 02.10.1995, IT-94-1-AR72, Ziff. 31 f., 35; Fischer, in: Ipsen, § 60 Rn. 17; Bothe, in: Graf Vitzthum, VIII Rn. 48; ausf. Herdegen, UN-Sicherheitsrat, S. 25 ff. 934 Vgl. Frowein/Krisch, in: Simma, UN-Charter, Art. 41 Rn. 17; Kelsen, The Law of the United Nations, S. 294 f. und 736. 935 Vgl. Frowein/Krisch, in: Simma, UN-Charter, Art. 41 Rn. 17. 936 Die Absicht des Sicherheitsrates, alle Mitgliedstaaten zur Auslieferung oder Strafverfolgung von Terroristen zu verpflichten, ergibt sich aus der Zusammenschau folgender Vorschriften: The Security Council, [. . .] 2. Decides also that all States shall [. . .] (c) Deny safe haven to those who finance, plan, support, or commit terrorist acts, or provide safe havens, [. . .] (e) Ensure that any person who participates in the financing, planning, preparation or perpetration of terrorist acts or in supporting terrorist acts is brought to justice [. . .]. Auch Frowein, ZaöRV 2002, S. 879 (897) interpretiert Ziff. 2 (e) dieser Resolution als „aut dedere – aut iudicare“-Vorschrift. Ihre Effizienz leidet allerdings darunter, dass eine Definition des Terrorismus weder in Res. 373 (2001) enthalten noch sonst auf globaler Ebene konsentiert ist [vgl. dazu oben B. I. 2. d)].
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Jugoslawien beziehungsweise Ruanda geschaffen und dabei auch den Staaten die Pflicht auferlegt, verdächtige Personen an diese Gerichte zu überstellen.937 Und in den bereits mehrfach erwähnten Resolutionen gegen Libyen, den Sudan und Afghanistan hat er nicht etwa die Verletzung einer bereits aus dem Völkergewohnheits- oder Völkervertragsrecht folgenden Auslieferungspflicht mit Sanktionen „bestraft“, sondern den betreffenden Staaten die Pflicht zur Auslieferung der genannten Personen erst neu auferlegt. Dies ergibt sich deutlich aus seiner Wortwahl. So heißt es in Resolution 748 (1992): The Security Council, [. . .] „Decides that the Libyan Government must now comply without any further delay [mit der Auslieferungsforderung].“938
Die Auslieferungspflicht stellt sich hier als eine erst ex-nunc durch die verbindliche Entscheidung des Sicherheitsrates eingetretene Rechtspflicht dar. Auch die Staaten,939 die völkerrechtliche Literatur940 sowie die internationale Rechtsprechung941 haben diese Sicherheitsratsbeschlüsse als „recht937
Art. 29 II e) ICTY-Statut; Art. 28 II e) ICTR-Statut. Hervorhebung nicht im Original. 939 So haben bspw. das Vereinigte Königreich und die USA in den von Libyen vor dem IGH angestrengten Verfahren argumentiert, selbst wenn Libyen aufgrund anderer Rechtsquellen berechtigt gewesen sein sollte, die Beschuldigten selbst vor Gericht zu stellen, so habe doch die mit Res. 748 (1992) angeordnete Auslieferungspflicht gemäß Art. 25, 103 UN-Charta Vorrang (vgl. IGH, Case concerning the interpretation and application of the 1971 Montreal Convention arising from the aerial incident at Lockerbie [Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom], Provisional Measures, ICJ. Rep. 1992, S. 3 [14]; IGH, Case concerning the interpretation and application of the 1971 Montreal Convention arising from the aerial incident at Lockerbie [Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom], Preliminary Objections, ICJ Rep. 1998, S. 9 [23 f.]; IGH, Case concerning the interpretation and application of the 1971 Montreal Convention arising from the aerial incident at Lockerbie [Libyan Arab Jamahiriya v. United States, Preliminary Objections, ICJ Rep. 1998, S. 115 [128]). Damit haben sie inzident anerkannt, dass diese Resolution nicht bestehende Pflichten durchsetzen wollte, sondern neue begründet hat (vgl. insbes. das Zitat aus dem Vorbringen des Vereinigten Köngireichs in ICJ Rep. 1998, S. 9 [24]: „resolutions 748 and 883 are legally binding and they create legal obligations for Libya [. . .]“ [Hervorhebung nicht im Original]). 940 Vgl. Frowein/Krisch, in: Simma, UN-Charter, Intr. to Chap. VII Rn. 31 Fn. 102, Art. 41 Rn. 17; Plachta, MJ 1999, S. 331 (336 f.); ders., EJIL 2001, S. 125 (129 f.); Greenwood, Int. Aff. 78 (2002), S. 301 (303); Poutiers, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 937 f. 941 So stellt der IGH zur Ablehnung einstweiliger Maßnahmen im Lockerbiefall entscheidend auf eine durch Res. 748 (1992) jedenfalls prima facie eingetretene Änderung der materiellen Rechtslage ab (vgl. ICJ Rep. 1992, S. 3 [15]), was letztlich bedeutet, dass er diesen Beschluss als Quelle neuer, vorher noch nicht bestehender Rechte und Pflichten der Streitparteien ansieht. Noch deutlicher kommt dies in den 938
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3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
setzend“ interpretiert. Widerstand gegen ein solches Vorgehen gab es dabei unter den UN-Mitgliedstaaten kaum, und zwar weder gegen eine rechtsetzende Tätigkeit im Allgemeinen, noch gegen die Anordnung einer Auslieferungspflicht im Speziellen. Die Abrüstungs- und Statusregelungsvorschriften gegenüber dem Irak beziehungsweise bezüglich Bosnien wurden akzeptiert;942 wie bereits erwähnt, zweifelten auch die fünf Staaten, die sich bei der Abstimmung über die „Lockerbieresolution“ 748 (1992) enthielten, nicht an, dass der Sicherheitsrat in diesem Fall Libyen aufgrund von Kapitel VII UN-Charta zur Auslieferung der Terrorverdächtigen verpflichten durfte.943 Außerhalb des Sicherheitsrates anscheinend vereinzelt an den „Lockerbie-Resolutionen“ verübte Kritik wurde anlässlich des späteren, vergleichbaren Vorgehens des Sicherheitsrates gegen den Sudan und Afghanistan nicht mehr wiederholt.944 Die Befugnis des Sicherheitsrates, aufgrund von Artikel 41 UN-Charta ad-hoc-Strafgerichte einzusetzen oder einem bereits bestehenden internationalen Strafgericht bestimmte „Situationen“ zu unterbreiten, ist inzwischen von den Staaten ebenfalls allgemein anerkannt.945 Auch Literatur und internationale Rechtsprechung haben diese Maßnahmen überwiegend gebilligt.946 Sie bezwecken letztendlich alle dasselbe: Die Täter von als friedensgefährdend eingeschätzten Straftaten sollen nicht ungestraft bleiben. Dass sie damit geeignet sind, den Frieden zu wahren beziehungsweise wiederherzustellen, erscheint jedenfalls nicht abwegig. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Bestrafung von KriegsSondervoten zum Ausdruck, wo es mehrfach heißt, Libyen hätte vor Erlass von Res. 748 (1992) die Auslieferungsersuchen ablehnen können, dieses Recht sei aber durch jene Resolution beseitigt worden (vgl. decl. Evensen, Tarassov, Guillaume und Aguilar Mawdsley, ICJ Rep. 1992, S. 24 f.; op. ind. Shahabudden, ICJ Rep. 1992, S. 28 f.; op. diss. Weeramantry, ICJ Rep. 1992, S. 50 [67]; op. diss. Bedjaoui, ICJ Rep. 1992, S. 33 [39]; op. diss. Ranjeva, ICJ Rep. 1992, S. 72 [74]). 942 Vgl. Frowein/Krisch, in: Simma, UN-Charter, Art. 41 Rn. 17. 943 Vgl. oben Fn. 909, wonach diese Enthaltungen mit polit. Zweckmäßigkeitserwägungen sowie den parallel vor dem IGH laufenden Verfahren begründet wurden. 944 Vgl. Frowein/Krisch, in: Simma, UN-Charter, Art. 39 Rn. 23, Art. 41 Rn. 17. 945 Vgl. oben Fn. 905 f. 946 Zur Schaffung von ad-hoc-Strafgerichten vgl. Doerhing, Rn. 1169 m. w. N.; Bothe, in: Graf Vitzthum, VIII Rn. 48; Condorelli/Villalpando, in: Cassese/Gaeta/ Jones, S. 627 (629 f.); ICTY, Tadic, 02.10.1995, IT-94-1-AR72, Ziff. 36; zur „Indienstnahme“ eines bestehenden int. Strafgerichts vgl. Condorelli/Villalpando, in: Cassese/Gaeta/Jones, S. 627 (629 ff.); zur Anordnung einer Auslieferungspflicht vgl. Greenwood, Int. Aff. 78 (2002), S. 301 (303); Poutiers, in: Ascensio/Decaux/ Pellet, S. 937 f.; Plachta, MJ 1999, S. 331 (336); ders., EJIL 2001, S. 125 (129 f., 136); Herdegen, UN-Sicherheitsrat, S. 26; krit. allerdings wohl Frowein/Krisch, in: Simma, UN-Charter, Intr. to Chap. VII Rn. 31 Fn. 102. Der IGH hat im Lockerbiefall die in Res. 748 (1992) angeordnete Auslieferungspflicht jedenfalls als prima facie gültig bezeichnet (vgl. ICJ Rep. 1992, S. 3 [15]).
C. Sicherheitsratsbeschlüsse nach Kapitel VII UN-Charta
333
oder Bürgerkriegsverbrechen den zugrunde liegenden bewaffneten Konflikt entschärfen hilft, dass die Bestrafung von Völkermord oder anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit den Ausbruch oder die Intensivierung von Kriegen oder Bürgerkriegen vermeidet, dass die Bestrafung von Terroristen weitere Terrorakte verhindert sowie gewaltsame Gegenmaßnahmen des „Opferstaates“ ausbleiben lässt.947 Der Sicherheitsrat überschreitet also nicht das ihm bei der Beurteilung der Geeignetheit seiner Maßnahmen zukommende Ermessen, wenn er die Sicherstellung der Bestrafung bestimmter Straftaten als friedenserhaltend wertet. Dann spricht aber auch nichts dagegen, dass er statt einer Auslieferungspflicht oder einer Pflicht zur Überstellung an ein internationales Strafgericht ein „aut dedere – aut iudicare“ anordnet, also dem Zufluchtsstaat die Wahl zwischen eigener Strafverfolgung oder Auslieferung lässt. Im Vergleich zur Schaffung eines ad-hoc-Strafgerichtes ist diese Maßnahme sogar näher am „Leitbild“ des Artikels 41 UNCharta, denn aus dessen Satz 1, 2. Halbsatz lässt sich entnehmen, dass jedenfalls in erster Linie an von den Mitgliedstaaten umzusetzende Maßnahmen gedacht war – wie es ein an die nationalen Justizbehörden gerichtetes „aut dedere – aut iudicare“ ist –, weniger an die Gründung eigenständiger, von den Mitgliedstaaten unabhängiger internationaler Institutionen.948 Allerdings ist dem Sicherheitsrat eine Schranke aufzuerlegen: Da kein Vertrag, also auch nicht die UN-Charta, von Normen des ius cogens abweichen kann,949 kann der Sicherheitsrat durch Maßnahmen nach Kapitel VII UN-Charta keinesfalls den Grundsatz nulla poena sine lege beseitigen.950 Dies bedeutet: Er kann bezüglich zum Zeitpunkt seiner Entscheidung bereits begangener Straftaten Auslieferungs- und Strafverfolgungspflichten nur anordnen, wenn die Tat bereits bei Tatbegehung entweder gemäß dem Strafrecht des Staates, in dem der Täter nach dem Willen des Sicherheitsrates vor Gericht gestellt werden soll, oder direkt gemäß dem Völkerstrafrecht strafbar war. Ein „aut dedere – aut iudicare“, das immer auch die Möglichkeit einer Strafverfolgung am Zufluchtsort beinhaltet,951 macht also nur Sinn, wenn der Zufluchtsstaat völkerrechtlich zur Strafverfolgung be947
Vgl. hierzu auch schon oben bei Fn. 919 f. Aus Art. 41 S. 1, 2. Hs. ein Verbot der Schaffung von neuen Institutionen zur Friedenssicherung abzuleiten, hat das ICTY allerdings abgelehnt (vgl. ICTY, Tadic, 02.10.1995, IT-94-1-AR72, Ziff. 35 f.). 949 Vgl. Frowein/Krisch, in: Simma, UN-Charter, Intr. to Chap. VII Rn. 29 mit Verweis auf Art. 53 und 64 WVRK, die wegen des in Art. 4 WVRK ausgesprochenen Rückwirkungsverbotes freilich nur als Ausdruck allgemeinen Völkergewohnheitsrechts auf die UN-Charta angewandt werden können; für eine Bindung des Sicherheitsrates an ius cogens auch Herdegen, Völkerrecht, § 41 Rn. 22. 950 Condorelli/Villalpando, in: Cassese/Gaeta/Jones, S. 571 (580). 951 Vgl. oben 1. Kapitel C. 948
334
3. Kap.: Die heutigen Rechtsgrundlagen des „aut dedere – aut iudicare“
rechtigt ist952 und eine solche extraterritoriale Strafrechtsgeltung in seinem nationalen Recht zum Zeitpunkt der Tatbegehung auch tatsächlich vorgesehen war (beziehungsweise die Strafbarkeit unmittelbar aus dem Völkerstrafrecht folgte). Ansonsten musste der Täter nämlich bei Tatbegehung nicht mit einer Bestrafung in diesem Zufluchtsstaat rechnen. Es käme dann nur die Anordnung der Auslieferung an einen Staat in Betracht, der ohne Verstoß gegen den nulla poena-Grundsatz aburteilen kann. Die Praxis des Sicherheitsrates zeigt, dass er dies respektiert. Sowohl im Lockerbiefall als auch hinsichtlich der Mubarak-Attentäter und Osama bin Ladens wurde immer nur die Auslieferung an Staaten angeordnet, die ihr Strafrecht völkerrechtsgemäß auf die betreffenden Straftaten erstreckt hatten.953 Der Sicherheitsrat kann also bezüglich bereits begangener Straftaten nur einen ohnehin verfolgungsberechtigten Staat zur Ausübung seiner Strafgerichtsbarkeit verpflichten beziehungsweise anderen Staaten die Auslieferung in einen solchen Staat auferlegen. Ein von ihm angeordnetes „aut dedere – aut iudicare“ bezüglich bereits begangener Straftaten hat deshalb nicht die Wirkung, die Strafgerichtsbarkeit des Zufluchtsstaates über das sonst Zulässige hinaus auszudehnen. Eine Ausnahme ist allerdings theoretisch denkbar: Sofern das Recht des Zufluchtsstaates die Möglichkeit stellvertretender Strafrechtspflege vorsieht, der „zu vertretende“ Staat aber die zu ihrer Ausübung im Einzelfall erforderliche Zustimmung verweigert,954 könnte der Sicherheitsrat ihn anhalten, seinen Widerstand aufzugeben. Die Rechte des Beschuldigten wären hier nicht tangiert, da er von vornherein mit einer stellvertretenden Strafverfolgung im Zufluchtsstaat rechnen musste. Diese Einschränkungen gelten allerdings nur, soweit sich der Sicherheitsrat mit bereits begangenen Straftaten befasst. Nichts spricht dagegen, dass er einen nach allgemeinen Regeln nicht verfolgungsberechtigten Staat ermächtigt oder verpflichtet, sein Strafrecht auf zukünftige Auslandstaten zu erstrecken. Dadurch betroffene Rechte anderer UN-Mitgliedstaaten955 treten 952 Diese Berechtigung kann sich aus einem genuine link zur Tat – etwa der Staatsangehörigkeit des Täters –, aus dem Weltrechtsprinzip oder aus dem Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege ergeben (was allerdings das Einverständnis des „vertretenen“ Staates voraussetzt) (vgl. oben 1. Kapitel B. II.). 953 So fordert Res. 748 (1992) die Auslieferung der Lockerbie-Attentäter an die USA – die als Immatrikulationsstaat des zerstörten Flugzeuges nach dem Flaggenprinzip Gerichtsbarkeit hatten – oder Großbritannien – in dessen Luftraum die Tat begangen wurde und das sich somit auf das Territorialprinzip berufen konnte –, Res. 1054 (1996) fordert die Auslieferung an Äthiopien, dessen Hauptstadt Tatort des gescheiterten Attentats auf Mubarak war, und Res. 1267 (1999) fordert die Auslieferung an die USA, die nach dem Schutzprinzip die Zerstörer ihrer Botschaften in Kenia und Tansania strafrechtlich verfolgen durften. 954 Zur Abhängigkeit der stellvertretenden Strafrechtspflege vom Konsens des „Vertretenen“ vgl. oben 1. Kapitel B. II. 7. und unten 4. Kapitel A. II. 4. a).
C. Sicherheitsratsbeschlüsse nach Kapitel VII UN-Charta
335
nach Artikel 103 UN-Charta zurück; der nulla poena-Grundsatz ist ebenfalls nicht verletzt, da die Strafbarkeit im Zufluchtsstaat hier schon vor Tatbegehung begründet worden war.
III. Resümee Damit bleibt festzuhalten: Der Sicherheitsrat kann im Rahmen seines weiten Beurteilungs- und Ermessensspielraums eine Friedensgefahr auch dann feststellen, wenn ein Staat völkerrechtsgemäß dem Täter einer Auslandstat sichere Zuflucht gewährt, und als Abhilfemaßnahme dem Zufluchtsstaat aufgrund Artikel 41 UN-Charta eine „aut dedere – aut iudicare“-Pflicht auferlegen. Diese muss sich allerdings auf eine konkrete Straftat oder auf im Rahmen einer konkreten friedensgefährdenden Situation bereits begangene oder zukünftig drohende Straftaten beziehen; abstrakt-generelle „Völkerrechtsgesetzgebung“ ist dem Sicherheitsrat (jedenfalls derzeit noch) nicht gestattet. Ferner müssen die aus dem Grundsatz nulla poena sine lege folgenden Einschränkungen berücksichtigt werden, das heißt es darf nicht angeordnet werden, den Täter in einem Staat vor Gericht zu stellen, in dem ihm zum Zeitpunkt der Tatbegehung weder nach nationalem Recht noch nach Völkerstrafrecht eine Bestrafung drohte.
955 Dazu, dass die Ausdehnung des eigenen nationalen Strafrechts auf Auslandstaten einen Verstoß gegen den Nichteinmischungsgrundsatz darstellen kann, vgl. oben 1. Kapitel B. I.
4. Kapitel
Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“ Wenn bekannt wird, dass sich der Täter einer Straftat ins Ausland abgesetzt hat, wird meist ein von der Tat unmittelbar betroffener Staat – in aller Regel derjenige, in dessen Territorium die Tat verübt wurde – alsbald vom Zufluchtsstaat die Auslieferung verlangen. Gilt für den Fall ein „aut dedere – aut iudicare“, dann stellt sich nun die Frage nach den Entscheidungsmöglichkeiten des solchermaßen ersuchten Staates: Muss er dem Auslieferungsgesuch prinzipiell stattgeben und darf nur in bestimmten völkerrechtlich fixierten Ausnahmefällen zur Strafverfolgung durch seine eigenen Behörden schreiten? Oder hat er vielmehr eine freie Wahl zwischen „dedere“ und „iudicare“? Beschränken sich seine Optionen jedenfalls dann auf die Auslieferung, wenn es sich bei der Tat um einen Akt von „Staatskriminalität“ handelt, in den er selbst verwickelt ist? Wie muss der Zufluchtsstaat gar verfahren, wenn ausnahmsweise keiner der unmittelbar von der Tat betroffenen Staaten ein Auslieferungsersuchen stellt? Hierfür kann es vielfältige Gründe geben, beispielsweise die Furcht dieser Staaten vor den innen- oder außenpolitischen Verwicklungen, die eine Strafverfolgung des Täters mit sich bringen könnte; die Gefahr, zur Zielscheibe von Racheakten seiner Gesinnungsgenossen zu werden, schlimmstenfalls gar offene Sympathie mit seiner Tat – man denke nur an die Fälle staatlich gebilligter Menschenrechtsverletzungen. Eine Auslieferung kommt dann natürlich mangels eines zur Übernahme des Täters willigen Staates nicht in Betracht. Trifft aber den Zufluchtsstaat wenigstens eine Pflicht zur Einleitung eigener Strafverfolgungsmaßnahmen? Oder steht das „iudicare“ immer unter der Bedingung, dass zuvor ein Auslieferungsgesuch gestellt und abgelehnt wurde? Schließlich: Was bedeutet „iudicare“ überhaupt? Welche Anforderungen stellt das Völkerrecht hier an das Vorgehen der nationalen Behörden? All diese Fragen werden Gegenstand des folgenden Kapitels sein.1
1 Dagegen sollen Inhalt und Grenzen des „dedere“ nicht erörtert werden. Diesbezüglich stellen sich keine für das „aut dedere – aut iudicare“ spezifischen Probleme (vgl. oben Einleitung).
A. Auslieferungsersuchen als Voraussetzung des „iudicare“?
337
A. Der Eingang eines Auslieferungsersuchens als Voraussetzung des „iudicare“? Muss der Zufluchtsstaat aufgrund eines völkerrechtlichen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes auch dann gegen den Täter einer Auslandstat vorgehen, wenn er kein Auslieferungsersuchen eines anderen Staates erhalten hat? In der Literatur des 15. bis 18. Jahrhunderts zum klassischen „aut dedere – aut punire“ wurde dies durchweg verneint. Für das moderne „aut dedere – aut iudicare“ kann diese Frage dagegen nicht einheitlich entschieden werden, sie ist vielmehr je nach dessen konkreter Ausgestaltung in seiner jeweiligen Rechtsgrundlage unterschiedlich zu beantworten.
I. Verträge, die nach ihrem Wortlaut eindeutig den Eingang eines Auslieferungsersuchens zur Voraussetzung des „aut dedere – aut iudicare“ machen Bei einer Reihe von vertraglichen „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen gibt es hier kaum Streit, denn ihr Wortlaut, der nach Artikel 31 Absatz 1 WVRK Ausgangspunkt jeder Vertragsauslegung ist, lässt keinen Zweifel daran, dass eine „aut dedere – aut iudicare“-Pflicht für den Zufluchtsstaat erst dann entsteht, wenn ein anderer Staat ein Auslieferungsersuchen gestellt hat.2 Dies wird auch in der Literatur einhellig so gesehen.3 Zum Teil 2
Dies kann entweder ganz ausdrücklich (z. B. wenn nur „[a] Contracting State which has received a request for extradition“ [Art. 7 Europ. Antiterrorkonvention; Art. IV SAARC-Antiterrorkonv.] einer Pflicht zum „iudicare“ unterworfen wird) oder, häufiger, durch Verwendung von Worten wie „requested State“ (so bspw. Art. 6 II Europ. AuslÜbk.; Art. 5 OAS-Diplomatenschutzkonvention; Art. 8 InterAmerican Convention on Extradition; Art. 18 I i. V. m. Art. 14 III a. E. Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention) für den der „iudicare“-Pflicht unterliegenden Zufluchtsstaat geschehen. Ein solchermaßen eindeutiger Wortlaut findet sich in folgenden Vorschriften (näher dazu jeweils oben im 3. Kapitel bei der Vorstellung des entsprechenden Vertrages): Art. 5 OAS-Diplomatenschutzkonvention; Art. 7 Europ. Antiterrorkonvention; Art. 18 I i. V. m. Art. 14 III a. E. Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention; Art. IV SAARC-Antiterrorkonvention; Art. 6 II EurAuslÜbk.; Art. 8 Inter-American Convention on Extradition; Art. 6 h) Arab. Antiterrorkonvention; Art. 6 Nr. 8 OIC-Antiterrorkonvention; Art. 36 II a) iv. Suchtstoffeeinheitsübereinkommen; Art. 22 II a) iv. Konvention gegen psychotrope Stoffe; Art. 6 IX a) und b) UN-Antidrogenkonvention; Art. 9 II, III Afrik. Antisöldnerkonvention; Art. XIII § 6 Inter-American Convention on Corruption; Art. 27 V Europ. Korruptionskonvention; Art. 44 UN-Korruptionskonv.; Art. 10 III 2 OECD-Korruptionskonvention; Art. 14 OAS-Folterkonvention; Art. VI OAS-Konvention gegen „Verschwindenlassen“; Art. 16 X 1 UN-Konvention gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität; Art. 15 VI Afrik. Antikorruptionskonv.; Art. 24 VI 1
338
4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
wird in den Abkommen sogar der Kreis der Staaten, deren Auslieferungsersuchen diese Rechtswirkung hat, eingeschränkt. Dann kann nur ein Ersuchen aus gerade einem dieser Staaten zu einer „iudicare“-Pflicht führen, die Auslieferungsersuchen anderer Staaten können dagegen vom Zufluchtsstaat auch ohne Einleitung eigener Strafverfolgungsmaßnahmen abgelehnt werden.4
II. Das Haager Modell 1. Der Meinungstand in der Literatur Im Gegensatz zu den vorstehend untersuchten Abkommen, bietet das „Haager Modell“ seinem Wortlaut nach keine Anhaltspunkte dafür, dass erst die Zurückweisung eines tatsächlich gestellten Auslieferungsantrages die Pflicht zum „iudicare“ auslöst. Dort heißt es nur: „The Contracting State in the territory of which the alleged offender is found shall, if it does not extradite him, be obliged [. . .] to submit the case to its competent authorities for the purpose of prosecution.“5 Ob der Grund für die Nichtauslieferung die Zurückweisung eines Auslieferungsantrages ist oder ob die Europäische Konvention gegen Cyberkriminalität; Art. 5 V Fakultativprotokoll betreffend Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes; für Personen, die keine Bürger des Zufluchtsstaates sind, auch Art. 9 II Falschmünzerkonvention (dort allerdings nach Art. 8 anders für eigene Bürger des Zufluchtsstaates). 3 Für die OAS-Konventionen gegen Folter und zum Schutz völkerrechtlich besonders geschützter Personen vgl. bspw. Bassiouni/Wise, S. 18; Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 146; Lambert, Hostages, S. 189 Fn. 7; Wise, Israel Law Review 27 (1993), S. 268 (272); für die Europäische Antiterrorkonvention vgl. bspw. Bassiouni/Wise, S. 18; Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 142; Lowe/Young, NILR 1978, S. 305 (329); Bartsch, NJW 1977, S. 1985 (1988); Conseil de l’europe, Rapport explicatif sur la Convention Européenne pour la répression du terrorisme, Ziff. 60; Stein, ZaöRV 1977, S. 668 (677); van den Wijngaert, Poltitical offence exception, S. 162; Lambert, Hostages, S. 189 Fn. 8; Dahm/Delbrück/ Wolfrum, I/3, S. 1120; Wise, Israel Law Review 27 (1993), S. 268 (272); Schmidt, Externe Strafpflichten, S. 252; für die Falschmünzerkonvention von 1929 vgl. Bassiouni/Wise, S. 13; Lambert, Hostages, S. 188 f., denen allerdings die dort vorgenommene Unterscheidung zwischen eigenen und fremden Staatsbürgern in dieser Hinsicht entgeht. 4 Dies ist beispielsweise der Fall im Rahmen der Europäischen Antiterrorkonvention, wo nur dann eine Pflicht zum „iudicare“ besteht, wenn der ersuchende Staat seine Strafverfolgungsbemühungen auf ein Prinzip des Strafrechtsanwendungsrechts stützt, das auch im Recht des ersuchten Staates anerkannt ist [vgl. hierzu oben, 3. Kapitel A. I. 9. a) bei Fn. 123 f.]. 5 Vgl. Art. 7 Haager Konvention (Hervorhebung nicht im Original). Zu leichten – im vorliegenden Kontext aber irrelevanten – sprachlichen Abweichungen bei eini-
A. Auslieferungsersuchen als Voraussetzung des „iudicare“?
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Auslieferung schon daran scheitert, dass überhaupt kein Staat eine Überstellung des Täters gefordert hat, spielt nach dem Wortlaut keine Rolle. Entscheidend ist nur, dass es im Ergebnis nicht zur Auslieferung kommt; dann gilt die Pflicht zum „iudicare“. Mit eben diesem Wortlautargument wird von der wohl herrschenden Meinung vertreten, die Strafverfolgungspflicht des Zufluchtsstaates greife auch, wenn kein anderer Staat ein Auslieferungsersuchen stellt.6 Andere Stimmen widersprechen dennoch,7 da es nicht einsichtig sei, dem Zufluchtsstaat die Strafverfolgungslast auch dann aufzubürden, wenn keiner der unmittelbar von der Tat betroffenen Staaten durch ein Auslieferungsersuchen Interesse an der Bestrafung des Täters bekundet habe.8 Die Vertreter der herrschenden Meinung entgegnen, der „effet utile“ gebiete auch dann eine Strafverfolgungspflicht, da nur so dem Ziel der Abkommen, jeden sicheren Zufluchtsort abzuschneiden, entsprochen werde.9 Vor allem im Zusammenhang mit der UN-Folterkonvention wird vorgebracht, der Tatortstaat habe meistens die Folter selbst angeordnet oder geduldet und werde deswegen häufig kein Auslieferungsersuchen stellen. Dies dürfe den Täter aber keinesfalls vor Strafverfolgung im Zufluchtsstaat schützen.10
gen hier dem „Haager Modell“ zugeordneten Verträgen siehe oben, 3. Kapitel A. I. 3 b), 4., 5., 6., 7., 8., 9. d), II. 1. b), c). 6 Vgl. bspw. Henzelin, S. 303; van den Wijngaert, Political Offence Exception, S. 162; Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 150; Bloom, AJIL 89 (1995), S. 621 (627); Lambert, Hostages, S. 197; Feller, Israel Law Review 7 (1972), S. 207 (210); Schmidt, Externe Strafpflichten, S. 252; Wise, Israel Law Review 27 (1993), S. 268 (272). 7 So Murphy, Col. J. of Transnat. Law, 25 (1986/87), S. 35 (45 und Fn. 48); ders., Punishing, S. 68; Bigay, RdPC 1980, S. 113 (118); Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1009, 1115; wohl auch Joyner/Rothbaum, Mich. J. of Int.’l L. 14 (1993), S. 222 (247) und Bantekas/Nash, Int. Criminal Law, S. 161. 8 Vgl. Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (352), der allerdings Argumente für beide Ansichten anführt ohne seine eigenen Präferenzen erkennen zu lassen. Noch 1970 scheint er eher einer einschränkenden Auslegung der Haager Konvention zugeneigt gewesen zu sein, wenn er deren „aut dedere – aut iudicare“ als inhaltsgleich mit dem der Falschmünzerkonvention von 1929 und des Suchtstoffeeinheitsübereinkommens bezeichnet, die unstreitig die Existenz eines Auslieferungsersuchens voraussetzen (vgl. Guillaume, AFDI 1970, S. 35 [49]). 9 Henzelin, S. 303; Burgers/Danelius, S. 137 und – allerdings eher rechtspolitisch als de lege lata argumentierend – van den Wijngaert, Political Offence Exception, S. 162 und 225 f. 10 Vgl. Burgers/Danelius, S. 137; ähnl. Swart, in: Cassese/Gaeta/Jones, S. 1639 (1658 f.).
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
2. Die Entstehungsgeschichte der Abkommen Ob solche teleologischen Erwägungen wirklich ausschlaggebend sein können, mag hier dahingestellt bleiben. Die schon nach dem Vertragswortlaut naheliegende Lösung, die Existenz eines Auslieferungsersuchens nicht zur Bedingung für die „iudicare“-Pflicht zu machen, wird nämlich durch die Entstehungsgeschichte der Verträge des „Haager Modells“ eindeutig bestätigt. Auf den Haager und Montrealer Konferenzen von 1970 und 1971 wurde über diese Frage zwar noch nicht diskutiert – jedenfalls nicht in den dokumentierten offiziellen Debatten;11 als die ILC aber zwei Jahre später mit ihrem Entwurf zur UN-Diplomatenschutzkonvention hinsichtlich des „aut dedere – aut iudicare“ bewusst an die Haager Konvention anknüpfen wollte12, führte sie im Kommentar aus: „It is of course possible, that no request for extradition will be received, in which case the State where the alleged offender is found would be effectively deprived of one of its options and have no recourse save to submit the case to its authorithies for the purpose of prosecution.“13
Diese Interpretation des Haager Modells wurde von den in der UN-Generalversammlung versammelten Staaten gebilligt, als sie 1973 den Entwurf in Kenntnis des Kommentars in dieser Hinsicht unverändert als Vertragstext annahmen. Die Niederlande hatten zuvor beantragt, die Worte „and [. . .] has received a request for extradition [. . .]“ einzufügen, konnten sich aber nicht durchsetzen, da die anderen Staaten fürchteten, dadurch dem Täter zu viele „safe havens“ einzuräumen. Im Anschluss an diese Abstimmungsniederlage erklärte der niederländische Delegierte: „[. . .] it is now clear that a State party, where an alleged offender is found, will be bound to submit the case to prosecution even if the States which have primary jurisdiction under the terms of article 3 all shirk requesting extradition“.14
Derselbe Vorgang wiederholte sich sowohl bei der Ausarbeitung der UNGeiselnahmekonvention in der UN-Generalversammlung als auch anlässlich der Verhandlungen über die UN-Folterkonvention in der Arbeitsgruppe der UN-Menschenrechtskommission: Jedes Mal wurden Vorschläge der Niederlande und weiterer Staaten – im Falle der Folterkonvention namentlich Frankreichs, Brasiliens und Argentiniens – nach ausdrücklicher Erwähnung eines Auslieferungsersuchens als Voraussetzung der iudicare-Pflicht mehr11 Die Protokolle der Debatten sind als ICAO Doc 8979-LC/165-1 und ICAO Doc 9081-LC/170-1 veröffentlicht. 12 Zur trotz einzelner redaktioneller Abweichungen auf die Übernahme der Haager Bestimmungen gerichteten Intention der ILC siehe oben 3. Kapitel Fn. 63. 13 YBILC 1972, S. 309 (318). Hervorhebung nicht im Original. 14 Zu diesen Vorgängen während der 28. Sitzung der UN-Generalversammlung vgl. Wood, ICLQ 1974, S. 791 (811).
A. Auslieferungsersuchen als Voraussetzung des „iudicare“?
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heitlich mit der Begründung zurückgewiesen, nur eine hiervon unabhängige Strafverfolgungspflicht schneide dem Täter wirklich jede Zufluchtsmöglichkeit ab.15 Der hier zum Ausdruck kommende Wille der normsetzenden Staaten ist über das jeweils konkret ausgehandelte Abkommen hinaus auch für die Auslegung aller anderen dem Haager Modell folgenden Konventionen von Bedeutung. Denn für spätere Verträge, wie beispielsweise die Schifffahrtssicherheitskonvention, das Sprengstoffattenateübereinkommen, die Terrorismusfinanzierungskonvention oder die Nuklearterrorismuskonvention, muss davon ausgegangen werden, dass die Vertragstaaten die Formulierungen der UN-Abkommen gegen Angriffe auf völkerrechtlich geschützte Personen, Geiselnahme und Folter in Kenntnis der ihnen dort zukommenden Bedeutung bewusst übernommen haben, um der damals getroffenen Regelung nun in jeder Hinsicht auch im Kontext des neuen Vertrages Geltung zu verschaffen. Für die Interpretation der älteren Konventionen von Den Haag und Montreal sind die Diskussionen im Rahmen der späteren Vertragschlüsse als eine Art „subsequent practice“ im Sinne des Artikels 31 Absatz 3 b) WVRK von Bedeutung: Einige Staaten haben immer wieder eine Abweichung vom – bewusst gewählten – Haager Vorbild gefordert, um dem nicht um Auslieferung ersuchten Zufluchtsstaat die Bürde des „iudicare“ zu nehmen; damit erkannten sie implizit an, dass in der Haager Konvention selbst eine unbedingte Strafverfolgungspflicht normiert wurde. Abgelehnt wurden diese Vorschläge von der Mehrheit der Staaten nicht etwa mit dem Argument, sie seien überflüssig, da auch bei einer unveränderten Übernahme der Haager Bestimmungen ein Auslieferungsantrag Voraussetzung der „iudicare“-Pflicht sei. Im Gegenteil, man übernahm den Wortlaut von Artikel 7 Haager Konvention gerade deshalb unverändert, weil man eine Verfolgungspflicht auch ohne Auslieferungsersuchen wünschte. Beide Staatengruppen haben also übereinstimmend die Vorschriften der Haager Konvention – und damit wohl auch die wortgleichen Regeln der Montrealer Konvention – im Sinne einer von der Stellung eines Auslieferungsersuchens unabhängigen Verfolgungspflicht verstanden. Streit bestand nur darüber, ob diese Vorschriften rechtspolitisch geglückt waren und deshalb in die späteren Verträge übernommen werden sollten. 3. Die Gerichtspraxis Im Gegensatz zur Entstehungsgeschichte der Abkommen gibt die Praxis der nationalen Gerichte bei ihrer Anwendung nur wenige Anhaltspunkte dafür, ob der Täter vom Zufluchtsstaat auch ohne Auslieferungsersuchen straf15 Zur Geiselnahmekonvention vgl. Lambert, Hostages, S. 156 f. sowie 196 f.; zur UN-Folterkonvention Burgers/Danelius, S. 60, 78, 133 und 137.
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
rechtlich zu verfolgen ist.16 Im Hamadi-Fall, lag ein Auslieferungsersuchen der USA vor, als in Deutschland aufgrund der Haager Konvention ein Strafverfahren gegen den libanesischen Entführer einer TWA-Passagiermaschine durchgeführt wurde. Ob die deutschen Behörden dies allerdings als Bedingung für das Entstehen ihrer „iudicare“-Pflicht verstanden haben, geht aus der Entscheidung des BGH nicht hervor.17 Und während die etwas rätselhafte Aussage der Amsterdamer Staatsanwaltschaft, wonach die UN-Folterkonvention nicht die Strafverfolgung des in einem Amsterdamer Hotel logierenden Pinochet gebiete, da die Niederlande keine „decision to extradite“ getroffen hätten,18 wohl so zu interpretieren ist, dass die Strafverfolgungspflicht eine vorherige (negative) Entscheidung über ein tatsächlich gestelltes Auslieferungsersuchen voraussetzen soll, hatte das House of Lords in seinem dritten Pinochet-Urteil unter Berufung auf die Entstehungsgeschichte dieses Vertrages ausdrücklich anders entschieden.19 4. Theoretische Erklärungen und Begründungen Es drängt sich die Frage auf, warum einige Abkommen das „aut dedere – aut iudicare“ so ausgestalten, dass es die Stellung eines Auslieferungsantrages voraussetzt, während andere ein unbedingtes Strafverfolgungsoder Auslieferungsgebot normieren. Wie lässt sich dies im nachhinein erklären? Kann man gar noch weiter gehen und – wie dies teilweise in der Literatur geschieht – unabhängig von Genealogie und Wortlaut der Verträge allein unter Rückgriff auf Ziele und Motive der Parteien eine gegebene „aut dedere – aut iudicare“-Norm im Sinne einer der beiden Varianten interpretieren? a) Die Prinzipien des internationalen Strafrechts und die unterschiedlichen Varianten des „aut dedere – aut iudicare“ Wenden wir uns nun zunächst dem Versuch einer der Auslegung a posteriori folgenden wissenschaftlichen Erklärung der beiden Varianten zu. Dieser kann nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn man auch die unterschiedlichen Prinzipien des Strafrechtsanwendungsrechts, die dem „iudicare“ zugrunde liegen können,20 mit in die Betrachtung einbezieht. Denn wer 16
Vgl. auch Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (352). Das Urteil ist abgedruckt in NJW 1991, S. 3104. 18 Vgl. NYIL 1997, S. 363 (364). 19 Vgl. R v Bow Street Metropolitan Stipendiary Magistrate and others, ex parte Pinochet Ugarte (No 3), [1999] 2 All ER, S. 97 (Lord Browne-Wilkinson, S. 110 f.). 20 Vgl. dazu schon oben, 1. Kapitel B. III. 17
A. Auslieferungsersuchen als Voraussetzung des „iudicare“?
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beispielsweise jeder „aut dedere – aut iudicare“-Regelung – auch der des „Haager Modells“ – das Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege zugrunde legt21, dem muss die vom Ersuchen unmittelbar betroffener Staaten unabhängige Strafverfolgungspflicht tatsächlich „eigenartig“22 erscheinen. Denn stellvertretende Strafrechtspflege ist per Definition eine Rechtspflege für einen anderen, durch die Tat unmittelbar betroffenen Staat, deren völkerrechtliche Legitimität sich gerade aus dem Eintreten für den originär zur Verfolgung berechtigten Staat ableitet.23 Dieser abgeleitete Charakter der Kompetenz gebietet eine strenge Beachtung des Willens des originär verfolgungsberechtigten Staates. Niemand darf sich ohne dessen Einverständnis zu dessen „Vertreter“ bei der Durchsetzung von dessen Strafrecht gegenüber flüchtigen Tätern aufschwingen.24 Wie bereits oben dargelegt, kann man keinesfalls unterstellen, dass einem Staat die Durchsetzung seines Strafrechts durch fremde Staaten immer willkommen ist.25 Das Einverständnis zur Übernahme der Strafverfolgung durch einen anderen Staat muss vielmehr immer im konkreten Einzelfall nachgewiesen werden.26 Aber auch bei Verträgen, deren „iudicare“ das eingeschränkte aktive Personalprinzip zugrunde liegt, macht es Sinn, die Strafverfolgung im Zufluchtsstaat nur vorzuschreiben, wenn ein stärker von der Tat betroffener Staat sein Interesse daran bekundet hat. Zwar verleiht die Staatsangehörigkeit des Täters dem Zufluchtsstaat hier ein eigenes, von anderen Staaten unabhängiges Strafverfolgungsrecht, so dass ein „iudicare“ völkerrechtlich auch gegen den Willen beispielsweise des Tatortstaates zulässig wäre. Wieso sollte der Zufluchtsstaat aber unter diesen Umständen dazu verpflichtet werden, wenn die einzige ratio des eingeschränkten aktiven Personalprinzips doch – ebenso wie die der stellvertretenden Strafrechtspflege – darin besteht, durch Auslieferungshindernisse verursachte Strafverfolgungslücken zu beseitigen?27 Will ohnehin kein anderer Staat eine Strafverfolgung durchführen, käme es doch auch dann nicht zur Strafverfolgung, wenn kein Auslieferungshindernis vorläge. Am klarsten kommt die Abhängigkeit des „iudi21 So bspw. Oehler, in: FS Carstens, S. 435 (444); ders., Int. Strafrecht, S. 502; Lagodny, UCLR 60 (1989), S. 583 (589); Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 155; Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1006 u. 1115; Oeter, in: Koch, S. 29 (35); Doehring, Rn. 916, 1160; wohl auch Stein, Auslieferungsausnahme, S. 372. 22 So Oehler, in: FS Carstens, S. 435 (444). 23 Vgl. oben 1. Kapitel B. II. 5. und 7. 24 Eser, JZ 1993, S. 875 (883); Lagodny/Pappas, JR 1994, S. 162 (163). 25 Oben, 1. Kapitel B. II. 7. um Fn. 61. 26 Vgl. auch Schultz, Rev. de sc. crim. et de dr. pén. comp. 1967, S. 305 (326); Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 102; Council of Europe, Extraterritorial Jurisdiction, S. 14; a. A. Oehler, Int. Strafrecht, S. 145, 156. 27 Vgl. zum Zweck des eingeschränkten aktiven Personalprinzips oben 1. Kapitel B. II. 4.
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
care“ von der Zustimmung eines stärker betroffenen Staates in jenen Verträgen zum Ausdruck, bei denen die Pflicht zum „iudicare“ nicht nur davon abhängt, dass ein Auslieferungsersuchen gestellt und abgelehnt wurde, sondern auch noch ein anschließendes zweites Ersuchen um „stellvertretende“ strafrechtliche Verfolgung erforderlich ist.28 Aber auch dort, wo ein abgelehntes Auslieferungsersuchen als Auslöser der Strafverfolgungspflicht genügt, kann man noch von einer ausreichenden Berücksichtigung des Konsensgrundsatzes sprechen,29 da der ersuchende Staat hier weiß, dass aufgrund der entsprechenden Vertragsnormen eine Ablehnung seines Auslieferungsgesuches die Strafverfolgung durch den Zufluchtsstaat auslöst und er ein solches Gesuch daher nur stellen wird, wenn er auch bereit ist ein „iudicare“ durch den ersuchten Staat als „Minus“ zur erwünschten Auslieferung zu akzeptieren.30 Dagegen überschreitet das „Haager Modell“ die Grenzen der an den Konsens im Einzelfall gebundenen stellvertretenden Strafrechtspflege eindeutig:31 Hier trifft den Zufluchtsstaat gerade auch dann eine „iudicare“-Pflicht, wenn keiner der originär zur Strafverfolgung kompetenten Staaten eine Strafverfolgung wünscht. Oehler betracht dies als „moderne Ausprägung“ der stellvertretenden Strafrechtspflege, die in neueren Verträgen zu finden sei, während die Verknüpfung von Strafverfolgungspflicht und Ablehnung eines Auslieferungsersuchens die Regelungstechnik der älteren Verträge sei.32 Das Alter der Konventionen ist jedoch kein taugliches Abgrenzungskriterium,33 denn eine ganze Reihe der oben unter I. erwähnten Verträge wurde nach der Haager Konvention abgeschlos28 So bspw. Art. 6 II EurAuslÜbk; Art. 24 VI Europäische Konvention gegen Cyberkriminalität; Art. 16 X 1 UN-Konvention gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität; Art. 44 XI UN-Korruptionskonv. 29 So wohl auch Lagodny, ZStW 101 (1989), S. 987 (993); Council of Europe, Extraterritorial Jurisdiction, S. 14; Gilbert, S. 102; diff. Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 97 f. 30 Ähnl. Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege. S. 155, die „durch die vertragliche Einigung in Verbindung mit dem Auslieferungsersuchen“ den derivativen Charakter der Strafkompetenz des Zufluchtsstaates gewahrt sieht. Interessant ist insofern die Lösung in Art. 6 IX b) UN-Antidrogenkonvention, Art. XIII Abs. 6 InterAmerican Convention against Corruption, Art. 27 V Europ. Korruptionskonvention, Art 15 VI Afrik. Antikorruptionskonvention, die dem ersuchenden Staat ein Widerspruchsrecht gegen ein „iudicare“ im Zufluchtsstaat einräumt. 31 A. A. Oehler, Int. Strafrecht, S. 145, 502. Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 155 hat aus den hier angeführten Gründen zwar ebenfalls Bedenken, ob die erforderliche Ableitung der Strafverfolgungsgewalt des Zufluchtsstaates beim „Haager Modell“ noch gewährleistet ist, geht aber dennoch davon aus, dass dieses auf stellvertretender Strafrechtspflege beruht. 32 Oehler, in: FS Carstens, S. 435 (446). Auch Wise, Israel Law Review 27 (1993), S. 268 (272 f.) sieht im Alter der Verträge das wichtigste Abgrenzungskriterium. 33 So auch Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 153 (Fn. 48).
A. Auslieferungsersuchen als Voraussetzung des „iudicare“?
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sen.34 Pappas möchte nach der geographischen Reichweite der Abkommen unterscheiden, wobei die global angelegten Verträge ein „unbedingtes“ „iudicare“, die regional angelegten ein durch die Ablehnung eines Auslieferungsersuchens bedingtes enthalten sollen.35 Auch dieses Kriterium ist aber nicht tauglich: Mit den drei Verträgen aus der Zwischenkriegszeit, dem Fakultativprotokoll betreffend Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie zur Kinderrechtskonvention, den drei global angelegten Rauschgiftverträgen der Nachkriegszeit sowie den UN-Konventionen gegen Korruption und organisierte Kriminalität liegen mehrere Beispiele für ein „bedingtes“ „iudicare“ in universell angelegten Verträgen vor. Die richtige Erklärung liefert vielmehr das ein „iudicare“ jeweils legitimierende Strafrechtsanwendungsprinzip: Ist ein Auslieferungsersuchen erforderlich, handelt es sich bei der Strafverfolgung durch den Zufluchtsstaat um einen Fall der stellvertretenden Strafrechtspflege, ist es nicht erforderlich, handelt es sich um einen Anwendungsfall des Weltrechtsprinzips. Die Ausübung der Strafgewalt versteht sich im letztgenannten Fall nicht als „stellvertretendes“ Handeln für einen anderen Staat; der Zufluchtsstaat verteidigt vielmehr ein allen Staaten – und somit auch ihm selbst – zustehendes Rechtsgut; er erfüllt seine eigene Pflicht zu dessen Schutz.36 „Derivativ“ ist seine Strafgewalt hier nur insofern, als einer der Staaten, zu dem die Tat einen „genuine link“ aufweist, früher einmal an der Entstehung einer vertrags- oder gewohnheitsrechtlichen Völkerrechtsnorm beteiligt gewesen sein muss, durch die das Weltrechtsprinzip bezüglich dieser Kategorie von Straftaten für anwendbar erklärt und somit das betreffende Rechtsgut „internationalisiert“ wurde.37 Ist diese „Internationalisierung“ erfolgt, steht die Strafverfolgung im Einzelfall – die nun die Verteidigung eines „Gemeinschaftsrechtsgutes“ aller (Vertrags-)Staaten ist – nicht mehr zur Disposition der im herkömmlichen Sinne direkt von der Tat betroffenen Staaten: Jeder Staat der Welt kann oder muss38 die entsprechenden Taten ohne weiteres aus eigener 34
So die OAS-Diplomatenschutzkonvention, die Europ. Antiterrorkonvention, die SAARC-Antiterrorkonvention, die Inter-American Convention on Extradition, die Arab. Antiterrorkonvention, die OIC-Antiterrorkonvention, die Konvention gegen psychotrope Stoffe, die UN-Antidrogenkonvention, die Afrik. Antisöldnerkonvention, die Inter-American Convention on Corruption, die Europ. Korruptionskonvention, die UN-Korruptionskonvention, die OECD-Korruptionskonvention, die OASFolterkonvention, die OAS-Konvention gegen „Verschwindenlassen“, die UN-Konvention gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, die Afrik. Antikorruptionskonvention, die Europäische Konvention gegen Cyberkriminalität und das Fakultativprotokoll betreffend Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes. 35 Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 154. 36 Vgl. zum Weltrechtsprinzip oben 1. Kapitel B. II. 6. 37 Zur Erforderlichkeit einer völkerrechtlichen Rechtfertigung des Weltrechtsprinzips siehe oben 1. Kapitel B. II. 7.
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
Kompetenz verfolgen, selbst wenn die über einen „genuine link“ verfügenden Staaten sie lieber ungesühnt ließen. b) Theoretische Erklärungsmuster für die Verwendung von Weltrechtsprinzip und stellvertretender Strafrechtspflege Wann aber vereinbaren die Staaten die mit dem Weltrechtsprinzip in Zusammenhang stehende „aut dedere – aut iudicare“-Variante, wann diejenige, die auf stellvertretender Strafrechtspflege oder eingeschränktem aktiven Personalprinzip beruht? Ist es möglich, diesbezüglich hinter der Staatenpraxis ein gewisses System zu entdecken? Vergleicht man, welche Motive oben als treibende Kraft beim Abschluss der auf dem Haager Modell beruhenden Verträge identifiziert wurden, so stellt man fest, dass dies in allen Fällen der Weltgemeinschaftsgedanke war.39 Es fällt nicht schwer, den engen Zusammenhang zwischen diesem Beweggrund und dem Weltrechtsprinzip zu erkennen: Das Weltrechtsprinzip beruht auf der Vorstellung vom „hostis humani generis“, vom Feind der gesamten Menschheit.40 Diese kann aber nur dann einen gemeinsamen Feind haben, wenn sie bestimmte gemeinsame Güter und Werte teilt, die dieser Feind bedrohen kann; wenn sie also eine echte Gemeinschaft bildet, anstatt sich in eigensüchtige, ständig einander bekämpfende Staaten zu zersplittern.41 Da es die Weltgemeinschaft unter dieser Hypothese nicht dulden kann, dass ein einzelner Staat – zum Beispiel der des Tatortes – durch Absehen von einem Auslieferungsersuchen die Bekämpfung des Feindes aller verhindert, ist es nur logisch, hier dem Zufluchtsstaat ein „unbedingtes“ „iudicare“ aufzuerlegen.42 Auf der anderen Seite ist festzustellen, dass bei den Auslieferungsverträgen, die allesamt ein bedingtes „iudicare“ vorsehen, das Motiv des iudico ut iudices, also der Rechtsdurchsetzungshilfe auf Gegenseitigkeitsbasis, vorherrscht.43 Beruht ein „aut dedere – aut iudicare“ auf diesem Motiv, liegt es verständlicherweise sehr nahe, es im Sinne der stellvertretenden Strafrechtspflege oder des eingeschränkten aktiven Personalprinzips auszugestal38 Zum Unterschied zwischen Verfolgungsrecht und Verfolgungspflicht vgl. oben 1. Kapitel B. III. 3. (um Fn. 67). 39 Vgl. 3. Kapitel A. VI. 40 Vgl. oben 1. Kapitel B. II. 6. 41 Zu diesen unterschiedlichen Sichtweisen des internationalen Systems und ihren Auswirkungen auf das „aut dedere – aut iudicare“ Bassiouni/Wise, S. 28–36. 42 Deshalb schlägt van den Wijngaert, Political offence exception, S. 162 und 225 f. aus rechtspolitischer Sicht zu Recht vor, beim Abschluss von „aut dedere – aut iudicare“-Verträgen das „absolute“ „iudicare“ nur für schwerste Straftaten vorzusehen und es für weniger schwerwiegende bei einem „bedingten“ zu belassen. 43 Vgl. oben 3. Kapitel A. VI.
A. Auslieferungsersuchen als Voraussetzung des „iudicare“?
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ten. Deren Grundgedanken ist es ja gerade, unmittelbar durch die Tat betroffenen Staaten bei der Durchsetzung ihres Strafrechts auch dann zu helfen, wenn der Auslieferung rechtliche Hindernisse entgegenstehen – natürlich nicht ohne die Erwartung, später einmal die gleiche Hilfe gewährt zu bekommen. Nicht internationale Rechtsgüter, sondern rein nationale Rechtsgüter des Tatortstaates sollen hier geschützt werden.44 Wird kein Auslieferungsersuchen gestellt, gibt es keinen Grund, dem an der Bestrafung des Täters offensichtlich nicht interessierten Partner die Hilfe aufzudrängen. Wie aber passen die Verträge gegen Drogenhandel, Korruption und andere Formen der organisierten Kriminalität sowie das Fakultativprotokoll gegen Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie in dieses Bild? Obwohl bei ihnen der dem Weltrechtsprinzip nahestehende Weltgemeinschaftsgedanke tragendes Motiv war,45 gestalten sie dennoch das „aut dedere – aut iudicare“ in Richtung der stellvertretenden Strafrechtspflege oder des aktiven Personalprinzips aus. Gleiches gilt für die OAS-Folter- und Diplomatenschutzabkommen sowie die Afrikanische Antisöldnerkonvention, denn anders als ihre universellen Pendants sehen sie nur ein „bedingtes“ „iudicare“ vor. Wie lässt sich dies in unseren Erklärungsversuch logisch einfügen? Die Antwort auf diese Frage mag verblüffen: überhaupt nicht. Unter den Gesichtspunkten der logischen Konsistenz müsste man hier in der Tat zu einem „unbedingten“ „iudicare“ greifen und dieses überdies nicht nur – wie teilweise geschehen – auf eigene Bürger des Zufluchtsstaates, sondern, wie beim „Haager Modell“, auch auf Ausländer erstrecken, denn der Weltgemeinschaftsgedanke gebietet die bedingungslose Verfolgung des hostis humani generis, unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit oder einem mangelnden Verfolgungsinteresse der direkt betroffenen Staaten. Im Völkerrecht ist aber – wie in jeder Rechtsordnung – nur der Norminterpret im Umgang mit seinem Erkenntnisgegenstand – also der gesetzten Rechtsnorm – den Kautelen der Logik unterworfen. Der Normsetzer – hier die Vertragsparteien – ist davon frei. Sein Handeln wird – nicht nur, aber wohl besonders im Völkerrecht – durch die tatsächlichen Machtverhältnisse, den politischen Zwang zum Kompromiss und nicht zuletzt auch durch historische Zufälligkeiten bestimmt. Dadurch bedingte Systemwidrigkeiten des positiven Rechts muss der Rechtswissenschaftler – wenn auch bedauernd – zur Kenntnis und hinnehmen.
44 Vgl. zur rein nationalen Schutzrichtung stellvertretender Strafrechtspflege auch Oehler, Int. Strafrecht, S. 145 und Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1005. 45 Vgl. oben 3. Kapitel A. VI.
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
c) Grenzen einer an Zielen und Motiven der Vertragsparteien orientierten Auslegung Verlassen wir nun die Ebene der Erklärung eines bereits zuvor durch Auslegung ermittelten Norminhaltes, gehen einen Schritt zurück und fragen uns, inwiefern die Motive und Ziele der Vertragsparteien eines „aut dedere – aut iudicare“-Vertrages unmittelbar herangezogen werden können, um zu ermitteln, ob dieser Vertrag dem Weltrechtsprinzip oder dem Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege folgt, also das „iudicare“ unter den Vorbehalt eines Auslieferungsersuchens stellt oder nicht? Hierauf beruht ja letztlich die Argumentation derjenigen, die sich bei der Auslegung des Haager Modells auf teleologische Erwägungen stützen und behaupten, der Zweck des Abkommens – die Sicherstellung der Strafverfolgung – erfordere die Strafverfolgung auch wenn kein Auslieferungsersuchen vorliegt. Die Gefahr einer solchen Auslegungsmethode zeigen unsere soeben angestellten Erwägungen zu den Regelungen über Drogenhandel, Korruption und andere Formen der organisierten Kriminalität: Hier ist es ausweislich der Präambeln das Ziel der Vertragsstaaten gewesen, die weltweite Bekämpfung einer für sie alle gefährlichen „internationalen Straftat“ zu erreichen.46 Dennoch wurde nach dem eindeutigen Wortlaut eine „bedingte“ „aut dedere – aut iudicare“-Variante gewählt, die dieses Ziel wegen des Erfordernisses eines Auslieferungsersuchens nicht optimal erreicht. Der „Leidensdruck“ der Staaten hatte hier wohl nicht den gleichen Grad erreicht wie beispielweise bei Flugzeugentführungen, so dass der politische Wille fehlte, die mit dem effektiveren „Haager Modell“ verbundenen Einbußen an Entscheidungsfreiheit und damit letztlich an Souveränität hinzunehmen. Auch enthalten die OAS-Folter- und Diplomatenschutzkonventionen, das Fakultativprotokoll gegen Kinderhandel sowie die Afrikanische Antisöldnerkonvention ein eindeutig durch die Stellung eines Auslieferungsersuchens bedingtes „aut dedere – aut iudicare“, während die dieselben Bereiche regelnden UNKonventionen beziehungsweise der Vertrag von 1949 gegen Menschenhandel47 ein unbedingtes enthalten; und dennoch verfolgen all diese Verträge dasselbe Ziel, nämlich eine „effektive“ Bekämpfung von Folter, Menschenhandel und Angriffen auf Diplomaten. Dies zeigt: Wer ein bestimmtes Ziel anstrebt, ist eben nicht immer zwangsläufig bereit, es auch mit allen Mittel zu verfolgen. Gegenläufige Rechtspositionen und widerstreitende politische Interessen können die Staaten dazu veranlassen, auf den Einsatz des „optimalsten“ Mittels zur Erreichung des Vertragszwecks zu verzichten. Beispiele hierfür sind auch in anderen Bereichen häufig. So sind etwa die „political offence exception“ und das Prinzip der Nichtauslieferung eigener 46 47
Vgl. oben 3. Kapitel A. VI. Fn. 285–287. Zu diesem Abkommen sogleich unten unter IV.
A. Auslieferungsersuchen als Voraussetzung des „iudicare“?
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Bürger – die beide im Auslieferungsrecht fest verankert sind – letztlich nichts anderes als Einschränkungen des „effet utile“ der Auslieferungsverträge aus gegenläufigen, vor allem humanitären Erwägungen.48 Und obwohl sie den Völkermörder als „hostis humani generis“ bekämpfen wollten49, konnten sich die historischen Vertragsschließenden der Völkermordkonvention nicht einmal zu einem universellen Verfolgungsrecht, geschweige denn zu einer Verfolgungspflicht, durchringen, so stark wogen ihre widerstreitenden Souveränitätsinteressen.50 Deswegen sollten die Motive und Zwecke der hier vorgestellten Abkommen nur sehr vorsichtig zur Interpretation ihrer „aut dedere – aut iudicare“-Bestimmungen herangezogen werden. Sie liefern sicher in Fällen, in denen Wortlaut, Entstehungsgeschichte und subsequent practice offen sind, ein Indiz, können aber keinesfalls allein entscheidend sein.
III. Die Genfer Konventionen Die Genfer Konventionen formulieren das Prinzip „aut dedere – aut iudicare“ in einer die Ausnahme gebliebenen Weise: Sie erlegen zunächst den Vertragsparteien eine Pflicht gerade zur strafrechtlichen Verfolgung auf, um dann in einem getrennten, zweiten Satz auch die Alternative der Auslieferung zu eröffnen. Diese syntaktische Stellung des „iudicare“ zwingt zu dem Schluss, dass die Strafverfolgungspflicht auch ohne Auslieferungsersuchen eingreift.51 Denn sie wird zunächst ohne jeden Bezug zum „dedere“ als eigenständige und unabhängig von der Auslieferungsmöglichkeit eingreifende Verpflichtung normiert. Die „subsequent practice“ der Vertragsstaaten stützt diese Interpretation, und zwar auch und gerade im Hinblick auf den erweiterten Anwendungsbereich der „aut dedere – aut iudicare“-Klauseln im Rahmen von Bürgerkriegen. Die Gerichte verfolgen Kriegs- und Bürgerkriegsverbrechen auch dann unter Berufung auf die Genfer Konventionen, wenn ihnen kein Auslieferungsersuchen eines anderen 48
Darauf weist Wise, RIDP 62 (1991), S. 109 (127) zu Recht hin. Der IGH beurteilte die Motive der Vertragsschließenden hier folgendermaßen: „Dans une telle convention, les Etats contractants n’ont pas d’intérêts propres, ils ont seulement tous et chacun un intérêt commun, celui de préserver les fins supérieurs qui sont la raison d’être de la convention.“ (ICJ Rep. 1951, S. 15 [23]). 50 Vgl. oben 3. Kapitel A. II. 2. 51 Im Ergebnis gehen auch Pictet, S. 394, Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1008 und Swart, in: Cassese/Gaeta/Jones, S. 1639 (1658 f.) sowie – auch bzgl. von durch die Strafvorschriften der Genfer Konventionen jedenfalls ursprünglich nicht erfasster Bürgerkriegsverbrechen – die ILC (vgl. Commentary on the Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, ILC Report 1996, Chapter II, Art. 9 Rn. 7) von einer unabhängig von einem Auslieferungsersuchen eingreifenden Strafverfolgungspflicht aus. 49
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
Staates vorliegt.52 In den Genfer Konventionen somit ein Beispiel des Weltrechtsprinzips zu sehen, fügt sich auch in die oben entworfene Theorie ein, da die weltweite Verfolgung von Kriegsverbrechen auf dem Weltgemeinschaftsgedanken beruht,53 der sich hier mit aller Konsequenz im Normsetzungsverfahren durchzusetzen vermochte.
IV. Die „Convention for the Suppression of the Traffic in Persons and of the Exploitation of the Prostitution of Others“ Auch die „Convention for the Suppression of the Traffic in Persons“ erwähnt nirgends, dass die Aburteilungspflicht erst durch die Ablehnung eines Auslieferungsersuchens aktiviert würde. Es heißt dort vielmehr in Artikel 9: In States where the extradition of nationals is not permitted by law, nationals who have returned to their own State after the commission of any of the offences referred to in articles 1 and 2 of the present Convention shall be prosecuted in and punished by the courts of their own State. This provision shall not apply if, in a similar case between the Parties to the present Convention, the extradition of an alien cannot be granted.
Nicht die Ablehnung eines tatsächlich gestellten Auslieferungsantrages ist erforderlich, sondern nur eine Prüfung, ob ein hypothetischer Auslieferungsantrag gerade an der Staatsbürgerschaft des Täters scheitern würde. Dieses unbedingte „iudicare“ fügt sich ebenfalls gut in das oben entwickelte Erklärungsschema ein: Die Verfolgung von Sklaven- und Menschenhandel beruht schon seit dem 19. Jahrhundert vorwiegend auf humanitären, an den Vorstellung einer weltweiten „Menschlichkeitsgemeinschaft“ orientierten Erwägungen.54 Allerdings ist man hier in gewisser Weise auf halbem Wege stehen geblieben, denn das „iudicare“ gilt zwar unabhängig von der Stellung eines Auslieferungsersuchens, ist aber andererseits auf eigene Bürger des Zufluchtsstaates beschränkt. Ist der hostis humani generis dagegen ein Ausländer, darf die Verletzung der Rechtsgüter der Weltgemeinschaft ungesühnt bleiben.
52 In BayOblG, NJW 1998, S. 392 (395); BGHSt 45, 64 (73) wird ausdrücklich auf das Fehlen eines Auslieferungsersuchens hingewiesen, aber auch im dän. Fall Saric und dem schweizerischen Fall Grabec gibt es keine Hinweise auf das Vorliegen eines solchen Ersuchens. 53 Vgl. oben, 3. Kapitel A. VI. 54 Vgl. oben, 3. Kapitel VI.
A. Auslieferungsersuchen als Voraussetzung des „iudicare“?
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V. Gewohnheitsrechtliche „aut dedere – aut iudicare“Regelungen Welcher Variante folgen die gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen? Der auf dem Weltrechtsprinzip beruhenden „unbedingten“, oder der auf stellvertretender Strafrechtspflege aufbauenden „bedingten“? Für das Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot hinsichtlich „Bürgerkriegsverbrechern“ wurde dies schon im Zusammenhang mit den Genfer Konventionen entschieden: Staatenpraxis, theoretische Überlegungen sowie nicht zuletzt die Tatsache, dass ohnehin schwer zu entscheiden ist, ob es sich hier um einen Fall von Gewohnheitsrechts oder von Vertragsfortbildung handelt, sprechen dafür, ebenso wie bei den Genfer Konventionen ein „unbedingtes“ „iudicare“ anzunehmen. Ähnlich ist auch für Flugzeugentführungen zu verfahren, denn die gewohnheitsrechtliche Geltung des „aut dedere – aut iudicare“ wurde hier vorwiegend auf die breite Akzeptanz der Haager Konvention – die ein unbedingtes „iudicare“ vorsieht – sowie die Verfolgungspraxis des langjährigen Nichtvertragsstaates Kuba gestützt, der anscheinend auch ohne das Vorliegen eines Auslieferungsersuchen gegen Flugzeugentführer vorging.55 Dies entspricht ebenfalls der Vorstellung vom Flugzeugentführer als einem nach dem Weltrechtsprinzip zu verfolgenden „hostis humani generis“. Dagegen ist für die aus der Staatenverantwortlichkeit folgende Strafverfolgungs- oder Auslieferungspflicht eines selbst in eine Auslandstat verwickelten Zufluchtsstaates durchaus anzunehmen, dass der verletzte Staat diese Form der Genugtuung in irgendeiner Weise vom Verletzerstaat verlangen muss. Der Fall Letelier, in dem die USA politischen Druck auf Chile zur Bestrafung der Verantwortlichen ausübten, anscheinend aber ohne deren Auslieferung zu verlangen, zeigt jedoch, dass dies in unterschiedlicher Form geschehen kann und nicht zwingend mittels eines Auslieferungsersuchens erfolgen muss.56 Auch wenn der verletzte Staat einen solchen Genugtuungsanspruch nicht geltend macht, wird der verantwortliche Staat in Fällen der Staatskriminalität die Täter aber dennoch im Ergebnis strafrechtlich verfolgen müssen, da auch aus den Menschenrechten des Opfers bei schweren Verletzungen von Leib, Leben oder Freiheit eine solche Pflicht folgt,57 von der mangels zur Beurteilung der Frage ausreichender Staatenpraxis vorläufig zu vermuten ist, dass sie als im „objektiven Interesse“ der Weltgemeinschaft bestehende menschen-
55 Vgl. Murphy, Punishing, S. 110 ff., Tables 5.1 und 5.2, wonach die USA keine Auslieferungsanträge an Kuba stellten und es dennoch dort mehrfach zur Verurteilung der Entführer von US-Flugzeugen kam. 56 Vgl. zum Letelier-Fall oben, 3. Kapitel B. I. 1. c) aa) (1). 57 Vgl. oben 3. Kapitel B. I. 1. c) gg).
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
rechtliche Sekundärpflicht unabhängig von der Geltendmachung durch andere Staaten zu erfüllen ist.
B. Das Verhältnis zwischen „dedere“ und „iudicare“: Freie Wahl des Zufluchtsstaates oder Vorrang der Auslieferung? I. Die Fragestellung Angenommen, der Zufluchtsstaat ist von einem anderen Staat mit einem Auslieferungsersuchen konfrontiert worden; wie muss er sich jetzt verhalten? Muss er dem Antrag grundsätzlich stattgeben, soweit nicht bestimmte Ausnahmetatbestände – etwa menschenrechtliche Auslieferungshindernisse oder die Prinzipien der Nichtauslieferung eigener Staatsbürger und politischer Straftäter – eingreifen? Oder kann er nach freiem Belieben zwischen „dedere“ und „iudicare“ wählen? Anders gewendet: Ist die Strafverfolgung im Zufluchtsstaat subsidiär58 zur Auslieferung oder handelt es sich um zwei gleichberechtigte, zueinander alternative Optionen, wie es die Literatur des 16. bis 18. Jahrhunderts überwiegend annahm? 58 Teilweise wird der Begriff der „Subsidiarität“ in Zusammenhang mit dem „aut dedere – aut iudicare“ anders verstanden: Die Auslieferung sei subsidiär zur Strafverfolgung im Zufluchtsstaat, wenn letztere unter der Voraussetzung steht, dass zuvor von einem anderen Staat ein Auslieferungsersuchen gestellt wurde. Alternativ soll sie dagegen sein, wenn auch ohne ein solches Auslieferungsersuchen eigene Strafverfolgungsbemühungen zu unternehmen sind (so bspw. Henzelin, S. 303; van den Wijngaert, Political Offence Exception, S. 162). Damit wäre die Frage der „Subsidiarität“ des „iudicare“ schon oben unter A. erörtert worden. Die oben dargelegte Problemskizze zeigt aber, dass es sich hier um ein eigenständiges Problem handelt, denn eine gegenüber der Auslieferung subsidiäre – d. h. im Verhältnis zur ihr nur unterstützende, behelfsmäßige Funktion habende (vgl. zum Begriff der „Subsidiarität“ Duden, Das Fremdwörterbuch, 6. Aufl. Mannheim/Wien/Zürich 1997) – „iudicare“-Pflicht kann auch dann „helfend“ eingreifen, wenn die Auslieferung am Fehlen eines entsprechenden Ersuchens scheitert. Und auch bei einem Modell, das ein Auslieferungsersuchen voraussetzt, kann ein Staat angesichts dieses Ersuchens die freie Wahl haben, ob er ihm entsprechen oder lieber selbst verfolgen will (vgl. auch die Äußerung des brasilianischen Delegierten bei Ausarbeitung der UN-Folterkonvention: Dieser befürwortete eine Textfassung, die die Strafverfolgung im Zufluchtsstaat von der Existenz eines Auslieferungsersuchens abhängig gemacht hätte, betonte aber, dass der ersuchte Staat auch nach dieser Fassung souverän entscheiden könne, ob er ausliefert oder lieber selbst seine Gerichtsbarkeit ausübt [zitiert nach Burgers/Danelius, S. 94]). Für die Subsidiarität des „iudicare“ ist der Kernpunkt: Kann ein Staat nach freiem Belieben – unter Einschluss von Gesichtspunkten politischer Opportunität – zwischen dem „dedere“ und dem „iudicare“ wählen oder muss er ausliefern, sofern nicht bestimmte Ausnahmetatbestände eingreifen?
B. Das Verhältnis zwischen „dedere“ und „iudicare“
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II. Der Meinungstand in der Literatur Die herrschende Meinung im Schrifttum scheint – jedenfalls für die Konventionen nach dem Haager Modell – ein alternatives Verständnis von „dedere“ und „iudicare“ zu bevorzugen.59 Zur Begründung dienen Wortlaut und telos: Artikel 7 Haager Konvention biete keinerlei Anhaltspunkte für einen Vorrang der Auslieferung;60 die Regelung wolle nicht so sehr gerade die Auslieferung des Täters sicherzustellen, als vielmehr seine strafrechtliche Verfolgung – egal in welchem Staat.61 Einige Autoren widersprechen dem aber. Ihrer Ansicht nach gibt es auch nach dem „Haager Modell“ keine freie Wahlmöglichkeit zwischen Auslieferung und Strafverfolgung, sondern eine primäre Auslieferungs- und eine lediglich sekundäre Strafverfolgungspflicht.62 Der Zufluchtsstaat müsse grundsätzlich einen eigenen Strafverfolgungswunsch zurückstellen und vorrangig durch Auslieferung dem Tatortstaat die Sühnung der Tat ermöglichen, da dieser das gewichtigste Interesse daran habe und auch aus praktischen Erwägungen der geeignetste Prozessort sei.63 Für die Europäische Antiterrorkonvention ist dieses subsidiäre Verständnis des „iudicare“ sogar herrschend.64 Nur wenn alle Auslieferungsmöglichkeiten gescheitert seien, dürfe der Zufluchtsstaat hier selbst zur Strafverfolgung greifen.65 Dagegen werden die Genfer Konventionen teilweise einem dritten Modell, „primo iudicare – secundo dedere“ genannt, zugerechnet, bei dem die Strafverfolgung am Zufluchtsort im Vorder59 Vgl. Bassioini, Crimes against humanity, S. 220; Murphy, Punishing, S. 68; Enache-Brown/Fried, Mc Gill L. J. 43 (1998), S. 613 (626); Plachta, MJ 1999, S. 331 (335); Stein, AVR 31 (1993), S. 206 (212); Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1010; Wise, Israel Law Review 27 (1993), S. 268 (269 f.); Werle, Völkerstrafrecht, S. 74 (der sich wohl v. a. auf die Genfer Konventionen bezieht). 60 Vgl. Bassiouni/Wise, S. 57; Plant, in: Higgins/Flory, S. 68 (90); Feller, Israel Law Review 7 (1972), S. 207 (209 f.); Plachta, MJ 1999, S. 331 (335); Dahm/ Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1010; für die UN-Geiselnahmekonvention ähnl. Platz, ZaöRV 1980, S. 276 (292). 61 Lambert, Hostages, S. 156; Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege, S. 150; Feller, Israel Law Review 7 (1972), S. 207 (209 f.). 62 Vgl. Labayle, AFDI 1986, S. 105 (118); ders., in: Higgins/Flory, S. 185 (190); Dinstein, Israel Law Review 7 (1972), S. 195 (200); Wood, ICLQ 1974, S. 791 (809). 63 Labayle, in: Higgins/Flory, S. 185 (190); ähnl. – allerdings ohne Bezug auf bestimmte Verträge – Kreß, ISYHR 30 (2000), S. 103 (170 f.). 64 Vgl. Bartsch, NJW 1977, S. 1985 (1988); Vallée, AFDI 1976, S. 756 (776); Fraysse-Druesne, RGDIP 1978, S. 969 (997); Koering-Joulin/Labayle, Semaine Juridique 1988, 3349; Lagodny, UCLR 60 (1989), S. 583 (587); Conseil de l’Europe, Rapport explicatif sur la Convention européenne pour la répression du terrorisme, Ziff. 26. 65 Lagodny, UCLR 60 (1989), S. 583 (587); Conseil de l’Europe, Rapport explicatif sur la Convention européenne pour la répression du terrorisme, Ziff. 26.
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
grund stehen soll. Hier gelte kein alternatives „aut dedere – aut iudicare“, sondern „une obligation [. . .] de poursuivre en premier lieu, avec la possibilité facultative de [. . .] remettre à un autre Etat [. . .].“66
III. Der Kernpunkt: die Existenz einer Auslieferungspflicht Die Frage nach der Subsidiarität des „iudicare“ lässt sich folgendermaßen reformulieren: Versteht sich das „aut dedere – aut iudicare“ als eine Strafverfolgungspflicht, der man sich auch durch Auslieferung des Täters entledigen kann, oder als eine Auslieferungspflicht, von der es einige Ausnahmen gibt, bei deren Eingreifen der Zufluchtsstaat den Täter dann aber wenigstens selbst strafrechtlich verfolgen muss? Ist das „iudicare“ also eine vollwertige Alternative zum „dedere“ oder nur eine Ausnahme von einer grundsätzlich bestehenden Auslieferungspflicht? Die entscheidende Frage lautet also: Will ein Vertrag beziehungsweise ein Gewohnheitsrechtssatz grundsätzlich eine Auslieferungspflicht begründen? Will er dies nicht, dann muss er dem Zufluchtsstaat die Möglichkeit zur freien Wahl zwischen Auslieferung und Strafverfolgung lassen, denn eine Einschränkung der freien Wahl zwischen „dedere“ und „iudicare“ ist im Ergebnis nichts anderes, als eine unter bestimmten Bedingungen – nämlich dann, wenn die Voraussetzungen für das „iudicare“ nicht vorliegen – eingreifende Auslieferungspflicht. Wendet man diese Erkenntnis nun auf die verschiedenen „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen an, so ergibt sich folgendes Bild: 1. Das Haager Modell Keiner der Verträge nach dem „Haager Modell“ enthält eine Auslieferungspflicht.67 Schon ihr Wortlaut lässt keine Hierarchie zwischen „dedere“ und „iudicare“ erkennen. Aber auch aus den Entstehungsgeschichten geht eindeutig hervor, dass die Vertragsstaaten keinerlei „Auslieferungsautomatismus“ wünschten. Bereits bei der Ausarbeitung des ersten Entwurfs der Haager Konvention im Rahmen der ICAO wurde dies deutlich. Es heißt dort in einem Sitzungsbericht „[. . .] the Subcommittee was unanimous in thinking that the Convention should not attempt to prevent any State to refuse the extradition of the person concerned [. . .].“, 66 Henzelin, S. 353; ähnl. IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000 (République Démocratique du Congo c. Belgique), Urteil vom 14.02.2002, sep. op. Higgins, Kooijmans, Buergenthal, Ziff. 8; op. diss. van den Wyngaert, Ziff. 62. 67 Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (356); Murphy, Punishing, S. 10; Lambert, Hostages, S. 156.
B. Das Verhältnis zwischen „dedere“ und „iudicare“
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was die Zustimmung der britischen Delegierten fand: „For these reasons, she considered it desirable that the Convention should include no obligation to extradite [. . .]“.68
Auf der anschließenden Staatenkonferenz von Den Haag versuchten mehrere Delegationen erfolglos, doch noch eine Auslieferungspflicht durchzusetzen. Ein polnisch-sowjetischer Vorschlag, den Zufluchtsstaat zur Auslieferung des Täters an den Immatrikulationsstaat des entführten Flugzeuges zu verpflichten und ihm nur dann, wenn es sich um einen seiner eigenen Staatsangehörigen handelt, ein „iudicare“ zu gestatten, wurde mit 10 zu 47 Stimmen bei 8 Enthaltungen deutlich abgelehnt.69 Die USA und Neuseeland zogen Anträge, nach denen eine Aburteilung im Zufluchtsstaat ebenfalls nur bei Bestehen bestimmter Auslieferungshindernisse in Betracht gekommen wäre, aufgrund der in der Diskussion geäußerten ablehnenden Haltung anderer Delegationen zurück.70 Auch ihr neuer Vorschlag, die Konvention wenigstens zwischen zwei nicht durch einen Auslieferungsvertrag miteinander verbundenen Vertragstaaten als Auslieferungsvertrag anzusehen,71 stieß auf Widerstand. Tansania und der Senegal forderten aus Furcht vor einem Auslieferungsautomatismus eine weitere Abschwächung der Regelung,72 worauf die USA erklärten, ihr Vorschlag „[. . .] simply stated that the offence should be considered as extraditable, but it did not deal with whether extradition should be mandatory or permissive.“73
Der indische Delegierte fügte hinzu: „the permissive nature of the extradition was implicit in the Convention.“74
Die Delgation Sri Lankas hielt gar die ganze Diskussion um einen Vorrang der Auslieferung für fruchtlos: „The meeting was in danger of forgetting the primary purpose of the Convention, which was to punish the hijacker; was it important for him to be punished in one State rather than another?“75
Der schließlich als Kompromissvorschlag angenommene Artikel 8 Absatz 2 Haager Konvention sieht nur noch vor, dass der Zufluchtsstaat die 68
Beides zitiert nach Shubber, ICLQ 1973, S. 687 (720 f. Fn. 124). Vgl. ICA0 Doc 8979-LC/165-1, S. 129. Der Vorschlag ist in ICAO Doc 8979-LC/165-2, S. 82 abgedruckt. 70 Vgl. ICA0 Doc 8979-LC/165-1, S. 113 und 125. Die Vorschläge sind in ICAO Doc 8979-LC/165-2, S. 69 f. und 132 f. abgedruckt. 71 Vgl. ICA0 Doc 8979-LC/165-1, S. 125. Der Vorschlag ist in ICAO Doc 8979-LC/165-2, S. 66 abgedruckt. 72 Vgl. ICAO Doc 8979-LC/165-1, S. 104. 73 ICAO Doc 8979-LC/165-1, S. 104. 74 ICAO Doc 8979-LC/165-1, S. 105. 75 ICAO Doc 8979-LC/165-1, S. 106. 69
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
Konvention als Auslieferungsvertrag ansehen kann, wenn er einen solchen mit dem ersuchenden Staat nicht abgeschlossen hat.76 In der Literatur wird gerade diese Schwäche der Haager Konvention oft scharf kritisiert. Ihre Auslieferungsbestimmungen, so wird behauptet, seien wegen der Abhängigkeit von anderweitig abgeschlossenen Auslieferungsverträgen oder der freiwilligen Auslieferungsbereitschaft des Zufluchtsstaates wenig hilfreich.77 Jedoch auch wenn man es rechtspolitisch bedauern mag, de lege lata haben sich die Vertragsparteien eindeutig für diese Lösung entschieden. Sie waren zwar bereit, dem Täter im Ergebnis jede sichere Zuflucht abzuschneiden, nicht aber, sich in einem universell angelegten multilateralen Vertrag gerade zu seiner Auslieferung zu verpflichten – möglicherweise an einen Staat, dem sie grundlegend misstrauen und mit dem sie ansonsten keine Auslieferungsbeziehungen unterhalten.78 Dies zeigte sich auch auf der Montrealer Konferenz deutlich, wo die Sowjetunion wiederum mit einem Vorstoß für einen Vorrang der Gerichtsbarkeit des Eintragungsstaates des Flugzeuges gegenüber derjenigen anderer Staaten scheiterte.79 Bei den Vorbereitungen zum Abschluss der UN-Diplomatenschutzkonvention trug die ILC dieser Abneigung der Staaten gegen einen Vorrang der Auslieferung ebenfalls Rechnung. Sie merkte zu ihrem Vertragentwurf an: „[. . .] the State party in whose territory the alleged offender is present is required to carry out one of the two alternatives specified in the article, it being left to that State to decide which that alternative will be. [. . .], even though it has been requested to extradite, it may submit the case to its competent authorities for the purpose of prosecution, for whatever reasons it may see fit to act upon.“80
Der Zufluchtsstaat kann also unter dem Regime des „Haager Modells“ frei wählen, ob er ausliefern oder selbst zur Strafverfolgung greifen möchte.81 76 Vgl. zur Annahme dieser Vorschrift ICAO Doc 8979-LC/165-1, S. 182 ff. Ihr Ziel ist es, den anglo-amerik. Staaten, die nach ihrem innerstaatlichen Recht traditionell nur bei Bestehen eines Auslieferungsvertrages ausliefern dürfen (vgl. Shearer, S. 28; Carter/Trimble, S. 795; Weston/Falk/Charlesworth, S. 503), die Auslieferung eines Flugzeugentführers auch ohne auslieferungsvertragliche Grundlage zu ermöglichen. 77 So etwa Labayle, in: Higgins/Flory, S. 185 (188); Shubber, ICLQ 1973, S. 687 (720). 78 Vgl. Lambert, Hostages, S. 192 und die Begründung des ind. Delegierten auf der Haager Konferenz für die Ablehnung einer Auslieferungspflicht: „it would force countries into treaty relation with others with which they would not normally wish to deal“ (ICAO Doc 8979-LC/165-1, S. 83). 79 Vgl. ICAO Doc. 9081-LC/170-1, S. 61 f. 80 YBILC 1972, S. 309 (318). 81 Wie bereits oben im 1. Kapitel unter Fn. 92 erwähnt wurde, ist der „Lockerbiefall“ für diese Frage nicht einschlägig: die Verdächtigen waren dort Bürger des Zufluchtsstaates Libyen, so dass selbst ein als subsidiär verstandenes „iudicare“ zu-
B. Das Verhältnis zwischen „dedere“ und „iudicare“
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2. Die Genfer Konventionen Dass die Genfer Konventionen sicherlich nicht die Auslieferung gegenüber der Strafverfolgung im Zufluchtsstaat in den Vordergrund rücken, unterliegt keinem Zweifel. Hier wird im Gegenteil vertreten, es gelte ein „primo iudicare – secundo dedere“, welches die Strafverfolgung im Zufluchtsstaat bevorzuge.82 Worin aber sollen die konkreten Rechtsfolgen eines solchen Vorranges des „iudicare“ bestehen? Darin, dass es nicht subsidiär zur Auslieferung ist?83 Dies ist auch bei einem alternativen „aut dedere – aut iudicare“ nach Haager Modell der Fall. Freier als frei kann die Wahlmöglichkeit des Zufluchtsstaates zwischen beiden Handlungsmöglichkeiten nicht sein. Soll mit dem Konzept des „primo iudicare – secundo dedere“ also die Möglichkeit des Zufluchtsstaates zur Auslieferung eingeschränkt werden, so dass er gerade zur eigenen Strafverfolgung verpflichtet ist? Dies widerspricht dem Wortlaut der Genfer Konventionen, die der Vertragspartei, in deren Gebiet der Täter sich aufhält, die Auslieferungsmöglichkeit einräumen „si elle le préfère“. Es ist also Sache des Zufluchtsstaates, zu entscheiden, ob er eigene Strafverfolgungstätigkeit entfalten oder lieber ausliefern möchte. Ein Vorrang der Strafverfolgung im Zufluchtsstaat vor der Auslieferung in einen direkt von der Tat betroffenen Staat hätte auch keinerlei praktische Vorteile, denn dass gerade der Tatortstaat der geeignetste Ort für ein Strafverfahren ist, wird kaum bestritten.84 Zwar schlagen sich diese praktischen Vorzüge nicht immer im Völkerrecht als rechtlicher Vorrang der Auslieferung an den Tatortstaat nieder,85 aber gar umgelässig gewesen wäre. Es ging dort vielmehr um die sogleich zu behandelnde Frage, wie eine mögliche Verwicklung des Zufluchtsstaates in die Tat sich auf dessen Strafverfolgungsrecht auswirkt. Allerdings haben neun Richter in ihren Sondervoten zur Entscheidung des IGH über einstweilige Maßnahmen vom 14.04.1992 das freie Wahlrecht des Zufluchtsstaates zwischen Auslieferung und Strafverfolgung betont, ohne zur Begründung auf die Staatsangehörigkeit der Verdächtigen abzustellen (vgl. decl. Evensen, Tarassov, Guillaume, Aguilar Mawdsley, ICJ Rep. 1992, S. 24 f.; op. diss. Bedjaoui, ICJ Rep. 1992, S. 34 [38 f.]; op. diss. Weeramantry, ICJ Rep. 1992, S. 50 [69]; op. diss. Ranjeva, ICJ Rep. 1992, S. 72; op. diss. Ajibola, ICJ Rep. 1992, S. 78 [81 f.] und op. diss. El-Kosheri, ICJ Rep. 1992, S. 94 [109]). 82 Siehe oben Fn. 66. 83 So wohl Henzelin, S. 353; IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000 (République Démocratique du Congo c. Belgique), Urteil vom 14.02.2002, op. diss. van den Wyngaert, Ziff. 62; sep. op. Higgins, Kooijmans, Buergenthal, Ziff. 8. 84 Vgl. auch oben, 1. Kapitel C. bei Fn. 90. 85 Vgl. neben den oben unter 1. bzgl. des Haager Modells getroffenen Feststellungen auch das Urteil des israel. Supreme Court im Fall Eichmann, ILR 36, S. 277 (302 f.), wo festgestellt wurde, dass für einen Vorrang der Strafgewalt des Tatortstaates vor derjenigen anderer Staaten zwar in vielen Fällen aus praktischen Gründen einiges sprechen mag, es diesbezüglich aber keinen völkergewohnheitsrechtlichen Rechtssatz gibt.
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
kehrt – noch dazu ohne echten Anhaltspunkt im Wortlaut – einen Vorrang der Strafverfolgung im Zufluchtsstaat anzunehmen, ist wenig überzeugend. Nicht rechtlich, sondern nur rein semantisch rücken die Genfer Konventionen die Strafverfolgung am Zufluchtsort im Verhältnis zur Auslieferung in den Vordergrund. Artikel 88 Absatz 2 Satz 2 des 1. Zusatzprotokolls wirft dann mit der Formulierung, ein Auslieferungsersuchen des Tatortstaates werde vom Zufluchtsstaat „due consideration“ erhalten, das Schlaglicht wieder mehr auf die Auslieferung, ohne allerdings die freie Wahl zwischen beiden Alternativen rechtlich einzuschränken.86 Damit bleibt letztlich im Dunkeln, was mit der Formel „primo iudicare – secundo dedere“ konkret gemeint sein soll.87 Festzuhalten ist lediglich: Die Genfer Konventionen enthalten wie das Haager Modell ein freies Wahlrecht zwischen Auslieferung und Aburteilung. 3. Die Europ. Antiterrorkonvention Entgegen der h. M.88 enthält auch die Europäische Antiterrorkonvention kein subsidiäres „iudicare“, sondern ein freies Wahlrecht des Zufluchtsstaates. Zwar sieht sie ausweislich ihrer Präambel und systematischen Anlage die Auslieferung als vorzugswürdig an und bemüht sich, mit der „poli86 A. A. Henzelin, S. 359, der die „obligation absolue de l’Etat de for de juger inconditionellement le prévenu“ durch das 1. ZP gemindert sieht, aber selbst zugibt, dass die Vertragsstaaten sich bei Abfassung des Zusatzprotokolls ausdrücklich gegen eine die Strafverfolgungsoption des Zufluchtsstaates einschränkende Lesart des Art. 88 II wandten. 87 Möglicherweise steht sie in Zusammenhang mit der – allerdings von der Frage des Verhältnisses von Auslieferung und Aburteilung zueinander unabhängigen – Auffassung, derzufolge die Genfer Konventionen nicht nur den Zufluchtsstaat des Täters, sondern auch solche Staaten, in denen er sich nicht aufhält, verpflichten, „in Abwesenheit“ strafrechtlich gegen ihn vorzugehen (vgl. dazu Henzelin, S. 354; de la Pradelle, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 912; IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000 [République Démocratique du Congo c. Belgique], Urteil vom 14.02.2002, op. diss. van den Wyngaert, Ziff. 54). Allerdings ist auch diese Ansicht nicht im Einklang mit der Praxis der Vertragsstaaten (vgl. Cour de Cass., Arrêt Javor, 26.03.1996, Nº 95-81527; BGH, NStZ 1999, S. 236 [offen jetzt allerdings wieder BGHSt 46, S. 292 (307)] sowie den belg. Schriftsatz in der „Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000“ [Contre-Memoire du Royaume de Belgique, 28.09.2001, § 3.3.25 (http://www.icj-cij.org/cijwww/cdocket/cCOBE/cCOBE frame.htm], der zwar ein Recht zur Verfolgung Abwesender proklamiert, eine Pflicht hierzu aber verneint) und wird deshalb in Literatur und int. Rspr. zu Recht überwiegend abgelehnt (vgl. Pictet, S. 411; IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000 [République Démocratique du Congo c. Belgique], Urteil vom 14.02.2002, op. ind. Guillaume, Ziff. 17; op. ind. Rezek, Ziff. 7, op. ind. Bula Bula, Ziff. 70). 88 Zum Meinungsstand in der Literatur vgl. oben II. Fn. 64.
B. Das Verhältnis zwischen „dedere“ und „iudicare“
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tical offence exception“ deren wichtigstes Hindernis zurückzudrängen,89 aber diese Zielvorstellung wurde nicht in eine harte, rechtlich verbindliche Auslieferungspflicht gegossen90, die dem Zufluchtsstaat nur in bestimmten Fällen die Möglichkeit des „iudicare“ offen ließe. Gilt also zwischen dem ersuchenden Staat und dem ersuchten Staat nur die Europäische Antiterrorkonvention, nicht aber ein zusätzlicher Auslieferungsvertrag, dann kann der letztgenannte frei aufgrund seines nationalen Rechts91 und seiner politischen Präferenzen entscheiden, ob er dem Auslieferungsersuchen stattgibt oder lieber selbst strafrechtlich verfolgt.
4. OAS-Diplomatenschutzkonvention; OAS-Folterkonvention; Afrikanische Antisöldnerkonvention; SAARC-Antiterrorkonvention; Convention for the Suppression of the Traffic in Persons; das Fakultativprotokoll betreffend Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie; die Verträge gegen organisierte Kriminalität, Drogenhandel, Korruption und Cyberkriminaliät; die Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention Auch eine ganze Reihe weiterer „aut dedere – aut iudicare“-Verträge enthält keine Auslieferungspflicht und lässt somit dem Zufluchtsstaat die freie Wahl zwischen Auslieferung und Strafverfolgung. Dies ist beispielsweise der Fall hinsichtlich der OAS-Diplomatenschutzkonvention sowie der OAS-Konventionen gegen Folter und zwangsweises Verschwindenlassen von Personen, der „Convention for the Suppression of the Traffic in Persons“, des Fakultativprotokolls zum Kinderrechteübereinkommen betreffend Kinderhandel, Kinderpornographie und Kinderprostitution, der SAARC-Antiterrorkonvention, der Afrikanischen Antisöldnerkonvention sowie der Verträge gegen Drogenhandel, Korruption, Cyberkriminalität und organisierte Kriminalität sowie der Europäischen Terrorismusvorbeugungskonvention. Die meisten von ihnen betonen sogar ausdrücklich, dass sich Auslieferungspflichten nur aus den nationalen Auslieferungsgesetzen des Zufluchtsstaates 89
Vgl. oben 3. Kapitel A. I. 9. a). Zum – soweit ersichtlich nirgends bestrittenen – Umstand, dass die Europ. Antiterrorkonv. keine Auslieferungspflicht begründet vgl. oben 3. Kapitel Fn. 115. 91 Für diejenigen Staaten, die – wie traditionell diejenigen des common law Systems (vgl. Gilbert, S. 48; Shearer, S. 28) – in ihrem nationalen Recht ein Verbot der Auslieferung ohne vertragliche Rechtsgrundlage kennen, kommt dann zur Zeit natürlich nur eine Ablehnung des Auslieferungsersuchens in Betracht. Denn erst das noch nicht in Kraft getretene Zusatzprotokoll vom 15.05.2003 (CETS No. 190) eröffnet den Staaten in seinem Art. 3 II die uns aus Art. 8 II Haager Konvention bekannte Möglichkeit, bei Fehlen eines Auslieferungsvertrages die Konvention selbst als solchen anzusehen. 90
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
oder den von diesem gegebenenfalls abgeschlossenen Auslieferungsverträgen ergeben.92 5. Die Antiterrorkonventionen der Arabischen Liga und der OIC Dagegen verpflichten die Antiterrorkonventionen der Arabischen Liga und der OIC den Zufluchtsstaat prinzipiell zur Auslieferung eines Terroristen.93 Die „aut iudicare“-Regelung im Falle eines eigenen Bürgers des Zufluchtsstaates ist hier in eine lange Liste bestimmter Ausnahmen von dieser grundsätzlichen Pflicht zum „dedere“ integriert94. Greift keiner der dort vorgesehenen Ausnahmetatbestände ein, muss der Zufluchtsstaat zwingend ausliefern. 6. Die Auslieferungsverträge Auch für die Auslieferungsverträge gilt: Sofern eine Straftat in ihren Anwendungsbereich fällt, muss der Zufluchtsstaat den Täter auf Ersuchen des Vertragspartners ausliefern, wenn er sich nicht auf einen der im Vertrag vorgesehenen Ausnahmetatbestände – vor allem „political offence exception“, Nichtauslieferung eigener Bürger und menschenrechtliche Auslieferungsgrenzen – berufen kann. Ein generelles Wahlrecht zwischen Auslieferung und Strafverfolgung steht ihm nicht zu.95 Ein solches wurde bei den travaux préparatoires zum Europäischen Auslieferungsabkommen ausdrücklich zurückgewiesen.96 Es ergibt sich namentlich auch nicht aus den Normen der Auslieferungsverträge, die eine Verweigerung der Auslieferung zu92 Vgl. Art. 3 I OAS-Diplomatenschutzkonvention; Art. 11 OAS-Folterkonvention; Art. 5 III–V OAS-Konv. gegen zwangsweises Verschwindenlassen; Art. 8 III Convention for the Suppression of the Traffic in Persons; Art. 10 IV OECD-Korruptionskonvention; Art. XIII § 5 Inter-American Convention on Corruption; Art. 27 IV Europ. Korruptionskonv.; Art. 15 V Afrik. Antikorruptionskonv.; Art. 5 II u. III a. E. Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie; Art. 24 V Europ. Konvention gegen Cyberkriminalität; Art. 6 V UN-Antidrogenkonvention; Art. III § 4 und 5 a. E. SAARC-Antiterrorkonvention; Art. 44 VIII UN-Korruptionskonvention; Art. 16 VII UN-Konvention gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. 93 Vgl. Art. 5 der Arab. Antiterrorkonv.: „Contracting States shall undertake to extradite those indicted for or convicted of terrorist offences whose extradition is requested by any of these states in accordance with the rules and conditions stipulated in this convention.“ Ahnl. Art. 5 der OIC-Antiterrorkonvention. 94 Art. 6 lit. h. der Arab. Konv. und Art. 6 Nr. 8 der OIC-Konv. 95 So auch Swart, NYIL 1992, S. 175 (215); a. A. wohl Poutiers, in: Ascensio/ Decaux/Pellet, S. 938; Combacau/Sur, S. 361. 96 Vgl. Conseil de l’Europe, Rapport explicatif sur la Convention européenne d’Extradition, Kommentar zu Art. 6 und considérations générales, Ziff. 13.
B. Das Verhältnis zwischen „dedere“ und „iudicare“
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lassen, falls gegen den Täter wegen derselben Straftat ein Strafverfahren im Zufluchtsstaat anhängig ist,97 denn solche Klauseln sollen nur den Fall regeln, dass zum Zeitpunkt der Stellung des Auslieferungsantrages bereits ein Strafverfahren im Zufluchtsstaat eingeleitet war, wollen es dem Zufluchtsstaat aber nicht ermöglichen, zum Zwecke der Umgehung der Auslieferungspflicht neue Strafverfahren nach Eingang des Auslieferungsersuchens einzuleiten.98 7. Gewohnheitsrechtliche „aut dedere – aut iudicare“-Pflichten Hinsichtlich der gewohnheitsrechtlichen Pflichten zur Strafverfolgung oder Auslieferung von Bürgerkriegsverbrechern und Flugzeugentführern kann auf einen bereits mehrfach erwähnten Umstand hingewiesen werden: Eine gewohnheitsrechtliche Auslieferungspflicht hat sich – auch hinsichtlich so genannter „internationaler Verbrechen“ – bislang unstreitig noch nicht entwickeln können.99 Damit gilt auch hier für den Zufluchtsstaat ein freies Wahlrecht zwischen „dedere“ und „iudicare“.100 Für die im Sonderfall der Staatskriminalität geltenden gewohnheitsrechtlichen Pflichten muss dagegen nach unten verwiesen werden. Dort wird allgemein zu klären sein, wie sich die Verwicklung von Organen des Zufluchtsstaates in die Tat auf dessen Recht zum „iudicare“ auswirkt.101
IV. Die Relativität der gewonnenen Ergebnisse Als Ergebnis der vorstehenden Untersuchung kann also festgehalten werden: Nur sehr wenige Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebote kennen eine Hierarchie zwischen „dedere“ und „iudicare“. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Regelungen aus Auslieferungsverträgen. Die so genannten „international crime conventions“, deren Ziel die Bekämpfung einer bestimmten „internationalen Straftat“ ist, lassen dagegen dem Zufluchtsstaat in ihrer Mehrzahl die freie Wahl zwischen beiden Varianten. Eine Einschränkung dieses Wahlrechts kann sich aber hier wiederum aus dem Zusammenspiel dieser Verträge mit einem zwischen ersuchtem und ersu97 Bsp. hierfür sind Art. 4 III dt.-austral. Auslieferungsvertrag (3. Kap. Fn. 259), Art. 9 dt.-ind. Auslieferungsvertrag (3. Kap. Fn. 259) oder Art. 8 EuropAuslÜbk. 98 Vgl. für die entsprechende Klausel des dt.-austral. Auslieferungsvertrages Grützner/Pötz, II A 28, S. 20 Fn. 12. 99 Vgl. oben 1. Kapitel C. Fn. 85. 100 Vgl. für Bürgerkriegsverbrechen auch den Kommentar der ILC zum Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, ILC Report 1996, Chapter II, Art. 9 Rn. 6. 101 Vgl. unten VI.
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
chendem Staat geltenden Auslieferungsvertrag ergeben. Viele „international crime conventions“ enthalten Vorschriften, die die betreffenden Straftaten ipso facto in den sachlichen Anwendungsbereich bestehender Auslieferungsverträge einbeziehen und zu deren Aufnahme in zukünftige Auslieferungsverträge verpflichten.102 So wird zwischen jenen Vertragsparteien der betreffenden „international crime convention“, die daneben auch noch einen Auslieferungsvertrag miteinander abgeschlossen haben, aus dem alternativen „aut dedere – aut iudicare“ doch noch eine grundsätzliche Auslieferungspflicht, die eine Strafverfolgung im Zufluchtsstaat nur zulässt, soweit die im Auslieferungsvertrag vorgesehenen Auslieferungsausnahmen reichen. Teilweise werden sogar diese eingeschränkt, etwa wenn die „international crime convention“ eine Berufung auf die Auslieferungsausnahme für politische Straftaten ausschließt.103 Vor allem unter den Vertragsstaaten 102 Vgl. Art. 8 I Haager Konvention; Art. 8 I Montrealer Konvention; Art. 8 I UN-Diplomatenschutzkonvention; Art. 10 I UN-Geiselnahmekonvention; Art. 11 I Konvention zum Schutz von Nuklearmaterial; Art. 15 I UN-Personalsicherheitskonvention; Art. 11 I Schifffahrtssicherheitskonvention; Art. 9 I Sprengstoffattentateübereinkommen; Art. 11 I Terrorismusfinanzierungskonvention; Art. 13 I Nuklearterrorismuskonvention; Art. 4 Europäische Antiterrorkonvention; Art. 19 I Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention; Art. III § 2, 3 SAARC-Antiterrorkonvention; Art. 36 II (b) (i) Suchtstoffeeinheitsübereinkommen i. d. F. von Art. 14 des Protokolls von 1972; Art. 6 II UN-Antidrogenkonvention; Art. 8 I Convention for the Suppression of Traffic in Persons (der sogar die Einbeziehung in zukünftige Verträge ipso facto anordnet), Art. 5 I Fakultativprotokoll betreffend Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie zur Kinderrechtskonvention; Art. 8 I UN-Folterkonvention; Art. 13 I OAS-Folterkonvention; Art. V § 2, 3 OAS-Konv. gegen Verschwindenlassen; Art. XIII § 2 Inter-American Convention against Corruption; Art. 27 I Europäische Korruptionskonvention; Art. 10 I OECD-Korruptionskonvention; Art. 15 I UN-Antisöldnerkonvention; Art. 24 II Europäische Konvention gegen Cyberkriminalität; Art. 18 I 2. Zusatzprotokoll zur Kulturgüterschutzkonvention; Art. 44 IV UN-Korruptionskonvention; Art. 16 III UN-Konvention gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität; Art. 10 I Falschmünzerkonvention (der sogar die Einbeziehung in zukünftige Verträge ipso facto anordnet). Nur die Verpflichtung zur Aufnahme in neue Verträge enthält Art. 7 S. 1 OAS-Diplomatenschutzkonvention. Keine Einbeziehung ipso facto, sondern nur eine Pflicht zur Ergänzung bestehender Auslieferungsverträge verbunden mit der Pflicht, die betreffenden Straftaten auch in zukünftige Auslieferungsverträge aufzunehmen, enthalten Art. 9 Afrik. Antiterrorkonvention und Art. 15 II 2 Afrik. Antikorruptionskonvention. Art. 22 II b) Konvention gegen psychotrope Stoffe erklärt die Aufnahme der betreffenden Straftaten in bestehende und zukünftige Auslieferungsverträge immerhin noch für „wünschenswert“. Keinerlei Bestimmungen über die „Modifikation“ bestehender oder zukünftiger Auslieferungsverträge enthalten damit von denjenigen „international crime conventions“, die „dedere“ und „iudicare“ als gleichrangig ansehen, nur die Afrik. Antisöldnerkonvention und die Genfer Konventionen. 103 Vgl. bspw. Art. 1 Europ. Antiterrorkonvention; Art. 20 I Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention; Art. 1 SAARC-Antiterrorkonvention; Art. 14 OAS-Folterkonvention; Art. V § 1 der OAS-Konvention gegen das Verschwindenlassen; Art. 3
B. Das Verhältnis zwischen „dedere“ und „iudicare“
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der Europäischen Antiterrorkonvention und der Europäischen Terrorismusvorbeugungskonvention dürfte somit angesichts des in Europa bestehenden dichten Netzes bi- und multilateraler Auslieferungsverträge kaum ein Fall denkbar sein, in dem der Zufluchtsstaat wirklich frei zwischen Auslieferung und Strafverfolgung wählen kann.
V. Resümee Lässt man die Auslieferungsverträge einmal außer acht, ist für die meisten „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen also – jedenfalls wenn man sie isoliert betrachtet – das „iudicare“ letztlich der eigentlich wichtige Teil, denn zentral ist, dass der Täter überhaupt irgendwo strafrechtlich verfolgt wird. Dieses Ergebnis darf der Zufluchtsstaat nach seiner Wahl durch eigene Strafverfolgung oder durch Auslieferung herbeiführen. Dieser Abschnitt der Untersuchung bestätigt somit nochmals eine bereits im 1. Kapitel getroffene Aussage: Das Wesentliche am „aut dedere – aut iudicare“ ist nicht die Erzwingung gerade der Auslieferung oder gerade der Strafverfolgung, sondern der Ausschluss einer dritten Möglichkeit, der Gewährung sicherer Zuflucht.104 Für die überwiegend – mit Ausnahme der Antiterrorkonventionen der Arabischen Liga und der OIC – dem alternativen Modell folgenden „international crime conventions“ ist dies nur folgerichtig, da, wenn man man davon ausgeht, die betreffende Tat verletze alle Staaten der Welt, es keine Rolle spielt, ob der Täter im Zufluchtsstaat oder in einem nach herkömmlichem Verständnis „unmittelbar betroffenen“ Staat strafrechtlich verfolgt wird. Beide Staaten sind ja aufgrund des Weltgemeinschaftsgedankens im Rechtssinne verletzt.
VI. Der Staat als Richter über sich selbst? Strafverfolgung in einem für die Straftat völkerrechtlich verantwortlichen Staat Auch wenn nach den Ergebnissen des vorstehenden Abschnittes die „aut dedere – aut iudicare“-Klauseln der „international crime conventions“ für sich allein betrachtet meistens dem Zufluchtsstaat die freie Wahl zwischen Auslieferung und Strafverfolgung durch die eigene Justiz lassen, so stellt X UN-Drogenkonv.; Art. 9 I Afrik. Antisöldnerkonvention und die neueren Antiterrorverträge nach dem Haager Modell, wie Art. 11 der Konv. gegen Sprengstoffattentate, Art. 14 der Konvention gegen die Terrorismusfinanzierung und Art. 15 Nuklearterrorismuskonvention. Die Haager Konvention selbst schloss dagegen die „political offence exception“ noch nicht aus (vgl. Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 [365]; Costello, Journal of Int. Law and Economics 10 [1975], S. 483 [487 f.]; Bigay, RdPC 1980, S. 113 [120]). 104 1. Kapitel C.
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
sich dennoch die Frage, ob dies nicht in einem Spezialfall anders sein muss: Kann der Zufluchtsstaat selbst dann zum „iudicare“ greifen, wenn die Tat geradezu in seinem Auftrag begangen wurde? Würde er dann nicht quasi über sich selbst zu Gericht sitzen? Müssen der Tatortstaat und der Heimatstaat der Opfer ein solches Vorgehen akzeptieren, trotz der Gefahr, dass es im Zufluchtsstaat entweder nur zu einem auf „Reinwaschung“ des Täters gerichteten Alibiverfahren oder zu einem die Verantwortlichkeit des Zufluchtsstaates selbst vertuschenden juristischen „Bauernopfer“ kommt? Muss sich nicht zumindest hier das „aut dedere – aut iudicare“ zu einer bloßen Auslieferungspflicht verengen? Eine solche Position mag dem gesunden Menschenverstand entsprechen, im Wortlaut der „aut dedere – aut iudicare“-Verträge gibt es für sie allerdings keinen Anhaltspunkt. Auch deren Entstehungsgeschichte enthält hierauf keinerlei Hinweis. So war man sich beispielsweise auf der Haager Konferenz von 1970 durchaus der Verbindungen einiger Staaten zu Terrororganisationen bewusst,105 war aber dennoch der Ansicht, die völkerrechtliche Verpflichtung aller Zufluchtsstaaten zur Auslieferung oder Strafverfolgung böte genügend Gewähr für die Verhinderung von „safe havens“.106 Nichts deutet daraufhin, dass die Mehrheit der Konferenzteilnehmer für den Fall eines selbst in die Tat verwickelten Zufluchtsstaates von ihrer generell ablehnenden Haltung gegenüber einer Auslieferungspflicht107 abgerückt ist. Damit ist es zumindest auf den ersten Blick kaum möglich, einem solchen Staat das Recht zum „iudicare“ abzusprechen.108 Nur über das Gebot von Treu und Glauben könnte man in folgenden drei Gedankenschritten zu einem anderen Ergebnis gelangen: Erstens, ein Strafverfahren im Zufluchtsstaat genügt natürlich nur dann dem „aut dedere – aut iudicare“, wenn es nicht treuwidrig durchgeführt wird. Zweitens, ein treuwidriges Vorgehen ist dann anzunehmen, wenn die verfolgenden Behörden von vornherein keine ernsthafte Aufklärung und Sühnung der Tat bezwecken. Drittens, könnte man generell ausschließen, dass ein 105
Vgl. die Begründung Costa Ricas für den (später wieder zurückgezogenen, vgl. ICAO Doc. 8979-LC/165-1, S. 136 f.) Vorschlag, in der Haager Konvention Sanktionen gegen Staaten vorzusehen, die Flugzeugentführer weder ausliefern noch aburteilen (ICAO Doc. 8979-LC/165-2, S. 134): „Without the aggressive complicity of governments which grant asylum, the offence of air piracy is not an easy one to commit.“ 106 Selbst der oben in Fn. 105 angeführte Vorschlag Costa Ricas zielte nicht darauf ab, bestimmten Staaten das Recht zum „iudicare“ zu nehmen, sondern wollte nur Sanktionen gegen jene ermöglichen, der weder ausliefern noch selbst strafrechtlich verfolgen (vgl. den Abdruck des Entwurfs in ICAO Doc. 8979-LC/165-2, S. 134). 107 Vgl. zur Ablehnung einer Auslieferungspflicht durch die Mehrheit der Teilnehmerstaaten oben III. 1. 108 So im Ergebnis auch Stein, AVR 31 (1993), S. 206 (214); a. A. dagegen Herdegen, UN-Sicherheitsrat, S. 26 f.
B. Das Verhältnis zwischen „dedere“ und „iudicare“
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Strafverfahren in dem Staat, in dessen Auftrag die Tat begangen wurde, eine ernsthafte Aufklärung und Sühne bezweckt, bliebe zur getreuen Erfüllung des „aut dedere – aut iudicare“ nur noch die Auslieferung.109 Maßgeblich kann hier allerdings nicht die Auffassung des Verfassers über den Sinn einer Strafverfolgung durch den in die Tatbegehung verwickelten Staat sein; es kommt vielmehr darauf an, ob die allgemeine Staatenpraxis unter diesen Umständen die Strafverfolgungsbemühungen von vornherein für generell völlig ungenügend erachtet. Wegen des geringen Umfangs der unmittelbar auf „aut dedere – aut iudicare“-Konstellationen bezogenen Praxis soll dabei auch die Haltung der Staatengemeinschaft in anderen Fällen der Bestrafung von „Staatskriminalität“ durch den verantwortlichen Staat selbst berücksichtigt werden. Untersuchen wir dabei zunächst den Umgang mit Kriegsverbrechen und schweren Menschenrechtsverletzungen, chronologisch beginnend mit der Haltung der Alliierten zu den Leipziger Prozessen. Obwohl sie nach dem Versailler Vertrag sogar einen Rechtsanspruch auf die Auslieferung der mutmaßlichen deutschen Kriegsverbrecher hatten, ließen sich die Siegermächte zunächst auf eine Strafverfolgung in Deutschland ein, das damit quasi über seine eigene Kriegsführung zu Gericht saß. Sie hatten zwar – wie die alliierte Note vom 13. Februar 1920 beweist110 – Zweifel an der Ernsthaftigkeit dieses Vorhabens, hielten aber eine redliche Ahndung deutscher Kriegsverbrechen durch die deutsche Justiz offensichtlich nicht von vornherein für schlechterdings unmöglich. Erst aufgrund der im Laufe der Verhandlungen gewonnenen Eindrücke bestand man doch wieder auf der Auslieferung der Beschuldigten.111 Auch bei Ausarbeitung der Völkermordkonvention nahezu dreißig Jahre später erschien den meisten Staaten die Strafverfolgung durch einen in die Tat verwickelten Staat keineswegs von vornherein aussichtslos. Anders wäre nicht zu erklären, wieso dem Tatortstaat die primäre Repressionskompetenz zugesprochen wurde,112 obwohl man sich bewusst war, dass in der Praxis Völkermord meist mit dessen Duldung oder Mithilfe begangen wird.113 Die gleiche Beobachtung ist hinsichtlich der Verträge der 109 Insofern ist Bassiouni, Crimes against humanity, S. 220 und Plachta, MJ 1999, S. 331 (335 f.) zuzustimmen: Ist der Zufluchtsort zu einer effektiven Strafverfolgung nicht willens oder nicht fähig, wird aus dem „aut dedere – aut iudicare“ eine Auslieferungspflicht (vgl. ferner Stein, AVR 31 [1993], S. 206 [212]; Joyner/ Rothbaum, Mich. J. of Int.’l L. 14 [1993], S. 222 [253]). 110 Vgl. oben 2. Kapitel Fn. 373. 111 Vgl. oben 2. Kapitel Fn. 328. 112 Vgl. Art. VI Völkermordkonvention; dazu ausf. oben 3. Kapitel II. 2. 113 Vgl. dazu insbes. Robinson, S. 85 und v. a. S. 31 f., wonach die mögliche Verwicklung von Staatsorganen des Tatortstaates in den Völkermord sogar ein Grund dafür war, diesem die Hauptverantwortung für die Strafverfolgung zu übertragen
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
1980er und 1990er Jahre gegen Folter und „Verschwindenlassen“ zu machen: Sie sehen allesamt eine Pflicht des Tatortstaates und des Heimatstaates des Täters vor, ihre Strafgerichtsbarkeit über die Tat zu begründen,114 obwohl es sich hier per Definition um Staatskriminalität handelt115 und zumindest einer dieser beiden Staaten – sofern es sich nicht ohnehin um ein- und denselben handelt – im Regelfall derjenige ist, dessen Organe (mit-)schuldig sind. Auf der Konferenz von Rom zur Ausarbeitung des ICC-Statuts hat man sich, soweit ersichtlich, nicht ausdrücklich mit der Frage befasst, ob ein für eine Straftat verantwortlicher Staat diese Tat noch selbst getreulich verfolgen kann. Dass man sich aber – obwohl es mit Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch hier um Straftaten geht, die in aller Regel unter staatlicher Beteiligung begangen werden – auf eine lange Reihe von in Artikel 17 Absatz 2 und 3 ICC-Statut im Einzelnen aufgezählten Tatbestandsmerkmalen geeinigt hat, um zu bestimmen, wann ein nationales Strafverfahren die Zuständigkeit des ICC nicht ausschließt,116 anstatt pauschal zu regeln, dass eine Strafverfolgung durch den selbst in die Tat verwickelten Staat grundsätzlich nicht „genuine“ im Sinne des Artikels 17 Absatz 1 (a) und (b) ICC-Statut sein könne, ist immerhin ein Indiz dafür, dass man dies nicht für generell unmöglich hielt.117 Um schließlich noch ein Beispiel aus jüngster Zeit anzuführen: Angesichts der Misshandlungen irakischer Gefangener durch USSoldaten hat die Staatengemeinschaft zwar die Bestrafung der Schuldigen durch die US-Militärjustiz gefordert,118 die Fähigkeit der USA zur Erfüllung dieser Aufgabe nach Treu und Glauben scheint aber selbst angesichts von Gerüchten, denen zufolge die Taten Teil einer systematischen Verhörstrategie der US-amerikanischen Geheimdienste gewesen sein sollen, nicht verbreitet in Zweifel gezogen worden zu sein. und insbesondere eine Strafverfolgung vor ausländischen nationalen Gerichten auszuschließen: Man fürchtete internationale Spannungen, falls die Gerichte eines Staates über das Handeln der Organe eines anderen Staates zu Gericht sitzen könnten. 114 Vgl. Art. 5 I a) und b) UN-Folterkonvention; Art. 12 a) und b) OAS-Folterkonvention; Art. IV a) und b) OAS-Konvention gegen Verschwindenlassen. 115 Vgl. Art. 1 I UN-Folterkonvention; Art. 3 OAS-Folterkonvention; Art. II OAS-Konvention gegen Verschwindenlassen. 116 Vgl. dazu im Einzelnen Holmes, in: Cassese/Gaeta/Jones, S. 667 (674–678); Wiliams, in: Triffterer, Art. 17 Rn. 26–30. 117 So sieht bspw. auch Swart, in: Cassese/Gaeta/Jones, S. 1639 (1661) in der Verwicklung eines Staates in Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit noch einen zusätzlichen Grund, ihn zur Verfolgung der Taten durch seine Gerichte zu verpflichten, und geht nur in nicht näher spezifizierten Ausnahmefällen davon aus, eine solche Strafverfolgung sei nicht „genuine“ im Sinne des ICC-Statuts. 118 So bspw. die Forderung von Bundesaußenminister Fischer am 11.05.2004 (SZ, 12.05.2004, S. 9).
B. Das Verhältnis zwischen „dedere“ und „iudicare“
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Zwiespältiger ist dagegen die Haltung der Staatengemeinschaft zur Verfolgung von Geheimagenten für im Ausland begangene Verbrechen durch „ihren“ Staat. Noch vor wenigen Jahrzehnten schien man dies nicht völlig auszuschließen. Als Beispiel kann etwa der Rainbow Warrior-Fall dienen. Neuseeland hatte die verantwortlichen französischen Geheimagenten hier bereits selbst ergriffen und vor Gericht gestellt; es hätte seine Strafgewalt also sogar durchsetzen können, ohne wie später die USA und das Vereinigte Königreich im Lockerbie-Fall auf die Auslieferung der Täter angewiesen zu sein.119 Dennoch übergab es die Beschuldigten im Anschluss an das neuseeländische Strafverfahren an Frankreich und akzeptierte, dass dieser Staat für die „Bestrafung“120 seiner eigenen Geheimdienstoperation sorgt.121 Wie schon die Alliierten im Rahmen der Leipziger Prozesse, so trug auch hier Neuseeland erst später, als es dazu konkreten Anlass hatte, vor, Frankreich komme seiner „Bestrafungspflicht“ nicht ordnungsgemäß nach.122 Noch deutlicher gegen eine Einschränkung des „iudicare“ unter solchen Umständen spricht, dass die USA weder 1985 Einwände gegen die Aburteilung taiwanesischer Agenten in Taiwan für die Ermordung eines Dissidenten in Kalifornien123 noch 1993 gegen die Strafverfolgung der im Fall Letelier verantwortlichen chilenischen Geheimdienstoffiziere in Chile hatten.124 Andererseits hat derselbe Staat gemeinsam mit dem Vereinigten Königreich 1992 das libysche Angebot zur Verfolgung mutmaßlich für das Lockerbie-Attentat verantwortlicher libyscher Geheimagenten in Libyen125 nicht akzeptiert,126 119 Ein neuseeländisches Gericht hatte die beiden am 22.11.1985 unter anderem wegen Totschlags zu 10 Jahren Haft verurteilt (vgl. Denny, EPIL IV, S. 18). 120 Aufgrund eines Schiedsspruchs des UN-Generalsekretärs vom 06.07.1986 sollten die Täter für 3 Jahre auf einen französischen Militärstützpunkt im Südpazifik verbracht werden (vgl. ILR 74, S. 241 [272]). Es ging hier somit zugegebenermaßen nicht um eine gewöhnliche Strafverfolgung, aber dennoch hatte diese Maßnahme der Sache nach Strafcharakter und ersetzte die Vollstreckung der in Neuseeland verhängten Freiheitsstrafe. 121 Vgl. den franz.-neuseeländ. Briefwechsel vom 09.07.1986, ILR 74, S. 241 (274 ff.); zu diesem Fall vgl. ferner Denny, EPIL IV, S. 18 ff. 122 Vgl. den Schiedsspruch vom 30.04.1990, ILR 82, S. 499 ff., mit dem ein von beiden Seiten eingesetztes Schiedsgericht urteilte, dass Frankreich mit der Nichtrückführung von Major Mafart auf die Insel nach einer medizinischen Notfallbehandlung in Frankreich sowie mit der Entfernung von Capitaine Prieur von der Insel ohne neuseeländische Zustimmung seine Pflichten aus dem Briefwechsel vom 09.07.1986 verletzt habe. 123 Vgl. zu diesem Fall von Glahn, S. 225 f. 124 Vgl. zu diesem Fall oben 3. Kapitel B. I. 1. c) aa) (1). 125 Vgl. den Brief des libyschen UN-Botschafters an den UN-Generalsekretär vom 18.01.1992, ILM 31 (1992), S. 728 ff. 126 Vgl. Flory, in: ders./Higgins, S. 30 (37); Aust, ICLQ 2000, S. 278 (282 f.); Stein, AVR 31 (1993), S. 206 (208).
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
obwohl aufgrund der libyschen Staatsangehörigkeit der Verdächtigen eigentlich ein klassischer Fall für die Wahl des „iudicare“ durch Libyen vorlag.127 Ihre Auslieferungsforderung stützten diese beiden Staaten allerdings nicht auf ein teleologisch zum „dedere“ zu verengendes „aut dedere – aut iudicare“ der Montrealer Konvention. Sie bestritten vielmehr, dass dieser Vertrag mit seinen „aut dedere – aut iudicare“-Vorschriften überhaupt für die Lösung eines Falles von „Staatsterrorismus“ maßgeblich sei.128 Bevor der UN-Sicherheitsrat Libyen in Resolution 748 (1992) aufgrund von Kapitel VII UN-Charta zur Auslieferung der Beschuldigten verpflichtete,129 kam aufgrund dieser Logik als Rechtsgrundlage für den Auslieferungsanspruch aber nur das gewohnheitsrechtliche Recht der Staatenverantwortlichkeit in Betracht. Kurz gesagt: Die USA und Großbritannien vertraten wohl den Standpunkt, dass ein Staat, der durch seine Geheimagenten im Ausland Terroranschläge begehen lässt, die Täter als „Genugtuung“ für dieses völkerrechtswidrige Verhalten an den Tatortstaat oder den Heimatstaat der Opfer ausliefern muss, und zwar unabhängig davon, ob diese Tat daneben zufällig auch noch unter einen „aut dedere – aut iudicare“-Vertrag fällt. Dies widerspricht aber jedenfalls der klassischen Literaturauffassung, die in der strafrechtlichen Verfolgung des handelnden Amtswalters durch den verantwortlichen Staat eine allgemein anerkannte Form der „Genugtuung“ sieht.130 Und auch unter den Richtern des IGH stieß der britisch-amerikanische Standpunkt auf wenig Verständnis: Nicht weniger als acht der sechzehn an der Entscheidung über einstweiligen Rechtsschutz beteiligten Richter vertraten in ihren Einzelvoten in obiter dicta, dass Libyen jedenfalls ohne die Si127 Auf den letztgenannten Umstand weisen insbes. Bassiouni/Wise, S. 63 und Stein, AVR 31 (1993), S. 206 (212 f.) zutreffend hin. 128 Vgl. bspw. die Äußerung des brit. Delegierten im UN-Sicherheitsrat während der Debatte vor Erlass der Res. 731 (zitiert nach Beveridge, ICLQ 1992, S. 907 [910]): „The Council is not [. . .] dealing with a dispute [. . .] concerning the interpretation or application of the Montreal Convention. What we are concerned with here is the proper reaction of the international community to the situation arising from Libya’s failure [. . .] to respond effectively to the most serious accusations of State involvement in acts of terrorism.“ Ähnl. ließen sich das UK und die USA auch später vor dem IGH ein (vgl. bspw. ICJ Rep. 1991, S. 3 [11]; ICJ Rep. 1998, S. 9 [18 f.], wo es u. a. heißt, das Vereinigte Königreich hätte sich niemals auf die Montrealer Kovention berufen und „observes that nothing in that Convention prevented it from requesting the surrender of the two alleged offenders outside the framework of the Convention.“ Ebenso die USA [vgl. ICJ Rep. 1998, S. 115 [124], die ferner behaupteten, es gehe in dem Verfahren nicht um die Auslegung der Montrealer Konvention, sondern um „a threat to international peace and security resulting from State-sponsored terrorism.“ [vgl. ICJ Rep. 1998, S. 115 [123]). 129 Vgl. dazu oben 3. Kapitel C. II. bei Fn. 935 ff. 130 Vgl. oben 3. Kap. Fn. 831. Soweit ersichtlich wollen nur Dahm/Delbrück/ Wolfrum, I/3, S. 1010 eine Auslieferungspflicht auf das Recht der Staatenverantwortlichkeit stützen.
B. Das Verhältnis zwischen „dedere“ und „iudicare“
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cherheitsratsresolution 748 (1992) zu Recht die Auslieferung ablehnen und selbst Strafverfolgungsmaßnahmen hätte ergreifen können.131 Wie sich andere Staaten zu der Rechtsbehauptung der USA und des Vereinigten Königreiches verhielten, ist schwierig zu beurteilen. Dass zehn von fünfzehn Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates dafür stimmten, Libyen zur Wahrung des Weltfriedens in Resolution 748 (1992) eine Auslieferungspflicht aufzuerlegen, bedeutet nicht unbedingt, dass sie Libyen auch schon vor Erlass dieser Resolution aufgrund des Völkergewohnheitsrechts für zur Auslieferung verpflichtet hielten.132 Eine Friedensgefährdung nach Artikel 39 UN-Charta setzt nicht zwingend einen Völkerrechtsverstoß voraus,133 so dass die Bewertung des libyschen Verhaltens als „friedensgefährdend“ nicht automatisch auch dessen inzidente Verurteilung als völkerrechtswidrig beinhaltet. Zwar hatten die Sicherheitsratsmitglieder Libyen auch schon vor dem Rekurs auf Kapitel VII in der nicht bindenden Resolution 731 (1992) zur Auslieferung der Beschuldigten aufgefordert, doch selbst dies muss nicht unbedingt bedeuten, dass sie ein solches Verhalten für völkerrechtlich geboten hielten, denn wenn der Sicherheitsrat aufgrund von Artikel 37 Absatz 2 UN-Charta Lösungsvorschläge für internationale Streitigkeiten unterbreitet, kann er als politisches Organ dabei mehr tun, als lediglich die völkerrechtlichen Ansprüche der Beteiligten „nachzuführen“.134 Sicherlich darf er keine Lösung vorschlagen, die nur unter Verstoß gegen das Völkerrecht zu verwirklichen wäre;135 da die Auslieferung der Beschuldigten hier aber 131 Vgl. IGH, Case concerning the interpretation and application of the 1971 Montreal Convention arising from the aerial incident at Lockerbie (Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom), Provisional Measures, decl. Evensen, Tarassov, Guillaume, Aguilar Mawdsley, ICJ Rep. 1992, S. 24 f.; op. diss. Ajibola, ICJ Rep. 1992, S. 78 (82); op. diss. Bedjaoui, ICJ Rep. 1992, S. 3 (37 f.); op. diss. Ranjeva, ICJ Rep. 1992, S. 72; ähnl., wenn auch weniger dezidiert, op. ind. Shahabudden, ICJ Rep. 1992, S. 28 f. Bemerkenswert ist, dass ausgerechnet der libysche ad-hoc-Richter El Kosheri die Fähigkeit Libyens anzweifelt, unparteiisch und ernsthaft über das Verhalten seiner eigenen Geheimdienstmitarbeiter zu Gericht zu sitzen. Da er aber die Gerichte der „Opferstaaten“ USA und UK für ebenso wenig geeignet hält, schlägt er schließlich die Auslieferung der Beschuldigten an einen Drittstaat vor (vgl. IGH, Case concerning the interpretation and application of the 1971 Montreal Convention arising from the aerial incident at Lockerbie [Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom], Provisional Measures, op. diss. El Kosheri, ICJ Rep. 1992, S. 94 [112]). 132 A. A. Joyner/Rothbaum, Mich. J. of Int.’l L. 14 (1993), S. 222 (250), wonach das Tätigwerden des Sicherheitsrates im Lockerbiefall eine Bestätigung der USamerik. Rechtsauffassung durch die Staatengemeinschaft darstelle. 133 Vgl. dazu bereits oben 3. Kapitel C. I., insbes. Fn. 902. 134 Vgl. hierzu Stein, in: Simma, UN-Charter, Art. 37 Rn. 45. 135 So auch Stein, in: Simma, UN-Charter, Art. 37 Rn. 45; ders., AVR 31 (1993), S. 206 (219 f.).
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selbst dann, wenn sie nicht völkerrechtlich geboten gewesen sein sollte, unstreitig jedenfalls nicht völkerrechtlich verboten war,136 ist dieses Kriterium auch gewahrt, wenn man davon ausgeht, dass die Mehrheit der Sicherheitsratsmitglieder den britisch-amerikanischen Rechtsstandpunkt bezüglich einer gewohnheitsrechtlichen Auslieferungspflicht nicht geteilt hat.137 Resolution 731 (1992) ist damit wohl eher als eine politische Forderung an Libyen, in dem Streit mit den USA und Großbritannien nachzugeben, zu begreifen, denn als die Postulierung einer gewohnheitsrechtlichen Auslieferungspflicht als „Genugtuung“ für „Staatsterrorismus“.138 Immerhin hat eine ganze Reihe arabischer und afrikanischer Staaten sowohl in der Sicherheitsratsdebatte vor Erlass der Resolution 731 als auch in einer Resolution der Arabischen Liga deutlich zu verstehen gegeben, dass sie die von Libyen eingeleiteten Strafverfolgungsmaßnahmen für ernsthaft und vollkommen in Einklang mit dem Völkerrecht hielten.139 Selbst die USA und das Vereinigte Königreich scheinen sich ihrer Sache nicht so ganz sicher gewesen zu sein. Anders ist kaum zu erklären, mit welcher Eile sie trotz der Einwände mehrerer Staaten140 den Sicherheitsrat drängten, noch kurz vor der Entscheidung des IGH über einstweiligen Rechtsschutz durch die für Libyen bindende Resolution 748 (1992) die materielle Rechtslage (nahezu) eindeutig zu ihren Gunsten umzugestalten. Allerdings ist zuzugeben, dass die Anordnung einer Auslieferungspflicht nach Kapitel VII UN-Charta durch den UN-Sicherheitsrat in drei Fällen, in denen die „Neutralität“ des Zufluchtsstaates gegenüber der zu verfolgenden Straftat zumindest zweifelhaft war,141 zumindest ein gewisses Misstrauen gegenüber einem unter solchen Umständen durchgeführten „iudicare“ zum Ausdruck bringt.142 Erste Reaktionen nach dem 11. September 2001 lassen 136
So auch Stein, AVR 31 (1993), S. 206 (215). Dies übersieht Stein, AVR 31 (1993), S. 206 (219 f.). 138 Ähnl. wohl auch IGH, Case concerning the interpretation and application of the 1971 Montreal Convention arising from the aerial incident at Lockerbie (Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom), op. diss. El Kosheri, ICJ Rep. 1992, S. 94 (100), wonach sich der Sicherheitsrat in Res. 731 (1992) nur mit den politischen Aspekten des Falles befasst, die juristischen aber ausgeblendet habe. 139 Zur Sicherheitsratsdebatte vgl. Beveridge, ICLQ 1992, S. 907 (910); zur Haltung der Mitglieder der Arabischen Liga vgl. Res. 5158 des Rates der Arabischen Liga vom 16.01.1992, Ziff. 1 (ILM 31 [1992], S. 727). 140 Vgl. Beveridge, ICLQ 1992, S. 907 (914 f.); IGH, Case concerning the interpretation and application of the 1971 Montreal Convention arising from the aerial incident at Lockerbie (Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom), Provisional Measures, op. diss. El Kosheri, ICJ Rep. 1992, S. 94 (105 f.). 141 Vgl. zu diesen Fällen oben, 3. Kapitel C. bei Fn. 908 bis 916. 142 So schon für den Lockerbiefall Joyner/Rothbaum, Mich. J. of Int.’l L. 14 (1993), S. 222 (253 f.). 137
B. Das Verhältnis zwischen „dedere“ und „iudicare“
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ebenfalls vermuten, dass eine Pflicht gerade zur Auslieferung von Terroristen auf gewisse Sympathie unter den Staaten stößt, wenn die Regierung des Zufluchtsortes enge Beziehungen zu den Tätern unterhält.143 Dennoch dürfte es wohl noch zu früh sein, um schon jetzt aufgrund des positiven Rechts einen Ausschluss der Strafverfolgung durch den in die Tatbegehung verwickelten Zufluchtsstaat im Anwendungsbereich einer vertrags- oder gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“-Regelung oder gar einen auf das völkergewohnheitsrechtliche Recht der Staatenverantwortlichkeit gestützten Auslieferungsanspruch zu bejahen. Zu zahlreich sind die oben angeführten Gegenbeispiele aus der Staatenpraxis, zu schwach noch die neuen Tendenzen. Vielmehr bleibt es bei den oben im 3. Kapitel getroffenen Feststellungen: Von dem für eine im Ausland begangene Straftat völkerrechtlich verantwortlichen Zufluchtsstaat des Täters kann aufgrund eventueller vertraglicher „aut dedere – aut iudicare“-Pflichten, der Menschenrechte der Opfer sowie der allgemeinen Regeln der Staatenverantwortlichkeit die Auslieferung oder Strafverfolgung verlangt werden, nicht aber gerade eine dieser beiden Vorgehensweisen. Völlig „blind“ für die enge Verbindung zwischen Täter und „Richter“ ist das Völkerrecht aber nicht. Den durch die Tat verletzten Staaten stehen nach der Staatenpraxis Garantien des Zufluchtsstaates für eine effektive und ernsthafte Strafverfolgung zu. Sowohl das Deutsche Reich im Vorfeld der „Leipziger Prozesse“ als auch Libyen im Lockerbiefall haben dies angeboten, wobei insbesondere an die Entsendung von Prozessbeobachtern gedacht war.144 Damit können sich die verletzten Staaten selbst ein Bild davon machen, ob die „iudicare“-Pflicht treugemäß erfüllt wird. Sollten sie daraufhin nach Abschluss der Strafverfahren zu dem Schluss kommen, dass dies nicht der Fall war, müssen sie nun keineswegs dem Zufluchtsstaat eine „zweite Chance“ einräumen. So haben die Alliierten in ihrer Note vom 28. August 1922 weder ein Neuaufrollen der bereits vom Reichsgericht abgeschlossenen Verfahren 143 Vgl. ausführlich oben, 3. Kapitel B. I. 2. a) ff) ab Fn. 723 sowie C. I. ab Fn. 908, II. ab Fn. 938. 144 Für die Leipziger Prozesse vgl. die dt. Note vom 25.01.1920 (abgedruckt bei Schraepel/Michaelis, Bd. IV, S. 20 ff.) (wo den Alliierten darüber hinaus sogar aktive Beteiligungsrechte, wie etwa ein Recht zur Stellung von Beweisanträgen, angeboten wurden, was diese freilich in einer Note vom 13.02.1920 [abgedruckt bei Schraepel/Michaelis, Bd. IV, S. 26 f.] ablehnten, um Deutschland die „volle und ganze Verantwortlichkeit“ für das Verfahren zu überlassen. Offizielle Beobachter, die nicht aktiv in das Prozessgeschehen eingriffen, wurden aber dennoch entsandt [vgl. Mullins, S. 16 u. 48]); für den Lockerbie-Fall vgl. Flory, in: ders./Higgins, S. 30 (37); Plachta, EJIL 2001, S. 125 (127); Beveridge, ICLQ 1992, S. 907 (911 f.); IGH, Case concerning the interpretation and application of the 1971 Montreal Convention arising from the aerial incident at Lockerbie (Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom), Provisional Measures, op. diss. Weeramantry, ICJ Rep. 1992, S. 50 (51).
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
nach strengeren Maßstäben gefordert, noch eine härtere Strafverfolgung in den noch anstehenden Fällen angemahnt. Stattdessen haben sie nun wieder ihre alte Auslieferungsforderung erhoben.145 Wählt der Zufluchtsstaat also das „iudicare“, führt das Strafverfahren danach aber nicht ordnungsgemäß durch, verwirkt er die Möglichkeit der Strafverfolgung durch eigene Gerichte, und zwar nicht nur für dieses eine Verfahren, sondern auch für alle weiteren zum selben Sachkomplex.
C. Was bedeutet „iudicare“? – Zum Inhalt des „Strafverfolgungsgebotes“ Wenn nun die Voraussetzungen für ein Eingreifen der „aut dedere – aut iudicare“-Pflicht vorliegen und der Zufluchtsstaat sich in zulässiger Weise für das „iudicare“ entschieden hat, welche Pflichten obliegen ihm dann genau? Muss der Täter zur Sicherung des Strafverfahrens in Untersuchungshaft genommen werden? Kommt eine Einstellung des Verfahrens durch die Anklagebehörde in Betracht? Welche Rechte hat der Beschuldigte? Wie muss er gegebenenfalls bestraft werden?146 Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden, wobei der Aufbau der Untersuchung sich an der zeitlichen Reihenfolge orientiert, in der sie im Verlaufe des Verfahrens auftreten. Abschließend wird kurz auf die verschiedenen Versuche hingewiesen werden, durch völkerrechtliche Sanktions- oder Kontrollmöglichkeiten eine pflichtgemäße Durchführung des „iudicare“ zu garantieren.
145
Vgl. dazu oben 2. Kapitel H. I. 2. a. E. Diese Fragen sind der Grund, wieso in der Literatur verschiedene Bezeichnungen für das Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot verwendet werden: Einige wenige verwenden auch heute noch das historisch tradierte „aut dedere – punire“ (so etwa Bigay, RdPC 1980, S. 113 [115]; Schachor-Landau, ICLQ 1980, S. 274 [275]), obwohl es bei wörtlichem Verständnis jede Nichtbestrafung, etwa wegen Verfahrenseinstellung oder Freispruch, ausschließen würde. Meist wird dagegen – wie hier – von „aut dedere – aut iudicare“ gesprochen, um die Bestrafung nicht als zwangsläufiges Ergebnis erscheinen zu lassen (vgl. etwa Stein, Auslieferungsausnahme, S. 164 f.; Bassiouni, Crimes against humanity, S. 219, um nur wenige Beispiele zu nennen). Wieder andere bevorzugen schließlich „aut dedere – aut prosequi“, um in Vordergrund zu rücken, dass nicht einmal der mit „iudicare“ möglicherweise angedeutete Prozess stattfinden müsse (so bspw. Poutiers, in: Ascensio/ Decaux/Pellet, S. 938; nach Bassiouni/Wise, S. 4 weist der Begriff „iudicare“ dagegen nicht zwingend auf eine Anklageerhebung hin). Wenn bisher von „aut dedere – aut iudicare“, im historischen Teil auch teilweise von „aut dedere – aut punire“ die Rede war, dann nur, um sich der jeweils zeitgenössisch üblichsten Ausdrucksform anzupassen. Keineswegs sollte damit schon ein bestimmtes Ergebnis für den folgenden Abschnitt vorweggenommen werden. 146
C. Was bedeutet „iudicare“?
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I. Die Voruntersuchung und die Sicherung des Verfahrens 1. Die Voruntersuchung Sobald die Anwesenheit des mutmaßlichen Täters einer dem „aut dedere – aut iudicare“ unterworfenen Straftat in einem bestimmten Staat bekannt wird (und ein gegebenenfalls zusätzlich erforderlicher Auslieferungsantrag eines anderen Staates gestellt wurde), muss dieser – wie in einigen Verträgen ausdrücklich normiert wird147 – eine erste vorläufige Untersuchung des Falles durchführen. Selbst dort, wo eine solche Pflicht sich nicht ausdrücklich aus dem Vertragstext ergibt,148 dürfte sie doch implizit enthalten sein, denn weder eine Entscheidung über die Auslieferung noch eine Entscheidung über die Einleitung eigener Strafverfolgungsmaßnahmen lässt sich sinnvoll treffen, wenn man nicht zuvor den Sachverhalt zumindest summarisch ermittelt hat. Die genaue Ausgestaltung dieser Voruntersuchung, insbesondere ob sie schon den Charakter eines justizförmigen, von Gerichten oder Strafverfolgungsbehörden durchgeführten Verfahrens hat, oder durch die Exekutive erfolgt, bleibt den einzelnen Staaten überlassen.149
147 Vgl. Art. 6 II Haager Konvention; Art. 6 II Montrealer Konvention; Art. 6 I 2 UN-Geiselnahmekonvention; Art. 7 II Schifffahrtssicherheitskonvention; Art. 7 I Sprengstoffattentateübereinkommen; Art. 9 I Terrorismusfinanzierungskonvention; Art. 10 I Nuklearterrorismuskonvention; Art. 15 I Europ. Terrorismusvorbeugungskonv.; Art. 7 I Afrik. Antiterrorkonvention; Art. 10 I 1 UN-Antisöldnerkonvention; Art. 6 II UN-Folterkonvention. 148 Dies ist der Fall bzgl. der Falschmünzerkonvention von 1929; der UN-Diplomatenschutzkonvention; der OAS-Diplomatenschutzkonvention; der Konvention zum Schutz von Nuklearmaterial; der UN-Personalsicherheitskonvention; der Europ. Antiterrorkonvention; der SAARC-Antiterrorkonvention; der OIC-Antiterrorkonvention; der Arab. Antiterrorkonvention; der Genfer Konventionen; der Afrik. Antisöldnerkonvention; des 2. Zusatzprotokolls zur Kulturgüterschutzkonvention; der OASFolterkonvention; der OAS-Konv. gegen Verschwindenlassen; der Convention on the Suppression of the Traffic in Persons; der OECD-Korruptionskonvention; der Inter-American Convention on Corruption; der Europäischen Korruptionskonvention; des Suchtstoffeeinheitsübereinkommens; der Konvention über psychotrope Stoffe; des Zusatzprotokolls betreffend Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornografie zur Kinderrechtskonvention; der Europ. Konvention gegen Cyberkriminalität; der Afrik. Antikorruptionskonvention; der UN-Korruptionskonvention; der UN-Antidrogenkonvention; des EurAuslÜbk. und der Inter-American Convention on Extradition. 149 Vgl. zur Gestaltungsfreiheit bzgl. der Voruntersuchung Lambert, Hostages, S. 174.
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
2. Die Sicherung der Anwesenheit des Verdächtigen Wenn der Aufenthaltsort des mutmaßlichen Täters bekannt geworden ist, stellt sich aber sogleich auch die Frage, wie gesichert werden kann, dass er sich nicht einem Auslieferungs- oder Strafverfahren durch erneute Flucht entzieht. Viele Verträge enthalten hier folgende Bestimmung: „Upon being satisfied that the circumstances so warrant, the Contracting State in the territory of which the offender or the alleged offender is present, shall take him into custody or take other measures to ensure his presence. The custody and other measures shall be as provided in the law of that State [. . .]“150
Die Bedeutung dieser Vorschrift ist aber begrenzt: Zum einen, weil sie auf der Rechtsfolgenseite keine echte „Festnahmepflicht“ enthält. Als „other measures to ensure his presence“ kommen zum Beispiel auch die Einziehung des Reisepasses oder die Hinterlegung einer Kaution in Betracht, wenngleich angesichts der Schwere der meisten Straftaten, die dem „aut dedere – aut iudicare“ unterliegen, meist nur die Festnahme erfolgversprechend sein dürfte.151 Zum anderen sind aber auch die Voraussetzungen für die Ergreifung solcher Maßnahmen auf der Tatbestandsseite sehr vage formuliert. Der Zufluchtsstaat muss nur dann zu ihnen greifen, wenn die Umstände es nach seiner eigenen Ansicht erfordern und sein nationales Recht es zulässt. Beides sind keine leeren Formeln, auf der Haager Konferenz wurde sogar lange über ihre Streichung gestritten. Brasilien und Argentinien wollten den Verweis auf die Umstände streichen, da dies Tür und Tor für willkürliche Entscheidungen öffne und die Konvention schwäche.152 In ei150
Art. 6 I Haager Konvention; Art. 6 I Montrealer Konvention; ähnl. Art. 6 I 1 UN-Diplomatenschutzkonvention; ähnl. Art. 6 I 1 UN-Geiselnahmekonvention; ähnl. Art. 9 S. 1 Konvention zum Schutz von Nuklearmaterial; ähnl. Art. 7 I Schifffahrtssicherheitskonvention; ähnl. Art. 13 I UN-Personalsicherheitskonvention; ähnl. Art. VI S. 1 SAARC-Antiterrorkonvention; ähnl. Art. 7 II Afrik. Antiterrorkonv.; ähnl. Art. 10 I 1 UN-Antisöldnerkonvention; ähnl. Art. 6 I UN-Folterkonvention; ähnl. Art. 15 VIII Afrik. Antikorruptionskonvention; ähnl. Art. 3 IX UN-Antidrogenkonvention, Art. 7 II Sprenstoffattentateübereinkommen, Art. 9 II Terrorismusfinanzierungskonvention, Art. 10 I Nuklearterrorismuskonvention und Art. 15 II Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention, die allerdings von vornherein nur von „geeigneten Maßnahmen“ zur Sicherstellung der Anwesenheit des Täters sprechen; ganz anders formuliert, aber im Ergebnis ähnl. Art. 14 Inter-American Convention on Extradition und Art. 16 EurAuslÜbk., Art. 44 X UN-Korruptionskonvention und Art. 16 IX UN-Konvention gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität für den Fall, dass der ersuchende Staat einen Antrag auf Festnahme stellt. Vorbild der Haager Regelung war Art. 13 Tokioer Konvention (BGBl. 1969 II 121), die aber nicht zu den „aut dedere – aut iudicare“-Verträgen zu zählen ist [vgl. oben 3. Kapitel A. I. 2. a)]. 151 So für Art. 6 I UN-Geiselnahmekonvention auch Lambert, Hostages, S. 173. 152 Vgl. ICAO Doc. 8979-LC/165-1, S. 100 f.
C. Was bedeutet „iudicare“?
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ner ersten Abstimmung wurde dieser Vorschlag aber ebenso abgelehnt wie die von Brasilien angeregte Streichung des Vorbehaltes des nationalen Rechts.153 Als Brasilien im späteren Verlauf der Konferenz den Punkt noch einmal auf die Tagesordnung brachte, bot sich das gleiche Bild: Einige, später in der Abstimmung siegreiche Staaten154, wollten den Hinweis auf die Umstände des konkreten Falles beibehalten, da sie eine absolute Pflicht zur Ergreifung von Sicherungsmaßnahmen für inakzeptabel hielten,155 während die später unterlegenen Staaten gerade die bei einer Ermessensentscheidung drohende Schwächung der Abkommen fürchteten.156 Auch in späteren Abkommen konnte sich eine Streichung dieser „Ermessensklausel“ nicht durchsetzen. Spanien scheiterte mit einem entsprechenden Vorstoß auf der Montrealer Konferenz,157 und obwohl der ILC-Entwurf für die UN-Diplomatenschutzkonvention keinen Spielraum zur Berücksichtigung der Umstände vorsah,158 fügte die UN-Generalversammlung einen solchen Hinweis in den Konventionstext ein, da die Staaten, um mit dem Vorsitzenden des damals zuständigen Ausschusses zu sprechen, die Verpflichtung ansonsten für „too absolute“ erachtet hätten.159 Damit bleibt festzuhalten, dass die Vertragsparteien dem Zufluchtsstaat ein weites Ermessen bei der Entscheidung einräumen wollten, ob und gegebenenfalls welche Maßnahmen er zur Verhinderung der Flucht des Verdächtigen ergreift.160 Klare vertragliche Vorgaben für die Ausübung dieses Ermessens fehlen.161 Neben der Beweislage dürften vor allem Flucht- oder Verdunklungsgefahr zu berücksichtigen sein.162 Eine Grenze für die Ermessensausübung bildet aber der Grundsatz von Treu und Glauben.163 Die politische Sympathie mit dem Täter beispielsweise wäre ein unzulässiger, weil treuwidriger Grund, um trotz hoher Fluchtgefahr von einer Festnahme abzusehen.164 Man könnte damit die Es153
Vgl. ICAO Doc. 8979-LC/165-1, S. 101. Dieser zweite brasilianische Vorstoß wurde mit 49 zu 11 Stimmen bei 2 Enthaltungen abgelehnt (vgl. ICAO Doc. 8979-LC/165-1, S. 176). 155 In diesem Sinne haben sich in der Debatte das Vereinigte Königreich, die USA, Mexiko und Indien geäußert (vgl. ICAO Doc. 8979-LC/165-1, S. 174 f.). 156 So neben Brasilien namentlich Barbados, Kolumbien, Griechenland und Spanien (vgl. ICAO Doc. 8979-LC/165-1, S. 175). 157 Vgl. ICAO Doc. 9081-LC/170-1, S. 59. 158 Vgl. Art. 5 I des Entwurfes, YBILC 1972 II, 309 (317). 159 Vgl. Art. 6 I der UN-Diplomatenschutzkonvention und die hierzu bei Lambert, Hostages, S. 172 zitierte Äußerung des Ausschussvorsitzenden. 160 Vgl. auch Guillaume, AFDI 1970, S. 35 (50); Lambert, Hostages, S. 168 f.; Burgers/Danelius, S. 134. 161 Lambert, Hostages, S. 169. 162 Ähnl. Burgers/Danelius, S. 134. 163 Vgl. zum Grundsatz der Vertragserfüllung nach Treu und Glauben Art. 26 WVRK. 154
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
senz von Vorschriften wie Artikel 6 Absatz 1 Haager Konvention folgendermaßen formulieren: Es besteht eine Pflicht des Zufluchtsstaates, die in seinem nationalen Recht ohnehin vorgesehenen Maßnahmen zur Verhinderung der Flucht eines Verdächtigen auch hier redlich nach Treu und Glauben zu ergreifen. Dies bringt vor allem eine Gleichbehandlungspflicht mit sich. Würde also in einem vergleichbaren, rein nationalen Fall ohne politische Implikationen Untersuchungshaft angeordnet, muss sie es auch hier werden.165 Letztlich dürfte dies aber selbst im Anwendungsbereich jener Verträge gelten, die keinerlei Vorschriften über die Festnahme enthalten,166 denn wenn der Täter aus sachfremden Motiven – wie etwa politischer Sympathie – von im nationalen Recht des Zufluchtsstaates vorgesehenen und in der dortigen Rechtspraxis in vergleichbaren Fällen auch tatsächlich üblichen fluchthindernden Maßnahmen verschont wird, verstößt dies gegen den Grundsatz einer treugemäßen Erfüllung des „aut dedere – aut iudicare“. Ohne die Präsenz des Täters lassen sich nämlich weder die Auslieferung noch die Strafverfolgung im Zufluchtsstaat realisieren.167
II. Die Einschaltung der Strafverfolgungsbehörde Nachdem er sich durch die Voruntersuchung einen ersten Überblick über den Sachverhalt verschafft hat, muss der Zufluchtsstaat eine Entscheidung treffen: Liefert er den Täter aus, oder greift er zum „iudicare“? Je nach Art der anzuwendenden „aut dedere – aut iudicare“-Bestimmung trifft er diese 164
Lambert, Hostages, S. 171. Ähnl. Plant, in: Higgins/Flory, S. 68 (85); Lambert, Hostages, S. 171. Insofern erinnert diese Regelung im Ergebnis ein wenig an den in Art. 7 S. 2 Haager Konvention für spätere Verfahrensschritte festgelegten „national treatment standard“. 166 Dies sind die Falschmünzerkonvention von 1929; die OAS-Diplomatenschutzkonvention; die Europ. Antiterrorkonv.; die Genfer Konventionen; die Afrik. Antisöldnerkonv.; die OAS-Folterkonvention; die OAS-Konv. gegen Verschwindenlassen; die Convention on the Suppression of the Traffic in Persons; die OECD-Korruptionskonvention; die Europ. Korruptionskonvention; die Europäische Konvention gegen Cyberkriminalität; das Zusatzprotokoll betreffend Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie zur Kinderrechtskonvention; das 2. Zusatzprotokoll zur Kulturgüterschutzkonvention; das Suchtstoffeeinheitsübereinkommen; das Abkommen über psychotrope Stoffe. Art. 24 der Antiterrorkonv. der OIC und der Arab. Liga sowie Art. XIII Abs. 7 Inter-American Convention on Corruption regeln nur, dass, wenn ein um Auslieferung ersuchender Staat den Zufluchtsstaat um die vorläufige Festnahme bittet, dieser den Verdächtigen dann festnehmen „kann“, enthält aber keinerlei Festnahmepflicht. 167 Dies scheinen im Ergebnis auch namhafte Stimmen in der Literatur so zu sehen. So findet sich im wichtigsten Kommentar zu den Genfer Konventionen – die die Pflicht zur Festnahme nicht ausdrücklich normieren – die Aussage, der Zufluchtsstaat müsse für die schnelle Verhaftung des Täters sorgen (vgl. Pictet, S. 394). 165
C. Was bedeutet „iudicare“?
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Entscheidung entweder frei oder mittels einer Subsumtion des Sachverhaltes unter die Ausnahmen von der vorrangigen „dedere“-Pflicht.168 Natürlich sind auch Fälle denkbar, in denen ihm keine Wahl bleibt. Etwa wenn kein Auslieferungsgesuch gestellt wurde, das konkret einschlägige „aut dedere – aut iudicare“ aber auch ohne ein solches eingreift: Dann bleibt natürlich nur das „iudicare“.169 Gleiches gilt, wenn aufgrund menschenrechtlicher Verpflichtungen einem Auslieferungsersuchen nicht stattgegeben werden darf.170 Was aber ist unter diesem „iudicare“ genau zu verstehen? In den einschlägigen Bestimmungen ist meist die Rede von „to submit the case to its competent authorities for the purpose of prosecution“171 oder „[to] submit the case to its competent authorities in order that proceedings may be taken if they are considered appropriate.“172 Aber auch wo von „[to] bring such persons [. . .] before its [. . .] courts“173, „shall take proceedings against him“174, „shall be prosecuted in and punished by the courts“175, „shall be obliged to prosecute him“176, „[to] prosecute any such person“177 oder einfach von „doivent être punis“178 die Rede ist, setzt 168
Siehe dazu oben B. Siehe dazu oben A. 170 Vgl. zu den menschenrechtlichen Auslieferungsgrenzen auch die Nachweise oben Einleitung Fn. 5. 171 So Art. 7 Haager Konvention; Art. 7 Montrealer Konvention; Art. 7 UN-Diplomatenschutzkonvention; Art. 8 I UN-Geiselnahmekonvention; Art. 10 Konvention zum Schutz von Nuklearmaterial; Art. 10 I Schifffahrtssicherheitskonvention; Art. 14 UN-Personalsicherheitskonvention; Art. 8 Sprengstoffattentateübereinkommen; Art. 7 Europ. Antiterrorkonvention; Art. 18 I Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention; Art. 11 Nuklearterrorismuskonvention; Art. IV SAARC-Antiterrorkonvention; Art. 8 IV Afrik. Antiterrorkonvention; Art. 12 UN-Antisöldnerkonvention; Art. XIII § 6 Inter-American Convention against Corruption; Art. 27 V Europ. Korruptionskonvention; Art. 6 IX UN-Antidrogenkonvention; Art. 7 I UN-Folterkonvention; Art. 5 S. 1 OAS-Diplomatenschutzkonvention; Art. 10 I Terrorismusfinanzierungskonvention; Art. 10 III 2 OECD-Korruptionskonvention; Art. 15 VI Afrik. Korruptionskonvention; Art. 17 I 2. Zusatzprotokoll zur Kulturgüterschutzkonvention; Art. 44 XI S. 2 UN-Korruptionskonvention; Art. 24 VI 1 Europ. Konvention gegen Cyberkriminalität; Art. 16 X UN-Konvention gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität; Art. 5 V Zusatzprotokoll betreffend Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie zur Kinderrechtskonvention. 172 Art. 6 II EurAuslÜbk.; ähnl. Art. 14 OAS-Folterkonv.; Art. VI OAS-Konv. gegen Verschwindenlassen. 173 Art. 49 II GK I, 50 II GK II, 129 II GK III, 146 II GK IV. 174 Art. 9 III Afrik. Antisöldnerkonv. 175 Art. 9 I Convention on the Suppression of the Traffic in Persons. 176 Art. 8 Inter-American Convention on Extradition; ähnl. Art. 36 II a.) iv.) Suchtstoffeeinheitsübereinkommen; Art. 22 II a.) iv.) Konvention über psychotrope Stoffe. 177 Art. 6 lit. h.) Arab. Antiterrorkonv.; ähnl. Art. 6 Nr. 8 OIC-Antiterrorkonv. 169
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
dies wohl in praktisch jedem Strafrechtssystem zunächst eine Befassung der Anklagebehörde mit dem Fall voraus. „Iudicare“ heißt also zunächst: Den Sachverhalt der Anklagebehörde – in Deutschland der Staatsanwaltschaft – mitteilen. Formulierungen einzelner Verträge, dies müsse „ohne unangemessene Verzögerung“ erfolgen,179 bringen wohl nur deklaratorisch zum Ausdruck, was allgemein Gebot einer treugemäßen Vertragserfüllung ist, denn wie die Erfüllung jeder anderen Vertragsverpflichtung, darf natürlich auch das „iudicare“ nicht grundlos verzögert werden.180
III. Einstellung oder Anklageerhebung: die verfahrensabschließende Entscheidung der nationalen Strafverfolgungsbehörde Wie müssen nun die Strafverfolgungsbehörden entscheiden, wenn ihnen der Sachverhalt unterbreitet wurde? Dürfen sie das Verfahren einstellen, oder bedeutet „iudicare“, dass zwingend Anklage erhoben werden muss, um den „iudex“ über den Fall entscheiden zu lassen? 1. Entscheidung unter dem Regime der Verträge, die „to submit the case to its competent authorities for the purpose of prosecution“ mit einer Pflicht der Strafverfolgungsbehörde „to take [its] decision in the same manner as in the case of any [in einigen Verträgen: ordinary] offence of a serious nature under the law of that State“ kombinieren a) Der Grundsatz Bezüglich der in der Masse der Verträge zur Umschreibung des „iudicare“ anzutreffenden Wendung „to submit the case to its competent authorities for the purpose of prosecution“ ist man sich einig: Es handelt sich nicht um eine Aburteilungsverpflichtung im Wortsinne, also nicht um eine 178
Art. 8 I, 9 I Falschmünzerkonvention von 1929. So Art. 7 UN-Diplomatenschutzkonvention; Art. 10 Konvention zum Schutz von Nuklearmaterial; Art. 14 UN-Personalsicherheitskonvention; Art. 8 I Sprengstoffattentateübereinkommen; Art. 10 I Terrorismusfinanzierungskonvention; Art. 11 Nuklearterrorismuskonvention; Art. 7 Europ. Antiterrorkonvention; Art. 18 I Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention; Art. IV SAARC-Antiterrorkonvention; Art. 17 I 2. Zusatzprotokoll zur Kulturgüterschutzkonvention; Art. 15 VI Afrik. Antikorruptionskonv.; Art. 44 XI UN-Korruptionskonvention; Art. 16 X UN-Konvention gegen org. grenzüberschreitende Kriminalität. 180 So auch Wood, ICLQ 1974, S. 791 (811). 179
C. Was bedeutet „iudicare“?
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Pflicht zur Herbeiführung eines Gerichtsurteils.181 „Iudicare“ ist hier keine Pflicht zur Herbeiführung eines bestimmten Entscheidungsergebnisses, sondern nur eine Pflicht zur Herbeiführung einer Entscheidung überhaupt, denn notwendig, aber auch ausreichend ist, dass die nationalen Strafverfolgungsbehörden – und nicht etwa andere staatliche Stellen, wie beispielsweise Polizei oder Regierung182 – eine Entscheidung über die Anklageerhebung treffen.183 Wie diese Entscheidung zu lauten hat, ist dagegen völkerrechtlich nicht mehr vorgeschrieben.184 Israel versuchte auf der Montrealer Konferenz vergeblich, durch striktere Formulierungen die volle Durchführung eines Strafverfahrens zur Pflicht zu machen. Seine Anregung, das „iudicare“ mit „shall prosecute and punish, without ever being allowed immunity“ zu umschreiben, wurde mit deutlichen 35 zu 2 Stimmen bei 6 Enthaltungen zugunsten der „weicheren“ Haager Formulierung abgelehnt.185 Jedoch wird in vielen Verträgen eine Leitlinie für die Art und Weise der Entscheidungsfindung genannt. Es heißt dort: „Those authorities shall take their decisions in the same manner as in the case of any ordinary offence of a serious nature under the law of that State.“186 Diese Klausel, die we181 Vgl. zur Haager Konvention Guillaume, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 531 f.; Bassiouni/Wise, S. 4; zur Europ. Antiterrorkonvention Vallée, AFDI 1976, S. 756 (778); Lowe/Young, NILR 1978, S. 305 (330); zur UN-Geiselnahmekonvention Platz, ZaöRV 1980, S. 276 (293); zur Schifffahrtssicherheitskonvention Francioni, GYBIL 31 (1988), S. 263 (284); allgemeiner zum „aut dedere – aut iudicare“ Labayle, in: Higgins/Flory, S. 185 (189); Murphy, Punishing, S. 10; Cheng, in: FS Schwarzenberger, S. 25 (37). 182 Guillaume, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 531 f.; ders., RdC 1989 III, S. 287 (369 f.). 183 Vgl. Labayle, in: Higgins/Flory, S. 185 (189); Murphy, Punishing, S. 10. 184 Vgl. hierzu auch die entstehungsgeschichtlich aufschlussreiche Passage im Kommentar der ILC zum Entwurf der UN-Diplomatenschutzkonvention: „As the article is drafted, it is clear that no obligation is created thereunder to punish or to conduct a trial. The obligation of the State where the alleged offender is present will have been fulfilled once it has submitted the case to its competent authorities, which will, in most States, be judicial in character, for the purpose of prosecution. It will be up to those authorities to decide whether to prosecute or not, subject to the normal requirement of treaty law that the decision has to be taken in good faith in the light of all circumstances involved. The obligation of the State party in such case will be fulfilled under the article, even if the decision which those authorities may take is not to commence criminal trial proceedings.“ (YBILC 1972, II, S. 309 [318]). 185 Vgl. ICAO Doc. 9081-LC/170-1, S. 63. 186 So oder mit nur unbedeutenden Abweichungen Art. 7 S. 2 Haager Konvention; Art. 7 S. 2 Montrealer Konvention; Art. 8 I 2 UN-Geiselnahmekonvention; Art. 10 I 2 Schifffahrtssicherheitskonvention; Art. 14 S. 2 UN-Personalsicherheitskonvention; Art. 8 I 2 Sprengstoffattentateübereinkommen; Art. 10 I 2 Terrorismusfinanzierungskonvention; Art. 11 I 2 Nuklearterrorismuskonvention; Art. 7 II 1 UNFolterkonvention; ähnl., aber ohne das Wort „ordinary“ Art. 7 S. 2 Europ. Antiter-
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
gen ihres erstmaligen Auftretens in der Haager Konvention im Folgenden „national treatment standard nach Haager Art“ genannt werden soll, räumt der nationalen Strafverfolgungsbehörde einerseits Entscheidungsspielräume ein, schränkt diese aber andererseits wiederum selbst ein. Die Anklagebehörde hat nämlich einerseits dieselbe Entscheidungsfreiheit wie in einem Fall von gewöhnlicher – will heißen: nichtpolitischer – nationaler Schwerkriminalität, andererseits aber auch nicht mehr.187 Eine ganze Reihe von Nichtverfolgungsentscheidungen sind somit unproblematisch, da sie im Recht nahezu jedes Zufluchtsstaates auch bei gewöhnlicher Schwerkriminalität vorgesehen sein dürften: etwa wegen mangelnden Tatverdachtes188, aus humanitären Gründen189, in Anwendung einer Kronzeugenregelung190 und wohl auch im Rahmen eines „deals“ mit dem Täter oder seinen Gesinnungsgenossen, um das Leben von Geiseln zu schützen.191 rorkonvention; Art. 18 I 2 Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention; Art. IV a. E. SAARC-Antiterrorkonvention; Art. 12 UN-Antisöldnerkonvention; Art. 16 X 2 UNKonvention gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität; Art. 44 XI 2 UNKorruptionskonvention; ähnl., aber ohne das Wort „ordinary“ und von „comparable“ statt von „serious“ „nature“ sprechend, Art. 24 VI 2 Europ. Konv. gegen Cyberkriminalität. Es sollte betont werden, dass dieser „national treatment standard nach Haager Art“ kein zwingendes Merkmal des Haager „aut dedere –aut iudicare“-Modells ist: In der UN-Diplomatenschutzkonvention, der Afrik. Antiterrorkonvention, der Konvention zum Schutz von Kernmaterial und im 2. Zusatzprotokoll zur Kulturgüterschutzkonvention fehlt sie, obwohl das „aut dedere – aut iudicare“ dort im Übrigen dem Haager Vorbild folgt; in einigen der oben genannten Verträge ist sie vorhanden, obwohl diese ansonsten deutlich vom Haager Modell abweichen (vgl. zur Einordnung der einzelnen Verträge oben, 3. Kapitel A.). Ferner formulieren die insgesamt nicht dem Haager Modell zuzurechnenden amerik., europ., afrik. und OECD-Korruptionskonventionen, die UN-Antidrogenkonvention, das Zusatzprotokoll betreffend Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie zur Kinderrechtskonvention sowie die OAS-Diplomatenschutzkonvention das „iudicare“ in der oben genannten Weise, ohne es mit einem „national treatment standard nach Haager Art“ zu verbinden. 187 Lambert, Hostages, S. 201. 188 Murphy, Punishing, S. 13; Lambert, Hostages, S. 202. 189 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass nach der Beendigung des (zugegebenermaßen Auslieferungs-)Verfahrens gegen Pinochet aus gesundheitlichen Gründen am 02.03.2000 die antragstellenden Staaten am 13.03.2000 auf diplomatische Proteste verzichteten (vgl. die Chronik des Pinochetfalles bei Tangermann, S. 244 f.). 190 Lambert, Hostages, S. 202. 191 Vgl. auch Lambert, Hostages, S. 172; Pancracio, AFDI 1985, S. 221 (229 f.). An Staatenpraxis sind hierzu v. a. die Fälle Leila Khalid, Achille Lauro sowie der Umgang Algeriens mit den Entführern eines kuwaitischen Flugzeuges im Jahre 1988 anzuführen. Als die palästinensische Luftpiratin Leila Khalid 1970 von Gesinnungsgenossen mittels weiterer „Hijackings“ erfolgreich aus brit. Haft freigepresst wurde, schien das „Nachgeben“ des Vereinigten Königreichs in der Staatengemeinschaft weitgehend akzeptiert zu werden (vgl. Cheng, in: FS Schwarzenberger, S. 25
C. Was bedeutet „iudicare“?
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b) Sonderproblem Opportunitätsprinzip Was aber ist mit einer Nichtverfolgung, die aus „Opportunitätsgründen“ erfolgt, obwohl die Beweislage gut ist und auch keiner der anderen oben genannten Umstände vorliegt? Ist auch sie noch völkerrechtsgemäß? Dieses Problem wird nicht nur in Staaten virulent, deren Strafprozessrecht grundsätzlich dem Opportunitätsprinzip folgt. Auch im deutschen Recht, das bekanntlich vom Legalitätsprinzip ausgeht,192 wird der Staatsanwaltschaft in § 153c Absatz 1 Nr. 1 StPO bei der Verfolgung von Auslandstaten – um die es beim „aut dedere – aut iudicare“ geht – ein Ermessen eingeräumt. Lediglich für Taten nach dem Völkerstrafgesetzbuch gilt seit dem Jahre 2002 eine Verfolgungspflicht nach § 153f Absatz 1 StPO, wenn der Täter sich in Deutschland aufhält.193 Dies betrifft von den Straftaten, für die nach den Ergebnissen des 3. Kapitels ein für Deutschland verbindliches „aut dedere – aut iudicare“ besteht, aber „nur“ Kriegs- und Bürgerkriegsverbrechen sowie Folter, sofern sie sich zu einem „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ausgeweitet hat; in allen anderen „aut dedere – aut iudicare“-Konstellationen bleibt es beim Ermessen nach § 153c Absatz 1 Nr. 1 StPO. Hinsichtlich der Völkerrechtmäßigkeit solcher Ermessensspielräume der Anklagebehörde herrscht in der Literatur praktisch Einigkeit, dass das Opportunitätsprinzip nicht gegen die einschlägigen Verträge verstoße.194 Entstehungsgeschichtlich ist dies aber – entgegen einer teilweise geäußerten Ansicht195 – äußerst unklar. Die endgültige Fassung von Artikel 7 Haager Konvention – der ältesten Klausel dieser Art – wurde am frühen Morgen des letzten Konferenztages von den Vertretern der wichtigsten Staaten in informeller – und somit in ihrem Verlauf nicht dokumentierter – Runde ausgehandelt.196 Als sie den übrigen Konferenzteilnehmern präsentiert wurde, schlug Chile ohne Erfolg eine Änderung vor, die die Zulässigkeit des Opportunitätsprinzips deutlicher machen sollte. Zwar ist es richtig, dass die [38]). Dagegen wurde der von Ägypten mit den „Achille Lauro“-Entführern zur Beendigung der Geiselnahme eingefädelte „deal“ zwar von Italien und der Bundesrepublik Deutschland befürwortet, aus den USA kamen aber scharfe Proteste [vgl. oben, 3. Kapitel B. I. 2. a) aa) (4)]. Kuwait wiederum hatte sich bei Algerien sogar bedankt, als dieses zum Schutz der Passagiere den Hijackern freies Geleit gewährte [vgl. oben 3. Kapitel B. I. 2. a) ee)]. 192 Vgl. Pfeiffer, StPO, § 152 Rn. 2; KK-Schoreit, § 152 Rn. 13. 193 Vgl. KK-Schoreit, § 153f, Rn. 2. 194 Vgl. für die Haager Konvention Guillaume, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 531 f.; ders,. AFDI 1970, S. 35 (51 f.); für die Europ. Antiterrorkonv. Vallée, AFDI 1976, S. 756 (777); allgemeiner Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (369 f.). 195 Vgl. Guillaume, AFDI 1970, S. 35 (52 Fn. 52). 196 Vgl. zur Entstehung der Vorschrift Cheng, in: FS Schwarzenberger, S. 25 (36 f.).
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
britischen und sowjetischen Delegationen in der überaus kurzen Aussprache eine Änderung als überflüssig bezeichneten, da das Opportunitätsprinzip auch nach der momentanen Fassung mit der Konvention vereinbar sei, aber jedenfalls der rumänische Delegierte schien Artikel 7 eher im Sinne des Legalitätsprinzips zu verstehen, wie sein Satz „[i]t would be for the courts to take a decision“ vermuten lässt.197 Dennoch: Wo die Strafverfolgungsbehörden gemäß ihrem Strafprozessrecht bei gewöhnlicher nationaler Schwerkriminalität aus Opportunitätsgründen von einer Anklage absehen dürfen, dürfen sie dies bei Anwendung der „aut dedere – aut iudicare“-Verträge mit „national treatment standard nach Haager Art“ angesichts des klaren Wortlauts der Bestimmung ebenfalls. Denn sie entscheiden ja auch dann „as in the case of any ordinary offence of a serious nature under the law of that State.“ Problematischer ist dagegen die deutsche Lösung eines Opportunitätsprinzips nur für – nicht dem Völkerstrafgesetzbuch unterfallende – Auslandstaten. Zwar spricht der „national treatment standard nach Haager Art“ nicht ausdrücklich davon, dass die Tat wie ein auf dem Gebiet des Zufluchtsstaates begangenes Verbrechen behandelt werden muss, sondern bezieht sich nur auf eine Straftat schwerer Art „under the law of that State“. Dennoch: Üblicherweise erstreckt sich das Strafrecht eines Staates in erster Linie auf in seinem Territorium begangene Taten; mit solchen Taten haben es die nationalen Strafverfolgungsbehörden meistens zu tun. Es liegt also nahe, Artikel 7 Haager Konvention als ein Verbot jeder Art von Sonderbehandlung im Vergleich zur normalen Vorgehensweise der Strafverfolgungsbehörden zu interpretieren, mit dem unterschiedliche Verfolgungsmaßstäbe für In- und Auslandstaten unvereinbar sind. Dies wäre auch vor dem Hintergrund des vielen „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen zugrundeliegenden Weltgemeinschaftsgedankens stimmig: dessen Quintessenz ist gerade, dass der Zufluchtsstaat als Teil einer „Weltgemeinschaft“ von bestimmten schweren Auslandstaten ebenso betroffen ist, wie er es sonst nur bei auf seinem Territorium verübten Straftaten ist. Damit kann § 153c Absatz 1 Nr. 1 in Fällen, die von einem „national treatment standard nach Haager Art“ geregelt werden, nicht ohne Völkerrechtsverstoß angewandt werden.198 197
Zum ganzen Vorgang vgl. ICAO Doc. 8979-LC/165-1, S. 180 f. Laut einer dem Verfasser erteilten Auskunft des Bundesjustizministeriums vom 22.06.2004, interpretiert auch die Bundesregierung die hier „national treatment standard nach Haager Art“ genannten Regelungen aufgrund ihres Wortlauts und telos in dem Sinne, dass sie die Gleichstellung von Aus- mit Inlandstaten fordern. Deshalb betrachtet auch sie das durch § 153c I StPO eingeräumte Ermessen in diesen Fällen als „in der Regel auf Null reduziert“; ein Absehen von Strafverfolgung allein wegen des ausländischen Tatortes sei nicht zulässig. (Schreiben des Bundes198
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Im Ergebnis dürfte es aber kaum eine Rolle spielen, ob ein Staat dem Opportunitätsprinzip oder dem Legalitätsprinzip folgt, denn wird die Opportunitätsentscheidung gemäß den Maßstäben des „national treatment standard nach Haager Art“ gefällt, scheiden – wie im Folgenden gezeigt werden wird – die meisten der sonst üblichen Nichtverfolgungsgründe aus. Ausgangspunkt für die „Opportunitätsentscheidung“ der Anklagebehörde ist wohl nach nahezu allen Strafprozessrechten das öffentliche Interesse an der Verfolgung der Tat.199 Dieses kann vor allem aus drei hier interessierenden Gründen entfallen: wegen der Geringfügigkeit der Straftat, wegen des ausländischen Tatortes, wegen der bei einer Strafverfolgung drohenden innenoder außenpolitischen Nachteile.200 Keiner dieser Gründe darf aber bei einer am „national treatment standard nach Haager Art“ orientierten Entscheidungsfindung eine Rolle spielen. Betrachten wir zunächst das Geringfügigkeitsargument: Der Zufluchtsstaat wird durch Vorschriften wie Artikel 7 Haager Konvention ausdrücklich verpflichtet, wie im Falle eines „offence of a serious nature“ vorzugehen. Ist eine Tat aber „of a serious nature“, ist sie per Definition kein Bagatelldelikt, bei dem schon allein wegen des geringen Unrechts kein öffentliches Strafverfolgungsinteresse besteht.201 Nicht günstiger sieht es für die Verneinung des Strafverfolgungsinteresses des Zufluchtsstaates wegen des ausländischen Tatortes aus, denn gefordert ist – wie soeben bereits erörtert – eine Gleichbehandlung mit Inlandstaten. Betrachten wir schließlich den letzten denkbaren Einstellungsgrund: Gerade bei terroristischen Straftaten, aber auch bei Folter oder Kriegs- und Bürgerkriegsverbrechen, könnten die Strafverfolgungsbehörden der Ansicht sein, der bei einer Anklageerhebung ihrem Staat drohende (innen- oder außen-) politische Schaden überwiege das Strafverfolgungsinteresse. Hier schiebt aber die Formulierung „ordinary offence“ im „national treatment standard nach Haager Art“ einen Riegel vor,202 denn sie und ihre französische Entministeriums der Justiz an den Verf. vom 22.06.2004, Gz II B 5-4208/21 – R 5–383/2003). 199 Vgl. zum Opportunitätsprinzip und dem „öffentlichen Interesse“ bspw. Erb, S. 265; KK-Schoreit, § 152 Rn. 22; Soyer, Droit Pénal et Procédure Pénale, § 660; Rassat, Procédure Pénale, § 275. 200 Vgl. auch den Überblick über die Opportunitätsregelungen der dt. StPO bei Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 333–343 sowie die Darstellung der französischen Praxis bei Meister, S. 71 ff. 201 Diese Erwägung gilt natürlich dort nicht, wo – wie in Art. 24 VI 2 Europ. Konv. gegen Cyberkriminalität – nur von „comparable“ statt von „serious“ „nature“ die Rede ist. 202 Wo das Wort „ordinary“ fehlt (vgl. oben Fn. 186) dürfen dagegen solche politischen Erwägungen im Rahmen der Strafverfolgung weiter angestellt werden. Die Fiktion der Tat als „nichtpolitisch“ gemäß Art. 1 der Europ. Antiterrorkonvention bzw. der SAARC-Antiterrorkonvention und Art. 20 I Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention gilt ausdrücklich nur „for the purposes of extradition“. Für die
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
sprechung „infraction de droit commun“ sind seit dem 19. Jahrhundert stehende Termini des Auslieferungsrechts, die den Gegensatz zum „political offence“ und „délit politique“ bilden. Auch die Entstehungsgeschichte der Haager Konvention bestätigt eindeutig, dass mit dieser Formulierung vor allem eins erreicht werden sollte: Die politischen Aspekte der Straftat – die nach den älteren Terrorismusverträgen im Rahmen des Auslieferungsverfahrens nach wie vor berücksichtigt werden dürfen203 – müssen im Strafverfahren außer Betracht bleiben.204 Somit können auch politische Erwägungen kein Absehen von Strafverfolgung begründen.205 Es bleibt also festzuhalten: Das Opportunitätsprinzip darf nach den hier untersuchten Verträgen nur in dem Umfang angewandt werden, in dem es das Recht des Zufluchtsstaates auch für Inlandstaten kennt. Die wichtigsten denkbaren Gründe für eine Nichtverfolgung aus Opportunitätsgründen scheiden aber auch dann durch den „national treatment standard nach Haager Art“ aus.206 Zu einem solchen Auslegungsergebnis passt gut, dass der Zwecke der Strafverfolgung findet sich in diesen Abkommen dagegen nirgends ein Verbot der Berücksichtigung politischer Umstände. 203 Zum Fortbestehen der „political offence exception“ nach den älteren Antiterrorverträgen vgl. Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1115. 204 Vgl. die diesbezüglichen Ausführungen der Delegierten Jugoslawiens, der VR Kongo und Kanadas in ICAO Doc. 8979-LC/165-1, S. 134 f.; ähnl. wohl auch die Bundesregierung in den Denkschriften an Bundestag und Bundesrat zur Haager Konvention und der Schifffahrtssicherheitskonvention (vgl. BT-Drs. VI/3272, S. 12; 11/4946, S. 27). Vgl. ferner die Proteste Italiens und des Vereinigten Königreiches gegen einen von Venezuela bzgl. Art. 7 Haager Konvention angebrachten Vorbehalt, mit dem sich Venezuela die Option der Nichtverfolgung aus politischen Gründen offen halten wollte (aufgeführt in der Fn. zu „Venezuela“ auf http://www.icao.int/ icao/en/leb/Mtl71.htm). 205 Künstlich erscheint dagegen die Unterscheidung von Guillaume, AFDI 1970, S. 35 (53), demzufolge Art. 7 S. 2 Haager Konvention zwar zur Einleitung eines Strafverfahrens ohne Rücksicht auf politische Umstände verpflichte, dessen anschließende ergebnislose Einstellung aus politischen Gründen aber nicht verbieten soll. Hierfür gibt es im Wortlaut keinerlei Anhaltspunkte: alle Entscheidungen der Strafverfolgungsbehörden sind wie im Falle eines gewöhnlichen Schwerverbrechens zu treffen. 206 Die teilweise harsche Kritik der Lit. an dem angeblich selbst willkürliche Verfahrenseinstellungen erlaubenden „aut dedere – aut iudicare“ (vgl. bspw. Murphy, Punishing, S. 10; Cheng, in: FS Schwarzenberger, S. 25 [37]; Francioni, GYBIL 31 [1988], S. 263 [284]) ist somit sicherlich weit überzogen. Nicht überzeugend ist auch, mit Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (369 f.) den „national treatment standard nach Haager Art“ als eine nicht entscheidende redaktionelle Nuance anzusehen. Seine Bedeutung wird wohl auch in den an Bundestag und Bundesrat gerichteten Denkschriften der Bundesregierung zu den entsprechenden Abkommen unterschätzt, wenn es dort etwa mit Bezug auf Art. 7 Haager Konvention, Art. 10 Schifffahrtssicherheitskonvention oder Art. 7 Europ. Antiterrorkonvention heißt, §§ 153 ff. StPO blieben „unberührt“ (vgl. BT-Drs. VI/3272, S. 12; 8/1204, S. 14; 11/4946,
C. Was bedeutet „iudicare“?
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Entwurf der ICAO, der die Entscheidungsspielräume der Anklagebehörde deutlicher betont hatte,207 von den Vertragsparteien nicht in die Haager Konvention übernommen wurde. Ohne Verfahrenseinstellungen völlig ausschließen zu wollen, kam es ihnen doch darauf an, durch einen etwas strikteren Wortlaut zum Ausdruck zu bringen, dass die Anklageerhebung den Regelfall darstellen muss.208, 209 2. Die Entscheidung unter dem Regime der Verträge, die von einer Strafverfolgung „if appropriate“ sprechen oder die zu 1. genannte Formulierung nicht mit einem „national treatment standard nach Haager Art“ verbinden Im Europäischen Auslieferungsübereinkommen und in den Konventionen der OAS gegen Folter beziehungsweise das Verschwindenlassen von Personen kommt dagegen die völkerrechtlich nahezu unbeschränkte Freiheit der Strafverfolgungsbehörden, über Anklage oder Nichtverfolgung zu entscheiden, ganz deutlich zum Ausdruck: Die Angelegenheit ist hier nur der zuständigen Behörde zu unterbreiten, damit diese über die „Angemessenheit“ einer Strafverfolgung entscheiden kann.210 Die Anklagebehörde darf S. 27 f.). Aus dem oben im Text Dargelegten ergibt sich aber, dass jedenfalls § 153 (Absehen von Strafverfolgung wegen Geringfügigkeit), § 153c (Absehen von Strafverfolgung wegen des ausländischen Tatortes) und – würde er sich nicht ohnehin nur auf Taten beziehen, die keinem „aut dedere – aut iudicare“ mit „national treatment standard nach Haager Art“ unterliegen – § 153d StPO nicht zum Zuge kommen können (für § 153c StPO entspricht dies gemäß einer Auskunft des Bundesjustizministeriums gegenüber dem Verfasser auch der aktuellen Rechtsauffassung der Bundesregierung [vgl. oben Fn. 198] und wird in der Denkschrift zu Art. 7 UN-Folterkonvention angedeutet [vgl. BT-Drs. 11/5459, S. 26]). Zutreffender bewertet dagegen Lambert, Hostages, S. 203 die Reichweite des Entscheidungsspielraums der Strafverfolgungsbehörde, wenn er in einer trotz überwältigender Beweislage und ohne humanitäre Verfahrenshindernisse getroffenen Nichtverfolgungsentscheidung ein prima facie treuwidriges Verhalten sieht. 207 Der ICAO-Vorschlag lautete: „The Contracting State which has taken measures pursuant to Article 6, paragraph 1 [der Ver.: die Festnahme des Verdächtigen] shall, if it does not extradite the alleged offender, be obliged to submit the case to its competent authorities for their decision whether to prosecute him.“ (vgl. ICAO Doc. 8979-LC/165-2, S. 17). 208 Ähnl. Guillaume, AFDI 1970, S. 35 (51). 209 Ein ganz ähnliches Ergebnis wird durch Art. 5 OECD-Konvention gegen Korruption erreicht, demzufolge das Strafverfahren nach den „geltenden Regeln und Grundsätzen der jeweiligen Vertragspartei“ unter Ausschluss „von Erwägungen nationalen wirtschaftlichen Interesses, der möglichen Wirkung auf Beziehungen zu einem anderen Staat oder der Identität der beteiligten [. . .] Personen [. . .]“ durchzuführen ist. 210 Vgl. die oben bei Fn. 172 angeführten Vertragsnormen.
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
und muss also selbst bestimmen, ob in einem konkreten Fall die Verfolgung des Täters „appropriate“ ist.211 Nicht viel stärker wird sie in ihrer Entscheidungsfreiheit durch die UN-Diplomatenschutzkonvention, die Afrikanische Antiterrorkonvention, die Konvention zum Schutz von Kernmaterial, das 2. Zusatzprotokoll zur Kulturgüterschutzkonvention, die amerikanischen, europäischen und afrikanischen Korruptionskonventionen,212 die UNAntidrogenkonvention, das Zusatzprotokoll betreffend Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie zur Kinderrechtskonvention sowie die OAS-Diplomatenschutzkonvention eingeschränkt, denn obwohl das „iudicare“ von ihnen in der unter 1. erörterten, etwas strikteren Weise formuliert wird, fehlt dennoch der letztlich für die Einschränkung des Ermessens der Anklagebehörde entscheidende „national treatment standard nach Haager Art“. Bei den OAS-Konventionen wird dies allerdings durch die Forderung nach einer Strafverfolgung „as if the crime had been comitted within its [des Zufluchtsstaates] territory“213 teilweise kompensiert, die zwar nicht ein Absehen von Verfolgung aus politischen Gründen oder wegen des Vorliegens eines Bagatellfalls ausschließt, aber jede Sonderbehandlung wegen des ausländischen Tatortes. 3. Die Entscheidung unter dem Regime strikter formulierter Verträge Dagegen scheinen die Artikel 8 und 9 Falschmünzerkonvention von 1929 mit ihrem „doivent être punis“ unter allen Umständen eine Bestrafung des Verdächtigen zu verlangen, die Genfer Konventionen mit ihrem „[to] bring such persons [. . .] before its [. . .] courts“214 immerhin noch eine Entscheidung des Richters. Letzteres ergibt sich auch aus den Formulierungen, mit denen die Afrikanische Antisöldnerkonvention, die Convention on the Suppression of the Traffic in Persons, das Suchtstoffeeinheitsübereinkommen, die Konvention über psychotrope Stoffe, die Inter-American Convention on Extradition sowie die Antiterrorkonventionen der Arabischen Liga und der OIC das „iudicare“ umschreiben: Das dort verwendete englische Wort „to prosecute“215 bedeutet nämlich „to bring a criminal charge against some211 Vgl. auch Pappas, Stellvertrtende Strafrechtspflege, S. 123; Conseil de l’Europe, Rapport explicatif sur la Convention européenne d’Extradition, Art. 6. 212 Dagegen schränkt die OECD-Korruptionskonvention, die ebenfalls keinen „national treatment standard nach Haager Art“ enthält, den Entscheidungsspielraum der Strafverfolgungsbehörden auf andere Weise ein (vgl. oben Fn. 209). 213 Art. 14 S. 1 OAS-Folterkonvention; Art. 5 S. 1 OAS-Diplomatenschutzkonvention; ähnl. Art. VI S. 1 OAS-Konvention gegen Verschwindenlassen. 214 Siehe oben Fn. 173. 215 Siehe oben Fn. 174–177.
C. Was bedeutet „iudicare“?
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body in a court of law“.216 Dennoch: Aus den Gründen, die einem jeden rechtsstaatlichen Strafverfahren immanent sind, wird wohl auch hier ein Absehen von Strafverfolgung erlaubt sein. Es kann nicht ernsthaft angenommen werden, dass die Vertragsparteien mit den oben angeführten Formulierungen eine Anklage gegen – im Falle der Falschmünzerkonvention gar die Bestrafung von – beispielsweise nicht hinreichend tatverdächtige[n] oder schwerkranke[n] Personen vorschreiben wollten. Bei einigen der hier untersuchten Verträge wird der Entscheidungsspielraum der Anklagebehörde sogar extrem weit, wenn man nicht nur die Umschreibung des „iudicare“, sondern den Gesamtzusammenhang des Abkommens betrachtet. Da nach Artikel 36 Absatz 4 Suchtstoffeeinheitsübereinkommen, Artikel 22 Absatz 5 Konvention über psychotrope Stoffe und Artikel 12 Convention on the Suppression of Traffic in Persons die Strafverfolgung nur vorbehaltlich der innerstaatlichen Rechtvorschriften erfolgen muss, sind dort wohl alle im nationalen Recht des Zufluchtsstaates vorgesehenen Einstellungsgründe erlaubt. Ähnliches gilt auch nach der Inter-American Convention on Extradition und der Falschmünzerkonvention von 1929, wo von einer Strafverfolgung „as if the crime had been comitted within its territory“217 die Rede ist. Hier ist ebenfalls die Masse der im nationalen Strafprozessrecht vorgesehenen Nichtverfolgungsentscheidungen möglich, nämlich alle, die auch bei einer Inlandstat in Betracht kommen – aber auch nur jene. Wirklich „härter“ als bei den unter 1. erörterten Verträgen mit ihrem „national treatment standard nach Haager Art“ ist die Verfolgungspflicht somit wohl nur gemäß den Genfer Konventionen, der Afrikanischen Antisöldnerkonvention und den Antiterrorkonventionen der Arabischen Liga sowie der OIC, denn dort scheidet jedenfalls die nicht als immanente Schranke jeder rechtsstaatlichen Strafverfolgung anzusehende Nichtverfolgung aus Opportunitätsgründen aus. Rein vom Ergebnis her betrachtet ist der Unterschied zu den unter 1. erörterten Regelungen aber dennoch nicht allzu groß, da auch dort – wie oben dargelegt – Opportunitätserwägungen allenfalls äußerst selten ein Absehen von Strafverfolgung rechtfertigen können. 4. Der „national treatment standard nach Haager Art“ als Ausdruck des allgemeinen Grundsatzes von Treu und Glauben? Betrachtet man das Vorstehende nochmals im Überblick, so stellt man fest, dass die wichtigste und verbreitetste Einschränkung des Entscheidungsspielraumes der Anklagebehörde der „national treatment standard 216
Vgl. Cowie (Hrsg.), Oxford Advanced Learner’s Dictionary, 4. Aufl., Oxford
1989. 217 Art. 8 Inter-American Convention on Extradition; ähnl. Art. 8 und 9 Falschmünzerkonvention von 1929.
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
nach Haager Art“ ist. Es stellt sich nun die Frage, ob dieser nicht nur explizit formuliert, was Treu und Glauben ohnehin vom Zufluchtsstaat im Falle des „iudicare“ verlangen, so dass er letztlich auch im Rahmen jener Verträge zu beachten ist, in denen er nicht ausdrücklich normiert wurde? Dagegen spricht, dass die Vertragsparteien jedenfalls bei einigen Verträgen durchaus bewusst auf eine solche Regelung verzichtet haben. Bei der Ausarbeitung des Europäischen Auslieferungsabkommen wurde schon die Aufnahme eines „einfachen“ „national treatment standards“, der eine „procedure which would be followed if the offence had been committed on its own territory“ vorgeschrieben hätte, von der Mehrheit der Staaten als nicht wünschenswert zurückgewiesen.218 Und auch die ILC rückte im Entwurf zur UN-Diplomatenschutzkonvention bewusst vom „national treatment standard nach Haager Art“ ab: Es sei „beyond the scope of the present draft [. . .] to provide for specific requirements as to the manner in which those authorities should exercise their functions under internal law“. Deshalb bevorzugte man bewusst die schwächere Formulierung „proceedings in accordance with the laws of that State“.219 Andererseits bringt gerade die ILC auch den Gedanken ins Spiel, Treu und Glauben als eine Grenze für den Entscheidungsfreiraum der Strafverfolgungsbehörde anzusehen.220 Und namhafte Kommentare zu Abkommen ohne jegliche ausdrückliche Gleichbehandlungspflicht sehen dort zumindest einen einfachen „national treatment standard“ wohl als implizit enthalten an.221 Eine solche Pflicht, nicht schon allein wegen des ausländischen Tatortes von Strafverfolgung abzusehen, mag – sofern sich nicht, wie beim Europäischen Auslieferungsübereinkommen, ein gegenteiliger Wille der Vertragsparteien deutlich aus den travaux préparatoires ergibt – durchaus Ausdruck des Grundsatzes von Treu und Glauben sein. Ansonsten wäre die Gefahr zu groß, 218 Zu diesem Vorgang vgl. Conseil de l’Europe, Rapport explicatif sur la Convention Européenne d’Extradition, Art. 6. 219 YBILC 1972, II, S. 309 (318 f.). A. A. Wood, ICLQ 1974, S. 791 (811), der den vollen Regelungsgehalt von Art. 7 S. 2 Haager Konvention in die Formulierung „proccedings in accordance with the laws of that State“ aufgenommen sieht. 220 Vgl. das Zitat aus dem ILC-Kommentar zur UN-Diplomatenschutzkonvention in Fn. 184. 221 Vgl. zu Art. 6 III Auslieferungsabkommen Deutschland – Australien, 14.04.1987 (BGBl. 1987 II 111) – der Art. 6 II EurAuslÜbk. nachgebildet ist – Grützner/Pötz, II A 28, S. 21 Fn. 15: „Die Möglichkeit der Einstellung eines Ermittlungsverfahrens wird dadurch nicht ausgeschlossen. Der Umfang der Verfolgung von Straftaten, die dem Auslieferungsersuchen zugrunde lagen, soll nicht weiter reichen, als bei der Verfolgung von gleichartigen, im Hoheitsgebiet des ersuchten Staates begangenen Straftaten. Andererseits soll verhindert werden, dass eine Strafverfolgung nur deshalb unterbleibt, weil die Straftat im Ausland begangen wurde und deshalb kein eigenes unmittelbares Strafverfolgungsinteresse besteht.“
C. Was bedeutet „iudicare“?
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dass das „aut dedere – aut iudicare“ völlig leer liefe, denn da dieser Rechtssatz gerade hinsichtlich im Ausland begangener Straftaten gilt,222 läge ja in jedem Fall eines „iudicare“ ein Nichtverfolgungsgrund vor, wenn schon allein der ausländische Tatort ein solcher wäre. Der sehr strikt formulierte „national treatment standard nach Haager Art“, der eine Gleichbehandlung der Tat mit einem im Zufluchtsstaat begangenen „ordinary offence of a serious nature“ verlangt, wäre aber im Anwendungsbereich vieler „aut dedere – aut iudicare“-Verträge kaum sachgerecht. Einige von ihnen betreffen (auch) Straftaten, die selbst bei einem rein nationalen Sachverhalt wohl in keinem Staat als „offence of a serious nature“ angesehen würden, und von denen deshalb kaum anzunehmen ist, dass der Zufluchtsstaat sie allein deswegen, weil sie im Ausland begangen wurden, so behandeln soll. Auslieferungsverträge etwa erfassen häufig alle Straftaten, die in Tatort- und Zufluchtsstaat mit einer Höchststrafe von mindestens einem Jahr Freiheitsentzug bedroht sind.223 Anders als bei den meisten „international crime conventions“, kann innerhalb dieses weiten sachlichen Anwendungsbereichs durchaus ein Fall vorkommen, der auch unter Berücksichtigung von Treu und Glauben als eine keine Strafverfolgung erfordernde Bagatelle angesehen werden kann. Aber auch die zweite Stoßrichtung des „national treatment standard nach Haager Art“, die Pflicht, die „aut dedere – aut iudicare“-Tat als „ordinary offence“, also nichtpolitische Straftat zu behandeln, wäre im Anwendungsbereich einiger Verträge verfehlt, denn wo das „iudicare“ von vornherein nur eingreift, wenn das „dedere“ gerade am Prinzip der Nichtauslieferung eigener Staatsbürger scheiterte,224 entsteht im Falle einer vom Zufluchtsstaat als „politisch“ eingeschätzten Straftat schon gar keine Strafverfolgungspflicht, da dann ja nicht nur die Staatsangehörigkeit des Täters, sondern auch die „political offence exception“ Grund für die Nichtauslieferung war. Wenn das „iudicare“ aber ohnehin nur in von vornherein „nichtpolitischen“ Fällen eingreift, ist es völlig überflüssig, die Verfolgung „wie“ in einem nichtpolitischen Fall völkerrechtlich vorzuschreiben. Insofern ist es nur konsequent, dass die beiden einzigen Verträge, die das „iudicare“ auf die Nichtauslieferung eigener Bürger beschränken und dennoch eine Art „national treatment standard nach Haager Art“ vorsehen, aus diesem das Wort „ordinary“ vor „offence“ gestrichen haben.225 222
Vgl. oben, 1. Kapitel A. Zur Technik der Bestimmung des sachlichen Anwendungsbereichs in modernen Auslieferungsverträgen vgl. oben 3. Kap. Fn. 255. 224 Vgl. dazu bei den einzelnen Verträgen oben 3. Kapitel A. 225 Vgl. Art. 16 X 2 UN-Konvention gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität; Art. 44 XI 2 UN-Korruptionskonvention. 223
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
Der vor allem auf politisch motivierte Schwerstverbrechen zugeschnittene „national treatment standard nach Haager Art“ ist somit nicht gleichbedeutend mit dem, was Treu und Glauben ganz allgemein von einem „iudicare“ verlangen. Zwar ergeben sich sicherlich auch dort, wo genaue vertragliche Vorgaben fehlen, aus dem Grundsatz der Vertragserfüllung nach Treu und Glauben Grenzen für ein Absehen von Strafverfolgung, die aber mit Ausnahme von evidenten Missbrauchsfällen – etwa wenn ein Staat die „iudicare“-Pflicht völlig leer laufen lässt, in dem er regelmäßig allein deswegen, weil die Tat im Ausland begangen wurde, das Verfahren einstellt – kaum exakt zu bestimmen sein dürften.226, 227
226 Schon generell ablehnend zur Herleitung solcher Grenzen aus Treu und Glauben Stein, Auslieferungsausnahme, S. 165 f. 227 Inwieweit die „Asylklauseln“ einiger „aut dedere – aut iudicare“-Verträge zusätzliche Möglichkeiten zum Absehen von Strafverfolgung begründen, ist unklar. Solche Bestimmungen gibt es in zwei Varianten. Die erste ist häufig in Verträgen der OAS anzutreffen und lautet: „No provision of this Convention may be interpreted as limiting the right of asylum [ . . .]“ (so oder ähnlich Art. 7 OAS-Diplomatenschutzkonvention, Art. 15 OAS-Folterkonvention. Art. 6 Inter-American Convention on Extradition). In universell angelegten Verträgen findet sich dagegen nur in Art. 12 UN-Diplomatenschutzkonvention und Art. 15 UN-Geiselnahmekonvention eine Asylklausel, die folgendermaßen lautet: „The provisions of this Convention shall not affect the application of the Treaties of Asylum in force at the date of the adoption of this Convention, as between the States which are parties to those treaties; but a State Party to this Convention may not invoke those treaties with regard to another State Party to this Convention, which is not a party to those Treaties.“ Die Literatur und ein Teil der Staaten sind der Ansicht, dies beträfe nur die Auslieferung, erlaube dem Zufluchtsstaat aber keine Abstriche beim „iudicare“ (so Lambert, Hostages, S. 339 f.; Platz, ZaöRV 1980, S. 276 [296 f.] und Shubber, BYBIL LII [1981], S. 205 [234 f.] sowie die dort zitierten Staaten), während andere Staaten dies anders sehen (vgl. die Erklärung des Delegierten Lesothos bei der Ausarbeitung der UN-Geiselnahmekonvention: „[das Asylrecht gebe] sovereign States full latitude in cases where – for political reasons for exemple – they could not extradite or prosecute a person [. . .]“ [abgedruckt bei Shubber, BYBIL LII (1981), S. 205 (218), Hervorhebung nicht im Original]). Dieser Streit ist angesichts der Kürze des Vertragstextes und der Mehrdeutigkeit der Entstehungsgeschichte kaum objektiv zu entscheiden. Um so wichtiger ist es, dass der Anwendungsbereich der Asylklauseln der beiden UN-Verträge äußerst beschränkt ist: Anders als das OAS-Modell gewährleisten sie nicht die Unantastbarkeit des Asylrechts schlechthin, sondern beschränken sich darauf, zwischen den Vertragsparteien bereits bestehende Asylverträge in deren Verhältnis zueinander unberührt zu lassen. Letztlich wird damit nur der lex posterior Grundsatz abbedungen, nach dem zwischen diesen Staaten die jüngeren UN-Konventionen den älteren Asylvertrag verdrängen würden.
C. Was bedeutet „iudicare“?
391
IV. Die Rechte des Beschuldigten Die „aut dedere – aut iudicare“-Verträge enthalten aber nicht nur Bestimmungen, die eine unnachsichtige Strafverfolgung sicherstellen wollen, sondern auch solche, die die Rechte des Täters im Strafverfahren schützen. Vor allem zwei Arten von Garantien lassen sich hier unterscheiden: zum einen konsularische Betreuungsrechte seines Heimatstaates, die grosso modo denen aus Artikel 36 WKRK entsprechen,228 zum anderen „fair trial“-Garantien. Hinsichtlich der letztgenannten ist die detaillierte Regelung der Genfer Konventionen, die dem mutmaßlichen Kriegsverbrecher die gleichen Rechte zugestehen, die nach Artikel 105 ff. Genfer Konvention III auch ein Kriegsgefangener im Falle eines Strafverfahrens besitzt,229 aber die Ausnahme geblieben. Meist wird dem Verdächtigen nur ganz allgemein eine „faire Behandlung“ zugesichert.230 Die Bedeutung dieser knappen Wendung ist etwas unscharf.231 Ob sie so verstanden werden kann, als sollten die umfangreichen und sehr detaillierten Prozessgarantien des Artikels 14 IPbpR insgesamt in die „aut dedere – aut iudicare“-Verträge inkorporiert werden,232 muss bezweifelt werden, denn unter den Parteien der „aut dedere – aut iudicare“-Verträge befindet sich immer noch eine große 228
Vgl. einerseits Art. 6 III Haager Konvention; Art. 6 III Montrealer Konvention; Art. 6 II UN-Diplomatenschutzkonvention; Art. 6 III, IV UN-Geiselnahmekonvention; Art. 7 III, IV Schifffahrtssicherheitskonvention; Art. 17 II UN-Personalsicherheitskonvention; Art. 7 III, IV Sprengstoffattentateübereinkommen; Art. 9 III, IV Terrorismusfinanzierungskonvention; Art. 10 III, IV Nuklearterrorismuskonvention; Art. 15 III, IV Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention; Art. 7 III, IV Afrik. Antiterrorkonvention; Art. 10 III UN-Antisöldnerkonvention; Art. 6 III UN-Folterkonvention und andererseits Art. 36 I lit. c.) und II WKRK. 229 Vgl. Art. 49 IV GK I; Art. 50 IV GK II; Art. 129 IV GK III; Art. 146 IV GK IV. 230 Vgl. Art. 4, 5 Satz 3 und 8 lit. c) der OAS-Diplomatenschutzkonvention; Art. 9 UN-Diplomatenschutzkonvention; Art. 8 II UN-Geiselnahmekonvention; Art. 12 Konvention zum Schutz von Nuklearmaterial; Art. 10 II Schifffahrtssicherheitskonvention; Art. 17 I UN-Personalsicherheitskonvention; Art. 7 III UN-Folterkonvention; Art. 14 Sprengstoffattentateübereinkommen; Art. 17 Terrorismusfinanzierungskonvention; Art. 12 Nuklearterrorismuskonvention; Art. 11 UN-Antisöldnerkonvention; Art. 17 II 2. Zusatzprotokoll zur Kulturgüterschutzkonvention; Art. 8 VI Fakultativprotokoll betreffend Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie zur Kinderrechtskonvention; Art. 14 Afrik. Antikorruptionskonvention (der gerade die Bedeutung der Af. Ch. MR. hervorhebt); sehr schwach allerdings Art. 11 Afrik. Antisöldnerkonvention, der nur eine im Vergleich zum normalen nationalen Strafprozessrecht schlechtere Behandlung verbietet. 231 Vgl. Lambert, Hostages, S. 204. 232 So etwa Costello, Journal of Int. Law and Economics 10 (1975), S. 483 (491 f.) mit Verweis auf YBILC 1972, II, S. 309 (320), wo die ILC im Kommentar ihres Entwurfes zur entsprechenden Regelung der UN-Diplomatenschutzkonvention eine kurze Referenz an Art. 14 IPbpR macht.
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
Anzahl von Staaten, die den IPbpR nicht ratifiziert haben und von denen nicht leichthin angenommen werden kann, sie hätten sich nun „durch die Hintertür“ doch an eine seiner wesentlichen Vorschriften binden wollen.233 Man kann nicht einseitig nur auf ein einziges, von einigen Parteien des betreffenden „aut dedere – aut iudicare“-Vertrages abgelehntes Menschenrechtsabkommen abstellen, um den Inhalt des „fair treatment“ zu ermitteln. Es ist wohl eher das weltweit breit konsentierte Schutzniveau, das sich aus dem „gemeinsamen Nenner“ des IPbpR und der wichtigsten regionalen Menschenrechtsverträge ergibt, das den Schöpfern der „aut dedere – aut iudicare“-Verträge vor Augen stand. Da dieser menschenrechtliche Standard aber in etwa mit dem gewohnheitsrechtlich ohnehin gebotenen zusammenfallen dürfte, haben die „fair treatment“-Garantien der „aut dedere – aut iudicare“-Verträge eher deklaratorischen Charakter. Das gleiche gilt für die oben angesprochenen konsularischen Garantien: Auch diese geben im Wesentlichen nur wieder, wozu der Zufluchtsstaat ohnehin aufgrund der WKRK und des Gewohnheitsrechts234 verpflichtet ist. In letzter Konsequenz heißt das, dass derjenige, der aufgrund eines „aut dedere – aut iudicare“-Vertrages ohne inkorporierte Verfahrensgarantien strafrechtlich verfolgt wird, im Ergebnis nicht schlechter steht als derjenige, der aufgrund eines „aut dedere – aut iudicare“-Vertrages mit solchen Garantien ins Visier der Sicherheitsbehörden gerät. Die ausdrückliche Aufnahme konsularischer und rechtsstaatlicher Garantien in „aut dedere – aut iudicare“-Abkommen ist also in erster Linie ein politisches Signal,235 dessen Bedeutung aber gerade angesichts bestimmter Fehlentwicklungen im modernen „war on terrorism“ nicht unterschätzt werden sollte: Es wird deutlich hervorgehoben, dass nicht nur die effiziente Verfolgung der Täter ein Anliegen der internationalen Gemeinschaft ist, sondern auch die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards ihnen gegenüber.
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Wie hier im Ergebnis auch Lambert, Hostages, S. 206. Zum Charakter der WKRK als Kodifikation von Gewohnheitsrecht vgl. Doehring, Rn. 502. 235 Ein rechtlicher Vorteil der ausdrücklichen Verankerung von „fair trial“- und Konsularrechtsgarantien in „aut dedere – aut iudicare“-Verträgen ist sicherlich, dass der Heimatstaat des Verdächtigen dann über die dort ebenfalls häufig enthaltenen Streitbeilegungsklauseln (vgl. unten Fn. 256) eventuelle Verstöße vor den IGH bringen kann (so Costello, Journal of Int. Law and Economics 10 [1975], S. 483 [491 f.]). Da zu diesen Streitbeilegungsklauseln aber fast immer ausdrücklich Vorbehalte zugelassen sind, ist die Zuständigkeit des IGH hier aus praktischer Sicht jedoch ähnlich fakultativ wie die Staatenbeschwerden zum Menschenrechtsausschuss nach Art. 41 IPbpR oder die Möglichkeit zur Anrufung des IGH nach dem Fakultativprotokoll zur WKRK. 234
C. Was bedeutet „iudicare“?
393
V. Ein eventuelles Urteil und sein Inhalt Wenn nun Anklage erhoben und ein Strafprozess durchgeführt wurde, so stellt sich die Frage, welche völkerrechtlichen Vorgaben für das Urteil bestehen. Eines ist eindeutig: Eine unbedingte Bestrafungspflicht kann es schon aus menschenrechtlichen Gründen nicht geben.236 Ein faires Verfahren – wie es neben dem Völkergewohnheitsrecht auch einige „aut dedere – aut iudicare“-Verträge ausdrücklich garantieren – setzt immer die Möglichkeit eines Freispruchs voraus. Auch dort, wo von „doivent être punis“ die Rede ist,237 wird implizit dem nationalen Gericht die Befugnis zugestanden, zuvor das Vorliegen der rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen der Bestrafung zu prüfen. Als Gründe für einen Freispruch kommen auf der Tatsachenebene erwiesene Unschuld und Mangel an Beweisen, auf der rechtlichen Ebene Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe wie Notwehr, Minderjährigkeit oder Geisteskrankheit in Betracht. Letztere sind im selben Maße anwendbar, wie das nationale Recht sie generell vorsieht.238 Allerdings wäre es zumindest dort, wo ein „national treatment standard“ vereinbart wurde, unzulässig, eigene Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe für die „aut dedere – aut iudicare“-Taten einzuführen. Kommt es zu einem Schuldspruch, so gibt es – wenn auch meist rudimentäre – völkerrechtliche Vorgaben für die zu verhängende Strafe: Diese muss nach den Vorschriften einiger „aut dedere – aut iudicare“-Verträge „schwer“239, „angemessen“240, „angemessen, die Schwere der Tat berücksichtigend“241 oder „wirksam, angemessen und abschreckend“242 sein. 236 Vgl. auch Platz, ZaöRV 1980, S. 276 (293); Stein, Auslieferungsausnahme, S. 166. 237 Art. 8, 9 Falschmünzerkonvention von 1929. 238 Vgl. Art. 19 Falschmünzerkonvention von 1929; Art. 12 Convention on the Suppression of Traffic in Persons; ferner Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (329). 239 So bspw. Art. 2 Haager Konvention; Art. 3 Montrealer Konvention; Art. 6 II OAS-Folterkonvention. 240 So bspw. Art. 49 I GK I; Art. 50 I GK II; Art. 129 I GK III; Art. 146 I GK IV; Art. 36 I a. E. Suchtstoffeeinheitsübereinkommen; Art. 22 I a. E, Konvention über psychotrope Stoffe; Art. 15 II 2. Zusatzprotokoll zur Kulturgüterschutzkonvention. 241 So bspw. Art. 2 II UN-Diplomatenschutzkonvention; Art. 2 UN-Geiselnahmekonvention; Art. 7 II Konvention zum Schutz von Nuklearmaterial; Art. 5 Schifffahrtssicherheitskonvention; Art. 9 II UN-Personalsicherheitskonvention; Art. 4 b.) Sprengstoffattentateübereinkommen; Art. 4 b.) Terrorismusfinanzierungskonvention; Art. 5 II Nuklearterrorismuskonvnetion; Art. 4 II UN-Folterkonvention; Art. 5 III UN-Söldnerkonvention; ähnl. Art. III § 1 OAS-Konv. gegen Verschwindenlassen; Art. 3 IV a) UN-Antidrogenkonvention. 242 So bspw. Art. 3 I OECD-Korruptionskonvention; Art. 19 I Europ. Korruptionskonvention; Art. 11 I Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention.
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
Diese Formulierungen haben alle gemeinsam, dass es nicht möglich ist, aus ihnen eine konkrete Strafe als völkerrechtlich geboten abzuleiten.243 Das Gericht bewahrt einen großen Entscheidungsspielraum.244 Die Strafe muss aber zumindest annähernd derjenigen entsprechen, die im jeweiligen Staat für vergleichbar schwere Straftaten droht.245 Auch hier ist wieder einmal eine Gleichbehandlung von „aut dedere – aut iudicare“-Taten mit rein nationaler Kriminalität gefordert, ein Grundsatz, der sich wie ein roter Faden durch die gesamte völkerrechtliche Regelung des „iudicare“ zieht. Konkretere Vorgaben sind bislang immer an der Unterschiedlichkeit der nationalen Strafrechte gescheitert.246 Als beispielsweise Österreich und Italien auf der Haager Konferenz die im jeweiligen nationalen Recht für versuchte vorsätzliche Tötungsdelikte vorgesehene Sanktion auch für Flugzeugentführung festschreiben wollten,247 wandten insbesondere Frankreich und Japan ein, dies zwänge sie zur Ausweitung der Todesstrafe.248 Da eine solche Rechtsfolge für die Mehrheit der Delegationen inakzeptabel war, wurde der Vorschlag abgelehnt.249 Anscheinend hatten die afrikanischen Staaten solche Skrupel nicht, als sie in Artikel 7 der Afrikanischen Antisöldnerkonvention „severest penalties [. . .], including capital punishment“ vorschrieben. Dass eine „angemessene“ oder „schwere“ Strafe im Bereich der „international crime conventions“ in aller Regel aber zumindest eine Freiheitsstrafe sein muss, dürfte wohl konsensfähig sein.250 Einzelne Verträge schreiben überdies in im Einzelnen jeweils an den geregelten Kriminalitätsbereich angepasster Weise vor, dass bestimmte Umstände strafschärfend wirken müssen, und andere wiederum nicht strafmildernd berücksichtigt werden dürfen.251 243
Vgl. zu Art. 4 II UN-Folterkonvention Burgers/Danelius, S. 129. Vgl. El Zein, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 587 f. Nach Stein, Auslieferungsausnahme, S. 166 sind diese Vorschriften deswegen sogar weitgehend wirkungslos. 245 So für die Folter auch Burgers/Danelius, S. 129. Art. 3 I 2 OECD-Korruptionskonvention schreibt sogar ausdrücklich vor, dass für die Bestechung ausländischer Amtsträger ein Strafrahmen gelten muss, der mit demjenigen für die Bestechung inländischer Amtsträger vergleichbar ist. 246 Guillaume, RdC 1989 III, S. 287 (328); ders., AFDI 1970, S. 45 f. 247 Vgl. ICAO Doc 8979-LC/165-1, S. 63. 248 Vgl. ICAO Doc 8979-LC/165-1, S. 65 und 68. 249 Vgl. ICAO Doc 8979-LC/165-1, S. 68. 250 So erwähnen bspw. Art. 36 I a. E. Suchstoffeeinheitsübereinkommen; Art. 22 I a. E. Konvention über psychotrope Stoffe; Art. 3 I OECD-Korruptionskonvention und Art. 19 I Europ. Korruptionskonvention die Freiheitsstrafe ausdrücklich als Beispiel für die geforderte Sanktion und auch auf der Haager Konferenz hatte der französische Delegierte unwidersprochen geäußert, die geforderte „schwere Strafe“ könne keinesfalls eine Geldstrafe sein (vgl. ICAO Doc 8979-LC/165-1, S. 65). 251 Vgl. bspw. Art. 36 II i.) und iii.) Suchtstoffeeinheitsübereinkommen; Art. 22 II lit. a.) i.) und iii.) Konvention über psychotrope Stoffe; Art. 3 V UN-Antidrogenkonvention. Ganz wichtig auch Art. 5 Sprengstoffattentateübereinkommen, Art. 6 244
C. Was bedeutet „iudicare“?
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Solche völkerrechtlichen „Strafzumessungsregeln“ sind ein lobenswerter Versuch, durch das Völkerrecht auf das Gerichtsurteil gegen den Täter stärker Einfluss zu nehmen, ohne die Ergebnisoffenheit des Strafverfahrens und die Eigenart der nationalen Strafrechtssysteme allzu sehr anzutasten.
VI. Die „Sicherung“ des „iudicare“: Informationspflichten, Streitbeilegung und Sanktionen Ein oft kritisierter Schwachpunkt des „aut dedere – aut iudicare“ ist, dass es angesichts des großen Entscheidungsspielraumes der Strafverfolgungsbehörden ganz auf den guten Willen der Justiz des Zufluchtsstaates angewiesen ist.252 Der Sicherung und Überwachung seiner ordnungsgemäßen Durchführung kommt deshalb große Bedeutung zu. Dennoch sind aufgrund des Widerwillens vieler Staaten gegen völkerrechtliche Kontroll- und Sanktionsmechanismen die Instrumente hierzu eher bescheiden geblieben. Die „aut dedere – aut iudicare“-Verträge sehen in erster Linie Informationspflichten vor. Der Zufluchtsstaat muss gleich zu Beginn des Verfahrens den direkt von der Tat betroffenen Staaten und dem Heimatstaat des Täters die Ergebnisse seiner vorläufigen Untersuchung, die zur Verhinderung der Flucht des Täters getroffenen Maßnahmen – allen voran die Anordnung von Untersuchungshaft – und seine eventuelle Absicht, selbst ein Strafverfahren durchzuführen, mitteilen;253 nach Abschluss des Verfahrens muss er bestimmten Staaten oder internationalen Organisationen über das Ergebnis Bericht erstatten.254 Die Hoffnung der Vertragsschöpfer war, dass ein Staat, Terrorismusfinanzierungskonvention und Art. 6 Nuklearterrorismuskonvention, wonach dem Täter seine politischen Motive nicht zum Vorteil gereichen dürfen. 252 Vgl. bspw. Freestone, in: Higgins/Flory, S. 43 (50 f.); Murphy, Punishing, S. 10; Costello, Journal of International Law and Economics 10 (1975), S. 483 (487); Cheng, in: FS Schwarzenberger, S. 25 (37). 253 Vgl. Art. 6 IV Haager Konvention; Art. 6 IV Montrealer Konvention; Art. 6 II, V UN-Geiselnahmekonvention; Art. 7 V Schifffahrtssicherheitskonvention; Art. 7 VI Sprengstoffattentateübereinkommen; Art. 9 VI 2 Terrorismusfinanzierungskonvention; Art. 10 VI Nuklearterrorismuskonvention; Art. 10 II, V UN-Antisöldnerkonvention; Art. 6 IV UN-Folterkonvention. Ähnl. aber, ohne eine Pflicht zur Mitteilung der Ergebnisse der Voruntersuchung Art. 6 I 2 UN-Diplomatenschutzkonvention; Art. 9 S. 2 Konvention zum Schutz von Nuklearmaterial; Art. 13 I 2 UN-Personalsicherheitskonvention; Art. VI SAARC-Antiterrorkonvention. Art. 14 II Inter-American Convention on Extradition enthält nur eine Pflicht zur Mitteilung der Festnahme. 254 Vgl. Art. 11 c) Haager Konvention; Art. 5 S. 2 OAS-Diplomatenschutzkonvention; Art. 13 c) Montrealer Konvention; Art. 11 UN-Diplomatenschutzkonvention; Art. 7 UN-Geiselnahmekonvention; Art. 14 II Konvention zum Schutz von Nuklearmaterial; Art. 15 I c) und II Schifffahrtssicherheitskonvention; Art. 18 UN-Personalsicherheitskonvention; Art. 16 Sprengstoffattentateübereinkommen; Art. 19
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
der wichtige Verfahrensschritte und den Verfahrensausgang auf internationaler Ebene offen legen muss, aus Furcht vor Protesten anderer Staaten und der öffentlichen Meinung ein effektives Strafverfahren durchführt.255 Die meisten „aut dedere – aut iudicare“-Verträge enthalten daneben auch Verfahren zur verbindlichen (schieds-)gerichtlichen Feststellung von Vertragsverstößen.256 Diese dürften ebenfalls eine gewisse „disziplinierende“ Wirkung gegenüber renitenten Zufluchtsstaaten haben, da die Gefahr besteht, sogar von neutraler Stelle vertragswidriges Verhalten öffentlich bescheinigt zu bekommen. Die fast durchweg vorgesehene und in der Staatenpraxis ausgiebig genutzte Möglichkeit zur Anbringung eines Vorbehaltes hinsichtlich der Streitbeilegungsmechanismen entwertet diese jedoch erheblich.257 Terrorismusfinanzierungskonvention; Art. 19 Nuklearterrorismuskonvention; Art. 14 UN-Antisöldnerkonvention; Art. 9 IV Afrik. Antisöldnerkonv.; Art. 14 S. 2 OASFolterkonvention; Art. VI 2 OAS-Konvention gegen Verschwindenlassen; Art. XIII Abs. 6 a. E. Inter-American Convention on Corruption; Art. 27 V a. E. Europ. Korruptionskonvention; Art. 6 II 3 EurAuslÜbk.; Art. 8 Inter-American Convention on Extradition; Art. 15 VIII Afrik. Antikorruptionskonvention; Art. 24 VI 1 Europ. Konvention gegen Cyberkriminalität; ähnl. Art. 20 VII Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention und nach in Kraft treten des Zusatzprotokolls auch Art. 16 III Europ. Antiterrorkonvention (allerdings nur, wenn die Auslieferung zuvor an einem Vorbehalt des Zufluchtsstaates zu Art. 20 I bzw. Art. 1 gescheitert war, nicht jedoch, wenn sie aus anderen Gründen unterblieb). 255 Vgl. Lambert, Hostages, S. 185. Die Pflicht, dem Heimatstaat des Täters dessen Inhaftierung anzuzeigen, soll überdies die konsularische Betreuung ermöglichen (vgl. Guillaume, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 531; Lambert, Hostages, S. 175 und 183). 256 Art. 12 I Haager Konvention; Art. 14 I Montrealer Konvention; Art. 13 I UNDiplomatenschutzkonvention; Art. 16 I UN-Geiselnahmekonvention; Art. 16 I Schifffahrtssicherheitskonvention; Art. 17 II Konvention zum Schutz von Nuklearmaterial; Art. 22 I UN-Personalsicherheitskonvention; Art. 20 I Sprengstoffattentateübereinkommen; Art. 24 I Terrorismusfinanzierungskonvention; Art. 23 I Nuklearterrorismuskonvention; Art. 17 I UN-Antisöldnerkonvention; Art. 30 I UN-Folterkonvention; Art. 10 Europ. Antiterrorkonvention; Art. 22 II Afrik. Antiterrorkonvention; Art. 22 Convention on the Suppression of the Traffic in Persons; Art. 48 II Suchstoffeeinheitsübereinkommen; Art. 31 II Konvention über psychotrope Stoffe; Art. 32 II UN-Antidrogenkonvention; Art. 66 II UN-Korruptionskonvention; Art. 35 II UN-Konvention gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität; Art. 40 II Europ. Korruptionskonvention; Art. 45 II Europ. Konvention gegen Cyberkriminalität. Daneben werden Art. 20 VIII Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention und Art. 16 VIII n. F. Europäische Antiterrorkonvention nach ihrem in Kraft treten dem Ministerkomitee des Europarates gewisse Überwachungsfunktionen gegenüber Staaten einräumen, die einen Vorbehalt nach Art. 20 I bzw. Art. 13 angebracht haben. 257 Vgl. die Vorbehaltsmöglichkeiten nach Art. 12 II Haager Konvention; Art. 14 II Montrealer Konvention; Art. 13 II UN-Diplomatenschutzkonvention; Art. 16 II UN-Geiselnahmekonvention; Art. 17 III Konvention zum Schutz von Nuklearmaterial; Art. 16 II Schifffahrtssicherheitskonvention; Art. 22 II UN-Personalsicherheits-
C. Was bedeutet „iudicare“?
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Ein Mechanismus zur Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegenüber Staaten, die ihren „aut dedere – aut iudicare“-Pflichten nicht ordnungsgemäß nachkommen, konnte dagegen noch bislang nicht geschaffen werden: Schon auf der Haager Konferenz selbst hat Costa Rica einen entsprechenden Vorschlag wieder zurückgezogen258 und auch auf einer weiteren ICAO-Konferenz zwei Jahre später scheiterten solche Versuche am Widerstand der Mehrzahl der Teilnehmer.259 Die führenden Industriestaaten nahmen daraufhin selbst das Heft in die Hand und drohten Ende der 1970er/ Anfang der 1980er Jahre in der „Bonner Erklärung“ und ihren Nachfolgedokumenten den Staaten, die Flugzeugentführern sichere Zuflucht gewähren, unilateral Sanktionen an.260 Allerdings liegen die beiden einzigen Fälle, in denen dies in die Tat umgesetzt wurde, schon einige Zeit zurück,261 und die Vereinbarkeit solcher unilateraler Sanktionsdrohungen mit den geltenden Luftverkehrsabkommen ist umstritten.262 Es gibt also konvention; Art. 20 II Sprengstoffattentateübereinkommen; Art. 24 II Terrorismusfinanzierungskonvention; Art. 23 II Nuklearterrorismuskonvention; Art. 17 II UNAntisöldnerkonvention; Art. 30 II UN-Folterkonvention; Art. 50 II Suchtstoffeeinheitsübereinkommen; Art. 32 II Konvention über psychotrope Stoffe; Art. 32 III UN-Antidrogenkonvention; Art. 66 III UN-Korruptionskonvention; Art. 35 III UNKonvention gegen organisierte grenzüberschreitende Kriminalität. Einzig die Europ. und die Afrik. Antiterrorkonvention, die Europ. Korruptionskonvention, die Europ. Konvention gegen Cyberkriminalität sowie die Convention on the Suppression of the Traffic in Persons sehen keine ausdrücklichen Vorbehaltsmöglichkeiten bzgl. der Streitbeilegungsmechanismen vor. Die Staaten, die solche Vorbehalte angebracht haben, sind nach Anzahl und Bedeutung keineswegs zu vernachlässigen: Von den 180 Parteien der Montrealer Konvention hatten am 01.08.2004 27 einen solchen Vorbehalt angebracht, von den 178 Parteien der Haager Konvention waren es 24 und von den 156 Parteien der UN-Diplomatenschutzkonvention 38, darunter jeweils so bedeutende Staaten wie Russland, China oder Indien. Streitigkeiten um die Erfüllung von „aut dedere – aut iudicare“-Pflichten waren deswegen bisher eine Seltenheit vor internationalen Gerichten. Soweit ersichtlich einziges Bsp. ist der so genannte Lockerbiefall, der jedoch noch vor einem Urteil zur Hauptsache außergerichtlich beigelegt wurde (vgl. zum Lockerbiefall oben, 3. Kapitel C. Fn. 908 und 911). 258 Vgl. ICAO Doc 8979-LC/165-1, S. 136 f. 259 Vgl. Philipp, JZ 1978, S. 750; Chamberlain, ICLQ 1983, S. 616 (625 f.). 260 Vgl. hierzu oben, 3. Kapitel B. I. 2. a) ee). 261 Die Bonner Erklärung wurde bisher nur 1981 gegenüber Afghanistan angewandt, ferner wurde ihre Anwendung im selben Jahr Südafrika angedroht (vgl. ILM 20 [1981], S. 956; Busuttil, ICLQ 1982, S. 474 [474 f.]). 262 Krit. Cheng, in: FS Schwarzenberger, S. 25 (47 f.); Busuttil, ICLQ 1982, S. 474 ff.; diff. Philipp, JZ 1978, S. 750 ff.; Chamberlain, ICLQ 1983, S. 616 (630 ff.). Bei der Durchführung der Sanktionen gegen Afghanistan 1981 gingen jedenfalls die Staaten, die mit Afghanistan ein bilaterales Luftverkehrsabkommen abgeschlossen hatten (Frankreich, Vereinigtes Königreich, Bundesrepublik Deutschland), vorsichtig vor und setzten die Sanktionsbeschlüsse erst nach der ordentlichen
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4. Kap.: Inhalt und Grenzen der Pflicht zum „iudicare“
jenseits des allgemeinen – und damit natürlich auch hier anwendbaren – Arsenals völkerrechtlicher Zwangsmittel263 keine besonderen Möglichkeiten, um eine Einhaltung des „aut dedere – aut iudicare“ wirksam durchzusetzen.264
VII. Der Inhalt des gewohnheitsrechtlichen „iudicare“ Die Staatenpraxis reicht nicht aus, um den Inhalt des „iudicare“ der wenigen gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“-Pflichten definitiv zu bestimmen. Betrachtet man die vorstehend gewonnenen Ergebnisse im Überblick, so stellt sich heraus, dass es trotz der auf den ersten Blick beträchtlichen Unterschiede doch viele Punkte gibt, in denen sich nahezu alle vertraglichen „aut dedere – aut iudicare“-Pflichten gleichen: Erfährt der Zufluchtsstaat von der Anwesenheit des Verdächtigen, muss er eine Voruntersuchung durchführen, redlich die in seinem Strafprozessrecht vorgesehenen und von ihm als notwendig erachteten Maßnahmen zur Verhinderung einer Flucht ergreifen, den Fall den Strafverfolgungsbehörden unterbreiten und, falls es zu einer Anklage kommt, im Falle der Verurteilung eine Strafe verhängen, die derjenigen in einem vergleichbaren nationalen Fall in etwa entspricht. Er hat ferner die Menschenrechte des Verdächtigen und die konsularischen Rechte von dessen Heimatstaat zu achten. Diese Pflichten können auch unproblematisch auf die gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“-Pflichten übertragen werden. Im Falle des gewohnheitsrechtlichen Regimes von Flugzeugentführungen und Bürgerkriegsverbrechen sind auch die Einschränkungen des Entscheidungsspielraums der Anklagebehörde, die die Haager beziehungsweise Genfer Konventionen kennen,265 in Betracht zu ziehen. Die Nähe beider Sachkomplexe zu diesen Verträgen spräche jedenfalls dafür. Hier wird besonders auf die zukünftige Entwicklung der Staatenpraxis zu achten sein.
und fristgerechten Kündigung der jeweiligen Abkommen in die Tat um (vgl. Murphy, Punishing, S. 20; Chamberlain, ICLQ 1983, S. 616 [628]). 263 Zu erwähnen sind hier Retorsionen und Repressalien, aber auch Sanktionsbeschlüsse des UN-Sicherheitsrates aufgrund von Kapitel VII UN-Charta, wenn sich die Nichtauslieferung bzw. Nichtverfolgung zu einer Friedensgefahr auswachsen sollte (vgl. dazu, dass dies selbst dort möglich ist, wo gar keine „aut dedere – aut iudicare“-Pflicht besteht, oben 3. Kapitel C.). 264 Zu den diesbzgl. positiven Auswirkungen des ICC-Statuts vgl. sogleich, 5. Kapitel D. 265 Vgl. dazu oben C. III. 1. und 3.
5. Kapitel
Das Verhältnis des „aut dedere – aut iudicare“ zur Internationalen Strafgerichtsbarkeit Nach nahezu fünfzigjährigem Dornröschenschlaf seit den Anfängen von Tokio und Nürnberg hat die internationale Strafgerichtsbarkeit inzwischen wieder an Bedeutung gewonnen. Mit den ad-hoc-Tribunalen für Ruanda und Ex-Jugoslawien, vor allem aber mit dem am 11. März 2003 eröffneten Internationalen Strafgerichtshof, stehen nun internationale Organe zur Aburteilung bestimmter Verbrechen bereit.1 Im Folgenden soll untersucht werden, wie sich diese neuen Instrumente des Völkerrechts zum althergebrachten „aut dedere – aut iudicare“ verhalten.
A. Überschneidungen von „aut dedere – aut iudicare“Pflichten und internationaler Strafgerichtsbarkeit Zunächst einmal ist dabei zu klären, in welchen Fällen sich beide Instrumente überhaupt überschneiden. Die sachliche Zuständigkeit des ICC sowie der ad-hoc-Tribunale für das ehemalige Jugoslawien beziehungsweise Ruanda umfasst dieselben drei Tatbestände: Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.2 Für welche von ihnen bestehen daneben auch „aut dedere – aut iudicare“-Pflichten? Für das Verbrechen des Völkermordes besteht keine solche Konkurrenz, denn wie oben im 3. Kapitel unter A. II. 2. und B. I. 1. b) festgestellt wurde, gilt für dieses schwerste aller „internationalen Verbrechen“ weder 1 Das durch einen in Folge von Sicherheitsratsresolution 1315 (2000) zwischen den Vereinten Nationen und Sierra Leone geschlossenen Vertrag gegründete Sondergericht für Sierra Leone kann im vorliegenden Abschnitt außer Acht bleiben: Da es nur auf einer Vereinbarung dieser beiden Parteien beruht, besteht für Drittstaaten keine Pflicht, nationale Strafverfahren an dieses Gericht abzugeben oder dessen Auslieferungsersuchen nachzukommen (vgl. Dahm/Delbrück/Wolfrum, I/3, S. 1141). Ein Konflikt zwischen der Arbeit dieses Gerichts und „aut dedere – aut iudicare“-Pflichten eines Zufluchtsstaates ist somit ausgeschlossen. 2 Die zusätzliche Zuständigkeit des ICC für das Verbrechen der Aggression wird nach Art. 5 II ICC-Statut erst dann rechtswirksam, wenn die Vertragsstaaten sich auf eine Definition dieses Straftatbestandes geeinigt haben.
400 5. Kap.: Verhältnis „aut dedere – aut iudicare“ zur int. Strafgerichtsbarkeit
aufgrund der Völkermordkonvention noch aufgrund des Völkergewohnheitsrechts ein „aut dedere – aut iudicare“. Beim „Kriegsverbrechen“ überschneiden sich dagegen internationale Strafgerichtsbarkeit und „aut dedere – aut iudicare“: „Grave breaches“ der Genfer Konventionen und ihres ersten Zusatzprotokolls sowie schwere Verstöße gegen das in innerstaatlichen bewaffneten Konflikten anwendbare humanitäre Völkerrecht unterliegen wie oben gesehen einem vertrags- beziehungsweise gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“,3 fallen aber auch unter Artikel 2 (unter Ausschluss des 1. Zusatzprotokolls) und 3 ICTY-Statut,4 Artikel 3 ICTR-Statut (nur bezogen auf das Recht der innerstaatlichen Konflikte) beziehungsweise Artikel 8 Absatz 2 a), b), c) und e) ICC-Statut. Sofern es um Angriffe gegen UN-Personal geht, bestehen ferner Überschneidungen zwischen Artikel 8 Absatz 1 b) iii) und e) iii) ICC-Statut und der UN-Personalsicherheitskonvention. Des Weiteren kann die in Artikel 8 Absatz 1 b) ix) und e) iv) ICC-Statut, Artikel 3 d) ICTY-Statut begründete Zuständigkeit der internationalen Strafgerichte für bestimmte Übergriffe gegen Denkmäler und religiöse Stätten mit dem in Artikel 17 des 2. Zusatzprotokolls zur Kulturgüterschutzkonvention vorgesehenen „aut dedere – aut iudicare“ kollidieren; ebenso die von Artikel 8 Absatz 2 b) xxii), e) vi) ICC-Statut erfasste Nötigung zur Prostitution mit den „aut dedere – aut iudicare“-Vorschriften der Convention for the Suppression of the Traffic in Persons, des Zusatzprotokolls betreffend Menschenhandel zur UN-Konvention gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität sowie des Fakultativprotokolls betreffend Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie zur Kinderrechtskonvention. Keine Kollision besteht dagegen zwischen der UN-Geiselnahmekonvention und Artikel 2 h) ICTYStatut, Artikel 4 c) ICTR-Statut sowie Artikel 8 Absatz 2 a) viii) und c) iii) ICC-Statut, da die Geiselnahme als Kriegsverbrechen unter die – im Bürgerkrieg heute erweiternd auszulegende beziehungsweise gewohnheitsrechtlich ergänzte – „aut dedere – aut iudicare“-Regelung der Genfer Konventionen fällt und die UN-Geiselnahmekonvention somit hier nach ihrem Artikel 12 zurücktritt. Unübersichtlicher ist die Situation beim „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Eine umfassende „aut dedere – aut iudicare“-Regelung gibt es für diesen Tatbestand nicht. Lediglich einzelne der unter Artikel 5 ICTYStatut, Artikel 3 ICTR-Statut beziehungsweise Artikel 7 ICC-Statut fallenden Verhaltensweisen sind von einem „aut dedere – aut iudicare“ umfasst. 3
Siehe oben 3. Kapitel A. II. 1. a) und B. I. 1. a). Dazu, dass Art. 3 ICTY-Statut nach der Rspr. gerade auch Verstöße gegen das Recht der innerstaatlichen bewaffneten Konflikte erfasst, vgl. ICTY, Tadic, 02.10.1995, IT-94-1-AR72, Ziff. 137. 4
A. Überschneidungen von Pflichten und int. Strafgerichtsbarkeit
401
Bei Folter (Artikel 7 Absatz 1 f) ICC-Statut, Artikel 5 f) ICTY-Statut, Artikel 3 f) ICTR-Statut) ergibt sich dies aus den entsprechenden UN- und OAS-Konventionen, beim zwangsweisen Verschwindenlassen von Personen (Artikel 7 Absatz 1 i) ICC-Statut) aus der entsprechenden OAS-Konvention, für die Nötigung zur Prostitution (Artikel 7 Absatz 1 g) ICC-Statut) aus den bereits soeben zu diesem Tatbestand erwähnten Verträgen. Keine Überschneidung von „aut dedere – aut iudicare“ und internationaler Strafgerichtsbarkeit gibt es auf den ersten Blick im Bereich der Terrorismusbekämpfung, da terroristische Handlungen entgegen der ersten Entwürfe sowie entsprechender Vorschläge einiger Staaten auf der Konferenz von Rom nicht in das ICC-Statut aufgenommen wurden, vor allem weil es am Konsens über eine Terrorismusdefinition fehlte.5 Im Anschluss an die Terrorattacken des 11. Septembers 2001 wird dennoch in der Literatur vertreten, dass diese rein tatbestandlich gesehen als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vor dem Internationalen Strafgerichtshof verfolgt werden könnten.6 Dies verwundert, hatte man doch in Rom auch dieses „Hintertürchen“ in Betracht gezogen und verworfen: Ein Vorschlag, Terroranschläge, wenn schon nicht als ein eigenen Tatbestand, dann doch wenigstens als Unterfall des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ in das Statut aufzunehmen, fand keine Zustimmung.7 Die Befürworter einer solchen Lösung geben auch offen zu, dass sie vom ursprünglichen Konzept des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“, das auf Gräueltaten von Staaten oder staatsähnliche Gewalt ausübenden Gruppen beschränkt war, abweichen.8 Ihnen ist zu gute zuhalten, dass der Wortlaut des ICC-Statuts dies zulässt. Artikel 7 spricht nur von einem systematischen oder ausgedehnten Angriff auf die Zivilbevölkerung, ohne den Kreis möglicher Angreifer irgendwie einzuschränken.9 Dass auch Terrororganisationen zu „ausgedehnten Angriffen“ in einem Ausmaß fähig sind, welches zum Zeitpunkt der Konferenz von Rom wohl noch niemand für möglich gehalten hatte, hat der 11. September 2001 mit seinen nahezu 3000 Todesopfern gezeigt. Überhaupt: Mangels einer allgemein konsentierten Terrorismusdefinition kann nur sehr schwer zwischen 5 Vgl. dazu Zimmermann, in: Triffterer, Art. 5 Rn. 3; ähnl. Oeter, in: Koch, S. 29 (32 f.); dazu auch ausf. Stahn, ZaöRV 2002, S. 183 (251 ff.); Robinson, in: Cassese/ Gaeta/Jones, S. 497 (514 f.). 6 So bspw. Tomuschat, EuGRZ 2001, S. 535 (536); Frowein, ZaöRV 2002, S. 879 (894); Stahn, ZaöRV 2002, S. 183 (247 f.); Greenwood, Int. Aff. 78 (2002), S. 301 (305 Fn. 15); Cassese, Int. Criminal Law, S. 128; vorsichtiger Mégret, EJIL 2003, S. 327 (333). 7 Vgl. Zimmermann, in: Triffterer, Art. 5 Rn. 3. 8 Vgl. Greenwood, Int. Aff. 78 (2002), S. 301 (305 Fn. 15); Stahn, ZaöRV 2002, S. 183 (247). 9 Mégret, EJIL 2003, S. 327 (333); Greenwood, Int. Aff. 78 (2002), S. 301 (305 Fn. 15).
402 5. Kap.: Verhältnis „aut dedere – aut iudicare“ zur int. Strafgerichtsbarkeit
„Bürgerkriegsparteien“ – die unstreitig Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen können – und „Terrorgruppen“ unterschieden werden. In welche dieser Kategorien wäre etwa die algerische GIA einzuordnen? Es spricht deshalb in der Tat einiges dafür, Terrorakte nicht grundsätzlich aus dem Tatbestand des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ auszunehmen. Bei der Subsumtion im Einzelfall sollte aber berücksichtigt werden, dass die Vertragsschließenden jedenfalls „normale“ Terroranschläge nicht als „ausgedehnten oder systematischen Angriff gegen die Zivilbevölkerung“ verstanden wissen wollten. Nur wenn sie in Schwere und Umfang den „klassischen“ Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichkommen, können ihnen diese Attribute zugeschrieben werden.
B. Die Pflicht zur Überstellung an ein internationales Strafgericht und das Recht des Zufluchtstaates auf Ausübung seiner eigenen Gerichtsbarkeit Wenn nun eine bestimmte Straftat sowohl in die Zuständigkeit eines internationalen Strafgerichts als auch unter eine „aut dedere – aut iudicare“-Regelung fällt, so stellt sich die Frage, wie sich ein Zufluchtsstaat zu verhalten hat, der einerseits an das Statut des betreffenden internationalen Strafgerichts gebunden ist, andererseits aber auch an das „aut dedere – aut iudicare“. Kann er der Pflicht zur Überstellung des Täters an ein internationales Strafgericht dadurch entgehen, dass er zum „iudicare“ greift? Oder verstößt er umgekehrt gegen seine Pflichten aus dem „aut dedere – aut iudicare“, wenn er an das internationale Strafgericht überstellt?
I. Das Verhältnis zur Überstellung an die beiden ad-hoc-Tribunale Die Gerichtsbarkeit der beiden ad-hoc-Tribunale hat nach Artikel 9 Absatz 2 ICTY-Statut beziehungsweise Artikel 8 Absatz 2 ICTR-Statut Vorrang vor nationaler Strafgerichtsbarkeit. Damit ist ein „iudicare“ durch den Zufluchtsstaat ausgeschlossen, wenn das ICTY oder ICTR gegen denselben Täter ein Verfahren in derselben Sache durchführen will. Da die beiden Statute vom UN-Sicherheitsrat aufgrund Kapitel VII UN-Charta erlassen wurden, geht diese Regelung gemäß Artikel 25 i. V. m. Artikel 103 UN-Charta allen anderen völkerrechtlichen Pflichten der UN-Mitgliedstaaten – und somit auch deren „aut dedere – aut iudicare“-Pflichten – vor.
B. Recht des Zufluchtstaates auf Ausübung eigener Gerichtsbarkeit
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II. Das Verhältnis zur Überstellung an den ICC Dagegen hat die Gerichtsbarkeit des ICC keinen Vorrang gegenüber der nationalen Justiz. Ein Verfahren vor ihm ist nach Artikel 17 Absatz 1 ICCStatut vielmehr nur dann zulässig, wenn keiner der Staaten, die Gerichtsbarkeit über den Fall haben, zu ernsthaften Strafverfolgungsmaßnahmen willig oder fähig ist. Die in der Literatur teilweise aus rechtspolitischer Sicht befürwortete differenzierende Lösung, nur einer auf einem „genuine link“ beruhenden nationalen Gerichtsbarkeit Vorrang vor dem ICC einzuräumen, nicht aber einer Zuständigkeit nach dem Weltrechtsprinzip, hat keinen Niederschlag im positiven Recht gefunden.10 Auch der bloße Zufluchtsstaat kann damit durch die Ausübung seiner Gerichtsbarkeit nach dem Weltrechtsprinzip oder dem Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege die Unzulässigkeit eines Verfahrens vor dem ICC herbeiführen. Wählt er das „iudicare“ und führt es ernsthaft durch, scheidet ein Verfahren vor dem ICC – und damit natürlich auch eine Überstellung des mutmaßlichen Täters an dieses Gericht – aus. Schwieriger ist dagegen die Frage zu beantworten, ob der Zufluchtsstaat nicht seine „aut dedere – aut iudicare“-Pflicht verletzt, wenn er den Täter an den ICC überstellt, denn er hat ihn dann ja weder selbst strafrechtlich verfolgt („iudicare“), noch an einen anderen Staat ausgeliefert („dedere“).11 Dennoch liegt hierin kein Völkerrechtsverstoß. Der ICC ist nach Artikel 12 Absatz 2 ICC-Statut nur zuständig, wenn die Tat im Territorium oder von Staatsangehörigen einer Vertragspartei seines Statuts begangen wurde. Er leitet seine Strafgewalt also von einem derjenigen Staaten ab, die wegen ihres „genuine link“ zur Tat originäre Strafgewalt über sie besitzen. Eine Auslieferung des Täters an einen dieser Staaten wäre aber als ordnungsgemäßes „dedere“ eine zulässige Alternative zum „iudicare“ gewesen, die jede andere Partei des „aut dedere – aut iudicare“-Vertrags hätte akzeptieren müssen. Dies muss dann konsequenterweise auch für die Überstellung an ein internationales Strafgericht gelten, dem einer dieser Staaten durch Beitritt zum Statut seine originäre Gerichtsbarkeit über die Tat übertragen hat. Das klassisch zweigliedrige „aut dedere – aut iudicare“ ist in diesen Fällen um die dritte Möglichkeit der Überstellung an den ICC zu erweitern.
10
Vgl. Kreß, ISYHR 30 (2000), S. 103 (174). Dass die „Auslieferung“ an einen anderen Staat und die „Überstellung“ an den ICC fundamental unterschiedliche Rechtsinstitute sind, hebt Swart, in: Cassese/ Gaeta/Jones, S. 1639 (1678) mit Verweis auf die deutliche Unterscheidung zwischen beiden Begriffen in Art. 102 ICC-Statut zutreffend hervor. 11
404 5. Kap.: Verhältnis „aut dedere – aut iudicare“ zur int. Strafgerichtsbarkeit
C. Die Pflicht zur Überstellung an ein internationales Strafgericht und das Recht des Zufluchtsstaates zur Auslieferung an einen Drittstaat Wenden wir uns nun der Situation zu, in der ein sowohl an ein „aut dedere – aut iudicare“ als auch an das Statut eines internationalen Strafgerichts gebundener Zufluchtsstaat sowohl ein Auslieferungsersuchen eines anderen Staates als auch ein Überstellungsersuchen des internationalen Strafgerichtes erhält.
I. Das Verhältnis zur Überstellung an die beiden ad-hoc-Tribunale Eine Pflicht, den Täter auf Verlangen an die ad-hoc-Strafgerichte zu überstellen, ergibt sich aus Artikel 29 Absatz 2 e) ICTY-Staut beziehungsweise Artikel 28 Absatz 2 e) ICTR-Statut. Da diese Pflicht nach Artikel 103 UN-Charta Vorrang vor allen anderen Vertragspflichten hat, muss der Zufluchtsstaat dem Überstellungsersuchen des ICTY oder ICTR ohne Rücksicht auf seine eventuellen Auslieferungspflichten gegenüber dem Staat, der ein konkurrierendes Ersuchen gestellt hat, nachkommen.12
II. Das Verhältnis zur Überstellung an den ICC Im Statut von Rom hat die Behandlung konkurrierender Ersuchen in Artikel 90 eine differenzierte Regelung erfahren, je nach dem, ob der ersuchende Staat Mitglied des Statuts von Rom ist oder nicht. 1. Auslieferung an einen Mitgliedstaat des Statuts von Rom Wird das Auslieferungsersuchen von einem anderen Mitgliedstaat des Statuts von Rom gestellt, so hängt sein Schicksal davon ab, ob der ICC die Strafverfolgungsbemühungen dieses Staates für ernsthaft und ausreichend hält: nach Artikel 90 Absatz 2 hat das Überstellungsersuchen des ICC nämlich nur dann Vorrang, wenn der ICC trotz des konkurrierenden Auslieferungsersuchens eines Staates das bei ihm anhängige Verfahren für zulässig 12 So auch Swart, in: Cassese/Gaeta/Jones, S. 1639 (1664).Vgl. ferner Rule 58 der „Rules of Procedure and Evidence“ des ICTY [bzw. des ICTR]: „The obligations laid down in Article 29 [bzw. Art. 28] of the Statute shall prevail over any legal impediment to the surrender or transfer of the accused [. . ..] to the Tribunal which may exist under [. . .] extradition treaties of the State concerned.“.
C. Recht des Zufluchtsstaates zur Auslieferung an einen Drittstaat
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erachtet, was wegen des Komplementaritätsgrundsatzes (Artikel 17 ICCStatut) voraussetzt, dass der ersuchende Staat den Täter nach Auffassung des ICC nicht ordnungsgemäß verfolgen kann oder will.13 Der in diesem Fall bestehende Vorrang des Ersuchens des ICC kann dabei nicht die Rechte des um Auslieferung ersuchenden Staates verletzen, denn dieser hat der entsprechenden Regelung mit seinem Beitritt zum Statut von Rom ja selbst zugestimmt. Steht hinter dem Auslieferungsersuchen jedoch nach Ansicht des ICC ein ernsthaftes Bemühen um Strafverfolgung, dann ist das konkurrierende Verfahren vor dem ICC nach Artikel 17 Absatz 1 ICC-Statut unzulässig und damit das Überstellungsersuchen des ICC hinfällig. Der Zufluchtsstaat kann nun ohne Verletzung des Statuts von Rom das „dedere“ wählen und den Täter an den ersuchenden Staat ausliefern. 2. Auslieferung an einen Nichtmitgliedstaat des Statuts von Rom Wurde das Auslieferungsersuchen von einem Staat gestellt, der nicht Partei des ICC-Statuts ist, kommt es darauf an, ob der Zufluchtsstaat gegenüber dem ersuchenden Staat völkerrechtlich zur Auslieferung des Täters verpflichtet ist.14 Ist dies der Fall, dann überlässt ihm Artikel 90 Absatz 6 ICC-Statut die Entscheidung, welchem der beiden konkurrierenden Ersuchen er stattgeben will. Damit wird ihm ein Dilemma erspart, in dem jede Entscheidung einen Völkerrechtsverstoß darstellen würde: die Auslieferung an den ersuchenden Staat eine Verletzung des Statuts von Rom, die Überstellung an den ICC eine Verletzung der Auslieferungspflicht gegenüber dem Drittstaat.15 Besteht dagegen keine Gefahr einer solchen Pflichtenkollision, weil der Zufluchtsstaat gar nicht verpflichtet ist, dem Auslieferungsersuchen des Drittstaates stattzugeben, dann kommt es darauf an, ob der ICC den Drittstaat für willig und fähig hält, den Täter ernsthaft zu verfolgen. Bejaht er dies, muss er die Sache nach Artikel 17 Absatz 1 ICC-Statut für unzulässig erklären, so dass sein Überstellungsersuchen hinfällig wird.16 Andernfalls bleibt das Verfahren vor dem ICC zulässig; der Zufluchtsstaat muss nach Artikel 90 Absatz 4 ICC-Statut den Täter an den ICC überstellen und das Auslieferungsersuchen ablehnen. 13
Vgl. dazu auch Prost, in: Triffterer, Art. 90 Rn. 8. Swart, in: Cassese/Gaeta/Jones, S. 1639 (1696). 15 Vgl. auch Prost, in: Triffterer, Art. 90 Rn. 22 und 24. 16 Lehnt der Zufluchtsstaat danach das Auslieferungsersuchen des Drittstaates dennoch ab, muss er dies dem ICC nach Art. 90 VIII ICC-Statut mitteilen. Dadurch erhält der ICC Gelegenheit, sich der Sache nun doch wieder selbst anzunehmen (vgl. Swart, in: Cassese/Gaeta/Jones, S. 1639 [1698]; Prost, in: Triffterer, Art. 90 Rn. 30). 14
406 5. Kap.: Verhältnis „aut dedere – aut iudicare“ zur int. Strafgerichtsbarkeit
Die entscheidende Frage ist somit, ob der Zufluchtsstaat in einer „aut dedere – aut iudicare“-Konstellation gegenüber dem ersuchenden Staat völkerrechtlich zur Auslieferung des Täters verpflichtet ist. Die Antwort lautet in der überwiegenden Zahl der „aut dedere – aut iudicare“-Fälle: Nein. Er ist nur zur Auslieferung oder Strafverfolgung durch die eigene Justiz verpflichtet17; für beides ist die Überstellung an den ICC – wie oben gesehen –18 ein adäquater Ersatz. Beruft sich der ersuchende Staat also auf ein „aut dedere – aut iudicare“, befinden wir uns meist im Anwendungsbereich des Artikels 90 Absatz 4 ICC-Statut; das Überstellungsersuchen das ICC hat dann Vorrang, wenn der ICC die Strafverfolgungsbemühungen des ersuchenden Staates nicht für ausreichend hält.
D. Resümee und kurzer rechtspolitischer Ausblick auf die Zukunft des „aut dedere – aut iudicare“ neben der internationalen Strafgerichtsbarkeit Das Verhältnis des „aut dedere – aut iudicare“ zu den bestehenden internationalen Strafgerichten lässt sich wie folgt zusammenfassen: Nur die Gerichtsbarkeit der beiden ad-hoc-Tribunale schließt sowohl ein „dedere“ als auch ein „iudicare“ aus, wenn eines dieser Gerichte den Täter verfolgt. Dagegen eröffnet der Beitritt zum ICC-Statut dem Zufluchtsstaat nur eine dritte Entscheidungsmöglichkeit, ohne seine bereits bestehenden Rechte und Pflichten aus einem „aut dedere – aut iudicare“ zu beschneiden, denn will er weder ein „iudicare“ durchführen noch den Täter an einen anderen Staat ausliefern, kann er ihn nun auch an den ICC überstellen. Will er dagegen den Täter selbst ernsthaft verfolgen oder beantragt ein anderer Staat zum Zwecke einer ernsthaften Strafverfolgung die Auslieferung, dann ist ein Verfahren in derselben Sache vor dem ICC wegen des Komplementaritätsgrundsatzes unzulässig. Einer ordnungsgemäßen Erfüllung des „aut dedere – aut iudicare“ legt das Statut von Rom also keine Steine in den Weg. Es schränkt dieses Rechtsinstitut nicht ein, sondern stärkt es, da quasi „durch die Hintertür“ die bislang so schmerzlich vermisste internationale Kontrollinstanz19 geschaffen wurde, die über die Einhaltung des „aut dedere – aut iudicare“ wacht. Denn es ist der ICC, der entscheidet, ob der Zufluchtsstaat beziehungsweise der um Auslieferung ersuchende Staat zu einer ernsthaften Aufarbeitung der Tat – also letztlich zu einer redlichen Erfüllung des „aut dedere – aut iudicare“ – willens und fähig ist. 17
Vgl. dazu oben 4. Kapitel B. Vgl. oben B. II. 19 Vgl. zu den in den „aut dedere – aut iudicare“-Verträgen vorgesehenen Kontrollmechanismen oben 4. Kapitel C. VI. 18
D. Resümee und kurzer rechtspolitischer Ausblick auf die Zukunft
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Vor diesem Hintergrund ist die rechtspolitische Frage nach dem Nebeneinander von „aut dedere – aut iudicare“ und internationaler Strafgerichtsbarkeit recht einfach zu beantworten: Die Schaffung des ICC war selbst dort, wo durch das „aut dedere – aut iudicare“ schon eine lückenlose universelle Strafverfolgung vorgeschrieben war, nicht überflüssig, sondern hat das Kontrollinstrument geliefert, das für die Wirksamkeit des „aut dedere – aut iudicare“ in der politischen Realität Voraussetzung ist.20 Aber auch noch aus einem anderen, rein rechtlichen Grund war die internationale Strafgerichtsbarkeit notwendig: Staats- und Regierungschefs sowie Außenminister sind zwar vor ausländischen nationalen Gerichten, nicht aber vor internationalen Strafgerichten immun.21 Sie können also trotz eines „aut dedere – aut iudicare“ nicht im Zufluchtsstaat zur Rechenschaft gezogen werden, wohl aber vor den internationalen Strafgerichten.22 Jedoch ist auch das „aut dedere – aut iudicare“ kein Rezept „von Gestern“, dessen Weiterentwicklung angesichts des ICC überflüssig wäre: Die unzähligen „untergeordneten“ Täter von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit können nicht alle vor internationale Strafgerichte gestellt werden, ohne dass deren Kapazitäten gesprengt würden. Dass deshalb selbst im sachlichen Zuständigkeitsbereich des ICC und der beiden adhoc-Tribunale weiterhin ein Bedürfnis nach nationaler Strafverfolgung besteht, wird nahezu einhellig anerkannt.23 Daneben gibt es noch eine ganze Reihe von Straftaten von „internationaler Bedeutung“, für die zwar ein „aut dedere – aut iudicare“ besteht, aber weder jetzt noch in absehbarer Zukunft 20 Die mangelnde Befolgung des „aut dedere – aut iudicare“ wird allgemein beklagt: Die entsprechenden Bestimmungen der Genfer Konventionen werden erst seit den 1990er Jahren wirklich angewandt (vgl. de La Pradelle, in: Ascensio/Decaux/ Pellet, S. 917; Maison, EJIL 1995, S. 260 [261]) und auch im Bereich der Terrorismusbekämpfung wird dieses Rechtsinstitut wegen seiner verbreiteten Missachtung als „more symbolic than practical“ bezeichnet (so bspw. Plant, in: Higgins/Flory, S. 68 [69]). 21 Vgl. IGH, Affaire relative au mandat d’arrêt du 11 avril 2000 (République Démocratique du Congo c. Belgique), Urteil vom 14.02.2002, Ziff. 58, 61 (dazu auch Maierhöfer, EuGRZ 2003, S. 545 ff.). 22 Die Frage, ob die „aut dedere – aut iudicare“-Verträge völkerrechtliche Immunitäten beschränken, wurde in der vorliegenden Untersuchung zwar ausdrücklich ausgespart, der Verfasser hat sie aber an anderer Stelle bereits verneint (vgl. oben Einl. Fn. 8). 23 Vgl. bspw. Meron, EJIL 1998, S. 18 (29); Wolfrum, ISYHR 24 (1994), S. 182 (198 f.); Werle, JZ 1999, S. 1181 (1182); de La Pradelle, in: Ascensio/Decaux/Pellet, S. 917; Kreß, ISYHR 30 (2000), S. 103 (171 f.). Vgl. ferner die Äußerungen der damaligen Chefanklägerin Louis Arbour in DRiZ 1998, S. 495 (497 f.) sowie diejenigen ihrer Nachfolgerin Carla Del Ponte auf einem Treffen mit den EU-Justizministern am 14.10.2002 in Luxemburg (vgl. SZ, 15.10.2002, S. 6).
408 5. Kap.: Verhältnis „aut dedere – aut iudicare“ zur int. Strafgerichtsbarkeit
eine Zuständigkeit eines internationalen Strafgerichts. Beispiele sind etwa die Terrorbekämpfung, wo die „Führungsnation“ USA wenig Neigung zu einer Stärkung der internationalen Strafgerichte zeigt, oder das weite Feld von Drogenhandel, Korruption und organisierter Kriminalität.24 Dies zeigt: Sofern in Zukunft die Bekämpfung weiterer Straftaten völkerrechtlich abgesichert werden soll, dürfte ein „aut dedere – aut iudicare“ die politisch leichter durchzusetzende Variante sein. Während es nach „Nürnberg“ nahezu sechzig Jahre gedauert hat, um wenigstens für die schlimmsten Verbrechen ein ständiges internationales Strafgericht zu schaffen, dem immer noch wesentliche Teile der Staatengemeinschaft feindselig gegenüberstehen, wurde im selben Zeitraum eine große Anzahl quasi universell akzeptierter „aut dedere – aut iudicare“-Verträge nach oft vergleichsweise kurzen Vorbereitungen abgeschlossen.25 Man sollte also internationale Strafgerichtsbarkeit und „aut dedere – aut iudicare“ nicht als vermeintlich alternative Konzepte gegeneinander auszuspielen versuchen. Beide ergänzen sich vielmehr mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen; beide verdienen Beachtung in Rechtspolitik und Rechtswissenschaft.
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Daran dürfte auch wenig ändern, dass die Teilnehmerstaaten der Konferenz von Rom in der Schlussakte zugesagt haben, im Rahmen zukünftiger Revisionen des Statuts auch eine Einbeziehung von terroristischen Straftaten und Drogendelikten zu prüfen. 25 Vgl. zu der oft sehr schnellen Entstehung von „aut dedere – aut iudicare“-Verträgen nach spektakulären Terroranschlägen oben, 3. Kapitel A. I. 2. a), b), c), 7.
Schluss: „aut dedere – aut iudicare“ – ein Überblick über Herkunft, Grundlagen, Inhalte und Zukunft Das Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot, dessen Wurzeln bis ins späte Mittelalter zurückreichen,1 und das seit den 1970er Jahren in Abwandlung des von Grotius geprägten „aut dedere – aut punire“ vorwiegend mit der Formel „aut dedere – aut iudicare“ bezeichnet wird,2 ist eine echte völkerrechtliche Erfolgsgeschichte: Es ist derzeit in nicht weniger als 383 multilateralen Verträgen über die Bekämpfung bestimmter außergewöhnlich schwerwiegender Straftaten – deren Regelungsbereiche von der organisierten Kriminalität über die verschiedenen Erscheinungsformen des Terrorismus bis hin zu Folter und Kriegsverbrechen reichen4 – sowie in unzähligen bi- und multilateralen Auslieferungsverträgen, die den gesamten Bereich nicht völlig geringfügiger Straftaten erfassen,5 verankert. Aber auch in Bezug auf diejenigen Taten, für die immer noch kein „aut dedere – aut iudicare“ vertraglich vereinbart wurde, konnten in den letzten Jahren wichtige Lücken geschlossen werden. Die Strafverfolgungs- und Auslieferungspraxis des letzten Jahrzehnts, vor allem bezüglich der in Bosnien-Herzegowina und Ruanda begangenen Verbrechen, lässt den Schluss zu, dass schwere Verstöße gegen das Recht der internen bewaffneten Konflikte einem gewohnheitsrechtlichen oder in extensiver authentischer Auslegung der Genfer Konventionen durch die Vertragsparteien gewonnenen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot unterliegen.6 Auch bezüglich von Flugzeugentführungen sind die wenigen Staaten, die die Haager Konvention von 1970 noch nicht ratifiziert haben, inzwischen gewohnheitsrechtlich zur Auslieferung oder Strafverfolgung der Täter gehalten.7 Gewohnheitsrechtliche Strafverfolgungs- oder Auslieferungspflichten ergeben sich ferner für den Zufluchtsstaat, der im Ausland eine Straftat durch seine Organe begehen ließ, und zwar sowohl aus der Verletzung des menschenrechtlichen Mindeststandards 1
Vgl. oben 2. Kapitel C. III. Zur Begriffsgeschichte vgl. oben 2. Kapitel A. 3 Unter Einbeziehung von Zusatzprotokollen zu Verträgen, die selbst kein „aut dedere – aut iudicare“ enthalten, und von Verträgen, die bereits unterzeichnet, aber noch nicht in Kraft getreten sind. 4 Vgl. dazu oben 3. Kapitel A. I.–IV. 5 Vgl. dazu oben 3. Kapitel A. V. 6 Vgl. dazu oben 3. Kapitel B. I. 1. 7 Vgl. dazu oben 3. Kapitel B. I. 2. a) ee) und c). 2
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Schluss: „aut dedere – aut iudicare“
in Bezug auf das Opfer8 als auch aus der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit für die Verletzung der territorialen Souveränität des Tatortstaates.9 Trotz dieser Fortschritte gibt es aber immer noch Defizite. Es fehlt vor allem an einem „aut dedere – aut iudicare“ für Völkermord, weil die Konvention von 1948 noch weitgehend auf dem Territorialitätsprinzip beharrte und die nachfolgende Staatenpraxis in dem Bemühen, abweichend davon zumindest ein Verfolgungsrecht nach dem Weltrechtsprinzip zu begründen, die territoriale Beschränkung der Verfolgungspflicht überwiegend zugestanden hat.10 Hier weist das Verhalten der Staaten einen gewissen Wertungswiderspruch auf, wenn sie sich einerseits bereits 1949 auf ein Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot hinsichtlich von Kriegsverbrechen in internationalen Konflikten vertraglich einigen und dieses inzwischen auch auf Bürgerkriegsverbrechen ausdehnen konnten, andererseits aber bis heute keine entsprechende Pflicht für das viel schwerwiegendere Verbrechen des Völkermordes akzeptieren. Auch andere im Frieden begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit unterliegen keinem gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“: Sofern die Staatenpraxis abweichend von der immer noch verbreiteten Gewährung sicherer Zuflucht ausnahmsweise einmal einen solchen Täter ausgeliefert oder verfolgt hat, wurde dies fast immer auf in Teilbereichen bestehende vertragliche Regelungen – v. a. die UN-Folterkonvention – gestützt, nicht aber mit einer gewohnheitsrechtlichen opinio iuris begründet.11 Hinsichtlich der Auslieferung oder Strafverfolgung von Terroristen, die vertraglich zwar hinsichtlich der wichtigsten Aspekte – Flugzeugentführungen, Geiselnahmen, Sprengstoffanschläge etc. –, nicht aber umfassend geregelt ist, ist seit dem 11. September 2001 zwar verstärkt ein „Formelkonsens“ feststellbar; dieser bleibt aber in der Praxis weitgehend inhaltsleer, da völlig unklar ist, wer als „Terrorist“ zu gelten hat.12 Dennoch: Mit den wenigen hier bejahten gewohnheitsrechtlichen „aut dedere – aut iudicare“-Pflichten ist man heute der Rechtslage vergangener Jahrhunderte einen erheblichen Schritt voraus. Schon seit Baldus de Ubaldis (1319/27–1400) – der entgegen einer weit verbreiteten Auffassung, die Grotius diesen Verdienst zuschreibt,13 als wahrer Begründer des Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes anzusehen ist14 – wurde von der Wissen8 Jedenfalls bei Verletzungen von Leben oder Freiheit, dazu näher oben 3. Kapitel B. I. 1. c) gg). 9 Vgl. oben 3. Kapitel B. II. 2. 10 Vgl. zu dieser Argumentationsstruktur, die auf die israel. Eichmann-Urteile zurückgeht, und zur weiteren Staatenpraxis in Bezug auf die Auslieferung oder Verfolgung von Völkermördern im Zufluchtsstaat oben 3. Kapitel B. I. 1. b). 11 Vgl. dazu im Einzelnen oben 3. Kapitel B. I. 1. c). 12 Vgl. zur diesbezgl. Staatenpraxis vor dem 11.09.2001 oben 3. Kapitel B. I. 2. a), zu den Veränderungen seither 3. Kapitel B. I. 2. b).
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schaft vergeblich eine allgemeine, vertragsunabhängige Pflicht des Zufluchtsstaates zur Auslieferung oder Strafverfolgung der Täter von Auslandstaten gefordert, zumindest in Bezug auf besonders schwerwiegende Taten.15 Wichtigste Begründung für diese Auffassung war bereits damals der auch noch heute lebendige Gedanke, bestimmte Taten verletzten nicht nur einzelne von ihnen besonders betroffene Staaten – etwa den Tatortstaat oder den Heimatstaat des Opfers –, sondern die gesamte Weltgemeinschaft, die deswegen kollektiv zu ihrer Bestrafung beitragen müsse. Daneben trat die heute verschwundene Vorstellung, ein Staat müsse sich die Verletzung ausländischer Rechtsgüter nicht nur dann zurechnen lassen, wenn er die Tatbegehung im Vorfeld geduldet, gefördert oder veranlasst hat, sondern auch, wenn er dem Täter im Nachhinein sichere Zuflucht gewährt.16 Im positiven Recht durchgesetzt hatten sich lange Zeit allerdings diejenigen, die, wie Pufendorf17, der Ansicht waren, dass der Zufluchtsstaat nichts zur Bestrafung einer im Ausland begangenen Straftat beitragen müsse, sofern er eine solche Verpflichtung nicht vertraglich übernommen habe.18 So blieb das Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot über Jahrhunderte rein ver13 Vgl. oben 2. Kapitel A. Grotius hat zwar durchaus große Verdienste um das Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebot erworben, dieses aber keineswegs neu ersonnen. Sein Hauptverdienst war es, die Gedanken, die seine Vorgänger auf die unterschiedlichsten Konstellationen bezogen hatten – Bestrafung oder Auslieferung flüchtiger Täter einer Auslandstat, Auslieferung flüchtiger fremder Täter an ihren Heimatstaat, Bestrafung eigener Bürger, die im eigenen Territorium eine gegen ausländische Rechtsgüter gerichtete Straftat begangen haben – zu einer einheitlichen Theorie über die Pflichten des Zufluchtsstaates in Bezug auf alle Personen zu entwickeln, die im Ausland straffällig wurden und danach in sein Gebiet geflüchtet sind (vgl. zu Grotius näher oben 2. Kapitel D. I. 5.). 14 Vgl. zur Urheberschaft des Baldus für die Verknüpfung von Auslieferung und Strafverfolgung im Zufluchtsstaat zu einem einheitlichen Rechtsinstitut oben 2. Kapitel C. III. 15 Vgl. zu solchen Auffassungen, die außer von Grotius unter anderem u. a. auch von Covarruvias und Vattel vertreten wurden – um hier nur die drei namhaftesten Autoren zu nennen –, ausführlich oben 2. Kapitel D. I. 16 Vgl. zu den Begründungsmustern der einzelnen Autoren ausführlich oben 2. Kapitel D. I.; dazu, dass die nachträgliche Gewährung sicherer Zuflucht im heutigen Völkerrecht kein Zurechnungstatbestand ist vgl. 3. Kapitel B. II. 1. 17 Außer ihm, der in dieser Hinsicht lange als geradezu klassischer Gegner des Grotius galt, wären auch beispielsweise noch Beccaria, der aufgrund der Ideen der franz. Aufklärung gegen eine Pflicht des Zufluchtsstaates zur Bestrafung von Auslandstaten eintrat, die frühen Positivisten Martens und Moser, sowie – jedenfalls im Hinblick auf Täter, die nicht Bürger des Zufluchtsstaates sind – erstaunlicherweise auch der sonst dem Weltgemeinschaftsgedanken sehr zugeneigte Wolff zu nennen (vgl. im Einzelnen oben 2. Kapitel D. II.). 18 Zur Nichtexistenz vertragsunabhängiger Auslieferungs- oder Strafverfolgungspflichten von der Antike bis ins 19. Jahrhundert vgl. oben 2. Kapitel B., C. II., D. III. sowie E. I. 4.
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traglicher Natur, konnte sich aber auch auf dieser Grundlage erst ab dem 19. Jahrhundert im Zuge des allgemeinen Aufschwungs des Auslieferungsverkehrs verbreitet durchsetzen19; zunächst im Rahmen von Auslieferungsverträgen,20 in der Zeit zwischen den Weltkriegen sowie verstärkt nach 1945 dann auch zur Bekämpfung herausgehobener „internationaler Verbrechen“.21 Die alte Idee, einem hostis humani generis durch die alternative Verknüpfung der Instrumente „Auslieferung“ und „Strafverfolgung am Zufluchtsort“ sicheres Asyl im Ausland abzuschneiden, wurde also erst vergleichsweise spät in geltendes Völkerrecht gegossen. Trotz dieser Entwicklung immer noch verbliebene Lücken im Netz der „aut dedere – aut iudicare“-Pflichten kann der UN-Sicherheitsrat im Einzelfall dadurch schließen, dass er die Gewährung sicherer Zuflucht als Friedensgefahr i. S. d. Artikel 39 UN-Charta wertet und als Abhilfe aufgrund von Artikel 41 UN-Charta den Zufluchtsstaat zur Auslieferung oder Strafverfolgung verpflichtet. Allerdings kommt ihm nicht die Befugnis zu, im Wege der „Quasi-Gesetzgebung“ neue, abstrakt-generelle Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebote zu schaffen; seine Kompetenzen nach Kapitel VII UNCharta sind immer einzelfallbezogen. Eine einzige, in der aufgeheizten Stimmung des Septembers 2001 entstandene Abweichung hiervon – das in Resolution 1373 hinsichtlich des Terrorismus angeordnete „aut dedere – aut iudicare“, welches freilich mangels einer Definition des Begriffes „Terrorismus“ ebenso inhaltsleer bleibt, wie der oben erwähnte gewohnheitsrechtliche Formelkompromiss – reicht für eine übereinstimmende Auslegungspraxis der UN-Mitglieder nicht aus.22 Alle mit „aut dedere – aut iudicare“ bezeichneten Rechtspflichten haben Folgendes gemeinsam: Sie verpflichten Staaten, einen in ihrem Territorium anwesenden mutmaßlichen Straftäter entweder an einen anderen Staat auszuliefern oder aber die eigenen Strafverfolgungsbehörden mit seinem Fall zu befassen. Dabei ist wesentlich, dass diese Pflicht nicht (nur) den Staat betrifft, in dessen Gebiet die Tat begangen wurde, sondern (jedenfalls auch) den Staat, in den sich der Täter lediglich später begeben hat. Nur so wird das Ziel des Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes erreicht, das verhindern will, dass die geglückte Flucht aus dem Tatortstaat den Täter vor der gerechten Strafe schützt.23 Um zwei verbreiteten Missverständnissen 19 Zur Seltenheit entsprechender Vertragsregelungen in früheren Zeiten vgl. oben 2. Kapitel B., C. II., D. III. 20 Vgl. dazu oben 2. Kapitel E. I. 2. 21 Vgl. zu den diesbezüglichen Anfängen in der Zwischenkriegszeit oben 2. Kapitel H. II. und zur heutigen Vertragspraxis 3. Kapitel A. I. – IV. 22 Zur Befugnis des Sicherheitsrates, die Auslieferung oder Strafverfolgung von Straftätern anzuordnen und zu den diesbzgl. zu beachtenden Grenzen vgl. oben 3. Kapitel C.
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entgegenzutreten: Sein Regelungsgehalt ist weder, dass der Zufluchtsstaat den Täter an den Tatortstaat ausliefern muss – dann müsste man statt von „aut – aut“, also „entweder – oder“, einfach nur von einer „Auslieferungspflicht“ sprechen –, noch, dass der Zufluchtsstaat die Auslieferung eines Straftäters verweigern darf, wenn er mit dem um Auslieferung ersuchenden Staat keinen Auslieferungsvertrag abgeschlossen hat; letztere Befugnis folgt schon aus der simplen Tatsache, dass gewohnheitsrechtliche Auslieferungspflichten nicht existieren und Auslieferungsansprüche deswegen immer nur vertraglicher Natur sein können. Fehlt ein Auslieferungsvertrag, darf der Zufluchtsstaat aus völkerrechtlicher Sicht die Auslieferung immer verweigern, selbst wenn der Fall keinem „aut dedere – aut iudicare“ unterliegt. Der rechtliche Unterschied, der bei Geltung eines Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes im Vergleich zur allgemeinen Rechtslage eintritt, besteht vielmehr darin, dass der Zufluchtsstaat nun den Fall seinen eigenen Strafverfolgungsbehörden unterbreiten muss, wenn er von seinem Recht zur Verweigerung der Auslieferung Gebrauch macht.24 Welche Pflichten ihn in Zusammenhang mit diesem „iudicare“ im Einzelnen treffen, ist in den entsprechenden Vorschriften auf den ersten Blick sehr unterschiedlich geregelt. Im Ergebnis ist jedoch festzustellen, dass den Zufluchtsstaat aufgrund ausdrücklicher Regelungen in den „aut dedere – aut iudicare“-Verträgen, aufgrund von Treu und Glauben oder aufgrund allgemeinen Gewohnheitsrechts unabhängig von diesen Unterschieden im Wesentlichen die folgenden Pflichten treffen: Er muss eine vorläufige Untersuchung des Sachverhaltes vornehmen, deren konkrete Ausgestaltung ihm aber weitgehend überlassen bleibt; er muss in Übereinstimmung mit seinem nationalen Recht redlich diejenigen Maßnahmen zur Verhinderung einer Flucht des Täters treffen, die er für erforderlich hält; er muss den Fall der Strafverfolgungsbehörde unterbreiten; falls diese Anklage erhebt und es zu einem Schuldspruch kommt, muss die Strafe in etwa derjenigen entsprechen, die in vergleichbaren Fällen rein nationaler Art üblich ist; und schließlich muss er im gesamten Verfahren den allgemeinen menschenrechtlichen Mindeststandard gegenüber dem Beschuldigten sowie die konsularischen Betreuungsrechte seines Heimatstaates wahren.25 Über diese Gemeinsamkeiten hinaus, sind die mit „aut dedere – aut iudicare“ bezeichneten Rechtspflichten aber äußerst heterogen. Es verbietet sich deshalb weitgehend, bei der Falllösung pauschal auf „das“ Rechtsinstitut „aut dedere – aut iudicare“ zu verweisen. 23
Vgl. dazu insbes. oben 1. Kapitel A. Zur Abgrenzung des „aut dedere – aut iudicare“ gegenüber einer reinen Auslieferungspflicht einerseits und der Befugnis, Auslieferungen zu verweigern, zu denen man sich nicht vertraglich verpflichtet hat, andererseits vgl. oben 1. Kapitel C. 25 Vgl. zu diesen Pflichten näher oben 4. Kapitel C. I., II., IV. V. und VII. 24
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Vielmehr ist immer zu untersuchen, wie der jeweils konkret einschlägige Rechtssatz die Pflichten des Zufluchtsstaates im Einzelnen ausgestaltet. Dabei lassen sich fünf Hauptpunkte ausmachen, in denen die einzelnen Regelungen divergieren. Diese betreffen: 1. die Frage, ob der Zufluchtsstaat den Fall aus eigener Initiative seinen Strafverfolgungsbehörden unterbreiten muss, sobald er von der Anwesenheit des mutmaßlichen Täters in seinem Territorium erfährt, oder ob diese Pflicht erst dann eintritt, wenn ein anderer Staat die Auslieferung des Verdächtigen gefordert hat und dieses Ersuchen abschlägig beschieden wurde; 2. die Frage, ob der Zufluchtsstaat gegen jeden sich in seinem Gebiet aufhaltenden mutmaßlichen Täter einer Auslandstat vorgehen muss, unabhängig von dessen Staatsangehörigkeit, oder nur gegen seine eigenen Bürger, sofern deren Auslieferung an der weit verbreiteten Praxis scheitert, keine eigenen Staatsbürger an das Ausland auszuliefern; 3. die Frage, ob der Zufluchtsstaat, bei dem ein Auslieferungsersuchen eingegangen ist, dieses nach freiem Belieben zurückweisen kann, wenn er im Gegenzug bereit ist, den Fall seinen Strafverfolgungsbehörden zu unterbreiten, oder ob er ihm vielmehr grundsätzlich stattzugeben hat, sofern nicht rechtliche Hindernisse entgegenstehen (zu denken wäre hier außer an das bereits erwähnte Prinzip der Nichtauslieferung eigener Staatsbürger v. a. an die Auslieferungsausnahme für politische Straftäter sowie an menschenrechtliche Auslieferungshindernisse – etwas das Drohen von Folter oder Todesstrafe); 4. die Frage, ob der Zufluchtsstaat durch entsprechende Gesetzgebung dafür sorgen muss, dass sein Strafrecht in den Fällen, in denen es gemäß Frage 1. bis 4. zum „iudicare“ kommen muss, auch tatsächlich auf die betreffende Tat anwendbar ist, obwohl sie im Ausland begangen wurde (dies ist keineswegs so selbstverständlich, wie man meinen möchte, denn die der extraterritorialen Strafrechtsanwendung kritisch gegenüberstehenden angelsächsischen Staaten haben sich vor allem in frühen Verträgen häufig das Recht ausbedungen, getreu ihrer Rechtstradition Ausländer auch im Falle der Nichtauslieferung nicht für Auslandstaten strafrechtlich verfolgen zu müssen26); 5. die Frage, ob die Strafverfolgungsbehörde des Zufluchtsstaates zwingend Anklage erheben muss, damit, wie es der Ausdruck „iudicare“ nahe legt, der „iudex“ über den Fall entschei26 Deshalb kann es nicht als zwingende Rechtsfolge jeder „aut dedere – aut iudicare“-Regelung angesehen werden, dass sie den Zufluchtsstaat verpflichtet, sein Strafrecht auf Auslandstaten von Ausländern zu erstrecken, sofern er diese nicht ausliefert. Nur eine entsprechende Erlaubnis, die vom allgemeinen völkerrechtlichen genuine link-Erfordernis für die (strafrechtliche) Regelung von Auslandstaten dispensiert, muss jenen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgeboten immanent sein, die sich nicht nur auf eigene Bürger des Zufluchtsstaates beziehen, denn es macht wenig Sinn, einem Staat die Auslieferung oder Strafverfolgung eines Ausländers für eine Auslandstat vorzuschreiben, wenn die zweite Option von vornherein völkerrechtswidrig wäre (vgl. dazu im Einzelnen oben 1. Kapitel B.).
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den kann, oder ob sie das Verfahren auch selbst einstellen kann – und, falls ja, aus welchen Gründen. Die Kategorien, in die die Wissenschaft die verschiedenen „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen gemeinhin unterteilt,27 helfen zur Beantwortung dieser Fragen nur bedingt weiter. Die einzelnen Auslieferungs- oder Strafverfolgungsgebote sind so vielgestaltig, dass diese Kategorien oft sehr grob ausfallen, damit sie überhaupt noch eine größere Anzahl von Vorschriften umfassen. So werden häufig unter den Begriff „Haager Modell“, der ein der Haager Konvention von 1970 gegen Flugzeugentführungen nachgebildetes „aut dedere – aut iudicare“ umschreiben soll, sowohl Vorschriften eingeordnet, bei denen das „iudicare“ nicht von der Stellung eines Auslieferungsersuchens abhängt, als auch solche, bei denen nach dem Wortlaut eindeutig das Gegenteil der Fall ist. Oder unter den Begriff „Modell von 1929“ werden Verträge gefasst, die im Gegensatz zur Falschmünzerkonvention von 1929 entweder kein „aut dedere – aut iudicare“ für Ausländer vorsehen oder aber – ebenfalls im Gegensatz zum Vorbild von 1929 – die Verfolgung eigener Bürger nicht aus eigener Initiative des Zufluchtsstaates, sondern nur bei Zurückweisung eines Auslieferungsersuchens verlangen.28 Schneidet man die „Modelle“ dagegen so zu, dass sie nur diejenigen Vorschriften umfassen, deren Struktur und Text so ähnlich sind, das sie sich schon auf den ersten Blick als vollkommen (oder doch zumindest weitgehend) inhaltsgleich erweisen (und nur eine solche Einteilung hat Erkenntniswert), dann bleiben neben einer Vielzahl „atypischer“ Regelungen, die sich so lediglich in ein oder allenfalls zwei Verträgen finden, nur zwei „Modelle“ übrig: Die Vorschriften der Haager Konvention von 1970 sind nahezu wörtlich in so viele nachfolgende Verträge übernommen worden, dass es sich lohnt, von einem „Modell“ zu sprechen; daneben ähneln sich die „aut dedere – aut iudicare“-Vorschriften der meisten bi- und multilateralen Auslieferungsverträge der Sache in einem ausreichendem Maß, um sie weitestgehend als einen Komplex behandeln zu können.29 Selbst mit Hilfe dieser Einteilung lassen sich aber nur die Fragen 1. bis 4. einheitlich für 27
Die ausführlichste dieser Kategorisierungen findet sich bei Bassiouni/Wise, S. 11–19 sowie bei Wise, Israel Law Review 27 (1993), S. 268 (273–275), wo zwischen einem auf die Falschmünzerkonvention von 1929 aufbauenden „Modell von 1929“, einem „Modell der Genfer Konventionen (von 1949)“, einem auf die Haager Konvention von 1970 aufbauenden „Haager Modell“ und dem „auslieferungsvertraglichen Modell“ unterschieden wird. 28 Selbst die oben in Fn. 27 angeführten Autoren geben an den zitierten Stellen zu, dass die von ihnen in dieselbe Kategorie eingeordneten Verträge z. T. voneinander abweichen, und Plachta, MJ 1999, S. 331 (360) will, um dies zu vermeiden, allein das „Haager Modell“ noch einmal in drei Untergruppen aufteilen (ein eigentliches Haager Modell, eine Variante nach Vorbild der UN-Antidrogenkonvention und eine Variante nach dem Vorbild der Europäischen Antiterrorkonvention).
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alle jeweils umfassten Normen beantworten. Würde man zusätzlich fordern, dass sich die zu einem bestimmten Modell zusammengefassten Regelungen auch hinsichtlich von Frage 5 deckten, würden selbst die beiden genannten Modelle vollends zu „einsamen Inselchen“ in einem Meer „atypischer Vorschriften“ schrumpfen.30 Aus theoretischer Sicht erstaunt diese nahezu unübersehbare Vielfalt unterschiedlich ausgestalteter Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebote. Denn diese lassen sich nach den ihnen jeweils zugrunde liegenden Motiven in zwei Gruppen einordnen,31 denen man idealtypisch jeweils ein einziges „Modell“ zuordnen könnte. Zum einen geht es dabei um Regelungen, die dem Täter deswegen die sichere Zuflucht im Ausland abschneiden wollen, weil er eine besonders schwere Straftat begangen hat, die im Gegensatz zur gewöhnlichen Kriminalität nicht nur einzelne Staaten betrifft, sondern die gesamte „Weltgemeinschaft“. Der Grund für diese „Internationalisierung“ der Tat kann rein utilitaristisch sein – so beispielsweise bei der Pflicht zur universellen Verfolgung von Angriffen auf die internationale Zivilluftfahrt, an deren Funktionsfähigkeit jeder Staat ein großes ökonomisches Interesse hat –, zunehmend ist er aber eher ethisch-moralischer Natur, beispielsweise wenn Staat A einen Angehörigen von Staat B verfolgen muss, der in seiner Heimat ausschließlich seine eigenen Mitbürger gefoltert hat.32 Einem solchen „aut dedere – aut iudicare“ für „Verbrechen gegen die Weltgemeinschaft“ ließe sich zweites Modell gegenüberstellen, das den Auslieferungsverträgen zugrunde liegt. Bei ihnen geht es nicht darum, im Interesse der gesamten Menschheit die universelle Verfolgung von „Ausnahmeverbrechen“ sicherzustellen, sondern die Staaten verpflichten sich auf Gegenseitigkeitsbasis, dem jeweiligen Vertragspartner durch Auslieferung oder Strafverfolgung bei 29 Ausführlich zu den einzelnen vertraglichen „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen sowie ihren Gemeinsamkeiten und Abweichungen oben 3. Kapitel A. I.–V. 30 Denn für die Frage, wie groß der Entscheidungsspielraum der Strafverfolgungsbehörde ist, kommt es entscheidend auf die Umschreibung des „iudicare“ an, die einerseits selbst innerhalb der „Haager Modells“ nicht immer einheitlich ist [vgl. zu entsprechenden Abweichungen der UN-Diplomatenschutzkonvention – um nur ein Bsp. zu nennen – oben 3. Kapitel A. I. 3. b)], und die andererseits selbst bei Verträgen, die insgesamt nicht dem „Haager Modell“ nachgebildet sind, in enger Anlehnung an die Haager Konvention von 1970 erfolgt (vgl. bspw. die UN-Konventionen gegen Korruption und organisierte Kriminalität, dazu oben 3. Kapitel A. III. 3. und 4.). 31 Zu den politischen Motiven, auf denen die einzelnen Abkommen ausweislich von Präambeln und Entstehungsgeschichte beruhen, oben 3. Kapitel A. VI. 32 Vgl. zu diesem Wandel der „Weltgemeinschaftsidee“, der vor allem hinsichtlich der Verfolgung von „Menschenrechtsverbrechern“ seit dem Abschluss der UNFolterkonvention von 1984 spürbar ist, oben 3. Kapitel A. VI.
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der Durchsetzung von dessen Strafrecht gegenüber flüchtigen „normalen“ Kriminellen zu helfen, damit dieser im umgekehrten Fall dasselbe tut.33 Betrachten wir nun, wie sich diese unterschiedlichen Motivlagen aus theoretischer Sicht auf die Ausgestaltung des Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes auswirken. „Aut dedere – aut iudicare“-Regelungen, die auf diesem „Weltgemeinschaftsgedanken“ beruhen, müssten eigentlich einheitlich folgende Charakteristika aufweisen: Sie müssten 1. unabhängig davon eingreifen, ob ein im herkömmlichen Sinne unmittelbar von der Tat betroffener Staat beim Zufluchtsstaat die Auslieferung des Täters beantragt, da es nicht der Dispositionsbefugnis der besonders betroffenen Staaten unterliegen kann, ob der Feind der gesamten Menschheit bestraft wird oder nicht;34 2. sich auf eigene Staatsbürger des Zufluchtsstaates und auf Ausländer erstrecken, da es aus Sicht der Weltgemeinschaft völlig belanglos ist, ob die Auslieferung am Prinzip der Nichtauslieferung eigener Bürger oder an anderen Erwägungen scheitert: Sie kann in keinem Fall dulden, dass der Verletzer ihrer Grundwerte im Ergebnis einem Strafverfahren entgeht; 3. dem Zufluchtsstaat die freie Wahl lassen, ob er den Täter selbst vor Gericht stellt oder aber durch die Auslieferung seine Aburteilung in einem der nach herkömmlichem Verständnis „betroffenen“ Staaten ermöglicht. Denn wenn man die Vorstellung, die betreffende Tat würde alle Staaten der internationalen Gemeinschaft verletzten, ernst nimmt, ist es belanglos, in welchem dieser Staaten der Täter strafrechtlich verfolgt wird, sofern er nur im Ergebnis überhaupt strafrechtlich verfolgt wird;35 4. vom Zufluchtsstaat etwas verlangen, was dieser nach allgemeinen Völkerrecht sonst nicht einmal darf, nämlich die Ausdehnung seines Strafrechts auf die betreffenden Taten auch dann, wenn ein von ihm nicht ausgelieferter Ausländer sie im Ausland gegen andere Ausländer begangen hat, und somit keinerlei genuine link zwischen Zufluchtsstaat und Tat besteht.36 Denn die Bestrafung des hostis humani generis geht alle Staaten an; die Völkergemeinschaft kann nicht dulden, dass Einzelne ihren Beitrag dazu nicht leisten, weil sie, wie die angelsächsischen Staaten, traditionell sehr zurückhaltend mit der extraterritorialen Anwendung ihres Strafrechts sind und deswegen von einer bloßen Erlaubnis zur Anwendung des Weltrechtsprinzips keinen Gebrauch machen würden; 33
Dazu näher oben, 3. Kapitel A. VI. Vgl. oben 4. Kapitel A. II. 4. a) und b). 35 Vgl. oben 4. Kapitel B. V. 36 Zu den völkerrechtlichen Grenzen der (strafrechtlichen) Regelung von Auslandssachverhalten vgl. oben 1. Kapitel B. I. 34
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5. angesichts der Schwere der betroffenen Taten die Befugnis der Strafverfolgungsbehörde zur folgenlosen Einstellung des Verfahrens beschränken – etwa nach dem Vorbild von Artikel 7 Satz 2 Haager Konvention, der nur solche Verfahrenseinstellungen erlaubt, die im Zufluchtsstaat auch hinsichtlich von in seinem Gebiet begangenen, nichtpolitischen Schwerverbrechen üblich sind. Diesem Idealbild entsprechen die Verträge nach dem „Haager Modell“ – mit Ausnahme von Punkt 5., wo sie nicht alle Artikel 7 Satz 2 Haager Konvention übernehmen37 – und die Genfer Konventionen, deren „aut dedere – aut iudicare“ trotz einer vollkommen anderen Wortwahl weitgehend zum selben Ergebnis führt wie das der Haager Konvention.38 Dagegen müssten diejenigen „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen, die nur eine auf Gegenseitigkeit beruhende Hilfe bei der Durchsetzung des nationalen Strafrechts eines besonders betroffenen Staates gegenüber einem flüchtigen „normalen“ Kriminellen bezwecken: 1. das „aut dedere – aut iudicare“ nur eingreifen lassen, wenn ein von der Tat betroffener Staat einen Auslieferungsantrag gestellt und so zu erkennen gegeben hat, dass er eine Strafverfolgung des Täters wünscht. Denn wieso sollte der Zufluchtsstaat dem Partner die Hilfe bei der Durchsetzung seines Strafanspruches aufdrängen, wenn dieser ihn selbst gar nicht verwirklichen will?39 2. könnte man die Pflicht zum „iudicare“ hier mit guten Gründen auf die Nichtauslieferung eigener Staatsbürger sowie auf die Nichtauslieferung aus menschenrechtlichen Gründen beschränken, denn nur bei diesen beiden Auslieferungsausnahmen verhält es sich so, dass der Zufluchtsstaat die Auslieferung nicht deshalb ablehnt, weil er grundsätzlich nicht zur Sühnung der Tat beitragen möchte, sondern lediglich aus Misstrauen gegenüber den Methoden und Institutionen des ersuchenden Staates. Anders dagegen, sofern die Auslieferungsausnahme für politische, militärische oder steuerrechtliche Straftaten eingreift: Hier will der Zufluchtsstaat sich völlig heraushalten; sich nicht in innenpolitische Streitigkeiten fremder Staaten einmischen und 37 So sind die UN-Diplomatenschutzkonvention, die Konvention zum Schutz von Kernmaterial, das 2. Zusatzprotokoll zur Kulturgüterschutzkonvention und die Afrik. Antiterrorkonvention dem Haager Modell zuzuordnen, verzichten aber auf die Einschränkung des staatsanwaltschaftlichen Entscheidungsspielraums nach Art. 7 S. 2 Haager Konvention [vgl. dazu im Einzelnen oben 3. Kapitel A. I. 3. b), 5. und II. 1. c)]. 38 Vgl. oben 3. Kapitel A. I. 2. und II. 1. sowie 4. Kapitel A. II., III., B. III., 1., 2., C. 1., 3. Dabei sind die Genfer Konventionen hinsichtlich der Möglichkeit der Verfahrenseinstellung sogar noch etwas strikter als Art. 7 S. 2 Haager Konvention. 39 Vgl. dazu oben 4. Kapitel II. 4. a) und b).
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auch nicht zur Verteidigung von deren fiskalischen oder verteidigungspolitischen Belangen eingespannt werden. Eine Strafverfolgung des Täters durch seine eigenen Behörden wäre damit ebenso wenig verträglich wie die Auslieferung.40 3. macht es in diesen Fällen durchaus Sinn, den Zufluchtsstaat grundsätzlich zur Auslieferung des Täters zu verpflichten und ihm deren Verweigerung nur bei Vorliegen bestimmter Ausnahmen zu gestatten – wobei er dann, wie soeben dargelegt, je nach der Natur der eingreifenden Ausnahme teilweise selbst strafrechtlich verfolgen muss. Denn geholfen wird dem ersuchenden Staat bei der Durchsetzung seines Strafrechts am besten, wenn man ihm den Täter zur Strafverfolgung zuführt; ein Übernahme der Strafverfolgung durch den Zufluchtsstaat sollte auf die Fälle beschränkt sein, in denen zwingende Gründe der Auslieferung entgegenstehen.41 4. ist es hier nicht sinnvoll, dem Zufluchtsstaat die Aufnahme des Weltrechtsprinzips in sein Strafrechtsanwendungsrecht zu erlauben oder gar vorzuschreiben. Die meisten Auslieferungsverträge bleiben hinter dem unter 2. beschriebenen Ideal ohnehin insofern zurück, als sie eine Pflicht zum „iudicare“ nur für die Nichtauslieferung eigener Staatsbürger normieren, nicht aber, wenn die Auslieferung eines Ausländers an menschenrechtlichen Erwägungen scheitert.42 Eine völkerrechtliche Erlaubnis zur Ausdehnung des Strafrechts ist dann gar nicht nötig, da der Zufluchtsstaat das Verhalten seiner Bürger im Ausland ohnehin strafrechtlich regeln darf; eine Verpflichtung dazu wäre insofern meist überflüssig, als diejenigen Staaten, die ihre eigenen Bürger nicht ausliefern, das aktive Personalprinzip praktisch auch immer bereits freiwillig in ihr Strafrecht aufgenommen haben. Lediglich wenn man das „iudicare“ auch auf aus menschenrechtlichen Gründen nicht ausgelieferte Ausländer erstreckt, müsste das Völkerrecht die Strafverfolgung im Zufluchtsstaat legitimieren, da dieser dann ja eine gegen ausländische Rechtsgüter gerichtete Auslandstat eines Ausländers verfolgen soll, also eine Tat, zu der er keinerlei Verbindung aufweist, und ihn ferner auch verpflichten, den Anwendungsbereich seines Strafrechts so zu definieren, dass dies möglich ist. Allerdings beruht das „iudicare“ auch dann nicht auf dem Weltrechtsprinzip, sondern auf dem Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege, denn der Zufluchtsstaat wird nicht tätig, weil die Tat die gesamte Weltgemeinschaft und damit auch ihn selbst verletzt hat, sondern übernimmt mit Zustimmung des unmittelbar betroffenen Staates, die hier im Auslieferungsersuchen zum Ausdruck kommt, „stellvertretend“ für diesen die Strafverfolgung.43 40 41 42
Vgl. dazu ausführlich oben 3. Kapitel A. V. Vgl. dazu oben 4. Kapitel B. V. Vgl. dazu oben 3. Kapitel A. V.
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5. ist es wenig sachgerecht, hier den Strafverfolgungsbehörden allzu enge Vorgaben für ein Absehen von Strafverfolgung zu machen, da der große sachliche Anwendungsbereich der Auslieferungsverträge, die sich auf nahezu das gesamte Feld der Kriminalität erstrecken, es mit sich bringt, dass Verfahrenseinstellungen in größerem Umfang akzeptabel erscheinen, als bei „internationalen Verbrechen“ – etwa wenn die Tat so geringfügig ist, dass eine Herbeischaffung von Zeugen und Beweismittel aus dem Tatortstaat dem Zufluchtsstaat kaum zugemutet werden kann.44 Die von einem Teil der Wissenschaft vorgenommene Aufspaltung der „aut dedere – aut iudicare“-Regelungen in einen „offence oriented approach“, der sachlich eng auf bestimmte Straftaten beschränkt ist, dafür aber unabhängig vom Grund der Nichtauslieferung eingreift, und einen „offender oriented approach“, der sich auf eine große Anzahl von Straftaten erstreckt, aber nur eingreift, wenn die Auslieferung gerade an der Staatsangehörigkeit des Täter gescheitert ist,45 hat also durchaus eine gewisse Plausibilität. Die Wirklichkeit bildet sie jedoch eben so unvollkommen ab, wie die oben erwähnte Einteilung in „Haager Modell“, „Modell von 1929“ et cetera. Die „Zweiteilung“ des „aut dedere – aut iudicare“ besteht in dieser Konsequenz nämlich nur in der Theorie: Es gibt eine ganze Reihe von Verträgen, die „offence oriented“ sind, also nur einen eng begrenzten Kreis herausgehobener Straftaten betreffen, und dennoch ein „offender oriented“, weil nur auf eigene Bürger des Zufluchtsstaat beschränktes, „aut dedere – aut iudicare“ enthalten.46 Ebenso steht es im Widerspruch zu den oben vorgestellten „Idealbildern“, wenn Verträge zur Bekämpfung bestimmter besonders schwerer Straftaten, die in ihren Präambeln zum Teil sogar ausdrückliche Hinweise auf den „Weltgemeinschaftsgedanken“ enthalten, die Strafverfolgungspflicht vom Vorliegen eines Auslieferungsersuchens abhängig machen47 – und damit letztlich die Verfolgung des Feindes der gesamten 43
Vgl. dazu näher oben 4. Kapitel A. II. 4. a). Dazu, dass der strenge Standard des Art. 7 S. 2 Haager Konvention nicht für jedes „aut dedere – aut iudicare“ angemessen ist, vgl. ausführlich oben, 4. Kapitel C. III. 4. 45 So die Unterscheidung bei Plachta, MJ 1999, S. 331 (358); ähnl. auch bei Stein, Auslieferungsausnahme, S. 163 f. 46 So die Antiterrorkonventionen der OIC und der Arabischen Liga sowie die meisten Verträge gegen Menschenhandel, Drogenhandel, Korruption, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität [vgl. dazu im Einzelnen oben 3. Kapitel A. I. 9. c), III. und IV. 2.]. 47 So neben den regionalen Antiterrorverträgen – mit Ausnahme der afrik. Antiterrorkonvention – auch die OAS-Diplomatenschutzkonvention, die Übereinkommen der OAS gegen Folter und zwangsweises Verschwindenlassen, die drei Verträge der Nachkriegszeit gegen Drogenhandel, die Verträge gegen Korruption, die UN-Konvention gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, die Europ. Konven44
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Menschheit in die Hände einiger weniger „besonders betroffener“ Staaten legen, die zur Stellung eines solchen Ersuchens kompetent sind. Umgekehrt tun einige wenige „international crime conventions“ in gewisser Hinsicht sogar mehr zur effektiven Verfolgung der Taten, als sie vor dem Hintergrund des ihnen zugrunde liegenden Weltgemeinschaftsgedankens eigentlich müssten: Sie lassen dem Zufluchtsstaat nicht die Wahl zwischen „dedere“ und „iudicare“, sondern verpflichten ihn zur Auslieferung an einen besonders betroffenen Staat, sofern nicht Ausnahmetatbestände ein „iudicare“ zulassen48 – dies ist insofern positiv, als in der Realität der im herkömmlichen Sinne besonders betroffene Staat auch hier die Strafverfolgung mit dem größten Nachdruck durchführen wird, entspricht aber nicht der theoretischen Überlegung, die Tat würde alle Staaten gleichermaßen verletzen. Es gibt also außer den beiden theoretisch zu hundert Prozent stimmigen „aut dedere – aut iudicare“-Formen, die im positiven Recht ihren Niederschlag im Haager Modell und den Genfer Konventionen einerseits, sowie den meisten Auslieferungsverträgen andererseits gefunden haben, auch noch eine ganze Reihe von Regelungen, die entweder einem anderen Modell folgen als demjenigen, dem sie unter theoretischen Gesichtspunkten eigentlich zugeordnet werden müssten, oder aber Elemente aus beiden Kategorien miteinander vermischen. Solche Inkongruenzen habe sogar historische Tradition: Viele derjenigen, die in vergangenen Jahrhunderten ein „aut dedere – aut iudicare“ mit „Weltgemeinschaftsgedanken“ begründet haben, haben den Zufluchtsstaat nichts destotrotz nur dann in die Pflicht genommen, wenn ein besonders von der Tat betroffener Staat die Auslieferung des Täters verlangt hatte, oder sie haben zwischen eigenen Bürgern des Zufluchtsstaates und Ausländern differenziert.49 Beiden theoretischen Modellen widerspricht es sogar, wenn Staaten, die eine Ausdehnung ihres Strafrechts auf Auslandstaten von Ausländern grundsätzlich ablehnen, sich das Recht vorbehalten, dem ausländischen Straftäter bei einem Scheitern der Auslieferung in jedem Fall sichere Zution gegen Cyberkriminalität, die Afrik. Antisöldnerkonvention, das Fakultativprotokoll zur Kinderrechtskonvention gegen Kinderhandel, Kinderpornographie und Kinderprostitution sowie – für Täter, die nicht Staatsangehörige des Zufluchtsstaates sind – die Falschmünzerkonvention von 1929 und die Drogenkonvention von 1936 (dazu näher oben 4. Kapitel A. I., zu den Motiven dieser Verträge 3. Kapitel VI.). 48 So die Antiterrorkonventionen der OIC und der Arab. Liga (vgl. oben 4. Kapitel B. III. 5.). 49 Vgl. dazu im Einzelnen oben 2. Kapitel B. I. 1. bis 8. Der Eingang eines Auslieferungsersuchens wurde danach nahezu unisono zur Voraussetzung der Strafverfolgungs- oder Auslieferungspflicht erklärt. Es war ein Verdienst des Grotius, wenigstens die Differenzierung zwischen eigenen Staatsbürgern und Fremden aufgegeben zu haben, die Vattel allerdings ein Jahrhundert später wieder einführte.
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flucht zu gewähren. Gerade diese Regelung schwächt das „aut dedere – aut iudicare“ erheblich, da sie die Strafverfolgung im Zufluchtsstaat letztlich unter den Vorbehalt der nationalen Rechtslage stellt und völkerrechtlich in dieser Hinsicht zunächst einmal nichts anderes tut, als dem Zufluchtsstaat die ansonsten verbotene Ausdehnung seines Strafrechts auf Sachverhalte, die keinen Bezug zu ihm aufweisen, zu erlauben; zur Strafverfolgung verpflichtet wird er nur, wenn er freiwillig von dieser Erlaubnis Gebrauch gemacht hat.50 Hier haben überkommene Vorbehalte bestimmter Staaten gegen die Verfolgung von Auslandstaten über das Interesse an einer grenzüberschreitenden Strafverfolgung gesiegt. Der Grund für solche und ähnliche Brüche liegt darin, dass kaum eine Regelung ihren „Hauptzweck“ – hier die lückenlose universelle Verfolgung von Personen, die durch schwere Straftaten die Werte oder Interessen der gesamten Staatengemeinschaft verletzt haben – mit vollem „effet utile“ verfolgen kann, ohne auf konkurrierende oder sogar gegenläufige Erwägungen Rücksicht zu nehmen – hier beispielsweise die traditionellen Positionen zum Strafrechtsanwendungsrecht oder die Überlegung, dass man sich nicht zu kostspieligen und vielleicht sogar politisch delikaten Strafverfolgungsmaßnahmen verpflichten will, wenn selbst der Tatortstaat und der Heimatstaat der Opfer keinen Auslieferungsantrag stellen möchten. Die soeben erwähnten Unstimmigkeiten in den wissenschaftlichen Werken früherer Jahrhunderte zeigen, dass selbst in der Brust des Theoretikers manchmal zwei sich derart widerstreitende Seelen schlagen.51 Wenn die Staaten im Wege des politischen Kompromisses Völkerrecht schaffen müssen, gilt dies natürlich noch viel mehr. So erklärt sich, dass sie in manchen Verträgen zur Bekämpfung besonders schwerer Straftaten den „Weltgemeinschaftsgedanken“ in Bezug auf das „aut dedere – aut iudicare“ konsequent zu Ende gehen, in anderen – die zum Teil sogar dieselben Straftatbestände betreffen52 – aber zurückhaltender sind. Deshalb sollte man nur äußerst vorsichtig vom Inhalt einer „aut dedere – aut iudicare“-Regelung auf deren Motiv, oder gar umgekehrt, vom Motiv auf den Inhalt schließen. 50
Dazu näher oben 1. Kapitel B. IV. In diesem Zusammenhang ist es vielleicht interessant darauf hinzuweisen, dass Grotius zwar einerseits dem „Weltgemeinschaftsgedanken“ zugeneigt war, der eine möglichst effektive grenzüberschreitende Strafverfolgung verlangt, sich andererseits als ein aus religiösen und politischen Gründen aus seiner Heimat Geflüchteter aber aus eigener Erfahrung auch der berechtigten Interessen des Flüchtlings bewusst gewesen sein muss. 52 So bleiben die OAS-Folterkonvention, die OAS-Diplomatenschutzkonvention und die Afrik. Antisöldnerkonvention insofern hinter ihren Pendants auf UN-Ebene zurück, als sie die Stellung eines Auslieferungsersuchens zur Voraussetzung für das „aut dedere – aut iudicare“ erheben. 51
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Noch weniger lässt sich die Regelung der Frage, aus welchen Gründen die Strafverfolgungsbehörden von der Anklageerhebung absehen dürfen, in theoretische Erklärungsmuster einordnen, denn es gibt hier sowohl Verträge nach dem „Haager Modell“, die in dieser Hinsicht nur sehr schwache Vorgaben machen,53 als auch – etwa im Bereich der Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität – Verträge, die ein hinsichtlich der oben erörterten Fragen eher schwaches „aut dedere – aut iudicare“ vorsehen, aber dennoch den vergleichsweise strengen Entscheidungsmaßstab aus Artikel 7 Satz 2 der Haager Konvention von 1970 (jedenfalls größtenteils) übernommen haben.54 Letztlich lassen sich neben den auch hier vorzufindenden atypischen Regelungen vier Gruppen ausmachen, die allerdings quer über die oben genannten Kategorien verteilt sind und deren Gemeinsamkeiten sich häufig auch nicht auf den ersten Blick, sondern erst nach eingehender Interpretation erschließen: Zum einen solche, die eine Verfahrenseinstellung nur aus Gründen zulassen, die jedem rechtsstaatlichen Verfahren immanent sind (z. B. mangelnder Tatverdacht oder schwere Krankheit);55 zum anderen solche, die Einstellungen nur zulassen, wenn Verfahren wegen schwerer, unpolitischer Straftaten, die im Gebiet des Zufluchtsstaates begangen wurden, aus denselben Gründen eingestellt werden könnten56 – was in der Praxis eine Einstellung aus Opportunitätsgründen meist ausschließen dürfte;57 des weiteren solche, die sogar alle auch bei Inlandstaten zulässigen Nichtverfolgungsentscheidungen erlauben, aber keine Sonderregelungen für Auslandstaten;58 und schließlich solche, die den Strafverfolgungsbehörden die volle Freiheit lassen, von einer Anklage abzusehen – auch aufgrund von 53 So die UN-Diplomatenschutzkonvention, die Konvention zum Schutz von Kernmaterial, das 2. Zusatzprotokoll zur Kulturgüterschutzkonvention und die Afrik. Antiterrorkonvention, die völlig auf eine Art. 7 S. 2 Haager Konvention entsprechende Regelung verzichten; aber auch die UN-Söldnerkonvention bleibt hinter der Haager Regelung zurück, wenn sie aus dieser das Verbot zur Berücksichtigung der politischen Aspekte der Tat streicht (vgl. auch oben 4. Kap. Fn. 186). 54 So bspw. – allerdings ohne das Verbot der Berücksichtigung polit. Aspekte der Straftat aus Art. 7 S. 2 Haager Konvention zu übernehmen – die Europ. Antiterrorkonvention, die Europ. Terrorismusvorbeugungskonvention, die SAARC-Antiterrorkonvention, die UN-Konventionen gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität und Korruption; noch schwächer die Europ. Konvention gegen Cyberkriminalität, die nur eine Strafverfolgung wie in einem „vergleichbaren“ nationalen Fall vorschreibt (vgl. dazu 4. Kap. Fn. 186). Recht strenge Grenzen für den Entscheidungsspielraum der Strafverfolgungsbehörde enthält auch Art. 5 OECD-Konvention gegen Korruption (vgl. oben 4. Kap. Fn. 209). 55 So wohl die Genfer Konventionen, die Afrik. Antisöldnerkonvention und die Antiterrorkonventionen der OIC sowie der Arab. Liga (vgl. oben 4. Kapitel C. III. 3. a. E.). 56 Vgl. die oben in 4. Kap. Fn. 186 angeführten Verträge, z. T. mit den dort genannten Abweichungen. 57 Vgl. dazu ausführlich oben 4. Kapitel C. III., 1. b).
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im innerstaatlichen Recht eventuell vorgesehenen Opportunitätserwägungen oder besonderen Einstellungsmöglichkeiten für Auslandstaten.59 Allerdings dürfte es auch im letztgenannten Fall gegen Treu und Glauben verstoßen, wenn ein Zufluchtsstaat in „aut dedere – aut iudicare“-Konstellationen jedes Strafverfahren allein wegen des ausländischen Tatortes einstellt, denn eine solche Praxis ließe von der „iudicare“-Pflicht im Ergebnis nichts mehr übrig.60 Ob man angesichts der somit in allen Fällen bestehenden Möglichkeit, dass unter bestimmten Umständen nie ein „iudex“ – also: Richter – mit dem Fall befasst wird, von „iudicare“ redet, oder, wie einige Autoren, von „prosequi“,61 ist letztendlich belanglos: „Iudicare“ ist in diesem Zusammenhang weder ein feststehender Fachterminus der lateinischen Rechtssprache noch ein in den entsprechenden Vorschriften selbst verwendeter Begriff; es handelt sich lediglich um eine von der Wissenschaft des späten 20. Jahrhunderts entwickelte Formel zur Beschreibung des vorstehend umrissenen Pflichtenbündels.62 Sofern man nicht begriffsjuristisch vorgeht und aus dem bloßen Terminus „iudicare“ Rechtsfolgen ableitet, die die jeweils einschlägige Strafverfolgungs- oder Auslieferungsvorschrift nicht hergibt, ist gegen seine Verwendung nichts einzuwenden. Denn es ist sprachlich jedenfalls nicht völlig ausgeschlossen, „iudicare“ als Bezeichnung für die Untersuchung des Falles durch die Strafverfolgungsbehörde zu verstehen.63 Nur 58 So vor allem die im Rahmen der OAS abgeschlossenen Verträge (OAS-Folterkonvention; OAS-Diplomatenschutzkonvention; OAS-Konvention gegen Verschwindenlassen, sowie Inter-American Convention on Extradition), aber auch die Falschmünzerkonvention von 1929 (vgl. oben 4. Kap. Fn. 213 und 217). 59 So das EurAuslÜbk, die UN-Diplomatenschutzkonvention, die Konvention zum Schutz von Kernmaterial, das 2. Zusatzprotokoll zur Kulturgüterschutzkonvention, die Afrikanische Antiterrorkonvention, die Verträge gegen Korruption (mit Ausnahme der UN-Konvention), das Fakultativprotokoll zur Kinderrechtskonvention betreffend Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie, die Menschenhandelskonvention von 1949 sowie die Verträge der Nachkriegszeit gegen Drogenhandel (vgl. oben 4. Kapitel C. III. 2. und 3.). 60 Vgl. dazu oben 4. Kapitel C. III. 4. a. E. 61 Vgl. dazu oben 4. Kap. Fn. 146. 62 Vgl. dazu auch oben 2. Kapitel A. sowie Bassiouni/Wise, S. 4 und Wise, Israel Law Review 27 (1993), S. 268 (276). 63 Vgl. etwa den entsprechenden Eintrag in Langenscheidts Schulwörterbuch Lateinisch, 18. Aufl. Berlin u. a. 1984, wo für „iudicare“ neben „richterlich entscheiden“ und „gerichtlich untersuchen“ auch schlicht und einfach „beurteilen“ und „entscheiden“ als mögliche Übersetzungen angeführt werden, für das Substantiv „iudicatio“ neben „Urteil“ auch schlicht „Untersuchung“ – womit das Vorgehen der Strafverfolgungsbehörde sehr zutreffend beschrieben würde (zu ähnlichen Übersetzungen beider Wörter in lat.-engl. Wörterbüchern vgl. Bassiouni/Wise, S. 4 und Wise, Israel Law Review 27 [1993], S. 268 [276]).
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vom älteren, durch Grotius geprägten Ausdruck „aut dedere – aut punire“ sollte man heute besser Abstand nehmen. Er könnte die – freilich von Grotius nicht vertretene64 – unsinnige Assoziation wecken, der Zufluchtsstaat dürfe unter keinen Umständen – also auch beispielsweise nicht aus Mangel an Beweisen – von einer Bestrafung des Verdächtigen absehen. Die teilweise logisch nicht begründbare Existenz unterschiedlich ausgestalteter Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebote ist zwar vom Rechtswissenschaftler auf der dogmatischen Ebene als Faktum hinzunehmen, einige kurze rechtspolitische Bemerkungen sollten hier aber abschließend dennoch gestattet sein: Könnte man sich darauf verständigen, in Zukunft in allen Verträgen, die sich mit der Bekämpfung außergewöhnlich schwerwiegender Straftaten von internationalem Interesse befassen, dem „Haager Modell“ zu folgen, sowie bezüglich der übrigen Kriminalität in Auslieferungsverträgen das „aut dedere – aut iudicare“ nicht nur auf die Nichtauslieferung eigener Staatsbürger, sondern auch auf die von der Motivlage her ähnlichen menschenrechtlichen Auslieferungshindernisse zu erstrecken, wäre viel an Klarheit und logischer Stringenz gewonnen. Gerade der Rückgriff auf das bereits bewährte „Haager Modell“ hätte für zukünftige „international crime conventions“ immense Vorteile, denn zum einen beschleunigt er die Vertragsverhandlungen, zum anderen vermeiden inhaltlich identische Repressionsmechanismen Friktionen, wenn sich die sachlichen Anwendungsbereiche verschiedener „aut dedere – aut iudicare“-Verträge überschneiden, wie es namentlich bei der Terrorismusbekämpfung häufig der Fall ist.65 Für das „Haager Modell“ spricht überdies, dass es die effiziente Bekämpfung der betreffenden Schwerstverbrechen besser sichert, als die meisten anderen Varianten des „aut dedere – aut iudicare“. Auch im Bereich von Korruption, Drogenund Menschenhandel und anderer organisierter Kriminalität, wo bislang eher schwache Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebote vereinbart wurden, sollte diese „scharfe“ Lösung nicht auf Dauer politisch undurchsetzbar bleiben. Zugegebenermaßen stehen diese Verbrechen in gewisser Weise zwischen den herkömmlichen „international crimes“ und den von Auslieferungsverträgen umfassten „gewöhnlichen“ Straftaten. Wenn man sich aber ihre Auswirkungen in bestimmten Weltregionen, namentlich in den Ent64
Dazu, dass Grotius dem Zufluchtsstaat die Beurteilung der Schuldfrage sowohl vor einem „punire“ als auch vor einem „dedere“ gestattete und mit Nachdruck dafür eintrat, den unschuldig Verfolgten zu schützen, vgl. oben 2. Kapitel D. I. 5. 65 So kann – um ein etwas konstruiertes Extrembeispiel zu wählen – die Entführung eines Flugzeuges, an Bord dessen sich auch ein Diplomat befindet, allein von drei universell angelegten Antiterrorverträgen geregelt sein (UN-Diplomatenschutzkonvention, UN-Geiselnahmekonvention, Haager Konvention), von regionalen Abkommen ganz zu schweigen.
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wicklungs- und Schwellenländern, vor Augen führt, ist an ihrer Gefährlichkeit für das Wohlergehen der Menschheit kaum zu zweifeln. Nicht zufällig kamen gerade aus der so genannten „Dritten Welt“ Vorschläge, solche Straftaten sogar der Zuständigkeit eines internationalen Strafgerichtes zu unterstellen.66 Ein scharfes „aut dedere – aut iudicare“ nach Haager Modell kann, wenn es mit der für „internationale Verbrechen“ einzig sachgerechten Einschränkung des Entscheidungsspielraums der Strafverfolgungsbehörden auf die nach nationalem Recht bei im Inland begangenen, unpolitischen Schwerverbrechen zulässigen Einstellungsgründe einhergeht, auch neben der internationalen Strafgerichtsbarkeit weiterhin ein Erfolg versprechendes Modell zur Bekämpfung schwerster „Ausnahmeverbrechen“ sein. Denn die internationale Strafgerichtsbarkeit stößt an faktische und politische Grenzen, wie die Arbeitsüberlastung des ICTY und die harte Opposition der Supermacht USA gegen den ICC zeigen. Mit dieser Feststellung soll keinesfalls versucht werden, internationale Strafgerichtsbarkeit und „aut dedere – aut iudicare“ gegeneinander auszuspielen: Ein nach dem Subsidiaritätsprinzip arbeitendes internationales Strafgerichts ist eine sinnvolle Ergänzung des Strafverfolgungs- oder Auslieferungsgebotes und kann dessen wichtigsten Nachteil – die Abhängigkeit von der Bereitschaft der nationalen Justiz zu völkerrechtsgemäßem Verhalten – erheblich entschärfen. Es kann nämlich in den Sachbereichen, in denen sich seine Gerichtsbarkeit mit einem „aut dedere – aut iudicare“ überschneidet, eine gewisse Kontrolle über die Ernsthaftigkeit der nationalen Strafverfolgungs- oder Auslieferungsbemühungen ausüben und nötigenfalls selbst als „Lückenbüßer“ eingreifen.67
66
Zu solchen Versuchen schon lange vor dem ICC-Statut, aber auch noch bei dessen Ausarbeitung, vgl. Schabas, International Criminal Court, S. 28. 67 Zum Verhältnis von internationaler Strafgerichtsbarkeit und „aut dedere – aut iudicare“ vgl. näher oben 5. Kapitel.
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Verzeichnis häufig zitierter Verträge Die nachfolgenden Verträge werden in der Abfolge Kurzbezeichnung im Text, Offizieller Titel (dt. Titel, sofern ein solcher im Fundstellennachweis B zum BGBl. 2005 nachgewiesen ist; ansonsten engl. oder franz. Titel), Datum/Ort und Fundstelle (BGBl.-Fundstelle, sofern eine solche im Fundstellennachweis B zum BGBl. 2005 nachgewiesen ist) genannt. 2. Zusatzprotokoll zur Kulturgüterschutzkonvention: Second Protocol to the Hague Convention of 1954 for the Protection of Cultural Property in the Event of Armed Conflict; Den Haag, 26.03.1999; http://www.icrc.org/ihl.nsf. Af. Ch. MR: Charte africaine des droits de l’homme et des peuples; Nairobi, 27.06. 1981; http://www.africa-union.org/home/Bienvenue.htm. Afrikanische Antikorruptionskonvention: African Union Convention on Preventing and Combating Corruption; Maputo, 11.07.2003; ILM 43 (2004), S. 5 ff. Afrikanische Antisöldnerkonvention: Convention of the Organization of African Unity for the Elimination of Mercenarism in Africa; Libreville, 03.07 1977; http://www.icrc.org/ihl.nsf. Afrikanische Antiterrorkonvention: OAU Convention on the Prevention and Combating of Terrorism; Algiers, 14.07.1999; http://untreaty.un.org/English/Terrorism/ oau_e.pdf. AMRK: American Convention on Human Rights; San José de Costa Rica, 22.11. 1969; ILM 9 (1970), S. 99 ff. Antidrogenkonvention von 1936: Convention for the Suppression of the Illicit Traffic in Dangerous Drugs; Genf, 26.06.1936; LNTS 198, 299; auszugsweise bei Bassiouni/Wise, S. 227 ff. Antiterrorkonvention der OIC: Convention of the Organization of the Islamic Conference on Combating International Terrorism; Ougadogou, 01.07.1999; http:// www.oic-un.org/26icfm/c.html. Arab. AuslÜbk.: Arab Convention on Extradition; Kairo, 14.09.1952; BFSP 159, S. 606. Arabische Antiterrorkonvention: Arab Convention for the Suppression of Terrorism; Kairo, 22.04.1998; http://www.leagueofarabstates.org/E_News_Antiterrorism.asp. Convention on the Suppression of Traffic in Persons: Convention for the Supression of the Traffic in Persons and of the Exploitation of the Prostitution of Others; New York, 02.12.1949; http://193.194.138.190/html/menu3/b/33.htm. EMRK: Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten; Rom, 04.11.1950; BGBl. 1952 II, 685; Neufassung BGBl. 2002 II, 1054.
Verzeichnis häufig zitierter Verträge
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Erstes Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen: Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I); Genf, 08.06.1977; BGBl. 1990 II, 1550. Europ. AuslÜbk.: Europäisches Auslieferungsübereinkommen; Paris, 13.12.1957; BGBl. 1964 II, 1369. Europäische Korruptionskonvention: Criminal Law Convention on Corruption; Straßburg, 27.01.1999; CETS No. 173. Europäische Antiterrorkonvention: Europäisches Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus; Straßburg, 21.01.1977; BGBl. 1978 II, 321. Europäische Konvention gegen Cyberkriminaliät: Convention on Cybercrime; Budapest, 23.11.2001; CETS No. 185; ILM 41 (2002), S. 282 ff. Europäische Terrorismusvorbeugungskonvention: Council of Europe Convention on the Prevention of Terrorism; Warschau, 16.5.2005; CETS No. 196. Falschmünzerkonvention: Internationales Abkommen zur Bekämpfung der Falschmünzerei; Genf, 20.04.1929; RGBl. 1933 II, 913. Genfer Konventionen: Genfer Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Streitkräfte im Felde; Genfer Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der Streitkräfte zur See; Genfer Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen; Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten; Genf, 12.08.1949; BGBl. 1954 II, 783; BGBl. 1954 II, 813; BGBl. 1954 II, 838; BGBl. 1954 II, 1586. Genfer Übereinkommen über die Hohe See: Übereinkommen über die Hohe See; Genf, 29.04.1958; BGBl. 1972 II, 1089. Haager Konvention: Übereinkommen zur Bekämpfung der widerrechtlichen Inbesitznahme von Luftfahrzeugen; Den Haag, 16.12.1970; BGBl. 1972 II, 1505. ICC-Statut: Römisches Statut des 17.07.1998; BGBl. 2000 II, 1393.
Internationalen
Strafgerichtshofs;
Rom,
IGH-Statut: Statut des Internationalen Gerichtshofes; San Francisco, 26.06.1945; BGBl. 1973 II, 505. Inter-American Convention on Corruption: Inter-American Convention against Corruption; Caracas, 29.03.1996; OAS-Treaties Series B-58. Inter-American Convention on Extradition: Inter-American Convention on Extradition; Caracas, 25.02.1981; ILM 20 (1981), S. 723 ff. IpbpR: Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte; New York, 19.12.1966; BGBl. 1973 II, 1533. Konvention gegen psychotrope Stoffe: Übereinkommen über psychotrope Stoffe; Wien, 21.02.1971; BGBl. 1976 II, 1477. Konvention zum Schutz von Nuklearmaterial: Übereinkommen über den physischen Schutz von Kernmaterial; Wien, 26.10.1979; BGBl. 1990 II, 326.
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Verzeichnis häufig zitierter Verträge
Montrealer Konvention: Übereinkommen zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt; Montreal, 23.09.1971; BGBl. 1977 II, 1229. Nuklearterrorismuskonvention: International Convention for the Suppression of Acts of Nuclear Terrorism; New York, 15.04.2005; Annex zu GA-Res. 59/290. OAS-Diplomatenschutzkonvention: Convention pour la prévention ou la répression des actes de terrorisme qui prennent la forme de délits contre les personnes ainsi que de l’extorsion connexe à ces délits lorsque de tels actes ont des répercussion internationales; Washington, 02.02.1971; OAS-Treaty Series A-49, engl. auch ILM 10 (1971), S. 255 ff. OAS-Folterkonvention: Inter-American Convention to Prevent and Punish Torture; Cartagena de Indias, 09.12.1985; ILM 25 (1986), S. 519 ff. OAS-Konvention gegen das Verschwindenlassen: Inter-American Convention on the Forced Disappearance of Persons; Belém, 09.06.1994; ILM 33 (1994), S. 1529 ff. OECD-Korruptionskonvention: Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr; Paris, 17.12.1997; BGBl. 1998 II, 2327. SAARC-Antiterrorkonvention: SAARC Regional Convention on Suppression of Terrorism; Kathmandu, 04.11.1987; http://untreaty.un.org/English/Terrorism/ Conv18.pdf. Schifffahrtssicherheitskonvention: Übereinkommen zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Seeschifffahrt; Rom, 10.03.1988; BGBl. 1990 II, 494. Sklavereikonvention: Übereinkommen über die Sklaverei; Genf, 25.09.1926; RGBl. 1929 II, 63. Sprengstoffattentateübereinkommen: Internationales Übereinkommen über die Bekämpfung terroristischer Bombenanschläge; New York, 15.12.1997; BGBl. 2002 II, 2506. Suchtstoffeeinheitsübereinkommen: Einheitsübereinkommen von 1961 über Suchtstoffe; New York, 30.03.1961; BGBl. 1973 II, 1353. Terrorismusfinanzierungskonvention: Internationales Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus; New York, 09.12.1999; BGBl. 2003 II, 1923. UN-Antidrogenkonvention: Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen; Wien, 20.12.1988; BGBl. 1993 II, 1136. UN-Antisöldnerkonvention: International Convention against the Recruitment, Use, Financing and Training of Mercenaries; New York, 04.12.1989; ILM 29 (1990), S. 91 ff. UN-Charta: Charta der Vereinten Nationen; San Francisco, 26.06.1945; BGBl. 1973 II, 430.
Verzeichnis häufig zitierter Verträge
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UN-Diplomatenschutzkonvention: Übereinkommen über die Verhütung, Verfolgung und Bestrafung von Straftaten gegen völkerrechtlich geschützte Personen einschließlich Diplomaten (Diplomatenschutzkonvention); New York, 14.12.1973; BGBl. 1976 II, 1745. UN-Folterkonvention: Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe; New York, 10.12.1984; BGBl. 1990 II, 246. UN-Geiselnahmekonvention: Internationales Übereinkommen gegen Geiselnahme; New York, 18.12.1979; BGBl. 1980 II, 1361. UN-Konvention gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität: Convention des Nations Unies contre la criminalité transnationale organisée; New York, 15.11.2000; http://www.unodc.org/pdf/crime/a_res_55/res5525f.pdf. UN-Korruptionskonvention: United Nations Convention against Corruption; Merida, 11.12.2003; http://www.unodc.org/pdf/crime/convention_corruption/signing/ Convention_f.pdf. UN-Personalsicherheitskonvention: Übereinkommen über die Sicherheit von Personal der Vereinten Nationen und beigeordnetem Personal; New York, 15.12.1994; BGBl. 1997 II, 230. UN-Seerechtskonvention: Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen; Montego Bay, 10.12.1982; BGBl. 1994 II, 1798. Völkermordkonvention: Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes; New York, 09.12.1948; BGBl. 1954 II, 729. WKRK; Fakultativprotokoll: Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen und Fakultativprotokoll über die obligatorische Beilegung von Streitigkeiten; Wien, 24.04.1963; BGBl. 1969 II, 1585, 1688. WVRK: Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge; Wien, 23.05.1969; BGBl. 1985 II, 926. Zusatzprotokoll betreffend Kinderhandel, Kinderpornographie und Kinderprostitution zur Kinderrechtskonvention: Optional Protocol to the Convention on the Rights of the Child on the sale of children, child prostitution and child pornography; New York, 25.05.2000; ILM 39 (2000), S. 1290 ff.; dt. Übersetzung VN 2000, S. 148 ff. Zweites Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen: Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll II); Genf, 08.06.1977; BGBl. 1990 II, 1637.
Personen- und Sachregister Achille Lauro 43 (Fn. 63), 147 f., 265 ff., 271 (Fn. 662), 380 (Fn. 191) Aktives Personalprinzip 39 f., 43 f., 45, 49, 61, 99, 101, 103 ff., 115, 153, 167, 209 (Fn. 367), 213, 215, 228, 321 (Fn. 900), 343, 346, 418 Al-Quaida 276, 287, 292 ff., 305 Apartheid 160 (Fn. 143) Arrest Warrant Case, siehe Kongo, Demokrat. Republik Asylrecht 55 f., 90, 102, 390 (Fn. 227) Auslieferung, Verweigerung der 49 ff., 137, 155, 184 f., 336 ff., 413, 419 Auslieferungsausnahme für eigene Staatsbürger, siehe eigene Staatsbürger, Nichtauslieferung Auslieferungsausnahme für politische Straftaten 49, 52 f., 102, 112, 118 f., 153 f., 155 (Fn. 127), 157, 159, 168, 183 f., 264 f., 268, 270 f., 272, 291 (Fn. 759), 348 f., 358 f., 360, 362, 384, 389, 414, 418 Auslieferungsverträge 55 f., 59, 63, 65, 95, 98 ff., 112, 116 f., 124 (Fn. 388), 137, 141, 153 f., 155 (Fn. 127), 158 ff., 161, 168, 176, 177 f., 181, 182 ff., 191 f., 293, 346 f., 360 f., 389, 409, 415 ff., 419, 425 Ausweisung 30 (Fn. 5), 76 (Fn. 135), 231, 233, 277, 305 Baldus de Ubaldis 62 f., 69, 73, 75, 410 Battisti, Cesare 275 f., 295 Bin Laden, Osama 189 (Fn. 288), 276, 283 f., 287 ff., 294, 326, 334
Bonner Erklärung v. 17.07.1978 279 f., 397 Bürgerkrieg, Verbrechen im 160 (Fn. 145), 164 (Fn. 162), 195 ff., 244 (Fn. 539), 300, 320 f., 323, 349 f., 351, 361, 381, 383, 398, 409 Civitas maxima 57 f., 64, 69, 72, 75 f., 82 f., 88, 89 ff., 110, 113, 119, 186 ff., 241, 271, 307 ff., 346 f., 350 f., 363, 382, 411, 416 ff., 420 f. Diplomaten, Angriffe auf 139 ff., 146, 152, 159 (Fn. 137), 186 (Fn. 276), 283 ff., 293, 348 Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind 224 f., 244, 258, 299 Eichmann, Adolf 34, 226 f., 229 f., 235 f., 238, 240, 410 (Fn. 10) Eigene Staatsbürger, Nichtauslieferung von 39 f., 44 f., 49, 52 f., 82, 98 ff., 112, 116, 125 f., 137, 149 (Fn. 97), 155 (Fn. 127), 156 (Fn. 130), 159, 173, 174 f., 176, 180 f., 182, 253 f., 348 f., 360, 389, 414, 417 f., 425 erga omnes-Pflichten 241 f. ETA 272 Europäische Antiterrorkonvention 132, 151 ff., 157 f., 190, 248, 272, 273 (Fn. 674), 274 f., 353, 358 f., 362 ff., 373 ff. Europäische Gemeinschaften 26, 153 (Fn. 112), 214 Europäische Union 26, 50 (Fn. 81), 153 (Fn. 112), 183 (Fn. 259), 219, 238 f., 262, 289
Personen- und Sachregister Europäischer Haftbefehl 26, 50 (Fn. 81), 153 (Fn. 112) Europäisches Auslieferungsübereinkommen 154 (Fn. 116), 184, 360 f., 373 ff., 385, 388 Flugzeugentführung 110, 134, 135 ff., 146, 152, 188 f., 262, 276 ff., 286 f., 300, 320 f., 351, 361, 398, 409 Französische Revolution, siehe Revolution, französische Friedensbedrohung 283, 322 ff., 412 Fujimori, Alberto 253 Geiselnahme 134, 144 ff., 148, 152, 190, 262 f., 267 f., 295, 400 Genfer Konventionen vom 12.08.1949 145 (Fn. 70), 160 ff., 185, 194 ff., 300, 319, 349 f., 353 f., 357 f., 363 (Fn. 102), 387 f., 391, 407 (Fn. 20), 409, 418 genuine link 34 f., 36, 38, 41 f., 45 f., 48 f., 53, 61, 65, 167 ff., 175, 176 (Fn. 228), 181 f., 185, 213, 225 f., 243, 345 f., 403, 411 (Fn. 26), 417 Grotius, Hugo 54 f., 57, 63 f., 66 f., 71 f., 72 ff., 78 f., 80 f., 84 f., 91 (Fn. 217), 106 f., 108, 114 (Fn. 337), 119, 303, 314, 409 ff., 421 (Fn. 49), 422 (Fn. 51), 425 Haager Konvention gegen die widerrechtliche Inbesitznahme von Luftfahrzeugen 134, 136 ff., 139, 149 (Fn. 95), 157, 161, 186, 277 ff., 286 f., 288 (Fn. 746), 297, 354 ff., 373 ff., 409, 415 Haager Modell 137 f., 139, 140 ff., 144, 146 f., 148 f., 150, 152, 154 f., 157, 160, 162, 163 f., 170, 171 (Fn. 204), 177, 182 (Fn. 257), 185, 191, 338 ff., 344 ff., 353 ff., 380 (Fn. 186), 415, 418, 423, 425 Hobbes, Thomas 88
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ICC, siehe Internationaler Strafgerichtshof ICTR 210 ff., 212, 234, 237, 323 f., 330 f., 399 ff., 402, 404, 426. ICTY 201 f., 204, 211 f., 222 ff., 237, 258, 302, 323, 399 ff., 402, 404, 426 IGH 35 ff., 50 (Fn. 84), 52 (Fn. 92), 193 (Fn. 302), 216, 219, 220 (Fn. 418), 238, 240 ff., 257 f., 296, 300, 302, 320 (Fn. 898), 368 f., 392 (Fn. 235) ILA 299 ILC 54, 224 f., 244, 258, 299, 340, 356, 388 Immunität 27, 93 (Fn. 227), 220 (Fn. 418), 248, 249 (Fn. 557), 250 (Fn. 263), 254, 309, 317 f., 407 Internationale Strafgerichte 28, 31 (Fn. 10), 165 f., 187, 212 f., 237 f., 323 f., 332, 399 ff., 426 Internationaler Strafgerichtshof 30 (Fn. 4), 121 (Fn. 373), 128 f., 160 (Fn. 143), 187, 213, 285, 323 f., 366, 399 ff., 426 Internationales Strafrecht 37, 92, 170, 317, 333 f. Internationales Strafrecht, Prinzipien des 34, 37 ff. Internationales Verbrechen 37, 47 (Fn. 72), 51 (Fn. 85), 110, 113, 117 (Fn. 353), 124, 126, 134, 184, 192, 194 (Fn. 305), 231, 307 f., 311, 348, 361, 412, 425 IRA 149 (Fn. 92), 270 ff. ius cogens 223 (Fn. 430), 243 f., 308 ff., 333 f. Kant, Immanuel 93 (Fn. 228) Kongo, Demokrat. Republik 35 f., 216 f., 219, 220 (Fn. 418), 222 (Fn. 423), 238 Kongo, Republik 35, 37, 220 (Fn. 418), 222 (Fn. 423) Konsensprinzip 89, 308, 318
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Personen- und Sachregister
Kriegsverbrechen 110, 117 ff., 160 ff., 178, 187, 192 (Fn. 298), 193 f., 216, 249 (Fn. 558), 319, 323, 349, 365 f., 381, 383, 391, 399 f., 410 Leipziger Prozesse 122 ff., 365, 371 Locke, John 93 (Fn. 227) Lockerbie 50 (Fn. 84), 52 (Fn. 92), 282 ff., 300, 306, 324 ff., 331 f., 334, 356 (Fn. 81), 367 ff., 371, 397 (Fn. 257) Lotus-Fall 35 f., 312 (Fn. 858) Menschenrechte, als Auslieferungsschranken 26 f., 52 f., 185 (Fn. 271), 360, 377, 414, 418 f., 425 Menschenrechte, als Grundlage von Strafverfolgungs- oder Auslieferungspflichten 193 f., 244 ff., 351 f., 365 f., 409 f. Montesquieu, Charles de 92, 96, 104, 108 Naturrecht 58 f., 64, 68 f., 75 f., 83, 88, 97, 309 (Fn. 850), 313 ff. Nicaragua-Fall 217 (Fn. 408), 218 (Fn. 410), 239 (Fn. 515), 286, 302 Nordseefestlandsockel-Fall 218 (Fn. 412), 257, 296 Opportunitätsprinzip 381 ff., 423 f. Pinochet, Augusto 27, 244 (Fn. 539), 246, 248 f., 250, 380 (Fn. 189) Piraterie 75 (Fn. 126), 86 (Fn. 186), 106 (Fn. 299), 113 f., 147 f., 179 f., 191, 266 (Fn. 638) PLO 266 ff. Political offence exception, siehe Auslieferungsausnahme für politische Straftaten Positivismus 94, 107 f., 309 (Fn. 850) Pufendorf, Samuel Frh. v. 78 f., 84, 85 ff., 90, 107 (Fn. 303), 108, 111 (Fn. 318), 114 (Fn. 337), 305, 411
RAF 151, 274 f. Rainbow Warrior 367 Revolution, französische 96, 115 Rousseau, Jean-Jacques 92 f., 96, 104, 108 Safe haven 43, 45, 67, 69, 193, 279, 290 f., 340, 346 Sakajew, Achmed 295 Seefahrt, Angriffe auf die 147 ff. September, 11. September 2001 132, 150, 275, 287 ff., 297 (Fn. 787), 298 ff., 326, 328, 401 f., 410 Sklavenhandel und Menschenhandel 106 (Fn. 299), 115 f., 180 ff., 350 Souveränität 33, 51, 68 f., 166, 189, 223 (Fn. 427), 275, 303 (Fn. 819), 306, 308 ff., 322 f., 328, 348, 410 Staatenverantwortlichkeit 301 ff., 351 f., 368 ff., 409 f. Statut von Rom, siehe Internationaler Strafgerichtshof Stellvertretende Strafrechtspflege 40 ff., 44 ff., 101 f., 104 f., 334, 343 ff., 403, 419 Strafverfahren, – Einleitung 169, 377 f. – Einstellung 126 (Fn. 396), 143, 378 ff., 415, 418, 420, 423 ff., 426 – Rechte des Beschuldigten 391 ff. Subsidiarität, der Strafverfolgung gegenüber der Auslieferung 51 f., 65, 67, 352 ff. Tadic-Fall 201 f., 215, 217 (Fn. 408), 219, 222 f., 229 f., 302 Territorialitätsprinzip 38, 43, 61, 92 f., 96, 101, 104, 115, 141, 183 (Fn. 262), 209 (Fn. 367), 213, 228 ff., 410 Terrorismus 128 ff., 131 ff., 178, 184, 186 f., 192 (Fn. 298), 193, 262 ff., 304 f., 311, 323 ff., 327 f., 367 ff., 383, 401 f., 407 (Fn. 20), 408, 410, 425 Tschetschenien 295
Personen- und Sachregister Vattel, Emer de 78 f., 80 ff., 84, 107 (Fn. 301), 119, 303, 314, 411 (Fn. 15), 421 (Fn. 49) Verbrechen gegen die Menschlichkeit 93 (Fn. 228), 192 (Fn. 298), 206, 208 f., 212, 216, 218 f., 237, 256, 259, 308, 311, 318, 366, 381, 399 ff., 410 Vereinte Nationen – Generalsekretär 166 f., 187, 210 (Fn. 372), 212, 367 (Fn. 420) – Generalversammlung 166 ff., 181, 208 f., 219, 224, 236 f., 244, 255 ff., 259, 265, 280 ff., 289 f., 340 – Schutz von Personal 139, 144, 400 – Sicherheitsrat 205, 209 ff., 220, 235 (Fn. 494), 237, 256, 276, 282 ff., 288, 290 f., 298, 322 ff., 368 ff., 402, 412 Versailler Vertrag 117 ff., 365 Völkerbund 125 ff., 132, 323
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Völkermord 165 ff., 191, 193 f., 195, 216, 225 ff., 300, 309, 311, 323, 349, 365 f., 399, 410 Völkerstrafgesetzbuch 216, 219, 238 Völkerstrafrecht, siehe Internationales Strafrecht Weltgemeinschaft, siehe civitas maxima Weltrechtsprinzip 40 ff., 44 ff., 108 (Fn. 308), 160 (Fn. 143), 162, 166 ff., 200, 206, 227, 229, 232, 236, 240 (Fn. 516), 243, 245 (Fn. 543), 248, 250 (Fn. 263), 251 f., 345 ff., 350, 403, 410, 417, 419 Wilhelm II. 117 ff. Zurechnung, privater Straftaten zum Staat 64 f., 67, 71, 73, 77, 80, 82 f., 85, 90, 119, 261, 301 ff., 411